Zum neuen Jahrhundert: Ein alter Bericht über die Gestaltung- der pathologischen Anatomie in Deutschland, wie sie ist und wie sie werden muss [Reprint 2021 ed.] 9783112607084, 9783112607077


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Zum neuen Jahrhundert: Ein alter Bericht über die Gestaltung- der pathologischen Anatomie in Deutschland, wie sie ist und wie sie werden muss [Reprint 2021 ed.]
 9783112607084, 9783112607077

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Zum neuen Jahrhundert.

Ein alter Bericht über die Gestaltung- der pathologischen Anatomie in Deutschland, wie sie ist und wie sie werden muss,

Zwei Aufsätze von

Rudolf

Virchow.

Besonders abgedruckt aus dem Archiv für pathologische Anatomie Physiologie und für klinische Jledicin.

Band

Berlin 1900. G e o r g

R e i m e r .

159.

H e f t 1.

und

Zum neuen Jahrhundert. Dieses H e f t erscheint unter der Signatur eines neuen J a h r hunderts. Man mag darüber streiten, ob das J a h r 1 9 0 0 der Anfang eines neuen oder das Ende des alten J a h r h u n d e r t s ist; niemand ist im Grunde zweifelhaft, dass die neue Jahreszahl eine grössere Bedeutung für die Erinnerung des Menschen haben wird. Nach ihr wird man rechnen, vielleicht nicht im statistischen Sinne, aber sicherlich im psychologischen. Sie wird eine Anregung zum Nachdenken über die Fort- und Rückschritte der Völker und des einzelnen Menschen bringen; sie wird die kritische Betrachtung anregen, und die Hoffnung auf neue und entscheidende Bildungen sowohl in der allgemeinen Cultur, als in den verschiedenen Richtungen der Arbeitsthätigkeit und des Genusses beleben. Das zeigt sich sehr deutlich in der fast krampfhaften Hastigkeit, m i t der, namentlich auf dem Gebiete der L i t e r a t u r , neue und immer grössere und glänzendere Unternehmungen angekündigt werden, welche an das neue J a h r h u n d e r t anknüpfen. Gerade von der Medicin hoffen viele, dass sie in naher Zukunft eine andere Gestalt a n n e h m e n werde. Freilich h a t nicht Archiv f. pathol. Anat. Bd. 159. Heft 1.

1

2 j e d e r von dieser neuen Medicin eine gleiche Vorstellung. Die Stürmer denken d a r a n , dass die ganze alte Medicin über den Haufen geworfen werden müsse. Sie haben einen starken Grund in der T h a t s a c h e , dass die jetzige Medicin, wie sie sich im Laufe des abgelaufenen J a h r h u n d e r t s , und gerade in der zweiten Hälfte desselben entwickelt h a t , mit der alten, herkömmlichen Medicin k a u m noch eine Aehnlichkeit hat. W a r u m sollte nicht die kommende Zeit einen gleichen Einfluss auf die Anschauungen der Menschen gewinnen? Schon hat m a n begonnen, die Schul-Meaicin als veraltet und u n b r a u c h b a r darzustellen, und ihr gegenüber eine Volks-Medicin als das Desiderat der Gegenwart zu schildern. Die sogenannte Natur-Heilkunde beansprucht schon das Verdienst, den Ersatz gefunden, und an die Stelle der gelehrten Medicin, der Medicin der Universitäten und der akademisch geschulten Männer, eine Medicin der Ungelehrten, der Laien und der selbstdenkenden P r a k t i k e r gesetzt zu haben. Es ist nicht ohne Interesse, die Schriften der N a t u r - H e i l ärzte zu mustern. Ist es einem derselben gelungen, ein neues Princip für die Auffassung des Wesens der Krankheit aufzufinden? Ich denke, nicht. Keine einzige neue K r a n k h e i t ist durch sie aufgedeckt worden. Im Gegentheil, sie bewegen sich auf den W e g e n , welche die gelehrte Medicin eröffnet und gangbar gem a c h t hat. Ihre Ruhmestitel suchen sie nicht in der Doctrin, nicht in einer wissenschaftlichen Erkenntniss der krankhaften Processe, nicht in der Pathologie, sondern in der praktischen Uebung, in der Behandlung der einzelnen K r a n k e n , in S u m m a in der Therapie. Für sie handelt es sich nicht darum, Schüler zu bilden, welche in der Methode des Denkens und Beobachtens den Zöglingen der „ a l t e n " Schulen gleichgestellt werden können; sie sind zufrieden d a m i t , Anhänger zu gewinnen, welche aus dem endlichen Ergebniss ihrer Erfahrungen am eigenen Leibe, oder aus der Bekanntschaft m i t anderen Hülfesuchenden ein Urtheil über den praktischen W e r t h der angewendeten Behandlung ableiten. Denn die „öffentliche Meinung" fragt wenig nach dem inneren W e r t h einer Methode, für sie existirt kein Bedürfniss nach einer eingehenden E r f a h r u n g über den Hergang der Heilung, oder nach dem wissenschaftlichen Grunde der sogenannten Heilung; sie will

3 nur ein summarischesUrtheil über denErfolg, und dazu gehört nicht so sehr ein thatsächliches Verständniss, als vielmehr ein rechter Glaube an den Heilkünstler und an die Wirkungen seines Verfahrens. Wenn die alten Zauberer, die Medicin-Männer der Wilden und die Schamanen der culturlosen Stämme Glauben finden und gefunden haben, warum sollen nicht die modernen Zauberärzte Gleiches verlangen dürfen? Der heutige Arzt ist durch eine Fülle von Umständen, welche die verfeinerte und täglich complicirter werdende Cultur mit sich bringt, in eine schwierige Lage gekommen. Es wird für ihn immer schwieriger, in dem Kampfe um das Dasein auf ehrliche W'eise sein Brot zu verdienen. Die Concurrenz des Wissens wird vielfach durch die Concurrenz der Reclame ersetzt. Wie es vorkommt, dass selbst ein akademisch gebildeter Arzt um der Concurrenz willen sich entschliesst, Homöopath zu werden, so geht es auch in Betreff, der Naturheilkunde, und so wird es erst recht gehen, wenn die angestrebte Volks-Heilkunde eine anerkannte Stellung erreichen sollte. Wie oft stossen wir schon jetzt auf einen Pfuscher oder einen Quacksalber, der sich in die Gestalt eines wissenschaftlichen Arztes gehüllt hat. Das ist eine nur zu häufig zu machende Erfahrung. Daraus entwickelt sich jener ärgerliche Concurrenzstreit, der immer grössere Dimensionen annimmt, und der das Leben vieler anständiger und auf das Sorgfältigste vorbereiteter Aerzte verbittert. Darum ruft man nach der Hülfe des Staates, man verlangt Aenderungen der Gesetzgebung, man fordert Strafgesetze, wo nur Gesetze des Anstandes, der Selbstachtung, der Collegialität maassgebend sein sollten. Das ist eine der schlimmsten und zugleich eine der zweischneidigen Folgen des Kampfes gegen die „SchulMedicin". Glaubt man denn, durch Pfuscherei-Verbote die Kranken zwingen zu können, dass sie sich von einem geprüften akademischen Arzt behandeln lassen und denselben gut bezahlen? Selbst wenn es gelänge, jede Pfuscherei mit der Schneide des Gesetzes zu bedrohen, so würde daraus doch nicht folgen, dass das Publicum sich gänzlich von den Pfuschern trennte und Hülfe nur bei geprüften Aerzten suchte. An die Stelle bestrafter Pfuscher würden neue Quacksalber treteD. Wir älteren, die wir noch unter der Herrschaft der alten Pfuschereigesetze gelebt haben, wir kennen die Hartnäckigkeit der Kranken; wir haben es erlebt,

4 dass die Bestrafung eines Pfuschers ein Lockmittel für die Anziehung neuer Patienten gewesen ist. J a , wenn die Volks-Medicin das Volk nicht blos kenntnissreich, sondern auch klug m a c h t e , würde sie auch sicher ein Schutzmittel für die wissenschaftlichen und gut ausgebildeten Aerzte werden. Ein solcher Zustand ist bisher noch nie erreicht worden. Aber das hindert nicht, einem solchen Zustande zuzustreben. Verbinden wir uns alle zu einer besseren Erziehung des Volkes! fahren wir unermüdlich fort, vollkommenes Wissen in die grossen Kreise der Unwissenden zu tragen! Inzwischen, ehe das erreicht ist, gewöhnen wir uns an Geduld, und üben wir Nachsicht gegen die Unwissenden. Darüber wird vielleicht mancher gute Arzt, der kein gläubiges Publicum findet, zu Grunde gehen. W i r können ihn vielleicht retten durch die Kraft der Association, aber wir können ihm keine Reichthümer zuführen durch drakonische Gesetze gegen die Pfuscher. Das wäre nur möglich, wenn wir solche Gesetze machen und durchführen könnten g e g e n d e n A b e r g l a u b e n . Dieser ist die wahre Quelle der I r r t h ü m e r des Publicums. Er ist so alt, wie die menschliche Gesellschaft und wie die Vorurtheile, die sich von Geschlecht zu Geschlecht und von Mensch zu Mensch forterben. Sie werden genährt durch die Streitigkeiten der Aerzte und durch die Reclame, welche sie gegen einander richten und in welcher sie durch die Hülfe zahlreicher Speculanten unterstützt werden. Die wenigen Fälle, in denen der Strafrichter, die Polizei und das Anstandsgefühl des Arztes selbst die gewissenlose R e c l a m e zurückdrängen können, genügen nicht, u m den Zustand der Geister zu ändern und sichere Grundlagen für das Urtheil, geschweige für die U r t e i l s f ä h i g k e i t zu gewinnen. Das lässt sich nur durch langsame und geduldige Erziehung erreichen. Allein jede Aeuderuug in den Voraussetzungen der wissenschaftlichen Anschauung von dem Wesen der Krankheit und der Heilung bringt eine Erschütterung des Glaubens und eine neue Form des Aberglaubens m i t sich. Solche Aenderungen sind von dem Fortschreiten der Wissenschaft u n t r e n n b a r . Wenn Licht und Elektricität nicht mehr als wirkliche Substanzen, sondern als besondere Formen der Bewegung erkannt werden, so folgt daraus eine so grosse Aenderung in der Vorstellung von den

5 „Imponderabilien", dass der Ungebildete, der vielleicht auch nicht die Geduld hat, auf die Formulirung neuer Glaubenssätze zu warten, sich sofort entschliesst, einem Abenteurer zu folgen, der die neue Anschauung praktisch zu verwerthen versteht. Als wir lernten, Gährung und Fäulniss, Infection und Contagion auf mikroskopische Wesen, sagen wir kurzweg auf Bakterien zu beziehen, da t r a t der Gedanke an die chemischen Vorgänge dieser Processe so sehr in den Hintergrund, dass alle Mahnung zu ruhiger Erwägung vergeblich war. Erst langsam s a m m e l t e m a n weitere Erfahrungen über chemische Substanzen, welche nachhaltige Wirkungen auf lebendes Gewebe auszuüben im Stande sind. Dann bemächtigte sich nicht nur die experimentirende Wissenschaft, sondern auch die Industrie dieser Substanzen, und sehr bald wurden sie Gegenstände des Handels und einer an neuen Erfindungen sich überraschend schnell ausbreitenden Reclame. Wo liegen da die Grenzen zwischen Pfuscherei und wirklicher Wissenschaft? An dieser Schwierigkeit scheiterten nur zu oft die Gesetzgebung, die richterliche Entscheidung, die Thätigkeit der Polizei, aber auch, das wollen wir nicht vergessen, das wissenschaftliche Urtheil. W i r stehen in diesem Augenblick vor einer neuen Klippe. Aus dem Gewirre der chemischen Substanzen, welche mit starken und vielfach unerwarteten Kräften ausgestattet sind, ist eine besondere Gruppe losgelöst worden, aus der sich gerade j e t z t eine neue Richtung des praktischen Handelns der Aerzte gestaltet. Man hat diese Richtung O r g a n - T h e r a p i e genannt. Der N a m e h a t etwas Bestechendes und zugleich Verwirrendes an sich. Seit langer Zeit h a t man e r k a n n t , dass gewisse Heilmittel auf gewisse Körpertheile lebender Wesen eine besondere, eine s p e c i f i s c h e Wirkung ausüben. Ich habe diesen P u n k t vor J a h r e n zum Gegenstande einer eingehenden kritischen Erörterung gem a c h t , auf welche ich j e t z t wohl wieder einmal hinweisen darf. In einem Artikel „Specifiker und Specifisches" (dies. Archiv, 1854, VI, S. 3, namentlich S. 26), der hauptsächlich durch das damals sich verbreitende Dogma von R a d e m a c h e r hervorgerufen war, musste ich mich gegen diese besondere Lehre wenden, aber ich wies zugleich n a c h , dass der Grund derselben a n e r k a n n t werden müsse. Ich schloss mit dem Satze (S. 3 3 ) : „ U e b e r a l l

6 müssen wir die S p e c i f i k e r angreifen, und doch hoffen wir auf das S p e c i f i s c h e . Mit jeuen haben wir nichts gemein, als das endliche Ziel oder besser das Programm des Zieles, denn sowohl die anatomischen, als die therapeutischen Specifiker fühlen sich früh am Ziel und behaupten, es erreicht zu haben, wenn sie sich ein bequemes Schema zurecht gemacht haben, während wir uns weit vom Ziel fühlen und nicht zur Ruhe kommen. Wir hoffen auf eine endliche L o c a l i s a t i o n d e r K r a n k h e i t und auf eine Erkenntniss ihrer besonderen Eigenschaften, und ebenso glauben wir an eine e n d l i c h e L o c a l i s a t i o n der M i t t e l und an eine Erforschung ihrer Beziehungen zu den physiologischen und pathologischen Stoffen." Rademacher hatte eine grössere Zahl von Mitteln als O r g a n - H e i l m i t t e l bezeichnet, weil sie auf gewisse Organe heilend einwirkten; ich erklärte d a z u : „wir glauben an die Wirksamkeit von Arzneien, weil wir die B e z i e h u n g e n b e s t i m m t e r S t o f f e zu s p e c i f i s c h e n O r t e n i m K ö r p e r für ausgemacht ansehen". Daran halte ich auch jetzt noch fest. Würde es gelingen, diese Beziehungen überall durchzuführen und nachzuweisen, so würde man zu einer Organ-Therapie gelangen. Es ist nun nicht glücklich gewesen, dass in der jüngsten Zeit die Bezeichnung „Organ-Therapie" in einem ganz anderen Sinne gebraucht worden ist. Schritt für Schritt ist man, zuerst von der Schilddrüse ausgehend, zu einer Prüfung der specifischen E i g e n s c h a f t e n d e r P a r e n c h y m - S ä f t e d e r O r g a n e gelangt, und man hat gefunden, dass diese Säfte und die aus ihuen hergestellten Präparate, namentlich die schnell berühmt gewordenen Tabletten, eine besondere, also specifische Wirkung auf Organe ausüben. Aber nicht bloss auf diejenigen Organe, in denen analoge Säfte gebildet werden, sondern auch auf andere. Wenn man durch Thyreoidin-Tabletten das Wachsthum des Körpers, also mindestens das Knochen-Wachsthum zu beeinflussen sucht, oder wenn man durch Oophorin auf die Bildung und Erhaltung des Fettgewebes im Körper eine Wirkung erreichen will, so ist das eine ganz neue Therapie, die man nicht mehr OrganTherapie, sondern P a r e n c h y m s a f t - T h e r a p i e nennen sollte. Demgegenüber möchte ich meinen Standpunkt in der allgemeinen Therapie festhalten, dass es eine eigentliche Organ-Therapie

7 giebt, bei welcher die Heilwirkung an einem bestimmten (specifischen) Organ beabsichtigt ist oder erzielt wird. Die neue Saft-Therapie steht anscheinend in einer nahen Beziehung zu einer anderen, gleichfalls ganz modernen Richtung, zu der sogenannten S e r u m - T h e r a p i e , bei welcher aus dem Blutserum eine Substanz in Wirksamkeit gebracht werden soll, die flüssig durch die Gefässe circulirt. Dieses H e i l s e r u m lässt sich als ein Absonderungs-Product lebender Körpergewebe betrachten, vergleichbar der Flüssigkeit, die man aus Bakterien gewinnen kann. Indess sind wir zu einer sicheren Theorie der Erzeugung solcher Heilstoffe noch nicht gelangt, und man wird sich bescheiden müssen, noch manchen, vielleicht etwas abenteuerlichen Versuch zu einer allgemeinen Theorie über sich ergehen zu lassen. Es mag hier nur daran erinnert werden, dass die L e h r e v o n d e n V a c c i n e n (dieses Wort in der weiten, durch P a s t e u r eingeführten Sprechweise gebraucht) sich hier anschliesst. Alle diese Stoffe sind flüssig; die fragliche speciiischeSubstanz muss also in Lösung vorhanden sein, und es begreift sich, dass man daraus etwas eilige Schlüsse auf die Bedeutung, ja auf die Wiedererneuerung der humoral - pathologischen Doctrin gezogen hat. In dieser Beziehung möchte ich einige Worte der Verständigung sagen. Meine Pathologie — ich habe sie deshalb C e l l u l a r P a t h o l o g i e genannt — fusst auf der Thatsache, dass das Leben, nicht bloss das pathologische, sondern gerade in hervorragendem Maasse auch das physiologische, an Zellen gebunden, d a s s es k u r z w e g Z e l l e n t h ä t i g k e i t ist. Daher habe ich nie anerkannt, dass es auch ein extracellulares Leben giebt, und daher habe ich s t e t s d i e I n t e r c e l l u l a r - S u b s t a n z e n n i c h t a l s l e b e n d e a n e r k a n n t . Gewebe mit viel Intercellular-Substanz, z. B. Knorpel, Knochengewebe, haben nur sehr geringe vitale Eigenschaften, so dass es geradezu eine schwierige Aufgabe ist, zu erkennen, ob sie noch lebendig oder schon abgestorben sind. Dabei ist jedoch zu erwägen, dass ihre Intercellular-Substanz, obwohl nicht lebendig, auch nicht als todt bezeichnet werden darf, denn todt kann nur etwas sein, was vorher lebendig war, und die Intercellular-Substanz war dies niemals. Sie ist ebensowenig todt, wie ein Stein oder ein Krystall todt sein kann.

8 W e n n ich von specifischen Wirkungen einer Substanz auf ein lebendes Gewebe spreche, so ist dies i m m e r so zu verstehen, dass die S u b s t a n z auf die Zellen des Gewebes einwirkt. Es soll d a m i t nicht gesagt sein, dass sie nicht auf die IntercellularS u b s t a n z einwirkt, und dass diese Einwirkung nicht eine pathologische Bedeutung haben könne. Sehen wir doch, dass die Ablagerung von Kalksalzen im Knorpel gewöhnlich in der Intercellular-Substanz erfolgt. Geschieht sie, was zuweilen vorkommt, in die Zellen, so bedeutet dies ein A b s t e r b e n des Knorpels (Petrification = Nekrose). Bei der Ossification dagegen füllt sich die Intercellular-Substanz mit Kalk, aber die Zellen bleiben frei davon, können auch als Knochenkörperchen persistiren und den A u s g a n g s p u n k t für reactive Vorgänge bilden. Alle vitale Action im Knorpel und Knochen ist a n die Persistenz der Zellen gebunden. Ebenso sind alle T h ä t i g k e i t e n der lebenden Theile an Vorgänge in den Zellen geknüpft. Wenn die neuen Elemente, welche der höchsten animalischen Thätigkeit dienen, später eine A u s n a h m e machen, so ist das doch nur so zu verstehen, dass sie eine besondere Entwickelung erfahren, durch welche ihre Eigensubstanz vergrössert wird. Ein Muskel-Primitivbündel, die nach einem rohen Sprachgebrauch sogenannte Muskelfaser, war einmal eine einfache Zelle, aber sie h a t frühzeitig in ihrem Innern die contractile Substanz a n g e h ä u f t , auf der ihre specifische Energie beruht. W e n n die g l a t t e , die sogenannte organische Muskelfaser m e h r oder weniger in dem Zellenzustande v e r h a r r t , so fehlt ihr doch nicht contractile Substanz. Aber sie persistirt doch in einem niederen Entwickelungs-Zustande, und ihre T h ä t i g k e i t beschränkt sich auf ein geringeres Maass von Leistung. W a s aber a m Muskel von Thätigkeit zu bemerken ist, das haben wir auf die Zellen oder auf die aus ihnen hervorgehenden Primitivbündel zu beziehen, und wenn wir specifische Mittel s u c h e n , welche die Muskeln als Prädilections-Ort ihrer W i r k u n g benutzen, so können es, abgesehen von den einer besonderen Betrachtung zufallenden Nerven, nur solche sein, welche verändernd auf die intracelluläre Muskel-Substanz einwirken. Das interstitielle (inter- oder extracelluläre) Gewebe kommt dabei nicht in B e t r a c h t , obwohl seine Zellen (BindegewebsKörperchen) gleichfalls reizbar, also lebendig sind.

9 Nicht anders verhält es sich mit dem Nervensystem. Es hat lange genug gedauert, ehe man sich entschlossen hat, selbst in den Centrai-Organen das interstitielle Gewebe von den nervösen Theilen zu trennen. Als ich die Neuroglia als ein solches besonderes, interstitielles und nicht nervöses Gewebe proclamirte, (dieses Archiv, 1853, Bd. VI, S. 136, vgl. Geschwülste II. S. 126), stiess ich auf eine Majorität von opponirenden Gelehrten, so sehr hatte man sich daran gewöhnt, auch dieses Gewebe als einen Sitz nervöser Thätigkeit zu betrachten. Selbst der Nachweis besonderer Zellen in demselben fand lange Zeit keinen Glauben. Heut zu Tage ist die „Meinung" eine andere geworden. Man betrachtet nur noch die Ganglien-Zellen und die von ihnen ausgehenden Nerven als specifisch nervöse Theile; ihnen spricht man allgemein die Eigenschaft der specifischen Nerventhätigkeit zu, sie gelten ebenso als die Sitze psychischer, als unbewusster Actionen, welche bald für sich, bald als Zeichen organischer Erregungen erkennbar werden. Alle Forschung über die feineren Vorgänge am Nervensystem wendet sich ihnen zu. Mehr und mehr hat man erkannt, dass eigentlich alle grösseren Einrichtungen des Körpers, die sogenannten O r g a n e , einen zusammengesetzten Bau besitzen. Wir können das einfach ausdrücken, indem wir in jedem Organe gewisse, ihm eigent ü m l i c h e und für seine Thätigkeit bestimmte Theile als s p e c i f i s c h e unterscheiden, während wir andere, in demselben Organe vorkommende und für seine Zusammensetzung wichtige Theile, welche mit seiner Thätigkeit nichts zu thun haben, als n i c h t s p e c i f i s c h e bezeichnen. Diese letzteren Theile stimmen in ihrer Einrichtung vielfach mit den einfachen Geweben überein, die sich auch in anderen Organen finden, j a , die sogar als besondere, für sich bestehende Gebilde bekannt sind. Sie kommen häufig als i n t e r s t i t i e l l e Gewebe zwischen den specifischen Bestandtheilen der Organe vor, aber sie bilden auch grosse und wichtige, organähnliche Anhäufungen, die nur aus nicht specifischen Anhäufungen aufgebaut sind. Sie haben gerade die Neigung, I n t e r c e l l u l a r s u b s t a u z e n zu erzeugen, welche durch ihre mechanischen Eigenschaften einen grossen Werth für den Gesammt-Organismus erlangen. Dahin gehören die Knorpel, das Bindegewebe, die Neuroglia und manche andere.

10 Schon im Mittelaitor war es sehr gebräuchlich, die Bestandt e i l e des thierischen und so auch des menschlichen Körpers in gleichartige und ungleichartige zu t r e n n e n : m a n unterschied p a r t e s s i m i l a r e s und p a r t e s d i s s i m i l a r e s . Es entspricht diese Eintheilung nicht genau dem, was wir j e t z t meinen, aber es lag darin doch die A n e r k e n n t n i s , dass similäre Bestandtheile unter verschiedenen Verhältnissen angelegt werden können, und für die pathologische Anschauung erwuchs d a r a u s die Möglichkeit einer E r k l ä r u n g , dass gewisse Krankheiten in gleicher Form in den verschiedensten Organen auftreten können, während andere an b e s t i m m t e Organe und Gewebe gebunden sind. Auf diesem Grunde hat vor einem J a h h r u n d e r t B i c h a t seine allgemeine Anatomie e r b a u t und auf dem so gewonnenen Boden die anatomische Geschichte der speciellen Pathologie zu studiren versucht. Er ist zu früh dahingeschieden,, um diesen gewaltigen Versuch über seine Anfänge hinauszuführen. Nicht einmal die Classification der Gewebe ist ihm gelungen. Dazu bedurfte es weit eingehenderer Kenntnisse, wie sie erst das Mikroskop und die Entwickelungs-Geschichte geliefert haben. Das ist der P u n k t , wo unsere deutschen Forscher einsetzten und ihre Ruhmestitel erwarben. Sie haben die Gewebelehre geschaffen; von ihnen s t a m m t auch der N a m e H i s t o l o g i e . D a m i t beginnt die neue A e r a , welche uns in weniger als einem J a h r h u n d e r t ein ganz neues Feld für die Pathologie und T h e r a p i e eröffnet hat. Es möge gestattet sein, zur kurzen Erläuterung ein p a a r Worte über die Wandlungen in der Auffassung der E n t z ü n d u n g zu sagen. Seit der Entdeckung der Capillar-Circulation durch M a l p i g h i knüpfte jede Erörterung über die Entzündung, sei es bewusst, sei es u n b e w u s s t , an die Capillar-Gefässe an. Selbst die R ü c k s t ä n d e der alten Humoral-Pathologie, welche sich noch bis in das 19. J a h r h u n d e r t erhalten haben, erschienen unverständlich, wenn sie sich nicht in irgend einer W e i s e an Störungen der localen Blutströmung anknüpfen Hessen. Auch die „entzündliche K r a s e " bedurfte einer solchen Unterlage. Mehr und mehr entschloss man sich, das Verhalten der localen Blutströmung bei der Entzündung direct zu u n t e r s u c h e n , insbesondere das Mikroskop zu Hülfe zu nehmen. Bei der nicht geringen Schwierigkeit einer solchen Untersuchung und bei dem Mangel an prak-

11 tischer Uebung im Beobachten kam es bald d a h i n , nebensächliche Erscheinungen als wesentliche, Folgezustände als PrimärVorgänge aufzufassen. So ist es geschehen, dass noch heutigen Tages eine allgemein anerkannte Auffassung der Entzündung nicht gewonnen ist. Es ist begreiflich, dass bei dem Studium der „ S y m p t o m e " der Entzündung die Rothe in den Vordergrund der A u f m e r k s a m keit trat. Der frühzeitige Eintritt derselben bei den äusseren Entzündungen legte den Gedanken nahe, dass die Rothe d a s Hauptsymptom der Entzündung sei und dass von ihr alle anderen „ S y m p t o m e " ausgingen. Hatte schon die grobe Betrachtung die Rothe auf eine v e r m e h r t e B l u t a n s a m m l u n g (congestio) zurückgeführt, so gewährte die mikroskopische Betrachtung die Ueberzeugung, dass diese A n s a m m l u n g inuerhalb der Blutgefässe vor sich gehe. Es ist namentlich das Werk der Pariser Schule, dass die H y p e r ä m i e , genauer gesagt, die C a p i l l a r - H y p e r ä m i e , an die Spitze der Entzündungslehre gestellt wurde. W a s B o e r h a a v e begonnen hatte, das erhielt durch A n d r a l und seine zahlreichen Schüler die allgemeine A n e r k e n n u n g , eine so allgemeine, dass nach meiner Kenntniss auch j e t z t noch von Vielen, vielleicht sogar von den Meisten, daran festgehalten wird. Es war ein Zufall, dass meine eigene A u f m e r k s a m k e i t in Bezug auf diese Grundfrage zuerst auf Gewebe gerichtet wurde, bei denen keioeswegs der ganze entzündete Theil roth wurde. Schon meine Inaugural-Dissertation de r h e u m a t e corneae ( 1 8 4 6 ) beschäftigte sich mit Veränderungen des Gewebes. Ich fand, dass die Cornea, wie der Knorpel, von Entzündung heimgesucht wird, bei der höchstens im Umfange der entzündeten Theile, aber nicht inmitten des Gewebes eine Capillar-Hyperämie besteht. Schritt für Schritt gelangte ich so zu den Entzündungen der g e f ä s s l o s e n Gewebe, und es war eine nicht geringe StärkuDg fiir mich, als sich herausstellte, dass auch die I n t i m a der grossen Gefässe, j a selbst der grösste Theil des Endocardium, obwohl gefässlos, sich entzünden könne. Die Keratitis, die Chondritis, die Endocarditis, die Endoarteriitis und die Endophlebitis blieben auch für mich Ent«ündungen, aber sie wurden zu Entzündungen ohne Capillar-Hyperämie, also auch ohne Röthung. Der Rubor musste also aus der Gruppe der berühmten 4 Cardinal-Symptome der

12 Entzündung ausscheiden, wenn man .nicht auf die Zulassung der eben genannten Erkrankungen zu dem Gebiet der anerkannten Entzündungen verzichten wollte. Dieser Ausweg schien mir absolut unzulässig. Ich will hier nicht meine Gründe wiederholen. Es mag genügen, darauf hinzuweisen, dass kein anderer Patholog eine so radicale Veränderung angenommen hat. Der Consensus omnium genügt, um dem Rubor seine hervorragende Stellung unter den Cardinal-Symptomen zu nehmen und ihn in die zweite Ordnung zu versetzen. Aber welcher Ersatz ist dafür zu finden? N ä c h s t dem Rubor steht in der Schätzung der Menschen am höchsten der Dolor. W i e die Rothe auf die Capillaren, so führt der Schmerz auf die Nerven. Er m a c h t den veränderten Zustand sensibler Nerven offenbar. Das ist gewiss sehr wichtig, aber m a n wusste seit langer Zeit, dass dieses S y m p t o m ein inconstantes i s t ; man hatte sich daran gewöhnt, l a t e n t e Entzündungen zuzulassen, welche die Empfindung des Kranken in keiner Weise erregen. Selbst schwere Entzündungen in nervenreichen Theilen, j a sogar solche in nervösen Theilen, verlaufen zuweilen ohne Schmerz. Eine Myelitis, eine Encephalitis kann selbst in Fällen, wo sie die stärksten Entzündungs-Producte liefert, ohne Schmerz, also ganz latent sich entwickeln; auch eine sorgfältige Anamnese m u s s zuweilen darauf verzichten, für jede Sklerose des Rückenmarks, für jeden Hirnabscess ein schmerzhaftes Initial-Stadium zu ermitteln. Selbst in Fällen, wo eine starke und anhaltende Hyperämie der Verletzung eines Nerven folgt, kann es geschehen, dass eine Entzündung im gewöhnlichen Sinne des Wortes und d a m i t auch der Schmerz ausbleibt. Gerade, als ich m i t Versuchen über die Entzündung beschäftigt war, machte der grosse Claude B e r n a r d sein beweisendes Experiment mit der Durchschneidung des S y m p a t h i c u s am Halse; auch ich studirte dasselbe speciell mit Rücksicht auf die Entzündungsfrage. Das Ergebniss war ein entscheidendes: es t r a t keine Entzündung des gerötheten Gewebes ein. Im Gegentheil, um in demselben Entzündung zu erregen, m u s s t e ich directe Reizungen des Gewebes zu Hülfe nehmen. MeineErfahrungen übten, als ich sie veröffentlichte, nicht sofort den Einfluss auf die allgemeine Anschauung aus, den ich erwartet hatte. Man verzichtete auf den Dolor, aber m a n hielt an dem

13 Rubor fest. Das war wenigstens die „allgemeine Meinung". Da ich daran gewöhnt bin, die allgemeine Meinung nicht als den entscheidenden Factor in wissenschaftlichen Fragen anzuerkennen, so hielt ich an meiner Ueberzeugung fest. Aber ich brauchte zu meiner Stütze eine andere Grundanschauung. So kam ich gleichsam gezwungen zu dem allgemeinen Phänomen, welches jeder Entzündung als Ausgang d i e n t : das ist die R e i z u n g (irritatio). W e r ohne Vorurtheil die Geschichte der Entzündungen überblickt, muss von der T h a t s a c h e erfüllt werden, dass ohne Reizung keine Entzündung entsteht, und er m u s s den Schluss ziehen, dass j e d e E n t z ü n d u n g e i n i r r i t a t i v e r P r o c e s s i s t . Ist das richtig, so kann es sich dabei nicht in erster Linie um Nervenreizung h a n deln. Obwohl die Kenntniss der letzten Verästelung der Nerven in dem letzten Decennium so grosse Fortschritte gemacht hat, dass man solche Verbreitungen in vielen Geweben aufgefunden hat, in denen m a n sie früher vermisste, so sind doch i m m e r noch n e r v e n l o s e Gewebe übrig geblieben, und meines Wissens ist es bisher noch nicht gelungen, die I r r i t a b i l i t ä t überall auf terminale Nerven-Endigungen zu beziehen. J a , von den am meisten charakteristischen Geweben, wie von den Muskeln, ist mehr und m e h r die Ueberzeugung durchgedrungen, dass die Contraction, die eigentliche Muskelthätigkeit, auch nach Ausschaltung der Nerven noch persistirt. D i e n e r v ö s e I r r i t a b i l i t ä t s c h l i e s s t die I r r i t a b i l i t ä t des Gewebes nicht aus. Auf diesem Wege gelangt man schliesslich zu den Zellen des Gewebes, den Trägern des Lebens und der wichtigsten physiologischen Thätigkeit. Das ist auch der Weg, auf dem ich zu der C e l l u l a r - P a t h o l o g i e gekommen bin. Vielleicht wäre ich zu derselben nicht gelangt, wenn ich nur die f u n c t i o n e l l e T h ä t i g keit der Theile im Auge behalten hätte. Aber als ich lernte, dass die Zellen auch eine n u t r i t i v e und eine p l a s t i s c h e Thätigkeit ausüben können, da erweiterte sich meine Vorstellung von den möglichen Formen der Reizung, und mit der n u t r i t i v e n und f o r m a t i v e n Reizung enthüllte sich auch das Geheimniss der Entzündung. Nur beiläufig mag hier daran erinnert sein, dass das Studium der e i n z e l l i g e n W e s e n die Zuversicht im höchsten Maasse gestärkt hat, dass auch die stärksten Reize ohne Hyperämie und Schmerz ihre W i r k u n g thun können. Die genauere Er-

14 forschung der cellularen Processe ist daher auch als das Mittel zu betrachten, mit dem die Wissenschaft weitere Fortschritte zur Erkenntniss der Entzündung machen und die Beweise für die neue Theorie verstärken kann. Freilich muss man dann in einer Beziehung grosse Resignation üben. Seit j e h e r hat die Entzündung als ein mehr oder weniger einheitlicher, trotz der Mannigfaltigkeit der Gewebe und Organe gleichartiger Process gegolten. Meine Forderung, diese Prämisse aufzugeben, ist nur unvollständig erfüllt worden. Und doch ist ein wirkliches Verständniss nicht zu erringen, wenn m a n nicht die V o r a u s s e t z u n g v o n d e r U n i t ä t d e r E n t z ü n d u n g a u f giebt. W i e wollte m a n ohne Gewalt den Vorgang einer Encephalitis, einer Pneumonie, einer Peritonitis, einer Nephritis identificiren? Hier sind e x s u d a t i v e , degenerative und plastische Processe gewaltsam zusainmengefasst worden. W e r aber, der die Vorgänge einer Peritonitis genau kennt, ist im Stande, d a m i t die Vorgänge einer Encephalitis zu erklären? W e r würde eine Nephritis erkennen, der die Geschichte der Pneumonie allein studirt h a t ? Diese Entzündung in ihrer scheinbaren Einheitlichkeit ist ein P h a n t o m , das nur so lange den Anschein einer Wesenheit erweckt, als eine gutgemeinte Phraseologie die P h a n t a s i e erfüllt. J e weiter wir auf dem Wege unbefangener Beobachtung fortschreiten, j e m e h r wir die Autopsie an die Stelle der P r ä m i s s e n setzen, um so mehr wird auch die Ueberzeugung wachsen, dass es wohl entzündliche Processe, aber nicht e i n e Entzündung g i e b t . Das ist das Ergebniss einer n ü c h t e r n e n , aber umsichtigen Erfahrung. Unsere Vorgänger haben grosse Mühe darauf verwendet, eine r a t i o n e l l e Pathologie herzustellen. Das Streben darnach ist ein d u r c h a u s löbliches.. Aber es genügt nicht, die Bedeutung einer rationellen Pathologie gegenüber einer e m p i r i s c h e n zu betonen. A u c h das Empirische lässt eine rationelle Behandlung zu: es handelt sich nur d a r u m , das empirische Resultat in eine vernünftige Verbindung mit anderen Erfahrungen zu setzen. Dann wird auch d a s Empirische rationell. Aber der blosse Rationalismus ist nicht ausreichend, d i e W a h r h e i t d e s E r d a c h t e n zu beweisen; dazu gehört der empirische Beweis. Wir Empiriker verachten vernünftige Erklärungen n i c h t ; im Gegen-

15 theil, wir suchen sie, und wir finden erst dann die Ruhe der Befriedigung, wenn wir unsere Erfahrungen in einen rationellen Z u s a m m e n h a n g gebracht haben. Nur weisen wir die oft so nahe liegende Versuchung zurück, über die Grenzen der directen Autopsie und der empirischen Analogie hinaus Hypothesen zu vertheidigen, die rationell aussehen, aber durch die Beobachtung als falsch erwiesen werden. Wie oft sind solche Hypothesen gemacht und als irrationell erfunden worden! und wie viele der jüngeren Forscher verirren sich i m m e r wieder in dieses trügerischeLabyrinth! Das neue J a h r h u n d e r t wird nicht ohne solche Verirrungen bleiben. Wir müssen uns darin finden, aber unablässig versuchen, d i e G e m ü t h e r für empirische W a h r h e i t zu begeistern. Wären unsere Schuleu darauf eingerichtet, auch in philosophischen Dingen die empirische W a h r h e i t als das höchste Gut der Erkenntniss zu lehren, so würde manche begeisterte Seele gerettet werden können. Unser grösster Feind ist der Mangel an logischem Verständniss und an geschulter Dialektik. Beide werden verbreitet durch die Mangelhaftigkeit der Sprachen. Wie oft fehlt uns an der entscheidenden Stelle das richtige W o r t ! Nicht etwa blos, weil es uns nicht einfällt oder weil wir es nicht gelernt haben, sondern auch deshalb, weil es nicht existirt. Für Manches, was wir sehen, und für noch Mehreres, was wir denken, giebt es ü b e r h a u p t in der uns zugänglichen Sprache, vielleicht in keiner Sprache, einon zutreffenden Ausdruck. Dann helfen wir uns vielleicht durch eine Umschreibung, die eigentlich unsere Absicht nicht deckt, oder wir übertragen einen annehmbaren Ausdruck, der etwas Aehnliches bezeichnet, auf einen anderen Fall, der doch besondere Eigenthümlichkeit besitzt. Das giebt die Verwirrung, die Missverständnisse, nicht blos für den Hörer, sondern leider auch für deu Sprecher. U m ein mir augenblicklich nahe liegendes Beispiel zu gebrauchen: ich sprach von der Entzündung, die fälschlich als eine Einheit aufgefasst sei. Gern möchte ich für Entzündung einen anderen Ausdruck anwenden, der diesen Nebenbegriff nicht h a t . Ein solcher Ausdruck existirt, wie ich glaube, nicht. Ich miisste also ein neues W ; ort erfinden und zur Anerkennung bringen. Aber ich weiss es nicht. Vielleicht findet ein Anderer dasselbe; dann würde ich es annehmen. Vorläufig weiss ich keinen besseren

16 Rath, als dass man das Wort „Entzündung" in der einheitlichen Bedeutung überhaupt n i c h t g e b r a u c h t . Meines Erachtens steht nichts entgegen, die e i n z e l n e n Formen der Entzündung, namentlich in Verbindung mit dem leidenden Organ, z. B. Lungen-Entzündung, Brustfell-Entzündung, als Entzündungen zu bezeichnen. Dann tritt der Localbegriff gegenüber dem Allgemeinbegriff in eine sichere, mehr berechtigte Stellung, und die Möglichkeit des Missverständnisses ist stark vermindert. — Ich möchte schliesslich betonen, dass das neue Jahrhundert von uns an einer der wichtigsten Stellen ein weit gefördertes Verständniss überkommen wird. Bei der Frage nach dem Wesen einer bestimmten Krankheit ist nichts so sehr hinderlich für die Feststellung der Wahrheit gewesen, als die V e r w e c h s e l u n g v o n W e s e n u n d U r s a c h e . Ganze Jahrhunderte, j a Jahrtausende sind daran gescheitert. Das Missverständniss über Wesen und Ursache ist die Veranlassung gewesen, jene gewaltige s p i r i t u a l i s t i s c h e Richtung ins Leben zu rufen, die bald mehr, bald weniger zu einer gänzlich unberechtigten P e r s o n i f i c a t i o n d e r K r a n k h e i t s - U r s a c h e geführt hat. Wer kennt nicht jene Geschichten von Zauberern und Priestern, von Besessensein und Teufel-Vertreibung, welche die Menschen bethört und Unheil über ganze Geschlechter gebracht haben? Die „bösen Geister" sind noch jetzt nicht ganz gebannt; sie spuken bald an dieser, bald an jener Stelle. Glücklicher Weise ist die Wissenschaft sie los geworden. Dazu hat nicht wenig beigetragen, dass an die Stelle der Geister lebendige Wesen getreten sind, und zwar vorzugsweise mikroskopische. Die vornehmste Stelle unter ihnen nehmen gegenwärtig die Bakterien ein. Natürlich die empirischen, oder sagen wir deutlicher, die sichtbaren. Ihre Zahl wird täglich grösser, und wenn auch nicht jede als solche präconisirte Mikrobe eine gesicherte Stellung einnimmt, so können wir doch getrost sagen, dass eine grosse Schaar der wichtigsten Krankheiten mikrobischen Ursprunges ist. Der junge Adept, der mit gläubigem Schauer dieses Heer überblickt, kommt sehr leicht zu der Meinung, dass alle schweren Krankheiten denselben mikrobischen Ursprung haben, und man kann es ihm nachempfinden, wenn er Ruhe erst in der Zuversicht findet, es werde gelingen, jede Krankheit auf Bakterien

17 zurückzuführen. Es erinnert das l e b h a f t an die Zeit vor beiläufig 4 0 Jahren, als durch E h r e n b e r g u. A. das Vorhandensein lebender Infusorien im W a s s e r und lebender Diatomeen in der Erde bekannt geworden war. Es gab damals consequent denkende Leute, die sich scheuten, W a s s e r zu trinken, gleichsam als ob jedes W a s s e r voller Mikroben sei. Eine solche träumerische Betrachtung der N a t u r ist immer gefährlich. Der wirkliche Naturforscher und so auch der wirkliche Arzt muss nicht blos die eine oder andere Thatsache kennen, sondern auch das Gebiet ihrer Geltung; jede willkürliche Verallgemeinerung ist vom Uebel. So werden wir sicher in nicht zu langer Zeit dahin kommen, alle Arten von Mikroben zu kennen und ihre Wohnsitze anzugeben. Auch hier besteht ein unangenehmes Hinderniss in der unvollkommenen Bezeichnung der einzelnen Gattungen und Arten. W i r würden manches Missverständniss vermeiden, wenn j e d e Art nach botanischer Regel ihren festen N a m e n h ä t t e ; dann Hesse sich auch die durch sie hervorgebrachte Krankheit sofort bezeichnen. Ein mustergültiges Beispiel bietet der Actinomyces und die durch ihn bedingte Krankheit, die Actinomycose. Niemand wird hier über eine Lücke stolpern. W i e anders bei der Tuberculose! Als Herr K o c h in den Tuberkeln eine b e s t i m m t e Mikrobe fand, gab er ihr nicht einen botanischen, sondern einen nosologischen N a m e n : er n a n n t e sie „Tuberkel-Bacillus". Dadurch entstand die Gewohnheit, jedes k r a n k h a f t e Product, bei dem sich solche Bacillen fanden, „ T u b e r k e l " , und die Krankheit, welche sie hervorbrachte, „Tuberculose" zu nennen. Diese Gewohnheit ist geradezu deletär geworden. F r ü h e r nannte man ein bestimmtes a n a t o m i s c h e s Gebilde T u b e r c u l u m , wenn es klein war. J e t z t nennt man auch ein grosses anatomisches Gebilde, das sonst T u b e r hiess, T u b e r c u l u m , wenn darin T u b e r k e l - B a c i l l e n gefunden werden, j a , man gebraucht den Namen „Tuberculose" auch für entzündliche Producte, z. B. für die käsige Hepatisation. So gewann man eine Tuberculosis sine tuberculo. Hier ist eine strenge Purification der wissenschaftlichen Sprache bei pünktlicher Bewahrung der guten Tradition erforderlich. Möge das neuö Säculum sie erleben! Der Fehler in der Terminologie beruht ganz und gar auf dem Mangel geeigneter Bezeichnungen sowohl für die Krankheit, als für den b e s t i m m t e n Pilz, und dieser Mangel Archiv f. pathol. Anat. Bd. 159. Hft. 1.

2

18 führt auf die griechische Medicin zurück, die weder das anatomische Gebilde, welches die K r a n k h e i t r e p r ä s e n t i r t , den Tuberkel, noch die Ursache desselben, den Bacillus, k a n n t e . Seit K o c h ' s schöner Entdeckung bewegt m a n sich in einem Circulus vitiosus: m a n nennt den Bacillus nach dem KrankheitsP r o d u c t (Tuberkel-Bacillus), und das K r a n k h e i t s - P r o d u c t , auch wenn es keine Knötchen bildet, z. B. bei dor käsigen-Pneumonie, bezeichnet man nach dem Bacillus. Hätte der Tuberkel-Bacillus einen botanischen N a m e n , so würde jede Schwierigkeit wegf a l l e n , denn für die K r a n k h e i t s - P r o d u c t e haben wir präcise pathologische Namen. Mir liegt begreiflicher Weise die Absicht, dem Bacillus einen wirklichen Namen zu geben, ( T u b e r k e l - B a cillus ist ersichtlich kein Name, sondern nur eine beschreibende Bezeichnung) — fern, da ich den Bacillus nicht entdeckt h a b e ; mein verantwortlicher Einfluss ist mit der Aufstellung der pathologischen N a m e n erschöpft. Die sprachliche Schwierigkeit ist noch erhöht worden durch die Darstellung einer chemischen Substanz von mehr oder weniger giftigen Eigenschaften aus den T u b e r k e l - B a c i l l e n . Dieses T u b e r k e l - G i f t lässt sich von den Bakterien trennen. Es kann in Lösung dargestellt werden. Dieses „ T u b e r c u l i n " (auch nicht ganz correct) genannte Gift ist offenbar ein Product der TuberkelBacillen, und zwar ein Product ihrer Thätigkeit. Da man zahllose Versuche mit Injectionen dieses Giftes, sowohl bei Menschen, als bei Thieren gemacht hat, so besitzen wir ausgedehnte Erfahrungen über seine Wirkungen. Am meisten studirt sind unter den Wirkungen die R e i z u n g e n : man benutzt bekanntlich zu diagnostischen Zwecken vielfach Einspritzungen, welche eine V e r m e h r u n g der K ö r p e r - T e m p e r a t u r zur Folge h a b e n , während man zu curativen Zwecken sowohl diese, als auch die m e h r local reizenden Einspritzungen verwendet, die entweder bloss eine Hyperämie, oder zugleich Infiltration mit Leukocyten erzeugen. Man wird aber nicht fehlgehen, wenn m a n ihnen bei stärkerer Einwirkung auch direct ertödtende (nekrotisirende) Wirkungen auf die Gewebs-Zellen zuschreibt. Geht man mit diesen Erfahrungen an die Betrachtung der schädlichen Wirkungen der T u b e r k e l , also an die Gefahren der Tuberculose, so wird man nicht im Zweifel darüber bleiben, dass

19 diese Wirkungen hauptsächlich durch das Gift verursacht werden, welches in den Bacillen erzeugt und in ihnen enthalten ist. Wie weit dieses nach aussen abgesondert wird, ist nicht genügend bekannt; jedenfalls kommt darauf meist wenig an. Die Hauptsache ist, dass die schädlichen Wirkungen des Tuberkels nicht auf eine d i r e c t e , mechanische oder zerstörende (fressende) Thätigkeit der Bacillen bezogen werden dürfen, sondern von der Giftigkeit des Bacillen-Saftes abhängen. Die Bacillen sind demnach in doppelter Beziehung gefährlich: einerseits durch ihr Gift, andererseits aber durch ihre s t a r k e V e r m e h r u n g . Denn sie pflanzen sich, nach Art der parasitären Bacillen, sowohl durch Theilung, als durch Sporulation fort, und so lange sie lebenskräftig sind, liefern sie immer neue Generationen von Bacillen. Dadurch besonders werden sie K r a n k h e i t s - U r s a c h e . So einfach das Problem der Krankheits-Ursache in der Formel von der bacillären Natur der Tuberkel-Ursache gelöst erscheint, so wenig genügt die Kenntniss dieser Formel, um alle Besonderheiten der „Tuberculose" zu erklären. In der ersten Begeisterunng übersah man den grossen Rest noch unerklärter Vorgänge: allmählich hat man, zur Vorsicht gemahnt durch die Erfahrungen über die l ó c a l e T u b e r c u l o s e , eingesehen, dass eine weit ausgedehnte Erforschung der einzelnen Formen nöthig ist. Insbesondere gilt dies von den Fragen, welche aus der vorzeitigen Identificirung von Tuberculose und Phthise sich ergeben haben. Als L a e n n e c den logischen Gewaltstreich vollbrachte, die Unité de la phthisie zu proclamiren, war ihm die lócale Tuberculose noch unbekannt; nachdem wir sie kennen, fällt es kaum jemand ein, die lócale Tuberculose ohne Weiteres Phthise zu nennen. Es verhält sich damit ähnlich, wie mit den Bezeichnungen S y p h i l i s und L u e s : niemand wendet den Namen Lues auf jede syphilitische Loealaffection an. Es wäre das auch eine nicht geringe Gefahr für das Verständniss: man müsste dann einen Ersatz durch ein neues Wort für Lues suchen. Erinnere man sich doch daran, dass im Laufe der Phthise, wie in dem der Lues, eine Anzahl von (tertiären und quartären) Erkrankungen auftreten, die mit der Hauptkrankheit in einem unverkennbaren Zusammenhange stehen, und die doch weder tubérculos, noch syphilitisch sind, wie z. B. die Amyloid-Metamorphose. 2*

20 Wollte man das Amyloid syphilitisch oder tuberculös nennen, so würden dadurch nur Missverständnisse hervorgerufen und das wirkliche Verständniss schwer geschädigt werden. Alle solche Betrachtungen gehören in das Capitel der Unterscheidung von K r a n k h e i t s - W e s e n und Krankheits-Ursache. Da ich darüber früher wiederholt eingehend gehandelt habe, so beschränke ich mich hier darauf, die noch offene Frage von den V a c c i n e n kurz zu berühren. Ich t h u e es namentlich mit Rücksicht auf den U m s t a n d , dass gerade das eine der wichtigsten Aufgaben für die Forschung des kommenden J a h r h u n d e r t s sein wird. Die Vaccine trägt ihren N a m e n nicht, wie das Tuberculin, von einer K r a n k h e i t ; im Gegentheil, er ist gebildet worden auf Grund der Erfahrung, dass diese „ L y m p h e " oder, wie man j e t z t wahrscheinlich sagen würde, dieses „ S e r u m " von einem bestimmten T h i e r s t a m m t . Aber nicht von der T h i e r a r t — sonst würde man wohl Bovine gesagt haben — , sondern von der K u h (vacca), denn es sind hauptsächlich weibliche Individuen des Genus Bos, von denen diese Lymphe s t a m m t , und man n i m m t sie ausserdem von einem bestimmten weiblichen Organ, dem Euter ( m a m m a ) . Mit der „ K u h p o c k e " stossen wir sofort auf eine Erfahrung, die an die locale Tuberculose erinnert. Durch die I m p f u n g überträgt m a n aber nicht blos einen c o n t a g i ö s e n Stoff, sondern auch einen i m m u n i s i r e n d e n , also nicht blos ein Gift, sondern auch einen S c h u t z s t o f f . Schon lange vor J e n n e r wusste man, dass es Krankheiten giebt, die in der Regel den Menschen nur einmal im Leben befallen. Man wusste auch, dass durch Ansteckung eine Krankheit erworben wird, welche den Menschen tödten kann, aber welche, wenn der K r a n k e mit dem Leben davon k o m m t , vor einer zweiten Erkrankung gleicher Art schützt. Nicht blos die Pocke (Variola mit ihren Abarten), sondern auch eine Anzahl von anderen ansteckenden Krankheiten, die hauptsächlich das kindliche und jugendliche Alter treffen, besitzt diese Eigenschaft. So war es gekommen, dass man absichtlich derartige Ansteckungen herbeizuführen suchte, z. B. durch die Anlegung von Kleidungsstücken ansteckender Kranker, um die T r ä g e r vor einer späteren Ansteckung zu schützen. Namentlich in Epidemien mit milderem Verlauf wagte man es, die eigenen Angehörigen so zu behandeln.

21 Hier übertrug man den gewöhnlichen Ansteckungsstoff, z. B. P o c k e n - „ M a t e r i e " von Menschen, zuweilen mit glücklichstem Erfolge. Die scharfsinnige Beobachtung J e n n e r ' s brachte eine wichtige Aenderung in die Voraussetzungen der Menschen und d a m i t auch in die prophylaktische Behandlung. J e n n e r sah, dass Personen, welche Milchkühe mit Pocken am Euter molken, eine o c a l e Ansteckung an den Fingern davontrugen, und dass diese Ansteckung denselben Schutz gewährte, wie eine allgemeine Eruption von Pocken n a c h allgemeiner Ansteckung. Er nahm daher gerade die Lymphe von Kuhpocken und erzielte d a m i t eine a l l g e m e i n e I m m u n i t ä t , ohne eine andere Eruption von Pockenpusteln, als an den Impfstellen. Selten hat eine prophylaktische Beobachtung einen so grossen und so wohlthätigen Einfluss auf die Gemüther und auf die Körper der Menschen g e h a b t und eine so gewaltige W i r k u n g auf die Gesetzgebung geübt. Aber die theoretische Begründung des Yaccinations-Verfahrens entspricht noch heute nicht ganz der beglaubigten Empirie. Die speculative Verwerthung der empirischen Erfahrung hat zu immer neuen Extravaganzen geführt. Eine derselben ist in der Homöopathie zur Anwendung gebracht: H a h n e m a n n construirte darnach den allgemeinen Lehrsatz, dass dieselbe K r a n k h e i t nur einmal im Körper vorhanden sein könne, dass daher, wenn eine zweite ähnliche Krankheit in den Körper eindringe, die eine Krankheit die andere vernichte. Daraus enstand die F o r m e l : similia similibus. So verfiel man auf den absurden Gedanken, die zweite Krankheit durch Heilmittel herbeizuführen. — Andere blieben dabei, die zweite Krankheit durch Ansteckung mit dem specifischen Krankheitsstoff zu erzeugen, was weit rationeller war. Aber man kam bald, durch schlimme Erfahrungen belehrt, davon zurück, namentlich bei den Pocken. Nur die Thierärzte und die Landwirthe haben bis in unsere Tage d a r a n festgehalten. Als es mir gelang, im preussischen Abgeordnetenhause die alten Vorurtheile in Betreff der Schafpocken-Impfung zu widerlegen und ein Verbot der I m p f u n g mit Schafpocken-Lymphe durchzusetzen, hat man mir noch J a h r e lang vorgehalten, dass ich auch die I m p f u n g mit Kuhpocken-Lymphe beseitigen müsse. Mir schien es i m m e r

22 genügend, für die Prophylaxe der Menschen die Impfung mit m e n s c h l i c h e r Pocken-Lymphe zu verhindern. Einen neuen Aufschwung hat die Lehre von den Vaccinen in unserer Zeit durch P a s t e u r genommen. Es ist bekannt, welche Erregung entstand, als es ihm, freilich mit sehr inconstanten Resultaten, gelang, die Impfung der Hühner-Cholera, des Milzbrandes und der Hundswuth in Anwendung zu bringen. Obwohl wiederholt zurückgewiesen, ist diese Art des Vaccin, w i e P a s t e u r es generalisirend nennt, doch immer wieder zum Vorschein gekommen, und nachdem auch die Lungenseuche, der Rotz und die Syphilis auf die Bühne getreten sind, hat sich die Impfung mit „Lymphe" immer weiter ausgebreitet. Nur ist, dem modernen Sprachgebrauch entsprechend, das S e r u m an die Stelle der Lymphe getreten. Auch hat man vielfach, statt der Krankheits-Producte selbst, namentlich die Extracte von Bakterien nach künstlicher Züchtung der letzteren benutzt, wie das mit besonderem Erfolge bei der Diphtherie geschehen ist. Für meine heutige Betrachtung ist es nicht erforderlich, alle die einzelnen Kategorien von Krankheiten und „Serum"Arten durchzugehen, welche dabei in Betracht gezogen sind. Ich kann um so mehr darauf verzichten, als eine allgemeine, überall anerkannte Theorie nicht gewonnen worden ist. Das neue Jahrhundert wird noch viele und harte Arbeit auszuführen haben, ehe die Menschheit mit Ruhe auf einen gewissen Abschluss der prophylaktischen Untersuchungen wird rechnen dürfen. Vorläufig wird die Prüfung aller einzelnen Serum-Arten und das Studium der einzelnen ansteckenden Krankheiten mit Eifer fortgesetzt werden müssen. Dass es immunisirende Stoffe, also Schutzstoffe gegen Krankheiten giebt, kann nicht zweifelhaft sein. Aber es ist gefährlich, die Erfahrungen über Immunisation und über Ansteckung nach einfachen Schemata von einem Fall auf den anderen, von einer Thierart auf die andere zu übertragen. Ich möchte zum Schluss nur noch darauf aufmerksam machen, dass die Schutzstoffe nicht nothwendig mit den Ansteckungsstoffen identisch sein müssen. Gerade die Geschichte der Pocken und der Vaccination ist sehr lehrreich. Als die weite Verbreitung der Bakterien durch immer neue Beobachtungen dargethan wurde, hielt man es für selbstverständlich, dass es

23 auch ein bakterisches Pocken-Contagium geben müsse. Bis j e t z t sind alle Versuche, es aufzufinden, vergeblich gewesen. Nichtsdestoweniger enthält die Pocken-Lymphe den sehr wichtigen Schutzstoff, der nicht nur vor n e u e r Pocken-Erkrankung, sondern vor j e d e r Pocken-Erkrankung schützt, und zwar nicht bloss für den Augenblick, sondern für lange Zeit, oft f ü r d a s g a n z e L e b e n . W o kann der Sitz dieser I m m u n i t ä t sein? Unsere heissblütigen Injectionisten sagen k ü h n : im Serum. Als ob das Serum im Blute der Stoff wäre, der endlos lange eine einmal gewonnene E i g e n t ü m l i c h k e i t zu bewahren im Stande wäre! Gerade die am meisten wandelbare Flüssigkeit sollte die Eigenschaft einer p e r s i s t e n t e n Substanz h a b e n ! Einige Heisssporne haben sogar die Zeit für gekommen e r a c h t e t , die Wiederkehr der HumoralPathologie zu proclamiren. Meiner Meinung nach mit Unrecht. Persistente Eigenschaften setzen auch persistentes G e w e b e v o r a u s . Daher habe ich die Ueberzeugung, dass auch der Sitz der d a u e r n d e n I m m u n i t ä t im Gewebe sein m u s s , und da das lebende Gewebe seine vitalen Eigenschaften überall den Z e l l e n v e r d a n k t , dass auch die I m m u n i t ä t an bestimmten Zellen haften muss. Diese Zellen mögen ihre E i g e n s c h a f t e n auf i h r e N a c h k o m m e n s c h a f t im S i n n e d e r E r b l i c h k e i t o d e r auf i h r e N a c h b a r s c h a f t o d e r selbst auf f r e m d e T h e i l e des O r g a n i s m u s m e t a s t a t i s c h ( d i s s e m i n i r e n d ) ü b e r t r a g e n . Sie mögen auch vorübergehend das Serum beeinflussen. Aber d a u e r n d e I m m u n i s i r u n g kann nur zu Stande kommen n a c h A r t d e r B e f r u c h t u n g . Wie durch den Samen die in den Zellen der Testikel erzeugte Flüssigkeit mit ihren „ F ä d e n " auf die Eizelle übergeht, so müssen auch bei der I m m u n i s i r u n g alte oder j u n g e Zellen des Gewebes von der immunisirenden „ L y m p h e " aufnehmen und dadurch dauernde Aenderungen ihrer Substanz erfahren. Ob diese Aenderungen jemals mikroskopisch oder chemisch werden nachgewiesen werden können, steht dahin. Man möge danach suchen. Aber die empirische Thatsache muss auf dem Wege der Beobachtung oder des Experiments a m L e b e n d e n festgestellt werden, und man wird sie respectiren müssen, gleichviel, ob die materielle Veränderung als solche gesehen wird oder nicht.

24

n. Ein alter Bericht über die Gestaltung der pathologischen Anatomie in Deutschland, wie sie ist und wie sie werden muss. Vor m e h r als 5 0 J a h r e n machte ich mit Unterstütung des damaligen Cultus- und Medicinal-Ministers E i c h h o r n eine Studienreise durch die deutschen Lande, um von dem S t a n d e der pathologischen Anatomie und ihrer Schwester-Disciplinen Kenntniss zu nehmen. Seitdem habe ich eine lange Lehrthätigkeit geübt, und es ist mir endlich der schöne Lohn zu Theil geworden, in dem neuen P a t h o l o g i s c h e n M u s e u m zu Berlin ein gutes Stück von dem zu S t a n d e gekommen zu sehen, was ich als Ergebniss meiner damaligen Reise und meiner schon früher gewonnenen heimischen Kenntnisse für erforderlich hielt, und was mir seitdem als zu erstrebendes Ziel stets vorgeschwebt h a t . Ob ich das Ganze noch erleben werde, wage ich k a u m zu hoffen. Aber ich darf durch die nachstehenden Aktenstücke vielleicht den Beweis führen, dass ich im Geiste dasjenige schon lange vorgearbeitet hatte, was sich j e t z t vollzogen hat, und dessen weiterer Plan die Z u s t i m m u n g der Königlich Preussischen Staatsregierung und des Landtages gefunden h a t . In Bezug auf die Aktenstücke selbst bemerke ich, dass der T e x t nach meinem ursprünglichen Entwurf wiedergegeben wird. Einzelne Worte oder Wendungen mögen schon bei der ersten Abschrift einige Veränderung erfahren haben. Im Wesentlichen ist der W o r t l a u t unverändert.

25 1. A n s c h r e i b e n an d e n

Minister.

Berlin, 2. November 1 8 4 6 . Eure Excellenz haben die hohe Gnade gehabt, mir auf Verwendung des Geh. Med.-Rathes Dr. S c h m i d t

zu einer wissen-

schaftlichen Reise

ausserordentliche

nach Prag und Wien

eine

Remuneration von 1 5 0 T h l r . zu bewilligen. freudigen

Nachricht

leider

Nach Empfang dieser

durch Krankheit

verhindert,

Eurer

Excellenz meinen tiefgefühltesten Dank auszudrücken, beeile ich mich jetzt,

nach

der Rückkehr von jener Reise,

einen kurzen

Bericht ganz gehorsamst vorzulegen. Nach den Andeutungen, welche mir Herr Geh. Rath S c h m i d t über

die Hauptzwecke

der Reise

gegeben

hatte,

habe ich in

meinem Bericht die jetzige Gestaltung der pathologischen Anatomie in Deutschland, besonders in ihrer praktischen Anwendung, darzustellen, ihre Stellung zu den übrigen Disciplinen der medicinischen Wissenschaft zu begrenzen und dié Wege ihrer weiteren Entwickelung anzudeuten versucht.

Eure Excellenz werden mir

gnädigst verzeihen, wenn ich in vielleicht zu pedantischer Weise die Einzelheiten dieses Gegenstandes verfolgt und namentlich die Principien habe;

der

pathologisch-anatomischen Forschung

entwickelt

ich sah mich dazu genöthigt, da ich vor Eurer Excellenz

meine Ueberzeugung zu rechtfertigen wünschte, dass: „die

pathologische Anatomie

eine

selbständige Wissen-

schaft sein müsse, welche, um ihre Bedeutung als Grundlage der praktischen Medicin zu erhalten, von dem Todten zu

dem Lebendigen

zurückkehren

und sich zur patho-

logischen Physiologie gestalten müsse." Ich habe es nicht gewagt,

directe Vorschläge an die Aus-

führung der einzelnen Punkte meines Berichtes zu knüpfen; ich würde mich ganz glücklich schätzen, das Resultat meiner Reise würde mir als ein sehr segensreiches erscheinen,

wenn es mir

gelingen sollte, die Billigung Eurer Excellenz für den Gedanken zu erringen,

dass die Begründung der pathologischen Anatomie

und Physiologie sei,

dass

nur

eine aus

der Haupt-Aufgaben

der Vereinigung

der jetzigen Medicin

dieser Wissenschaften mit

einer rationellen Therapie eine wirklich wissenschaftliche Medicin erwachsen könne, und dass daher das Pathologische Institut den

26 einen, die Klinik den anderen Brennpunkt d'es medicinischen Unterrichtes und der medicinischen Forschung darstellen müsse. Das hohe Vertrauen, welches Eure Excellenz mir bisher geschenkt haben, drängt mich zu den lebhaftesten Aeusserungen des D a n k e s ; ich unterdrücke sie, denn für ein solches Vertrauen d a n k t man nicht mit W o r t e n , sondern nur mit Arbeiten. Ich bin dazu bereit; möchten meine Kräfte für meine Vorsätze ausreichen ! Mit der dankbarsten Ergebenheit Eurer Excellenz ganz ergebenster Dr. V i r c h o w , interimistischer Prosector. 2. R e i s e b e r i c h t . Es sind erst einige J a h r e her, seitdem die pathologische Anatomie die allgemeine A u f m e r k s a m k e i t der deutschen Aerzte auf sich gezogen hat. Obwohl in Deutschland unter den Händen praktischer Aerzte, eines W e p f e r , eines B r u n n e r u. A. ents t a n d e n , war sie allmählich fast ganz an die Anatomen gekommen, und die dauernde Verbindung derselben m i t der klinischen Medicin, die man in Frankreich, und die mit der allgemeinen Pathologie, die man in England festhielt, hatte bei uns nur wenig Anklang gefunden. Erst H a s s e , J u l i u s V o g e l , insbesondere R o k i t a n s k y haben die Emancipation der pathologischen Anatomie von der Anatomie und Physiologie, von der allgemeinen Pathologie und Klinik begonnen und im Bewusstsein der deutschen Mediciner ziemlich durchgeführt. Eine solche Emancipation war zum Theil schon durch die genauere Untersuchungs-Methode bedingt. Der pathologische Anatom m u s s t e in einer einigermaassen ausgedehnten Anstalt bei seinen Nachsuchungen, deren Resultat oft genug von dem täglichen Zufall und von dem guten Glück des Untersuchers abhängt, eine Zeit aufwenden, deren Länge sich nicht gut mit dem Betriebe jener übrigen Disciplinen vereinigen liess. Die Nothwendigkeit dieser Emancipation war aber nicht blos eine äusserliche: die pathologische Anatomie, wenn sie anders eine Garantie ihres Gedeihens haben sollte, musste nothwendig e i n e s o u v e r ä n e W i s s e n s c h a f t sein, und es giebt keine der

27 bestehenden Disciplinen in der Medicin, welche eine directe Verbindung mit ihr zuliesse, als die allgemeine Pathologie. Man kann dagegen weder das Beispiel Englands, noch das Frankreichs anführen, denn in beiden Ländern sind die Anatomen, die Physiologen und die Pathologen auch praktische Aerzte, und die gleichzeitige Anstellung des gelehrten Mediciners als Universitäts-Lehrer und als Vorsteher eines Service sichert eine fortwährende Verbindung j e n e r Disciplinen mit der praktischen Medicin, eine Correctur der wissenschaftlichen Gesetze durch tägliche ärztliche Beobachtung. Die Emancipation der pathologischen Anatomie ist m i t entschiedenstem Glück an verschiedenen Orten wirklich versucht, und die Creation der einzelnen Professur ist an die Prosectur grösserer Spitäler geknüpft worden. Oesterreich hat solche Stellen fast überall, in Wien, Prag und Pressburg, Sachsen in Leipzig, Bayern eine solche in W ü r z b u r g und es wird eine zweite binnen kurzer Zeit in München besitzen. An den meisten Orten k o m m e n dazu noch 1 — 2 Assistenten-Stellen, deren Bedeutung f ü r die H e r a n b i l d u n g neuer Lehrer und Untersucher in der anatomischen Wissenschaft besonders in Wien schon durch eine Reibe von Beispielen bewiesen ist. W e n n m a n durch die weitere Abspaltung der Physiologie und der vergleichenden Anatomie von dem alten S t a m m in Oesterreich, Bayern, Dänemark und der Schweiz zu drei anatomischen Lehrstellen: 1. A n a t o m i e des Menschen incl. allgemeine Anatomie, 2. vergleichende Anatomie und Physiologie, 3. pathologische A n a t o m i e gekommen ist, so muss man doch zugestehen, dass der Spalt zwischen der pathologischen Anatomie und den beiden anderen Theilen ein viel grösserer ist, als der zwischen diesen 1 beiden anderen unter sich. Die pathologische Anatomie h a t zur (gewöhnlichen) Anatomie keine nähere Beziehung, als die allgemeine Pathologie oder pathologische Physiologie zur (gewöhnlichen) Physiologie, und es wäre ebenso consequent, die allgemeine Pathologie m i t dem Lehrstuhl der Physiologie zu verbinden, als wenn man die pathologische Anatomie zur Anatomie rechnete.

28 Auf der anderen Seite ist bei dieser Theilung einer der wichtigsten Theile der anatomischen Wissenschaft meistentheils ganz unberücksichtigt geblieben, nehmlich die chirurgische Anatomie. Diese ist in England und Frankreich, wo sie ihre sichere Begründung gefunden hat, fast ausschliesslich von praktischen Chirurgen geübt worden; in Deutschland ist, meines Wissens, L a n g e n b e c k in Göttingen der einzige thätige chirurgische Anatom, während sonst eine gewisse Gleichgültigkeit gegen die Anatomie bei den deutschen Chirurgen nicht zu verkennen ist. In der neuesten Zeit haben zwar sowohl A n a t o m e n (Prag, Heidelberg), als Chirurgen (Leipzig, Tübingen, Kiel) den Versuch gemacht, die Vereinigung mit der Pathologie herzustellen, allein den Anatomen fehlte häufig die chirurgische, den Chirurgen die anatomische und physiologische Erfahrung, welche zu einem Gelingen des Versuches nöthig war. Eine weitere Betheiligung der Chirurgen an der Ausgestaltung der chirurgischen Anatomie, ohne welche eigentlich eine wissenschaftliche Begründung der Chirurgie unmöglich ist, steht, wie es scheint, nicht zu erwarten, und es ist daher eine Verbindung der chirurgischen und der pathologischen Anatomie um so mehr zeitgemäss, als die modicinisch-pathologische Anatomie von der chirurgisch-pathologischen nicht zu trennen ist, und letztere mit der chirurgischen Anatomie selbst auf das Innigste z u s a m m e n h ä n g t . Der Zweck der pathologischen Anatomie kann ein dreifacher sein. Der erste und nächstliegende ist die F e s t s t e l l u n g d e r T o d e s u r s a c h e , sei dieselbe nun im gerichtlich-medicinischen Interesse nothwendig, oder für den Arzt zur Bestätigung der Diagnose, oder zur Beruhigung der Anverw a n d t e n des Verstorbenen wünschenswerth. Die pathologische Anatomie wird hier um eines äusserlichen, öffentlichen oder privaten Zweckes willen in Anspruch g e n o m m e n ; es ist eine einfach praktische A n w e n d u n g derselben. Dem zunächst s t e h t die pathologische Anatomie als U n t e r r i c h t s - G e g e n s t a n d , die Mittheilung der einmal gewonnenen Kenntnisse und Erfahrungen in der pathologisch-anatomischen Wissenschaft an Lernende. Allein die pathologische Anatomie ist noch lange nichts Abgeschlossenes und Vollendetes. Die Untersuchungen über die Todesursachen sind seit B i c h a t nicht

29 um ein Wesentliches vorgerückt, und wenn es auch im Lehrzwecke nothwendig erscheint, die pathologische Anatomie als eine systematisch geordnete W i s s e n s c h a f t vorzutragen, so sind doch die einzelnen Glieder in diesem System noch weit davon entfernt, auf einer vollkommen sicheren Grundlage zu beruhen. Es ist daher dringend nothwendig, pathologische Anatomie noch in einer dritten Beziehung zu treiben, und die Feststellung unsicherer, die Auffindung neuer, die Verknüpfung bekannter T h a t s a c h e n zu ihrem Vorwurf, d a s p a t h o l o g i s c h - a n a t o m i s c h e Object zum G e g e n s t a n d der Forschung, der Unters u c h u n g , des L e r n e n s zu m a c h e n . Wir haben also: I. die angewendete, praktische pathologische Anatomie als forensische oder private, II. die pathologische Anatomie als Lehrobject, III. die pathologische Anatomie als Gegenstand naturwissenschaftlicher Forschung. Ad I. In Beziehung auf den ersten P u n k t sind besonders zwei Momente zu berücksichtigen. Einmal das Verhältniss des pathologischen Anatomen zum klinischen Lehrer, und zweitens das zum forensischen Arzt. Das erste Verhältniss ist vollkommen einfach, und überall dahin geordnet, dass der pathologische Anatom den Befund an der Leiche dcmonstrirt, der klinische Lehrer die Krankheitsgeschichte und den Leichenbefund zu einer gemeinschaftlichen Betrachtung verwendet, und beide z u s a m m e n die Todesursache feststellen. W e i t weniger eng ist das Verhältniss zum forensischen Arzt. Es besteht ein solches fast nur in Wien. Der Prosector des allgemeinen Krankenhauses vertritt bei allen forensischen (den sogenannten politischen und juridischen) Obductionen ungefähr die Stelle, welche in Preussen der Kreis- oder S t a d t w u n d a r z t einnimmt, d. h. er macht in Gegenwart des Stadtphysicus und eines der beiden Primarien der chirurgischen Abtheilungen die Obduction und dictirt das Protokoll. Dieses Verhältniss, welches durch die besonderen forensischen Einrichtungen Wiens begünstigt wird, ist natürlich für den pathologischen A n a t o m e n selbst eine nicht unbedeutende Quelle neuer Erfahrungen, während es eine a n d e r w ä r t s ungekannte Sicherheit der forensischen Unter-

30 suchung gewährt. Die gleiche Selbständigkeit ist in Oesterreich dem Prosector oder seinen Assistenten gegenüber den Primarien der einzelnen Abtheilungen des K r a n k e n h a u s e s zugestanden. Es ist liier vor Allem dafür gesorgt, dass die einzelne Section m i t R u h e und Genauigkeit a u s g e f ü h r t werden k a n n (obwohl dies nicht i m m e r der Fall ist). In j e d e m Falle erscheint aber der pathologische Anatom nicht als der Diener, sondern als der Mitwirker des klinischen Lehrers und des forensischen Arztes, indem die Feststellung des Leichenbefundes und die A u f n a h m e des Sections-Protokolls ihm allein überlassen bleibt. Ad I I und III. D e r p a t h o l o g i s c h e A n a t o m a l s L e h r e r . Ich m u s s hier einige Worte voraufschicken über das Verhältniss der pathologischen Anatomie als Object des Lehrens und des Lernens, der Darstellung und der Forschung. Es ist in der neueren Zeit von niemand mehr, als von J u l i u s V o g e l urgirt worden, dass der pathologische Anatom sich auf die Darstellung der K r a n k h e i t s - P r o d u c t e , der geschehenen, fertigen materiellen Veränderungen der Theile beschränken müsse. Diese Ansicht ist bis zu einem gewissen P u n k t e vollkommen richtig. Der pathologische Anatom h a t i m m e r nur das todte Product vor sich, wie etwa der Mineralog, und wenn er sich ganz auf seinen Gegenstand beschränkte, würde er weiter nichts können, als eine Terminologie machen, die Objecte beschreiben, ihre Merkmale und Unterscheidungen auffinden, endlich eine Classification vornehmen. Die Genese der Producte, die E n t w i c k e l u n g s g e s c h i c h t e der p a t h o l o g i s c h e n N e u b i l d u n g e n , der a b w e i c h e n d e Verlauf der Lebensv o r g ä n g e , welcher die Bedingung dieser Producte und Neubildungen war, würde danach von der pathologischen Anatomie ausgeschlossen sein. W e d e r das Leben, noch das Sterben, sondern einzig und allein das T o d t e wäre das Object des pathologischen Anatomen. V o g e l h a t aber selbst im Verlaufe seines Werkes die Unmöglichkeit einer solchen Beschränkung durch sein eigenes Beispiel praktisch bewiesen. Der Gedanke hat sein Recht, auch in der pathologischen Anatomie. Der gebildete pathologische A n a t o m kann sich nicht beschäftigen mit dem Product, ohne nach dem Mechaaismus zu fragen, durch welchen es zu Stande

31 gekommen, und nach den Bedingungen, unter welchen die vitalen Vorgänge diese oder jene Abweichung im Verlauf erfahren haben. Allein der pathologische A n a t o m hat in seinem eigenen Material nur unvollkommene Mittel zur Beantwortung dieser Fragen. Das einfach räumliche Zusammensein gewisser Dinge, mag es auch noch so häufig sein, sichert ihm nicht die Erkenntniss des zeitlichen oder ursächlichen Verhältnisses dieser Dinge. Der Schluss, den er aus zwei Praemissen macht, kann zu leicht falsch sein,, d a er nicht genau zu bestimmen vermag, ob diese beiden Praemissen zusammengehören. Es ist nicht zufällig, dass Anatomie und Physiologie von denselben Männern getrieben und gelehrt werden: Anatomie und Physiologie sind gewissermaassen eins, denn sobald der A n a t o m die einfache Anschauung verlässt und zu denken anfängt, ist er schon Physiolog. Gerade so verhält es sich aber auch m i t der pathologischen A n a t o m i e : der denkende pathologische Anatom ist schon über sein Wissen hinausgegangen und in das Gebiet der pathologischen Physiologie gekommen. Ich verstehe aber unter pathologischer Physiologie eine allgemeine Pathologie, wie sie bisher noch nicht existirt, wie sie aber in H e n l e ' s Geist gelegen h a t , als er die N a m e n „allgemeine und specielle Pathologie" verwarf, und sie durch „rationelle und empirische Pathologie" ersetzte. Diese allgemeine Pathologie, oder lieber, diese pathologische Physiologie hat die Bedingungen zu erörtern, unter denen der Verlauf gewisser Lebenserscheinungen a b w e i c h t , und die Gesetze festzustellen, nach denen diese Abweichungen zu S t a u d e kommen. Wie der Physiologie die Entwickelungsgeschichte des menschlichen Eies, so fällt ihr (der pathologischen Physiologie) die Geschichte der pathologischen N e u b i l d u n g , die pathologische Entwickelungsgeschichte, die Lehre von der Metamorphose der Exsudate, von der Genese der Geschwülste u. s. w. zu. Für die Erkenntniss dieser Dinge hat die pathologische Physiologie zwei W e g e : Die Beobachtung am Krankenbett und das pathologische Experiment am Thier. Der erstere ist unsicher, da er zumeist auf einer Wahrscheinlichkeits-Rechnung b e r u h t , allein er ist unschätzbar, da er immer neue Andeutungen zur Untersuchung und eine Reihe durch das Experiment nicht darstellbarer Vorgänge dem

32 Beobachter erschliesst. Der eigentlich naturwissenschaftliche W e g der Forschung aber ist auch für den Pathologen das Experiment. Man setzt b e s t i m m t e Bedingungen, man erkennt die direct daraus resultirenden Abweichungen in dem Verlaufe der Lebenserscheinungen, man verfolgt die in bestimmten Zeitabschnitten geschehenden Veränderungen in F o r m , Mischung, T e x t u r , man studirt die E n t w i c k l u n g neuer und die Rückbildung alter Gewebe. Die reine pathologische Anatomie, wie sie eben angedeutet ist, lässt sich allerdings s t u d i r e n ; der pathologische Anatom, auf sein eigenes Material beschränkt, k a n n eine gewisse Reihe von Untersuchungen anstellen. Allein eine solche pathologische Anatomie lässt sich nicht l e h r e n , und wenn sie wirklich gelehrt werden könnte, so würde sie nutzlos sein, insofern nicht etwa der pathologische Physiolog k ä m e und sie zu seinen Zwecken verwendete. Eine Wissenschaft, die bei dem Lernenden zünden und wachsen soll, muss einen i n n e r e n , lebendigen Z u s a m m e n hang haben. Es scheint mir daher ebenso richtig, als zeitgemäss zu sein, dass man daran d e n k e , eine W i s s e n s c h a f t zu begründen, die, gleich der universellen Anatomie und Physiologie, als pathologische Anatomie und Physiologie an die Stelle der allgemeinen Pathologie trete, so dass jene, die universelle Wissenschaft von dem Bau und den Verrichtungen des g e s a m m t e u Körpers, die breitere, diese, die pathologische Anatomie und Physiologie, die schmalere, umschriebene Basis der medicinischen Wissenschaft bilde. Die specielle, empirische Pathologie würde demgemäss nur die angewendete pathologische Anatomie und Physiologie sein, und, insofern Diagnostik und Prognostik ihre wesentlichsten Theile darstellen, den directen Uebergang zur medicinischen Praxis, der Therapeutik, bilden. Daraus würde dann unmittelbar die Stellung der pathologischen A n a t o m i e , sowie ein etwa festzustellender Studienplan resultiren. Die reine medicinische N a t u r w i s s e n s c h a f t , die Lehre vo dem gesunden und kranken menschlichen Körper würde sich mit der pathologischen Anatomie und Physiologie begegnen; der Lernende, welcher die universelle und die pathologische Anatomie und Physiologie durchgemacht h a t , müsste über diese

33 Gegenstände im Klaren sein, seine medicinische Vorbildung wäre beendet, er könnte nun die Anleitung zur Praxis, zur Anwendung, erhalten. In Oesterreich hat man die pathologische Anatomie in das vierte Studienjahr verlegt, allein die Medicin ist in Oesterreich überhaupt noch nicht auf dem allgemein naturwissenschaftlichen Standpunkt angelangt. Die Bestrebungen sind noch zu vereinzelt und bei der mangelhaften naturhistorischen Vorbildung selten consequent durchgeführt. Es ist bekannt, dass auch die pathologische Anatomie in Oesterreich, — selbst in der Zeit ihrer glänzendsten Entwickelung, nicht über die willkürlichen Theorien hinausgekommen ist, und dass sie mit jedem Tage einen immer mehr kategorischen, man möchte sagen, dogmatischen Charakter annimmt. Bei den Schülern sind die Schwächen des Meisters zu argen Fehlern geworden. Indem man die pathologische Physiologie, insoweit sie für den pathologischen Anatomen unentbehrlich ist, vollkommen willkürlich construirte und namentlich das pathologische Experiment durch die Speculation ersetzte, ist in diese pathologische Anatomie ein Wurm gekommen, der ihre Wurzeln anfrisst und der leicht das Absterben des Baumes veranlassen könnte. Der L e h r e r der pathologischen Anatomie hat hauptsächlich drei Zwecke zu erfüllen. Zuerst eine zusammenhängende, wissenschaftliche Darstellung der pathologischen Anatomie im Ganzen; sodann die pathologisch-anatomische Klinik; endlich die Anleitung zu eigenen Sectionen. Das Verhältniss der pathologischanatomischen Wissenschaft zur pathologisch-anatomischen Klinik denke ich mir etwa so, wie das der allgemeinen Pathologie zur speciellen; in der Klinik, am Einzelfalle, wird der Lernende zur Anwendung derjenigen Grundsätze und Gesetze angeleitet, welche er in der allgemeinen pathologischen Anatomie kennen gelernt hat; die Klinik bildet den Uebergang zur selbständigen pathologisch-anatomischen Praxis, zur vernünftigen Anstellung eigener Sectionen, wozu er sich überdies durch Sections-Uebungen, unter Anleitung des Lehrers angestellt, besonders vorbereiten muss. Denn die pathologisch-anatomische Section, die sich in kurzer Zeitfrist über den ganzen Körper erstreckt, erfordert eben eine besondere Uebung, da die gewöhnliche praktische Uebung Archiv f. patbol Auat. Bd. 159. Hft. 1.

3

34 auf

dem

folgen

anatomischen

Theater

diesen

Zweck

nicht

ver-

kann.

Um diesen verschiedenen Zwecken zu genügen,

bedarf der

pathologische Anatom Leichen, Präparate und Zeichnungen,

Was

zunächst die Leichen anbetrifft,

so collidiren hier meistentheils

die Unterrichtszwecke

ad I

Zwecken.

mit

den

angeführten

praktischen

Bis j e t z t hat man in Wien, bei der grossen Zahl der

täglichen Todesfälle, Leichen in hinreichender Menge zum Unterricht gehabt.

Die Verhältnisse sind aber in den österreichischen

Lehranstalten für den Einheimischen, zumal für den Studirenden, weniger günstig, gegenüber

als für den Fremden, — ein P u n k t ,

den vielen K l a g e n ,

welche

den

aus Oesterreich

ich

zurück-

kehrende, besonders junge Mediciner über die preussischen Lehranstalten führen,

besonders erwähnen

Hörer der Medicin

hört eben

nur

durch zwei Semester vorgetragen, in den Kliniken

zu müssen glaube.

die pathologische

Der

Anatomie

und sieht die Sectionen der

gestorbenen Kranken.

Die Primarien,

Secun-

darien und Assistenten der einzelnen Abtheilungen des Krankenhauses sehen die Sectionen derjenigen ihrer Kranken, welche sie dasjenige,

was

die Studirenden und die Aerzte des Krankenhauses sehen,

besonders dazu bestimmen;

hört

einen besonderen Cursus

der Fremde sieht

über pathologische Anatomie

bei dem

Professor der pathologischen Anatomie oder seinem Assistenten, und hat Gelegenheit,

sich selbst in Sectionen

zu üben.

Eine

pathologisch-anatomische Klinik in höherem Sinne ist nach dem Weggange von E n g e l , culativen W e i s e Der möglich

der sie leider in einer willkürlich spe-

gehalten h a t t e , in Wien

pathologisch-anatomische ohne

Präparate

und

nicht mehr gewesen.

Unterricht

Zeichnungen.

können entweder frische, oder Nachbildungen älteren,

in

Sammlungen

aufbewahrten,

ist

ferner

Diese

sein.

nicht

Präparate

von frischen oder In

den Privat-

Cursen über pathologische Anatomie benutzt man allgemein die frischen, bei der Section des Tages gewonnenen Präparate, der Botaniker

die einzelne frische Pflanze

sinnliche Anschauung

zu gewähren.

gebraucht,

wie

um die

Allein j e d e Pflanze

blüht

uicht zu der Z e i t , wo der Botaniker über sie zu sprechen hat, und es ist unsicher, sich auf die Erinnerung der Zuhörer nach langer

Zeit

zu verlassen.

Aber auch in

dem Herbarium

des

35 Botanikers ist nicht j e d e Pflanze zu conserviren: ihre Farbe verbleicht, ihre Gestalt verändert sich, — er bedarf der Nachbildung. Der pathologische Anatom befindet sich in demselben Die Aufbewahrung da unausführbar,

pathologischer Gegenstände

wo es auf Conservirung der Farbe

sie ist in sehr vielen Fällen mangelhaft, besonders

kleiner Gegenstände,

Fall. ist überall ankommt;

wo die äussere Form,

wichtig

ist.

Der

innere

Bau,

namentlich die mikroskopische Structur, ist beinahe immer verwischt.

Man hat daher schon frühzeitig versucht, durch colorirte

und nicht colorirte Zeichnungen diesen Uebelständen abzuhelfen, aber man hat meines Wissens noch nirgends daran gedacht, durch die Verbindung pathologisch-anatomischer Bibliotheken mit pathologisch-anatomischen Sammlungen

einen dauernden Zusammen-

hang herzustellen. Die Kostbarkeit der pathologisch-anatomischen Kupferwerke hindert den Lehrer nur zu oft daran, sich in den Besitz derselben zu setzen, und die Einrichtung der Bibliotheken macht die Benutzung derselben zum Unterricht fast unmöglich.

Zeichnungen,

auch colorirte, genügen indess häufig auch nicht, da sie oft genug die Gestalt nur unvollkommen wiedergeben immer mehr oder weniger schematisch

können,

auch fast

gefasst werden müssen,

und da sie endlich die so wichtigen Verhältnisse der Consistenz, der Cohäsion, der Schwere u. s. w. nicht auszudrücken vermögen. W e n n man in einer Sammlung das Präparat

selbst

gleichzeitig die Zeichnung und

aufbewahrt,

Theil genügt werden.

so

kann diesem Zwecke zum

Vollständiger geschieht dies, wenn wirk-

liche farbige Nachbildungen der Gegenstände gleichzeitig mit dem darzustellenden Object gesammelt werden. man

in München

mit Wachspräparaten

In dieser Weise hat einen schönen Anfang

gemacht. Am meisten hat aber, nach Angaben, die ich Herrn Staatsrath P i r o g o f f verdanke, ziehung

gethan,

indem

die russische Regierung in dieser Besie

Zeichnungen,

als

Gegenständen

aufbewahren

es

möglich

Wachspräparate

gemacht

anfertigen

zu lassen.

und

hat,

sowohl

neben

den

Es hat die Anfertigung

solcher künstlichen Präparate ausserdem noch den Vortheil, eine Vervielfältigung Gegenstände

derselben

durch

die

und

ganze

eine

Verbreitung

medicinische

Welt

interessanter möglich 3*

zu

36 machen. Schon jetzt haben die Präparate von T h i b e r t in Paris allgemeinen Ruf und finden sich in vielen Sammlungen vor, obwohl ihre Kostbarkeit und ihre oft unzweckmässige Auswahl manches Hinderniss darbieten. Es ist daher erfreulich, in Deutschland selbst ähnliche Bestrebungen aufkommen zu sehen, und ich freue mich, bei dieser Gelegenheit die Präparate aus der Papiermache-Fabrik von F l e i s c h m a n n & V o i g t in Nürnberg zu erwähnen, welche, obwohl bis jetzt nicht zahlreich, doch durch die Genauigkeit ihrer Ausführung, die gute Auswahl der Gegenstände und die grössere Billigkeit sich empfehlen. Diese Präparate haben ausserdem den grossen Vortheil, dass sie dem praktischen Arzte die Möglichkeit gewähren, sich ohne grosse Kosten eine kleine Sammlung der wichtigsten und lehrreichsten Gegenstände anzuschaffen. — Ich kann endlich diesen Gegenstand nicht verlassen, ohne einen Vorschlag des Herrn Staatsraths P i r o g o f f zu erwähnen, der vielleicht recht fruchtbringend werden kann: Austausch von Präparaten über Gegenstände, die an einem Ort häufiger sind (z. B. Scorbut in Petersburg). Aus Zeichnungen, künstlichen Nachbildungen, trockenen und nassen älteren Präparaten würde sich demnach eine pathologischanatomische Sammlung zusammensetzen. Ich hätte nun die Grundsätze, nach denen man derartige Sammlungen angelegt hat, zu erwähnen. Zuerst fanden sich die pathologischen Präparate nur in den allgemein-anatomischen Sammlungen, da man nur ausnahmsweise Sectionen des pathologischen Zweckes willen anstellte und das meiste Abweichende nur bei der Untersuchung der gewöhnlichen AnatomieLeichen sich vorfand. Diese Verbindung der anatomischen und pathologischen Sammlungen ist an einigen Orten bis in die neueste Zeit festgehalten worden. In dem Maasse, als die pathologische Anatomie sich zu einer selbständigen Wissenschaft emancipirte, hat man dann auch angefangen, namentlich im Unterrichtszwecke, selbständige pathologische Sammlungen zu gründen. Die Bedeutung solcher Sammlungen für den Unterricht ist unschätzbar, und ich habe nur nöthig, mich auf das Urtheil eines der erfahrensten Männer unserer Zeit ( R o k i t a n s k y ) zu berufen. Demgemäss hat man in Oesterreich sowohl an den Universitäten (Wien, Prag), als in den chirurgischen Lehranstalten

37 (Salzburg u. s. w.) pathologisch-anatomische Sammlungen in den Krankenhäusern

gegründet

und

mehr oder weniger

nebst Ab-

lieferung der einschlägigen Präparate aus anderen Museen (z. B . der Universität) an die pathologisch-anatomischen ausführen lassen.

barien am nützlichsten bringt.

mit botanischen Gärten

Eine Krankenheilanstalt

teresse

daran,

sitzen.

Diese

Sammlungen

Es ist dasselbe Princip, nach dem man Herhat überdies

in

Verbindung

ein gewisses In-

eine Sammlung pathologischer Präparate zu begehören zu der Geschichte der Anstalt,

es sind

bleibende Zeugen ihrer wissenschaftlichen Leistungen, und namentlich

in

den Fällen,

wo

sich

die Erinnerung

besonderer Cur-

ßesultate daran knüpft, Monumente für den Mann, dessen Namen dauernd an sie gebunden ist. Spital

seine Sammlung;

So besitzt in England jedes grössere

diese Sammlung

ist

sein Album,

in

welches jeder Chirurg seinen Namen einträgt. Deutschland besitzt keinen unbedeutenden Schatz in den vielen kleinen Sammlungen, die in den Spitälern, den klinischen Anstalten u. s. w. zerstreut sind, und es würde ein grosser Verlust für diese Anstalten sein, wenn ihnen ihre Sammlungen genommen würden;

Es sind vor

Allem die geburtshülflichen Institute (Heidelberg, Berlin, Halle) zu nennen, aber auch die medicinischen und chirurgischen Kliniken, von denen ich besonders Halle (Krukenberg) und Erlangen hervorheben will; wie das alte Krankenhaus zu Bamberg ein solches Gedenkbuch Nürnberg eine

besitzt,

ein

so

solches

hat

auch

angelegt.

solche Zersplitterung

und

das Es

für

schöne

neue Spital in

lässt sich Manches gegen eine gewisse Centralisation

des Materials bemerken, allein die Frische, welche die deutsche Medicin

zu

allen Zeiten bewahrt hat,

und das erneute Feuer,

welches so oft von den kleinen Anstalten angefacht wurde, wenn die

grossen

schlummerten,

Zersplitterung.

verdankt Deutschland

eben

dieser

Es lässt sich doch nicht leugnen, dass jeder das

erste Anrecht auf seine eigenen Producte hat.

Sollte es gelingen,

einen allgemeinen Austausch der Präparate nach dem Vorschlage von P i r o g o f f einzuleiten, und wird erst die Vervielfältigung der einzelnen Präparate durch Zeichnungen, Wachs- und PapiermacheNachbildungen in grösserem Umfange ermöglicht, so wird diese Zersplitterung

aufhören,

wickelung abzugeben.

ein

Hinderniss

für

die

weitere

Ent-

38 I c h habe oben zu zeigen versucht, — und ich kann sagen dass diese Ueberzeugung m e h r und m e h r in Deutschland zum Durchbruch k o m m t , — dass die pathologische Anatomie zu einer lebendigen W i s s e n s c h a f t nur erwachsen kann in Verbindung mit der pathologischen Physiologie. Die pathologischen Veränderungen der einzelnen Organe, die dem A n a t o m e n in einem einfach räumlichen Verhältniss entgegen t r e t e n , müssen in einen zeitlichen und ursächlichen Z u s a m m e n h a n g gebracht w e r d e n ; an die Stelle des T o d e s m u s s das L e b e n g e s e t z t werden. Die Erkenntniss des Lebens ist aber nur an d e m Lebendigen möglich. Der pathologische Anatom muss sich aus der Leichenk a m m e r erheben und an das K r a n k e n b e t t treten. Er begegnet auf diesem W e g e dem Kliniker, dem praktischen Arzte, welcher den umgekehrten W e g einschlägt. Mit ihm ergänzt er sich. Wie aber der Mann der P r a x i s durch eigene Anschauung die Kenntniss des Leichenbefundes sich sichern m u s s , so darf auch der pathologische Anatom sich nicht dabei begnügen, m i t dem Kliniker u m z u k e h r e n und sich die Vorgänge am Lebenden erzählen zu lassen; er selbst m u s s sehen und beobachten. Niem a n d h a t den S t a n d p u n k t des Klinikers in der pathologischen Anatomie mehr hervorgehoben, als R o k i t a n s k y , und es ist gewiss ein nicht geringes Verdienst der W i e n e r Schule, die Verbindung der Klinik mit der Sections-Anstalt dauernd bewirkt zu h a b e n . R o k i t a n s k y ist ein B e a m t e r des Krankenhauses, in welchem er, wie die Primarien der übrigen Abtheilungen, seine W o h n u n g hat. Es ist aber andererseits n i e m a l s so klar, als in der W i e n e Schule, hervorgetreten, dass die klinische Beobachtung nicht ausreicht, um eine pathologische Physiologie zu construiren. Der Kliniker kann bis zu einem gewissen Grade die Zeitfolge der Erkrankungen feststellen, die Entwickelung einer bestimmten Erk r a n k u n g in d e r Z e i t s t u d i r e n ; will er aber die Bedingungen des Erkrankens, den Mechanismus der materiellen Veränderung und die Gesetze ihrer Entwickelung e r g r ü n d e n , so stösst er auf Hindernisse, welche er meist nur soweit überwinden kann, dass er die verschiedenen Möglichkeiten auf einen kleinen Kreis beschränkt. Freilich ist auch dies doch i m m e r nur ein Kreis von Möglichkeiten; Gewissheit resultirt aus d e m E x p e r i m e n t am

39 Thier, und es wäre ein missverstandenes Zartgefühl, wenn man dieses Experiment scheuen wollte. Zu —

dem Experiment gehören Thiere, Instrumene,

kurz ein p a t h o l o g i s c h - p h y s i o l o g i s c h e s

Räume,

Institut.

Die

Kräfte des Einzelnen, wenn er nicht besonders glücklich situirt ist, können zu grösseren Untersuchungsreihen der Art nicht ausreichen. hat

in

Es

sind

öffentliche Institute nothwendig.

der Ecole

suchungen

de Medecine

geboten,

Deutschland hat,

und

sie

die Mittel sind

Frankreich

zu solchen

reichlich

benutzt

Unterworden.

ausser dem Göttinger Institut, welches leider

zu wenig benutzt wird, noch nichts derartiges; allein man geht in Wien

damit um,

eine grosse Anstalt

zu errichten,

welche

gleichzeitig für pathologische Anatomie, medicinische Chemie und Physiologie dienen soll. Es versteht sich von selbst, dass für Arbeiten in dem pathologischen Institut die Kenntniss der T h i e r k r a n k h e i t e n

vor-

ausgesetzt wird, und es ist eine nicht ungünstige Verordnung in Oesterreich,

dass

Studienplan

aufgenommen

die

Thierarzneikunde ist.

in

Vielleicht

den wäre

medicinischen es

überhaupt

nicht unzweckmässig, wenn die Localität es erlaubt, pathologische Institute in Verbindung mit Thierarzneischulen zu bringen.

Die

höhere Ausbildung der Thierärzte würde dadurch erheblich gefördert werden.

Dadurch wird auch die Bildung der Thierärzte

auf eine höhere Stufe gehoben werden. Endlich ist zu erwähnen, dass der pathologische wenn

er Physiolog

werden will,

auch

Chemiker

Anatom,

sein muss.

Aber es ist nicht zu verlangen, dass er auch alle chemischen. Arbeiten

selbst

durchführt.

Dazu

wird

ihm

die Zeit fehlen.

Nur sollten ihm die Methoden bekannt sein. ( D e r Schlusspassus ist i n meinem Brouillon n u r unvollständig erhalten. Der S i n n

dürfte aus den kurzen Sätzen,

die vornangehen, erhellen.)

Druck von G e o r g R e i m e r , Berlin.