Zum Sprachdenken Georg Christoph Lichtenbergs 9783111353906, 9783484302754

Die Buchreihe Linguistische Arbeiten hat mit über 500 Bänden zur linguistischen Theoriebildung der letzten Jahrzehnte in

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German Pages 144 [152] Year 1992

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Table of contents :
Johannes Bobrowski: Sprache
Zum Geleit
1 Einführendes
1.1 Fragestellung und Aufbau der Arbeit Lichtenbergs Leben
1.2 Methodologische Vorüberlegungen
1.2.1 Methodologische Positionen
1.2.2 Der subjektive Faktor
1.2.3 Konsequenzen
1.3 Zur Textkonstitution
1.3.1 Satiren, Kalenderaufsätze
1.3.2 Bilderklärungen
1.3.3 Naturwissenschaftliche Schriften
1.3.4 Briefwechsel
1.3.5 Sudelbücher
1.4 Forschungsüberblick
2 Notwendige Digression über die erfreuliche Auflösung eines vermeintlichen Anachronismus
2.1 Wittgensteins Spätphilosophie
2.2 Lichtenberg entwittgensteint
3 Ein Sprachautomat
3.1 Assoziationsmechanik und Sprache: Hartleys Modell
3.2 Sprache als empirisches Modell
4 Ein Denkwesen
4.1 Lichtenbergs Sprachkritik
4.2 Sprache als Apriori der Erkenntnis
5 In der Krise
5.1 Skepsis am Ende?
5.2 Resümee
Anhang: Verzeichnis der sprachtheoretisch einschlägigen Aphorismen
Literatur
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Zum Sprachdenken Georg Christoph Lichtenbergs
 9783111353906, 9783484302754

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Linguistische Arbeiten

275

Herausgegeben von Hans Altmann, Peter Blumenthal, Herbert E. Brekle, Gerhard Heibig, Hans Jürgen Heringer, Heinz Vater und Richard Wiese

Johannes Roggenhofer

Zum Sprachdenken Georg Christoph Lichtenbergs

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1992

J.R. zugeeignet von J.R. Ein Freund, der nie von Eigennutz gelenkt Die Pflichten übt, die Lessing selbst nur denkt; Der, wenn die Erde bebt und alle Gläser sinken, Mich standhaft lehrt, den Wein aus Tassen trinken; Der goldne Narrn verlacht und Bettlende beweint, Ein solcher Freund, das heißt ein wahrer Freund. Lichtenberg an Er Kleben am 20.4.1767

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Roggenhofer, Johannes : Zum Sprachdenken Georg Christoph Lichtenbergs / Johannes Roggenhofer. -Tübingen: Niemeyer, 1992 (Linguistische Arbeiten ; 275) NE:GT ISBN 3-484-30275-5

ISSN 0344-6727

(D 355 Philosophische Fakultät IV, Sprach- und Literaturwissenschaften, 1991) © Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1992 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Hugo Nadele, Nehren

Gliederung Johannes Bobrowski: Sprache Zum Geleit 1 1.1 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.3.4 1.3.5 1.4 2 2.1 2.2 3 3.1

Einführendes Fragestellung und Aufbau der Arbeit Lichtenbergs Leben Methodologische Vorüberlegungen Methodologische Positionen Der subjektive Faktor Konsequenzen Zur Textkonstitution Satiren, Kalenderaufsätze Bilderklärungen Naturwissenschaftliche Schriften Briefwechsel Sudelbücher Forschungsüberblick Notwendige Digression über die erfreuliche Auflösung eines vermeintlichen Anachronismus Wittgensteins Spätphilosophie Lichtenberg entwittgensteint

VI VII l l 7 7 18 21 23 23 28 30 30 31 32 49 50 66 73 74

3.2

Ein Sprachautomat Assoziationsmechanik und Sprache: Hartleys Modell Sprache als empirisches Modell

4 4.1 4.2

Ein Denkwesen Lichtenbergs Sprachkritik Sprache als Apriori der Erkenntnis

95 98 110

5 5.1 5.2

In der Krise Skepsis am Ende? Resümee

113 113 122

Anhang: Verzeichnis der sprachtheoretisch einschlägigen Aphorismen Literatur

87

133 141

Sprache Der Baum größer als die Nacht mit dem Atem der Talseen mit dem Geflüster über der Stille Die Steine unter dem Fuß die leuchtenden Adern lange im Staub für ewig Sprache abgehetzt mit dem müden Mund auf dem endlosen Weg zum Hause des Nachbarn Johannes Bobrowski

Zum Geleit „Pour bien ecrire, il faut done posseder pleinement son sujet; il faut y reflechir assez pour voir clairement l'ordre de ses pensees, et en former une suite, une chaine continue, dont chaque point represente une idee; et, lorsqu'on a aura pris la plume, il faudra la conduire successivement sur ce premier trait, sans lui permettre de s'en ecarter, sans l'appuyer trop inegalement, sans lui donner d'autre mouvement que celui qui sera determine par l'espace qu'elle doit parcourir" (BufFon 1753; 1967: 52-53).

Beim Abfassen der vorliegenden Arbeit habe ich, so gut es eben ging, mich an dieses Stilideal des unsterblichen George-Louis Leclerc zu halten versucht. Daher mag der Stil meiner Arbeit an manchen Stellen, im Verzicht auf Fußnoten und im Streben nach auch kurzweiliger Lesbarkeit etwas ungewöhnlich für eine deutsche wissenschaftliche Abhandlung des Jahres 1992 erscheinen. Ich möchte jedoch nicht nur zu dem, was ich sage, sondern auch dazu, wie ich es sage, als Person, d.h. als der ganze Mensch, der nach BufFons berühmten Ausspruch im Stil zum Ausdruck kommen soll, stehen können, selbst wenn sowohl Inhalt, als auch Form nur vorläufig meine Zustimmung finden. Und dies ist mir wichtiger als nachzuweisen, daß ich in der Lage wäre, den gängigen Wissenschaftsjargon zu parodieren. Denn da es nicht mein Jargon ist, könnte es auch nie mehr als eine Parodie sein. Zu den Notationskonventionen der Arbeit sei noch vorausgeschickt, daß ich Lichtenbergs Aphorismen mit der Zählung in der Edition der Schriften und Briefe von Wolfgang Promies, Bd. I und II, kennzeichne; Zitate aus Quellen, die Promies in den Bänden III und IV seiner Edition zusammengestellt hat, werden mit Sigel „P", Bandangabe und Seitenzahl nachgewiesen, z.B. P III: 321. Bei den Aphorismen ist zu beachten, daß Promies einige Hefte teilt, den einen Part in P I und den anderen in P II wiedergibt. Da die Aphorismen aber der heftinternen Reihung entsprechend fortlaufend gezählt und angeordnet sind, ist ihr Auffinden dennoch unproblematisch. Grundsätzlich habe ich Zitate auch interpunktionsgetreu aus den angegebenen Quellen übernommen.

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Einführendes

1.1 Fragestellung und Aufbau der Arbeit Lichtenbergs Sprachdenken kreist um die Beziehungen zwischen den vier Grundgrößen Mensch, Welt, Denken, Sprache. Die vorliegende Arbeit versucht diesem Umstand in der Rekonstruktion einer möglichen Sprachtheorie Lichtenbergs jedenfalls insofern Rechnung zu tragen, daß Sprache einmal nicht oder jedenfalls nicht nur als abstraktes, autonomes System und Regelwerk betrachtet wird, sondern vielmehr der Bezug des Systems Sprache als einem Medium der Kommunikation und des Denkens auf den Menschen und sein Erkenntnisvermögen in den Mittelpunkt der Untersuchung gerückt wird. Damit soll zum einen einer angemessenen Interpretation Lichtenbergs als einem Mann des 18. Jhdts. Genüge geleistet werden, einer Epoche, für die der technische Terminus „Sprache" immer auch die kommunikative Funktion der Sprache mitumfaßte, ja diese oft sogar primär meinte, der Untersuchungsgegenstand „Sprache" also mehr war als „Grammatik". Zum anderen steht dabei auch ein durchaus heutiges Erkenntnisinteresse im Hintergrund. Sicher gilt, daß heute Sprache in keinem Falle mehr als „transparentes Medium", das gleichsam einen unverstellten Blick auf die Welt oder das mit dem sprachlichen Ausdruck Gemeinte erlaubte, aufgefaßt werden kann. Aber von welcher Art ist dann die Opazität der Sprache im Hinblick auf Erkenntnis und Kommunikation? Und kann hierüber etwas Substantielles ausgesagt werden? Diese Fragen, die vor allem im Anschluß an Wittgensteins Spätphilosophie erneut aufgeworfen wurden, sind unvermindert aktuell und auch für den heutigen Sprachwissenschaftler von eminenter Bedeutung, da sie für die Gegenstandsbestimmung des Faches eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Der Anspruch der hiermit vorgelegten Arbeit ist es, nicht nur eine Rekonstruktion von Lichtenbergs Sprachdenken zu leisten, die zwar die darin enthaltenenen Widersprüche nicht wegretuschiert, aber doch ihren Sinnzusammenhang herausstellt, sondern darüberhinaus auch einiges Licht auf die oben angedeuteten Fragen nach der Rolle der Sprache im Erkenntnisprozeß im weitesten Sinne zu werfen. Die Arbeit gliedert sich in fünf Kapitel, deren Inhalt im folgenden überblicksmäßig vorgestellt wird. Das erste Kapitel „Einführendes" gibt zunächst eine allgemeine Einleitung in Fragestellung und Aufbau der Arbeit sowie eine kurze Übersicht

über Lichtenbergs Leben und Werk (Kap. 1.1). Kap. 1.2 befaßt sich mit Fragen der Methodologie sprachwissenschaftshistoriographischer Arbeit und stellt den gewählten methodischen Ansatz vor. Eine frühere Fassung dieses Kapitels wurde auf dem Kolloquium zu Fragen der Methodologie der Historiographie der Linguistik, das vom 5. bis 9.11.1989 an der Universität Essen stattfand, als Vortrag gehalten (cf. Roggenhofer (1990)). Den Teilnehmern des Kolloquiums danke ich für ihre kritischen Diskussionsbeiträge. Kap. 1.3 unternimmt die Konstitution der Textgrundlage, d.h. Lichtenbergs umfangreiches Oeuvre wird systematisch gesichtet, um die für die anstehende Thematik relevanten Texte auszusondern. Für Lichtenbergs Sprachdenken ist eine solche Sichtung seines Gesamtwerks immer noch Desiderat der Forschung. Einschränkend muß hier allerdings gleich darauf hingewiesen werden, daß die vorgenommene Textkonstitution sich nur auf die 1806 erschienene Ausgabe Lichtenbergs vermischte Schriften (hinfort: LVS), die nach Lichtenbergs Tod von seinem Bruder Ludwig Christian und von Friedrich Kries aus dem Nachlaß herausgegeben wurde, und die von Wolfgang Promies 1967-1972 herausgegebene Edition von Lichtenbergs Schriften und Briefen (in 4 Textbänden und z.T. noch nicht erschienen Kommentarbänden dazu) bezieht. Keine dieser Ausgaben ist vollständig. Insbesondere fehlt in beiden Ausgaben das für die Terminologie-Diskussion unabdingbare Vorwort Lichtenbergs zur sechsten Auflage (61794; *1768) der Anfangsgründe der Naturlehre von Johann Polycarp Erxleben, die Lichtenberg nach Erxlebens frühem Tod 1777 noch mehrfach herausgegeben hat. Ebenso fehlen in beiden Ausgaben eine Reihe von Arbeiten Lichtenbergs für den seit 1777 von ihm redigierten Göttinger TaschenCalender (übrigens ebenfalls ein Erxleben-Erbstück), v.a. mehrere Folgen von Erklärungen zu Kupfern von Daniel Chodowiecki in den Jahren 1778 bis 1783. Eine weitere Einschränkung den Umfassungsgrad der Textkonstitution betreffend ist, daß eine aphorismenweise Durchsicht von Lichtenbergs Sudelbüchern im Hinblick auf sprachwissenschaftliche Relevanz den inhaltlichen und räumlichen Rahmen dieser Arbeit bei weitem sprengen würde; die Sudelbücher werden in 1.3 daher nur kursorisch erfaßt. Kap. 1.4 schließlich gibt einen Überblick über den Stand der Forschung zu Lichtenbergs Sprachdenken; Abgrenzungen zu anderen Arbeiten und Ansätzen werden dabei vorgenommen. Die folgenden drei Abschnitte (2 mit 4) befassen sich mit drei Interpretationsrahmen Lichtenbergischer Sprachtheorie: keiner dieser drei Rahmen

kann jedoch allein für sich in Anspruch nehmen, Lichtenberg hinlänglich gerecht zu werden, vielmehr stehen sie für drei unterschiedliche Aspekte von Lichtenbergs Sprachdenken. Jeder dieser Aspekte ist jedoch essentiell für die heutige Sicht von Lichtenbergs Sprachauffassung. Der zweite Abschnitt „Notwendige Digression über die erfreuliche Auflösung eines vermeintlichen Anachronismus" setzt sich intensiv mit der Frage der möglichen Vorwegnahme von Wittgensteins Spätphilosophie durch Lichtenberg auseinander. Dazu wird zunächst (Kap. 2.1) der Grundgedanke von Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen kritisch zusammengefaßt. Hierbei orientiere ich mich im wesentlichen an Kripkes Interpretation (Kripke 1982). In Kap. 2.2 „Lichtenberg entwittgensteint" zeige ich dann die Verschiedenheit von Wittgensteins und Lichtenbergs Ansätzen. In diesem Kapitel zeigen sich auch erste Tendenzen in der Rekonstruktion von Lichtenbergs Sprachauffassung, was meine Zielstruktur anlangt. Dazu treten Fragen nach der Problematik ahistorischer und anachronistischer Erklärungsversuche. Die „Befreiung" Lichtenbergs von Wittgenstein leitet über zu den Kapiteln 3 und 4, die sich spezifisch mit Lichtenbergs Hypothesen zur Sprache befassen. Der dritte Abschnitt „Ein Sprachautomat" setzt sich mit der Möglichkeit eines „mechanistischen" (im Sinne etwa von Newtons Mechanik) Sprachmodells auseinander. Was Lichtenberg hierzu angenommen haben könnte, wird in Anlehnung an Hartleys und Priestleys assoziationspsychologische Theorie des menschlichen Geistes (cf. Priestley 1775) ausführlich erarbeitet (3.1) und anschließend kritisch diskutiert (3.2). Auf mögliche Beziehungen zu neueren psychologischen Ansätzen (Konnektionismus) wird hingewiesen. Die wissenschaftliche Untersuchung von Sprache als empirischem Phänomen steht im thematischen Mittelpunkt dieses Abschnitts. Als Gegenmodell zu dem mechanistisch-materialistischem Erklärungsansatz des dritten Abschnitts entfaltet der vierte Abschnitt „Ein Denkwesen" eine Sprachtheorie, die vom rationalistischen Erbe der Aufklärung ausgeht und Sprache daher in erster Linie unter dem Blickwinkel betrachtet, daß vernünftige Gedanken und Einsichten in ihr auszudrücken und zu vermitteln sein müssen. Zunächst wird das rationalistische Erbe der Aufklärung in dieser Hinsicht zusammengefaßt und Lichtenbergs Kritik an der medialen Transparenz der Sprache dargelegt (4.1).

Lichtenbergs Schwierigkeiten mit dem Vernunftbegriff des Rationalismus werden generell in das Problemfeld des Verhältnisses von Sprache und Denken zueinander eingeordnet und speziell auf den Status der Sprache als Voraussetzung jeden möglichen Erkenntnissystems, insbesondere einer empirischen Wissenschaft, bezogen. Die genuine Leistung Lichtenbergs auf diesem Gebiet wird (in der Absetzung von Kant) hervorgehoben (4.2). Mithin thematisiert der vierte Abschnitt (im Gegensatz zum dritten) die philosophische Untersuchung von Sprache als nicht-empirischer Voraussetzung jeder Erkenntnis. Im fünften Abschnitt „In der Krise" wird — ausgehend von der Unvereinbarkeit der im dritten und vierten Abschnitt erarbeiteten Sprachmodelle — die sich darin ausdrückende Inkommensurabilität von Erkenntnisansprüchen als Grund für den Skeptizismus des späten Lichtenberg und auch der deutschen Spätaufklärung im allgemeinen interpretiert. Der Zusammenhang zwischen dem Scheitern an der Konstruktion einer befriedigenden Sprachtheorie und der Wendung zum philosophischen Skeptizismus wird von der Unauffindbarkeit eines absoluten, objektiven Wahrheitskriteriums in der Wissenschaft, vom Utopiecharakter der idealen Kommunikationsgemeinsehaft und von der Nicht-Substantialität des Erkenntnissubjekts („Ich") her beleuchtet (5.1). Die Leistung Lichtenbergs in der Dichotomisierung der „zwei Naturen" der Sprache (als empirischem Phänomen einerseits und als nichtempirischer Voraussetzung der empirischen Erkenntnis andererseits) wird im Hinblick auf die Möglichkeit einer positiven Umwertung des Sprachskeptizismus als kritischem Auftrag an Wissenschaft und Philosophie resümiert. Die in 2.1 aufgeworfene Frage nach der Denkbarkeit einer monistischmaterialistischen Sprachtheorie wird im abschließenden Kapitel 5.2 nochmals aufgegriffen. Als Anhang gebe ich der Arbeit ein Verzeichnis der sprachtheoretisch einschlägigen Aphorismen bei. Dieses Verzeichnis habe ich selbst als Arbeitshilfe benutzt, es kann aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder systematische Konsistenz erheben. Als Hilfsmittel mag es aber dennoch einigen Nutzwert haben und somit die Veröffentlichung rechtfertigen. Es mag als Abschluß dieser sehr allgemeinen Einführung in die Arbeit angehen, kurz das Leben Lichtenbergs zu umreißen und wenigstens grob den geistigen Hintergrund anzudeuten, vor dem seine ihr Umfeld dann doch so oft weit unter sich zurücklassenden Überlegungen entstanden. Georg Christoph Lichtenberg wird am 1. Juli 1742 als 17. und jüngstes Kind des nachmaligen Darmstädtischen Superintendenten Johann Conrad

Lichtenberg und seiner Frau Henriette Catharina, geb. Eckhardt geboren. 1752 bis 1761 besucht er das Darmstädter Pädagogium, 1763 bis 1767 studiert er in Göttingen Mathematik (bei Abraham Gotthelf Kästner), Astronomie und Naturgeschichte. Ab 1766 erscheinen literarische und wissenschaftliche Abhandlungen. April/Mai 1770 erfolgt seine erste Englandreise (vom König auf der Sternwarte in Richmond empfangen). Georg III., König von Großbritannien und Irland, Kurfürst von Hannover, ernennt ihn zum außerordentlichen Professor für Philosophie in Göttingen. 1772 und 1773 Vermessungsarbeiten im Auftrag des Königs in Hannover, Stade und Osnabrück. Bekanntschaft mit Herder. September 1774 bis Dezember 1775 zweiter Englandaufenthalt. Wichtige Bekanntschften mit führenden Wissenschaftlern wie Herschel, Priestley, Watt, Deluc sowie den beiden Forsters und anderen Teilnehmern der zweiten Weltumsegelung Cooks. Im Januar 1775 zum ordentlichen Professor ernannt. Nach der Rückkehr nach Göttingen Aufnahme seiner Lehrtätigkeit, Ernennung zum Ordentlichen Mitglied der Göttinger Sozietät der Wissenschaften. Im Februar 1777 Entdeckung der (nach ihm benannten) Lichtenbergschen Figuren. Ab dem Wintersemester 1777/78 liest Lichtenberg in der Nachfolge seines verstorbenen Freundes und Studienkollegen Erxleben über Experimentalphysik. 1777 bis 1799 Herausgeberschaft des Göttinger Taschen-Calenders, 1780 bis 1785 Herausgeberschaft (gemeinsam mit Johann Georg Forster) des Göttingischen Magazins der Wissenschaften und Literatur. 1777 Beginn der Beziehung zu Maria Dorothea Stechard (geb. 1765), die ab 1780 vollends bei ihm wohnt und am 4.8.1782 stirbt. 1782 Ernennung zum Mitglied der Naturforschenden Gesellschaft in Danzig. 1783 tritt seine spätere Frau Margarethe Elisabeth Kellner in seine Dienste. Mit ihr hat er sieben Kinder, wovon drei noch vor der Eheschließung (5.10.1789) geboren werden. 1788 wird Lichtenberg von Georg III. zum Hofrat ernannt. 1793 wird er Mitglied der Royal Society, 1795 Mitglied der Petersburger Akademie der Wissenschaften. Einen Ruf an die Universität Leiden 1795 lehnt er ab. Am 24. Februar 1799 stirbt Lichtenberg in Göttingen. Lichtenberg galt schon zu Lebzeiten als eine der führenden Geistesgrössen der deutschen Spätaufklärung. Als Wissenschaftler und Literat gleichermaßen geachtet besuchten ihn u.a. Herschel und Volta, Campe, Forster

und Garve, sogar Goethe und Lavater in Göttingen. Seine umfangreiche Korrespondenz (derzeit sind 1650 erhaltene Briefe Lichtenbergs nachgewiesen, die im Rahmen der Edition seines Briefwechsels von Ulrich Joost und Albrecht Schöne herausgegeben werden — bisher erschienen zwei von fünf Bänden) richtet sich an fast die gesamte „Gelehrtenrepublik" Deutschlands im letzten Drittel des 18. Jhdts., u.a. auch Kant und wiederum Goethe (über dessen Farbenlehre). Er selbst wurde maßgeblich von Leibniz und Spinoza auf der rationalistischen Seite, Francis Bacon, Hartley und Priestley auf der empiristischen Seite sowie der Physik Newtons beeinflußt. Zu seinen Lieblingsschriftstellern zählten Tacitus, Montaigne, Shakespeare, Jacob Böhme, Laurence Sterne, Wieland und Jean Paul. Auf stärkste Ablehnung stießen bei ihm in der Psychologie Lavater, in der Literatur Klopstock, in der Chemie Lavoisier, dessen antiphlogistischer Chemie er lange Zeit mit oft mehr fadenscheinigen, als sophistischen Gründen zu widersprechen versuchte. Schließlich mußte er allerdings Lavoisiers bahnbrechende Leistungen doch anerkennen. Noch unverständlicher als seine Antipathie gegen die neue Chemie bleibt sein zahlreich belegter Antisemitismus, den er mit einer Reihe von Aufklärern teilte. Lichtenberg hinterließ weder ein einzelnes geschlossenes literarisches Werk (trotz mehrerer Romanskizzen), noch eine abgeschlossene Theorie zu irgendeinem der zahlreichen wissenschaftlichen Themen, mit denen er sich im Laufe seines Lebens beschäftigte: ein immer wieder geplantes, eigenes Kompendium zur Naturgeschichte, das das Erxlebensche ersetzen sollte, kam nie zustande! Sein heutiger Ruhm gründet sich fast ausschließlich auf seine erst nach seinem Tod teilweise herausgegebenen Notizhefte, die er selbst „Sudelbücher" nannte, und in denen er alle Einfalle, Gedanken, Probleme, Ideen aphoristisch festhielt. Diese Sudelbücher führte er kontinuierlich von 1764 bis zu seinem Tod. Sie sind bandweise mit Großbuchstaben durchgezählt (Heft A bis L), wobei Heft A eigentlich aus fünf einzelnen Heften besteht. Die Hefte G und H sind bis auf Auszüge in LVS vollständig verschollen. Vom Heft K sind nur einzelne Seiten erhalten. Im Heft L fehlen Seiten. Es ist nicht auszuschließen, daß diese Teile von Lichtenbergs Familie nach seinem Tode vernichtet wurden. Die vorliegende Arbeit beruht auf einer langjährigen Beschäftigung mit Lichtenberg. Zwangsläufig sind viele Menschen als Gesprächspartner in ihre Entstehung involviert. Außer meinen Eltern danke ich hiermit (in alphabetischer Reihenfolge und unter Weglassung aller Titel) Brigitte

Asbach-Schnitker, Herbert E. Brekle, Edeltraud Dobnig-Jülch, Thomas Hanneforth, Annelies Langner, Rosemarie Lühr, Rainer Piepmeier, Josef Rauscher, Peter Staudacher, Helmut Weiß. Das Vorsatzgedicht von Johannes Bobrowski stammt aus dem posthum 1966 erschienenen Gedichtband Wetterzeichen und wurde am 26. Februar 1963 verfaßt.

1.2 Methodologische Vorüberlegungen Der Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist die einfache Frage: „ Wie eigentlich Sprachwissenschaftsgeschichtsschreibung betreiben?" Diese Frage wird vor dem Hintergrund des Versuchs, ein mögliches sprachdenkerisches System Lichtenbergs zu rekonstruieren, gestellt. Die erzielten Ergebnisse der methodologischen Vorüberlegungen beanspruchen aber, von grundsätzlicher Natur für die Historiographie der Linguistik zu sein. Interessanterweise wirft diese Frage auch noch ein neues Licht auf die gerade von Systemlinguisten viel häufiger gestellte Frage: „ Wieso eigentlich Sprachwissenschaftsgeschichtsschreibung betreiben?" Schließlich setzt jede Ausführung über Methode und Motive der Historiographie der Linguistik voraus, daß es überhaupt einen Gegenstand dieser Bemühungen gibt, d.h. also daß die Frage, worüber eigentlich Sprachwissenschaftsgeschichte zu betreiben sei, bereits eine zumindest vorläufig positive Antwort gefunden haben muß. Diese letzte Frage, die ja in der Logik der Zusammenhänge des Worüber, des Wieso und des Wie die erste ist, zeigt sich nun bei genauerer Betrachtung als alles andere als leicht zu beantworten. Ich werde im folgenden zunächst die methodologischen Positionen von Robins 21969, Brekle 1985, Simone 1975 und Schlieben-Lange 1989 im Hinblick auf dieses Problem kurz referieren und aufzeigen, inwiefern diese Positionen bei der Frage nach der Gegenstandskonstitution der Sprachwissenschaftsgeschichtsschreibung allesamt noch zu kurz greifen. Daran anschließend werde ich in einer Radikalisierung des Problems meine Vorstellung von der Gegenstandskonstitution entwickeln und zuletzt die Konsequenzen dieser These für die anderen eingangs aufgeworfenen Fragen darstellen.

1.2.1 Methodologische Positionen Zunächst empfiehlt es sich, einen grundsätzlichen Unterschied zwischen der Arbeit von Schlieben-Lange und den Arbeiten von Robins und Brekle festzuhalten: Die Ausführungen von Robins und Brekle sind einführende me-

8 thodologische Bemerkungen zu tatsächlich verfaßten historiographischen Überblickswerken, wohingegen Schlieben-Langes Gedanken losgelöst von der unmittelbaren historiographischen Arbeit in weitaus höherem Maße von sehr allgemeinen wissenschaftstheoretischen Modellen geleitet sind. Simone exemplifiziert seine Thesen zumindest an drei kürzeren historiographischen Exkursen. Robins faßt die Geschichte der Sprachwissenschaft im Einleitungskapitel zu seinem Buch als die Geschichte der Arbeit am Phänomen Sprache auf, wobei der Begriff „Sprache" ebenso wie der Begriff „Wissenschaft" von ihm vortheoretisch gefaßt werden, um möglichst viele Überlegungen zur „Sprache" in seine Geschichtsbetrachtung einbeziehen zu können. Die Leistung jeder Epoche oder Generation von Sprachwissenschaftlern (im erwähnten weiten Sinne) wird dabei sowohl aus ihrem soziokulturellen Umfeld als auch aus dem Aufnehmen der sozusagen Erbmasse der vorangegangenen Epoche aufgefaßt. Damit wird eine Aufarbeitung des Kausalnexus, in den jede geschichtliche Entwicklung eingebettet ist, zu leisten versucht. Jedoch gesteht Robins selbst bereits zu, daß dieses Ziel grundsätzlich nur Leitbildcharakter haben kann, da eine quasi-naturwissenschaftliche, nur kausale Analyse der Geschichte sich nicht verwirklichen läßt. Die Vielzahl der eingehenden Parameter und die prinzipielle Unberechenbarkeit des wesentlichen Geschichtsträgers „Mensch" stehen dem entgegen. Deshalb tritt der Betrachtung des Kausalnexus die im Blick auf die „großen Linien" und die „bedeutenden Forscher" geschulte Interpretationskunst des Historiographen ergänzend und sinnstiftend zur Seite. Die eigentliche explanative Kraft der Historiographie ergibt sich also m.a.W. erst aus dem interpretatorischen Eingriff des Historiographen. Robins läßt allerdings ungeklärt, woher der Historiograph seine Kriterien für den interpretatorischen Schnitt nimmt. Hier entwickelt Brekle 1985 einen wesentlich expliziteren Standpunkt, indem er dem Historiographen als kritische Methode das hermeneutische Verfahren des forensischen Frageschemas „quis, quid, ubi, quando, quomodo, quibus auxiliis, cur" (Brekle 1985: 1) an die Hand gibt. Dieses Verfahren soll eine mehr oder weniger zeitunabhängige Analyse eines gegebenen historischen Falles sprachwissenschaftlicher Betätigung ermöglichen. Diese Vorgehensweise erweist sich für die deskriptive Feinanalyse eines bestimmten linguistischen Oeuvres als außerordentlich fruchtbar, wie nicht zuletzt Brekles Arbeiten im weiteren Fortgang des Buches zeigen, da sie gestattet, in Bezug auf ein bestimmtes Oeuvre sowohl interne als auch externe Analyseschritte vorzunehmen — schon hierin zeichnet sich die

Überwindung des Gegensatzes zwischen Internalismus und Externalismus in der Theorie der Historiographie (cf. Canguilhem 1966; 1979) in einer umfassenderen Hermeneutik ab. Als Problem bleibt allerdings bestehen, daß das forensische Frageschema seiner Natur nach auf keinen bestimmten Gegenstand festgelegt ist und daher auch nicht dazu beitragen kann, einen solchen zu definieren. Es ist ja genausogut wie auf „sprachwissenschaftliche" Bemühungen auf Probleme des klassischen Whodunnits oder die Rekonstruktion der ökonomischen Grundstruktur des Hinkelsteinhandels in Asterix anzuwenden. Das forensische Schema ist eben kein Algorithmus, der festlegt, ob ein bestimmtes Ereignis oder Werk einem bestimmten Gegenstandsgebiet zuzuordnen ist oder nicht, vielmehr setzt es einen vorgängigen Entscheidungsschritt des Anwenders voraus, ein bestimmtes historisch-annalistisch Gegebenes unter dem Gesichtspunkte eines bestimmten Gegenstandsgebietes zu befragen. In der Willkürlichkeit seiner Anwendbarkeit zeigt sich, daß das forensische Frageschema eben nicht so zeitunabhängig ist, wie es zunächst scheinen mag, da ja die Zeitumstände des Historiographen — wie noch genauer erläutert werden wird — entscheidenden Einfluß auf die mögliche Anwendung des Schemas nehmen, sondern es ist „ereignisunabhängig", d.h. auf Beliebiges anwendbar, ein allgemeines Grundmuster rationalen Überlegens beim Menschen, wie schon Lichtenberg bemerkt: „Man lacht so sehr über das Quis, Quid, ubi pp, unsere symbolische Verbindung von Ideen ist nichts anderes" (F 865). Brekle selbst sieht diese Problematik sehr deutlich und excurriert über das „Wovon der Sprachwissenschaftsgeschichte" (Brekle 1985: 2 f.). Dabei entscheidet er sich zunächst für eine recht inflationäre Definition des Gegenstandsgebietes der Sprachwissenschaftsgeschichte als alle Äußerungen zu „allen Fragestellungen, die sich in bezug auf Sprache im allgemeinsten sowie im spezielleren Sinne ... ergeben bzw. ergeben haben" (Brekle 1985: 2), im Idealfall ohne irgendeine vorgängige Festlegung der Begriffe „Sprache" und „Wissenschaft". Er selbst gibt zu, daß diese Umfangsbestimmung der Historiographie keinesfalls real einzulösen ist, und schränkt ein, daß immer die sprachwissenschaftlichen Vorannahmen des Historiographien in die historiographische Arbeit miteingehen werden, sodaß es keine Geschichte der Sprachwissenschaft für alle Zeit geben könne, sondern sich „jede Generation von Sprachwissenschaftlern jeweils ihre »eigene« Geschichte schreiben werde« (Brekle 1985: 3). Allerdings sei dabei mit dem

10 Auftreten »generationenübergreifender Invarianten in zentralen Bereichen der Sprachwissenschaftsgeschichte« (ebd.) zu rechnen. Einmal abgesehen, daß es ziemlich schwer sein dürfte, auch nur eine dieser „Invarianten" außer innerhalb einer unmittelbaren Traditionslinie (d.h. einer Kette von Sprachwissenschaftlern, die mehr oder minder exakt voneinander abgeschrieben haben) tatsächlich dingfest zu machen, erhebt sich natürlich sofort die Präge, was dieser angedeutete historiographische Relativismus für die o.g. inflationäre Definition des Gegenstandsgebietes bedeutet. Es ist schwer vorstellbar, wie sich das Ideal der definitionslosen Betrachtung mit der zugegebenen Notwendigkeit des zeitgebundenen Historiographen vertragen kann. Hier wird das klassische Dilemma des „eat the cake and keep the cake" illustriert. Für die weitere Betrachtung wird es hilfreich sein, sich eine weitere begriffliche Unterscheidung klarzumachen. Wissenschaftsgeschichtsschreibung unterscheidet sich von der „Universalgeschichte" (Allgemeinen Geschichtsschreibung) sehr deutlich darin, daß es ihr nicht (oder nur marginal) um die Rekonstruktion eines bestimmten Ereignisses und dessen Einordnung in ein Vorher und Nachher geht, sondern um die Rekonstruktion von Theorien und wissenschaftlichen Systemen bzw. Ansätzen zu solchen. Theorien aber sind Rahmen für Weltsichten, Modelle für Interpretationen der Welt oder — im Normalfalle — bestimmter, letztlich erst durch die Theorie selbst ausgegrenzter Teile der Welt. Dies ist auch der Grund dafür, daß die Gegenstandskonstitution eine so zentrale Rolle in der Wissenschaftsgeschichtsschreibung überhaupt einnimmt. Und dies ist auch der Grund, warum Wissenschaftsgeschichte am Ende immer mehr als bloß antiquarisch sein muß: eine rein antiquarische Wissenschaftsgeschichte (und Philosophiegeschichte) zu betreiben, hieße ja nichts anderes, als den Rahmen für eine Weltsicht aufzuspannen, ohne jemals einen Ausblick durch diesen Rahmen hindurch zu nehmen. Es geht nicht nur darum nachzuvollziehen, was von wem wann gesagt wurde, sondern die Leistung des Gesagten für das gesteckte Erkenntnisziel der Redenden aufzuzeigen. Ich gebe zu, daß ich damit eine ziemlich starke Vorgabe über mögliche Gegenstände linguistischer Historiographie mache, weil ja nicht „alle Äußerungen zu allen Fragestellungen ... in bezug auf Sprache im allgemeinsten sowie im spezielleren Fall" schon Ansätze zu wissenschaftlichen Theorien »·* sind. Insbesondere scheiden damit für mich solche Äußerungen als Gegenstände der Historiographie der Sprachwissenschaft aus, die auch der Historiograph unter der Prämisse betrachtet, daß es sich dabei nicht um

11 (systematische) Ansätze zu einer Theorie der Sprache handelt. Insofern scheint mir die Volkslinguistik kein genuiner Gegenstand der Sprachwissenschaftsgeschichtsschreibung zu sein. Selbstverständlich kann die Untersuchung volkslinguistischer Aussagen einen wesentlichen Beitrag zur Psychologie der Sprachkompetenz leisten; der Beitrag zur Historiographie der Sprachwissenschaft scheint mir aber allenfalls in Form einer Negation möglich zu sein, nämlich daß es auch möglich ist, nicht-theoretisch über Sprache zu reflektieren. Der Anfang der Wissenschaft ist da, wo der bloße „common sense" zugunsten eines Systems verlassen wird. Den volkslinguistischen Kundgebungen mangelt aber genau dieses Überschreiten des alltäglichen rationalen Denkens und Handelns, weshalb es auch so etwas wie „Fortschritt" i. S. v. „Weiterentwicklung" in der Volkslinguistik nicht gibt. Wenn Brekle (1985: 42 f.) in diesem Zusammenhang Eulenspiegel als Beispiel anführt, so ist gerade darin leicht der von mir anvisierte Unterschied zu sehen: es ist gerade der Witz von Eulenspiegels (Volks-)„Linguistik", daß jedermann seine Ausbeutung von sprachlichen Ambiguitäten sofort nachvollziehen kann. Eulenspiegel benutzt ein sprachliches Phänomen, das ihm als kompetenten Sprecher einer natürlichen Sprache ja schlechterdings vertraut sein muß, aber er versucht nicht, es zu beschreiben, geschweige denn zu erklären. Und ebenso für die Volksetymologie,die allerdings sprachliche Phänomene (Usualisierung, Transparenz und Opazität komplexer sprachlicher Einheiten, Unterschiede des Phoneminventars einzelner Sprachen), verwendet, sich dabei jedoch immer nur mit dem Einzelphänomen befaßt. Sie „erklärt" immer nur eine einzelne Erscheinung, z.B. ein Wort. Aber sie stellt keine generellen Fragen, wie etwa, was überhaupt ein Wort sei, wieso es unterschiedlich komplexe „Wörter" geben könne, was dann unter Wortzusammensetzung zu verstehen sei und welchen Regularitäten diese gehorche. Am ehesten fällt meines Erachtens noch die Sprachmagie (Brekle 1985: 38-40) in das Gegenstandsgebiet der Sprachwissenschaftshistoriographie, weil hier die Bedingung der Systematizität der Phänomenerfassung (wobei freilich fragwürdig ist, welches Phänomen in der Sprachmagie eigentlich erfaßt wird), in der Art wie die Sprache-Wirklichkeit-Relation und die Funktion des Sprechaktes aufgefaßt werden, weitgehend erfüllt ist. Es ist aber bezeichnend, daß die Ausübung der Sprachmagie, jedenfalls in den elaborierteren Formen, bereits wieder Sache einer ausgewiesenen Gruppe (Schamanen, Priester) ist, und nicht mehr in der freien Verfügbarkeit aller mit dem bloßen „gesunden Menschenverstand" Ausgestatteten steht, d.h.

12 also genau aus dem bloß volkslinguistischen Raum heraustritt. „Ich denke die Astronomie könnte auch sogar in dieser Rücksicht allen Theilen der [Wissenschaft, J.R.] zum Muster dienen" (Erxleben6: XXXIX), insofern zwar die Astrologie oder wenigstens Teile derselben zum Gegenstandsgebiet einer möglichen Historiographie der Astronomie gerechnet werden könnten, nicht aber „volksastronomische" Betrachtungen über Männer im Mond, Mondkälber oder vermeintliche Zusammenhänge zwischen Zivilisationskatastrophen, wie Kriege oder Geburt und Ableben der Mächtigen, und dem Auftreten von Kometen. Vom Leitbildcharakter der Astronomie komme ich zur Gegenstandsund Methodenkonstitution in der Historiographie, insbesondere der Sprachwissenschaft, zurück. Wie sich in der Auseinandersetzung mit Brekle und Robins gezeigt hat, kann das Theoriebewußtsein des Historiographen aus der Konstitution des historiographischen Prozesses nicht ausgeklammert werden. Schon Simone 1975 verknüpft nämlich die Sprachwissenschaftsgeschichtsschreibung funktional mit der (jeweils gegenwärtigen) Theorie der Sprachwissenschaft und sieht den Erkenntniswert der Historiographie vor allem im metatheoretischen Bereich eines Faches (Simone 1975: 371). Sein methodologischer Grundgedanke ist, die Rekonstruktion vergangener Theoriegebäude (als dem unmittelbaren Gegenstand der Wissenschaftshistoriographie) durch eine Betrachtung der drei Variablen (s.u.) in der Entwicklungsgeschichte von Wissenschaften zu fundieren und damit kein anderes Verfahren anzuwenden als beim Aneignen einer heute geläufigen Theorie auch. Diese Variablen (cf. Simone 1975: 361) sind: a) die Kriterien zur Auswahl von Evidenzen aus dem Phänomenbereich, b) die Argumentations weisen, mit deren Hilfe ein System konstruiert wird, das die Evidenzen erklären kann, und c) die Systemzusammenhänge der Theorie selbst. Simone versucht, die Fruchtbarkeit seines Ansatzes anhand dreier Beispiele (italienische Renaissance, Port-Royal, Saussure) zu exemplifizieren. Vielleicht durch seine Konzentration auf die ja sehr systematischen Arbeiten der Messieurs de Port-Royal und Saussures bedingt, übersieht Simone in seinem Ansatz allerdings, daß in den weitaus meisten Fällen sprachwissenschaftsgeschichtlicher Arbeit keine fertigen Systeme vorliegen, die so ohne weiteres auf die genannten Variablen hin untersucht werden könnten.

13 Dariiberhinaus ist selbstverständlich auch eine vollständig ausgearbeitete Theorie nur durch eine Interpretation zu verstehen und mit anderen zu vergleichen. Jemand, der z.B. mit der speziellen Relativitätstheorie vertraut ist, wird andere und bessere Prägen an die Principia Newtons stellen können als ein physikalischer Ignoramus. Hier kommt wiederum die konstitutive Leistung des Historiographen ins Spiel, von der auch Simone abstrahiert, auch wenn er zumindest den engen Zusammenhang des aktuellen Standes einer wissenschaftlichen Disziplin mit ihrer Geschichtsschreibung konzediert. Schlieben-Lange 1989 treibt die Negation des Historiographen ins Extrem und verzichtet gänzlich auf die Diskussion der Rolle des Historiographen im Prozeß der Geschichtsschreibung. Sie rekonstruiert Sprachwissenschaftshistoriographie zunächst als Geschichtsschreibung und insofern narrativ und rekonstruktiv (SchliebenLange 1989: 11 f.). Im folgenden versucht sie — in nach meinem Dafürhalten poststrukturalistischer Manier —, die Methodologie der Sprachwissenschaftshistoriographie dahingehend zu fixieren, daß zur Erfassung eines bestimmten historischen Ereignisses eine Art Saussureschen Schnittes über die Epoche dieses Ereignisses, d.h. sein raumzeitlich-gesellschaftliches Umfeld (bei unbestimmten Grenzwerten), zu legen, und das Ereignis dann innerhalb dieses Schnittes synchronistisch einer ausgiebigen Diskursanalyse zu unterziehen sei. Unter Diskursanalyse versteht Schlieben-Lange dabei die komplette Betrachtung des Argumentations- und Institutionsraumes der fraglichen Wissenschaft und des fraglichen Wissenschaftlers zum Untersuchungszeitpunkt. Es ist dies die äußerste mögliche Zuspitzung von Brekles offener Gegenstandsdefinition: die gesamte Wirklichkeit des zu untersuchenden Zeitraumes muß dem Historiographen zur Disposition stehen. En passant soll er darüberhinaus diese Totalität der Wirklichkeit auch erst rekonstruieren. Gleichzeitig ist klar, daß Schlieben-Lange in dieser Radikalität argumentieren muß, denn nur die Totalität der geschichtlichen Rekonstruktion garantiert unzweifelhaft ihren objektiven Status. Ist die Rekonstruktion der einstigen Wirklichkeit vollkommen, so ist jede Interpolation des Historiographen frei von hermeneutischer Wahlmöglichkeit und also zuverlässig. Es ist, glaube ich, selbstevident, daß ein solches Forschungsprogramm Utopie bleiben muß, jedoch soll hier noch gefragt werden, ob es nicht unabhängig von seiner empirischen Nicht-Realiserbarkeit Gründe gibt, die ein solches Programm erübrigen. Zum einen ist hierbei nach dem Wesen der Geschichtsschreibung selbst

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zu fragen, und hierauf werde ich im folgenden Kapitel (1.2.2) eingehen. Da jedoch poststrukturalistische Diskussionsansätze zur Zeit eine große Rolle spielen, und Schlieben-Langes Ansatz viele Strömungen konzise bündelt, möge es zuvor noch gestattet sein, einige begriffliche Argerlichkeiten zu erwähnen, auf die zu verzichten den Wesensgehalt des Ansatzes nicht angreifen würde, die aber doch dazu angetan sein können, aus den falschen Gründen (nämlich ihretwegen) Polemik gegen den Ansatz zu provozieren: 1. Die Bestimmung der Sprachwissenschaftsgeschichtsschreibung als Geschichtsschreibung ist trivial, da analytisch — und zwar sogar formanalytisch. 2. Ebenfalls ein Gemeinplatz ist die Definition der Geschichtsschreibung als rekonstruktiv, niemand hat jemals eine andere Meinung vertreten; zudem ist diese Bestimmung jedenfalls insofern analytisch, als sich Historiographie im üblichen Verstande (und Schlieben-Lange verweist auf keinen anderen) auf eine wie auch immer genauer zu fassende vergangene Wirklichkeit bezieht und daher zwangsläufig wiederherstellend — „re-konstruktiv" vorgehen muß. Nur eine Geschichtsschreibung der Zukunft (zukünftiger Ereignisse) müßte (dann allerdings wiederum zwangsläufig) nicht-rekonstruktiv vorgehen, es sei denn, man legte die zwei sehr starken Prämissen zugrunde, daß erstens der Geschichtsverlauf zyklisch oder spiralförmig zu modellieren ist, und zweitens Wissen bezüglich früherer Zyklen bzw. Spiraldurchgänge gewonnen werden kann. Schlieben-Langes Ansatz ist aber offensichtlich nicht als „Futurologie" konzipiert, da sie ihn ja als Basis für eine Annäherung an die Zeit der Spätaufklärung verwenden möchte. 3. Die Behauptung Schlieben-Langes (und vieler anderer), daß die Historiographie „narrativ" sei, die natürlich nichts anderes als eine Verbrämung des alten Wortspiels von Geschichte (history) und Geschichten (stories) mit semiotischem Rauchwerk zum Zwecke der Vortäuschung einer wissenschaftlichen Ansehnlichkeit ist, ist — gelinde ausgedrückt — wenig hilfreich. Erschwerend kommt hinzu, daß sie sogar nach Schlieben-Langes eigener Definition von wissenschaftlicher Betätigung als einem „argumentativen Diskurs" (Schlieben-Lange 1989: 13 [Abschnitt 3.1]) eben im Gegensatz zu einem narrativen und/oder mythischen Diskurs falsch ist. Und „narrativ" nicht in seiner eigentlichen Bedeutung, sondern lediglich im Sinne von „texterzeugend" verstanden wissen zu wollen (was Schlieben-Lange vielleicht meint), verwischt nur die sinnvolle Unterscheidung zwischen fiktionalen und historiographi-

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sehen „Narrationen" (Texten, Diskursen) und trivialisiert den Begriff „narrativ" vollständig. Tolkiens Lord of the Rings etwa ist eben nicht im selben Sinne eine „Narration" wie Russells History of Western Philosophy, auch wenn beide literarischen Wert haben. Insofern Sprachwissenschaftshistoriographie überhaupt irgendeinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben will (und niemand tut das vehementer als Schlieben-Lange), muß sie argumentativ und darf sie nicht narrativ sein. Der Scheidepunkt ist hierbei die Rolle der Hinterfragbarkeitsmöglichkeit im Diskurs. Hamlet oder The Lord of the Rings sind nicht in dem Sinne hinterfragbar wie Russells History of Western Philosophy, oder auch Schlieben-Langes und meine Ausführungen. Aber selbst wenn „narrativ" hier nur soviel heißen soll wie „Teil einer Narration, eines Diskurses sein", so steht dies im Widerspruch zum Versuch der „totalen Rekonstruktion": Teil einer Narration sein heißt, eben nicht in dem Sinne „wirklich" zu sein wie die aktuale Gegenwart, von der wir aus begrifflichen Gründen annehmen müssen, daß sie stattfindet (im Gegensatz zur Narration). Erzählt werden muß die Gegenwart erst, wenn sie Vergangenheit geworden ist. „Narrativ" heißt also offensichtlich, daß Geschichte vielmehr die Deutung einer unerreichbar gewordenen Vergangenheit in einem Zeichensystem (Sprachspiel, Diskurs) ist. In diesem Falle steht aber die totale Rekonstruktion der Deutung im Wege. Die totale Rekonstruktion ist als solche genauso (be-)deutungslos wie die jetzige Wirklichkeit, weshalb sie ja auch - wie oben ausgeführt - frei von interpretatorischer Ambiguität ist. Freilich verstehen wir sie damit auch genausowenig wie die Wirklichkeit als solche. Erst die Deutung in einem Diskurs läßt uns etwas verstehen, und der Diskurs selegiert notwendig, daß nur einige und welche Rekonstruktionen interessant sind und welche nicht. Mit anderen Worten, gerade die Selektivität der nicht-totalen Rekonstruktion ermöglicht erst das Verstehen von Geschichte. Aufgabe der Wissenschaft ist es nicht, Differenzen zu verdunkeln, sondern sie in systematischer Weise faßbar zu machen: So sollte m.E. auch das von Wittgenstein ursprünglich als Motto für die PU ins Auge gefaßte „I'll teach you differences!" verstanden werden, in dem sich ja auch eine Paraphrase von Aristoteles' Festsetzung des Anfangspunktes der Erkenntnis im Wahrnehmen der „Unterschiede an den Dingen" (cf. Metaphysik A l 980 a 21-27) erkennen läßt. Die Relativierung wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse auf Diskursu-

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niversen hin (cf. Lyotard (1979; 1986)) ist ein wichtiger kritischer Beitrag zum Selbstverständnis der Wissenschaften, die wahllose Vermengung und Ineinssetzung begrifflicher Unterscheidungen sabotiert aber gerade den kritischen Anspruch und Impetus einer semiotischen Herangehensweise an Fragen der Wissenschaftstheorie. Auf Kritik meines Freundes Josef Rauscher hin, der den vorgebrachten Argumenten gegen den Poststrukturalismus zwar im speziellen Fall zuzustimmen bereit ist, insgesamt aber den Poststrukturalismus nicht so kurz abgetan sehen möchte, weise ich noch darauf hin, daß ich — wie sich vielleicht auch dem unmittelbar vorausgehenden Satz entnehmen läßt — keineswegs den Poststrukturalismus in Bausch und Bogen verwerfen will. Insofern (allerdings auch: ausschließlich insofern) sich der Poststrukturalismus als Erkenntnisrelativismus versteht bzw. verstehen läßt, bin ich auf seiner Seite. Freilich scheinen viele Poststrukturalisten (insbesondere die vorerwähnten Lyotard und Schlieben-Lange) keine oder eine ungenügende Vorstellung von der Bedeutung und Grammatik des Wörtchens „relativ" zu haben. Wie fast immer ist es gut sich an der etwas klareren BegrifFsbildung der Physik und den dort oft strenger als in den hermeneutischen Wissenschaften beachteten Grundregeln der Grammatik auch des Deutschen zu orientieren. 1) Im Gegensatz zu „absolut", das als ein 1-stelliges Prädikat aufgefaßt werden kann, ist „relativ" ein 2-stelliges Prädikat, d.h. der Satz „jede Erkenntnis ist absolut" ist wohlgeformt, der Satz „jede Erkenntnis ist relativ" ist es nicht. Es ist also zu fragen, was das zweite Argument von „relativ" sein soll (s.u.). 2) Die in den Hinterköpfen der Leute üblicherweise herumspukende Relativitätstheorie behauptet nicht, daß alle Geschwindigkeiten oder alle Inertialsysteme relativ sind, sondern, daß Inertialsysteme gleichwertig sind. Ein Inertialsystem ist dasjenige System, in dem ein nicht beschleunigter Körper für ein im selben System befindliches Meßinstrument zu ruhen scheint. In Analogie muß also für die Diskursuniversen und die in ihnen enthaltenen Erkenntnisse gelten: Ein Inertialdiskurssystem ist dasjenige System, in dem eine etablierte Erkenntnis im Sinne dieses Diskursuniversums wahr zu sein scheint (= wahr ist). Alle Inertialdiskurssysteme sind dann untereinander gleichwertig (nicht: relativ). 3) In allen Inertialsystemen gelten dieselben Naturgesetze, da andernfalls gar keine Vergleichung mehr möglich wäre (ein Spezialfall hiervon ist die

17 Konstanz der Lichtgeschwindigkeit im Vakuum), im Falle der Diskursuniversen müssen apriorische Diskursregeln gelten. Dabei wird die Analogie schon schwierig, aber man wird sich wohl auf ein Minimum in Form der Griceschen Konversationsmaximen einigen können. Ob darüber hinaus noch spezielle Eigenschaften der Semantik oder gar die Vernunft als diskursübergreifend geltend betrachtet werden müssen, kann hier einstweilen dahingestellt bleiben. 4) Dann gilt: die meßbaren Verhältnisse in einem Inertialsystem I\ sind abhängig von (relativ zu) den Verhältnissen im Inertialsystem des Meßinstrumentes /2, mit den bekannten Folgeerscheinungen (wie Zeitdilation und Längenkontraktion) sobald von I\ verschieden, d.h. I\ und im Verhältnis (relativ) zueinander bewegt sind. Statt „Meßinstrument" wird auch in der Physik üblicherweise „Beobachter" gesetzt. In Weiterspinnung der Analogie gilt dann: die Interpretation einer Erkenntnis ist abhängig davon, ob sich der Interpret (Beobachter) im selben Diskursuniversum befindet wie die Erkenntnis oder nicht. Nimmt man — unproblematisch — an, daß der Bewußtseinsstand des Beobachters, d.h. natürlich des Historiographen, das Diskursuniversum, in dem er sich befindet, repräsentiert, so läßt sich umformulieren: Die Interpration eines historischen Ereignisses, einer historischen Theorie ist relativ zum Bewußtseinsstand des Historiographen, d.h. niemals unabhängig von diesem zu leisten. Da ich aber die Analogie nun wirklich nicht zu Tode reiten will, sei für den Entwurf eines historiographischen Selbst Verständnisses, das einem im obigen Sinne wohlverstandenen Erkenntnisrelativismus Rechnung trägt auf das folgende Kapitel 1.2.2 verwiesen. Unabhängig von den Mißlichkeiten einzelner Positionierungsversuche im poststrukturalistischen (postmodernen) Umfeld lassen sich die referierten Positionen dahingehend zusammenfassen, daß sie alle einer sehr offenen Gegenstandsbestimimmg der Historiographie der Linguistik das Wort reden und durch die kombinierte Anwendung von Analysemethoden zur Aufschlüsselung von externen und internen Evidenzen zu einer historiographisch zu erfassenden Gestalt, Epoche oder inhaltlichen Position zu einer möglichst unvoreingenommenen, sit venia verbo objektiven, von der Person und Anschauung des Historiographen möglichst losgelösten Darstellung, günstigstenfalls sogar Erklärung des historischen Ereignisses gelangen wollen.

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1.2.2 Der subjektive Faktor Betrachtet man die erwähnten Positionen unter dem Blickpunkt der Gegenstandskonstitution und der Methodik der Sprachwissenschaftsgeschichtsschreibung, so erhält man ein zunächst doch eher überraschend karges Ergebnis: der Gegenstand wird als offener und im konkreten Einzelfalle jeweils neu festzusetzender bestimmt, als Methodik wird (implizit oder explizit) das alte, aus vorwissenschaftlicher Zeit und Geistestätigkeit (nämlich der antiken juristischen Rhetorik) stammende hermeneutische Verfahren des forensischen Fragens angegeben. Dies trifft auch auf die Diskursanalyse zu, die nämlich nichts anderes als eine Ausfaltung dieses Frageschemas auf den Gegenstand des Diskurses hin ist. Es ist also zu fragen, ob diese Bestimmungen dem - man entschuldige die etwas altmodische Ausdrucksweise - Wesen der Geschichtsschreibung gerecht werden. Diese Frage soll nun zunächst einmal am konkreten Beispiel Lichtenbergs exemplifiziert werden. Wie kommt man dazu, eine historiographische Arbeit über Lichtenberg als Sprachdenker zu schreiben? Im Sinne des von Robins genannten Kriteriums, Erbe einer sprachwissenschaftlichen Tradition und Hebamme einer sprachwissenschaftlichen Perspektive oder Zukunft zu sein, fällt Lichtenberg aus dem sprachwissenschaftlichen Kontinuum heraus: seine tiefsten Gedanken sind ohne einen Vorgänger, der ihn möglicherweise beeinflußt haben könnte, und ohne Nachwirkung, da erst Wittgenstein und Sprachphilosophen nach ihm den fundamentalen Charakter von Lichtenbergs Aphorismen zur Sprache wiedererkannten, ohne daß jedoch ihre eigenen Auffassungen in einen kausalen Zusammenhang mit Lichtenbergs Gedanken gebracht werden könnten. Auch eine mehr epochenimmanente Betrachtung (in der Art Brekles) führt hier zu nichts: für seine Epoche existierte Lichtenberg als Sprachdenker nicht, weder hat er zu Lebzeiten einen nennenswerten Gedanken zur Sprache publiziert, noch überhaupt systematisch (der mindesten Vorbedingung für Wissenschaftlichkeit) an sprachwissenschaftlichen Problemen gearbeitet. Schließlich ist ihm auch mit diskursanalytischen Mitteln nicht beizukommen, da er am sprachwissenschaftlichen Diskurs, außer mit einigen satirischen Anmerkungen zum Orthographiestreit überhaupt nicht teilnahm: er war Professor für Physik und spielte im Diskursraum von Mathematik, Astronomie, Geodäsie, Physik und Chemie eine bedeutende Rolle, als Verfasser von Satiren, Kalenderaufsätzen und Bilderklärungen machte er

19 sich auch als Literat einen Namen. Als Sprachdenker tritt er nicht in Erscheinung. Es ist zweifelhaft, ob seine wichtigsten Gedanken zur Sprache im Rahmen der damaligen Sprachwissenschaft überhaupt zu artikulieren gewesen wären. Ist er also allenfalls ein Kandidat für eine biographische und psychologische Studie zur Genese seiner Sudelbuchnotizen, oder gar das bloße Abfallprodukt der zufälligen Übereinstimmung einiger Notizen mit Aphorismen des übermächtigen Wittgenstein? Oder ist nicht einfach der Schluß zu ziehen, daß Lichtenberg in der Geschichte der Sprachwissenschaft eben nichts zu suchen hat? Man könnte nun natürlich nachzuweisen versuchen, daß Lichtenberg eben doch in irgendeinem Sinne unter eines der genannten Kriterien fällt: schließlich kommt in den uns erhaltenen Texten ja das Wort Sprache in reflektierendem Gebrauch vor. Dieser Nachweis verunklärt aber nur den grundlegenden Fehler dieser forensischen Betrachtung mit offenem Gegenstandsbegriff. Diese Art von Geschichtsschreibung setzt voraus, daß die möglichst objektive, d.h. Betrachter-unspezifische Rekonstruktion einer Vergangenheit das wahre Ziel der Geschichtsschreibung wäre. Die logische Konsequenz dieses Anspruches ist die Totalitätsverpflichtung, wie sie Schlieben-Lange so nachhaltig vor Augen führt: die Arbeit des Historiographen ist getan, wenn die Vergangenheit vollständig wiederhergestellt ist. Und so kann Brekle 1985:2 den Vertretern einer jeweils aus dem Problembewußtsein des Historiographen heraus einschränkenden historiographischen Methodik und Ontologie mit Hymes ein „tatsächlich unhistorisches Vorgehen" vorwerfen. Dieser Vorwurf besagt nichts anderes, als daß die historiographische Selbstbeschränkung die Fülle der historischen Wirklichkeit leugnen würde. Hier zeigt sich jedoch ein Kategorienfehler, sobald das Programm des totalen Rekonstruktivismus zu Ende gedacht wird: es werden „vergangene Wirklichkeit" (als einmal objektiv gegeben Gewesenes oder als gegeben Betrachtetes) und „Geschichte" (als Bewußtseinsinhalt, d.h. Ergebnis eines semiotischen Prozesses) miteinander vermengt. Brekle vermeidet diese Konsequenz, da er — wie bereits erwähnt — den zunächst sehr rigoros als nahezu völlig offen definierten Gegenstandsbereich der Historiographie selbst auf den jeweiligen Historiographen hin relativiert und damit der Inflation historiographischer Daten und Fragestellungen feste Grenzen zieht: die grundsätzliche Problematik der Ausgangsdefinition wird allerdings dadurch verdeckt, erst bei Schlieben-Lange tritt sie in aller Schärfe zutage.

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Die Funktion der Geschichtsschreibung ist nicht die Wiederherstellung der vergangenen Wirklichkeit, ja ihre Wiederherstellung würde sogar ihren Vergangenheitscharakter als solchen zunichte machen und damit Geschichte abschaffen, sondern die Schaffung einer Art kollektiver Erinnerung, in der das der jeweiligen Epoche des Historiographen und in letzter Konsequenz dem jeweiligen Historiographen selbst wichtig Erscheinende für die weitere Diskussion in der (Diskurs-) Gemeinschaft zur Verfügung gehalten werden kann. Im Hinblick auf diese Funktion ist Geschichtsschreibung auch als „narrativ" zu bezeichnen und dem Epos verwandt, bei freilich grundlegend anderen Kriterien für die Akzeptabilität der „Erzählung". Keinesfalls aber ist die Geschichtsschreibung als losgelöst vom Historiographen, d.h. vom „Erzähler" zu denken, wichtig erscheint, hängt letztendlich allein vom Bewußtseinsstand des Historiographen ab. Geschichte entsteht im Wechselspiel von Historiograph und rezipierender Kommunikationsgemeinschaft, Kriterium für die Wissenschaftlichkeit der Ausführungen des Historiographen sind Hinterfragbarkeit und Schlüssigkeit seiner Argumentationen und die Sachbezogenheit seiner Rekonstruktion auf die behandelten Sachfragen. Lichtenberg als Sprachdenker ist interessant, weil die Probleme, die seine Anmerkungen auf werfen, im Lichte des heutigen Forschungsstandes interessant sind, und weil der Versuch, sein Sprachdenken zu systematisieren, zwangsläufig zu einer Systematisierung unseres eigenen Problembewußtseins führt. Der gegenwärtige Historiograph kann keine Fragen mehr an Lichtenberg stellen, da der einzige, der sie beantworten könnte — nämlich Lichtenberg selbst — tot ist. Die einzigen vernünftigen Umgangsweisen mit vergangenen Theorien sind entweder die ästhetischkontemplativ sich mit dem bloßen Erinnerungs- bzw. Imaginationseindruck zufriedengebende oder die historiographisch aufarbeitende, die die Vergangenheit als Ausgangspunkt für eine Hypothese über eine mögliche Gegenwart nimmt. Weniger rhetorisch ausgedrückt heißt das, daß die Fragestellung des Historiographen nicht, wie von Schlieben-Lange 1989: 17 auf den Punkt gebracht, sein kann: „welche Möglichkeiten und Optionen hätte ich als Bernhardi, Vater usw. um 1800 gehabt?", sondern lauten muß: „welche Möglichkeiten und Optionen hätte ich als PseudoLichtenberg heute?". Ich sage „Pseudo-Lichtenberg", da es nicht um die Rekonstruktion Lichtenbergs geht — was Aufgabe der Bio- oder Hagiographie wäre, sondern um die Rekonstruktion eines Gedankensystems auf der Basis seiner überlieferten Schriften und ihres fachlichen Hintergrundes damals und heute.

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Die Canguilhemsche Formulierung (sie! — nicht Auffassung), wonach der Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte mit dem Gegenstande der Wissenschaft nichts gemein habe, erweist sich als falsch. Der unmittelbare Untersuchungsgegenstand der Wissenschaftshistoriographie sind Theorien; Theorien können nicht unabhängig von ihrem eigenen Gegenstand betrachtet werden. Mittelbarer, aber für die Rekonstruktion historischer Theorien entscheidender Gegenstand der Wissenschaftshistoriographie ist also der Gegenstand der Theorie bzw. des historiographierten Fachs selbst. Im den Sprachwissenschaftshistoriographen besonders interessierenden Fall der Rekonstruktion unvollständig erhaltener oder hinterlassener Systeme bestimmt der Diskussionsstand bezüglich der Gegenstandskonstitution, oder besser: der „Gegenstände-konstitution" in der Sprachwissenschaft heute — gibt es ja auch heute nicht den Gegenstand der Sprachwissenschaft, sondern allenfalls die Gegenstände der Sprachwissenschaften — maßgeblich den Gegenstand und die Interpretation des historischen Untersuchungsobjekts. Daraus folgt auch, daß solide fachwissenschaftliche Kenntnisse und problemorientiertes Arbeiten unabdingbar für eine sinnvolle historiographische Arbeit sind: „... Lest die Alten, ruft man, es ist alles sehr gut. Ich habe gegen den Rat nichts, wenn man sich nur deutlich erklärte. Er sagt nicht mehr als lernt denken Leute. ..." (F 860)

schreibt Lichtenberg in Abwandlung des bekannten Herder-Ausspruchs. Da sich nun die Theorien und ihre Gegenstände in den Wissenschaften im Laufe der Zeit wandeln, wandelt sich auch zwangsläufig, wie Brekle so trefflich vermerkt, die Wissenschaftsgeschichte mit jeder „Theoriengeneration" .

1.2.3 Konsequenzen Die Frage nach der Gegenstandskonstitution in der Historiographie („Worüber?") wurde dahingehend beantwortet, daß der Historiograph nach Maßgabe des aktuellen Problemstandes den Gegenstand für die historiographische Untersuchung konstituiert. Daraus folgt für die Methodik der Sprachwissenschaftsgeschichte („Wie?"), daß sie ihre Methoden sowohl aus der Hermeneutik (es geht in zentralen Bereichen immer um die Interpretation von Texten) als auch der Wissenschaft selbst, d.h. den üblichen, wenn auch wenig erkannten Verfahren der Hypothesen- und Theoriebildung nimmt. Hat etwa ein Sprach-

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Wissenschaftler früherer Zeit eine Hypothese über den kindlichen Spracherwerb aufgestellt, die mittlerweile empirischer Überprüfung zugänglich ist, so gehört diese Überprüfung wenigstens prinzipiell (die Arbeitskraft des Einzelnen ist ja begrenzt) sehr wohl zum Geschäft des Historiographen. Diesem Anspruch auf wissenschaftliche Überprüfung und Fairness nicht gerecht zu werden, hieße ja die Vergangenen unter ihrem Wert handeln zu wollen. Unter diesen Voraussetzungen ist es selbstredend auch in der Historiographie vernünftig, eine Arbeitsteilung nach der Art von Feldforschung und theoretischer Wissenschaft zuzulassen; die Bereitstellung von historischen Datenmaterialien ist eine Sache, ihre rekonstruktive Bewertung eine andere. Wobei natürlich auch für den Feldforscher eine theoretische Position notwendig ist, sonst weiß er ja gar nicht, wonach er auf dem Feld der Phänomene forschen soll. Er darf sich aber einen größeren Ungenauigkeitsspielraum leisten und damit Dinge in seine Daten aufnehmen, von denen er selbst nicht genau weiß, ob sie sprachwissenschaftsrelevant sind oder nicht. Freilich nähert sich sein Tun proportional zum Wachstum der Ungenauigkeit dem Tun des Roulettespielers an. Verfährt der „Wissenschaftler" gänzlich theorielos, so ist die Zielgerichtetheit seiner Tätigkeit mit der des Roulettespielens identisch, womit von Wissenschaft im eigentlichen Sinne allerdings nicht mehr gesprochen werden kann. Die mir selbst weitaus liebste Konsequenz meiner Vorüberlegungen ergibt sich jedoch für die Frage nach Sinn und Zweck („Wieso?") und damit für die Daseinsberechtigung der Sprachwissenschaftshistoriographie, die ja von zahlreichen hartgesottenen und angesehenen Systemlinguisten immer wieder gerne in Zweifel gezogen wird — obwohl Meister Chomsky selbst durchaus sein historiographisches Scherflein beigetragen hat, was aber in der Tat kein Argument wäre. Es liegt auf der Hand, daß, wenn Gegenstand der Sprachwissenschaftsgeschichte und Gegenstand der Sprachwissenschaft wenigstens partiell zusammenfallen, auch das Erkenntnisinteresse der Historiographie mit dem Erkenntnisinteresse der Wissenschaft überlappt, daß also die Ergebnisse der Historiographie der Linguistik nicht die hermetischen Erkenntnislüste einer kleinen Gruppe bibliotheksstaubbedeckter Sonder- und Wunderlinge zu befriedigen suchen, sondern dem lebendigen Fortgange des ganzen Faches hier und heute verpflichtet sind.

23 1.3 Zur Textkonstitution Wie bereits erwähnt steht eine systematische Sichtung von Lichtenbergs erhaltenem Gesamtwerk im Hinblick auf Passagen, die für sein Sprachdenken relevant sind, noch aus. Eine der Hauptschwierigkeiten, die bei einem solchen Unternehmen begegnet, ist, daß ohne die Vorgabe eines verhältnismäßig starken theoretischen Rahmens oftmals gar nicht zu entscheiden ist, ob eine bestimmte Passage thematisch einschlägig ist oder nicht. Ein Beispielfall mag die Problematik verdeutlichen: In seinem Vorwort zur sechsten Auflage von Erxlebens Naturlehre setzt sich Lichtenberg mit der antiphlogistischen Chemie Lavoisiers und seiner Anhänger auseinander. Es mag nun noch ein Leichtes sein, über die Aussagen bezüglich der Chemie zu abstrahieren und die Argumentation als eine metatheoretische Auseinandersetzung von Sinn und Zweck wissenschaftlicher Terminologien, Nomenklaturen und Systematiken einzuordnen, insbesondere wenn man aus der Kenntnis von Eintragungen in den Sudelbüchern und einigen Tagebüchern weiß, daß Lichtenberg ein lebhaftes Interesse an Prägen der wissenschaftlichen Terminologiebildung hatte. Daß es sich hierbei jedoch nicht nur um ein wissenschaftstheoretisches Argument handelt, sondern um einen zentralen sprachtheoretischen Gedanken Lichtenbergs, ist fast nur dann festzustellen, wenn der Kommentator selbst eine Sprachtheorie benutzt, die der Wechselwirkung von Sprache und Denken ein beträchtliches Gewicht beimißt. Aus diesem Grund halte ich es für sinnvoll, an dieser Stelle die nach meinem Wissen und Dafürhalten einschlägigen Werke bzw. Werkteile Lichtenbergs nach Sachgruppen geordnet durchzugehen, selbst wenn meine Kenntnis von Lichtenbergs Werk nicht vollständig ist, und manche der besprochenen Passagen ihren Bezug zur Sprachtheorie erst im weiteren Verlauf der Arbeit deutlich werden lassen. Gleichzeitig mag dieses Kapitel dem an Lichtenbergs Sprachdenken Interessierten als eine Art Wegweiser durch sein Werk dienen. 1.3.1 Satiren, Kalenderaufsätze Diese Gruppe umfaßt die meisten von Lichtenberg selbst veröffentlichten, literarischen Arbeiten seines Gesamtwerks sowie zahlreiche Entwürfe, Fragmente und Miszellen aus dem Nachlaß. Ich beschränke mich hier auf die

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Auswahl, die Wolfgang Promies im III. Band seiner Lichtenberg-Edition zusammengestellt hat. Für die Bilderklärungen zu Hogarth vgl. 1.3.2. Zu Lebzeiten wurde von Lichtenberg nur eine größere Schrift, die ein sprachliches Problem zum eigentlichen Gegenstand hat, veröffentlicht. Es ist dies die Streitschrift: Über die Pronunciation der Schöpse des alten Griechenlands verglichen mit der Pronunciation ihrer neuern Brüder an der Elbe: oder über Beh, Beh und Bäh, Bäh, eine literarische Untersuchung von dem Konzipienten des Sendschreibens an den Mond. In dieser Schrift greift Lichtenberg satirisch-polemisch in den von J. H. Voß entfachten Orthographiestreit um die Umschrift der altgriechischen Namen ein. Voß hatte — ausgehend von Homers Schriftbild für die Laute der Hammel (Schöpse) , - " — vorgeschlagen, das griech. Eta grundsätzlich als „ä" zu transkribieren, also „Häbä" statt „Hebe", „Athän" statt „Athen" usf. Ausgenommen sollten hiervon allerdings „heilige", durch ihre Tradition festgeschriebene Namen wie etwa „Jesus", im Griechisch-Vossischen ja eigentlich „Jäsus", bleiben. Lichtenberg, der der Orthographiereform überhaupt skeptisch gegenüberstand — vgl. den von Promies im Kommentarband zu P III auf S. 133 f. abgedruckten Vorbericht zum Göttingischen Magazin, 1. Jg., 1. St., 1780, und G 35-37 (gegen Klopstock), wendet sich in erster Linie allerdings nicht gegen Vossens philologisches Argument für eine Korrespondenz von Schrift-Eta und Laut-A, obwohl er zurecht einwendet, daß bei der Untersuchung dieser Beziehung nicht ohne weiteres von einer eineindeutigen Laut-Schriftzeichen-Entsprechung ausgegangen werden dürfe, wie beispielsweise an den deutschen Buchstaben „ä" und „e" in säen, währen, wären, wehren, entbehren zu sehen sei: „säen" werde gemeinhin „se-en" und „entbehren" „entbähren" gesprochen. Zudem sei gerade die Aussprache der Vokale großer individueller und dialektaler Variation unterworfen. Der eigentliche Gegenstand von Lichtenbergs Kritik ist vielmehr der Versuch, akademische Erkenntnisse bei einer reinen Traditionssache wie der Orthographie zur Norm des allgemeinen Verhaltens machen zu wollen. Die für Lichtenberg entscheidende Frage bei der Durchführung einer Rechtschreibreform ist: „Was wäre denn der Gewinn?" (P III: 303). Und im Falle der Transskription des Eta ist seine Antwort darauf eindeutig: „... nichts] ja, weniger als nichts (Verlust) ..." (P III: 303). Orthographie ist für Lichtenberg eine Sache der Praktikabilität und der Nützlichkeit in der (schriftlichen) Verständigung und kein Analyseinstrument für die Lautgestalt der Wörter. Insofern fordert er hier vor allem „Einigkeit" (ebda.), und diese ergebe sich ausschließlich durch eingeschlif-

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fene Tradition und — wie er im erwähnten Vorbericht ausführt — durch die normative Vorreiterrolle der meistgelesenen Zeitschriften und Schriftsteller sowie allenfalls vielbenutzter Wörterbücher, z.B. Adelungs, nicht aber durch Anordnung und Vorschrift. Schlimmer noch, die zwangsweise Einführung einer völlig ungewohnten Schreibung würde in vielen Fällen ein Gefühl des Widerwillens oder gar der Lächerlichkeit beim Leser hervorrufen und so gerade Vossens Grundintention, eine bessere Annäherung an das Original zu ermöglichen, unterlaufen. Statt von Homers Dichtung werde die Aufmerksamkeit des Lesers von der absonderlichen Orthographie der Homer-Ausgabe gefesselt. Im Grunde gestehe Voß dies auch selbst ein, wenn er an „Jesus" statt „Jäsus" festhalte, um nichts „durch Religion Geheiligtes" (so zitiert Lichtenberg Voß, P III: 297) zu profanieren. Obwohl diese Schrift eine Fülle interessanter Überlegungen zu (heute) sprachwissenschaftlichen Themen enthält, ist sie für die Rekonstruktion von Lichtenbergs Sprachtheorie weniger ergiebig. Blickt man jedoch von der Warte einer erfolgten Theorierekonstruktion auf den „Schöpsenstreit" zurück, lassen sich doch auch Grundelemente von Lichtenbergs Sprachauffassung erkennen. Die Betonung des normativen Charakters des Gebrauchs und der Tradition in sprachlichen Dingen verweist auf die (ante verbum) „gebrauchstheoretische" Linie seines Sprachdenkens, die Betonung des Einflusses der bloßen Form der Sprache auf Rezeption bzw. Nicht-Rezeption des Inhalts verweist auf die Abhängigkeit des Denkens von der Sprache. Ähnliches gilt für fast alle Schriften Lichtenbergs außer den SudelbuchEintragungen. Ihre sprachtheoretische Relevanz erweisen sie erst im Licht einer zugrundegelegten Theorie. Dies heißt aber nicht, daß ihr sprachtheoretischer Gehalt lediglich vom Interpreten hineingelegt wird; die These ist vielmehr, daß die Sprachtheorie Lichtenbergs in diesen Schriften eben nur latent vorhanden sei, um ein Wort aus der damals gebräuchlichen chemischen Terminologie und gleichzeitig einen Schlüsselbegriff Lichtenbergs (cf. J 2148) zu verwenden. Der Interpret aber zeigt den zunächst nicht sichtbaren Zusammenhang mit der Theorie auf, so wie der Chemiker in der Analyse die latenten Bestandteile einer Substanz erkennbar macht. In dem Entwurf: Lorenz Eschenheimers empfindsame Reise nach Laputa spielt Lichtenberg auf Swifts Parodie einer Gelehrtenrepublik in Gulliver's Travels. Part — A Voyage to Laputa, Balnibarbi, Luggnagg, Glubbdubdrib, and Japan an und benutzt wie Swift die Vorgabe einer etymologischen Erklärung balnibarbischer Wörter zu satirischen Spitzen. Lichtenberg mischt Buchstaben mit arithmetischen Zeichen und differen-

26 ziert Homonyme, die im Hochbalnibarbischen (der Hofsprache Laputas) bzw. im Niederbalnibarbischen (der Gemeinsprache auf dem Boden) unterschiedliche Bedeutungen haben, durch den Ansatz einer hochgestellten „2" am Ende des Wortes. Damit greift Lichtenberg Ideen aus der Universalsprachendiskussion, vor allem aus verschiedenen Entwürfen zu einer Universalcharakteristik (-schrift) auf. Seine Bekanntschaft mit Leibnizens Characteristica wird ja durch A 3 und A 12 explizit belegt, diejenige mit Fuldas Wurzelwörterabhandlung in F 1040 und F 1072, wo er sie mit Lavaters Physiognomik auf eine Stufe stellt und in F 1075 sogar als „Fuldas Grillen" abtut. Insgesamt scheint Lichtenberg mit zunehmendem Alter jeder Idee einer Plansprache und auch jedem Versuch einer Sprachplanung (vgl. auch den Orthographiestreit) immer feindlicher gegenüberzustehen. Dies steht sicherlich in ursächlichem Zusammenhang zu seiner Einschätzung der Normalsprache als beides: erkenntnisbegrenzend und welterschliessend. Seine intensive Beschäftigung mit der Idiomatik und der Rolle von idiomatischen Wendungen in der Sprache belegt sein kurzer Aufsatz: Patriotischer Beitrag zu einer Methyologie der Deutschen nebst einer Vorrede über das methyologische Studium überhaupt, einer knappen und witzigen Abrechnung mit dem Systematisierungs- und Terminologisierungswahn seiner wissenschaftlichen Zeitgenossen, die mit einer Sammlung von etwa 100 hoch- und ca. 40 plattdeutschen „Redens-Arten, womit die Deutschen die Trunkenheit einer Person andeuten" (P III: 321) schließt. Die besondere Ausdrucksstärke von idiomatischen Wendungen hat Lichtenberg fasziniert. Eine Liste von Maledicta findet sich etwa in D 667. Die spezielle Unübersetzbarkeit von Idiomen wird am Beispiel von Kraftausdrücken in Shakespeare-Dramen in F 569 diskutiert. Darin kommt Lichtenberg auch zu dem Schluß, daß sich Sprachen gerade darin voneinander unterscheiden, in welchen semantischen Feldern sie gehäuft idiomatische Wendungen bilden. Er führt dies auf die Gesellschaftsstruktur einer Sprachnation zurück: „Der Engländer flucht caeteris paribus zehnmal mehr als der Deutsche, weil die fluchende Klasse der Menschen (die Seeleute) diesem Staat seine Reichtümer verschafft und seinen Schutz gewährt, und es unter ihnen Männer gibt die [die] Achtung dieser Welt und der künftigen verdienen" (F 569).

In Anbetracht von Lichtenbergs bekannter Neigung zu (mehr als) reichlichem Alkoholgenuß gewinnt der Beitrag auch ein psychologisches Interesse, da er in typischer Weise eine objektivierende Auseinandersetzung mit dem eigenen Laster durch Versprachlichung und Reflexion auf Sprache darstellt. Immer wieder nimmt Lichtenberg in seinen Briefen und Sudelbucheinträgen

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ein persönliches psychisches Erlebnis (Alkoholsucht, Todesangst, Todeserfahrung, Zweifel an der eigenen wissenschaftlichen Leistung, aber auch ekstatisches Glück, Lust usf.) zum Ausgangspunkt einer Reflexion über die sprachliche Ausdrückbarkeit solcher Erfahrungen und die damit verbundene Frage ihrer intellektuellen (rationalen) Erkennbarkeit. Die Beziehung zwischen der menschlichen Psyche und ihrer Ausdrückbarkeit bzw. Erkennbarkeit in Zeichen und Anzeichen steht auch im Zentrum der letzten Gruppe von Schriften, die hier zu erwähnen sind. Es sind diese seine zahlreichen Auseinandersetzungen mit der Physiognomie Lavaters. Lavater behauptet in seinen vier kolossalen Bänden Physiognomischer Fragmente, daß die (statische) Gestalt und Proportion des menschlichen Gesichts Rückschlüsse auf die Psyche ermögliche. Das Gesicht sei Anzeichen der Seele. Lichtenberg, selbst ja keineswegs wohlproportioniert, verurteilte die Physiognomie als völlig unwissenschaftlich und anmaßend. Er selbst setzte der Physiognomie die Pathognomie entgegen, die den (dynamischen, d.h. sich verändernden) Ausdruck des Gesichts in der einzelnen konkreten Verhaltenssituation (Mienenspiel) betrachtet und in Beziehung zum „Gefühlsgehalt" (Pathos) der Situation und des empfindenden Menschen setzt. Die Pathognomik sei eine Kunst, die jeder Mensch schlicht im Laufe seiner Sozialisation erlerne und auch permanent aktiv (als Äußerung des eigenen Gefühls) und passiv (in der Rezeption des sichtbaren Gefühlsausdrucks im Anderen) anwende. Die einzelnen Ausdrucksformen der Pathognomik sind teils natürlich (schmerzverzerrtes Gesicht), teils erworben (Nase rümpfen), aber immer ein echtes Zeichen, d.h. Kommunikationsmittel, das immer konventionell, und im Gegensatz zum Anzeichen nie ausschließlich kausal mit dem Bezeichneten verbunden ist. Nach Lichtenberg ist die Pathognomie (man könnte heute auch einfach „Körpersprache" sagen) zwar eine Art Sprache, aber (jedenfalls z.Z.) keine mit angebbarer Grammatik. Die Mannigfaltigkeit der in der Körpersprache ausdrückbaren Gefühlszustände übersteige einfach die Differenzierungsmöglichkeiten unserer Beschreibungssprache, d.h. der natürlichen Sprachen. Im Gegenteil seien diese gerade auffällig arm an echten Gefühlsausdrücken. Aus diesem Grund könne zwar jeder mit der Körpersprache umgehen, aber ein abstraktes Regelinventar für ihre Interpretation fehle. So könne jeder Versuch einer sprachlichen Wiedergabe oder Paraphrasierung einer pathognomischen Äußerung günstigstenfalls nur ein „restatement of the fact", d.h. die Darstellung der einzelnen konkreten Äußerungssituation der mimischen Geste, niemals aber wissenschaftliche Verallgemeinerung sein.

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In der Kunst allerdings könne sich durch Typisierung und Konventionalisierung ein Kanon von physiognomischen Formen mit festem Sinngehalt einbürgern, von dem aber eben nicht auf die pathognomischen Verhältnisse im „wirklichen Leben" geschlossen werden könne. Lichtenberg ist sich über den Unterschied zwischen Ikonographie und Pathognomik völlig im klaren. Die Typisierung, sei es des Gesichtsausdrucks, sei es auch der Redestils, ist ein künstlerisches Stilmittel, aber keine wissenschaftlich haltbare Klassifikation des Menschen (vgl. zu dieser Thematik auch insbes. F 898). Die wesentlichen Schriften hierzu sind die folgenden: ·· a) Über Physiognomik; wider die Physiognomen. Zu Beförderung der Menschenliebe und Menschenkenntnis ist Lichtenbergs ausführlichste Auseinandersetzung mit der Physiognomie. b) Fragment von Schwänzen. Ein Beitrag zu den Physiognomischen Fragmenten, in dem er Lavaters Stil parodiert und auf die Analyse Göttingischer Sau-, Hunde- und Purschenschwänze anwendet, um die Unhaltbarkeit von Lavaters Thesen in einer der bis heute besten deutschsprachigen Satiren überwältigend komisch zu demonstrieren. c) Von den Charakteren in der Geschichte, d) Vorschlag zu einem Orbis pictus für deutsche dramatische Schriftsteller, Romanen-Dichter und Schauspieler. Nebst einigen Beiträgen dazu, e) Orbis pictus. Erste Fortsetzung., sowie f) Zum Parakletor. (Teil) 5. Briefe von Mägden über Literatur

beinhalten mehr die angedeutete physiognomische Signifikanz künstlerischer Darstellung in Dichtung, Malerei, Plastik und Dramatik. Zwar gehören die (anti-)physiognomischen Schriften Lichtenbergs eher in das Gebiet der Semiotik als nun der spezielleren Sprachtheorie, wegen der Thematisierung der Ausdrucksgrenzen der menschlichen Sprache und des wissenschaftstheoretischen Gehalts, daß nämlich Wissenschaft in Allgemeinbegriffen und nicht in individuellen Ereignissen denken muß, habe ich mich doch entschlossen, sie hier aufzuführen. 1.3.2 Bilderklärungen Gleiches gilt auch für Lichtenbergs Bilderklärungen, unter denen an erster Stelle G. C. Lichtenbergs ausführliche Erklärung der Hogarthischen Kupferstiche (in fünf Lieferungen 1794-1799), Lichtenbergs literarisches Hauptwerk, zu nennen ist. Es finden sich darin kaum eigentliche sprachtheoretische Aussagen, aber eine Fülle anthropologischer, ästhetischer und semio-

29 tischer Bemerkungen, die im weiteren Umkreis von Lichtenbergs Sprachdenken durchaus Sinnbezüge ergeben. Verwiesen sei auch noch auf die physiognomischen Analysen (unter der Künstlichkeitskautele, s.o. 1.3.1) in: Der Fortgang der Tugend und des Lasters (1778) und die Kontrapositionen natürlichen und „affectierten", d.h. künstlichen, unnatürlichen Verhaltens in: Naturliche und affedierte Handlungen des Lebens. Erste Folge (1779) und Natürliche und affectierte Handlungen des Lebens. Zweite Folge (1780), in denen Lichtenberg Kupfer von Daniel Chodowiecki erklärt. Diese Erklärungen sind durch die Ausgabe von Karl Brinitzer unter dem Titel „Handlungen des Lebensu (s. Lichtenberg, Handlungen, hinfort: L/H) mittlerweile wieder leicht zugänglich. Die Kupfer ebenso wie die Erklärungen sind in ihrer überall durchscheinenden Biederkeit, die sich notdürftig als Vernunft und Maßhalten tarnt, symptomatisch für die Schlichtheitsanbetung und naive Natürlichkeitsidealisierung, womit über den zumindest formal noch immer privilegierten Adel moralisch sich erhoben zu haben die bürgerliche Schicht und die von ihr getragene Magazinkultur des 18. Jhdts. in Anspruch nahmen. Aus den natürlichen und affectierten Handlungen ... (L/H) möchte ich vor allem die Erklärungen zu Blatt 3 und 4 („Die Unterredung") der 1. Folge und Blatt 3 und 4 („Empfindung") der 2. Folge hervorheben. Bei der Gegenüberstellung eines „affectierten" und eines „natürlichen" Paares in der „Unterredung" geißelt Lichtenberg die hohle Etikette der Nichtkommunikation des affektierten, offenkundig adeligen Paares als „dialogisches Selbstgespräch" und läßt eine subtile Analyse der Posen der zwei dargestellten Personen folgen. Bei dem Bild des „natürlichen" Paares (unverkennbar zwei bürgerliche Unschuldslämmer) schreibt er nur: „Dieses sind Deutsche, sprechen deutsch, sehen sich und verstehen sich" (L/H: 38). Es mag sein, daß die gezeigten Tröpfe deutsch sind und sprechen, etc., jedenfalls scheinen sie sich nicht viel zu sagen zu haben, so daß ihnen natürlich auch das gegenseitige Verstehen keine Schwierigkeiten bereiten kann. Auch bei den Blättern zur „Empfindung", dargestellt ist jeweils ein Paar, das den Sonnenuntergang im Freien betrachtet, plädiert Lichtenberg für die schlichte, stille Ergriffenheit gegen die emphatische Entäußerung (Affectation), nicht ohne gegen Klopstock und den Hainbund zu schießen. Hier aber gerät ihm die Erklärung zum Blatt 3 zum stilistischen Meisterwerk, worin er in vollkommen beherrschtem Prosarhythmus die sprachliche Unausdrückbarkeit tiefer Emotionen thematisiert. Er wolle gar nicht erst versuchen, ein solches Erlebnis in Worte zu fassen, denn

30 „mich würde der Unsegen schrecken, der, wie man an dem Beyspiel so vieler unserer jugendlichen Dichter sieht, die Ausplauderung dieser Mysterien begleitet. Sprecht durch diese Empfindung so viel ihr wißt, aber plaudert von diesen Empfindungen so wenig als möglich, am allerwenigsten glaubt, ihr empfändet durch besondere Begünstigung der Natur allein, was ihr allein Schwachheit genug besitzt der Welt vorzusingen" (L/H: 50 f.).

Gerade dieses unauflösliche Nebeneinander von Plattheit und Tiefsinn, das eine Reihe der großen deutschen Aufklärer (z.B. auch Wieland) in ihren Werken hinterlassen haben, scheint mir, offen gesagt, der Widerhaken zu sein, der beim heutigen Leser ein mehr als nur antiquarisches Interesse provoziert. Ich muß mich für diesen Exkurs über die Bilderklärungen und die Ambivalenz der Aufklärung in Bezug auf den Grad ihrer Aufgeklärtheit entschuldigen, schweifte er doch weit vom Thema „Sprachdenken" ab. Ich denke aber, daß ein gelegentlicher Verweis über den unmittelbaren Gegenstand der Untersuchung hinaus nicht nur kein Schaden ist, sondern sogar eine Notwendigkeit. 1.3.3 Naturwissenschaftliche Schriften Aus Lichtenbergs naturwissenschaftlichen Schriften ist für die Rekonstruktion einer Sprachtheorie vor allem die Vorrede zur sechsten Auflage (1794) von Johann Polycarp Erxlebens Kompendium Anfangsgründe der Naturlehre wichtig. Hier geht Lichtenberg in extenso auf Fragen der Terminologiebildung in den Wissenschaften und auf den Beitrag von Terminologien zum wissenschaftlichen Fortschritt bzw. Fortschreiten ein. Es wird sich zeigen, daß gerade hier zentrale Thesen zur Interdependenz von Sprache und Erkenntnis ihre praktische Anwendung finden. 1.3.4 Briefwechsel Ein noch weitgehend unausgeschöpftes Reservoir von Lichtenbergs Gedanken stellt sein Briefwechsel dar. Die (umfassende) Auswahl von Promies (P IV) und die Gesamtedition des Briefwechsels durch Joost und Schöne (J/S) geben hierfür eine hervorragende Textgrundlage. Im Rahmen dieser Arbeit werde ich aber nur von zwei Briefen essentiellen Gebrauch machen, die Lichtenbergs Rezeption von David Hartleys Assoziationspsychologie belegen. Es sind dies:

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a) An Schernhagen, vom 16. und 17. 10. 1775; P IV: Nr. 111, S. 246 ff., bes. 253 f.; J/S I: Nr. 289, S. 564 ff., bes. S. 571, und b) an Blumenbach, (Anfang) 1777; P IV: Nr. 142, S.287 ff. ; J/S I: Nr. 368, S. 672 ff. Der Inhalt von Hartleys Theorie bildet einen Hauptgegenstand im dritten Abschnitt dieser Arbeit.

1.3.5 Sudelbücher Die Sudelbücher sind letztlich die wichtigste Quelle für jede Beschäftigung mit Lichtenbergs Denken. An dieser Stelle sei nur nochmals erwähnt, daß sich alle Quellennachweise auf die Promies-Ausgabe der Sudelbücher (P I und II) beziehen, und eine Liste der m.E. überhaupt für Lichtenbergs Sprachauffassung relevanten Einträge dieser Arbeit als Anhang beigegeben ist. Schließlich sei noch auf ein letztes, für die intensive Beschäftigung mit Lichtenberg außerordentlich nützliches Hilfsmittel hingewiesen. Dabei handelt es sich um die von Hans Ludwig Gumbert 1982 herausgegebene Bibliotheca Lichtenbergiana - Katalog der Bibliothek Georg Christoph Lichtenbergs, die Lichtenbergs Bücherbesitz soweit möglich rekonstruiert. Dieser Katalog umfaßt allein 1911 Titel aller nur denkbaren wissenschaftlichen und literarischen Sparten. Viele Schlüsse auf mögliche Einflüsse auf Lichtenberg können durch diesen Katalog erheblich unterstützt werden. An sprachwissenschaftlich einschlägiger Literatur werden 24 Wörterbücher (dänisch, deutsch, englisch, französisch, griechisch, italienisch, schwedisch, spanisch, sowie an deutschen Dialekten bremisch-niedersächsisch, hamburgisch-niedersächsisch, osnabrückisch-westfälisch) und 25 philologische Werke (Grammatiken, Stilkunden, sprachtheoretische Schriften) verzeichnet; weitere relevante Werke finden sich u. a. bei den philosophischen Büchern, so z.B. Priestleys Hartley-Ausgabe und die Preisschrift von Johann David Michaelis in der französischen Fassung Sur l'influence des opinions sur les langage, et du langage sur les opinions, Bremen 1762; lateinische und griechische Gebrauchsgrammatiken unter „Altertum" (Nr. 1548 ff.).

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1.4 Forschungsüberblick Obwohl es zu Lichtenberg einen immensen Reichtum an Forschungsliteratur gibt (schon Jung 1972 weist knapp 500 Arbeiten nach), sind Untersuchungen, die sich spezieller mit seiner Sprachphilosophie befassen, recht selten. Dies gilt umso mehr, wenn man, wie in der vorliegenden Arbeit, zwischen Theorie des Stils und Theorie der Sprache unterscheidet. Selbstverständlich finden sich in Lichtenbergs Stiltheorie deutliche Spuren seiner Sprachauffassung; dennoch sind Sprache und Stil zu trennen. Es ist mir sehr wohl bewußt, daß die Grenze zwischen Stil- und Sprachtheorie schwierig zu ziehen, oftmals fließend und vielfach umstritten ist; nichtsdestotrotz will ich versuchen, in wenigen Worten eine solche Grenze zumindest für den Bereich der vorliegenden Arbeit zu konstitutieren. Ich stehe dabei vor dem besonderen Problem, daß ich mich vorwiegend mit der Frage der Wechselbeziehung zwischen Denken und Sprache bei Lichtenberg beschäftige, und diese Beziehung gerade nach Lichtenbergs eigener Aussage auch einen stiltheoretischen Aspekt hat. Seine durch das Exzerpt in F 709 belegte Kenntnis und Anerkennung von Buffons Akademierede (Discours prononce dans l'Academie Frangoise le samedi 25 aoüt 1753} ist hier schon Hinweis genug. Lichtenberg zitiert u.a.: „le stile doit graver des pensees, ils [die bloßen Wortklingler, J.R.] ne savent que tracer des paroles" (F 709). Und A 22 spricht expressis verbis vom „Einfluß des Stils auf unsere Gesinnungen und Gedanken". Es scheint also gerade bei Lichtenberg gänzlich hoffnungslos, zwischen Sprache und der Art des sprachlichen Ausdrückens (Stil) unterscheiden zu wollen. In einem gewissen Sinne trifft dies auch tatsächlich zu, nämlich insofern Sprache nach meiner Interpretation Lichtenbergs immer als Ganzes von abstraktem System und konkreter Äußerung zu betrachten ist. Da die stilistische Prägung natürlich in jedem Fall zu einer jeden konkreten Äußerung gehört, fällt der Stil immer auch in den Bereich des von einer Sprachtheorie zu Erfassenden. Dennoch läßt sich auch ein Unterschied zwischen Stil und Sprache im engeren Sinne konstruieren; es ist dies allerdings weniger ein Unterschied in der Substanz als in der Einstellung: die Sprachtheorie im hier verwendeten Sinne hat die epistemische Frage zum Gegenstand, was sich eigentlich sprachlich ausdrücken läßt, wohingegen sich die Stiltheorie im engeren Sinn mit der normativen Frage befaßt, wie etwas sprachlich ausgedrückt werden soll. In diesem Sinn ist Buffons Akademierede auch eine echte stiltheoretische Abhandlung, da er ja Forderungen an den zu

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pflegenden Stil aufstellt, die eine optimale Verständlichkeit des Auszusagenden gewährleisten sollen, ohne zu hinterfragen, ob Sprache überhaupt das Aussagen leisten kann. Diesen Unterschied zwischen normativen und epistemischen Fragestellungen und ihnen korrespondierenden Theorien wahren nicht alle Arbeiten, die sich mit Lichtenbergs Sprachdenken befassen. Das prominenteste Beispiel hierfür ist wohl Heinz Gockels im übrigen hervorragende Monographie Individualisiertes Sprechen (= Gockel 1973). Gockel untersucht den stilistischen Aufbau von Lichtenbergs Aphorismen, deren Stil Lichtenberg ja auch in seine längeren Schriften hineinträgt. Er schlüsselt die Funktion des Metaphorischen, des Paradoxen und des Gegen-den-Strich-Schreibens bei Lichtenberg als die „Denkform: Witz" (Gockel 1973: 75 ff.) auf. Diese Stilmittel dienen Lichtenberg dazu, den Leser zum Selbstdenken zu veranlassen und sind auch Ausdruck seines eigenen Selbstdenkens. Mir stellt sich Gockels Arbeit so dar, daß er als Ziel der Aufklärung die Individualisierung des Menschen sieht; die Individualisierung des Menschen fordert aber zuallererst die Individualisierung des Sprechens als dem primären Ausdruck der Person und der Persönlichkeit. Lichtenberg ist der Prototyp dieses aufklärerischen Menschenbildes einer kommunikativen Individualisierung. Da nun die Zielvorstellung der Individualisierung des Menschen sowohl dem aufklärerischen Ideal der Selbsterkenntnis (gnothi se auton), als auch dem Begriff der Mündigkeit (des Menschen als Bürger) unterliegt, aber gerade für die Aufklärung die Individualität des Menschen nicht oder jedenfalls nicht nur naturgegeben ist, sondern als Entwicklungsprozeß in der Gemeinschaft verstanden wird, und da ferner die Gemeinschaft in der Aufklärung in erster Linie als Kommunikationsgemeinschaft gesehen wird (die Redeweise von der „republique des lettres" ist hier ganz unmetaphorisch zu nehmen), halte ich Gockels Argumentation für überzeugend. Zu fragen bleibt allerdings, welcher Art die Sprache denn nun eigentlich ist, die dieser Aufgabe, der Individualisierung des Menschen zu dienen, gerecht werden können soll. Gockel entwickelt hierzu die funktionalistischen und epistemologischen Aspekte von Lichtenbergs Sprachtheorie, nicht aber den naturwissenschaftlich-materialistischen. Sprache wird als auf einen Verstehenshorizont bezogenes Zeichensystem, das zu diesem in wechselseitiger Verweisrelation mit der Wirklichkeit steht, aufgefaßt (Gockel 1973: 95 ff.). Gockel gelangt zu dieser mehrfach wechselseitigen Verweisrelation, weil s.E. nicht nur die Sprache als Zeichen nur vor dem Hintergrund eines einheitlichen Verstehenshorizontes auf die Wirklichkeit verweisen kann, sondern auch

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die Wirklichkeit als Erkenntnisgegenstand letzten Endes zum Zeichen wird und auf den Verstehenshorizont verweist: „Nicht nur die Sprache ist Zeichen, auch das Wirkliche. ... Wort und Sache treffen sich in der gemeinsamen Funktion, Zeichen für einen ihnen vorgegebenen Verstehenshorizont zu sein. ... Das Verstehen gründet hier zuerst in dem Verhältnis beider zum vorgegebenen Sinnzusammenhang und erst in abgeleiteter Weise in dem Verhältnis, das Sprache und Wirklichkeit untereinander haben" (Gockel 1973: 96).

Daß Gockel diesen Verstehenshorizont radikal transzendent verstanden wissen will, ergibt sich sowohl aus seinem Hinweis auf mittelalterliche Bedeutungsteorien (Gockel 1973: 96 unten, Fn. 1), mit dem er wohl auf Ansichten, wie sie am bekanntesten in des Alanus ab Insulis „Omnis mundi creatura" dargetan werden, anspielt, als auch aus seinen Charakterisierungen des Verstehenshorizontes als „auch dem Wirklichen jenseitige Sinngebung" und „sie [die Sprache, J.R.] bestimmende Seinsordnung" (ebenfalls S. 96). Stark vergröbert ausgedrückt, ist für Gockel der Zusammenbruch des universalen Verstehenshorizontes Anlaß für die dann zunehmend radikalisierte Infragestellung der Leistungsfähigkeit der Sprache in Bezug auf die Aussagbarkeit von Sachverhalten, die zuletzt in der aufklärerischen (Lichtenbergschen) Sprachkritik kulminiert. Lichtenberg führt danach die Sprachkritik an ihr Ende, indem er programmatisch auf die „Aussage des Ganzen" verzichtet und die konsequente Individualisierung des Denkens und Sprechens einfordert — und mit seinen Aphorismen auch einlöst. Nun ist klar, daß Gockel hier nicht eigentlich Lichtenbergs Sprachtheorie rekonstruiert oder zu rekonstruieren versucht, sondern seine eigene Deutung des historischen Werdegangs im europäischen Sprachbewußtsein vom Mittelalter bis zum 19. Jhdt. einbringt, um im Anschluß daran eine literaturwissenschaftliche Ästhetik Lichtenbergs zu rekonstruieren: Gockels „individualisiertes Sprechen" ist ein Motto für „Lichtenbergs Kunst, Aphorismen zu schreiben". Es ist nicht meine Aufgabe, Gockels Rekonstruktion von Lichtenbergs Ästhetik zu beurteilen, Gockels Bild von Lichtenbergs sprachtheoretischem Hintergrund bedarf in jedem Falle der Korrektur. Gockel geht in zwei fundamentalen Punkten fehl: 1. Er übersieht oder ignoriert Lichtenbergs mechanistisch-naturwissenschaftlichen Hintergrund in der Frage der menschlichen Sprachfähigkeit. Dieser wird im Abschnitt 3 der vorliegenden Arbeit ausführlich erörtert.

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2. Er liefert keinerlei Argument dafür, inwiefern Lichtenbergs Sprachkritik irgendetwas mit dem vermeintlichen Zusammenbrach des universalen, transzendenten Verstehenshorizonts des Mittelalters zu tun haben soll. Der ganze Gedanke, daß das Verhältnis Sprache - Wirklichkeit deshalb problematisch wird, weil kein Verstehenshorizont mehr gefunden werden kann, ist bei Lichtenberg m.W. nicht aufzufinden. Letzterer Befund, der ja auch ein Zufallsergebnis der Textüberlieferung oder meiner Textkenntnis sein könnte, läßt sich aber systematisch untermauern. Zum einen ist keineswegs klar, daß die Infragestellung der Sprache-Wirklichkeit-Relation ein Ergebnis der Säkularisierung mittelalterlicher Ontologie und Theologie ist. Weder läßt sich aber eine naive Bezeichnungsrelation zwischen Sprache und Ding durch die Annahme eines beiden jenseitigen Verstehenshorizontes retten, noch ist die These haltbar, Wirklichkeit und Sprache könnten in ihrem Verweischarakter auf den Seinsgrund auf eine Stufe gestellt, und damit eine Bedeutungslehre für das quasi-semiotische Dreieck Sprache-Wirklichkeit-Verstehenshorizont geleistet werden. Daß die Beziehung Sprache - Wirklichkeit alles andere als trivial (also schlicht „bezeichnend") ist, ist spätestens seit Parmenides fester philosophischer Topos, und in Platons Sophistes werden die Schwierigkeiten einer naiven Bedeutungstheorie, in der die Sprache sich unmittelbar auf die Wirklichkeit bezieht, ausführlich erörtert. Um die allgemein akzeptierte Ansicht, daß es sowohl wahre, als auch falsche Aussagen gibt, erklären zu können, nimmt Platon fünf ontologische Grundkategorien an, nämlich das Seiende, die Ruhe, die Bewegung, das Selbe und das Verschiedene (254 b 7 - 255 e 7). Mit diesen Kategorien versucht Platon, die Ausbildung von Vorstellungen und Urteilen, sowie deren sprachliche Aussagbarkeit zu ermöglichen. Eine falsche Aussage entsteht danach, wenn einem Seienden ein anderes Seiendes beigelegt wird, das aber tatsächlich ein verschiedenes Seiendes ist, d.h. dem gemeinten Seienden nicht tatsächlich zukommt (ein Selbes ist). „Theaitet sitzt" etwa ist, wenn Theaitet gerade sitzt, wahr, weil in dieser Aussage ein Seiendes genannt wird („Theaitet") und diesem ein weiteres Seiendes (das „sitzen") beigelegt wird, das ihm zukommt, in Bezug auf Theaitet also ein Selbes ist. „Theaitet fliegt" ist in derselben Situation falsch, weil hier einem Seienden ein anderes Seiendes (das „fliegen") beigelegt wird, das in Bezug auf dieses Seiende (hier: Theaitet) „verschieden" ist, ihm also nicht zukommt. In Bezug auf Theaitet ist das Fliegen ein Nichtseiendes, aber nicht ein absolut Nichtseiendes: es gibt Seiendes, das fliegt (z.B. Vögel); das vermeintlich Nichtseiende wird von

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Platon als das tatsächlich lediglich in Bezug auf ein Bestimmtes Verschiedene, aber nichtsdestoweniger Seiende ermittelt. Damit ist das Paradox des Parmenides, daß das Nichtseiende in keiner Weise ausgesagt werden könne, aufgelöst. Gleichzeitig ist aber auch die Sprache-Welt-Beziehung schwieriger geworden. Zwar gibt die Sprache immer noch Seiendes an, aber sie kann auch Unzusammengehöriges als Zusammengehöriges verknüpfen und also falsche Rede entstehen lassen. Die Aussage ist mehr als Bezeichnung. Sie ist Behauptung. Hinzu kommt, daß für Platon Sprache vermutlich Vorstellungen und Begriffe bezeichnet und nicht die Welt: in Sophistes 263 e sagt der Fremde: „Also Denken und Rede sind dasselbe, nur daß das innere Gespräch der Seele mit sich selbst, was ohne Stimme vor sich geht, Denken genannt worden ist" (Schleiermacher-Übersetzung). Inhalt des Denkens sind aber die Ideen.und erst sehr vermittelt die Welt. Und auch Aristoteles führt bereits im 1. Kap. von Peri hermeneias hinsichtlich des Zeichencharakter der Sprache Ähnliches aus: „Es sind also die Laute, zu denen die Stimme gebildet wird, Zeichen der in der Seele hervorgerufenen Vorstellungen, und die Schrift ist wieder ein Zeichen der Laute. Und wie nicht alle dieselbe Schrift haben, so sind auch die Laute nicht bei allen dieselben. Was aber durch beide an erster Stelle angezeigt wird, die einfachen seelischen Vorstellungen [Begriffe, J.R], sind bei allen Menschen dieselben, und ebenso sind es die Dinge, deren Abbilder die Vorstellungen sind" (Rolfes-Ubersetzung).

Von einer einfachen Bezeichnung der Wirklichkeit durch die Sprache kann also jedenfalls für die antike Literatur keinesfalls die Rede sein; da insbes. Peri hermeneias dem Mittelalter wohlvertraut war, ist die Zuschreibung einer naiven Bedeutungstheorie an das Mittelalter doch, gelinde gesagt, zumindest kühn. Aber auch die Ineinssetzung der Zeichenmächtigkeit von Wirklichkeit und Sprache als mögliche Verweiser — und lassen wir jetzt die semiotische Terminologie — als Verweiser auf Gott und sein Wirken dürfte weder den historischen Tatsachen noch der heutigen Vernunft entsprechen. Auch und gerade dem Mittelalter war selbstverständlich der Unterschied zwischen Allegorie und eigentlichem Bedeuten geläufig. Um im Bilde des Alanus zu bleiben: daß Rosen gemeinhin rasch verblühen, ist dem Satze „Rosen verblühen gemeinhin rasch" dann und nur dann zu entnehmen, wenn man des Deutschen mächtig ist, in diesem Falle aber ohne weitere Interpretation (im Sinne einer rationalen Rekonstruktion), daß das rasche Verblühen der Rose als Sinnbild für die leibliche Hinfälligkeit des Menschen gebraucht werden kann, setzt wesentlich mehr voraus, wenigstens die Beherrschung

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des Analogieschlusses, daß die Rose dem Menschen darin gleicht, daß für unseren Geschmack beide schneller vergehen, als uns lieb ist. Was immer nun bedeuten im eigentlichen Sinne sein mag, es ist jedenfalls etwas anderes als Metapher und Allegorie. Metaphern und Allegorien (in noch komplexerer Weise auch die Ironie) bedienen sich immer mindestens einer Analogie, d.h. erfordern einen Analogieschluß, um verstanden zu werden; die einfache Bedeutung eines Ausdrucks hingegen ist ohne jeden Analogieschluß unmittelbar gegeben. D.h. zum Verstehen einer Metapher etc. sind mehr und andere kognitive Fähigkeiten vonnöten als nur das Sprachvermögen. Es ist ja auch bezeichnend, daß Kinder zwar die Sprache sehr früh und unglaublich schnell erwerben, aber mit den uneigentlichen Formen des Sprechens und Ausdrückens (Metapher, Ironie, rhetorische Frage) erst sehr viel später zurecht kommen. Dies entspricht dem noch unentwickelten Stand ihrer Weltkenntnis und (logischen) Urteilskraft, die beide für Analogieschlüsse unabdingbar sind. Insofern ist der (allegorische) Verweischarakter der Wirklichkeit auf einer grundsätzlich anderen Ebene als der Bedeutungscharakter der Sprache situiert. Worauf Gockel wohl hinauswill ist, daß in Anbetracht 1. der Arbitrarität der Zeichen und 2. der Wechselbezogenheit von Sprache und Wirklichkeit in absoluter Weise gewährleistet werden muß, daß die Zeichen die Wirklichkeit auch tatsächlich treffen. Wenn die Zeichen in die menschliche Beliebigkeit gestellt sind und unsere, menschliche Wirklichkeit konstitutiv miterzeugen, besteht dann nicht die Gefahr, daß unsere Wirklichkeit eine bloße Phantasmagorie ist und mit der „Wirklichkeit jenseits aller Zeichen" (man könnte auch sagen: den Dingen an sich) gar nichts zu tun hat, die „wirkliche Wirklichkeit" also gar nicht trifft? Hier hat Gockel zweifelsohne recht, nur ein transzendenter Horizont kann dieses „Treffen" garantieren, aber wissen können wir von diesem Horizont natürlich genausowenig wie von der „wirklichen Wirklichkeit". Solange wir Menschen sind, gibt es für uns keine Erkenntnis jenseits der menschlichen Wirklichkeit. Und dies ist auch genau der Punkt, wo Lichtenberg überzeugter Kantianer ist. Selbst wenn es den Verweischarakter von Sprache und Wirklichkeit auf die Transzendenz geben sollte, kann er nicht gedacht werden, da er als Denkinhalt sofort zur Metapher wird (wie die Rose bei Alanus). Eine Metapher steht aber wiederum völlig innerhalb des Systems Sprache - Wirklichkeit. Der transzendente Verstehenshorizont kann also grundsätzlich keine Rolle in der Erkenntnis spielen. Daraus folgt, daß insbesondere auch das

38 Schwinden jenes ominösen „Verstehenshorizontes" unmöglich der Grund für die beginnende Sprachkritik sein kann. Aber auch, daß Lichtenberg — dann eben fälschlich — geglaubt habe, dieses Schwinden könne etwas mit dem „Brüchigwerden" der Bedeutungsmächtigkeit der Sprache zu tun haben, halte ich für nachgerade ausgeschlossen. Lichtenbergs Kant-Rezeption zeigt, daß er hinsichtlich einer transzendenten Seinsordnung nur zwei mögliche Auffassungen haben konnte: jede sog. Seinsordnung ist notwendig eine Projektion des Menschen — die „Natur schafft keine genera und species, sie schafft individua und unsere Kurzsichtigkeit muß sich Ähnlichkeiten aufsuchen um vieles auf einmal behalten zu können..." (A 17). Entweder gehört nun die Projektion der Semsordnung zum AprioriApparat des Menschen, dann ist sie für alle Menschen gleich und kann, solange der Mensch als Art konstant bleibt, auch wenn die Art Mensch nur ein Konstrukt der menschlichen Erkenntnisfähigkeit ist, ebensowenig schwinden wie die Fähigkeit, dreidimensional zu sehen oder Euklidische Dreiecke vorzustellen. Oder aber diese Projektion ist ein Produkt der kulturellen Entwicklung des Menschen, dann aber ist sie kontingent und nicht transzendent, und im übrigen ein Epiphänomen der Sprache, nicht aber ihr vorgegeben: „Ich und mich. Ich fühle mich - sind zwei Gegenstände. Unsere falsche Philosophie ist der ganzen Sprache einverleibt; wir können sozusagen nicht raisonnieren, ohne falsch zu raisonnieren. Man bedenkt nicht, daß Sprechen, ohne Rücksicht von was, eine Philosophie ist. Jeder, der Deutsch spricht, ist ein Volksphilosoph, und unsere Universitätsphilosophie besteht in Einschränkungen von jener. Unsere ganze Philosophie ist Berichtigung des Sprachgebrauchs, also die Berichtigung einer Philosophie, und zwar der allgemeinsten. Allein die gemeine Philosophie hat den Vorteil, daß sie im Besitz der Deklinationen und Konjugationen ist. Es wird also immer von uns wahre Philosophie mit der Sprache der falschen gelehrt. Wörter erklären hilft nichts; denn mit Wörtererklärungen ändere ich ja die Pronomina und ihre Deklination noch nicht" (H 146).

Es ist wohl keine übertriebene Interpretation, in H 146 die Subjekt-ObjektSpaltung als Konkomitat der Sprache formuliert zu sehen. Dieser Passus wird später noch ausführlicher diskutiert werden, hier genügt festzustellen, daß die Sprach- und Bedeutungstheorie, die Gockel für die Exegese Lichtenbergs vorschlägt, bei genauerer Betrachtung unbefriedigend bleibt. Auch die andere Monographie zu Lichtenbergs Sprache, die es zu erwähnen gilt, nämlich Albrecht Schönes Aufklärung aus dem Geiste der

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Experimentalphysik. Lichtenbergsche Konjunktive (= Schöne 1982) ist eine stiltheoretische Untersuchung, die allenfalls implizit eine bestimmte Sprachtheorie Lichtenbergs nahelegt. Schöne versucht, einen Zusammenhang zwischen Lichtenbergs experimentalphysikalischem Weltbild, seiner Neigung zum Aphorismus als Möglichkeit, zu neuen Ideen zu gelangen, und der Häufigkeit der Konjunktivverwendung in Lichtenbergs Aphorismen nachzuweisen. Kennzeichnend für die Experimentalphysik (zumindest des 18. Jhdts.) ist nach Schöne die Hypothese, die durch den kontrollierten Versuch (das Experiment) erhärtet oder in Frage gestellt wird. Kennzeichnend für den (Lichtenbergschen) Aphorismus ist es, Dinge hypothetisch in neue bzw. ungewohnte Zusammenhänge zu stellen. Das Experiment zur Hypothese ist dabei die sprachliche Formulierung, d.h. die Realisierung des hypothetischen Zusammenhangs in sprachlicher Form. Kennzeichen des Konjunktivs (vor allem als Potentialis oder Irrealis) ist es, bevorzugtes sprachliches Ausdrucksmittel zur Wiedergabe hypothetischer Sachverhalte zu sein. Und in der Tat läßt sich bei Lichtenberg statistisch ein gesteigertes Vorkommen von Konjunktiven, speziell aber des Konjunktivs II (Irrealis), nachweisen (Schöne 1982: 15 - 21). Da Lichtenbergs Sudelbücher — sowohl nach eigenem Bekunden, wie auch von Schöne im Fortgang seines Werkes deutlich herausgearbeitet — Notizhefte und Gedankenbücher sind, die in erster Linie dem Festhalten von neuen, noch nicht durchsystematisierten Ideen und von seinerzeit inopportunen Gedanken dienten, d.h. vor allem „unvorgreifliche", eben hypothetische Überlegungen, und nicht definitive Behauptungen enthalten, ja geradezu programmatisch ihn selbst und vielleicht auch andere zum Weiterdenken veranlassen sollten, zeigt die Untersuchung, nunmehr aber empirisch und hermeneutisch makellos abgesichert, vor allem das eine: Lichtenberg konnte schlicht Deutsch. Wäre nicht auch heute noch der Irrealis das von der deutschen Grammatik ausgewiesene Mittel, wie man — insbesondere in der Frageform und in der abhängigen Rede — eine Hypothese in den Raum stellen könnte! Oder läge darin zuviel Ironie? Es ist eben unmöglich, aus Stil und Sprachgebrauch eines Autors alleine auf seine Sprachtheorie zu schließen, einfach deshalb, weil die Frage, ob eine bestimmte Formulierung Ausdruck eines bestimmten sprachtheoretischen Programms oder der aktiven Sprachkompetenz des Autors ist, ohne explizite Stellungnahme des Autors nicht zu entscheiden ist. Bei Lichtenberg tritt erschwerend hinzu, daß selbst unter der Annahme, seine Sprach-

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theorie beinhalte eine genuine Rolle der Sprache im Erkenntnisprozeß, d.h. daß Experimente mit Sprache (Formulierungen, Metaphorisierungen) also zu neuen Ideen oder zumindest neuen Perspektiven führen könnten, der Stil als solcher noch wenig ergiebig für die Interpretation ist, da mit der Möglichkeit, daß Lichtenberg die betreffende Bemerkung scherzhaft meint, gerechnet werden muß. Für eine Sprachtheorie interessant wäre ja die Häufung Lichtenbergischer Konjunktive nur, wenn sie einem grammatischen Programm, einer syntaktischen Theoriebildung entspränge; aber genau dafür bietet Lichtenbergs Werk keine Evidenzen, und auch Schöne kann hier nichts aufweisen. Lichtenberg ist zumindest darin ganz Kind seiner Zeit, daß er für genuin Syntaktisches praktisch kein Problembewußtsein erkennen läßt. Das Jahrhundert der „erklärenden Syntax" ist das 18. jedenfalls noch nicht. Einen wesentlich überzeugenderen Weg wählt hier Alfred Nordmann (in Nordmann 1988), der aus Lichtenbergs Thesen zur Naturwissenschaft und insbesondere zur französischen Chemie seiner Zeit (v.a. Lavoisier) weitreichende Schlußfolgerungen für Wert und Konstitutionsbedingungen einer wissenschaftlichen Nomenklatur und für die Konsenstheorie der Wahrheit zieht: „Theorien und Hypothesen sind Instrumente des Denkens, an der überlieferten Sprache müssen sie sich bewähren" (Nordmann 1988: 127). Im vierten Kapitel werde ich auf die Folgerungen aus der Nomenklaturdiskussion für die Sprachtheorie Lichtenbergs ausführlich eingehen. Trotz der Unzulänglichkeit seines Ansatzes ist Schöne jedoch auch vor einem Angriff Uedings (Ueding 1988) in Schutz zu nehmen. Ueding stellt in seinem Beitrag in Abrede, daß Lichtenbergs Aufklärungsbegriff, wie von Schöne behauptet, aus dem „Geist der Naturwissenschaft", spezieller aber aus der Experimentalphysik hervorgehe; vielmehr erwachse er aus der ars inveniendi der antiken, inbesondere aber der humanistischen Rhetoriktradition: „Womit auch deutlich wird, daß die Annahme, die besondere Form der Lichtenbergschen Aufklärung stamme aus dem Geist der Naturwissenschaft, den wahren Sachverhalt auf den Kopf stellt. Nicht nur historisch liegt der naturwissenschaftlichen Findekunst die rhetorische ars inveniendi zugrunde, [...] Lichtenbergs naturwissenschaftliches Denken selber erwächst aus der Diskussion der Frage nach seiner methodischen Kontinuität oder Zusammenhanglosigkeit mit dem rhetorisch-humanistischen Wissenschaftsbegriff [...] Die Dinge wurden Lichtenberg immer nur verständlich, wenn er sie als menschliche Dinge denken konnte" (Ueding 1988: 81).

Zwar ist es ganz unbestreitbar, daß Lichtenberg — wie nahezu alle Aufklärer — einem entschiedenen homo-mensura-Standpunkt das Wort redete,

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jedoch ist die These, daß dieser Standpunkt Ausdruck eines bewußt angenommenen humanistischen Erbes sei, kaum zu halten. Was oberflächlich so aussehen mag wie anthropozentrischer Humanismus, ist — jedenfalls bei Lichtenberg — in Wirklichkeit nichts anderes als epistemologischer Kantianismus — erkennbar ist nicht die Welt, sondern nur unsere Anschauung von ihr: „Mit eben dem Grade von Gewißheit, mit dem wir überzeugt sind, daß etwas in uns vorgeht sind wir auch überzeugt, daß etwas außer uns vorgeht. Wir verstehen die Worte innerhalb und außerhalb sehr wohl. Es wird wohl niemand in der Welt sein, auch wohl schwerlich je geboren werden, der nicht diesen Unterschied empfände; und das ist für die Philosophie hinreichend. Hierüber sollte sie nicht hinausgehen. Es ist doch alles unnütze Mühe und verlorne Zeit. Denn was auch die Dinge sein mögen, so ist doch wohl ausgemacht, daß wir schlechterdings nichts von ihnen wissen als was in unseren Vorstellungen liegt. In dieser Rücksicht, die wie ich glaube richtig ist, ist doch wahrlich die Frage ob die Dinge wirklich außer uns vorhanden sind und so vorhanden sind wie wir sie sehen, völlig ohne Sinn. Ist es nicht sonderbar, daß der Mensch absolut etwas zweimal haben will, wo er an einem genug hätte, und notwendig genug haben nuß, weil es von unsern Vorstellungen zu den Ursachen keine Brücke gibt. Wir können uns nicht gedenken, daß etwas ohne Ursache sein könne, aber wo liegt denn diese Notwendigkeit? Antwort wiederum in uns bei völliger Unmöglichkeit aus uns heraus zu gehen. Es liegt mir wahrlich wenig daran ob man dieses Idealismus nennen will. Auf die Namen kommt nichts an. Es ist wenigstens ein Idealismus, der durch Idealismus anerkennt daß es Dinge außer ihm gebe, und daß alles seine Ursachen habe, was will man weiter. Es gibt ja keine andere Wirklichkeit für den Menschen, wenigstens für den philosophischen. Im gemeinen Leben beruhigt man sich mit Recht auf einer niedrigem Station. Aber ich glaube nach völliger Überzeugung: man muß entweder von diesen Gegenständen mit aller Philosophie völlig wegbleiben oder so philosophieren. Nach dieser Vorstellung sieht man leicht, wie recht Herr Kant hat Raum und Zeit für bloße Formen der Anschauung zu halten. Es ist nicht anders möglich" (L 811).

Weitere Belege für Lichtenbergs erkenntnistheoretischen Kantianismus finden sich in H 146 - 151, K 64 und K 74 - 85. Es geht also bei Lichtenberg nicht um die humanistische Konzeption des Menschen, sondern um die Grundlagen der Erkenntnistheorie. Und daß Lichtenbergs Forderung, „mit Ideen zu experimentieren" (K 308), eine Umformuherung der ars inveniendi sei, widerspricht seiner bezeugten Leidenschaft am naturwissenschaftlichen Experiment. Ueding neigt dazu, den rhetorischen Anteil in Lichtenbergs Denken zu verabsolutieren. Freilich sind alle Spekulationen Lichtenbergs über eine Methode zum Erlangen neuer Ideen bzw. neuer Theorien in hohem Maße von der rhetorischen Tradition geprägt. Das heißt aber nicht, daß auch sein

42 Begriff des naturwissenschaftlichen Experiments ein „rhetorischer" gewesen wäre, worunter Ueding eine „durch und durch anthropozentrische, qualitative Auffassung der Natur voller Realfiguren und Realsymbole, die es menschlich zu deuten gilt" (Ueding 1988: 81) versteht. Wie ich anhand von L 811 gezeigt habe, ist nach Lichtenberg nicht die Natur anthropozentrisch aufzufassen, sondern unsere Erkenntnis von ihr. Und was die „menschlich zu deutenden Realsymbole" anlangt, womit Ueding wohl auf die spielerisch-tändelnde Assoziationsfreude Lichtenbergs, die ihn oftmals von einer wissenschaftlichen Beobachtung zu einer kleinen Anzüglichkeit springen läßt (stand ihm sein Erometer doch auch oft über 90° , cf. J 644), anzuspielen versucht, so gilt hier das im Zusammenhang mit Gockels Verweischarakter der Wirklichkeit (= Realsymbol) Gesagte mutatis mutandis. Auf neue Einfalle, Ideen, Hypothesen, Erkenntnis#e6zeie zu kommen ist ja etwas anderes (nämlich spielerisch-kreativ), als eine Hypothese durch ein Experiment überprüfen zu wollen. Das Experiment ist letztlich die mechanisierbare Variation kontrollierter Parameter bei konstanten Randbedingungen. Eine originelle Idee besteht geradezu darin, daß neue Randbedingungen überhaupt erst geschaffen, oder alte überschritten werden. In diesem Sinne ist der Einfall qualitativ, das Experiment quantitativ. Lichtenberg hielt es für das Wesen der Naturphilosophie (Naturwissenschaft), quantifizierbar zu sein: „Sei aufmerksam, empfinde nichts umsonst, messe und vergleiche; dieses ist das ganze Gesetz der Philosophie" (A 130). Lichtenberg ist sich des Unterschiedes zwischen inventio und indicium sehr wohl bewußt: „Der Witz ist der Finder (Finder) und der Verstand der Beobachter" (J 1620), und er fordert (vermutlich scherzhaft), „einen Finder zu erfinden für alle Dinge" (J 1621), d.h. einen „Tubus heuristicus" (J 1622), ein heuristisches Teleskop also. Wenn Lichtenberg daher dazu auffordert, „mit Ideen zu experimentieren", verwendet er das Wort „experimentieren" metaphorisch, im Sinne eines systematischen Suchens nach neuen Einfallen und neuen Anwendungsgebieten für vorhandene Theorien, empfiehlt er doch als „ein bequemes Mittel mit Gedanken zu experimentieren , über einzelne Dinge Fragen aufzusetzen: z.B. über Trinkgläser, ihre Verbesserung, Nutzung zu anderen Dingen etc., und so über die größten Kleinigkeiten" (K 308). Am Rande sei auf die „methyologische" Relevanz (s.o. 1.3) von THnfcgläsern, die ihm hier als erstes in den Sinn kommen, hingewiesen. Ueding verkennt die Ambiguität des Wortes „Experiment" zwischen spielerischem Ausprobieren neuer Kombinationen und dem theoriegeleiteten Überprüfen einer wissenschaftlichen These, wobei nur erstere Bedeu-

43 tung in der Tradition der ars inveniendi steht. Überhaupt ist Ueding recht flüchtig in seinem Wortgebrauch. Inventio hat bei Quintilian mindestens zwei Bedeutungen, einmal die Vorbereitung, Einarbeitung, Materialsammlung, d.h. modern ausgedrückt die Konzeption der Rede und ihrer Teile, zum anderen die Erfindungskraft, sich das Richtige für den richtigen Moment einfallen zu lassen. Letztere ist aber gar keine ars und durch ars auch nicht vermittelbar (Quintilian V 10 „Über die Beweisgründe", 109 ff.). Lichtenbergs Ideenexperimente zielen gerade aber auf diese. Doch selbst in diesem Bereich des Findens war Lichtenberg eigentlich eher ein Gegner der rhetorischen Tradition. Vollkommene Erkenntnis besteht nämlich für Lichtenberg nicht im vollständigen „wissen, daß ..." einer Sache (propositionalem Wissen), sondern im vollständigen „wissen, wie ..." des Umgehens mit einer Sache (Handlungswissen, „Fertigkeit"). Der vollkommene Klavierspieler (man könnte irgendein anderes Handwerk als Beispiel nehmen) braucht nicht wissen oder sagen zu können, was beim Klavierspiel alles vor sich geht, d.h. er braucht keine Theorie des Klavierspiels angeben zu können, es reicht, wenn er die Fertigkeit besitzt, Klavier zu spielen. Und so für alle Erkenntnisgegenstände. Die vollkommene Erkenntnis ist ohne Bewußtsein ihrer selbst: „Wir tun alle Augenblicke etwas, das wir nicht wissen, [die] Fertigkeit wird immer größer, endlich würde der Mensch alles ohne es zu wissen tun und im eigentlichen Verstand ein denkendes Tier werden. Vernunft nähert sich der Tierheit" (F 424).

Genau das ist das Ende jeder Rhetorik als hermeneutischem Vorgehen. Handlungswissen ist interpretationsfrei. Das Erschreckende an F 424 ist für mich, daß gerade am Ende der Aufklärung, die programmatisch mehr vom Licht der Vernunft in die Winkel des einzelnen menschlichen Lebens bringen wollte, die radikalste Absage an den Wert der Individualität des Menschen steht. Nur im Bewußtsein seiner selbst ist der Mensch ja Individuum im Sinne von „Person". Das Bewußtsein seiner selbst ist aber unseres Wissens ein bloßes Konkomitat eines geistigen Aktes, einer Wahrnehmung, eines Urteils, einer Handlungsplanung usf. Wenn nun die Durchdringung aller geistigen Vollzüge mit der Vernunft durch die pure Fertigkeit ersetzt wird, die ohne Bewußtsein ihrer selbst ist, so fällt das Bewußtsein, das unsere individuelle Persönlichkeit ausmacht, überhaupt weg. Das „im eigentlichen Verstand denkende Tier" ist unpersönlich. Freilich ist das Beängstigende dieser Vorstellung vielleicht nur psychologisch verwunderlich. Philosophisch gesehen ist die These, daß die reine Vernunft unpersönlich ist, nicht nur uralt, sondern vor allem auch zwin-

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gend. Die reine Vernunft kann nicht als in unserem Sinne personalisiert vorgestellt werden. Je vernünftiger der Mensch wird, desto unpersönlicher wird er. Und wenn ich mich schon in einer egressio verliere, mag noch eine weitere — vielleicht sachlichere — Konsequenz aus F 424 angerissen werden. In ihrem — recht populärwissenschaftlichen — Buch Künstliche Intelligenz: von den Grenzen der Denkmaschine und dem Wert der Intuition (Dreyfus/Dreyfus 1987) konstatieren die Autoren, daß Computer niemals tatsächlich „intelligent" werden könnten, die Künstliche Intelligenzforschung (KI) mithin ein gewaltiger Schwindel sei, weil Computer nur über das „know that", nicht aber über das „know how" verfügen könnten. Kennzeichnend für den Menschen und die menschliche Intelligenz sei aber gerade das „know how", das heißt das „Sich-verhalten-können-in-der-Welt". Computer hätten aber weder Körper, noch soziale Praxis, könnten also niemals zu einem „know how" gelangen. Die Reduzierbarkeit von propositionalem auf Handlungswissen leiten sie aus der pragmatischen Konzeption höherer kognitiver Fähigkeiten des Menschen in der Spätphilosophie Wittgensteins ab. Die Autoren sind nicht sonderlich explizit in Bezug auf die Textstellen in den Philosophischen Untersuchungen, denen sie ihre Auffassung entnommen haben, hier ist jedenfalls kritisch festzustellen, daß der üblicherweise hierfür bemühte §150 lediglich — ich paraphrasiere jetzt Wittgenstein — von einer „offenbaren engen Verwandtschaft der Grammatik des Wortes < wissen > mit der Grammatik der Worte , , aber auch des Wortes , im dem Sinne, eine Technik zu " spricht. Verwandtschaft heißt aber nicht Identität. Unabhängig davon und von der Tatsache, daß die Quintessenz ihres Arguments eine vernünftige KI, die ja keine Homunculi hervorbringen will, gar nicht trifft, sondern allenfalls die Werbepropaganda der auf diesem Feld aus natürlich gänzlich unwissenschaftlichen Motiven engagierten Firmen und Ministerien und der von diesen als Geldgebern abhängigen universitären Institutionen, wirft Lichtenbergs Bemerkung ein noch ganz neues Licht auf Dreyfus/Dreyfus' Position hinsichtlich der vorgeblichen Fähigkeiten bzw. Unfähigkeiten von Computern. Ist denn nicht gerade der Computer ausschließlich mit „know how" ausgestattet? Er weiß ja nicht, was er tut. Er folgt lediglich einem Programm, das ihm die Fertigkeit verleiht, einen bestimmten Input in einen bestimmten Output zu verwandeln. Die Ebene des „know that", d.h. des interpretierten propositionalen Wissens existiert ja nur im Bewußtsein des menschlichen Benutzers.

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Hier liegen zwei Probleme vor, das des Bewußtseins und das der Kommunikationsgemeinschaft als sozialer Praxis. Aus beiden fällt der Computer (wie er z.Z. existiert) heraus, aber keines von beiden Problemen hat damit zu tun, daß der Computer über kein Handlungswissen verfügen könnte. In dieser Hinsicht gleichen sich Mensch und Tier und Maschine. Mit den letzten Bemerkungen sind zwei Themen angeschlagen, deren Behandlung den weiteren Gang der Arbeit wesentlich tragen wird, nämlich die mechanische Modellierbarkeit der geistigen Fähigkeiten des Menschen (Kap. 3) und die inhaltliche (nicht historisch-biographische) Beziehung zwischen Lichtenbergs Sprachdenken und Wittgensteins Spätphilosophie. Auf die deutlichen inhaltlichen Parallelen zwischen Lichtenberg und Mach, dem Wiener Kreis und Wittgenstein hat schon G. v. Wright in seinem Aufsatz Georg Christoph Lichtenberg als Philosoph (Wright 1942) hingewiesen. V. Wright hebt vor allem auf Lichtenbergs Kritik des Cartesischen Cogito in K 76 und den Bezug seiner Sprachkritik zum Philosophiebegriff Wittgensteins, vor allem über H 146, ab. In K 76 verwirft Lichtenberg das Cogito, weil es, insofern es ein Ich, das da denkt, setzt, schon zuviel stipuliert: „Wir werden uns gewisser Vorstellungen bewußt, die nicht von uns abhängen; andere glauben, wir wenigstens hingen von uns ab; wo ist die Grenze? Wir kennen nur allein die Existenz unserer Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken. Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt. Zu sagen cogito, ist schon zu viel, so bald man es durch ich denke übersetzt. Das Ich anzunehmen, zu postulieren, ist praktisches Bedürfnis."

Lichtenbergs Satz aus H 146: „Unsere ganze Philosophie ist Berichtigung des Sprachgebrauchs ..." ist natürlich unmittelbar auf Wittgensteins Satz aus §109 PU: „Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache" zu beziehen. Entgegen v. Wright, der eine Beeinflussung Wittgensteins durch Lichtenberg ausschloß (Wright 1942: 217), weist Merkel in seinem Aufsatz Denk nicht, sondern schau! (Merkel 1988) nach, daß Wittgenstein Lichtenberg zumindest gut kannte. Übrigens ist der Titel ein Zitat aus §66 P U; Merkel weist nämlich befremdlicherweise nur die Lichtenberg-, nicht aber die Wittgenstein-Zitate genau nach. Was den Aufsatz von Merkel in meinen Augen etwas problematisch macht, ist seine unklare Grundintention. Einerseits konzediert Merkel sowohl die Unbeeinflußtheit Wittgensteins vonseiten Lichtenbergs, als auch fundamentale Interessenunterschiede der beiden Philosophen (Merkel 1988: 42, wo er sehr treffend das

46 wesentliche Interesse Lichtenbergs an Einzelfragen der Naturwissenschaft als Unterschied herausstellt), andererseits aber weist er soviele Parallelen in Wittgensteins und Lichtenbergs Schriften, Ansichten und sogar psychischen Grundgestimmtheiten nach, daß beim Leser unwillkürlich der Eindruck einer mehr als zufälligen Übereinstimmung aufkommt. Merkels Aufsatz ist ein Musterbeispiel dafür, daß das Montageprinzip Zeichenwert (Signifikanz) konstituiert. Wie in einem Film das pure Zusammenmontieren zweier inhaltlich verschiedener Einstellungen den Zuschauer dazu zwingt, einen Zusammenhang der Inhalte herzustellen, produziert Merkels Parallelisierung eine Differenzen verwischende Ineinssetzung von Lichtenberg und Wittgenstein. In den folgenden Kapiteln werde ich versuchen, diese Parallelen wieder zu relativieren. Die Geistesverwandtschaft von Lichtenbergs und Wittgensteins Sprachphilosophien betont auch Franz H. Mautner in seiner monumentalen Lichtenberg-Biographie (Mautner 1968). Freilich beschränkt er sich auch auf das Aufzeigen von Ähnlichkeiten mit den Ideen der analytischen Philosphie und stiltheoretischen Anmerkungen. In seinem Werk sind die Abschnitte , ; V,IV; VI,1.T1.,VI-VII; VI,3.T1.,VI; VII,VI Lichtenbergs Äußerungen zu Sprache und Stil gewidmet. Die interessanteste These findet sich dabei in VI,3,VI, S. 336 f. Darin meint Mautner, daß Lichtenberg bereits die sprachphilosophische Überschreitung des Kantianismus gesehen habe. Mautner diskutiert H 150, worin Lichtenberg ganz ähnlich wie in L 811 den Idealismus Kantischer Prägung verteidigt. Wieder wendet er sich dem Problem der Gegenstände außer uns zu: „ Ja weis ist außen"? was sind Gegenstände praeter nos? Was will die Präposition praeter sagen? Es ist eine bloß menschliche Erfindung; ein Name, einen Unterschied von ändern Dingen anzudeuten, die wir nicht praeter nos nennen. Alles sind Gefühle" (H 150).

Mautner schiebt zwischen „was sind Gegenstände praeter nos?" und dem folgenden „Was will ..." folgende Wertung ein: „Und nun geht er [Lichtenberg; J.R.] über Kant hinaus und sieht selbst ihn im Netz der Sprache gefangen" (Mautner 1968: 336). Es ist aber offensichtlich, daß Lichtenberg hier nicht auf das Gegebensein der Gegenstände praeter nos durch Sprache (im Sinne einer radikal linguazentrischen Erkenntnistheorie) abhebt, sondern sich schlicht Klarheit darüber verschaffen will, was die Distinktion zwischen Dingen praeter nos und Dingen, die nicht praeter nos, für einen Idealisten ausmacht. Er faßt diesen Unterschied dann aber als unmittelbar Gegebenes der menschlichen Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit,

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nicht aber als Resultat des Sprachspiels auf, denn er schließt mit dem Satz „Alles sind Gefühle", d.h. die Distinktion zwischen innen und außen ist dem Erfahren und Denken selbst konkomitant, ohne auf eine sprachliche Vermittlung angewiesen zu sein. Es ist hier der Mautner von 1968, der seinen Wittgenstein kennt, der bei der Frage nach der Bedeutung von „praeter" sozusagen gleich die Rose im Maul der Kuh zahnstarrend erblühen sieht (PU S. 355; et ego legi!) und sich an die sprachliche Gebundenheit aller begrifflichen Unterscheidungen überhaupt erinnert fühlt. Soweit aber ist Lichtenberg noch nicht. Z.B. die Wahrnehmung begreift er noch als durchaus unabhängig vom Sprachspiel. Ich werde mich also zunächst (Kap. 2) der Rekonstruktion Wittgensteins zuwenden, um im Anschluß daran Lichtenberg umso deutlicher wieder von Wittgenstein wegdifferenzieren zu können (Kap. 3 und 4). Worin ich selbst das besondere Verdienst von Lichtenbergs Sprachdenken sehe, werde ich in Kap. 5 zusammenzufassen versuchen.

2 Notwendige Digression über die erfreuliche Auflösung eines vermeintlichen Anachronismus Ich habe im letzten Kapitel bereits angedeutet, daß die Parallelisierung von Lichtenberg und Wittgenstein auch ein Artefakt der WittgensteinRezipienten sein könnte. Ich werde nunmehr versuchen, diese Zweifel an der Lichtenberg-Wittgenstein-Parallele zu konkretisieren. Der grundlegende Fehler, der den Vergleichungen von Wrights, Mautners, aber auch Merkels unterliegt, ist ein methodologischer: Jeder von ihnen stellt einzelne Aphorismen Lichtenbergs einzelnen Aphorismen Wittgensteins gegenüber, konstatiert eine frappierende Ähnlichkeit, und suggeriert damit eine Übereinstimmung der Theorien Lichtenbergs und Wittgensteins, ohne diese jedoch näher zu qualifizieren. Es ist offensichtlich, daß diese Verfahrensweise auf äußerst unbefriedigenden, ja fragwürdigen Analogieschlüssen beruht. Daß sich zwei Sätze zweier unterschiedlicher Theorien äußerlich gleichen, heißt selbstverständlich nicht im mindesten, daß sich auch die Theorien gleichen, genau genommen läßt sich sogar ohne die vorgängige Betrachtung der Theorien nicht einmal feststellen, daß die Sätze überhaupt dasselbe oder wenigstens ähnliches bedeuten. Der bekannte Witz: „Der Optimist sagt: 'Dies ist die beste aller möglichen Welten!', und der Pessimist sagt: 'Das stimmt.'" gibt einen einfachen und schlagenden Beweis dafür. Der Satz: „Dies ist die beste aller möglichen Welten!" bedeutet in der Theorie oder dem System des Optimisten etwas völlig anderes als im System des Pessimisten, und die Systeme sind einander sogar diametral entgegengesetzt. Was also not tut, ist in erster Linie eine Festlegung dessen, was als Wittgensteins Theorie, und dessen, was als Lichtenbergs Theorie gelten soll. Da sich aber Lichtenbergs System so leicht nicht rekonstruieren und festlegen läßt, insbesondere da es meines Erachtens zwei sehr verschiedene Systeme des Sprachdenkens bei Lichtenberg gibt, werde ich zunächst den sprachphilosophischen Grundgedanken von Wittgensteins Spätphilosophie zusammenfassen, und zeigen, daß — egal welches System das für Lichtenberg maßgebliche sein mag — er den Grundgedanken von Wittgenstein jedenfalls nicht vorweggenommen hat. In dieser Diskussion wird auch der Begriff Sprache selbst von verschiedenen Seiten beleuchtet werden.

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2.1 Wittgensteins Spätphilosophie In der folgenden Darstellung des Grund- oder Zentralgedankens von Wittgensteins Spätphilosophie folge ich im wesentlichen der Interpretation von Kripke 1982. Das Anliegen dieses Kapitels ist es vor allem, Kripkes Interpretationsidee knapp und verständlich zusammenfassen. Kripke geht davon aus, daß die Kernidee der Philosophischen Untersuchungen in den Paragraphen, die dem Abschnitt 243 vorausgehen, enthalten sind. Diese Paragraphen gliedert er wiederum in zwei Großeinheiten, nämlich die §§1-137, in denen Wittgenstein die Abbildtheorie des Traktats kritisiert und eine Gebrauchstheorie der Bedeutung nahelegt, und die §§138-242, in denen Wittgenstein sein (von Kripke so genanntes) Paradox und dessen skeptische Lösung entwickelt (Kripke 1982: 84). Kripkes Interpretation läßt sich dahingehend zusammenfassen, daß es keine Privatsprache geben kann, weil Sprache das Befolgen von Regeln ist, Regeln aber nicht privat befolgt werden können. Oder in Wittgensteins eigenen Worten: „201. Unser Paradox war dies: eine Regel könnte keine Handlungsweise bestimmen, da jede Handlungsweise mit der Regel in Übereinstimmung zu bringen sei. Die Antwort war: Ist jede mit der Regel in Übereinstimmung zu bringen, dann auch zum Widerspruch. Daher gäbe es hier weder Übereinstimmung noch Widerspruch. Daß da ein Mißverständnis ist, zeigt sich schon darin, daß wir in diesem Gedankengang Deutung hinter Deutung setzen; als beruhige uns eine jede wenigstens für den Augenblick, bis wir an eine Deutung denken, die wieder hinter dieser liegt. Dadurch zeigen wir nämlich, daß es eine Auffassung einer Regel gibt, die nicht eine Deutung ist; sondern sich, von Fall zu Fall der Anwendung, in dem äußert, was wir »der Regel folgen«, und was wir »ihr entgegenhandeln« nennen. Darum besteht eine Neigung, zu sagen: jedes Handeln nach der Regel sei ein Deuten. »Deuten« aber sollte man nur nennen: einen Ausdruck der Regel durch einen anderen ersetzen" (PU §201). „202. Darum ist ,der Regel folgen' eine Praxis. Und der Regel zu folgen glauben ist nicht: der Regel folgen. Und darum kann man der Regel nicht ,privatim' folgen, weil sonst der Regel zu folgen glauben dasselbe wäre, wie der Regel folgen" (PU §202).

§202 enthält dabei nach Kripke (1982: 3) bereits explizit die skeptische Lösung des Paradoxons. Da die obige thesenartige Zusammenfassung von Kripkes Thesen zu Wittgenstein für jeden, der Kripkes Buch nicht gelesen hat, sicherlich mehr als kryptisch ist, sei in einem zweiten Durchgang eine ausführlichere Erläuterung des Argumentationsganges versucht.

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Die Philosophie befaßt sich genau genommen mit zwei Problemen, die sich bereits im alttestamentarischen Versprechen der Schlange an den Menschen, „wie Gott zu sein, wissend um Gut und Böse" (Gen 3, 5), vorformuliert finden: Wie überhaupt und wieweit kann der Mensch wissen und erkennen, und was ist Gut und Böse? Oder anders formuliert: „Was kann ich wissen? Was soll ich tun?" (Kritik der reinen Vernunft, II.2.2). Das heißt, daß Epistemologie und Ethik die zentralen Gebiete der Philosophie sind. Kants dritte Frage (Was darf ich hoffen?) fällt ganz offensichtlich in die Domäne der Theologie oder aber — die Gedanken sind frei — in das Belieben des Einzelnen. Der von Kant benannte, genuin spekulative Teil dieser Frage, nämlich nach der bloßen „ Würdigkeit, glücklich zu sein" (ebda.), ist genaugenommen nichts anderes als die Antwort auf die zweite Frage: „Tue das, wodurch du würdig wirst, glücklich zu sein" (ebda.). Die genuine Antwort auf die dritte Frage, ob wir, wenn wir uns moralisch verhalten und der Glückseligkeit würdig sind, diese auch tatsächlich erlangen zu können hoffen dürfen, ist auch bei Kant nur eine „praktisch notwendige Idee der Vernunft" (ebda.), nicht aber eine spekulativ (mit Mitteln der reinen Vernunft) gewinnbare Erkenntnis. Der Zusammenschluß von Ethik und Epistemologie zu einem einheitlichen Gebiet „Philosophie" ist deshalb gerechtfertigt, weil die Frage nach dem Verhältnis von Ethik und Epistemologie von keiner der beiden Disziplinen allein beantwortet werden kann. Die Epistemologie hat keinen philosophischen Primat über die Ethik, da nicht allein die Möglichkeit der Ethik die Möglichkeit des Wissens voraussetzt (der Mensch muß überhaupt erkennen können, um insbesondere Gut und Böse erkennen zu können), sondern ebenso auch das Fragen nach dem Wissen (als Handlung) eine ethische/deontische Entscheidung voraussetzt, nämlich daß überhaupt gehandelt, gefragt, gestaunt werden soll. Hier wird oft leichtfertig die erkenntnistheoretische Fragestellung, was es heißt, über Ethik reden oder eine rationale Ethik begründen zu können, mit der Ethik als Verhalten durcheinandergeworfen. Die Unauflöslichkeit des Verhältnisses von Ethik und Epistemik, von Verstehen und Verändern ist in der deutschen Literaturgeschichte durch Fausts Übersetzungsversuche des ersten Satzes des Johannes-Evangeliums von Goethe sehr griffig zusammengefaßt worden (Faust I, 1224-1239). Wittgenstein befaßt sich in erster Linie mit der Möglichkeit menschlicher Erkenntnis. Im Tractatus kommt er dabei zu dem Schluß, daß zum einen Sprache und Denken (Sprache hier allerdings als eine philosophische Idealsprache gedacht) identisch sind, zum anderen zwischen der Sprache

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und der Wirklichkeit (d.h. zwischen Erkenntnismedium und Erkenntnisgegenstand) ein Abbildverhältnis besteht, ganz im Sinne etwa eines Würfels und seiner Schattenprojektion an eine Wand. Die Identität von Sprache und Denken, genauer gesagt: sogar der Denkmöglichkeit, ist sehr aphoristisch im Satz 5.6: „die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt" ausgedrückt. Die Bildtheorie seiner Frühphilosophie (cf. v.a. Tractatus 2.1-3.02, 3.1-3.13, 4.014.23, 5.5423; sowie Philosophische Tagebücher 29.9.14, 12.11.14, 26.11.14) nimmt Wittgenstein in den §§139-141 PU wieder auf. Eine Reminiszenz von Wittgensteins Abbildern an die Schattenbilder in Platons Politeia (Liniengleichnis in VI 20, 509c-510e, und Höhlengleichnis in VII 1-2, 514a517a) ist sicherlich berechtigt, auch darin geht es ja um die Natur der Erkenntnis. In P U zieht Wittgenstein aber die Bildtheorie wieder in fundamentale Zweifel und erweist sie als unhaltbar. Gleichzeitig führt er das Erkenntnisproblem auf ein noch grundlegenderes zurück, nämlich das Problem, wie überhaupt irgendeine Sprache möglich sein kann. Die Infragestellung der Möglichkeit von Sprache, die natürlich nichts anderes heißt, als daß die bisherige Erkenntnistheorie im völlig luftleeren Raum agierte, denn daß der Mensch sprechen kann, will Wittgenstein natürlich nicht bestreiten — er will das verstehen, diese radikale Sprachskepsis sieht Kripke als die originäre Leistung Wittgensteins: „Wittgenstein has invented a new form of scepticism. Personally I am inclined to regard it as the most radical and original problem that philosophy has seen to date, one that only a highly unusual cast of mind could have produced. ... It is his solution, I will argue, that contains the argument against 'private language'; for allegedly, the solution will not admit such a language. ... Readers, my previous self certainly included, have often been inclined to wonder: »How can he prove private language impossible? How can I possibly have any difficulty identifying my own sensations? And if there were a difficulty, how could ,public' criteria help me? I must be in a pretty bad shape if I needed external help to identify my own sensations!« But if I am right, a proper orientation would be opposite. The main problem is not, »How can we show private language - or some other special form of language - to be impossible!«; rather it is, »How can we show any language at all (public, private, or what-have-you) to be possible!« ... Wittgenstein's main problem is that it appears that he has shown all language, all concept formation, to be impossible, indeed unintelligible" (Kripke 1982: 60-62).

Kripke verweist in diesem Zusammenhang noch auf den Kantischen Unterton in der Umwertung der Problemstellung, nach den Bedingungen der Möglichkeit eines zugestandenen Phänomens zu fragen, auf den ich mei-

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nerseits bereits mit der biblischen Paraphrasierung der Kantischen Fragen: „Was kann ich wissen?" und „Was soll ich tun?" anzuspielen versucht habe. Jetzt aber zum Regelparadoxon selbst. Was heißt es, einen natürlichsprachlichen Ausdruck zu kennen, verstanden zu haben? Das wichtigste Kennzeichen natürlichsprachiger Ausdrücke ist die Regelhaftigkeit ihrer Bedeutung. Wie schon Saussure herausgearbeitet hat, sind die sprachlichen Zeichen an sich zwar beliebig, d.h. es gibt keine hinreichende, erst recht keine notwendige inhärente Beziehung zwischen einem sprachlichen Zeichen und seiner Bedeutung; im Zusammenhang des ganzen Systems einer Sprache jedoch ist die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens in — anbetrachts seiner Beliebigkeit — erstaunlich engen Grenzen festgelegt (cf. Saussure 21967: 83-87 [= 1. Teil, Kap. II, §1]). Ohne diese Konstanz (Regularität) des Bedeutens wäre die kommunikative Funktion der Sprache auch nicht vorstellbar. Jede Mitteilung setzt voraus, daß die Kommunikationspartner dieselbe konstante Interpretation des Mitteilungsmediums vornehmen. Die Bedeutung eines Ausdruckes zu kennen, impliziert also die Kenntnis der seiner Verwendung unterliegenden Regularität. Bedeutungen haben daher Regelcharakter. Hierbei muß aber betont werden, daß die Art und Weise, wie solche Regeln vorzustellen oder auszuformulieren sind, oder ob ihre Vorstellbarkeit oder Formulierbarkeit überhaupt irgendeine Rolle spielt, zunächst alles andere als klar ist. Wittgensteins Argumentation läuft darauf hinaus, daß das Wesen der Regel keinesfalls in irgendeiner Form von symbolischer Repräsentation (wie die Notation einer mathematischen Funktion) bestehen kann. Ja, in überhaupt keinem einzelnen physisch oder psychisch manifestierten Zustand: „»Wir haben bei diesem Wort beide an ihn gedacht.« ... Gott, wenn er in unsere Seelen geblickt hätte, hätte dort nicht sehen können, von wem wir sprachen" (PU, S. 348).

Dazu aber später mehr. Zunächst gilt es die Frage zu beantworten, was eine Regel ist, und was es heißt, eine Regel zu kennen und zu befolgen. Wittgenstein argumentiert dabei mit einigen Gedankenexperimenten, die meisten von ihnen auf Spiele, vor allem das Schachspiel, oder auf die Lösung einfacher mathematischer Aufgaben (Addition, Reihenfortsetzung) bezogen.

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Etwa in der Zahlenfolge l, 5, 11, 19, 29 muß jede Fortsetzung einer Regel gehorchen. Die Standardfortsetzung dürfte dabei 41 sein. Dabei spielt es keine Rolle, ob man beim Erzeugen der 41 an die Formel wn = n2 + n - l, oder an die Hervorbringung mithilfe der „einfacheren" Reihe 4, 6, 8, 10, 12, oder auch an gar nichts dachte. Insbesondere aber ist diese Fortsetzung in sich betrachtet durch nichts gegenüber jeder beliebigen anderen Fortsetzung ausgezeichnet. Es ließe sich genausogut mit l fortfahren. Der Irrtum, der hier begegnet, ist die Meinung, die „richtige" Regel stecke bereits in der Reihe, soweit sie gegeben ist. Aber die „richtige" Regel gibt es nur vermittels der nächsten Zahl. Die Regel ist nicht in der Zahlenreihe. Eine Anmerkung möchte ich jedoch einschieben: kann es nicht sein, daß der Status von Wittgensteins Beispielen, die ja allesamt Artefakte des Menschen (Zahlenreihen, Spiele) benutzen, die Annahme einer extrem nominalistischen Position, die der Regel keine Eigenexistenz über Gebühr plausibel erscheinen läßt? (Bei der Fortsetzung der Individuenreihe einer natürlichen Art etwa scheint die „Regel" ja z.B. durchaus zu existieren — das Genmaterial.) Dazu später mehr. Es ist dabei kein Einwand, daß sich die Regel als explizit formuliertes Gesetz angeben lassen muß, denn die Beliebigkeit der Reihenfortsetzung, und das heißt auch der weiteren Regel-„Anwendung" gilt auch für jede Interpretation einer explizit gegebenen Bildungregel. Genauso, wie sich die Reihe l, 5, 11, 19, 29, l aus der Reihe l, 5, 11, 19, 29 durch die Regel wn = n2 + n - l f. alle n -< 6 und wn = l sonst generieren läßt, läßt sich ja auch die Anweisung wn = n2 + n - l non-standardmäßig so interpretieren, daß sie n2 + n - l f. n -< 6 und l sonst bedeutet. Selbst die algebraische Identität ist ja eine Regelhaftigkeit und fällt also unter dieses Regelparadox. Es kann also jede Handlungsweise mit der Regel in Übereinstimmung gebracht werden, mit anderen Worten die Regel zeichnet keine Fortsetzung gegenüber irgendeiner anderen aus. Dies gilt natürlich insbesondere für die Bedeutungskonstanz natürlichsprachiger Ausdrücke. Damit wird aber die Möglichkeit von Sprache schlechthin in Frage gestellt. Der scheinbar wichtigste Einwand gegen dieses Paradoxon ist die Annahme von Dispositionen. Kripke faßt die Unzulänglichkeit der dispositionellen Entgegnung auf das Regelparadox am Beispiel der Addition zusammen (Kripke 1982: 22 ff.).

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Das Regelparadox stellt in Präge, daß es hinsichtlich der Addition irgendwelche Fakten gibt, die gewährleisten, daß die Ergebnisse künftiger Additionen der üblichen Regel entsprechen. Die Anzahl der bis jetzt durchgeführten Additionen ist sicher endlich. Okkuriert nun eine Additionsaufgabe, die noch nie berechnet worden ist, so kann jedes Ergebnis in Einklang mit einer Regel gebracht werden, die auch alle bisherigen Fälle erfaßt. Heißt die Regel, die die üblichen Ergebnisse bei der Addition zweier Summanden liefert schlicht „Addition", so läßt sich trivialerweise eine Regel genannt „Quaddition" einführen, die für alle bisherigen Additionen das normale Ergebnis der Addition liefert, für alle neuen Aufgaben aber beispielsweise konstant den Wert 5. Die Frage des Paradoxons ist es, was nun eigentlich die „Addition" gegenüber der „Quaddition" rechtfertigt, was das Kriterium der Gültigkeit der Addition ist. Wie oben gezeigt, kann es kein Faktum geben, das als Kriterium herhalten könnte, da die Anzahl der kennbaren Fakten grundsätzlich endlich ist, die Regel aber gerade für alle möglichen Fälle, d.h. im Beispiel etwa für alle Additionen im Zahlenraum (also unendlich viele), gelten soll. Die „Quaddition" ist nun jederzeit so modifizierbar, daß sie gerade alle bekannten Fakten erfaßt, für alle anderen Fälle aber 5 liefern soll. Ein Ausweg scheinen nun Dispositionen sein, indem sie nämlich nicht selbst Fakten der Addition sind, sondern bloße „Neigungen" auf vorgelegte Summierungsaufgaben Additions- und nicht Quadditionsergebnisse zu liefern. Einmal abgesehen von der etwas dubiosen Natur der Dispositionen (was unterscheidet tatsächlich die Disposition, auf „2 + 2 = ?" mit „4" statt „5" zu antworten, von der eigentlichen Rechnung?) stellen sie aus drei Gründen keine Antwort auf das Regelparadox dar: 1. Werden Dispositionen als Neigungen im konkreten Fall und also bloß induktive Abstraktionen über die Zeit aufgefaßt, werden also die Dispositionen, 2+2 als 4, 17-1-4 als 21 zu berechnen usf., so verstanden, daß, wenn ich heute die Disposition habe, 17+4 = 21 zu addieren, diese Disposition so zu interpretieren ist, daß ich dieses Ergebnis auch gestern bereits geliefert hätte, so ist klar, daß auch alle diese dispositionellen Fakten endlich sind (das Additionsereignis „17+4 = 21" bleibt ja ein (1) Ereignis, das lediglich auf einer imaginären Zeitachse verschoben wird) und somit kein Kriterium für die unbegrenzte Gültigkeit der Regel darstellen.

56 2. Werden Dispositionen als idealisierte, kontrafaktische Konditionale aufgefaßt, dergestalt daß ich unter Absehung von meiner konkreten Endlichkeit auch für behebig große Summanden das Additionsergebnis und nicht das Quadditionsergebnis berechnen würde, so wird die Zirkularität der dispositionellen Analyse offensichtlich: um überhaupt entscheiden zu können, ob das Ergebnis additionell oder quadditionell ist, muß ich ja bereits im voraus wissen, welche der beiden Funktionen eigentlich gemeint war. Dies ist aber gerade das Problem des Regelskeptikers, eben nicht ohne weiteres Kriterium zwischen den Funktionen entscheiden zu können. 3. Ein bis jetzt in der obigen Regeldiskussion noch gar nicht erwähntes Problem ist das der Fehlerausgrenzung. Es ist eine Grundeinsicht des „gesunden Menschenverstandes", daß der Mensch Fehler machen kann und macht, und daß mit dieser Fehlerhaftigkeit auch gerechnet werden sollte. Fehler treten wiederum als Fakten (z.B. falsche Additionsergebnisse) oder als Dispositionen (z.B. die Neigung, bei der Addition großer Zahlen im Kopf vermehrt Fehlergebnisse zu liefern) auf. Faktische Fehler setzen zu ihrer Eliminierung aus dem hypothetisch regelkonstituierenden Korpus die Regelkenntnis voraus: ein weiterer Grund, warum Regeln nicht in den bloßen Fakten allein bestehen können. Dispositionelle Fehler erweisen sich bei genauerer Betrachtung als noch fataler für die Regelkonstitution. Nimmt die dispositionelle Analyse an, daß die Disposition die Regel konstituiert, so kann sich — im schlimmsten Fall — das Individuum gar nicht irren; „verrechnet" sich jemand bei der Kopfrechnung, und ist dies das Ergebnis einer Disposition, so muß die dispositioneile Analyse annehmen, daß gar kein „Verrechnen" vorliegt, sondern eine Non-Standard-Regel. Da Dispositionen innere Zustände sind, muß ein Dispositionalist das Individuum in Isolation betrachten. Im Falle eines genuinen Verrechnens, in dem das Individuum den „Fehler" nicht bemerkt, muß es sich seinen Dispositionen gemäß verhalten haben. Demgemäß konstituieren seine Dispositionen die Regel, der sein Verhalten trivialerweise entspricht. Es kann also kein Fehler vorliegen. Jedes Verhalten entspricht der durch die Dispositionen definierten Regel. Also kann es keine Regelauszeichnung geben. Die dispositionelle Analyse führt selbst unmittelbar in das Regelparadoxon, dem sie eigentlich begegnen will.

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Für den Fall, daß mittlerweile die Verwirrung vollkommen geworden ist, mag es hilfreich sein, sich nochmals zu vergegenwärtigen, daß das Regelparadoxon ein erkenntnistheoretisches und kein ontologisches Problem ist. Es geht nicht darum, zu zeigen, daß sich die Dinge beliebig verhalten können, dies ist nicht einmal präsupponiert, sondern es geht allein darum, inwiefern ein regelhaftes Verhalten erkannt, und die de-/prä-skriptive Regel ausgemacht werden kann. Es gilt, sich daran zu erinnern, daß Wittgenstein nicht etwa die Alltagserfahrung des reibungslos funktionierenden Regelbefolgens als Illusion entlarven will, sondern im Gegenteil genau diese Erfahrung, die sich im Lichte philosophischer Analyse als nahezu unverständlich herausstellt, erstmals zu begründen versucht. Damit bin ich auch bei der Lösung des Regelparadoxons, die Wittgenstein gibt. Wie es sich für eine ordentliche Rundform gehört, steht die Lösung des Problems auch bereits am Anfang dieses Kapitels, der Einfachheit aber sei der entscheidende §202 P U hier nochmals wiederholt: „202. Darum ist 'der Regel folgen' eine Praxis. Und der Regel zu folgen glauben ist nicht: der Regel folgen. Und darum kann man der Regel nicht 'privatim' folgen, weil sonst der Regel zu folgen glauben dasselbe wäre, wie der Regel folgen."

Regelfolgen ist eine Praxis, d.h. ein Handeln und nicht notwendigerweise ein Wissen — das ist der Schlüssel zu Wittgensteins Gebrauchstheorie. Nach der skeptischen Analyse des Regelbegriffs kann es keine intrinsische Rechtfertigung der Regel geben: jedes Verhalten ist mit der Regel in Übereinstimmung zu bringen. Da wegen des infiniten Regresses auch die Erklärung der Regel mithilfe einer anderen nichts hilft, ist bei jeder Regel irgendwann der Punkt gekommen, wo der Regelanwender der Regel blind folgt, ohne sein Verhalten noch irgendwie weiter rechtfertigen zu können: „Habe ich die Begründungen erschöpft, so bin ich nun auf dem harten Felsen angelangt, und mein Spaten biegt sich zurück. Ich bin dann geneigt zu sagen: »So handle ich eben.« ... Wenn ich der Regel folge, wähle ich nicht. Ich folge der Regel Wind" (PU §217, §219).

Regeln werden durch Praxis erworben. Ihre Kontrolle geschieht durch die Anwendung in der Kommunikationsgemeinschaft und die Rolle, die sie in derselben spielen. Die Konstanz der Bedeutung der Addition ergibt sich letzten Endes daraus, daß wir alle dieselbe Technik des Addierens gelernt haben („eine Sprache verstehen heißt eine Technik beherrschen", PU §198), und es in unserer Gesellschaft keinen Sinn macht, von dieser Technik abzuweichen, womit Wittgenstein eine klare Parallele zu Saussures

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Gedanken über „Werte und Geltung" erkennen läßt (Saussure 21967: 128132 [= 2. Teil, Kap. III]). So einfach diese Erklärung und Lösung des Paradoxons klingen mag, so weitreichend sind ihre Konsequenzen. Die wichtigste und intuitiv vielleicht am wenigsten einleuchtende ist dabei die Unmöglichkeit einer Privatsprache. Dabei geht es allerdings weniger um die Präge, ob Robinson auf seiner Insel sinnvoll monologisieren kann, sondern vielmehr darum, ob es in Bezug auf innere Zustände privates Wissen geben kann. Kann jemand einen völlig privaten Ausdruck z.B. für Zahnschmerzen bilden, mit dem er sich nur selbst seiner Zahnschmerzen vergewissert? Da das Regulativ der Regelkonstanz in der übereinstimmenden Verhaltensweise der Kommunikationsgemeinschaft besteht, ist klar, daß auch im Falle des Sprechens über innere Zustände es nur dann bedeutende Rede geben kann, wenn ein gemeinschaftliches Verhaltensmuster diese Rede deckt, d.h. insbesondere daß die Bewertung der äußeren Anzeichen für innere Zustände als Anzeichen nur durch die „Spielregeln" der Gemeinschaft, nicht aber durch einen willkürlichen Akt des Einzelnen geleistet werden kann. Um zu illustrieren, daß es sich dabei wirklich um eine interessante, weil Kopfzerbrechen machende, These handelt, seien zwei konkrete Folgerungen genannt, die landläufigen Vorurteilen ziemlich deutlich widersprechen. Wenn es kein „privates Wissen" geben kann, können, worüber in einer Kommunikationsgemeinschaft überhaupt gesprochen werden kann, alle Mitglieder der Gemeinschaft sinnvoll sprechen; m.a.W. man kann sich mit einem Blinden ebenso gut über Farben unterhalten wie mit einem Sehenden (1), oder (2) alles, was eine Feministm zu sagen hat, kann, solange sie Deutsch spricht, entweder auch ein Mann verstehen, oder es ist überhaupt unverständlich. Innerhalb eines Sprachspiels kann es kein Wissen geben, das nicht oder auch nur eingeschränkt kommunikabel wäre. Für die Wittgensteinsche Regelanalyse stellen sich aus sprachwissenschaftlicher Sicht nach meinem Dafürhalten vor allem zwei Fragen: Zum einen, wie es überhaupt zur Regelkonstitution kommen kann, da doch jede Regelinterpretation, also auch die zum Ausbilden einer neuen Regel, immer schon ein bestehendes Regelsystem vorauszusetzen scheint. Wie entsteht aus lauter Einzelindividuen, die für sich keinerlei Sprache haben können, eine Kommunikationsgemeinschaft, die quasi ex nihilo über eine Sprache verfügt? Zum anderen ist zu fragen, wie sich der immaterielle Status der Kommunikationsgemeinschaft und der darin geltenden Regeln physisch im Ner-

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vensystem des Einzelnen niederschlagen kann. Zu letzterer Frage ist anzumerken, daß Wittgenstein selbst sie entweder für unbeantwortbar und unsinnig, oder aber für uninteressant gehalten hätte. Unbeantwortbar oder unsinnig ist sie vielleicht deshalb, weil der materielle Niederschlag der Regel keinesfalls die Regel selbst sein kann, denn dies wäre ja dann genau die privat (nämlich im Gehirn des Einzelnen) existierende Regel, deren Existenz Wittgenstein ja widerlegt. Nicht einmal Gott könnte ja nach dem oben angeführten Zitat durch die Betrachtung der Seele eines Menschen allein herausfinden, was der Inhalt von dessen Gedanke war. Die Regel hat nach Wittgenstein keine materiell individualisierte Natur. Uninteressant ist die Frage vielleicht deshalb, weil, selbst wenn sich materielle Effekte der Regel auffinden ließen, diesen keinerlei Erkenntniswert hinsichtlich der Natur und Funktionsweise der Sprache beigemessen werden könnte. Ich möchte noch einflechten, daß zur Kontraposition Wittgensteins und Lichtenbergs das bisher Gesagte jedenfalls hinreichen würde, und ich also mit Fug und Recht die zuletzt aufgeworfenen Fragestellungen der weiteren Forschung dahingestellt sein lassen könnte. Wenn ich dennoch versuche, einige Gedanken zu diesen Problemen zu formulieren, und mich damit der Gefahr aussetze, angesichts der Schwierigkeit dieses „most radical and original problem that philosophy has seen to date" eher meinen Unverstand, denn eine Kritik an Wittgenstein zu dokumentieren, so deshalb, weil das von Wittgenstein aufgeworfene Problem ein existentielles für die Einheit des wissenschaftlichen Weltbildes ist: es ist mit dem Monismus (provokanter: Materialismus) der wissenschaftlichen Weltbetrachtung nur schwerlich in Einklang zu bringen, daß es Phänomene geben soll, die grundsätzlich nichts mit ihren physischen Trägern gemein haben sollen. Selbstverständlich hat etwa ein Wasserstrom andere Eigenschaften und z.B. mehr Kraft als die einzelnen Wassermoleküle (dies ist die sog. Übersummativität von komplexen Systemen), aber diese Eigenschaften lassen sich aus den Eigenschaften der einzelnen Wassermoleküle und den auf sie wirkenden Kräften, z.B. der Schwerkraft, an denen sie vollständig teilhaben, herleiten: es liegt bereits in der Struktur des einzelnen Wassermoleküls begründet, daß sie sich zu Tropfen und schließlich Strömen verbinden können. Oder philosophischer formuliert, es gibt keine eigene (erste) Substanz „Wasserstrom" neben der Substanz „Wassermolekül". Wenn die Welt eine einheitliche ist, so muß es sich ebenso mit dem Hirn und der Sprache verhalten. Die Natur des Gehirns muß unter den entspre-

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chenden Umgebungsbedingungen die Bildung von Sprache gestatten. Daher scheint mir die These, daß es keinen Zusammenhang zwischen Sprache und Gehirnstruktur gibt, trotz der Plausibilität des skeptischen Paradoxons immer noch nahezu inakzeptabel. Zunächst zur ersten der oben gestellten Fragen: wie kann die Regelkonstitution vor sich gehen? Wittgenstein beantwortet diese Frage selbst im §83 PU: „82. Was nenne ich »die Regel, nach der er vorgeht«? ... Wie aber, wenn die Beobachtung keine Regel klar erkennen läßt, und die Frage keine zu Tage fördert? ... Wie soll ich also die Regel bestimmen, nach der er spielt? Er weiß sie selbst nicht. — Oder richtiger: Was soll der Ausdruck »Regel, nach welcher er vorgeht« hier noch besagen? 83. Steckt uns da nicht die Analogie der Sprache mit dem Spiel ein Licht auf? Wir können uns doch sehr wohl denken, daß sich Menschen auf einer Wiese damit unterhielten, mit einem Ball zu spielen, so zwar, daß sie verschiedene bestehende Spiele anfingen, manche nicht zu Ende spielten, dazwischen den Ball planlos in die Höhe würfen, einander im Scherz mit dem Ball nachjagen und bewerfen etc. Und nun sagt Einer: Die ganze Zeit hindurch spielen die Leute ein Ballspiel, und richten sich daher bei jedem Wurf nach bestimmten Regeln. Und gibt es nicht auch den Fall, wo wir spielen und — »make up the rules as we go along«? Ja auch den, in welchem wir sie abändern — as we go along."

Making up the rules as we go along betont dabei wiederum die Individuenunabhängigkeit der Regelkonstitution: wenn die obige Spielsituation auf der Wiese ein Ballspiel konstituiert, so ohne, daß irgendeiner der Teilnehmer die Regeln desselben kennen müßte. Es zeigt sich hier ganz deutlich, daß Wittgenstein dem Akt der Reihenfortsetzung („Fortsetzung" als nomen actionis, nicht nomen abstractum zu lesen) entscheidendes Gewicht beimißt. Die Regel konstituiert sich in der Fortsetzung der Reihe. Die Fortsetzung ist „richtig", solange, um im obigen Bild zu bleiben, das Spiel weiterläuft, solange also die Spielergemeinschaft den neuen Wurf annimmt (akzeptiert). Gleichzeitig ist hier die Arbitrarität der Spielregeln ein wesentlicher Bestandteil der Metapher: die Spieler sind völlig frei in der Art der Regelfortsetzung (Schwerkraft etc. einmal weggedacht, es ist ja ein Gedankenexperiment), sie sind sogar frei von eigenem Bewußtsein, nach einem bestimmten Regelwerk zu verfahren: nichtsdestotrotz konstituieren sie ein Regelwerk. In Abwandlung einer Formulierung von Josef Rauscher (1989, Überschrift zu Kap. 3.3., sowie S. 335) ließe sich sagen, daß die einzelnen Spieler zwar keine Kriterien für das Spiel als ganzes und die Richtigkeit ihrer Züge haben, aber gewissermaßen selbst Kriterien des Spiels sind.

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Eine vollständige Theorie eines nicht-trivialen Sprachspiels, nämlich der Kunst, auf der Grundlage der konstitutiven Kraft der Reihenfortsetzung findet sich in Rauschers Arbeit. Deshalb will ich Wittgensteins Bild hier nicht weiter ausmalen, sondern mich lieber der Kritik daran und damit auch der zweiten Ausgangsfrage zuwenden. Unabhängig nämlich davon, ob sich der Inhalt einer Regel in der materiellen Struktur eines Nervensystems repräsentiert oder nicht, ist es eine interessante Frage, wie Organsimen ein Verhalten erwerben können. Es ist ja unzweifelhaft, daß ein Mensch beispielsweise das Schachspiel erlernen kann. Soll nun ein Spielzug ausgeführt werden, so muß der Mensch offensichtlich das Schachspiel in irgendeiner Form internalisiert haben, um die Folgen seines Zuges und die motorische Ausführung desselben „berechnen" zu können. Dies schließt nicht aus, daß das „interne Schachspiel" nicht mit dem Standard-Schachspiel identisch ist, oder sogar überhaupt nicht aus einem Äquivalent einer unbegrenzt gültigen Regel besteht. Das Funktionieren dieser Planung und Muskelsteuerung ist zunächst ein zu erklärendes Faktum. Hier zeigen sich m.E. zwei Distinktionen, die möglicherweise von Wittgenstein nicht genügend beachtet wurden, nämlich zum einen der Unterschied zwischen Regelerwerb bzw. Regelkonstitution und Regelausführung, zum anderen der Unterschied zwischen der Beschreibung eines Verhaltens durch den erkennenden Verstand und dem Ablauf eines konkreten Verhaltensereignisses in der Welt. Letzteres könnte auch der Unterschied zwischen epistemologischer und ontologischer Realität genannt werden. Wittgensteins Argument richtet sich in erster Linie auf die Regelkonstitution und die Legitimität, mit der von der Konstitution (und Existenz) einer Regel gesprochen werden kann. Es ist recht plausibel, daß zum Zeitpunkt des Regelerwerbs noch kein physisches Korrelat der Regel zu existieren braucht, andernfalls wäre wohl nicht mehr notwendigerweise überhaupt etwas zu erwerben (die Existenz eines solchen Korrelats ist aber jedenfalls denkmöglich: Anamnesis bzw. Triggern). Das Gehirn muß aber in der Lage sein, ein bestimmtes Verhalten gegenüber anderen möglichen Verhaltensweisen (Regelfortsetzungen) auszuzeichnen. Wie sonst wäre die Stabilisierung eines bestimmten Verhaltens innerhalb der Gemeinschaft möglich. Wenn jeder Akt der Regelfortsetzung wieder in einem informationellen Nullzustand anhöbe, wäre ein völlig arbiträres Verhalten zu erwarten, z.B. eine gleiche oder eine Gaußsche Verteilung der möglichen Verhaltensweisen. Es ist klar, daß das Gedächtnis (oder auch eine angeborene Struktur) hier eine zentrale Rolle spielt. Die bisher erfolgten und bekannten Regelfortset-

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zungsakte schränken den Möglichkeitsraum neuer Regelfortsetzungen ein. Sie tun dies zwar nicht notwendigerweise zwingend: das Individuum kann immer noch handeln, wie es will (insofern es das überhaupt kann), aber es ist unwahrscheinlich. Was bei dieser Überlegung allerdings wieder durch die Hintertür hereinzukommen droht, ist der „Mann im Mann", d.h. die infinite Hierarchie der Deutungssprachen. Repräsentiert nämlich das Gedächtnis die Regelfortsetzungen in einer als Sprache verstandenen Form, so muß diese Sprache wiederum gedeutet werden: zwar deutet die Repräsentation die Regelfortsetzungen, aber wer deutet die Repräsentation? Wird in derselben Weise fortgefahren, indem wiederum eine Sprache zur Deutung der vorhergehenden Ebene benutzt wird, ergibt sich unmittelbar das Problem eines infiniten Regresses einander deutender Sprachebenen und dem skeptischen Paradox sind Tür und Tor geöffnet: nur eine Gebräuchstheorie der Bedeutung kann dann einen Ausweg liefern. Wittgenstein selbst scheint fest an eine solche sprachliche Natur der mentalen „Repräsentamente" (oder neutraler: der mentalen Einheiten) geglaubt zu haben, da er im Zusammenhang mit der Natur der Sinneseindrücke in §355 P U explizit davon spricht: „Nicht darum handelt es sich, daß unsre Sinneseindrücke uns belügen können, sondern, daß wir ihre Sprache verstehen. (Und diese Sprache beruht, wie jede andere, auf Übereinkunft.)"

Es ist aber keineswegs notwendig, daß es sich bei den Strukturierungseinheiten des Gedächtnisses um eine Sprache handelt. U.a. könnte es sich dabei auch um ein ungedeutetes, axiomatisches Kalkül handeln, das lediglich die Strukturiertheit regelt und Manipulationen über den Einheiten ermöglicht (z.B. Schlüsse), ohne aber selbst weiter gedeutet zu werden. Die „Regeln" des Kalküls müßten dann als ein mechanisches Regelwerk aufgefasst werden, kategorial vergleichbar einem Überlaufschutzventil, das je nach Wasserstand in einem Behälter den Ablauf schließt oder öffnet, ohne jedoch der Vergewisserung durch eine Ventilgemeinschaft über die „Richtigkeit" seines jeweiligen Verhaltens zu bedürfen. Die Frage nach der Legitimität der Regelfortsetzung oder der Existenz der Regel stellt sich auf der ontologischen Ebene hier gar nicht: das Überlaufventil verhält sich, wie es sich verhält. An dieser Betrachtung zeigt sich wiederum deutlich, daß das Regelparadox ein epistemologisches, kein ontologisches Problem darstellt: inwiefern ist ein verständiger Beobachter eines Ereignisses berechtigt, dieses Ereignis

63 unter eine bestimmte Regel zu subsumieren? Nach der Ausgangsüberlegung ist aber auch die Regelsubsumption ein durch ein quasi-mechanisches Ablaufen sich vollziehender Akt, d.h. auch der verständige Beobachter, insofern er ein materieller Organismus ist, verhält sich ohne die Zuhilfenahme einer Regel im Wittgensteinschen Sinne, wie er sich verhält. Dieses Gedankenexperiment ließe sich auf die Sprache selbst übertragen: Sprache wäre demnach nicht das Ergebnis einer kommunikativen Praxis in (prinzipiell) freier Übereinkunft, sondern das Epiphänomen der allgemeinen Eigenschaften Informationen dynamischer (d.h. lernfähiger Systeme). Was oberflächlich so aussieht wie ein genuines Phänomen, wäre bei genauerer Betrachtung das Resultat der komplexen Interaktion einzelner Teile. Wie Wittgenstein richtig feststellt, gibt es DIE REGEL im Individuum nicht; die Antwort auf die Frage nach ihrer Natur ist aber nicht ihre Konstitution durch die Kommunikationsgemeinschaft, die Antwort liegt im Gegenteil viel näher an der ursprünglichen Feststellung: DIE REGEL gibt es im Individuum nicht, weil es sie im von Wittgenstein verwendeten eigenkategorialen Sinn gar nicht gibt. Es gilt, die Konsequenz von Wittgensteins These zu bedenken: anders als bei dem oben angesprochenen Verhältnis von Wassermolekül und Wasserstrom sind die Eigenschaften der Regel in keinem Fall auf Eigenschaften des Individuums zurückzuführen — damit ist eine zweite Welt neben der physischen eingeführt: die der Zeichensysteme. Erschwerend kommt hinzu, daß Wittgensteins Lösungsvorschlag, die Auszeichnung bestimmter Regelfortsetzungen gegenüber anderen in die Praxis der Kommunikationsgemeinschaft zu legen, alles andere als plausibel ist, worauf mich Prof. Franz v. Kutschera besonders hingewiesen hat. Woher soll denn die Fähigkeit der Kommunikationsgemeinschaft kommen, eine Regelkonstitution vornehmen zu können, die das Individuum nicht vornehmen kann? Es ist klar, daß Wittgenstein nur das „make up the rules as we go along" als Besonderheit der Gemeinschaft gegenüber dem Individuum im Auge haben kann. M. a. W. die Übereinstimmung und die Kontinuität im Handeln der Mitglieder der Sprechergemeinschaft sichert die Akzeptanz der Regel. Diese Bedingung der Übereinstimmung im Handeln unterliegt aber genau demselben skeptischen Einwand, den Wittgenstein gegen die Regel als „Übereinstimmung mit vorangegangenen Intentionen/Fortsetzungsakten" formuliert. Auch hier gibt es kein Kriterium, das die Identität der Regel garantieren könnte. Auch hier gibt es DIE REGEL nicht, und es kann keine Vergewisserung über das gegenwärtig Gültige geben, um die es Wittgenstein ja eigentlich geht.

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Ich sehe mich leider außerstande, diese Problematik klarer zu formulieren, aber ich will wenigstens versuchen, die Konsequenz, die sich mir aus diesem Gedankengang aufdrängt, in aller Schärfe zu formulieren: Wittgensteins Regelparadox zeigt, daß eine Letztbegründung von Sprache in einer blinden Übereinstimmung von Handlungen weder auf der individuellen, noch auf der sozialen Ebene möglich ist. Ja mehr noch, wenn Spiele Systeme von Regeln sind, die ihre Legitimation in übereinstimmendem Handeln rinden, so ist die Konzeption von Sprache als Spiel nicht einmal denkmöglich, weil „Übereinstimmung" nur dann eine sinnvolle Einschränkung von „Handlung" ist, wenn eine bestimmte Regel bestimmte Übereinstimmungen auszeichnet. Sollte Wittgensteins „blinde Übereinstimmung" aber so zu verstehen sein, daß tatsächlich gar kein Erkenntnisakt der Mitspieler benötigt wird, so würde das genau in die Richtung einer „thermodynamische" Auffassung von Regelkonstitution, wie sie in der vorliegenden Arbeit mehrfach angesprochen wird, weisen. Dann allerdings ist wiederum nicht mehr einsehbar, warum der Ort dieser Regelkonstitution nicht auch schon im Gehirn des Einzelnen gesucht und gefunden werden kann. Dies ist dann, im Gegensatz zu dem was Wittgenstein sonst sagt, genau eine empirische Frage. Da Wittgensteins Argumentation in ihrem skeptischen Gehalt unwiderleglich zu sein scheint, andererseits aber zu einem in meinen Augen inakzeptablen Ergebnis führt, müssen die Prämissen des Arguments falsch sein. Aus den obigen Überlegungen scheint mir hier nur ein Ansatzpunkt für eine Infragestellung der Prämissen gegeben zu sein: die Arbitrarität der Zeichen bzw. die Freiheit der Übereinkunft. Zwar ist die Arbitrarität der Zeichen bzw. der Konventionalitätscharakter der Sprache spätestens seit Saussure geheiligtes Credo der Sprachwissenschaftler, aber der Beweis aus Offenbarung, Tradition und Autorität ist ja wohl mittlerweile aus dem Sprachspiel des wissenschaftlichen Argumentierens und Beweisens herausgefallen. Worauf gründet sich eigentlich die Hypothese von der Arbitrarität der Zeichen: bei Saussure in erster Linie auf die Nicht-Motiviertheit der phonologischen Form eines Wortes durch seinen begrifflichen Gehalt: es gibt keine Isomorphiebeziehung zwischen /bäum/ als phonologischer Form und dem Begriff BAUM, ebensowenig zwischen /bäum/ und dem realen Walnußbaum draußen in meinem Garten. Es ist eine Sache der Konvention, daß /bäum/ für BAUM steht und nicht etwa für STRAUCH.

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Vielleicht aber ist dies gerade der ephemerste Aspekt der SpracheWirklichkeit-Beziehung oder des Bedeutungscharakters der Sprache. Ist z.B. auch die Zuordnung eines Ausdrucks einer bestimmten Wortklasse (Nomen) zu einem Begriff immer noch so arbiträr? Wittgenstein würde hier vielleicht einwenden, daß gerade die Wortklasse die BegrifFsklasse induziere, d.h. daß die Klassifikation unserer Umwelt ein Produkt unseres Sprachspiels sei. Er ist hier sehr radikal, denn er geht davon aus, daß grundsätzlich auch beliebige andere Klassifikationen möglich wären: es ist ja nur eine Sache der Übereinkunft. Das schon im ersten Kapitel einmal verwendete Beispiel von den Zähnen der Rose im Maul der Kuh spricht hier Bände: „»Ein neugeborenes Kind hat keine Zähne.« — »Eine Gans hat keine Zähne.« — »Eine Rose hat keine Zähne.« — Das letztere — möchte man sagen — ist doch offenbar wahr! Sicherer sogar, als daß die Gans keine Zähne hat. — Und doch ist es nicht so klar. Denn wo sollte eine Rose Zähne haben? Die Gans hat keine in ihren Kiefern. ... — Ja wie, wenn man sagte: Die Kuh kaut ihr Futter und düngt dann damit die Rose, also hat die Rose Zähne im Maul des Tieres. Das wäre darum nicht absurd, weil man von vornherein gar nicht weiß, wo bei der Rose nach Zähnen zu suchen wäre. (Zusammenhang mit >Schmerzen im Körper des Anderen Ergativität!) « Die Mythen der Physiker » „Asche" als mass noun singulare tantum Kantische Philosophie sprechen lernen ... « Die Wörter-Welt.» (cf. auch F 542) Sinn und Bedeutung in uns, nicht außer uns, aber unabdingbar für Erkenntnis und Gedächtnis Gleichhheit objektiv, Ähnlichkeit subjektiv Gemein-/Fachsprache - Philosophie Weisheit wirklich in der Sprache, nicht nur hineingelegt « Das ist keine Menschen-Stimme, aber Instrumental-Musik (transzendental). » Regelkonstitution: „as we go along"! (PU §83) Erkennen durch verstehen, Bedeutung Text-holistisch « Vere scire est per causas scire. Baco. » (a. J 1023) nur der Mensch kann zeichnen, nur der Mensch hält das für einen Vorzug (—> vgl. Tacitus, Germania „Fennen") Verschiedenheit der Soziolekte impliziert noch keine Denfcverschiedenheit Tiefe der Ergativität der Psych-Verben, beim Gedanken-haben/finden gibt es keinen Königsweg Nicht-Motiviertheit konventioneller Zeichen Witz als Mäeutik; keine Ähnlichkeiten vor Gott (—> A 17) Kempelens Sprechmaschine (1791) erwähnt

K 19-21

Nomenklatur

L L L L L

Französische Revolution als Sprachrevolution: darin liegt ihr Fortwirken Epikur (Tod - Leidlosigkeit) als grammatisches Problem « Den Sinn zu einem Brief mit der nächsten Post ... » « — Quaesivi lucem ingemuique reperta. » dreifacher Produktcharakter des Menschen

J 692 J 756

25 85 158 284 296

139 L 305 L 411 L 707

Mensch auch ein Weltgebäude (—> L 804) Kempelens Maschine Im Traum: das Leben ein Spiel

A 239

Verweis auf Bödiker: Differenzierung der Präpositionen vor und für

KA l KA 205 265 KA 297

fehlende Numeralia bei den Yameos: Begriffe ohne Wörter? Verweis auf Condillacs Tratte des sensations Gemeinsamkeiten : Witz (synthetisch); Unterschiede : Verstand (analytisch) Sprachen noch zu undifferenziert

D 691

Zitat aus Herders Sprachursprungsabhandlung

G G G G G

8 35-37 68 71 127

G G G G

135 206 207 230

« Mein Aide-de-Camp - Adelungs Wörterbuch. » Polemik im Orthographiestreit Nicht den Wörtern vertrauen Katzen: Löcher im Pelz wo Augen vom sprechenden Bild (der neuen Metapher) zum erkalteten Zeichen (der eingeschliffenen Redewendung) Sprache - Volk: Übersetzungsproblematik gesunder Menschenverstand: ständiges Streben nach deutlichen Begriffen «... stärkstindividualisierende Ausdrückung Wissenschaft soll wie Muttersprache werden

H 61

H 109 H 146ff. H 150/51

Verwechslung von lehren und lernen (—> „Tiefensemantik") Silbenlänge ohne Zusammenhang mit Bedeutungsfülle Priestley über bilderreichen Stil «Er liebte hauptsächlich Wörter, die nicht in Wörterbüchern vorzukommen pflegen. » Onomatopoetik des Wortes „succulent" « Ich und mich ...» Ontologie, Philosophie, Sprache

J J J J J J J J J J J J J

Skepsis gegen „Vorurteile" Hauptaufgabe natürliche versus künstliche Systeme; Wichtigkeit von Paradigmen Notwendigkeit von Hypothesen praeter vs. extra Witz Finder, Verstand Beobachter Übersetzungsmaschine Nomenklatur —"— —"— — "— Mensch als „Ursachen-Bär" wie „Ameisen-Bär" keine wirkliche Erklärung Symbole, Paradigmen

H 64 H 70 H 90

1276 1360-63 1521 1537 1620 1659 1673 1675 1686 1691 1826 1827 1832

140 J 1843 J 2066 J 2148

keine Bestimmtheit in der Natur, nur in uns „leer" als relativer Begriff (leer von x) Philosophie als Scheidekunst, in der Gemeinsprache latent

K K K K K K K K K K K K K

30 45 64 65 66 76 203 275 303 308/9 312 323 336

Kanäle im Kopf Ungenügen der Sprache: Erkenntnisgrenzen ?? sein vom Denken erborgt Kantiansimus Prädikation Grundoperation des Verstandes - man muß kein Philosoph sein Sprache ungeeignet, um über nach dem eignen Tod zu reden « ... es denkt ... » Übersetzungsproblematik am Beispiel „Rape of the Lock" Distanzschaffung durch Verschriftlichung von Sprechakten an allem zweifeln, auch an 2 2 = 4 mit Ideen experimentieren Paradigmen-Nützlichkeit Erklärungsadäquatheit Eingeständnis der Überlegenheit der Chemie Lavoisiers

L L L L ,L L L L L L

804 806 729 811 852 865 866 935 955/6 974

Mensch auch ein Weltgebäude (—* L 305) Unkontrollierbarkeit der Vernunft, des Bewußtseins; cf. auch K 76 Wispermaschine einfacher als volltönende Kantianismus Skeptizismus auch bei Mathematik cf. K 66 keine genuine Entdeckung durch Kalküle «... Was für ein Deutsch wird man im Jahr 2000 in Sachsen sprechen?» cf. F 424: Vernunft —> Tierheit Selber denken statt zu philologisieren

ÜB 55 ÜB 76

«... Der Charakter des Menschen ist zu zusammengesetzt und unsere Sprache zu unbestimmt. » — Unmöglichkeit der Physiognomik « Spielen ist ein sehr unbestimmtes Wort. ... »

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