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German Pages 136 Year 2018
Schriftenreihe der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer
Band 233
Zukunft der Parlamente – Speyer Konvent in Berlin Beiträge zur Tagung der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften in Zusammenarbeit mit dem Innenausschuss des Deutschen Bundestages Herausgegeben von
Hermann Hill und Joachim Wieland
Duncker & Humblot · Berlin
HERMANN HILL/JOACHIM WIELAND (Hrsg.)
Zukunft der Parlamente – Speyer Konvent in Berlin
Schriftenreihe der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer Band 233
Zukunft der Parlamente – Speyer Konvent in Berlin Beiträge zur Tagung der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften in Zusammenarbeit mit dem Innenausschuss des Deutschen Bundestages
Herausgegeben von Hermann Hill und Joachim Wieland
Duncker & Humblot · Berlin
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Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2018 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH Printed in Germany ISSN 2197-2842 ISBN 978-3-428-15401-2 (Print) ISBN 978-3-428-55401-0 (E-Book) ISBN 978-3-428-85401-1 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Vorwort Am 18./19. Mai 2017 fand im Deutschen Bundestag in Berlin der 1. Speyer Konvent zum Thema „Zukunft der Parlamente“ statt. Die Tagung wurde von der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer in Zusammenarbeit mit dem Innenausschuss des Deutschen Bundestages veranstaltet. Sie wurde im Parlamentsfernsehen des Deutschen Bundestages live übertragen. Die Aufzeichnungen sind in der Mediathek verfügbar unter http://www.bundestag.de/mediathek?videoid=7110236#url=L21lZGlhdGhla292ZXJsYXk=&mod=mediathek (Donnerstag) http://www.bundestag.de/mediathek?videoid=7110237#url=L21lZGlhdGhla292ZXJsYXk=&mod=mediathek (Freitag). Als wissenschaftliche Leiter möchten wir uns herzlich beim Präsidenten des Deutschen Bundestages, Herrn Prof. Dr. Norbert Lammert, MdB, für sein Grußwort und beim Vorsitzenden des Innenausschusses des Deutschen Bundestages, Herrn Ansgar Heveling, MdB, für seine Begrüßung und die Zusammenarbeit bedanken. Ebenso danken wir allen Speyerer Kolleginnen und Kollegen, die als Referenten zur Verfügung standen und das Thema aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchteten. Frau Privatdozentin Dr. Nadja Braun Binder, inzwischen Assistenzprofessorin am Rechtswissenschaftlichen Institut der Universität Zürich, konnte wegen einer kurzfristigen Erkrankung ihren Vortrag leider nicht halten. Er ist jedoch in diesem Tagungsband mit abgedruckt. Für die Unterstützung bei der Veranstaltung im Deutschen Bundestag danken wir den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Deutschen Bundestages und des Innenausschusses sowie Frau Maria Baumann-Gaden, Leiterin des Büros des Rektors Prof. Dr. Joachim Wieland, und Frau Tanja Stamm, Wiss. Assistentin am Lehrstuhl von Prof. Dr. Hermann Hill, für die redaktionelle Bearbeitung des Bandes danken wir Herrn Timon Hölle, Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Dr. Hill. Speyer, im Oktober 2017
Hermann Hill und Joachim Wieland
Inhaltsverzeichnis Parlament oder Regierung: Wer trifft die wesentlichen Entscheidungen? . . . . . . . . . . . . . . 9 Joachim Wieland Parlamentarische Herausforderungen im Völkerrecht der Globalisierung angesichts internationalisierter Regelsetzung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Wolfgang Weiß Identität, Souveränität und Parlament beim Brexit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Susan Harris-Huemmert Die Rolle des Parlaments in Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Cristina Fraenkel-Haeberle Bürgerbeteiligung ohne Parlament? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Margrit Seckelmann Gesetzgebung in Zeiten der „Flüchtlingskrise“ .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Constanze Janda Demografischer Wandel und Entscheidungsspielräume des Parlaments . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Gisela Färber Algorithmic Regulation– Der Einsatz algorithmischer Verfahren im staatlichen Steuerungskontext .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Nadja Braun Binder Kommunikation und Entscheidung in der „VUCA-World“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Hermann Hill Verzeichnis der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
Parlament oder Regierung: Wer trifft die wesentlichen Entscheidungen? Von Joachim Wieland Parlament oder Regierung: Wer trifft die wesentlichen Entscheidungen? Joachim Wieland
I. Problemaufriss „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Dieser Grundgedanke jeder demokratischen Ordnung ist als Leitprinzip unserer Verfassung in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG verankert. Er wird in Satz 2 der Vorschrift dahin konkretisiert, dass die Staatsgewalt einerseits vom Volk direkt „in Wahlen und Abstimmungen“ und andererseits vom Volk indirekt „durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt“ wird. Diese Konkretisierung zeigt deutlich die herausragende Stellung, die dem Parlament als vom Volk direkt gewählte Vertretung in der gewaltenteiligen Demokratie zukommt.1 Nur die Mitglieder des Deutschen Bundestages sind vom Souverän unmittelbar legitimiert.2 Weil sie über die stärkste demokratische Legitimation verfügen, sollen sie auch die wesentlichen Entscheidungen treffen (Wesentlichkeitslehre)3. Zugleich gilt aber auch: Die anderen Staatsorgane sind ebenfalls demokratisch legitimiert. Sie leiten ihre personelle Legitimation von der Legitimation des Parlaments ab, das ihnen regelmäßig durch eine Wahl die Rückbindung an den Willen des Volkes vermittelt.4 Die Abgrenzung der Entscheidungszuständigkeiten der verschiedenen Staatsorgane ist eine Frage der Gewaltenteilung, genauer der Gewaltenverschränkung5.6 Viele wesentliche Entscheidungen kann auch das direkt legitimierte Parlament nicht allein treffen. Der Bundestag ist regelmäßig auf die Mitwirkung des Bundesrates angewiesen, der sich aus Vertretern der Exekutive
1 Utz Schliesky, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz (Hrsg.), Parlamentsrecht, Handbuch, 1. Auflage 2016, § 5 Parlamentsfunktionen Rn. 18 ff. 2 Hans Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/ders./Henneke (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 13. Aufl. 2014, Art. 20 Rn. 44. 3 Helmuth Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Band II, 3. Auflage 2015, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 113 ff. 4 BVerfGE 93, 37 (67); 107, 59 (87 f.). 5 Bernd Grzeszick, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Stand: 79. EL Dezember 2016, Art. 20 Rn. 40 ff. 6 Stefan Huster/Johannes Rux, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), Art. 20 Rn. 160.
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zusammensetzt.7 Das gilt für die Gesetzgebung (vgl. Art. 77, 78 GG) nicht anders als für Verfassungsänderungen (vgl. insb. auch Art. 79 Abs. 2). Auch die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts werden je zur Hälfte vom Bundestag und vom Bundesrat gewählt und erhalten so ihre demokratische Legitimation (Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG). Während der Bundestag für seine Entscheidungen aber nur an die Verfassung gebunden ist (Art. 20 Abs. 3 Alt. 1 GG), müssen die anderen Staatsorgane auch Gesetz und Recht beachten (Art. 20 Abs. 3 Alt. 2 GG). Sie werden über die Bindung an die vom Bundestag beschlossenen Gesetzes sachlich-inhaltlich legitimiert.8 Wie sieht aber die Staatspraxis aus? Seit längerer Zeit ist zu beobachten, dass die Gestaltungsmacht des Deutschen Bundestages schwindet. Wichtige Entscheidungen drohen nicht selten vom Parlament weg und hin zu anderen Staatsorganen verlagert zu werden.9 Ein in letzter Zeit besonders umstrittenes Beispiel sind die etwas irreführend als Freihandelsabkommen bezeichneten völkerrechtlichen Verträge, die weit über den Freihandel hinaus erhebliche Bereiche der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung regeln.10 Dazu gehört der Schutz von Investoren, die Einrichtung von Schiedsgerichten außerhalb der staatlichen Gerichtsbarkeit, der Umweltschutz, Arbeitsrecht, Urheberrecht, Vergabeverfahren und anderes mehr, das weit über den eigentlichen Freihandel hinausreicht.11 Werden diese Fragen in einem völkerrechtlichen Vertrag geregelt, den die Regierung aushandelt, gerät das Parlament regelmäßig in eine „Ratifikationslage“12. Es kann dem zwischen mehreren Vertragspartnern ausgehandelten Vertragstext nur zustimmen oder dem Vertrag „en bloc“ seine Zustimmung verweigern, aber nicht mehr auf dessen Inhalte Einfluss nehmen.13 In der Praxis ist es noch nie vorgekommen, dass der Deutsche Bundestag einen ihm von der Bundesregierung zur Ratifikation vorgelegten Vertrag ablehnte.14 7 Bernd Grzeszick, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Stand: 79. EL Dezember 2016, Art. 20 Rn. 109. 8 Horst Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Band II, 3. Auflage 2015, Art. 20 (Demokratie) Rn. 112. 9 Vgl. Michael Brenner, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 3. Auflage 2005, § 44 Parlamentarismus, Rn. 59 und 67 ff.; vgl. auch Martin Morlok, in: Martin Morlok/Utz Schliesky/Dieter Wiefelspütz (Hrsg.), Parlamentsrecht, Handbuch, 1. Auflage 2016, § 51 Zukünftige Weiterentwicklung des Parlamentarismus Rn. 92 ff. 10 Vgl. Wolfgang Weiß, Kompetenzverteilung bei gemischten Abkommen am Beispiel des TTIP, DÖV 2016, 537 (544 ff.). 11 Volker Treier/Stephan Wernicke, Die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) – Trojanisches Pferd oder steiniger Weg zum Olymp?, EuZW 2015, 334 (338). 12 Winfried Kluth, in: ders./Krings (Hrsg.), Gesetzgebung, § 21 Ratifikations- und Umsetzungsgesetzgebung Rn. 1 ff. Beachte ferner auch BVerfGE 131, 152 (222 f. Rn. 93). 13 Christian Tietje/Karsten Nowrot, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz (Hrsg.), Parlamentsrecht, Handbuch, 1. Auflage 2016, § 45 Parlamentarische Steuerung und Kontrolle der Außenpolitik Rn. 28. 14 Winfried Kluth, in: ders./Krings (Hrsg.), Gesetzgebung, § 21 Ratifikations- und Umsetzungsgesetzgebung Rn. 1 mit Fn. 4.
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Gleichzeitig bringt die fortschreitende Integration Europas einen Übergang von immer mehr Gestaltungsbefugnissen auf die Europäische Union mit sich. Auch wenn die Union „nur“ eine Richtlinie (Art. 288 Abs. 3 AEUV) und keine Verordnung (Art. 288 Abs. 2 AEUV) erlässt, bleiben den Mitgliedstaaten und ihren Parlamenten regelmäßig wenige Steuerungsmöglichkeiten.15 An die Stelle eigenverantwortlicher Gestaltung durch die nationalen Parlamente treten die Ausgestaltung und der Vollzug von Unionsrechtsakten. Das seit langem im Unionsrecht in Art. 5 Abs. 3 EUV verankerte Subsidiaritätsprinzip hat daran nichts zu ändern vermocht.16 Ein einheitlicher Wirtschaftsraum drängt auf einheitliches Recht. Das hat Deutschland schon in der Zeit nach der Reichsgründung 1871 erlebt, als in vergleichsweise kurzer Zeit eine in ganz Deutschland einheitliche Wirtschaftsrechtsordnung geschaffen wurde17.18 Nur innerhalb eines einheitlichen Rechtsrahmens können Unternehmen Größenvorteile19 realisieren. Ein vergleichbarer Prozess vollzieht sich seit langem auf europäischer Ebene. Aus der Zollunion ist eine Wirtschaftsgemeinschaft geworden, die sich spätestens mit der Gründung der Währungsunion zu einer supranationalen Ordnung entwickelt hat, deren Regelungen fast alle Lebensbereiche erfassen. Auch die Verabschiedung der Europäischen Grundrechtecharta hat zu diesem Harmonisierungsschub beigetragen.20 Selbst die Regelung der direkten Besteuerung, welche die Mitgliedstaaten über lange Zeit hinweg als eine ihrer Kernbefugnisse verteidigt haben, wird immer mehr harmonisiert.21 Die Verhinderung von Steuerflucht und der Ausnutzung von Gestaltungen, die internationalen Unternehmen und reichen Privatpersonen eine Minimierung ihrer Steuerlast erlauben, übersteigt die Möglichkeiten der Nationalstaaten und lässt sich nur realisieren, wenn zumindest in Europa einheitliche Besteuerungsregeln gelten.22 Ein weiteres Problem ergibt sich aus der bundesstaatlichen Gewaltenverschränkung.23 Da der Bund in der Verfassungswirklichkeit vor allem für die Gesetzgebung 15 Zu den materiellen Umsetzungsspielräumen der Mitgliedstaaten bei Richtlinien Jörg Gundel, in: Pechstein/Nowak/Häde (Hrsg.), Frankfurter Kommentar EUV-GRC-AEUV, Art. 288 Rn. 29 ff. 16 Martin Nettesheim, in: Oppermann/Classen/Nettesheim, § 11 Rn. 23 ff. (insb. Rn. 32). 17 Vgl. Ulrich Eisenhardt, Deutsche Rechtsgeschichte, 6. Auflage 2013, S. 339 ff. 18 Zu den Parallelen zwischen der derzeitigen europäischen Rechtsvereinheitlichung und der deutschen Rechtsvereinheitlichung nach 1871 Christian Starck, Woher kommt das Recht?, 2015, S. 369 f. 19 Zum „Skaleneffekt“ Ulrich Wöhe, Einführung in die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, 25. Auflage 2013, S. 876. 20 Kritisch Clemens Latzel, Die Anwendungsbereiche des Unionsrechts, EuZW 2015, 658 (662). 21 Vgl. Nadja Braun Binder, Rechtsangleichung in der EU im Bereich der direkten Steuern, 2017. 22 Vgl. Stephan Eilers/Florian Oppel, BEPS erreicht die EU: Das Anti Tax Avoidance Package der EU-Kommission, IStR, 2016, 312. 23 Vgl. Stefan Huster/Johannes Rux, in: Epping/Hillgruber, 33. Auflage, Art. 20 Rn. 160.
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zuständig ist (vgl. Art. 71 – 74G GG oder Art. 105 Abs. 1 und Abs. 2 GG), während die Länder die Gesetze vollziehen (vgl. Art. 83 GG), müssen beide auf den meisten Politikfeldern zusammenwirken. Die deshalb notwendigen Kompromisse können die Parlamente aus praktischen Gründen nicht so leicht aushandeln wie die Exekutive. Deshalb werden Einigungen zwischen Bund und Ländern regelmäßig von der Bundeskanzlerin und den Ministerpräsidenten ausgehandelt. Bei Normsetzungsvorhaben bringt ein auf Ebene der Exekutive erzielter Kompromiss die Parlamente von Bund und Ländern in eine Ratifizierungslage. Sie können dem Kompromiss entweder zustimmen oder ihn ablehnen, sie können ihn aber nicht mehr verändern. Angesichts der großen Anstrengungen und der regelmäßig aufgewendeten langen Zeit ist ein Aufspüren von Kompromisspaketen mit großen Schwierigkeiten behaftet. Das sogenannte Struck’sche Gesetz, nach dem ein Gesetz das Parlament nie so verlässt wie es eingebracht wurde, ist gegen einen politischen Gesamtkompromiss schwer durchsetzbar.24 Bestes Beispiel dafür ist die jüngste Änderung der Finanzverfassung des Grundgesetzes.25 Nachdem die Bundeskanzlerin sich am 14. Oktober 2016 mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Länder nicht nur auf die Grundstruktur der neuen Finanzordnung, sondern auch auf die zu ihrer Umsetzung notwendigen Gesetze geeinigt hatte und im Gegenzug die Befugnisse des Bundes etwa im Bereich des Autobahnbaus erweitert worden waren,26 war der nach langen Bemühungen gefundene, sorgfältig im Geben und Nehmen austarierte Kompromiss zwischen Bund und Ländern im Gesetzgebungsverfahren praktisch nicht mehr zu ändern. Jede Änderung eines einzelnen Elements des Kompromisses hätte die Gesamteinigung zu Fall gebracht. In der Folge war der Deutsche Bundestag faktisch gezwungen, eine Verfassungsänderung abzulegen, die zwischen den Exekutiven von Bund und Ländern formuliert worden war. In der Debatte im Plenum des Deutschen Bundestages am 1. Juni 2017 waren die Bedenken der Abgeordneten gegen dieses Vorgehen aus den verschiedenen politischen Lagern ebenso wenig zu überhören wie in den vorangegangenen Anhörungen.27 Der Deutsche Bundestag sah sich nicht ohne Grund einer seiner vornehmsten Aufgaben, der Beratung und Diskussion von Verfassungsänderungen, in der Praxis beraubt. Der von 24 Zum Struck’schen Gesetz und seiner Bedeutung: https://www.bundestag.de/dokumen te/textarchiv/2010/32715751_gesetzgebung/204186 (aufgerufen am 14. 09. 2017 um 16.57 Uhr). 25 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 90, 91c, 104b, 104c, 107, 108, 109a, 114, 125c, 143d, 143e, 143f, 143g) vom 13. Juli 2017 mit Wirkung vom 20. Juli 2017, BGBl. 2017 I, 2347. 26 Joachim Wieland, Notwendigkeit einer Föderalismusreform III – Wie kann die Finanzverfassung zukunftfest gemacht werden?, in: Voß/Schweisfurth (Hrsg.), Haushaltsund Finanzwirtschaft der Länder der Bundesrepublik Deutschland, 2017, S. 247 (253 ff.); vgl. auch Joachim Wieland, Die neue Finanzarchitektur im Bundesstaat: ein Gewinn für Deutschland, Verfassungsblog on matters constitutional (vom 20. Oktober 2016), Quelle: http://verfassungsblog.de/finanzarchitektur-im-bundesstaat-gewinn-deutschland/ (aufgerufen: 21. 09. 2017 um 14.08 Uhr). 27 Beispiele aufgrund von Auszügen aus dem stenografischen Bericht von der 237. Sitzung des 18. Deutschen Bundestages am 1. Juni 2017:
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den Regierungen erzielte Kompromiss konnte im Wesentlichen nur noch vom Parlament abgenickt werden, eine ergebnisoffene Diskussion war nicht mehr möglich. Schranken setzt der Gestaltungsfreiheit des Parlaments auch das Bundesverfassungsgericht. Mit seiner Rechtsprechung setzt es die Bindung des Parlaments an das Grundgesetz durch, die in Art. 20 GG mit der Vorgabe statuiert wird, dass die Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden ist. Über den normativen Gehalt der verfassungsmäßigen Ordnung und damit über die Reichweite der Bindung des Parlaments entscheidet letztverbindlich das Bundesverfassungsgericht.28 Insoweit ist heute unbestritten, dass jede Interpretation der Verfassung auch verfassungspolitische Elemente enthält und damit gestaltende Wirkung ausübt.29 Rechtserkenntnis und Rechtsgestaltung fließen ineinander über und entziehen sich einer trennscharfen Abgrenzung.30 Da in der Staatspraxis viele politisch umstrittene Gesetze von der Opposition im Bundestag oder von einzelnen Bürgerinnen und Bürgern dem Bundesverfassungsgericht zur Überprüfung vorgelegt werden, werden Gesetze in Deutschland faktisch unter Vorbehalt der Billigung durch das Bundesverfassungsgericht erlassen. Nicht der Gesetzgeber hat das letzte Wort, sondern die Richterinnen und Richter in Karlsruhe. Der alte Satz des englischen Rechts „Parliament can do no wrong“31 gilt in Deutschland nicht. Zwar ist es dem Bundesverfassungsgericht unbenommen, in Reaktion auf eine normverwerfende EntscheiMdB Thomas Dörflinger (CDU/CSU): „Die Funktion des Deutschen Bundestages als Legislativorgan ist für mich nicht in ausreichender Weise abgebildet.“ (Plenarprotokoll 18/237 (24198)). MdB Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): „[…] um zu zeigen, dass Gesetze immer noch im Deutschen Bundestag beschlossen werden und – bei allem Respekt – nicht in Ministerpräsidentenkonferenzen und auch nicht in irgendwelchen Runden im Kanzleramt oder sonst wo.“ (Plenarprotokoll 18/237 (23975)) MdB Johannes Kahrs, (SPD): „Ich glaube, es ist ein Erfolg, dass sich 16 Länder mit dem Bund einigen. Geärgert hat uns ein bisschen, dass da nur die Exekutive mit der Exekutive geredet hat und wir als Abgeordnete nicht beteiligt waren.“ (Plenarprotokoll 18/237 (23998)). MdB Dr. Sarah Wagenknecht (DIE LINKE): „Ein Parlament, das dem zustimmt, entmachtet sich selbst. Das ist doch der Kern.“ (Plenarprotokoll 18/237 (23978)). MdB Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): „Ich hätte gerne als Mitglied des Bundestages die Gelegenheit gehabt, mit den Ministerpräsidenten der Länder über diese Herausforderungen zu diskutieren.“ (Plenarprotokoll 18/237 (23982)). 28 Joachim Wieland, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Band 3, 3. Auflage (im Erscheinen), Art. 93 Rn. 37 ff. 29 Ebd. 30 Ebd. 31 Das Zitat geht auf Chief Justice Sir John Holt im Jahr 1702 im Verfahren London vs. Wood (12 Mod. 669, 687 – 88, 88 Eng. Rep. 1592, 1602 (1702)) zurück und lautet vollständig: „an Act of Parliament can do no wrong, though it may do several things that look pretty odd.“, zitiert nach Philip A. Hamburger, Revolution and Judicial Review: Chief Justice Holt’s Opinion in City of London v. Wood, 94 Columbia Law Review 1994, 2091, (2091 mit Fn. 2; 2092), Quelle: https://academiccommons.columbia.edu/download/fedora_content/
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dung des Bundesverfassungsgerichts das Grundgesetz zu ändern und damit seinen politischen Willen durchzusetzen. Das setzt jedoch Zweidrittelmehrheiten in Bundestag und Bundesrat voraus (Art. 79 Abs. 2 GG), die schwer zu erreichen sind. Ein anderer Weg des Parlaments zur Durchsetzung seines politischen Willens gegen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts führt über die Wiederholung von gesetzlichen Regelungen, die das Bundesverfassungsgericht so oder ähnlich schon einmal als verfassungswidrig verworfen hat. Ein Beispiel dafür ist das regelmäßige Scheitern wesentlicher Teile des Erbschaftssteuerrechts in Karlsruhe.32 Nachdem das Bundesverfassungsgericht privilegierende Regelungen über die Besteuerung der Vererbung von Betriebsvermögen beanstandet hat, hat der Bundestag mehrfach vergleichbare Neuregelungen erlassen, die dann wieder als verfassungswidrig qualifiziert wurden.33 Das Bundesverfassungsgericht hat zwar herausgearbeitet, dass es kein Normwiederholungsverbot bei einer Veränderung äußerer Umstände gibt.34 Es dürfte damit aber nicht gemeint haben, dass der Gesetzgeber in einen Ausdauerwettbewerb mit dem Gericht treten dürfe, den die Seite gewinnt, die den längeren Atem hat.35 Solche Konflikte zwischen Parlament und Bundesverfassungsgericht bilden aber die Ausnahme. Der Bundestag neigt eher dazu, in vorauseilendem Gehorsam auch ältere obiter dicta des Gerichts so ernst zu nehmen, dass Beanstandungen bei einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung möglichst vermieden werden. Eine solche Strategie kann auch eingesetzt werden, um unangenehme politische Entscheidungen zu vermeiden und die Verantwortung dafür dem Bundesverfassungsgericht zuzuschieben. Ein Beispiel aus neuerer Zeit bildet das Familienrecht. Die gleichgeschlechtliche Ehe,36 die der Bundestag am 30. Juni 2017 nach langen Diskussionen zugelassen hat, stößt immer wieder auf Bedenken,37 weil das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung die Ehe als dauerhafte Gemeinschaft von Frau und Mann bezeichnet hat.38 Das Wagnis, auf einen Verfassungswandel angesichts der veränderten Lebenspraxis und Überzeugung in weiten Teilen der Bevölkerung zu vertrauen, wollte das Parlament lange nicht eingehen. Nachdem es download/ac:189557/CONTENT/Revolution_and_Judicial_rev_City_of_London_v_Wood. pdf (aufgerufen am 14. 09. 2017 um 18.52 Uhr). 32 Das war im Jahre 1995 (BVerfGE 93, 165), im Jahre 2006 (BVerfGE 117, 1) und im Jahre 2014 (BVerfGE 138, 136) der Fall. 33 Vgl. für die jüngste Neuregelung Peter Bildsdorfer, Die neue Erbschaftsteuer – nach Karlsruhe oder schon wieder vor Karlsruhe?, ZRP 2016, 9. 34 BVerfGE 98, 265 (320 f.). 35 Vgl. Herbert Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Betghe, Bundesverfassungsgerichtsgesetz Kommentar, § 31 Rn. 195 ff. 36 § 1353 Abs. 1 S. 1 BGB lautet ab dem 01. Oktober 2017: „Die Ehe wird von zwei Personen verschiedenen oder gleichen Geschlechts auf Lebenszeit geschlossen.“ 37 Vgl. Christopher Schmidt, „Ehe für alle“ – Ende der Diskriminierung oder Verfassungsbruch?, NJW 2017, 2225. 38 BVerfGE 131, 239 (259); 105, 313 (345); 76, 1 (51).
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nun diesen Schritt getan hat, wird ihm das Bundesverfassungsgericht nicht in den Arm fallen, falls es überhaupt zu einem Verfahren kommt. Nicht selten hat das Bundesverfassungsgericht die Entscheidungsmacht des Parlaments ausdrücklich betont und ist damit deutlich über das hinausgegangen, was sich das Parlament selbst an Entscheidungsbefugnissen zugesprochen hat. Bestes Beispiel dafür ist die Rechtsprechung zur Parlamentsarmee, mit der das Gericht dem Deutschen Bundestag in einem durchaus bedeutsamen, aber auch brisanten Politikfeld das Letztentscheidungsrecht zugesprochen hat.39 Eine vergleichbare Stärkung lässt sich der Rechtsprechung auch für das Verhältnis deutscher Regelungen zu unionsrechtlichen Vorgaben entnehmen. In diesem Bereich stärkt das Bundesverfassungsgericht die Gestaltungs- und Mitwirkungsbefugnisse des Parlaments immer wieder. Will man ein Zwischenfazit zu den aktuellen Problemen ziehen, so lässt sich kaum leugnen, dass das Parlament in den vergangenen Jahren eher an Gestaltungsmacht verloren als neue Befugnisse gewonnen hat. Der politische Diskurs hat sich zu einem nicht geringen Teil aus dem Bundestag in die Talkshows verlagert.40 Die Diskussionen in diesen Sendungen leisten zwar gewiss auch einen Beitrag zur Bildung der öffentlichen Meinung, die für eine parlamentarische Demokratie von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist.41 Das Prinzip der Repräsentation des Volkes im Forum seiner Vertreter verliert damit an Bedeutung. Das Ansehen des Bundestages in der Öffentlichkeit ist gefährdet. Dem entspricht eine seit langer Zeit tendenziell sinkende Wahlbeteiligung.42 An der Wahl beteiligen werden sich nur die Bürgerinnen und Bürger, die Achtung vor ihren Repräsentanten und deren Arbeit haben. Lässt sich das Wirken der Volksvertreter für das Wahlvolk nicht mehr nachvollziehen, besteht auch kein Anreiz, sich an der Wahl zu beteiligen und den Abgeordneten dadurch eine demokratische Legitimation zu verleihen. Die Parlamente der Länder zeigen die Probleme, die sich bei einem längeren Andauern des Verlustes an politischer Gestaltungsmacht ergeben. Je stärker der Eindruck in der Öffentlichkeit wird, dass die Mitglieder der Landesparlamente nur noch geringe Einflussmöglichkeiten auf die Lebensverhältnisse in einem Land haben, desto geringer wird das Interesse der Öffentlichkeit an der parlamentarischen Arbeit auf Landesebene.
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BVerfGE 90, 286 (381 f.); 121, 135 (154); 123, 267 (422); 124, 267 (275); 140, 160 (193). Martin Benninghoff (ehemaliger Redakteur bei „Günther Jauch“ (ARD)) den MdB a.D. Friedrich Merz und den Politik-Berater Michael Spreng zitierend, Frankurter Allgemeine Zeitung vom 02. März 2017, Quelle: http://www.faz.net/aktuell/politik/sind-politische-tv-talkshows-sinnvoll-oder-propagandabuehnen-14877345.html?printPagedArticle=true#pageIndex_0 (aufgerufen am 19. 09. 2017 um 17.43 Uhr). 41 A.a.O. 42 Vgl. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags, Sinkende Wahlbeteiligung in Deutschland – Ursachen und Lösungsvorschläge, Az. WD 1 – 3000 – 008/15, S. 4 ff. 40 Vgl.
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II. Verfassungsrechtlicher Rahmen Der verfassungsrechtliche Rahmen für das Handeln des Parlaments wird durch das Grundgesetz nicht eng gezogen. Die Gewaltenverschränkung, die das Grundgesetz vorzeichnet, lässt den einzelnen Verfassungsorganen durchaus Entfaltungsraum. Nur der Kernbereich der jeweiligen Befugnisse ist in der Verfassung für den politischen Prozess unveränderlich gesichert.43 Der über den Kernbereich hinausgehende Randbereich kann vom Parlament aus eigener Initiative gefüllt werden, wenn es ihm gelingt, einen entsprechenden politischen Willen zu bilden und durchzusetzen.44 Zum Kern der Aufgaben des Bundestages gehört die verfassungsändernde Gesetzgebung, die allerdings nur gemeinsam mit dem Bundesrat möglich ist (Art. 79 Abs. 2 GG). Weiter ist nach der Wesentlichkeitslehre das Parlament aufgerufen, alle für die Grundrechte wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen und entsprechende Regelungen zu erlassen.45 Wie selbstbewusst das Parlament von seinen Befugnissen Gebrauch macht, hängt von der politischen Durchsetzungskraft der Abgeordneten ab. Je mehr die Kontrolle der Regierung faktisch zur Aufgabe der parlamentarischen Opposition wird, weil die Mehrheitsfraktionen die Regierung stützen und sich keine Kritik an den Vorschlägen ihrer Regierung erlauben, desto geringer werden tendenziell die Einflussmöglichkeiten des Parlaments. Die Unterstützung der eigenen Regierung durch die Regierungsfraktionen ist auch möglich, wenn das Parlament seine eigenen Überlegungen und Vorhaben dabei nicht außer Acht lässt. Das Einwirken auf die Arbeit der Regierung und die Durchsetzung eigener Positionen sollte auch für Abgeordnete selbstverständlich sein, die den Regierungsparteien angehören. Risiken für die eigene politische Karriere lassen sich dabei nicht ausschließen. Es gibt aber durchaus Beispiele dafür, dass eine gewisse Konfliktbereitschaft politische Laufbahnen auch gefördert hat. Große Koalitionen verschärfen die Probleme, weil die erdrückende Mehrheit der Regierungsfraktionen der Opposition wenige Möglichkeiten zur Entfaltung lassen.46 Hinzu kommt, dass Arbeitsparlamente wie der Deutsche Bundestag sich schwertun, öffentlichkeitswirksam zu agieren. Selbstverständlich muss die parlamentarische Arbeit erledigt werden und darf ihre Bedeutung in keinem Fall unterschätzt werden. Zur Praxis des Parlaments sollte aber auch ein hinreichendes Maß an streitigen Debatten gehören,47 die so geführt werden müssen, dass sie für die 43 Zur Unveränderlichkeit des Kernbereichs der verschiedenen Gewalten BVerfGE 34, 52 (59); 95, 1 (15 f.). 44 Vgl. schon Hans-Jochen Vogel, Gewaltenvermischung statt Gewaltenteilung?, NJW 1996, 1505 (1511). 45 Fritz Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 3. Auflage 2005, § 101 Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, Rn. 52 ff. 46 Vgl. Pascale Cancik, Wirkungsmöglichkeiten parlamentarischer Opposition im Falle einer qualifizierten Großen Koalition, NVwZ 2014, 18 ff. 47 Walter Leisner, Opposition in der „Großen Koalition“, DÖV 2014, 880 (881 f.).
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Öffentlichkeit wahrnehmbar sind.48 Verfassungsänderungen und Stärkungen der Rechte der Opposition bieten insoweit nur begrenzt Abhilfe.49 Wesentlich für die parlamentarische Demokratie ist, dass die gewählte Mehrheit ihre politischen Vorstellungen durchsetzt. Dazu ist sie durch die Wahl legitimiert und gegenüber dem Volk verpflichtet.50 Aufgabe der Opposition ist es nicht, das Regierungshandeln zu verhindern. Vielmehr muss die Opposition Alternativen zum Regierungshandeln aufzeigen und den Wählerinnen und Wählern damit die Grundlage für die nächste Wahlentscheidung geben.51 Der verfassungsrechtliche Rahmen, den das Grundgesetz zieht, hat sich politisch im Wesentlichen bewährt. Entscheidend ist, wie dieser ausgefüllt wird. Im Rahmen der Verfassung erlauben Änderungen der Geschäftsordnung kleinere Anpassungen an veränderte Gegebenheiten. Die in der 18. Legislaturperiode getroffenen Arbeitserleichterungen für die Opposition (§ 126a Abs. 1 GOBT) sind ein gutes Beispiel.52 Wie bereits erwähnt, steht es dem Parlament frei, durch eine Änderung des Grundgesetzes das Bundesverfassungsgericht zu korrigieren, weil es kein Normwiederholungsverbot gibt. Wann von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht werden sollte, lässt sich aus dem Verfassungsrecht nicht ableiten, sondern muss dem politischen Prozess überantwortet bleiben.
III. Politische Herausforderungen In dem rechtlichen Rahmen, den die Verfassung vorgibt, lassen sich die anstehenden politischen Herausforderungen bewältigen. Die Sicherung der eigenen Zukunftsfähigkeit ist zuvörderst Aufgabe des Parlaments und nicht der Verfassung oder des Bundesverfassungsgerichts. Der Bundestag muss seine Kompetenz für alle wesentlichen Entscheidungen in der Staatspraxis durchsetzen. Das gilt auch für völkerrechtliche Verträge wie die Handelsabkommen CETA und TTIP.53 Der europäische Gerichtshof hatte durch sein Gutachten vom 16. Mai 2017 die Mitwirkungsrechte der nationalen Parlamente gestärkt.54 Den dadurch eröffneten Handlungsspielraum sollte auch der Deutsche Bundestag nutzen. Es ist völlig legitim, 48 Simon Schuster, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die öffentliche parlamentarische Debatte in Zeiten einer Großen Koalition, DÖV 2014, 516 (521 ff.). 49 Kyrill-Alexander Schwarz, Unkontrolllierbare Regierung – Die Rechte der Opposition bei der Bildung einer Großen Koalition im Deutschen Bundestag, ZRP 2013, 225. 50 Pascale Cancik (Fn. 46). 51 Vgl. Walter Leisner (Fn. 47), S. 881 am Ende. 52 Ausführlich Sven Hölscheidt, Die Rechte der Opposition im 18. Deutschen Bundestag, ZG 30 (2015), S. 246 ff. sowie Jörg Ennuschat, Große Koalition und Oppositionsrechte, Verwaltungsrundschau 2015, 1 ff. Kritisch zur Ausweitung der Oppositionsrechte Albert Ingold, Oppositionsrechte stärken?, ZRP 2016, 143 (144). 53 Vgl. Franz C. Mayer/Marina Ermes, Rechtsfragen zu den EU-Freihandelsabkommen CETA und TTIP, ZRP 2014, 237 (238). 54 EuGH (Plenum), Gutachten 2/15 vom 16. Mai 2017, Rn. 305.
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wenn er seine Zustimmung zu komplexen Verträgen über die Wirtschaftsordnung von der rechtzeitigen Information über den Gang der Verhandlungen sowie die Billigung von Zwischenergebnissen abhängig macht. Es liegt auch im Interesse der Regierungsfraktionen, die Rechte des Parlaments in diesen Prozessen durchzusetzen. Verzichtet die parlamentarische Mehrheit auf diese Möglichkeit, muss sie gegebenenfalls durch Rechte der Minderheit durchgesetzt werden. Was das Handeln der Europäischen Union angeht, so räumt Art. 23 GG dem Parlament durchaus effektive Rechte ein. Sie wollen allerdings in der täglichen Praxis aktiv genutzt werden. Das setzt einen hinreichend effizienten Apparat des Deutschen Bundestages, aber auch ein entsprechendes Interesse der Abgeordneten voraus. Das Bundesverfassungsgericht hat die Rechte des Deutschen Bundestages in Bezug auf Entscheidungen auf europäischer Ebene in den letzten Jahren bewusst und nachhaltig gestärkt. Es hat immer wieder betont, dass die demokratische Legitimation von Akten auf europäischer Ebene eine Beteiligung der nationalen Parlamente voraussetzt.55 Dieser Verantwortung gerecht zu werden, ist für den Bundestag durchaus eine Herausforderung. Sieht man aber auf die Zahl und die Ausstattung der Abgeordneten, sollten sie durchaus in der Lage sein, diese Herausforderung zu bewältigen. Die Mitglieder des Deutschen Bundestages sollten sich aber im Klaren darüber sein, dass es ihre Aufgabe ist, der Öffentlichkeit die eigene Arbeit näher zu bringen. Zivilrechtlich gesprochen handelt es sich um eine Bringschuld, nicht um eine Holschuld. Dazu kann der Einsatz sozialer Medien beitragen, die aber interessante Inhalte parlamentarischer Arbeit nicht ersetzen können. Vergleicht man den Bundestag etwa mit dem englischen Parlament, so erscheint die Debattenkultur in Berlin durchaus noch verbesserungsfähig.56 Der freie Vortrag (§ 33 GOBT) führt gelegentlich zu sehr ein Schattendasein, er kann aber erlernt werden. Rede und Gegenrede,57 mehr und kürzere Beiträge der Abgeordneten könnten die Attraktivität der parlamentarischen Arbeit für die Öffentlichkeit erhöhen. Ein großer Schritt wäre es, wenn sich die Bundeskanzlerin bereitfinden würde, in jeder Sitzungswoche in einer Fragestunde ihre Politik zu erläutern und zu verteidigen.58 Das stellt eine Herausforderung für die Amtsinhaberin oder den Amtsinhaber dar, ist aber nicht unmöglich. Besondere Bedeutung kommt einer Stärkung der Verantwortung 55
BVerfGE 129, 124; 130, 318; 134, 366; 142, 123. Lorenz Wolf-Doettinchem, Debattenkultur im Bundestag – Eine ziemliche Zumutung, Deutschlandfunk vom 09. 09. 2017, Quelle: http://www.deutschlandfunk.de/debattenkultur-im-bundestag-eine-ziemliche-zumutung.720.de.html?dram:article_id=395482 (aufgerufen am 19. 09. 2017 um 17.32 Uhr); vgl. auch die Beobachtungen des Britischen Botschafters in Deutschland Sir Simon McDonald, Redekultur in Deutschland und Großbritannien, in: Huffington Post vom 28. Mai 2015, Quelle: http://www.huffingtonpost.de/ simon-mcdonald/redekultur-in-deutschland-und-grossbritannien_b_7450892.html (aufgerufen am 19. 09. 2017 um 18.27 Uhr). 57 Bereits in § 28 GOBT erwähnt. 58 Vgl. Lorenz Wolf-Doettinchem (Rn. 566). 56 Vgl.
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des Präsidenten des Deutschen Bundestages für lebendige Debatten durch eine Stärkung seiner Befugnisse zu. Längerfristig wären kleinere Sitzungsräume wünschenswert, die stärker die Intensität des politischen Ringens vermitteln könnten als es der Plenarsaal des Reichstags vermag.59
IV. Ergebnis Als Ergebnis lässt sich festhalten: Die Verantwortung des Parlaments für wesentliche Entscheidungen wird durch Entwicklungen auf internationaler und europäischer Ebene, aber auch durch die bundesstaatliche Gewaltenverschränkung gefährdet. Das Demokratieprinzip verlangt jedoch zwingend eine herausgehobene Stellung des Parlaments. Die verfassungsrechtliche Wesentlichkeitslehre fordert Entscheidungen des Parlaments in allen Bereichen, in denen ein Bezug zu den Grundrechten gegeben ist. Die Verfassung gibt aber nur einen Rahmen vor, der von den Abgeordneten im politischen Prozess ausgefüllt werden muss. Der Deutsche Bundestag muss selbst für seine Zukunftsfähigkeit sorgen. Einen wesentlichen Beitrag dazu kann eine Weiterentwicklung der Debattenkultur leisten, die durch kurze freie Rede und Gegenrede und eine Fragestunde der Kanzlerin gewinnen würde.
59 Zu den Auswirkungen der Parlamentsarchitektur auf die Debattenkultur vgl. Sir Simon McDonald (Rn. 56).
Parlamentarische Herausforderungen im Völkerrecht der Globalisierung angesichts internationalisierter Regelsetzung Von Wolfgang Weiß* Parlamentarische Herausforderungen im Völkerrecht der Globalisierung Wolfgang Weiß
I. Einleitung Dass Globalisierung und Demokratie keine Liebe auf den ersten Blick sind, ist bereits häufig festgehalten worden.2 Für den Europäischen Integrationsprozess ist es Gemeingut geworden, eine Aufwertung der Exekutive zu Lasten der Parlamente zu beklagen. Das Spannungsverhältnis zwischen der Verlagerung verbindlicher Regelsetzung auf die überstaatliche Ebene, sei es auf die EU, sei es auf Vertragsgremien und Internationale Organisationen, einerseits und der an sich nach verfassungsrechtlichen Regelzuständigkeiten gegebenen maßgeblichen Rolle des Parlamentes (wenn schon nicht im politischen Prozess insgesamt, so aber doch jedenfalls) in der Rechtsetzung andererseits, lässt sich aber nicht nur als Defizitoder Verfallsgeschichte zu Lasten nationaler Parlamente beschreiben. Jedenfalls der Europäische Integrationsprozess hat eine Aufwertung des Parlamentarismus insgesamt und zuletzt auch der Bedeutung nationaler Parlamente in unionalen Entscheidungsprozessen mit sich gebracht (dazu Art. 12 EUV).3 Die Europäische Integration sollte man weniger durch die Brille eines nationalen Souveränitätsverzichtes lesen, als vielmehr durch die einer veränderten, nämlich gemeinsamen Ausübung der Souveränität.4 Darin liegt ein Fortschritt, der auch mit Wandlungen des Parlamentarismus einhergeht.5 So wird dem inhärenten Legitimationsdefizit 1
* This project has received funding from the EU’s Horizon 2020 research an innovation programme under the Marie Sklodowska – Curie grant agreement No. 721316. 1 Zum Begriff aus der Rechtswissenschaft etwa S. Hobe, AVR 1999, 253 (256 f.). Umfassender sozialwissenschaftlich U. Beck, Was ist Globalisierung?, 1997. 2 Programmatisch E. Stein, International Integration and Democracy: No Love at First Sight, AJIL 2001, 489. 3 Zur (nationalen) Europäisierung des Bundestags als Erfolgs- aber auch Problemgeschichte und zu den Bemühungen seitens des BVerfG in seinen Entscheidungen zu den Mechanismen zur Überwindung der Finanzkrise der EU, den Bundestag besser in Stellung zu bringen und zur Wahrnehmung seiner neu betonten, ausgebauten Rechte zu bewegen vgl. F. Mayer, in: Franzius/Mayer/Neyer (Hrsg.), Modelle des Parlamentarismus im 21. Jahrhundert, 2015, 83 (84 ff., 93 ff.). 4 W. Weiß, in: Niedobitek (Hrsg.), Europarecht – Grundlagen, 2014, § 5, Rn. 63 ff. 5 Für die Fortschrittsthese A. von Bogdandy, AöR 2005, 445 (459 ff.).
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nationalstaatlicher Entscheidungsmechanismen abgeholfen, die in der Inkohärenz zwischen rein nationalen Verantwortlichkeitsstrukturen und darüber hinausgehenden, grenzüberschreitenden Auswirkungen nationaler Entscheidungen begründet liegt.6 Völkerrechtliche Verpflichtungen können die Offenheit parlamentarischer Entscheidungsverfahren für internationale Anliegen und Argumente erweitern und zur Abwehr einseitiger Einflussnahmen und Politikvorstellungen dienen.7 Internationale Regelsetzung erfolgt in Strukturen und Verfahren, die sich von nationalstaatlichen Verfahren unterscheiden und die nicht nur tradierte demokratische Legitimationsvorstellungen herausfordern, sondern auch neue Legitimationsbeiträge leisten können. Während die Bewältigung der durch die Europäische Integration ausgelösten Veränderungsprozesse für den nationalen Parlamentarismus infolge intensiver wissenschaftlicher, richterrechtlicher und (verfassungs)gesetzgeberischer Befassung gut vorangekommen ist, ist das für die Herausforderungen, die sich für den Parlamentarismus durch moderne völkerrechtliche Governancemechanismen einstellen, bei weitem noch nicht der Fall. Die rechtswissenschaftliche Befassung mit den demokratietheoretischen Problemen der Verlagerung von Regelungstätigkeit auf völkerrechtliche Strukturen ist erst dabei, sich zu entfalten.8 Erste verfassungsrechtliche Lösungen stehen zur Diskussion.9 Auch hier gilt, dass es um eine Fortentwicklung des Parlamentarismus und seiner Instrumente und Grundlagen im Hinblick auf diese grundsätzlich globalen, sich typischerweise innerhalb völkerrechtlicher Strukturen vollziehenden Regelsetzungsmechanismen geht. Nach von Bogdandy zählt diese Fortentwicklung „zu den größten zeitgenössischen Herausforderungen“10 für unsere demokratische und rechtsstaatliche Ordnung. Vor diesem Hintergrund will der vorliegende Beitrag zunächst einmal einige Governancemechanismen des Völkerrechts der Globalisierung identifizieren, die besondere Herausforderungen an den Parlamentarismus stellen und sie insoweit näher einordnen. Als Governancemechanismen werden dabei die öffentlichen Ver6 Vgl. A. von Bogdandy, ZaöRV 2003, 853 (870, 872); C. Joerges: Constitutionalism in postnational constellations, in: ders./Petersmann (Hrsg.), Constitutionalism, Multilevel Trade Governance and Social Regulation, 2006, 491, (494); W. Weiß, in: Niedobitek (Hrsg.), Europarecht – Grundlagen, 2014, § 5, Rn. 99. 7 E. Benvenisti, AJIL 2008, 241. 8 Herdegen, VVDStRL 62 (2003), 7 (27 ff.); Poscher, VVDStRL 67 (2008), 160 (162 ff.; 172 ff.); Ruffert, Die Globalisierung als Herausforderung an das Öffentliche Recht, 2004, S. 61 ff.; s. auch von Bogdandy/Bast/Arndt, Handlungsformen im Unionsrecht, ZaöRV 2002, 77 (148 f.); Funke, Umsetzungsrecht, 2010, S. 377 ff. 9 Herdegen (Fn. 6), S. 36, ruft zu einer „stärkeren Konstitutionalisierung der auswärtigen Gewalt“ auf, ohne Hinweise dafür zu formulieren, und verweist auf die Eigenlegitimation internationaler Kooperation. Funke (Fn. 6), S. 397 ff., begründet eine „organisationswärtige Gewalt“ der Bundesrepublik zur Mitwirkung in der Rechtsetzung durch internationale Gremien, die er nicht nur der Exekutive zuweist. Die Einbeziehung der Legislative bedarf einer konkreten gesetzlichen Ausformung, nach dem Vorbild von Art. 23 II ff. GG. 10 A. von Bogdandy, AöR 2005, 445 (464); s. auch ders., ZaöRV 2003, 853 (877).
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fahren und Instrumente in den Blick genommen, durch die das Verhalten einzelner beeinflusst werden soll. Nach einer verfassungsrechtlichen Problematisierung im Hinblick auf die Stellung des Parlaments werden abschließend konkrete Schlussfolgerungen und Regelungsvorschläge für die Weiterentwicklung der parlamentarischen Strukturen unter dem Grundgesetz aufgezeigt.
II. Governance Mechanismen im Völkerrecht der Globalisierung 1. Neue Wege und Intensitäten globaler Rechtsetzung a) Fortentwicklung völkerrechtlicher Verträge Das heutige Völkerrecht der Globalisierung ist von vergleichsweise innovativen Entwicklungen im Hinblick auf die Entstehung völkerrechtlicher Verpflichtungen geprägt. Die Art und Weise, wie völkerrechtliche Verträge abgeschlossen oder modifiziert werden, verändert sich. Auch gibt es neue Wege internationaler, bindender oder doch zumindest rechtlich erheblicher Regelsetzung. Während lange Zeit der Abschluss völkerrechtlicher Verträge das klassische Instrument zur Eingehung neuer Verpflichtungen darstellte und das Völkerrecht sich im 20. Jahrhundert vorrangig durch große Kodifikationen entwickelte, die auch zu einer Ausweitung der internationalen Gerichtsbarkeit führten, ist in den letzten Jahren die Rechtsetzung durch und in Internationalen Organisationen und vertraglichen Strukturen in neue Bedeutung hineingewachsen. Auf diese Weise ändern sich die Wege zur Fortentwicklung bestehender völkerrechtlicher Verträge über die schon seit längerem praktizierten Mechanismen einer Fortschreibung völkerrechtlicher Verträge durch die Anwendungspraxis der Vertragsstaaten11, durch authentische Interpretationen der Parteien (die einen Vertrag weiterentwickeln, ohne an sich aber die Schwelle zur Vertragsänderung überschreiten zu dürfen12) oder Auslegungen 11 Ansatzpunkt für die rechtliche Relevanz von Anwendungspraxis für die Auslegung von vertraglichen Regeln ist Art. 31 III WVRK. Vgl. für die Wandlung des NATO-Vertrags Walter, (Inter)national Governance in verfassungsrechtlicher Perspektive: Überlegungen zu Möglichkeiten und Grenzen der Entwicklung eines „Internationalen Verfassungsrechts“, in: Heritier/Stolleis/Scharpf (Hrsg.), European and International Regulation after the Nation State, 2004, S. 31 (42 ff.). 12 Verbindliche Auslegungen führen oft zu einer gewissen inhaltlichen Änderung eines Vertrags, vgl. Sur, L’Interprétation en Droit International Public, 1974, S. 200. Verbindliche Auslegungen sind zwar zunächst auch Auslegungen, die den Maßstäben des Art. 31 WVRK zu folgen haben und daher gerade keine Vertragsänderung darstellen, doch dürfen Vertragsparteien im Falle der authentischen Auslegung sich von den Auslegungsregeln der WVRK entfernen. Art. 31 IV WVRK ist insofern ein klares Indiz dafür, dass eine begriffliche Einigung der Parteien zu beachten ist. Als Herren des Vertrags dürfen sie einen Vertrag nicht nur auslegen, sondern auch ändern. Zur Geltung der Auslegungsregeln der WVRK für völkerrechtliche Gremien oder nationale Stellen, aber nicht für die Vertragsparteien vgl. Heintschel von Heinegg, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, 6. Aufl. § 12, Rn. 11; Gardiner, The Vienna Convention Rules on Treaty Interpretation, in: Hollis (Hrsg.), The Oxford Guide to
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durch internationale Gerichte hinaus. Neuentwicklungen zeigen sich bereits bei diesen klassischen Mechanismen: Die Vermehrung internationaler Gerichtsbarkeit hat der Vertragsauslegung durch Gerichte eine größere Bedeutung eingeräumt; die Anwendung dynamischer Auslegungsmethoden lässt die Abgrenzung zur Vertragsänderung besonders problematisch werden. Ferner wird die Zuständigkeit für authentische Auslegungen von den Parteien selbst wegverlagert und auf Vertragsgremien übertragen, in denen nicht notwendig alle Parteien präsent sind.13 Schließlich treten an die Stelle von Vertragskonferenzen der Vertragsstaaten Mechanismen einer Eigenergänzung völkerrechtlicher Vertragsstrukturen; völkerrechtliche Verträge werden als lebendige, sich fortentwickelnde Strukturen etabliert. Diese Fortentwicklung erfolgt zum einen durch Rechtsetzung in den Organen Internationaler Organisationen, die dazu aufgrund eines im Gründungsvertrag enthaltenen Mandats ermächtigt sein müssen oder zumindest als ermächtigt angesehen werden können; dabei sind Umfang und Grenzen dieser Mandate, auch im Hinblick auf die Rechtswirkungen, nicht immer eindeutig.14 Gerade die Gründungsstatute Internationaler Organisationen sind aufgrund ihrer verfassungsähnlichen Funktion Gegenstand teleologischer, evolutiver Anwendung und Auslegung.15 Zum anderen werden spezielle vereinfachte Mechanismen der Rechtsetzung und Vertragsergänzung oder -fortentwicklung durch die Vertragsparteien eingerichtet; solche Mechanismen werden bereits in den Verträgen angelegt und weichen von den tradierten Wegen einer Änderung völkerrechtlicher Abkommen ab.16 Vertragsänderungen in vereinfachten Änderungsverfahren bedürfen nicht mehr der Zustimmung aller Staaten.17 Diese Prozesse führen zu einer Dynamisierung der Änderung von VerTreaties, 2012, S. 484 f. Im Völkerrecht ist es normalerweise den Parteien überantwortet, authentische Auslegungen zu verabschieden. Daher verschiebt sich bei der verbindlichen Auslegung die Grenze zur Vertragsänderung. Verbindliche Auslegungen können die Grenzen einer regulären Wortlautauslegung nach Systematik und Ziel gemäß Art. 31 I WVRK somit überschreiten. Vgl. auch M. Nettesheim, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 59, Rn. 127, M. Baumbach, Vertragswandel und demokratische Legitimation, 2008, S. 70 – 80; noch weitergehend jüngst K. Berner, ZaÖRV 2016, 845. 13 Beispiele: Art. 8.31 Abs. 3 CETA; Art. XXIX IWF Übereinkommen; Art. XIX Weltbank Übereinkommen; Art. IX:2 WTO Übereinkommen. Kritisch zur Auslegungszuständigkeit von Vertragsorganen O. Dörr/K. Schmalenbach, Vienna Convention on the Law of Treaties, 2012, Art. 31, Rn. 20, S. 532, unter Berufung auf eine Feststellung des StIGH, wonach es ein etablierter Grundsatz sei, dass nur die Partei den Vertrag verbindlich auslegen kann, die ihn auch ändern kann. 14 M. Frenzel, Sekundärrechtsetzungsakte internationaler Organisationen, 2011, 169 ff.; N. White, Lawmaking, in: Cogan/Hurd/Johnstone (Hrsg.), The Oxford Handbook of International Organizations, 2016, 559 (573). 15 Vgl. T. Sato, Evolving Constitutions of International Organizations, 1996, 230 ff. 16 Dazu bereits Hingst, Auswirkungen der Globalisierung auf das Recht der völkerrechtlichen Verträge, 2001, S. 163 ff.; Wolfrum/Röben (Hrsg.), Developments of International Law in Treaty Making, 2005. 17 Art. 108 UN Charter lässt eine 2/3-Mehrheit in der Generalversammlung und die Ratifikation durch 2/3 der UN-Mitglieder, einschließlich aller Ständigen Mitglieder des
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trägen innerhalb wenig formalisierter Strukturen und können auch bewirken, dass völkerrechtliche Pflichten entstehen, ohne dass dem in jedem Einzelfall eine explizite nationale Zustimmung, geschweige denn eine parlamentarische Beteiligung hieran, zugrunde liegt. b) Thematisches Ausgreifen auf Gegenstände innerstaatlicher Rechtsetzung Nicht nur die Wege der Entstehung (zumindest im weiteren Sinne) völkerrechtlicher Bindungen verändern sich in der Globalisierung, sondern auch ihre Gegenstände und ihre Rechtswirkungen, weil sie den Bereich rein zwischenstaatlicher Beziehungen verlassen. Auf der Grundlage völkerrechtlicher Verträge werden verbindliche Rechtsakte erlassen, die vergleichbar staatlicher Rechtsetzung mit Regelungsanspruch für innerstaatliche Beziehungen oder Beziehungen unterhalb der staatlichen Ebene wirken. Seit längerem lässt sich beobachten, dass völkerrechtliche Regelwerke immer mehr Politikfelder erfassen und sich dabei Bereichen zuwenden, deren Regelung traditionell rein innerstaatliche Angelegenheit war. Dabei enthalten solche internationale Rechtsakte umfangreiche rechtsetzende Vorgaben, die über bloße bilaterale Interessenausgleiche oder über die Festlegung untergeordneter technischer Spezifikationen hinausgehen, sondern inhaltlich innerstaatliche Regulierung vorformen18 und die institutionelle Architektur des regulierenden Staates verändern. Das zeigt sich nicht nur an der veränderten Rolle des UN-Sicherheitsrats, der in seinen Resolutionen nicht mehr nur durch konkrete Maßnahmen einzelne zwischenstaatliche Konflikte lösen will, sondern allgemeine Regelungen, etwa zur Verfolgung und Bestrafung internationaler Terroristen schafft und damit als Weltgesetzgeber auftritt.19 Der Sicherheitsrat agiert bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus einem globalen Gesetzgeber vergleichbar. Noch viel direkter betreffen neuere Instrumente und Mechanismen der internationalen Handelsliberalisierung innerstaatliche Regelungen und den institutionellen Aufbau der staatlichen Sicherheitsrats, genügen, damit sie für alle in Kraft tritt; s. auch Art. 9 II WVRK: für die Annahme eines Textes auf internationalen Konferenzen genügt eine 2/3 Mehrheit. Als weitere Beispiele sind Art. X:2 – 4 WTO Übereinkommen, Art. 73 WHO Verfassung, Art. XIII UNESCO Verfassung, Art. 18 C IAEA Statut zu nennen. s. auch Nowrot, Normative Ordnungsstruktur und private Wirkungsmacht, 2006, S. 173. 18 Nowrot, ZG 2016, 1 (23); Ohler, DVBl. 2015, 1091 (1092); Weiß, Die Rechtsquellen des Völkerrechts in der Globalisierung, AVR 2015, 220 (227 f.). Zur Zunahme solcher law-mak ing treaties in den vergangenen Jahrzehnten Tietje, The Changing Legal Structure of International Treaties as an Aspect of an Emerging Global Governance Architecture, GYIL 42 (1999), 26 (30 ff.); Walter, Constitutionalizing (Inter)national Governance – Possibilities for and Limits to the Development of an International Constitutional Law, GYIL 44 (2001), 170. 19 Vgl. etwa UN-SR-Resolution 1373 (2001); diese Resolution war als „for the first time … legislation for the rest of the international community“ bezeichnet worden, vgl. die Stellungnahme des Vertreters von Costa Rica, UN Doc. A/56/PV.25 (2001), S. 3. Seither sind weitere eher rechtsetzende UN-SR-Resolutionen ergangen, vgl. Talmon, Security Council as World Legislature, AJIL 99 (2005), 175.
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Verwaltung durch den Ausbau von unabhängigen Regulierungsbehörden und die Zentralisierung von Regulierung.20 Moderne Handelsabkommen geben sich nicht mit der Liberalisierung des Marktzutritts zufrieden, sondern beziehen möglichst umfassend alle Handelshemmnisse ein, auch solcher, die aus rein innerstaatlichen Zielsetzungen des Verbraucherschutzes, der Nachhaltigkeit, der Produktsicherheit, des Umwelt- und Klimaschutzes oder ähnlichen Regelungszielen dienender Gesetzgebung erwachsen können. Die stetig ausgreifenden, zunehmend komplexeren Handelsabkommen der EU geben davon ein beredtes Zeugnis.21 Die Disziplinierung technischer Handelshemmnisse seit den 1980er Jahren durch die welthandelsrechtlichen TBT- und (seit der WTO) SPS-Regelwerke22 und die Etablierung von Mechanismen regulatorischer Kooperation nach frühen Vorläufern wie Art. 2.9 TBT Abkommen wird in Freihandelsabkommen neuester Generation ausgebaut.23 c) Neue Rechtsschichten und Regelungsstrukturen: soft law, internationale Standardsetzung und Behördennetzwerke Die beiden vorbezeichneten Mechanismen der neuen Wege zur Fortentwicklung völkerrechtlicher Verträge einerseits und der inhaltlichen Zuwendung zu traditionell innerstaatlichen Regelungsmaterien andererseits verbinden sich in den Instrumenten internationaler Standardsetzung im Rahmen spezieller internationaler Organisationen oder institutioneller, administrativ-exekutiver Strukturen unterhalb der formalen völkerrechtlichen Ebene (unter Umständen unter Einbeziehung Privater24). In diesen Instrumenten und Strukturen betreiben überstaatliche Gremien im Einzelfall rechtlich verbindliche, zumeist formal eher nicht verbindliche, gleichwohl aber wirkmächtige Harmonisierung internationaler Produkt-, Leistungs- oder Aufsichtsstandards.25 In aller Regel führen diese Mechanismen internationaler Koordination nicht zur Entstehung unmittelbar völkerrechtlich verbindlicher Verpflichtungen für die beteiligten Staaten. Dennoch erlangen die Standards auf verschiedenen Wegen entweder doch noch eine formale rechtliche G. Shaffer, How the WTO shapes the regulatory state, in: Bignami/Zaring (Hrsg.), Comparative Law and Regulation, 2016, 447 (464 ff.). 21 Siehe Melo Araujo, The EU Deep Trade Agenda, 2016. 22 Zur allerdings recht begrenzten harmonisierenden Wirkung der TBT- und SPS-Vorgaben bezüglich international abgestimmter Standards s. G. Shaffer, How the WTO shapes the regulatory state, in: Bignami/Zaring (Hrsg.), Comparative Law and Regulation, 2016, 447 (455 f.). 23 Dazu D. Steger, Institutions for Regulatory Cooperation in „New Generation“ Econom ic and Trade Agreements, LIEI 2012, 109; K. Nowrot, ZG 2016, 1 (spezifisch zum TTIP). 24 Dazu A. Paulus u.a., Internationales, nationales und privates Recht: Hybridisierung der Rechtsordnungen?, 2014; W. Mattli, Private Transnational Governance, in: Cogan/Hurd/ Johnstone (Hrsg.), The Oxford Handbook of International Organizations, 2016, 171 ff. 25 Vgl. C. D. Classen, VVDStRL (2008), 365 (369 ff., 376 – 381); M. Frenzel, Sekundärrechtsetzungsakte internationaler Organisationen, 2011, 54 ff.; J. Hielscher, Legitimität und Legitimation von international und europäisch determiniertem Recht, 2010, 29 ff. 20 Vgl.
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Bindungskraft. Das erfolgt etwa, indem andere Abkommen diese Standards zur Konkretisierung ihrer völkerrechtlichen Verpflichtungen durch Verweisung inkorporieren. Ein anderer eher faktischer Weg ist der internationale Befolgungsdruck, der durch Gegenseitigkeitserwartung dazu führt, dass in der Praxis der nationale Gesetzgeber von den international festgelegten unverbindlichen Standards nicht abweichen wird. Solche Standards können auch ohne weitere gesetzgeberische Mitwirkung oder Umsetzung den Inhalt nationalen Rechts dadurch beeinflussen, dass in der nationalen Rechtsanwendung solchen internationalen Standards hohe Beachtung geschenkt wird.26 Nicht zuletzt zeigt sich in den letzten Jahren, dass nationale Gerichte intensiver als je zuvor völkerrechtliche Instrumente bei ihrer Rechtsanwendung einbeziehen.27 d) Umfangreiche vorläufige Anwendung völkerrechtlicher Verträge Im Völkerrecht der Globalisierung zeigt sich schließlich auch eine zunehmende Häufung der vorläufigen Anwendung völkerrechtlicher Verträge noch vor einer parlamentarischen Zustimmung. Vorläufige Anwendung bedeutet nach der internationalen Praxis, dass allein infolge einer Vereinbarung durch die Exekutive eine rechtliche Bindung eintritt28, also noch vor dem förmlichen Inkrafttreten nach erfolgter Ratifikation, und damit vor einer parlamentarischen Zustimmung zu dem Vertrag. Durch die vorläufige Anwendung völkerrechtlicher Verträge soll der Zeitraum bis zu ihrem formalen Inkrafttreten, das erst nach erfolgreicher Ratifikation durch alle Vertragsparteien erfolgt, im Interesse zügiger Regelung überbrückt werden; das Abkommen soll möglichst zeitnah zur Unterzeichnung Anwendung finden. Während bis zum zweiten Weltkrieg auf diese Weise vereinzelt Friedens-, Waffenstillstands- oder Abrüstungsabkommen, ferner bilaterale Handels- und Wirtschaftsabkommen zur sofortigen Anwendung vor der Ratifikation durch die Parteien gebracht worden sind, fand der Mechanismus der vorläufigen Anwendung danach auch bei bedeutenden multilateralen Verträgen Anwendung, so etwa für das GATT 1947, das OEEC-Abkommen über die Organisation für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit von 1948, die Konvention über die Errichtung einer Europäischen Weltraumbehörde von 1976, der Energiechartavertrag von 1994 oder das 14. ZP zur EMRK von 2004.29 Mittlerweile tritt die vorläufige 26 A. Berger, Völkervertragliche Zielvorgaben im Entscheidungsprogramm der deutschen Verwaltung, Die Verwaltung 2016, 503 ff. 27 Vgl. E. Benvenisti, AJIL 2008, 241 – 274. 28 Ein vorläufig angewendeter Vertrag generiert ebenso wie ab Inkrafttreten völkerrechtlicher Pflichten; zentrale Unterschiede sind die erleichterte Beendigung einer vorläufigen Anwendung nur durch einseitige Erklärung, und eine ggf ausdrücklich erfolgende sachliche oder personelle Einschränkung der rechtlichen Wirkungen, vgl. Kempen/Schiffbauer, ZaöRV 2017; Kleinlein, JZ 2017, 377 (379 f.). 29 Dazu Kleinlein, JZ 2017, 377 (377, 380 f.); A. Quast Mertsch, in: M. Fitzmaurice/P. Merkouris (Hrsg.), The Interpretation and Application of the European Convention
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Anwendung recht häufig auch bei Luftverkehrsabkommen, Postabkommen und Rohstoffabkommen, aber auch Visaabkommen und im Bereich der kulturellen Zusammenarbeit auf.30 Freihandels- oder Kooperationsabkommen der EU werden regelmäßig in großem Umfang, idR in ihren handelspolitischen Teilen, vorläufig angewendet.31 Auch die Gründung internationaler Organisationen geht typischerweise mit der Errichtung vorbereitender Organe einher, damit die Arbeitsfähigkeit zum formalen Inkrafttreten sichergestellt ist.32 Im Bereich der Seerechtskonvention bedeutete die Unterschrift unter das Übereinkommen zur Durchführung von Teil XI von 1994 die konkludente Zustimmung zu seiner vorläufigen Anwendung, allerdings bei gleichzeitiger opt-out Möglichkeit.33 Die vorläufige Anwendung ergibt sich entweder aus einem eigenen Zusatzprotokoll oder direkt aus dem Vertrag selbst. Das Beispiel des GATT 1947 zeigt, dass die vorläufige Anwendung nicht die Pflicht implizierte (außer hinsichtlich der Zollsätze und der Meistbegünstigung), bisheriges entgegenstehendes Gesetzesrecht zu ändern: Die vorläufige Anwendung musste durch die GATT-Gründungsmitglieder nur insoweit erfolgen, wie dies mit der bestehenden Gesetzeslage im Einklang stand.34 Ein solcher Vorbehalt der Gesetzeslage findet sich heute hinsichtlich der rechtlichen Wirkung der vorläufigen Anwendung in den allermeisten Fällen nicht mehr; eine solche Einschränkung dahingehend, dass vorläufig anwendbar nur Regeln eines Abkommens sind, deren Befolgung keine nationalen Gesetzesänderungen erfordert, ist nach herrschender Auffassung und der internationalen Praxis nicht konzeptioneller Bestandteil der Figur der vorläufigen Anwendung geworden.35 Vorläufige Anwendungen können außerdem zu dauerhaften, auch nach einer Beendigung der vorläufigen Anwendung of Human Rights, 2013, 33 ff. Weitere Beispiele sind das Abkommen über die Europäische Zahlungsunion von 1950 und das Europäische Währungsabkommen von 1955; s. F. Montag, Völkerrechtliche Verträge mit vorläufigen Auswirkungen, 1986, S. 28; Krenzler, Die vorläufige Anwendung völkerrechtlicher Verträge, 1963, S. 19, 32 – 37. 30 Montag, Völkerrechtliche Verträge mit vorläufigen Auswirkungen, 1986, S. 29. Für die vorläufige Anwendung von EU Luftverkehrsabkommen s. Hahn/Dudenhofer, in: EnzEuR Bd 10, 2014, § 15, Rn. 30, 165. Weitere Beispiele sind zum Beispiel das Internationale Kaffee-Übereinkommen von 1994, die Abkommen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Lettland, der Republik Litauen und der Republik Estland über die Aufhebung der Visumspflicht vom 15. und 16. Februar 1999, das deutsch-tschechische Abkommen über kulturelle Zusammenarbeit vom 30. September 1999. 31 Weiß, in: EnzEuR Bd 10, 2014, § 10 Vertragliche Handelspolitik der EU, Rn. 145. 32 A. Quast Mertsch, Provisionally applied treaties: Their Binding Force and Legal Nature, 2012, S. 16 ff. 33 Art. 7 des Implementation Agreements von 1994 zu Teil XI der Law of the Sea Convention 1982 (UNCLOS), 1836 UNTS 3; A. Aust, Modern Treaty Law & Practice 3. Aufl. 2013, S. 155. 34 Vgl. Herrmann/Streinz, in: EnzEuR Bd 10, 2014, § 11 Die EU als Mitglied der WTO, Rn. 11. 35 Für Forderungen nach einer Einschränkung der rechtlichen Wirkung von vorläufig angewendeten Verträgen gemäß der bestehenden nationalen Gesetzeslage s. bei A. Quast
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fortwirkenden Tatsachen und Konsequenzen führen.36 So ist in der internationalen Praxis durchaus anerkannt, dass Schiedssprüche im Verhältnis Investor-Staat auch auf der Grundlage vorläufig angewendeter Verträge mit rechtlicher Bindung ergehen können.37 Das ist etwa der Fall, wenn Investitionsschutzabkommen vorsehen, dass Investitionsschutzklagen für eine bestimmte Zeit auch noch nach der Beendigung der vorläufigen Anwendung der Investitionsschutzbestimmungen möglich sind.38 Damit können dauerhafte Rechtsfolgen allein aufgrund einer vorläufigen Anwendung eines völkerrechtlichen Vertrags und damit unabhängig von einer parlamentarischen Zustimmung zu ihm, und sogar trotz einer späteren Ablehnung des vorläufig angewendeten Vertrags im Parlament eintreten. e) Zusammenfassung Im Ergebnis zeigen die vorbezeichneten Entwicklungen eine erhebliche Verselbständigung von Entscheidungsstrukturen auf internationaler Ebene, die zu einer größeren Eigenständigkeit internationaler Entscheidungsfindung und Regelsetzung führt. Sie lösen sich von tradierten staatlichen Entscheidungs- und Mitwirkungsmustern ab und stärken die Exekutive. Denn die Dynamisierung völkervertragsrechtlicher Rechtsentstehung liegt vor allem in exekutiver Hand.39 Die Exekutive vertritt die Bundesrepublik in internationalen Gremien, sie wirkt dort mit, und ihr kommt es zu, die nationale Rechtsposition etwa bei internationalen Gerichten zu formulieren und zu vertreten und auf diese Weise an der Fortentwicklung eines völkerrechtlichen Instruments mitzuwirken.40 Alles das hat Rückwirkungen auf die Funktionen des Parlamentes, wie sogleich für die Position des Bundestags verdeutlicht werden soll.
Mertsch, Provisionally applied treaties: Their Binding Force and Legal Nature, 2012, S. 103 ff. 36 Kleinlein JZ 2017, 377 (381). 37 Vgl. A. Quast Mertsch, Provisionally applied treaties: Their Binding Force and Legal Nature, 2012, S. 170 f. 38 So etwa in Art. 30.8 Abs. 4 CETA; dies gilt als lex specialis zu Art. 30.7 Abs. 3 (d) CETA. Allerdings wurden die Regelungen über den Investitionsschutzmechanismus von der vorläufigen Anwendung ausgenommen, vgl. Art. 1 des Beschlusses des Rates über die vorläufige Anwendung, ABl. 2017 L 11/1080, so dass sich die Problematik im Ergebnis nicht stellen dürfte. Eine Unsicherheit bleibt indes, da Art. 30.8 Abs. 4 CETA dort nicht explizit benannt wurde. 39 F. Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, 2007, 138. F. Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, 2007, 143. 40 Diese klassische exekutive Funktion hat erhebliche Relevanz für die internationalen Beziehungen, vgl. etwa – wenn auch auf europäischer Ebene, aber für die nationale stellt sich das grundsätzlich nicht anders dar – den Streit zwischen Kommission und Rat um eine Stellungnahme vor einer internationalen Instanz vor dem EuGH, Rs C-73/14, Rn. 74 f.
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2. Verfassungsrechtliche Problemlagen a) Erste Einordnung Rechts- und demokratiestaatlich sind diese neuen völkerrechtlichen Wege von Rechtsetzung herausfordernd, weil sie die Gefahr in sich bergen, Funktionen des Parlaments auszuhebeln. Es sind die Parlamente, denen die Annahme wesentlicher Entscheidungen für das Gemeinwesen und generell die Rechtsetzung obliegt und denen dabei Kontroll- und Öffentlichkeitsfunktionen zukommen. Die Sicherstellung demokratischer Legitimation von Rechtsetzung erfolgt zuvörderst über die Parlamente. Für den völkerrechtlichen Bereich ist das im GG dadurch abgesichert, dass völkerrechtliche Verträge, die hochpolitischer Natur sind, die Gegenstände der Gesetzgebung betreffen, oder die gar Hoheitsrechte auf andere Institutionen außerhalb des GG übertragen, der gesetzgeberischen Zustimmung bedürfen (so Art. 59 II GG, Art. 23 GG speziell für die EU, allgemein Art. 24 I GG). Die Bemühungen im Bereich der Europäischen Integration, demokratische und rechtsstaatliche Anforderungen an die supranationale Hoheitsgewalt der heutigen EU zu formulieren und durchzusetzen, haben nach jahrzehntelanger Debatte nicht nur Niederschlag in zahlreichen höchstrichterlichen Entscheidungen des EuGH oder nationaler Verfassungsgerichte zur Grundrechtsgeltung, zur demokratischen Verantwortlichkeit und zur Integrationsverantwortung nationaler Parlamente gefunden, sondern auch die Ausgestaltung des Rechts der EU und des nationalen Europaverfassungsrechts (in Deutschland insbesondere das EuZBBG und das IntVG) geprägt. Die Schwierigkeiten im Hinblick auf die demokratische Legitimation von überstaatlichen Entscheidungsmechanismen stellen sich nun erneut mit Blick auf völkerrechtliche Prozesse, die zu eigenständiger, von nationalen demokratischen Verfahren unabhängiger Entscheidungsfindung führen können. Denn hier lassen sich in demokratischer Hinsicht zwei bedenkliche Entwicklungen feststellen: Zum einen löst sich im Völkerrecht der Globalisierung die Rechtsentstehung – anders als im klassischen Völkerrecht – vom staatlichen Willen ab.41 Zum anderen stellt sich eine Entscheidungskonzentration bei der Exekutive ein.42 In den nach wie vor überwiegenden Materien unterliegt das Entstehen einer neuen völkerrechtlichen Regel weiterhin der Zustimmung des verpflichteten Staates, die durch die Exekutive erklärt wird. Das ist im Völkerrecht geradezu phänotypisch43 und hat das auswärtige Handeln zu einer exekutiven Prärogative werden lassen.44 Doch auch hier ist die Beteiligung nur der Exekutive nicht in allen Fällen unter Legitimationsaspekten C. Tomuschat, RdC (241) 1993, Band IV, 195; W. Weiß, AVR 2015, 220 (237). M. Ruffert, Parlamentarisierung von Herrschaft jenseits des Staates, in: Franzius/ Mayer/Neyer (Hrsg.), Modelle des Parlamentarismus im 21. Jahrhundert, 2015, 67 (69). 43 Vgl die Regeln zur Vollmacht in Art. 7 WVRK, insbesondere seinen Absatz 2. 44 Dazu Classen, Demokratische Legitimation im offenen Rechtstaat, 2009, 108 f. Mit Recht kritisch Kadelbach, Die parlamentarische Kontrolle des Regierungshandels bei der Beschlussfassung in internationalen Organisationen, in: Geiger (Hrsg.), Neuere Probleme der parlamentarischen Legitimation im Bereich der auswärtigen Gewalt, 2003, 40 (51 f.); 41
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hinreichend. Für die Legitimation von völkerrechtlichen Regeln, bei denen es nicht um die Regelung zwischenstaatlicher Beziehungen geht, sondern die in die nationale Rechtsetzung einwirken, genügt der bloße Verweis auf die Zustimmung durch die Exekutiven der Staaten nicht.45 Völkerrechtliche Entscheidungsstrukturen, die an die Stelle nationaler Entscheidungsprozesse treten und diese nicht nur ergänzen, sind in ihrer Legitimation besonders begründungsbedürftig. Zunächst zur ersten Entwicklung: Die angesprochenen neuen Wege des Entstehens völkerrechtlicher Verpflichtungen für einen Staat, die ohne seinen expliziten Konsens eintreten, bergen demokratische Herausforderungen. Denn die Änderung eines völkerrechtlichen Vertrags bedarf nicht mehr der Zustimmung aller Vertragsparteien; vielmehr genügt eine Mehrheit der Vertragspartner. Oder die bindenden Entscheidungen in internationalen Gremien einer Internationalen Organisation unterliegen nicht der Einstimmigkeit aller Staatenvertreter, sondern nur einem Mehrheitsvotum. Gleiches gilt für innovative Auslegungen von völkerrechtlichen Abkommen durch internationale Gerichte. Die Rechtsentwicklung löst sich vom staatlichen Konsens46 und damit erst Recht aus dem Einflussbereich des Parlaments. Wenn schon die nationalen Regierungen bei der internationalen Rechtsetzung nicht mehr zwingend einbezogen sind, was bedeutet dies dann erst für die Relevanz der Parlamente, für ihre Rechtsetzungs-, Öffentlichkeits- und Kontrollfunktionen? Für die autonomen, vereinfachten Vertragsänderungen hat man in der bundesdeutschen Praxis wohl bereits eine – allerdings gesetzlich nicht verankerte, nicht von Informationsrechten begleitete – Lösung gefunden: Die Bundesregierung legt dem Bundestag ein Vertragsgesetz nach Art. 59 II GG zur Zustimmung vor47, wenn die Bundesregierung auf völkerrechtlicher Ebene der Änderung zuzustimmen beabsichtigt; wird die Änderung gegen die Stimme der Bundesregierung oder ohne ihre Mitwirkung L. Osterloh, in: Franzius/Mayer/Neyer (Hrsg.), Modelle des Parlamentarismus im 21. Jahrhundert, 2015, 135 (137 ff., 146) 45 Vgl. A. Paulus, ZaöRV 2007, 695 (716). 46 Vgl. H. Krieger, VVDStRL 2016, 439 (461 f.), die Legitimationsbedenken mit einem Verweis auf die zulässige Einbeziehung von Staatenpraxis (Art. 31 III a, b, WVRK) und der damit möglichen Verknüpfung mit dem politischen und sozialen Konsens begegnet. Dies klärt aber nicht die Frage nach dem Einfluss des Parlaments bei internationaler Regelgebung. 47 Nach den Richtlinien des Auswärtigen Amts für völkerrechtliche Verträge von 2014 bedürfen Änderungen von Verträgen, die Gegenstand eines Vertragsgesetzes nach Art. 59 II waren, grundsätzlich wiederum der parlamentarischen Zustimmung durch Vertragsgesetz, auch „technische“ Anpassungen oder Änderungen von Anlagen. Die Vertragsanpassungsklausel muss daher so ausgestaltet sein, dass die Beschlüsse für die Vertragspartei erst dann wirksam werden, wenn diese mitgeteilt hat, dass die innerstaatlichen Voraussetzungen hierfür vorliegen. Dadurch lässt sich die erforderliche Zustimmung der gesetzgebenden Körperschaften herbeiführen oder eine erforderliche Rechtsverordnung erlassen, ehe der Beschluss für Deutschland bindend wird, s. ebd. § 12 (6). Zur Zustimmungsbedürftigkeit grundsätzlich jeder Änderung s. auch Nettesheim, in: Maunz/Dürig, Art. 59, Rn. 125. Zu den Ausnahmen s. aber unten Fn. 58.
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gefasst, legt die Bundesregierung dem Bundestag ein Vertragsgesetz vor, wenn die Bundesregierung den Vertrag nicht kündigen will.48 Ersichtlich soll die Zustimmung des Bundestages zu dem früheren Vertrag als solche, die ja als antizipierte Zustimmung auch zu jeder nachfolgenden autonomen Vertragsänderung gemäß den Regeln dieses Vertrags angesehen werden könnte (was aber eine sehr formale und wenig überzeugende Argumentation wäre), nicht ohne weiteres genügen. Um dies rechtlich abzusichern, muss in dem völkerrechtlichen Vertrag, der die autonome Vertragsänderung durch Beschluss eines völkerrechtlichen Gremiums ermöglicht, vorgesehen sein, dass ein Mitgliedstaat einen Prüfvorbehalt einlegen kann, der dazu führt, dass eine Entscheidung erst wirksam wird, wenn die erneute Behandlung nicht nochmals verlangt wird. Denn dies ermöglicht die Einholung einer nach nationalem Verfassungsrecht eventuell erforderlichen parlamentarischen Zustimmung, und damit letztlich ein zweistufiges Verfahren.49 Alternativ kann der Bundestag in seiner Zustimmung zu dem Vertrag per Verordnungsermächtigung bereits die Zustimmung für präzise definierte Entscheidungen an die Exekutive delegieren.50 Sodann zur zweiten Entwicklung: Gerade die Rechtsetzung durch Internationale Organisationen oder die Regulierung in internationalen Netzwerken wird in ihrer demokratischen Legitimation als problematisch empfunden.51 Solche Regelsetzung wird allein auf exekutiver Ebene, durch Staaten- oder Behördenvertreter oder auch von in den politischen Prozess nicht weiter eingebundenen Experten in internationalen Gremien vorgenommen, ohne parlamentarische Beteiligung. Denn solche Mechanismen sehen eher weniger häufig vor, dass eine völkerrechtliche Bindung erst nach eigens erfolgter Ratifikation entsteht. Solche Regelsetzung kann jedoch über den originären Zuständigkeitsbereich der exekutiven Ebene hinausgehen, zumal wenn eine völkervertragliche Ermächtigungsgrundlage für die Annahme von Beschlüssen entweder gar nicht existiert oder aber den Umfang der Zuständigkeiten und ihre Grenzen und die Rechtswirkungen der Beschlüsse nicht eindeutig bestimmt.52 Zwar werden Gründungs- bzw. Beitrittsverträge zu einer Internationalen Organisation seit längerem zum Gegenstand einer parlamentarischen Zustimmung gemacht (gemäß Art. 59 II GG53; dies ist jedenfalls dann erforderlich, wenn die 48 Tietje/Nowrot, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz (Hrsg.), Parlamentsrecht, 2016, § 45, Rn. 34; Nettesheim, in: Maunz/Dürig, Art. 59, Rn. 126, unter Berufung auf die Leitsätze des Auswärtigen Amtes zu mit völkerrechtlichen Verträgen zusammenhängenden Fragen von 1977 (in den aktuellen von 2014 findet sich dazu nichts). 49 T. Plate, DöV 2011, 606 (608 f.). 50 T. Plate, DöV 2011, 606 (609). s. nunmehr § 30 (1) b) letzter Spiegelstrich der Richtlinien des Auswärtigen Amts für völkerrechtliche Verträge von 2014; dazu unten Fn. 58. 51 Vgl. zuletzt B. S. Chimni, International Organizations, 1945-Present, in: Cogan/Hurd/ Johnstone (Hrsg.), The Oxford Handbook of International Organizations, 2016, 113 (129 f.). 52 Zu diesen durchaus häufig anzutreffenden Unbestimmtheiten Frenzel, Sekundärrechtsetzungsakte internationaler Organisationen, 2011, 169 ff. 53 Analysen zeigen aber, dass das auch in Deutschland nicht stets automatisch der Fall ist, sondern dass die Mitwirkung Deutschlands bei etlichen Internationalen Organisationen
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Bundesrepublik Beiträge leistet oder die Organisation Beschlüsse erlässt, die sich auf nationale Gesetzesinhalte auswirken54), so dass theoretisch der Bundestag dann damit auch die Entscheidungszuständigkeiten der Gremien einer Internationalen Organisation gebilligt hat. Diese antizipierte Zustimmung zu allen nachfolgenden Entschließungen der internationalen Organe greift aber nicht ein, sofern und soweit die Kompetenzbeanspruchung Folge einer neuen Auslegungs- und Anwendungspraxis ist. Dies wirft die Frage nach der Abgrenzung einer völkerrechtlich zulässigen und insoweit auch verfassungsrechtlich mit der Zustimmung zum Abkommen konsentierten Fortentwicklung eines Abkommens im Rahmen seiner vertraglichen Grundlagen einerseits von einer Vertragsänderung und damit einer erneuten Zustimmungsbedürftigkeit andererseits auf. Zwar ist die parlamentarische Mitwirkung nach Art. 59 II GG auf den Vertragsschluss begrenzt und nimmt die weitere Vertragsentwicklung nicht in den Blick55; doch erfasst Art. 59 II zweifelsohne auch Vertragsänderungen, weil sie ihrerseits Verträge darstellen. Das BVerfG musste sich bezüglich des NATO-Vertrages wiederholt mit der Abgrenzung von zulässiger Vertragsweiterentwicklung durch die Exekutive einerseits von das Zustimmungsbedürfnis nach Art. 59 II GG auslösender Vertragsänderung andererseits befassen: Relevant ist für das BVerfG dabei, ob die Regierung bei der Fortentwicklung eines Vertrags sich noch im Rahmen des durch den Vertrag geregelten und damit von der Zustimmung des Parlaments nach Art. 59 II umfassten Integrations- bzw. politischen Programms bewegt.56 Wesentliche Abweichungen vom Vertrag oder Entwicklungen, die die Identität des Vertrags betreffen, sind von dieser Zustimmung nicht gedeckt.57 Zu betonen ist in diesem Kontext, dass die Setzung verbindlicher Entscheidungen als solche nicht stets verfassungsrechtliche Probleme im Hinblick auf das Demokratieprinzip auslöst. Vielmehr ist in grundsätzlicher Weise zwischen verschiedenen Kategorien zu differenzieren: Auf völkerrechtlicher Ebene angenommene Entscheidungen, die sich als bloße Umsetzung eines völkerrechtlichen Abkommens im Rahmen völkervertraglich klar geregelter Zuständigkeiten darstellen, bewegen sich innerhalb des verfassungsrechtlich Zulässigen. Die Zuständigkeiten unterlagen bereits der parlamentarischen Zustimmung; auch dringt eine Ausübung rein exekutiver Zuständigkeiten nicht in den parlamentarischen Rechtsetzungsraum ein.58 Art. 59 II GG und Art. 24 I GG verankern keinen Totalvorbehalt des nur auf der Basis eines Regierungsaktes erfolgt. Vgl. A. von Bogdandy/D. Zacharias, NVwZ 2007, 527 (529); Frenzel, Sekundärrechtsetzungsakte internationaler Organisationen, 2011, 258. 54 Dazu Classen, VVDStRL (67) 2008, 365 (381 f.); Frenzel, Sekundärrechtsetzungsakte internationaler Organisationen, 2011, 241 ff., 252 ff., 261. 55 Vgl. F. Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, 2007, 138. 56 BVerfGE 104, 151 (199 f., 209 f.); 118, 244 (259 ff.); 121, 135 (158). 57 BVerfGE 118, 244 (260). 58 Vgl. § 30 (1) b) letzter Spiegelstrich der Richtlinien des Auswärtigen Amts für völkerrechtliche Verträge von 2014: „Auf ein Vertragsgesetz nach Art. 59 II GG kann bei einer
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Parlaments für jede auf vertraglicher Grundlage erfolgende Hoheitsausübung oder gar allgemein für jede bedeutsame außenpolitische Entscheidung.59 Problemlagen für den Parlamentarismus in Deutschland entstehen zum einen, wenn die Fortentwicklung eines völkerrechtlichen Abkommens die Schwelle zur Vertragsänderung überschreitet. Relevant ist zum anderen, auf welche Inhalte sich eine internationale Entscheidung erstreckt, was sie zum Gegenstand hat. Es macht einen Unterschied, ob eine in internationalen Strukturen und Mechanismen getroffene Entscheidung sich nur im rein zwischenstaatlichen Bereich auswirkt, ob sie einen Einzelfall betrifft, oder ob sie allgemeine nationale Rechtsetzung vorformt und inhaltlich prädeterminiert, insbesondere wenn dabei grundrechtlich geschützte Interessen beeinträchtigt werden können. Man wird zu unterscheiden haben zwischen der Entstehung völkerrechtlicher Pflichten auf rein völkerrechtlicher Ebene, also im klassischen Bereich zwischenstaatlicher, intergouvernementaler Beziehungen, einerseits, und der Entstehung solcher völkerrechtlicher Pflichten, die über den rein zwischenstaatlichen Bereich hinausgehen und Bedeutung für das Verhalten von Rechtssubjekten in Deutschland haben, andererseits. Denn bei letzterem handelt es sich um hoheitliche Betätigung, die spezifisch nationalstaatlicher Hoheitsausübung funktional nahekommt, weil es nicht so sehr um die Bindung des Verhaltens der staatlichen Akteure gegenüber anderen Staaten oder deren Bürgern geht, sondern um eine abgestimmte Regulierung vor allem innerstaatlicher Vorgänge, auf die sich Staaten einigen, mit dem Ziel, gemeinsame Standards herbeizuführen und Hindernisse für grenzüberschreitenden Handel abzubauen. Sie gleicht hinsichtlich ihrer Ziele und Instrumente der nationalen Gesetzgebung und Regulierung, und zielt nicht auf Koordinierung des Verhaltens von Staaten in ihren Außenbeziehungen. Je bedeutsamer eine Entscheidung oder Maßnahme für den Einzelnen ist, je intensiver ihre Grundrechtsrelevanz oder ihre generelle Bedeutung für die Allgemeinheit ist, umso höhere demokratische Legitimationsanforderungen sind zu formulieren.60 Das moderne Völkerrecht bezieht sich – wie bereits angemerkt – nicht mehr nur auf klassische Themen der Außenpolitik wie Kriegsführung, Grenzbestimmungen und Außenvertretung, sondern wendet sich innenpolitischen Themenfeldern zu. Deutlich wird dies an der Ausrichtung moderner Handelsverträge, Handelshemmnisse in Form von innerstaatlichen Regeln, die sog. „behind the border issues“ zu adressieren. Gerade neuere Freihandelsabkommen erfassen ganze Regionen 60
Änderung oder Ergänzung eines Vertrags verzichtet werden, wenn von einer antizipierten Zustimmung des Gesetzgebers ausgegangen werden kann. Letztere liegt nur vor (1) bei einer entsprechenden Verordnungsermächtigung für den Fall der Vertragsänderung oder (2) wenn die Vertragsänderung oder -ergänzung keinen normativen Charakter hat und nach Inhalt, Zweck und Ausmaß bereits in einem im ursprünglichen Vertrag vorgesehenen Verfahren zur Vertragsänderung oder -ergänzung angelegt war.“ Die Praxis legt letztere Ausnahme eng aus, T. Plate, DöV 2011, 606 (608). 59 Vgl. BVerfGE 68, 1 (88 f); 137, 185 (236). 60 Vgl. BVerfGE 93, 37 (73); 130, 76 (124).
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(sog. Megaregionals) und somit einen erheblichen Anteil am Welthandel; damit entfaltet eine darin ermöglichte Abstimmung von Regulierungsstandards einen erheblichen Einfluss auf die weltweite Regulierung von Märkten61; solche faktische Angleichung schränkt den Spielraum für innerstaatliche Rechtsetzung ein. Auch der Konflikt zwischen internationalen Investitionsschutzstandards wie der Entschädigungspflicht bei indirekten Enteignungen oder bei unfairen, unangemessenen Behandlungen ausländischer Investoren einerseits und dem verbleibenden Spielraum der Legislative bei der Verfolgung nationaler Politiken (Stichwort right to regulate) andererseits62 verdeutlicht den großen Einfluss völkerrechtlicher Standards auf eigentlich rein innerstaatliche Fragen der Ausgestaltung nationaler Gesetzgebung. Dementsprechend versucht ein neuer Forschungsansatz, bestimmte völkerrechtliche Betätigung als Ausübung von Hoheitsgewalt einzuordnen und sie einem öffentlich-rechtlichen Blickwinkel gemäß als „internationale öffentliche Gewalt“ zu erfassen, deren Charakteristikum darin liegt, alle internationalen Erscheinungsweisen einer Beeinflussung des Verhaltens von Einzelnen oder von Institutionen zu erfassen.63 Somit geht es um Herrschaft über den Einzelnen. Diese Art völkerrechtlicher Mechanismen muss sich anderen demokratischen Legitimationsanforderungen stellen, als der Erlass völkerrechtlicher Regelungen zur zwischenstaatlichen Koordination. Es geht um eine Art Welt(verfassungs)recht statt um staatliches intergouvernementales Außenrecht. Ferner kann für die Festlegung der für ein hinreichendes Legitimationsniveau zu erfüllenden Anforderungen unterschieden werden zwischen einfacher Ausführung einer bereits in einem völkerrechtlichen Vertrag, dem die Parlamente zugestimmt haben, enthaltenen, möglichst exakt umschriebenen Zuständigkeit einerseits, und einer eigenständigen Gestaltungsaufgabe völkerrechtlicher Gremien im Rahmen allgemein gehaltener Aufgabenbeschreibungen andererseits.64 Letzteres geht mit eigenen inhaltlichen Entscheidungs- oder gar Regelungsbefugnissen einher. Diese über bloße Konkretisierung hinausgehenden hoheitlichen Entscheidungen völkerrechtlicher Akteure können weniger deutlich auf eine einmal gemäß Art. 59 II GG erteilte parlamentarische Zustimmung zurückgeführt werden, da 61 J.-B. Velut, Revue Interventions économiques, 2016, § 4 (http://interventionseconomiques.revues.org/2839); ders./L. Dalingwater/V. Boullet/V. Peyronel, Understanding Mega Trade Deals: The Political and Economic Governance of New Crossregionalism, 2018, Kapitel 4 – 6. 62 Zu den daraus fließenden Anforderungen für die methodische Herangehensweise bei der Auslegung solcher Standards S. Schill, ZaöRV 2011, 247 (274). 63 von Bogdandy/Dann/Goldmann, Developing the Publicness of Public International Law, GLJ 9 (2008), 1375; von Bogdandy/Dann/Goldmann, Developing the Publicness of Public International Law: Towards a Legal Framework for Global Governance Activities, in: von Bogdandy u.a. (Hrsg.), The Exercise of Public Authority by International Institutions, 2010, S. 3 ff.; Goldmann, Internationale öffentliche Gewalt, 2015. Dazu auch http://www. normativeorders.net/de/?option=com_content&view=article&id=2209 64 Vgl. dazu Barrón, Der Europäische Verwaltungsverbund und die Außenbeziehungen der Europäischen Union, 2016, S. 211; Classen (Fn. 44), S. 119 f.
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solche Entscheidungen in geringerem Umfang inhaltlich vorhersehbar und damit vorprogrammierbar sind. Der Verweis auf die erteilte Zustimmung des Parlaments zu den ihnen zugrunde liegenden völkerrechtlichen Abkommen als inhaltliche Legitimationsbegründung ist daher sehr formal.65 Hier müssen weitere Legitimationswege hinzukommen. Die Zustimmung der Bundesrepublik über die Bundesregierung zu völkerrechtlichen Rechtsakten in den letztgenannten Fällen, selbst auf der Basis eines zuvor nach Art. 59 II GG vom Bundestag zugestimmten völkervertraglichen Mandats, kann zur demokratischen Rechtfertigung nicht ohne weiteres genügen. Denn solche Rechtsakte greifen in die genuine Aufgabe des Parlaments als Rechtsetzer ein. Sinn der verfassungskräftig im Zustimmungsrecht nach Art. 59 II GG verankerten Teilhabe des Bundestages an der auswärtigen Gewalt ist die Sicherung seiner Legislativfunktion und der innerstaatlichen Umsetzung der übernommenen völkerrechtlichen Pflichten.66 Gesetzgebung als zentrale Zuständigkeit des Parlamentes kann von ihm nur delegiert werden, wenn institutionelle Sicherungen eingehalten wurden (vgl. Art. 80 I GG). Hier ist es kritisch zu sehen, wenn internationale Gremien ohne eindeutige (völker)rechtliche Grundlage und damit ohne diesbezüglich bestimmte vorherige parlamentarische Zustimmung verbindlich oder quasi-verbindlich Regel gebend tätig werden und damit den Inhalt von innerstaatlichen Normen vorfestlegen.67 So sehr die Regierung als Ausdruck einer funktionsgerechten Gewaltenzuordnung und damit ihrer verfassungsrechtlich und -gerichtlich aner-
65 Zweifelnd auch Kadelbach (Fn. 44), S. 42 f. Auch das BVerfG differenziert zwischen Vertragsabänderung und bloßem Vollzug, BVerfGE 104, 151 (199 ff.). Zu Befürchtungen um in Verträgen angelegte und vorbereitete, aber parlamentarisch nicht mehr kontrollierbare allmähliche Inhaltsänderungen durch Vertragsfortentwicklungen vgl. hingegen die vier die AWACS Entscheidung nicht tragenden Richter BVerfGE 90, 286 (373 ff.); diese Bedenken wurden in BVerfGE 104, 151 (208) explizit aufgenommen. Allerdings hat das BVerfG in E 77, 170 (231 f.) die Anforderungen aus dem Vorbehalt des Gesetzes bezüglich der inhaltlichen Spezifität von Gesetzen für den Bereich des auswärtigen Handelns abgemildert („Entscheidungserheblich ist demgegenüber, ob der allgemeine Vorbehalt des Gesetzes im Bereich des Art. 59 Abs. 2 insoweit gilt, als er Anforderungen an die Dichte der Regelung des vom Vertrag erfassten Sachbereiches stellt. Diese Frage ist zu verneinen. Anderenfalls wäre die Bundesrepublik Deutschland von Verfassungs wegen gehalten, völkerrechtliche Verträge nur noch abzuschließen, wenn sie einen erheblichen Grad an Spezifizierung aufweisen.“). Das BVerfG hat dies indes nicht im Hinblick auf völkerrechtliche Regelungsmechanismen formuliert. 66 BVerfGE 118, 244 (258). Dabei genügt schon – wie in der Diskussion um Parallelabkommen deutlich wird – dass eine entsprechende Umsetzungslage besteht. Die Existenz völkerrechtlicher Regeln kann die bestehende innerstaatliche Gesetzeslage festschreiben und so dem Parlament Gesetzgebungsfreiräume entziehen; dazu S. Kadelbach/U. Guntermann, AöR 2001, 563 (582). 67 M. Frenzel, Sekundärrechtsetzungsakte internationaler Organisationen, 2011, 253 ff.; J. Hielscher, Legitimität und Legitimation von international und europäisch determiniertem Recht, 2010, 111 ff.
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kannten exekutiven Eigenverantwortung68 gerade in der Außenpolitik einen völkerrechtlichen Vertrag in Formen des Völkerrechts auch weiterentwickeln darf (was nach der wohl herrschenden Auffassung auch eine dynamische Weiterentwicklung und Auslegung von Vertragsnormen und damit eine entsprechende Begründung von Sekundärrechtsetzungszuständigkeiten einschließt69), so sehr muss sie dabei aber ihre Funktionsgrenzen beachten und darf nicht in Kernfunktionen des Bundestages, die zumal verfassungsrechtlich auch im Bereich der Außenpolitik abgesichert sind und dem Bundestag ein Recht auf Teilhabe an der auswärtigen Gewalt70 vermitteln, übergreifen. Gesetzgebung und Übertragung von Hoheitsgewalt unterliegen der parlamentarischen Entscheidung auch in der Außenpolitik (vgl. Art. 24, Art. 59 II GG) und dürfen nicht unter Zuhilfenahme neuer völkerrechtlicher Mechanismen am Parlament vorbei inszeniert werden. Auch wenn Art. 59 II nur den Vertragsschluss und Art. 24 I nur die Übertragung von Hoheitsrechten (und nicht jede einzelne Ausübung derselben) der gesetzlichen Zustimmung unterwirft, kann die Begrenztheit dieser Formulierungen nichts daran ändern, dass die Gesetzgebungsfunktion und die damit zusammenhängenden Kontrollrechte des Bundestags gesichert werden müssen, und dass die Hoheitsübertragung verfassungsrechtlichen Grenzen (im Hinblick u.a. auf die Demokratieanforderungen nach Art. 79 III GG) unterliegt. Art. 59 II kann nicht als Ausnahmeregelung zugunsten des Parlaments im Bereich des Auswärtigen angesehen werden71; das Gesamtbild des Grundgesetzes wie auch der Rechtsprechung des BVerfG in diesem Bereich verdeutlicht vielmehr die hohe Relevanz parlamentarischer Beteiligung auch in der Außenpolitik als Ausdruck der Gewaltenteilung.72 b) Hinreichende verfassungsrechtliche Sicherungen? aa) Bezüglich Beschlussfassung in internationalen Strukturen Gegen die oben aufgezeigten verfassungsrechtlichen Bedenken lassen sich verfassungsrechtliche Sicherungen ins Feld führen. So ließe sich zum einen einwenden, die parlamentarische Zustimmung zur Mitwirkung Deutschlands in einer Internationalen Organisation oder einem Vertragsregime gemäß Art. 59 II GG decke auch ein Rechtsetzungsmandat ab. Die Mitwirkung der deutschen Exekutive an der Annahme von internationalen Beschlüssen, 68 BVerfGE 68, 1 (84 ff.); 137, 185 (235): „weit bemessenen Spielraum zu eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung“. 69 Vgl. nur W. Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG Kommentar, Band II, 3. Aufl. 2015, Art. 59, Rn. 36. 70 BVerfGE 104, 151 (209). 71 So aber, wenn man dies mit BVerfGE 1, 351 (369) als „Durchbrechung des Gewaltenteilungssystems“ einordnen wollte. 72 Vgl. L. Osterloh (Fn. 44), 142 ff.
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die im völkerrechtlichen Vertrag vorgesehen oder zumindest erkennbar angelegt sind, werde durch diese Zustimmung legitimiert.73 Dass dieser Einwand nur formal überzeugt, wurde soeben bereits aufgezeigt. Eine weitere Gegenargumentation verweist darauf, dass die Rechtsetzung auf völkerrechtlicher Ebene nicht unmittelbar in den nationalen Hoheitsraum eingreift. Völkerrechtliche Rechtsetzungsakte sind zunächst solche des Völkerrechts; sie haben regelmäßig – anders als EU-Recht – keine Durchgriffswirkung. Es bedarf typischerweise eines spezifischen Rechtsanwendungsbefehls. Allerdings kann dieser bereits in der Zustimmung zu dem primären Gründungsvertrag gesehen werden. Nach – indes nicht unbestrittener Ansicht – enthält das Vertragsgesetz zugleich den innerstaatlichen Anwendungsbefehl für die auf der Grundlage des Vertrags gefassten völkerrechtlichen Beschlüsse.74 Unabhängig davon wird internationale Regelsetzung regelmäßig einen nationalen Umsetzungsakt zur Folge haben (und im Bereich des Vorbehalts des Gesetzes, insbesondere bei grundrechtsrelevanten Auswirkungen internationaler Regelsetzung, erscheint dies zwingend75), so dass mit dem Umsetzungsakt der zuständige Gesetzgeber den internationalen Rechtsakt in deutsches Recht umwandelt, so dass legitimatorische Anforderungen an innerstaatlich wirksame Regelsetzung damit erfüllt sein sollen. Zumindest will man einen verfassungsrechtlich grundsätzlich hinreichenden Legitimationszusammenhang infolge der Umsetzungsabhängigkeit völkerrechtlicher Vorgaben erkennen.76 Dem vorliegend vertretenen Bemühen, die Funktionen des Parlaments zu sichern, kann daher nicht der Vorwurf gemacht werden, die Gewaltenteilung „unter Berufung auf das Demokratieprinzip durch Einräumung parlamentarischer Mitentscheidungsbefugnisse [zu] unterlaufen“77; es geht gerade um Sicherung der verfassungsrechtlich gerade ausdrücklich vorgesehenen Mitwirkungsbefugnisse des Bundestags.78 Dieser Hinweis auf die Umsetzungsabhängigkeit verliert jedoch in der Globalisierung an Überzeugungskraft. Die Umsetzungsabhängigkeit war nur solange zentrales Charakteristikum des Völkerrechts, wie es sich als rein zwischenstaatliche Bindungskraft darstellte. Je mehr das Völkerrecht aber den Einzelnen in den Blick 73 W. Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG Kommentar, Band II, 3. Aufl. 2015, Art. 59, Rn. 40; Fastenrath, Kompetenzverteilung im Bereich der auswärtigen Gewalt, 1986, 242. 74 BVerfGE 104, 151 (209). A.A. C.-D. Classen, VVDStRL (67) 2008, 365 (378 f. m.w.N.) mit dem Argument, es läge sonst zugleich eine Hoheitsübertragung vor. 75 Daher will Nettesheim, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 59, Rn. 118 die Zustimmungspflichtigkeit nach Art. 59 II GG auf nicht völkerrechtlich bindende Vereinbarungen erstrecken, so dass die Regierung dafür einer Zustimmung des Gesetzgebers bedarf. 76 Vgl. Poscher , VVDStRL 67 (2008), 160 (164 – 169). 77 Dazu BVerfGE 137, 185 (236). Den topos der Gewaltenteilung ablehnend T. Groß, Der Staat 2016, 489. 78 Gemäß BVerfG stehen dem Bundestag Mitwirkungs- im Unterschied zu Kontrollbefugnissen nur dort zu, wo dies ausdrücklich im GG vorgesehen sei, s. Fn. 77. Die entscheidende Frage ist aber die, wieweit solche Regelungen wirken.
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nimmt, zumal wenn es nicht nur um Begünstigungen wie im Individualschutz und bei den Menschenrechten, sondern zunehmend auch um Verpflichtungen geht, wie phänotypisch im Völkerstrafrecht, aber auch im Bereich transnationaler Regelung internationaler Wirtschaftsbeziehungen und Handelsvorgänge, löst das das Bedürfnis nach verbesserter Rückführbarkeit in völkerrechtlichen Strukturen angenommener Entscheidungen auf den Volkswillen aus. Das Argument der fehlenden Durchgriffswirkung jeder völkerrechtlichen Bindung in den nationalen Rechtsraum hinein büßt daher an Stringenz ein.79 Diese Sichtweise verkennt ferner, dass eine völkerrechtlich verbindliche oder zumindest faktisch wirksame Regelgebung inhaltlich gleichwohl den nationalen Rechtsetzungsakt – unter Umständen sogar vollständig – inhaltlich determiniert; der Umsetzungsgesetzgeber hat – will er nicht bewusst abweichen80, wofür angesichts effektiver Durchsetzungsregime in manchen völkerrechtlichen Verträgen die Opportunitätskosten steigen81 – keinen Spielraum mehr. Parlamentarische Entscheidungshoheit, Öffentlichkeitsfunktion und Kontrolle über Inhalte der Rechtsetzung laufen weitgehend ins Leere.82 Außerdem wäre diese Argumentation ohnehin nur insoweit einschlägig, als internationale Rechtsetzung im Rahmen von zuvor parlamentarisch konsentierten internationalen völkervertraglichen Strukturen abliefe. Das ist – wie ausgeführt – durchaus nicht stets der Fall. Schließlich ist das Eingreifen der verfassungsrechtlichen Sicherungen im Grundgesetz, gerade auch zur notwendigen Bundestagsbeteiligung – davon abhängig, dass sich die völkerrechtlichen Entwicklungen in den klassischen Völkerrechtsquellenkategorien des Vertrags oder des Gewohnheitsrechts (insoweit Art. 25 GG) vollziehen; die Regelungen im Grundgesetz sind – außer bei einer sehr progressiven, den Wortlaut sprengenden Auslegung – blind für Neuentwicklungen außerhalb der klassischen Kategorien, etwa bei soft law-Mechanismen.83 s. auch Classen (Fn. 8), S. 83. Zum treaty override im Völkerrecht siehe BVerfG, NJW 2016, 1295. Für das vor Lissabon dem Völkerrecht zuzuordnende intergouvernementale Unionsrecht der früheren zweiten und dritten Säule erkennt BVerfGE 113, 273 (301) die Möglichkeit zur Nichtumsetzung als Ausübung politischer Gestaltungsmacht. Demnach kann der Bundestag sich dazu entschließen, völkerrechtliche Verpflichtungen zu missachten, Schwierigkeiten wie eine Haftung auf völkerrechtlicher Ebene in Kauf zu nehmen, und innerstaatlich autonom entscheiden. 81 Durch die Zunahme internationaler Gerichte und die Existenz von Streitbeilegungsund daran sich anschließenden Durchsetzungsmechanismen in modernen völkerrechtlichen Verträgen, insbesondere im Handelskontext, ist eine Entscheidung zugunsten eines treaty override politisch teurer geworden. 82 Zu den Veränderungen im Gesetzgebungsverfahren bei internationalen Vorgaben vgl. J. Hielscher, Legitimität und Legitimation von international und europäisch determiniertem Recht, 2010, 55 f., 88 f., 108, der eine Verfahrensbeschleunigung, zurückgenommene inhaltliche Auseinandersetzung und Entmachtung der Parlamente beobachtet. 83 Daher wird von manchen Art. 59 II GG auch insoweit in Stellung gebracht, doch dürfte die Zustimmungspflicht schon an mangelnder Praktikabilität scheitern. Dazu Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG Kommentar, Band II, 3. Aufl. 2015, Art. 59, Rn. 42 f. 79 80
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bb) Bezüglich vorläufiger Anwendung völkerrechtlicher Verträge Die Zustimmungspflichtigkeit völkerrechtlicher Verträge gemäß Art. 59 II GG und seinen Anforderungen gilt auch für eine bloß vorläufige Anwendung eines solchen Vertrages, weil auch damit eine völkerrechtliche Bindung entsteht. Denn der Sinn einer Sicherung der Umsetzung völkerrechtlicher Pflichten greift angesichts der oben angesprochenen Rechtswirkungen auch hier. Die Bundesregierung darf damit einer vertraglich vorgesehenen, gar mit Unterzeichnung eintretenden oder von den Parteien anderweitig vereinbarten vorläufigen Anwendung nur zustimmen bzw. daran mitwirken, wenn zuvor eine Zustimmung des Gesetzgebers eingeholt wurde.84 Da die Abläufe auf internationaler Ebene das nicht immer sogleich zulassen werden, lässt sich in der Staatspraxis die Bundesregierung darauf ein, einer vorläufigen Anwendung nur mit der Maßgabe zuzustimmen, dass diese nur insoweit wirkt, wie die vorläufige Anwendung im Rahmen des bestehenden nationalen Rechts erfolgen kann.85 Das ist verfassungsrechtlich dann bedenklich, wenn – wie bei der Diskussion um sog. Parallelabkommen86 – damit eine Bindung der Bundesrepublik an Vertragsinhalte in dem Umfang eintritt, wie er der bestehenden Gesetzeslage in Deutschland entspricht und diese somit implizit völkerrechtlich bindend festschreibt; dem Parlament ist dann jede Änderungsmöglichkeit genommen, will es nicht eine Verletzung völkerrechtlicher Bindungen auslösen. Darin ist eine Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheit des Gesetzgebers zu sehen. Art. 59 II GG gebietet eine Zustimmung des Bundestags bereits dann, wenn der Vertrag abstrakt ein gesetzliches Umsetzungsbedürfnis auslöst, auch wenn dies konkret infolge der bereits bestehenden Gesetzeslage in Deutschland keine gesetzgeberischen Änderungen bedingt. Angesichts der weitgehenden Anerkennung der Relevanz von Art. 59 II GG auch bei Parallelabkommen ist eine parallele Wertung auch bei der Frage nach der vorläufigen Anwendung auch bei paralleler Gesetzeslage notwendig, so dass diese nicht der autonomen Entscheidung der Bundesregierung am Parlament vorbei überlassen werden kann. Die Bundesregierung kann sich also nur insoweit auf eine vorläufige Anwendung einlassen, wie die Umsetzung der Pflichten ohne gesetzliche Grundlage, also im nicht vom Vorbehalt des Gesetzes erfassten Bereich, möglich ist. Für alles darüber hinaus bedarf sie der Zustimmung gemäß Art. 59 II GG, die indes durchaus durch den Bundestag vorweg im Rahmen einer Verordnungsermächtigung an die Bundesregierung erteilt werden kann.87 Man mag gegen diese Betonung des Vorbehalts des Gesetzes einwenden, dass eine G. Ress, in: FS Döhring, 1989, 803 (818 – 820). die Richtlinien des Auswärtigen Amts für völkerrechtliche Verträge von 2014, S. 27; Kleinlein, JZ 2017, 377 (383 f.). 86 Dazu oben Fn. 66. 87 Insoweit s. C. Tietje, Internationalisiertes Verwaltungshandeln, 2001, 548 ff. Aber auch diese Möglichkeit über eine Verordnungsermächtigung erfordert eine Vorhersehbarkeit der Inhalte der auf internationaler Ebene auf dieser Grundlage getroffenen Entscheidungen, s. ebd. 555 ff. und bereits oben bei Fn. 50. 84 Dazu 85 Vgl.
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vorläufige Anwendung nur vorübergehend und leichter weil regelmäßig unilateral beendbar sei (vgl. Art. 25 II WVRK, wovon aber abgewichen werden kann, wie es etwa im Hinblick auf das 14bis ZP zur EMRK, dort Art. 9, erfolgte88), so dass die Einschränkung des Gesetzgebers sich leicht beseitigen ließe. Die einseitige Beendigung hier als Argument anzuführen, erfordert aber, dem Bundestag ein Recht zu geben, von der Bundesregierung die Beendigung zu verlangen. Ferner ändert die leichtere Beendigungsmöglichkeit nichts an dem Umstand, dass der Bundestag unter Druck steht, seine Entscheidungsfreiheit vielleicht besser nicht auszuüben, weil damit Deutschland dann aus der Reihe der übrigen Partner ausscheren würde; solche politische Erwägungen werden relevant. Schließlich kann die vorläufige Anwendung viele Jahre währen. Auf der Basis der derzeitigen Regelungen ist nicht sichergestellt, dass die Bundesregierung einer vorläufigen Anwendung nur in diesem sehr eingeschränkten Umfange zustimmt.
III. Verfassungsrechtlich begründete Lösungswege Die skizzierten Herausforderungen und dadurch bedingten parlamentarischen Problemlagen bedürfen verfassungsrechtlich begründeter Antworten. Denn die Betonung des exekutiven Handlungsspielraums in der Außenpolitik und seines Eigenwerts kann keine hinreichende Lösung der Legitimationsanfragen durch internationale Regelgebung, gar auf der Basis vorläufig angewendeter Verträge, sein. Der exekutive Handlungsspielraum findet gerade seine Grenze in den verfassungsrechtlichen Sicherungen parlamentarischer Funktionen. Diese Funktionen umfassen Herstellung von und Information der Öffentlichkeit und Sicherstellung von Kontrolle über die Exekutive. Internationale Regelgebung bedarf daher nicht weniger, sondern mehr parlamentarischer Begleitung. Da demokratische Legitimationsanforderungen bei in internationalen Strukturen getroffenen Entscheidungen nicht mit gleicher Dichte eingefordert werden können wie bei innerstaatlichen Vorgängen89, muss der Verlust originärer parlamentarischer Entscheidungsspielräume durch Präformierung gesetzlicher Inhalte infolge internationaler Vorgaben auf andere Weise kompensiert werden, nämlich durch eine Verstärkung anderer parlamentarischer Funktionen.90
88 Dazu A. Quast Mertsch, in: M. Fitzmaurice/P. Merkouris (Hrsg.), The Interpretation and Application of the European Convention of Human Rights, 2013, S. 33 (53 f., 57, 68). 89 BVerfGE 63, 343 (370) verweist mit Recht darauf, dass die Anforderungen des Demokratieprinzips aus Art. 20 GG bei Auslandssachverhalten infolge der verfassungsrechtlich vorgesehenen Eingliederung der Bundesrepublik in die „Völkerrechtsordnung der Staatengesellschaft“ durch die Präambel und Art. 24 ff. GG im Lichte dieser Einordnung und damit modifiziert zu sehen sind. 90 Für den Kompensationsgedanken vgl. bereits U. Fastenrath, Kompetenzverteilung, 1986, 233; s. auch W. Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, 3. Aufl. 2015, Art. 59, Rn. 38.
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1. Ausbau parlamentarischer Kontroll- und Informationsrechte Das erfordert mehr und rechtzeitige Information des Gesetzgebers durch die Bundesregierung, um dadurch eine bessere Begleitung, Öffentlichkeit und Kontrolle der internationalen Regelgebung sicherzustellen, und dies effektiv und damit nicht nur ex post. Rechtzeitige Informations- und Kontrollrechte des Bundestags sind dementsprechend auszubauen.91 Die Bundesregierung sollte verpflichtet werden, vereinfachte Vertragsänderungen, internationale Regulierung und ihre Mitwirkung hieran wie auch die vorläufige Anwendung völkerrechtlicher Verträge zum Gegenstand fortlaufender Berichte an den Bundestag zu machen. Wie umfassend die Einbeziehung eines Parlamentes in völkerrechtliche Verhandlungen aussehen kann, zeigt das Europäische Parlament. Das primärrechtlich verankerte fortlaufende Informationsrecht nach Art. 218 X AEUV bezieht sich bereits auf die Verhandlungsleitlinien. Insoweit kann das Europäische Parlament den Rat ersuchen, die Aufnahme von Verhandlungen nicht zu genehmigen, bis die Stellungnahme des Europäischen Parlaments hierzu vorliegt. Die frühzeitige Unterrichtung ermöglicht dem Europäischen Parlament, eigene Standpunkte zu formulieren, denen Rechnung zu tragen die Kommission verpflichtet ist. Gegebenenfalls muss die Kommission begründen, warum dem nicht Rechnung getragen werden konnte.92 Diese Informationsrechte tragen dazu bei, dass das Europäische Parlament nicht zuletzt im Hinblick auf sein Zustimmungsrecht, intensiv auf internationale Verhandlungen Einfluss nimmt und auf diese Weise zur stärkeren demokratischen Rückbindung der Abkommen der EU beiträgt.93 Es ist Teil der Erfolgsgeschichte des Parlamentarismus in Europa, dass diese Regeln die Stellung des Europäischen Parlaments in den auswärtigen Angelegenheiten stärken und dem Bundestag als Vorbild für die verfassungsrechtlich abgestützte Konkretisierung seiner Position im Auswärtigen gegenüber der Bundesregierung dienen können. Die Kontrollmöglichkeiten müssen dem Bundestag die Möglichkeit gewähren, der Bundesregierung Maßgaben für ihre Mitwirkung bei vereinfachten Vertragsänderungen und in internationalen Regelsetzungsgremien aufzugeben und sie zur Beendigung der vorläufigen Anwendung völkerrechtlicher Verträge verpflichten zu können94, entgegen der bisher herrschenden Ansicht, die dem Bundestag insoweit keinerlei Initiativrecht einräumt.95 Die Beschränkung der Regierung, auf Vgl. auch Osterloh (Fn. 44), 148 ff. näher zu den Rechten des EP die Rahmenvereinbarung zwischen Kommission und EP, ABl. 2010 Nr. L 304/47, Tz 23 ff. und deren Anhang III, und Art. 108 der Geschäftsordnung des EP. 93 Vgl. zur starken Rolle des Europäischen Parlamentes in den EU Außenbeziehungen zuletzt K. Meissner, European Foreign Affairs Review 2016, 269 ff. 94 Für die Forderung nach Berichtspflichten und Beendigungsansprüchen bei vorläufiger Anwendung auch Kleinlein, JZ 2017, 377 (385). 95 Diese Frage ist zu unterscheiden von einem bislang gleichfalls abgelehnten Initiativrecht des Bundestags auf Beteiligung an völkerrechtlichen Abkommen; dazu G. Ress, in: FS Döhring, 1989, 803 (820 f.). 91
92 Vgl.
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internationaler Ebene vorläufige Anwendungen von völkerrechtlichen Verträgen – ohne vorherige parlamentarische Zustimmung gemäß Art. 59 II GG – nur begrenzt auf nicht gesetzesakzessorische Bereiche herbeizuführen (dazu bereits oben II.2.b) bb)), sollte ausdrücklich geregelt werden. Gleiches gilt für den Umgang der Bundesregierung mit vereinfachten Vertragsänderungsmechanismen und den Einbezug des Bundestags insoweit (dazu oben II. 2. a)). Alles dies sollte durch entsprechende gesetzliche Bestimmungen explizit festgelegt werden, die diese Rechte des Bundestags der Bundesregierung gegenüber verankern und auf diese Weise ein den Wandlungen völkerrechtlicher Rechtsentstehung in der Globalisierung adäquates Verfahrensregelwerk errichten.96 Die – noch dazu verfassungsrechtlich inakkurate – Regelung wie bei der Praxis zur vorläufigen Anwendung oder zur vereinfachten Vertragsanpassung nur in den Richtlinien des Auswärtigen Amtes, gestützt auf die Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien, genügt den Anforderungen an die rechtssichere und präzise Regelung verfassungsrechtlich abgesicherter Rechte des Parlaments nicht. Rechtssicherheit bedarf es auch für die Frage, wann die Gründung einer Internationalen Organisation die Anforderungen des Art. 59 II GG erfüllt. Daneben werden Vorschläge formuliert, im Rahmen post-parlamentarischer Argumentationsstrukturen97 die Transparenz und Partizipation der Zivilgesellschaft an der internationalen Regelgebung zu erhöhen.98 Solche Mechanismen können angesichts der verfassungsrechtlichen Anforderungen in Art. 59 II GG und Art. 24 I GG nur kompensierende Legitimationsbeiträge anbieten, nicht aber die parlamentarische Legitimationsanforderung vollständig ersetzen.99 Ferner sind solche Strukturen sinnvollerweise auf der internationalen Ebene anzusiedeln, also als legitimatorische Anforderungen an die Regelerstellung im Rahmen der internationalen Organisationen oder Gremien zu realisieren.100 Auf der nationalen Ebene würden sie ohnehin zu spät eingreifen. 96 Für die Forderung nach expliziter Regelung vgl. auch Poscher, VVDStRL 67 (2008), 160 (189 f.); S. Kadelbach, Die parlamentarische Kontrolle des Regierungshandels bei der Beschlußfassung in internationalen Organisationen, in: Geiger (Hrsg.), Neuere Probleme der parlamentarischen Legitimation im Bereich der auswärtigen Gewalt, 2003, S. 40 (53 ff.). Ähnlich, mit Verweis auf die parlamentarischen Rückkopplungsmechanismen in EU-Belangen nach Art. 23 Abs. 2 bis 7 GG, C.-D. Classen, Demokratische Legitimation im offenen Rechtstaat, 2009, 117. 97 Dazu Kluth, in: Kluth/Krings (Hrsg.), Gesetzgebung, 2014, § 21, Rn. 3. 98 Vgl. etwa M. Ruffert, Die Globalisierung als Herausforderung an das Öffentliche Recht, 2004, 63. Zum legitimatorischen Beitrag von Transparenz und Partizipation in der EU vgl. BVerfGE 123, 267 (377 f.). 99 Vgl. BVerfGE 123, 267 (369, Rn. 272). 100 Zu entsprechenden Vorschlägen und Anforderungen an eine stärkere Legitimation internationaler Regelgebung durch transparente Annahmeverfahren, unparteiliche Deliberation, Einbezug aller relevanten Interessen und Sicherungen gegen einseitige Einflussnahmen durch machtvolle Interessengruppen s. R. Howse, „A New Device for Creating International Legal Normativity: The WTO Technical Barriers to Trade Agreement and
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2. Ausbau parlamentarischer Mitwirkungsrechte? Dass die Stellung des Europäischen Parlaments in den Außenbeziehungen dem Bundestag als Vorbild dienen kann, wurde bereits erwähnt. Neben dem umfangreichen Informationsrecht stehen dem Europäischen Parlament auch gewisse Mitwirkungsmöglichkeiten offen. So besteht die Möglichkeit, dass das Europäische Parlament einige seiner Mitglieder als Beobachter zu internationalen Konferenzen entsendet oder dass einige Mitglieder als Beobachter in multilateralen Gremien teilnehmen, die Entscheidungen treffen, deren Umsetzung einen Legislativakt erfordert. Dies könnte für den Bundestag dann eine entsprechend ausgestaltete Teilhabe an internationalem Verhandlungsgeschehen und an der Entscheidungsfindung auf völkerrechtlicher Ebene bedeuten, sofern es dabei um Regelgebung geht oder um Entscheidungen, die gesetzgeberische Umsetzungserfordernisse auslösen. Eine solche Möglichkeit des Parlamentes würde die unmittelbare Informationsgewinnung unterstützen, könnte darüber hinaus aber auch Mechanismus einer indirekten Mitwirkung an der internationalen Entscheidungsfindung sein. Die Parlamentsvertreter würden als reine Beobachter nicht selbst unmittelbar am Entscheidungsprozess teilhaben. Allerdings könnten sie durch ihre Präsenz vor Ort die Entscheidungsfindungen in den Gremien dadurch beeinflussen, dass sie direkt auf die deutschen Regierungsvertreter einwirken. Das Demokratieprinzip des Grundgesetzes schließt das nicht aus, die effektive Sicherung der parlamentarischen Rechte aus Art. 59 II GG und Art. 24 GG dürfte dies angesichts der Realitäten internationaler Entscheidungsfindung erfordern; zumindest legt sie dies nahe.
,International Standards‘“, in: Joerges/Petersmann (eds), Constitutionalism, Multilevel Trade Governance and Social Regulation, 2006, 383 (385 – 387); J. Peel, Risk Regulation in International Trade, 2010, 375; J. Scott, „International Trade and Environmental Governance: Relating Rules (and Standards) in the EU and the WTO“, EJIL 2004, 307 (331 – 333). Solche Forderungen finden zunehmend auch Eingang in die WTO-Jurisdiktion, vgl. Appellate Body, WT/DS381/AB/R, para. 384 – US – Tuna (Mexico): „We agree with the United States that an international standardizing body must not privilege any particular interests in the development of international standards. In this respect, we note that the TBT Committee Decision states, under the heading ,Impartiality and Consensus‘, that: All relevant bodies of WTO Members should be provided with meaningful opportunities to contribute to the elaboration of an international standard so that the standard development process will not give privilege to, or favour the interests of, a particular supplier/s, country/ies or region“. Einige internationale Standardsetzungsorganisationen haben ihre internen Mechanismen bereits nachgebessert, D. A. Motaal, „The Multilateral Scientific Consensus and the World Trade Organization“, JWT 2004, 855 (866) bzgl der International Plant Protection Convention, ebda. 867 f. bzgl. der Codex Alimentarius Kommission. Die WTO Mitglieder werden in Art. 2.6, 9 TBT Übereinkommen, Art. 3.4 SPS Übereinkommen demgemäß zur aktiven Mitwirkung in internationalen Regelungsgremien aufgefordert.
Identität, Souveränität und Parlament beim Brexit Von Susan Harris-Huemmert Identität, Souveränität und Parlament beim Brexit Susan Harris-Huemmert
Als die Bevölkerung Großbritanniens am Morgen des 25. Juni 2016 das knappe Ergebnis des Referendums zum Thema Austritt aus der Europäischen Union, hiernach ‚Brexit‘ genannt, zur Kenntnis nahm, gingen Schockwellen durch das ganze Land. Diejenigen, die für den Austritt gestimmt hatten (knapp 52 % der Wahlberechtigten), jubelten, denn sie gingen davon aus, damit Kontrolle zurückzuerobern, oder mehr Macht für Großbritannien und wieder mehr Souveränität für das eigene Land zu erhalten, so zumindest laut Aussagen der „Leave“-Befürwörter, darunter insbesondere Nigel Farage von der UKIP Partei und Boris Johnson von den Konservativen (Tories). Doch für diejenigen, die für ein Verbleib in der EU gestimmt hatten (immerhin 48 %), bedeutete das Wahlergebnis nichts weniger als eine Katastrophe, denn für sie war Großbritannien lange und selbstverständlich in der EU-Familie fest eingebettet. Sowohl politisch als auch emotional ist seit dem Referendum in Großbritannien viel geschehen. Das Ergebnis der vorgezogenen Wahlen im Juni 2017 zeigte überraschend, dass Premierministerin Theresa May nicht in ihrer Politik bestärkt werden konnte, wie von ihr erwartet, sondern im Gegenteil deutlich geschwächt aus der Wahl hervorging. Als Hardlinerin strebt sie den sog. ‚hard‘ Brexit an, d.h. einen vollständigen Austritt aus dem europäischen Binnenmarkt, wobei diese politische Linie nicht Bestandteil der ursprünglichen Referendum-Kampagne war, sondern erst später zu einem Element der politischen Diskussion der Tory Partei wurde, als May und ihre Regierung sich zur Vorgehensweise nach Brexit erstmalig konkret äußerten (Januar 2017). In diesem Beitrag, der vorwiegend sozialwissenschaftlich, aber auch geschichtlich geprägt ist, werde ich zunächst auf das Kulturerbe Großbritanniens eingehen, seine Geschichte, sowie sein Selbstwertgefühl und den Habitus, denn ohne diese Punkte, sowie die geschichtlichen Entwicklungen des Landes insbesondere seit dem Zweiten Weltkrieg in Betracht zu ziehen, sind die politischen Ereignissen der jüngsten Vergangenheit nicht gut zu verstehen. Der Beitrag wird aus deutschbritischer Sicht geschrieben, denn ich bin Anfang der 1960ern in Großbritannien geboren und dort aufgewachsen, als Kind einer deutschen Mutter und eines englischen Vaters, welches darüber hinaus die Hälfte seines Lebens in jeweils beiden Ländern verbrachte und daher mit beiden Kulturen gut vertraut ist. Es erscheint mir notwendig, insbesondere auf die letzten fünfzig Jahre rückblickend einzugehen, bevor ein Versuch gestartet werden kann, zu erklären, welche Aspekte für das Verhalten des britischen Volkes beim Brexit-Referendum zu Grunde lagen und was im britischen Parlament seitdem geschehen ist.
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I. Die letzten fünfzig Jahre: Identitätsverlust und Umstrukturierungen Besucht man die ‚Last Night of the Proms‘ in der altehrwürdigen Royal Albert Hall in London, so könnte man glauben, dass Großbritannien die Weltmeere noch beherrscht, denn das Lied Rule Britannia! wird jedes Jahr voller Inbrunst gesungen: „Rule, Britannia! Britannia rule the waves, Britons never, never, never shall be slaves“. Es werden Union-Jack Flaggen geschwenkt und stolz die britische Brust nach außen gekehrt. Die Briten sollen nie bezwungen werden, so heißt es. Dieser Satz ist kennzeichnend für ein Inselvolk, welches seit der Eroberung durch die Normannen in 1066 tatsächlich nicht mehr durch fremde Mächte eingenommen wurde. Großbritannien erlangte über Jahrhunderte eine wichtige internationale Position und entwickelte sich zudem durch die Kolonisierung anderer Länder im Rahmen des britischen Empires zu einer Weltmacht (Armitage, 2000). In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zählten nicht nur die Länder Schottland, Wales und Irland zum Britischen Empire, sondern auch mehrere Inseln der Karibik und die Kolonien in Nordamerika. Nach der Schlacht von Plassey 1757 kam später Indien hinzu. Obwohl die Ländereien Nordamerikas wieder aufgegeben wurden, waren die Restlichen des Empires weit umfassend. Allerdings lässt sich konstatieren, dass einige Teile des Empires durch militärische Eroberung, Unterjochung von Naturvölkern, ökonomischer Ausbeutung und territorialer Expansion erlangt wurden, die nicht unbedingt mit liberalen Werten oder fairem Gesetz kompatibel waren (vgl. Armitage, 2000, S. 3). Diese negativen Aspekte des Handelns, bzw. deren Unrechtmäßigkeit, sind bis heute von der britischen Gesellschaft nicht gut aufgearbeitet worden, wobei man hier mehr von der Unrechtmäßigkeit des englischen Handelns sprechen soll, denn die meisten Entscheidungen bezüglich des Empires wurden schließlich in Westminster, London, getroffen. Hier erkennt man eine gewisse nationale Amnesie, denn die riesige Expansion des Empires und damit einhergehende Aktivitäten wurden daheim nicht sonderlich stark wahrgenommen: „We seem, as it were, to have conquered and peopled half the world in a fit of absence of mind“ (Seeley, 1883/2010, S. 12). Es wurde in der Gesellschaft folglich nicht hinterfragt, wie es realiter zu diesen Ländereien und Einverleibungen kam. Großbritannien blieb jedenfalls seit dem Mittelalter eine starke Seenation, die jederzeit und überall auf den Meeren zu Hause war. Die Industrierevolution, gekoppelt mit Reichtümern aus Übersee, machte die Insel zu einer Schaltzentrale der Welt mit entsprechender Macht. Großbritannien war, gefördert durch die Politiker, im 18. Jahrhundert ein Nährboden für Kreativität und Unternehmertum und die Politik war diesem auch förderlich (Mokyr, 2010). Es gab viele Industriezweige, darunter Schiffsbau (z.B. Liverpool), Keramik und Porzellanmanufaktur (Stoke), Metallverarbeitung (Sheffield), und Baumwolle (Manchester), um nur einige zu nennen. Allerdings bauten diese auf die Mitwirkung der Arbeiterklasse, die unter sehr ungünstigen (und teilweise unwürdigen) Konditionen arbeiten musste. Erst im 20. Jahrhundert wurden durch die Gewerkschaften bessere Konditionen für die Arbeiter geschaffen. Dennoch war der kulturelle Zusammenhalt unter den verschiedenen Industriezweigen stark ausgeprägt.
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Zu Empire-Zeiten verfügte Großbritannien jedenfalls über große Teile der Erde, inklusive deren Reichtümern. Im Zusammenhang mit dem Sieg in zwei Weltkriegen ist es nicht verwunderlich, dass in der Seele des Landes ein gewisses Dominanzgefühl bei Führungskräften zu verspüren war, selbst wenn das aus heutiger Sicht nicht mehr berechtigt erscheint. Indien, das Land, welches lange als Kronjuwel des britischen Empires galt, erhielt schon 1947 seine Unabhängigkeit, wie auch viele weitere Nationen, die jedoch im Commonwealth verortet blieben. Doch bis heute pflegen manche Teile der Gesellschaft Großbritanniens, insbesondere in England, eine selbstgegebene Art Leitungsattitüde (Miller, 1995), die sich teilweise in den Beziehungen zu den anderen europäischen Ländern zeigt, insbesondere durch den „Britischen Sonderweg“ bei EU-Verhandlungen.1 Mit dem Verlust von Empire wurde es aber notwendig, diese Haltung zu hinterfragen, denn viele der bereits o.g. Industriezweige, die den Briten Arbeit und Stolz geschenkt hatten, wurden in den Jahrzehnten unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg entweder massiv verkleinert oder sogar zum Erliegen gebracht. Zivilunruhen folgten mit Massenstreiks und dem sogenannten ‚Winter of Discontent‘ in 1979 (Rodgers, 1984). Große Bevölkerungsabschnitte, die früher von einem Industriezweig lebten (z.B. Bergbau, Baumwollverarbeitung) fanden sich nun arbeitslos und mit geringen Chancen auf alternative Beschäftigungsformen. Das Problem ist zwar auch in anderen Industrienationen bekannt, doch im Zusammenhang mit einer starken Identität und Landesstolz, war dieser Verlust in Großbritannien besonders schmerzvoll. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen in den 1950ern zudem viele Einwanderer aus den Commonwealth-Ländern nach Großbritannien, wie zum Beispiel aus der Karibik, Pakistan oder Indien, um dort Arbeit zu suchen. Die Commonwealth-Einwanderer wurden trotz unterschiedlicher Hautfarbe, Ursprungsland und gelegentlichen gesellschaftlichen Problemen von der Bevölkerung akzeptiert, denn schließlich hatten sie die Berechtigung in Großbritannien zu wohnen und zu arbeiten. Sie trugen zum Aufbau des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg bei und übernahmen Arbeiten, die die Briten selber gerne abgaben (z.B. Reinigungsarbeiten usw.) (Ford, 2011). Unter der Regierung von Premierministerin Margaret Thatcher und dem Deckmantel des Neo-Liberalismus gab es besonders starke gesellschaftlichen Veränderungen und einen Aufschwung in Großbritannien (Peck/Tickell, 2007), denn Thatcher hatte in ihrem Manifesto 1979 eindeutig darauf hingewiesen, wie sehr Großbritannien zurückgefallen war und wie sich das Land die Stärke der Vergangenheit zurückerobern sollte (Thatcher, 1979). Das Finanzzentrum Londons wurde deutlich robuster und viele Industriezweige, die über Jahrhunderte existiert hatten und unter Labour Regierungen mehr sozialistisch und national geführt wurden, wurden durch Privatisierung teilweise besser oder aber erlitten deutliche Einbrüche (z.B. Bergbau in Walisen oder Yorkshire; Schiffbau in Liverpool und Hull). 1 Siehe Anhang 2 www.bund-europa-ausschuss.bremen.de/.../TOP_I.7_Anhang_2_ Der_ britische_Sond... für chronologische Zusammenfassung des britischen Sonderweges seit 1960.
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20 unrentable Minen wurden alleine im Jahr 1984 geschlossen, was für Großdemonstrationen sorgte (Coal Authority). Die Fertigungswirtschaft verzeichnete große Einbußen und die Arbeitslosenquote stieg entsprechend. Ganze Landstriche, bzw. deren Identität, mussten neu erfunden werden (z.B. Manchester als ehemalige Zentrale der Baumwollverarbeitung). Ein Prozess, welcher nicht schnell vonstatten ging, denn es gab nicht genug Umschulungen oder Arbeitsmöglichkeiten, um alle Arbeitslosen gleich in neuen Tätigkeitsfeldern unterzubringen. Die Privatisierung einiger bislang staatlichen Einrichtungen (z.B. Stahlbau, Wasserindustrie und British Telecom) änderte die ökonomische Sichtweise und Ausrichtung der Nation. Manager konnten z.B. ihre Arbeit freier nachgehen, da sie nicht durch nationalisierte Regeln eingeengt waren. Der Anstieg an Privatisierung führte aber auch zum Verlust von liebgewonnenen Strukturen und Sicherheiten. Einerseits war mehr Energie im Land zu spüren, doch in anderen Teilen der Gesellschaft merkte man, dass man abgehängt wurde. Großbritannien war bereits der EU 1972 beigetreten und obwohl Premierministerin Thatcher in ihrer Amtszeit nicht mit allen Entscheidungen in Brüssel zufrieden war, wusste sie, dass mehr gemeinsam erreicht werden könne als getrennt von der EU (Thatcher, 1979)2. Sie unterschrieb z.B. den Single European Act in 1986, um den Handel innerhalb der EU-Länder zu vereinfachen. Allerdings blieb sie gegenüber Brüssel insofern skeptisch, denn Deutschland sollte keine neue ‚Übermacht‘ bekommen, und durch französisch-deutsche Handelsverträge sah man aus britischer Sicht die Gefahr, dass Deutschland wieder zu stark werden könnte. Die zwei verheerenden Weltkriege hatten tiefe Narben in der britischen Gesellschaft hinterlassen, die man nicht so schnell beseitigen konnte. Die Thatcherjahren änderten jedenfalls die britische Gesellschaft fundamental und die Auswirkungen dieser Regierungszeit sind bis heute noch spürbar, denn sie gaben dem Land trotz strukturellen Änderungen letztendlich mehr Selbstwertgefühl zurück. Im folgenden Teil des Beitrages wird der Blick nun auf die geschichtlichen Hintergründe des parlamentarischen Handelns in Großbritannien gerichtet, denn die Idee von Souveränität in Großbritannien ist eng mit der Monarchie und parlamentarische Entwicklung des Landes verbunden. Wichtige Elemente daraus sind für ein Verständnis des Handelns nach dem Brexit Referendum zu erkennen.
II. Britisches Parlament und Souveränität: Vergangenheit und Gegenwart Wie in vielen anderen Teilen Europas hat es in England (später Großbritannien) Könige gegeben, die über Ländereien und Macht verfügten. Das Magnum Concilium wurde unter den Normannen eingerichtet, um den König von England (hier: 2 Siehe Thatcher, M. (1979): „If we wish to play our full part in shaping world events over the next few critical years, we must also work honestly and genuinely with our partners in the European Community. There is much that we can achieve together, much more than we can achieve alone.“ Conservative Party Manifesto 1979.
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William of Normandy) zu beraten. Landpächter durften dem König genauso wie Kleriker beraten. Im Jahr 1215 wurden erstmalig die Befugnisse des Königs durch revoltierende Adelige eingeschränkt und die Rechte der Bürger im sog. Magna Carta festgehalten. Das Konzil verwandelte sich allmählich in ein Parlament. Allerdings sollte es noch lange dauern, bis sich das Regierungssystem verfestigte. In dem sog. Bill of Rights aus dem Jahr 16893 hat man sich erneut mit der Thematik königliche Macht befasst, denn König Jakob II von England wollte für die Katholiken, wie er selbst einer war, die gleichen Rechte wie für Protestanten durchsetzen, und wurde daraufhin durch den protestantischen König William of Orange ins Exil vertrieben: „Wenn die königliche Hoheit Gesetze aufhält oder ohne die Zustimmung des Parlaments durchsetzt, handelt diese illegal.“ Alleine durfte nun kein Monarch handeln. Das britische Parlament wurde über Jahrhunderte als Mutter aller Parlamente bezeichnet. Dicey, ein renommierter Konstitutionsforscher Anfang des 20. Jahrhunderts, beschrieb die Konstitution des Vereinigten Königreiches als flexibelste bestehende Regierungsform: „the most flexible polity in existence“4. Allerdings steht diese Konstitution nirgendwo geschrieben und befindet sich laufend im Wandel, denn sie besteht aus den „Acts of Parliament“, die zu jeder Zeit ausgesprochen werden können. Um ein Mitglied des Parlaments zu werden, bewirbt man sich direkt beim Volk für einen Wahlkreis, meistens während der Volksabstimmungen. MPs werden durch Direktmandat gewählt und sitzen dann im House of Commons (Unterhaus). Das Volk erhebt folglich einzelne MPs ins Amt und überträgt ihnen damit die Entscheidungsmacht für sie zu entscheiden. MP kann jede Person werden, sobald diese die einfache Mehrheit bei einer Wahl erhält („first past the post“). MPs sind volksnah und halten wöchentlich sog. ‚surgeries‘ in ihren Wahlkreisen. Jeden Mittwoch reisen viele von ihnen aus den Wahlkreisen nach London, um im Parlament an der Fragerunde des Premierministers teilzunehmen. Dort muss der Premier während der Legislaturperiode jede Woche Rede und Antwort zu den unterschiedlichsten Fragen stehen, die ihm vorher nicht bekanntgegeben werden. Die Regierung setzt sich nach einer Volkswahl aus der Mehrheit der Sitze im Unterhaus zusammen, in der Regel eine Partei, derzeit vorwiegend die Konservativen (Tories) oder die Labour Party, auf sich vereint. Minister werden vom Vorsitzenden einer Partei ernannt. Der zweite Kammer, the House of Lords (Oberhaus), wurde früher nur durch adelige Mitglieder besetzt und hat seit dem Mittelalter lediglich eine Aufsichtsfunktion. Seit dem House of Lords Act 1999 dürfen nur noch 92 sog. hereditary peers im Oberhaus tagen (Erbadel). Andere Lords werden nun von der Königin 3 Das Originaldokument ist einlesbar über http://www.legislation.gov.uk/aep/WillandMarSess2/1/2/introduction. 17. 07. 2017. Das englische Zitat lautet wie folgt: „the pretended power of suspending of laws or the execution of laws by regall authority without consent of Parlyament is illegall“. 4 Dicey, A. (1915): Introduction to the Study of the Law of the Constitution (8th ed, 1915), S. 87.
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oder vom Premierminister geadelt und ins Amt erhoben. Ihre Titel dürfen jedoch nicht übertragen werden. Alle Gesetzesentwürfe müssen über beide Kammern laufen und vom jeweiligen Monarchen unterschrieben werden. Dieses System zeichnet die parlamentarische Souveränität aus. Ist das Parlament souverän, hat es „das Recht, Gesetze zu schreiben oder zu verwerfen. Darüber hinaus gilt: Kein Mensch oder Organ hat gesetzesgemäß das Recht eine Legislative des Parlaments zu überstimmen oder zu missachten“.5 Als Tony Blair (Labour) sein Amt als Premierminister 1994 antrat, wollte er umgehend eines seiner wichtigsten Wahlversprechen einlösen, um Schottland und Wales mehr Selbstbestimmung zu gewährleisten. Nach einem Referendum im Jahr 1997 entschieden die Schotten und Waliser dafür, eigene Parlamente (Scottish Parliament und Welsh National Assembly) zu gründen. Sie erhielten hiermit erneut ein Teil ihrer Souveränität zurück, um ihre eigenen Interessen näher zu verfolgen. Nach dem Belfast Agreement von 1998 folgte auch in Nordirland die Gründung des Northern Ireland Assembly, um die verfeindeten Fronten der Nationalists (Katholiken) und Unionists (Protestanten) zu versöhnen, indem die Macht im Assembly zwischen ihnen aufgeteilt wurde. Einzig England hat bis heute kein eigenes Parlament, denn englische Belange werden automatisch in Westminster debattiert und entschieden, obwohl Winston Churchill die Idee eines englischen Parlaments bereits 1912 in einer Rede vorgeschlagen hatte.6 In Oktober 2009 wurde unter dem Nachfolger Blairs, Gordon Brown (Labour), das sog. Supreme Court als höchstes Gericht eingerichtet. Es besteht aus zwölf Richtern, die explizit nicht mehr Teil der Regierung und des Parlaments sind, wie es vorher der Fall war, als noch die sog. Law-Lords im Oberhaus über konstitutionelle Fragen tagten. Der Supreme Court ist nun Großbritanniens letzte Instanz für Kläger und steht an der Spitze der Legislative. Er dient als Aufsicht sowohl über die Legislative als auch die Exekutive (Masterman/Murkens, 2013, S. 3). Die drei Bereiche Legislative, Exekutive und Judikative sind heute wie folgt aufgestellt: Legislative Exekutive Judikative
(zwei Kammern des Parlaments – Lords & Commons) (Minister & Regierung allgemein) (Richter)
Großbritannien befindet sich seit dem Brexit-Referendum im Juni 2016 in einer noch nie dagewesenen Lage, denn in der Geschichte der EU ist noch kein Mitglied ausgetreten. Die bisherigen politischen Gegebenheiten scheinen ausgehebelt zu sein und die Parteien wissen nicht genau, wie sie mit dem Ergebnis oder den Konsequenzen daraus umgehen sollen, obwohl Art. 50 zum EU-Austritt inzwischen unterschrieben wurde und der Weg an und für sich zum Austritt Großbritanniens klar erscheint. 5 Dicey, A. (1915): „the right to make or unmake any law whatsoever; and further, no person or body is recognised by the law as having a right to override or set aside the legislation of Parliament“. S. 38. 6 „Local Parliaments For England. Mr. Churchill’s Outline Of A Federal System, Ten Or Twelve Legislatures“. The Times. 13 September 1912. p.4. Siehe http://archive.spectator.co.uk/ article/14th-september-1912/2/mr-winston-churchills-speech-at-dundee-on-wednesday
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III. Brexit und das Parlament: die ersten Folgen Nun wenden wir uns Juni 2016 zu. Die britische Bevölkerung wurde im einem Wahlversprechen von David Cameron (Conservative) durch den European Union Referendum Act 20157 am 23. Juni 2016 aufgefordert, eine schlichte, doch bedeutsame Frage zu beantworten. Eine Frage, die vom Parlament im Vorfeld mehrfach beraten, schließlich genehmigt, und von der Königin unterzeichnet wirde: „Soll das Vereinigte Königreich Mitglied der EU bleiben oder soll es die EU verlassen?“ Analog zur Wahl von MPs folgt man auch in Volksabstimmungen dem Prinzip: „Die einfache Mehrheit entscheidet“. Gemäß dem System „the winner takes all“ wurden die Ergebnisse aus allen 650 Wahlbezirken gezählt und diese waren in vielen Beispielen äußerst knapp. Im schottischen Wahlkreis Moray wollten z.B. nur 122 Personen über die 50 % Hürde von insgesamt 48.106 Stimmen in der EU bleiben, während im englischen Wahlkreis Reigate and Bansted hingegen von insgesamt 81.161 Personen nur 799 über die 50 % Hürde für den Austritt stimmten. Obwohl andere Wahlkreisentscheidungen etwas deutlicher waren, hätte in allen Fällen eine einzige Stimme das Ergebnis bestimmen können. Schon vor dem EU-Referendum fragten sich viele Bürger, ob dieses Wahlsystem noch zeitgemäß ist, da andere, vielleicht auch stark vertretene Meinungen nicht berücksichtigt werden. Hier genügt das Beispiel Schottlands, in dem große Teile der Bevölkerung für einen Verbleib in der EU gestimmt haben, aber aufgrund des Gesamtergebnisses des Referendums nun einem EU-Austritt entgegenblicken müssen. Seit der Volksabstimmung wurde in Großbritannien und im Parlament darüber debattiert, inwieweit das Ergebnis rechtsbindend sei. Rechtsbindend war lediglich die Durchführung der Volksabstimmung. Da die Regierung jedoch im Vorfeld zur Volksabstimmung alle Haushalte mit Zetteln benachrichtigt hatte, auf denen zu lesen war, dass die Regierung das Ergebnis implementieren würde, sah man sich verpflichtet, das Ergebnis umzusetzen. In einer parlamentarischen Demokratie überträgt das Volk seinem Mandat an Vertretern, hier: die MPs. Beim Brexit-Referendum stimmten 24 Kabinettsmitgliedern für einen Verbleib in der EU und sechs für den Austritt. Dieses Ergebnis spiegelt auch die Mehrheit aller MPs wider, da 480 für einen Verbleib, 159 für einen Austritt stimmten und sich 11 enthielten (Quelle: Press Association). Anders stimmten jedoch ihre Wahlkreise von denen insbesondere die ländlichen Regionen Englands mit einer durchschnittlich älteren Bevölkerung für den Austritt votierten. Entgegen früherer Meinungen in der Presse, dass junge Wähler und Wählerinnen viel weniger zur Urne traten als die Älteren, stimmten doch ca. 65 % der Jüngeren ab, und hiervon ca. 73 % für ein Verbleib in der EU (Lord Ashcroft Poll 2016). Premierminister Cameron legte sein Amt nach dem Ergebnis nieder und nach der Aufstellung einer neuen, nicht vom Volk gewählten Premierministerin May gingen alle davon aus, dass diese den Brief zur Auslösung von Artikel 50 umge7 Siehe http://www.legislation.gov.uk/ukpga/2015/36/crossheading/the-referendum/en acted für Details.
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hend verfassen und nach Brüssel schicken könnte. Auch May ging davon, dass durch das Ergebnis sie alleine die Legitimation zur Handlung habe. Hier hätte die Regierung nach dem Prinzip des ‚Royal Prerogatives‘ gehandelt, worin festgehalten wird, dass die Regierung in Sachen Außenpolitik ohne Rücksprache mit dem Unter- oder Oberhaus frei handeln darf. Allerdings sah eine private Klägerin Miller das anders. Das Vereinigte Königreich ist ein sog. ‚Common Law‘ Land, d.h. sein Rechtskreis stützt sich sowohl auf Gesetze als auch auf Präzendenzfälle der Vergangenheit (Plunknett, 1956). Der Fall Miller/dos Santos v. Secretary of State for Exiting the European Union ging durch die Instanzen bis hin zum höchsten Gericht, dem Supreme Court, wo die Kernfrage behandelt wurde: „Darf eine offizielle Ankündigung zum Rückzug (Großbritanniens aus der EU) durch Minister rechtens erteilt werden ohne die vorherige Legitimation durch beide Kammern des Parlaments und der Königin?“ In diesem Fall gab es einen rechtlichen Widerspruch. Hätte May den Artikel 50 Brief sofort nach Brüssel geschickt, wäre das europäische Gesetz sofort auf das britische übertragen worden, also auch das internationale auf das inländische Gesetz. Dieser Vorgang, ‚Great Repeal Bill‘ genannt, gründet auf ein Gesetz aus dem Jahr 1972, als Großbritannien der EU beitrat und die europäische Gesetzgebung annahm. Die britische Konstitution sieht zwar vor, dass Minister frei über internationale Abkommen entscheiden dürfen, ohne diese mit dem Parlament abzustimmen, inländische Gesetze dürfen jedoch nur durch Statut geändert werden, die vom Parlament behandelt wurden. Am 24. Januar 2017 verkündete der Supreme Court sein Urteil wie folgt: Es gäbe kein „single coherent code of fundamental law which prevails over all other sources of law“ (Brexit Urteil, S. 15)8. Die Richter erklärten, dass das Parlament (nicht nur die Regierung) über die Auslösung von Art. 50 beraten müsste, und auch, dass das Parlament erneut über das Ergebnis der Brexit-Verhandlungen (hier: deal) beraten und den Deal genehmigen müsse, bevor ein Austritt realiter zustande kommt. Nach der Urteilsverkündung erhielt das Parlament von der Regierung lediglich fünf Tage Beratungszeit, um ein Gesetz zur Auslösung von Art. 50 zu bestimmen. David Lammy (Labour) twitterte verärgert: „2 days to debate 2nd Reading of Brexit Bill shows contempt for Parliamentary sovereignty. Most important decision taken for generations“. Labour schlug sieben Änderungen vor, obwohl die Partei dem Bill grundsätzlich zustimmte. Ein wichtiger Änderungsvorschlag der Labour Partei war, dass das Parlament erneut über den endgültigen Brexit-Deal beraten sollte, bevor Großbritannien aus der EU austritt. Sie sollten ein sog. „meaningful vote“ bekommen. Darüber hinaus sollten die Rechte von EU-Bürger, die in Großbritannien wohnen, gesichert werden. Einige Lords waren auch mit dem ersten Entwurf unzufrieden, so dass es zu einer erneuten Behandlung im Unterhaus kam. Letztlich stimmten jedoch am 13. März 2017 die Lords für die Auslösung von Artikel 50, ohne die Änderungsvorschläge der Labour Partei oder die Bedenken der 8 Den Urteil in voller Länge unter: http://www.telegraph.co.uk/news/2017/01/24/brexit-ruling-supreme-court-judgment-full/.
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Lords zu dem 137-Wort-lautenden Text zu berücksichtigen. Viele MPs stimmten hierbei nun diametral anders ab als bei der persönlichen Abstimmung im Jahr 2016, um nun dem Ergebnis ihrer Wahlkreise zu entsprechen, obwohl sehr bald nach dem Referendum klar wurde, dass die Bevölkerung durch einige Aussagen der Austritt-Kampagne entweder belogen oder zumindest düpiert wurde. Anfang 2017 gab Premierministerin May bekannt, dass sie einen sog. ‚hard‘ Brexit verfolgen möchte, d.h. Großbritannien würde aus dem EU-Binnenmarkt ausscheiden, was kein Bestandteil des Referendums gewesen war. Diese Entscheidung betrifft insbesondere die bislang geltenden EU-Gesetze. Werden diese näher analysiert, so treffen einige nicht auf britische Gegebenheiten zu (z.B. Regulierungen der Tabak- oder Olivenölindustrie, die kein Bestandteil der britischen Industrie sind). Es gibt geschätzt 800 bis 1000 Maßnahmen, die vermutlich notwendig sein werden, bevor der Great Repeal Bill funktionieren kann. So schlägt die Regierung vor, dass sie die Statutbücher selber korrigieren darf, ohne dass diese vom Parlament, wie üblich, beraten werden müssen. Diese Handlungsweise ist jedoch höchst kontrovers und geht auf König Heinrich VIII. zurück, der im sog. Statue of Proclamations 1539 die Macht erhielt, Legislationen durch Proklamation vorzunehmen. Premierministerin May und ihre Minister würden analog hierzu frei handeln, was in der Konstitution nicht vorgesehen ist. Das war mitunter ein Grund, weswegen Premierministerin May eine vorgezogene Parlamentswahl im Juni 2017 anstrebte. Sie ging davon aus, dass, wenn das Volk sie direkt wählen würde, käme dieses einem Mandat für den sog. ‚hard‘ Brexit mit der EU zu verhandeln gleich (hier geht es insbesondere um den Austritt aus dem europäischen Binnenmarkt). Doch das Volk erteilte May diese Zustimmung nicht. Die Premierministerin erlitt herbe Verluste bei der Wahl und ging deutlich geschwächt hervor, welches auf eine ablehnende Haltung gegenüber den Austritt aus dem Binnenmarkt zu verstehen ist. Nach der Parlamentswahl 2017 ging Königin Elizabeth II in der feierlichen Eröffnung des Parlaments am 21. Juni 2017 auf den Great Repeal Bill ein: „A Bill will be introduced to repeal the European Communities Act and provide certainty for individuals and businesses. This will be complemented by legislation to ensure that the United Kingdom makes a success of Brexit, establishing new national policies on immigration, international sanctions, nuclear safeguards, agriculture and fisheries.“9 Doch Sicherheit für Industrien in Großbritannien erscheint derzeit eine Fata Morgana. 17 % weniger Teilzeitkräfte aus den EU-Ländern, die bislang für Erntearbeiten anreisten, sind 2017 ins Land gekommen, da Großbritannien nun immer mehr als ausländerfeindlich empfunden wird (National Farmers Union labour survey 2017). Da Briten nicht deren Arbeiten übernehmen wollen, könnte es künftig zu Engpässen bei Ernten kommen. Es ist zudem völlig unklar, welche wirtschaftlichen Konsequenzen letztendlich aus dem Brexit hervorgehen werden. Über die finanziellen Gesamtkosten des Brexits kann nur gemutmaßt werden, von emo9 Siehe https://hansard.parliament.uk/lords/2017 – 06 – 21/debates/359B47E0-E2CB-41 F8 – 908C-4294844C1518/Queen %E2 %80 %99SSpeech für die ganze Rede der Königin am 21. Juni 2017.
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tionalen Ergebnissen ganz abgesehen. Die Frage, ob man in der EU bleiben will, ist sicherlich für eine Nation wie Großbritannien eine, die man dem Volk durchaus stellen kann. Doch die Bevölkerung verstand nicht, welche Konsequenzen tatsächlich für das Land entstehen würden. Ist es z.B. sicher, dass Großbritannien nach dem Brexit-Deal finanziell besser darstehen wird, als zu Zeiten einer EU-Mitgliedschaft? Kann ein Land heute wirklich jemals überhaupt wieder gänzlich ‚souverän‘ werden, wenn Globalisierung ein Zusammenwirken und Kompromissfindung in sehr vielen Bereichen erforderlich macht?
IV. Zusammenfassung In Bezug auf Europa argumentieren Marcussen et al. (2011), dass für die Briten die parlamentarische Demokratie und externe Souveränität besonders wichtige Werte sind, die die Politik und die Haltung des Landes grundbestimmen. Als Großbritannien der EEC 1973 (European Economic Community) beitrat und 1975 darüber abstimmte, in diesem ‚Klub‘ zu bleiben, war es zwar möglich, die europäischen Gesetze zu lesen, die in Folge für Großbritannien Geltung haben würden, doch der eigentliche Verlust an parlamentarische Souveränität wurde der Nation nicht so deutlich kenntlich gemacht. Die Idee der Souveränität ist, wie zu Beginn dieses Beitrages berichtet, den Briten heilig. Um einem Volk zu verdeutlichen, dass durch den EU-Beitritt es weniger „souverän“ werden würde, gehört politische Courage, da ein ‚Angriff‘ auf die Souveränität des Landes ein Tabu darstellt. Die britischen Politiker haben diese Courage bislang nicht gezeigt. Unter unterschiedlichen Regierungen, ob Tory oder Labour, konnte man über die letzten Jahrzehnte feststellen, dass eine gesamteuroskeptische Haltung in vielen Bereichen vorlag, ob z.B. über den finanziellen Beitrag Großbritanniens (Thatcher), oder ob der Weigerung, der Währungsunion beizutreten (Blair). George (2000, S. 18) hebt besonders die folgenden Gründe für eine euroskeptische Haltung Großbritanniens hervor: • • • •
Vorurteile gegenüber Frankreich und Deutschland, Positive Haltung gegenüber Commonwealth, Festhalten an der ‚besonderen‘ Beziehung zu den Vereinigten Staaten, Festhalten an der nationalen parlamentarischen Souveränität.
Diese Haltungen waren bis unmittelbar vor dem Brexit-Referendum 2016 in der britischen Gesellschaft zu beobachten. Obwohl sich die Haltung gegenüber Deutschland in den letzten Jahren sehr positiv gewandelt hat, herrschte z.B. noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg eine ausgeprägte germanophobe Haltung in der breiten Öffentlichkeit, z. B. zeigte die Presse oder Fernsehsendungen die Deutschen als Nazis (persönliche Erfahrungen). Auch gegenüber Franzosen herrscht nach wie vor so etwas wie eine Hass-Liebe, eine Haltung, die ihre Ursprünge in der Eroberung Englands durch die Normannen findet. Großbritannien erlebte seit den 50er Jahren gesellschaftlich und wirtschaftlich große Veränderungen, die es erforderlich machten, eine neue Identität bzw. Rolle
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zu finden. Der Status quo von vor dem Zweiten Weltkrieg mit Empire und Commonwealth war verändert und das Land hatte nicht die finanziellen Mittel, sich schnell aufzubauen. Es gab Rezessionen, den Verlust von alten Industriezweigen und wenig Aussicht auf neue Arbeit für diejenigen, die ihre Existenzen verloren hatten. Ingelhart/Baker (2000, S. 28) schlussfolgerten lange vor dem Brexit, dass, wenn das Überleben einer Gesellschaft unsicher erscheint, die kulturelle Diversität als bedrohlich empfunden wird. Die Gesellschaft hält dann an Traditionen der Vergangenheit fest, eben um ein Gefühl der Sicherheit zu suchen. Wenn Teile der Bevölkerung darüber hinaus erkennen, dass sie von reicheren Teilen zurückgelassen werden oder sich durch sie nicht vertreten sehen, dann kann das Festhalten an Traditionen oder alten kulturellen Vorstellungen umso attraktiver werden. Diese beiden Punkte traten vor dem Brexit in der britischen Gesellschaft auf: es gab mehr Immigration aus den EU-Ländern, und die Schere zwischen Arm (auf dem Land) und Reich, vorwiegend in der City of London, ging zunehmend und bis heute weiter auseinander. Das British Social Attitudes Survey, das zwischen Juli und Oktober 2016 durchgeführt wurde, bestätigt diese Hypothese. 72 % der Bürger, die sich als sozial-konservativ und ‚autoritär‘ bezeichnen, äußerten Bedenken bezüglich der gesellschaftlichen Konsequenzen einer EU-Mitgliedschaft, wohingegen nur 21 % derer, die sich als freidenkend bezeichnen (Eng: libertarian), eine anti-europäische Haltung pflegen. Auch die Landkarte Großbritanniens mit den Ergebnissen des Referendums (BBC website) zeigt, dass Großstädte, die meistens multikultureller (offener) aufgestellt sind, mehrheitlich für einen Verbleib in der EU stimmten, jedoch ländliche Regionen (konservativere Gegenden), insbesondere die, die Kernindustriezweige in der Vergangenheit verloren hatten, mehrheitlich für einen Austritt stimmten. Die Zerrissenheit in der Bevölkerung gegenüber dem Brexit-Ergebnis dauert in den sozialen Medien und in der öffentlichen Diskussion an. Große Teile der Bevölkerung sehen sich ohnmächtig gegenüber einer Regierung, die anscheinend keinen wirklichen Plan für den Austritt hat. MPs sind zwiegespalten, denn sie erahnen zwar immer mehr, welche Folgen ein Austritt realiter haben wird, doch sie sehen sich gezwungen, die Entscheidung ihrer Wahlkreise zu akzeptieren und dieser zu folgen. Die jüngere Generation ist vermutlich doppelbestraft, denn sie ist die am höchsten verschuldete Generation (z.B. durch Kredite für hohe Studiengebühren einerseits und fast unerschwingliche Hypotheken für den Erwerb eines Eigenheims) und wird die Konsequenzen des Brexits noch lange tragen müssen, obwohl die Mehrheit dieser Generation in der EU bleiben wollte. Viele Studierende, die in diesem Jahr ihren Abschluss machen, wollen Großbritannien zudem den Rücken kehren, um im Ausland eine Karriere oder Existenz aufzubauen, denn sie fühlen sich durch ihre Nation verraten (vgl. Manchester University Graduate Survey 2017). Die Vorgangsweise von Premierministerin May, die die Volksabstimmung in 2017 eigentlich verlor, da sie ohne die Koalition mit der Democratic Unionist Party (DUP) keine Mehrheit hat, ist bedenklich, denn vielfach hat sie versucht über die Köpfe der Parliamentarier Entscheidungen zu treffen, die in Großbritannien
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üblicherweise im Parlament hätten diskutiert werden müssen. Wiederholt wird im Parlament über die Erosion der Demokratie gesprochen, so erneut am 11. September 2017, als die Labour Abgeordnete Smith während der zweiten Anhörung zur European Union (Withdrawal) Bill Folgendes sagte: „Surely, if the Government were genuinely committed to a smooth Brexit that restored total sovereignty to Westminster, they would not have taken such a cavalier approach to this critically important piece of legislation. One can only conclude that the incorporation of significant delegated powers in the Bill, combined with the scope for extensive use of statutory instruments under the negative procedure, demonstrates that the Govern ment are running scared of parliamentary democracy; or rather, that they are so arrogant that they believe that they can impose their will regardless of the opinion of the House.“ Trotz Gegenstimmen hat das Parlament für die weitere Behandlung des European Union (Withdrawal) Bill gestimmt, so dass die nächste Hürde hin zur Vorlage im Oberhaus genommen werden konnte. Nur die Zukunft wird zeigen, inwieweit ein harter Brexit-Kurs der richtige Weg für Großbritannien sein wird, und, ob das Land stärker alleine hervorgeht, oder, ob die Entscheidung, aus der EU auszutreten, ein Fehler von ungeahnten Dimensionen gewesen ist. Die Nation ist nach wie vor auf der Suche einer neuen Identität, die sich in Richtung Populismus gewandelt hat. Doch alleine ist heutzutage keine Nation stark, sondern dies eher mit starken Verbündeten. Dafür muss man seine eigene Identität nicht einbüßen, doch das britische Parlament ist aufgefordert, seiner gesellschaftlichen Rolle erneut zu bedenken, denn es hat bereits ein Teil seiner Souveränität verloren, und das nicht durch fremde Mächte, sondern durch das Handeln seiner Regierung alleine.
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Die Rolle des Parlaments in Italien Von Cristina Fraenkel-Haeberle Die Rolle des Parlaments in Italien Cristina Fraenkel-Haeberle
I. Prämisse Zum korrekten Verständnis der Rolle und der Funktionsweise des italienischen Parlaments ist zunächst ein Blick in die Vergangenheit angebracht. Die italienische Verfassung wurde nach dem 2. Weltkrieg Ende 1947 verabschiedet und trat am 1. Januar 1948 in Kraft. Die verfassungsgebende Versammlung optierte für ein „perfektes Zweikammersystem“ (bicameralismo perfetto), bei dem beide Kammern „funktional“ vollkommen gleichgestellt sind.1 Diese Lösung wird als Ergebnis einer Abmachung zwischen den drei Massenparteien (der christdemokratischen, der sozialistischen und der kommunistischen Partei) bezeichnet, die sich in der verfassungsgebenden Versammlung aufgrund der leidvollen Erfahrungen mit der faschistischen Diktatur und auch wegen des zwischen ihnen herrschenden gegenseitigen Misstrauens auf einen Kompromiss einigten.2 So wurden absichtlich schwache politische Institutionen geschaffen, insbesondere ein schwaches Parlament.3
II. Die Überwindung des „perfekten Zweikammersystems“ Gerade diese Schwäche wollte die von der Regierung Renzi ausgearbeitete Verfassungsreform beseitigen.4 Die parlamentarische Debatte darüber dauerte genau 1 Marcello Cecchetti, Il bicameralismo in Italia: un nodo (ancora) in attesa di soluzione, in Revista General de Derecho Constitucional 24/2017, S. 1 mit Verweis auf Livio Paladin, Tipologia e fondamenti giustificativi del bicameralismo. Il caso italiano, in: Quad. cost., n. 2/1984, S. 227 und Sergio Mattarella, Il bicameralismo, in: Riv. trim. dir. pubbl. 1983, S. 1162; vgl. auch Felice Giuffrè, Riflessioni sulla riforma costituzionale attraverso il prisma della storia repubblicana, in: www.federalismi.it Nr. 12/2016 v. 8. 6. 2016. 2 Diesbezüglich zeichneten sich drei wesentliche Ausrichtungen aus: Die Christdemokraten setzten sich für einen Senat als Vertretung der ökonomischen, sozialen und kulturellen Kräfte ein, der liberal-republikanische Flügel plädierte für eine territorial gegliederte Vertretung, die Linksparteien forderten hingegen einen homogenen Gegenpol zur Abgeordnetenkammer (vgl. Cecchetti (Fn. 1), S. 4). 3 Beniamino Caravita, Italien nach der gescheiterten Verfassungsreform, in: www. federalismi.it Nr. 3/2017 v. 8. 2. 2017, S. 2. 4 Disegno di legge costituzionale N. 2613-D v. 12. 4. 2016 (Disposizioni per il superamento del bicameralismo paritario, la riduzione del numero dei parlamentari, il contenimento dei costi di funzionamento delle istituzioni, la soppressione del CNEL e la revisione del titolo V della parte II della Costituzione), Gazz. Uff. Nr. 88 v. 15. 4. 2016.
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zwei Jahre (von April 2014 bis April 2016) und umfasste drei Lesungen in jeder der beiden Parlamentskammern. Anschließend hat am 4. Dezember 2016 das italienische Volk in einem Referendum über diese Reform abgestimmt. Die Volksabstimmung ist negativ ausgegangen und die Reform ist mit sechzig Prozent Gegenstimmen gescheitert. Es folgte der Rücktritt von Premierminister Renzi und die Bildung einer (Übergangs)Regierung, die bis zu den bevorstehenden politischen Wahlen im Amt bleiben soll.5 Ein Schwerpunkt der Reform war die Rationalisierung der Parlamentstätigkeit, die als schwerfällig und ineffektiv angesehen wird. Eine wesentliche institutionelle Schwäche besteht – wie gesagt – im Aufbau des italienischen Parlaments: Die Verfassungsväter haben eine Volksvertretung geschaffen, die sich aus zwei direktgewählten Kammern zusammensetzt. Diese Lösung wurde gewählt, um eine zu starke Machtkonzentration in den Händen einer einzigen Parlamentskammer zu vermeiden. Nach diesem System verfügen die Abgeordnetenkammer und der Senat über die gleichen Befugnisse. Beide Kammern sprechen der Regierung das Vertrauen aus und haben dieselben Zuständigkeiten im Gesetzgebungsverfahren. Wenn es also funktional keine wesentlichen Unterschiede gibt, so sind „strukturell“ einige Verschiedenheiten festzustellen: Die Abgeordnetenkammer verfügt über 630 Sitze während der Senat 315 Mitglieder zählt. Außerdem sind die Senatoren und ihre Wähler „reifer“: Das aktive Wahlrecht beträgt 40 Jahre, das passive 25 Jahre.6 Dem Senat gehören ferner bis zu fünf nicht gewählte „Senatoren auf Lebenszeit“ (senatori a vita) an, die vom Staatspräsidenten aufgrund außerordentlicher Verdienste ernannt werden können oder davor das Amt des Staatspräsidenten bekleidet haben.7 Die zweite Kammer wird auf „regionaler Basis“ gewählt, ist jedoch keine regionale Vertretung.8 Sie wird nach dem Konzept der geltenden Verfassung als Organ angesehen, in dem die zu treffenden Entscheidungen noch einmal überdacht werden können. Die Verfassung hat auch die Regionen eingeführt. Heute besteht das erklärte Ziel im Ausbau der territorialen Autonomien. Man ist inzwischen zur Überzeugung gelangt, dass ein „perfektes“ Zweikammersystem, nicht effektiv arbeiten kann und den Entscheidungsprozess in die Länge zieht. Wiederholt hat sich in der italienischen Rechtsordnung die Frage gestellt, ob die hohe Kammer (Senato), die ursprünglich als „chambre de réflexion“ konzipiert wurde, sich nicht eher als „chambre de démolition“ entpuppt und auch aufgrund der unterschiedlichen Kräfteverhältnisse den Entscheidungsprozess nur verkompliziert.9 Einschränkend Caravita (Fn. 3), S. 1. Art. 58 ital. Verf. 7 Art. 59 ital. Abs. 2 Verf. Zurzeit Prof. Mario Monti, der Architekt Renzo Piano, der Dirigent Claudio Abbado, der Nobelpreisträger Carlo Rubbia und Prof. Elena Cattaneo. 8 Art. 57 ital. Verf. 9 Für eine ausführliche Schilderung der Verfassungsreform vgl. Cristina Fraenkel-Hae berle, Die italienische Verfassungsreform und die regionale Ordnung, in: DTIEV-Online Nr. 1/2017. 5 6
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ist jedoch als italienische Besonderheit anzumerken, dass in der Regel keine echten „Zweikammergesetze“ zustande kommen, da sie normalerweise von einer einzigen Kammer ausgearbeitet und erörtert und von der jeweils anderen Kammer einfach abgesegnet werden. Dieses Verfahren wird als „funktionaler Monokameralismus“ bezeichnet.10 Außerdem werden die meisten Normwerke als Notverordnung mit Gesetzeskraft (decreto legge) erlassen. Die Kammer, welche als erste die Notverordnung in ein Gesetz umwandelt, prüft eingehend den Gesetzeswortlaut, der von der zweiten Kammer einfach „ratifiziert“ wird. Als weitere oft gebrauchte Möglichkeit (z.B. bei der Umsetzung von EU-Richtlinien) werden allgemeine Ermächtigungsgesetze verabschiedet, auf deren Grundlage die Regierung gesetzesvertretende Verordnungen mit Gesetzeskraft erlassen kann. Die Schwerfälligkeit des Gesetzgebungsverfahrens hat somit seine weitgehende Entparlamentarisierung zur Folge.11 Angesichts dieser Konstellation war die Veränderung des „perfekten Zweikammersystems“ Gegenstand zahlreicher Reformversuche, die seit den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts diskutiert wurden.12 In diese Richtung bewegte sich auch die 2005 von der Regierung Berlusconi vorangetriebene Verfassungsreform, die 2006 ebenfalls an der bestätigenden Volksabstimmung scheiterte. Diese und die darauffolgenden Reformvorschläge beabsichtigten die Umwandlung des Senats in eine regionale Vertretung. Das war auch das Ziel der von der Regierung Renzi vorangebrachten großen Verfassungsreform, die aus dem Senat eine „Regionenund Gemeindekammer“ machen wollte, dessen Gesetzgebungsbefugnis auf ausgewählte Sachgebiete beschränkt bleiben sollte.13 10 Cecchetti (Fn. 1), S. 8. Hier wird hervorgehoben, dass in den letzten drei Jahren die Hälfte der Gesetze (mit Ausnahme derjenigen zur Umwandlung von Gesetzesdekreten und zur Ratifizierung völkerrechtlicher Verträge) unverändert von der zweiten Parlamentskammer angenommen wurden: 1/3 von der Abgeordnetenkammer, 2/3 vom Senat. 11 Vgl. Stefano Ceccanti, La riforma costituzionale e i suoi avversari, in: www.federalismi.it Nr. 16/2014 v. 6. 8. 2014, S. 1. 12 Der erste schlüssige Reformvorschlag wurde zwischen 1983 und 1985 von der parlamentarischen Kommission unter dem Vorsitz von Aldo Bozzi ausgearbeitet. Er sah eine Differenzierung der Gesetzgebungsbefugnisse zwischen beiden Parlamentskammern vor. Diese sollten grundsätzlich der Abgeordnetenkammer vorbehalten bleiben, wohingegen der Senat eher eine Kontrollfunktion übernehmen sollte. Der Bericht dieser Kommission leitete eine Reihe von Reformvorhaben ein, die sich eine funktionale Unterscheidung der Aufgaben beider Kammern zum Ziel setzten. Es folgte 1992 der Vorschlag des Zweikammerausschusses unter dem Vorsitz von Nilde Iotti, der dem Senat die Gesetzgebungsbefugnis im Zusammenhang mit der staatlichen Rahmengesetzgebung (competenza concorrente) vorbehielt. Auch nach dem Vorschlag des Zweikammerausschusses unter dem Vorsitz von Massimo D’Alema wurde 1997 eine funktionale Aufgabendifferenzierung zwischen beiden Parlamentskammern angestrebt sowie angeregt, dass nur die Abgeordnetenkammer und nicht auch der Senat der Regierung das Vertrauen aussprechen sollte; vgl. Cecchetti (Fn. 1), S. 10 ff. 13 Vgl. Beniamino Caravita, Riforma e referendum: un metodo che unisce, in: www. federalismi.it Nr. 7/2006 v. 6. 4. 2016, S. 2.
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III. Die Reform des italienischen Senats Die von der Regierung Renzi angestrebte Reform sah eine erhebliche Reduzierung der Senatsmitglieder vor. Diese sollten von gegenwärtig 315 auf 100 zurückgehen. Der Senat sollte folgende Zusammensetzung aufweisen: 21 Bürgermeister (1 Bürgermeister pro Region mit Ausnahme der beiden Autonomen Provinzen von Trient und Bozen, die je einen Bürgermeister stellen würden) und 74 regionale Abgeordnete, die von den jeweiligen Regionalversammlungen gewählt werden sollten. Hierzu sollte ein entsprechendes Wahlgesetz verabschiedet werden.14 Beibehalten wurden die von den geltenden Bestimmungen bereits vorgesehenen fünf ausgewiesenen Persönlichkeiten, die „durch größte Verdienste auf sozialem, wissenschaftlichem, künstlerischem und literarischem Gebiet dem Vaterland Ruhm und Ehre eingebracht haben“15 und infolgedessen vom Staatspräsidenten zu Senatoren ernannt werden. Die Mandatsdauer dieser Senatoren sollte nach der Reform sieben Jahre betragen. Sie sollten also nicht mehr wie nach dem geltenden Verfassungswortlaut auf Lebenszeit ernannt werden. Die sonstigen Senatoren sollten nicht mehr von den Bürgern direkt, sondern nur mittelbar gewählt werden, da sich der Senat – wie erwähnt – aus Bürgermeistern und Abgeordneten der Regionalversammlung zusammensetzen sollte. Die Mandatsdauer dieser Senatoren sollte derjenigen der jeweiligen Gebietskörperschaften entsprechen. Somit wäre der Senat eine ständige Vertretung geworden, da sein politischer Zyklus von der jeweiligen Mandatsdauer auf regionaler und kommunaler Ebene bestimmt gewesen wäre. Die Sitzverteilung in den Regionen sollte im Verhältnis zur Bevölkerungszahl vorgenommen werden, wenn auch keine Region weniger als zwei Senatoren stellen sollte. Das wurde als Gefahr für den Zusammenhalt innerhalb des Senats gesehen, da seine Zusammensetzung im Verhältnis zur Bevölkerungszahl ein Ohnmachtsgefühl der bevölkerungsärmeren Regionen verursachen konnte, da z.B. 13 Senatoren aus der Lombardei 2 Senatoren aus Sardinien gegenüberstehen würden.16 Bei der Senatorenwahl sollte das Verhältniswahlrecht zur Anwendung kommen, um zu vermeiden, dass die politische Mehrheit auf regionaler Ebene alle verfügbaren Sitze ergattert. Die Senatoren sollten mit Ausnahme derjenigen, die vom Staats präsident ernannt werden, keine Amtsentschädigung erhalten, was als erhebliche Kostenersparnis angesehen wurde.
14 Art. 57 ital. Verf. Zum Thema der Ämterhäufung vgl. Cristina Fraenkel-Haeberle, L’articulation du pouvoir législatif entre le niveau national et local : une analyse comparée du cumul des mandats, in: ius publicum 1/2017 http://www.ius-publicum.com/repository/ uploads/07_04_2017_13_13-ARTICOLO-FRAENKEL-HAEBERLE.pdf . 15 Art. 59 Abs. 2 ital. Verf. 16 Ilenia Ruggiu, Senato e competenze: perché il nuovissimo Titolo V impoverisce il regionalismo, in: Francesco Palermo/Sara Parolari (Hrsg.), Riforma costituzionale e Regioni, EURAC book 66, Bozen 2015, S. 42.
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1. Die Senatsaufgaben Nach der Reform sollte die Gesetzgebungsbefugnis grundsätzlich der Abgeordnetenkammer vorbehalten bleiben. Der Senat (Palazzo Madama) sollte nicht mehr der amtierenden Regierung das Vertrauen aussprechen, sondern grundsätzlich als Bindeglied zwischen dem Zentralstaat und den Regionen und Gemeinden dienen.17 Eine paritätische Gesetzgebungsbefugnis wurde dem Senat nur bei Gesetzen eingeräumt, die u.a. Verfassungsänderungen (bzw. Verfassungsgesetze), Volksabstimmungen, die Ratifizierung völkerrechtlicher Verträge sowie sensible ethische Fragen betreffen.18 Der Senat sollte daher seine vorwiegend gesetzgeberische Funktion teilweise einbüßen, jedoch neue Aufgaben und Befugnisse erwerben. Er sollte sowohl als Bindeglied zur EU und zu den lokalen Autonomien dienen als auch für die Evaluation und Kontrolle der Politik- und Verwaltungstätigkeit zuständig sein. Er sollte die Möglichkeit haben, Änderungsvorschläge auch zu den Gesetzen, die außerhalb seines Zuständigkeitsbereichs lagen, einzubringen. Jedes von der Abgeordnetenkammer genehmigte Gesetz sollte unverzüglich dem Senat übermittelt werden, der innerhalb von zehn Tagen auf Antrag von einem Drittel seiner Mitglieder seine Erörterung beschließen und innerhalb von weiteren dreißig Tagen Änderungen vorschlagen konnte. Bei Gesetzen, welche die Befugnisse der Regionen und der Gebietskörperschaften betreffen, musste die Abgeordnetenkammer im Falle der Ablehnung der vom Senat vorgeschlagenen Änderungen mit absoluter Mehrheit entscheiden. Über das Haushaltsgesetz hätte die Abgeordnetenkammer das letzte Wort gehabt und mit einfacher Mehrheit über die Ablehnung der Senatseinwände entscheiden können. Der Senat hätte somit eine Frühwarnbefugnis (early warning), jedoch ohne Vetorecht erhalten. Das erklärte Ziel der Verfassungsreform bestand darin, erstens den Regionen und den lokalen Körperschaften eine Stimme zu geben und zweitens aus dem Senat eine Vertretung der Gebietskörperschaften zu machen. Angesichts der Erhöhung der regionalen Zuständigkeiten durch die Verfassungsreform aus dem Jahre 2001 bestand nämlich die Notwendigkeit, eine Vertretung der Regionen auf zentraler Ebene zu schaffen. Allerdings wurde durch die Reform ein hybrides Konzept verwirklicht. Der Senat sollte drei Arten von Belangen vertreten. Diese als eine territoriale Vertretung (der Regionen und Kommunen); eine politische Vertretung (der Parteien); eine institutionelle Vertretung („der Senat vertritt die territorialen Institutionen“ und nicht die „territorialen Gemeinschaften“),19 da er sich aus Bürgermeistern und Abgeordneten der Regionalversammlungen zusammensetzte. Als weiteres heterogenes Element wurde die Anwesenheit der Bürgermeister im Senat gesehen, was zu Interessenskonflikten zwischen der regionalen und der kommunalen Ebene hätte führen können. 17
Art. 55 Abs. 3 und 4 ital. Verf. (nach der Verfassungsreform). Art. 70 Abs. 1 ital. Verf. (nach der Verfassungsreform). 19 Art. 55 Abs. 4 ital. Verf. (nach der Verfassungsreform). 18
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2. Die Frage der einheitlichen Stimmabgabe Ein Stein des Anstoßes im Zusammenhang mit der vom Senat verkörperten territorialen Vertretung war die Bestimmung, laut der die Senatoren genau wie die Abgeordneten ohne Mandatszwang entscheiden.20 Die einheitliche Stimmabgabe ist bekanntlich mit dem Verbot eines imperativen Mandats, das auch für die Senatoren weiterhin in Kraft bleiben sollte, nicht vereinbar. Somit wurde jedoch ein wichtiges Ziel der Senatsreform vereitelt. Dieses lag darin, eine effizientere Arbeitsweise im Senat und die Übertragbarkeit der Stimmen zu ermöglichen, was die Erreichung der Beschlussfähigkeit erleichtert hätte. In dieser Hinsicht trägt die einheitliche Stimmabgabe dazu bei, eine mögliche Überlastung der Senatoren infolge der Ausübung eines Doppelmandats abzuschwächen und die Entscheidungsfindung weitgehend auf die regionale Ebene zu verlagern, was auch mit Kostenersparnissen verbunden ist.21 Dieser Weg wurde jedoch nicht beschritten. Der „italienische Weg“ lässt sich damit erklären, dass normalerweise in den Regionalversammlungen viele Parteien vertreten sind, weswegen eine einheitliche Stimmabgabe nicht so leicht zustande kommt. Außerdem wurde von der italienischen Lehre betont, dass es auch im deutschen Bundesrat wiederholt zu einem „Oppositionseffekt“ gekommen ist.22 Wenn nämlich im Bundesrat die politische Mehrheit eine andere Couleur gegenüber derjenigen des Bundestages und Bundesregierung aufweist, kann selbst mit dem System der einheitlichen Stimmabgabe ein Vorherrschen parteipolitischer Interessen gegenüber den territorialen Anliegen nicht verhindert werden. Das Leitmotiv der Reform bestand in der Beibehaltung und gleichzeitigen Veränderung des Zweikammersystems. Das neue italienische Senatsmodell näherte sich eher dem österreichischen als dem deutschen Vorbild, wenn auch in Österreich die vom Landtag gewählten Bundesratsmitglieder nicht dem Landtag angehören. In Deutschland orientiert sich der Bundesrat seit seiner Entstehung im 19. Jahrhundert eher an einem „Botschaftermodell“, da seine Mitglieder den Herkunftsländern zugeordnet sind und keine eigenständige politische Vertretung darstellen.23 Außerdem handelt es sich um eine Vertretung der Exekutivgewalt, welche den für Deutschland typischen Vollzugsföderalismus verkörpert (was u.a. auch als Ursache für eine Entparlamentarisierung der politischen Tätigkeit gesehen wird). Diese 20
Art. 67 Abs. 2 ital. Verf. Roberto Bin, Riforma costituzionale e Regioni: ancora troppi equivoci, in: Francesco Palermo/Sara Parolari (Hrsg.), Riforma costituzionale e Regioni, EURAC book 66, Bozen 2015, S. 22. 22 Raffaele Bifulco, Osservazioni sulla riforma del bicameralismo, (d.d.l. cost. A.C. 2613-A), in: Le Regioni 1/2015, S. 69. 23 Francesco Palermo, Tanto tuonò che piovve. Il „problema“ delle Regioni e le sue presunte soluzioni, in: Francesco Palermo/Sara Parolari (Hrsg.), Riforma costituzionale e Regioni, EURAC book 66, Bozen 2015, S. 167. 21
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Lösung entspricht allerdings auch dem Konzept des kooperativen Föderalismus, der in Deutschland – wie auch in Italien – zur Einrichtung zahlreicher Ministerkonferenzen geführt hat.24 3. Die Rolle der „Konferenzen“ sowie einer parlamentarischen Regionenvertretung Kritisiert wurde an der Reform die fehlende Vertretung der Regionalregierungen im Parlament. Nach der Reform konnten die Regierungsmitglieder in den Senat, der ein staatliches Organ („Senato della Repubblica“) verblieben wäre, nur dann entsandt werden, wenn sie der Regionalversammlung angehörten. Das hätte immerhin einen Paradigmenwechsel dargestellt, da die Regionen, die ursprünglich als Gegenpol zur zentralstaatlichen Gewaltausübung und daher als Freiheitsgarantie gegen autoritäre Bestrebungen konzipiert wurden, einen zweiten demokratischen Strang bei der Ausübung der politischen Gewalt dargestellt hätten.25 Eine Vertretung auf der Ebene der Regierungen als Bindeglied zwischen dem Zentralstaat und den Regionen besteht allerdings in der Form der inzwischen seit drei Jahrzehnten eingeführten „vertikalen Konferenzen“26 (Staat-Regionen-Konferenz, Staat-Städte-Lokalautonomien-Konferenz, Vereinigte Konferenz).27 Die Reform hat jedoch diese Konferenzen nicht verfassungsrechtlich verankert. Durch die Reform wäre eine doppelte regionale Vertretung entstanden, da die Konferenzen eine Diskussionsplattform auf der Regierungsebene darstellen, der Senat hingegen als legislative Gewalt tätig gewesen wäre. Die doppelte territoriale Vertretung wurde von der Rechtslehre teilweise als institutionelle Redundanz nach dem Prinzip entia non sunt multiplicanda sine necessitate angesehen, weswegen eine verfassungsrechtliche Verankerung der Konferenzen und ein monokamerales Parlament angeregt wurden.28
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Ebd., S. 70 ff. Eduardo Gianfrancesco, La partecipazione delle regioni alla vita dello Stato (e della Repubblica): bicameralismo, camera delle regioni e conferenze, in: Revista General de Derecho Constitucional 24/2017, S. 2. 26 Die Staat-Regionen-Konferenz wurde als staatliches Organ vom Dekret des Ministerpräsidenten vom 12. 10. 1983 (Istituzione della Conferenza Stato-Regioni), Gazz. Uff. v. 2. 11. 1983, Nr. 300, zum ersten Mal formal anerkannt. 27 Vgl. Anna Maria Poggi, I „tempi“ e le „priorità“ delle riforme tra ricette tecniche ineccepibili e necessità di soluzioni politiche indispensabili, in: www.federalismi.it, Nr. 16/2014 v. 6. 8. 2014, S. 5; s. auch Roberto Bin/Ilenia Riggiu, La rappresentanza territoriale in Italia. Una proposta di riforma del sistema delle conferenze, passando per il definitivo abbandono del modello Camera delle Regioni, in: Le Istituzioni del Federalismo 6/2006, S. 903. Zu den Gründen, welche für eine Beibehaltung eines Zweikammersystems in Italien sprechen vgl. Francesco Palermo/Matteo Nicolini, Pluralismo e limiti della rappresentanza in prospettiva comparata, Napoli 2013. 28 Ruggiu (Fn. 16), S. 43. 25
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Auch die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs hat die wichtige Rolle der Konferenzen in der Gestaltung der Beziehungen zwischen dem Zentralstaat und den Regionen mehrmals hervorgehoben. Bereits in den Urteilen Nr. 303/2003 und 4/2006 war die Abkehr vom (statischen) Kriterium der Sachgebiete zugunsten (dynamischer) Kriterien wie Effizienz und vorherrschendes Regelungsinteresse zur Bestimmung der zuständigen Regierungsebene vorzugswürdig erschienen, sofern eine diesbezügliche Vereinbarung innerhalb der Staat-Regionen-Konferenz erzielt werden konnte.29 Derselben Argumentationslinie folgt das Urteil Nr. 251/2016 über das Ermächtigungsgesetz Nr. 124/2015 zur Reform der öffentlichen Verwaltung. Hier hielt der Verfassungsgerichtshof fest, dass wenn das Parlament Rechtsinstitute reformiert, die sich sowohl auf die staatlichen als auch auf die regionalen Kompetenzen auswirken und diese miteinander untrennbar verbunden sind, eine Übereinkunft innerhalb der Staat-Regionen-Konferenz in Anwendung des Prinzips der loyalen Zusammenarbeit im Gesetzgebungsverfahren erforderlich wird. Dadurch werden die Regionalregierungen zum unmittelbaren Gesprächspartner der Zentralgewalt. Nach der gescheiterten Verfassungsreform ist das Bedürfnis nach einer institutionellen Vertretung der Regionen und der lokalen Autonomien im Parlament nicht erloschen. Nun richtet sich die Aufmerksamkeit auf das vor mehr als 15 Jahren erlassene Verfassungsgesetz Nr. 3/2001, das einen Ausbau der regionalen Befugnisse zum Gegenstand hatte. Das Gesetz sieht in Art. 11 vor, dass nach Maßgabe der parlamentarischen Geschäftsordnung der innerparlamentarische Ausschuss für regionale Angelegenheiten durch regionale Vertreter und Vertreter der Gemeinden ergänzt werden kann. Zusätzlich zu den gegenwärtigen zwanzig Kammerabgeordneten und zwanzig Senatoren soll demnach dieser Parlamentsausschuss auf weitere vierzig Vertreter der Regionen und der Lokalkörperschaften erweitert werden.30 Der Ausschuss soll in den gesetzlich vorgesehenen Fällen Stellungnahmen zu Gesetzesentwürfen abgeben, von denen das Plenum nur mit absoluter Mehrheit abweichen kann. Auf diese Weise können die Regionen und die lokalen Körperschaften einen direkten Einfluss auf die sie betreffende Gesetzgebung ausüben. Diese Bestimmung ist aufgrund des mangelnden Willens der politischen Kräfte noch auf dem Papier geblieben. Dieser Plan-B zur Senatsreform wird zurzeit nach dem Scheitern des Vorhabens der Regierung Renzi intensiv diskutiert.31 Zu diesem Zwecke hatte bereits vor dem Referendum der Zweikammerausschuss für regionale Angelegenheiten eine Untersuchung (indagine conoscitiva) veran29 Francesco Palermo/Jens Woelk, Pause oder Stillstand auf Italiens Weg zum Föderalismus?, Jahrbuch des Föderalismus, Tübingen 2006, S. 353; Simone Pajno, La cooperazione intergovernativa dopo il fallimento della riforma costituzionale, in: Revista General de Derecho Constitucional 24/2017, S. 4. 30 So im Bericht des Präsidenten des Zweikammerausschusses für regionale Angelegenheiten v. 9. 2. 2017. Danach hätten 22 Vertreter von den Regionalversammlungen sowie 5 Provinzvertreter und 13 Gemeindevertreter ernannt werden sollen. 31 Cecchetti (Fn. 1), S. 15.
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lasst, die für den Fall des Scheiterns der Verfassungsreform seine Erweiterung auf Regional- und Gemeindevertreter vorsah.32 Diese parlamentarische Lösung wird als „sanfte Reform“ bezeichnet, die auch in inkrementeller Form durchführbar ist.33 Parallel dazu ist in der Untersuchung die Notwendigkeit betont worden, die von der Reform nicht berücksichtigten Konferenzen trotzdem beizubehalten.
IV. Gründe für das Scheitern der Reform Als Rechtfertigung für das Scheitern der Reform wurde die schlechte Redaktionstechnik beanstandet.34 Der Vorwurf mag gerechtfertigt sein, da die Neuregelung verschiedene Ungereimtheiten und Unvollkommenheiten enthielt. Das eigentliche Problem bestand allerdings darin, dass die Diskussion sich auf die Regierung und nicht auf den Inhalt der Reform konzentriert hat. Bei Volksabstimmungen ist es außerdem einfach, eine negative Mehrheit zu finden: Politische Wahlen können mit 40 % der Stimmen gewonnen werden, erfolgreiche Referenden brauchen mehr als 50 % der Stimmen!35 Außerdem stellte man sich die Frage, ob sich ein Referendum überhaupt für eine so umfassende Verfassungsreform eignet, bei der es sich um äußerst komplexe und unterschiedliche Fragen handelt. Daher wurde auch darüber diskutiert, das Referen dum in mehrere Fragen aufzuschlüsseln.36 Dies ist jedoch nicht von der Verfassung vorgesehen, die einfach bestimmt, dass für eine Verfassungsänderung (bzw. ein Verfassungsgesetz) nachdem jede der beiden Kammern in zwei Lesungen mit einem Zeitabstand von mindestens drei Monaten der Änderung mit absoluter Mehrheit zugestimmt hat, der Gesetzeswortlaut einer Volksabstimmung unterzogen werden kann, wenn er in der letzten Abstimmung nicht mit einer 2/3-Mehrheit angenommen wurde. Es handelt sich um ein fakultatives Referendum, das gemäß Art. 138 Verf. innerhalb von drei Monaten nach der Gesetzesveröffentlichung von einem Fünftel 32 Vom Zweikammerausschuss für regionale Angelegenheiten am 13. 10. 2016 verabschiedetes Dokument über die Möglichkeiten der Verbindung der staatlichen Tätigkeit mit derjenigen der Gebietskörperschaften, Doc. XVII-bis, Nr. 7. 33 Raffaele Bifulco, Una piccola grande riforma: l’integrazione della Commissione parlamentare per le questioni regionali, in: Revista General de Derecho Constitucional 24/2017, S. 10. 34 Caravita (Fn 3), S. 6. 35 Ebd., S. 7. 36 Zur Zulässigkeit einer einzigen Volksabstimmung über ein derart umfassende Verfassungsreform vgl. Antonio Ruggeri, Nota minima in tema di referendum costituzionali „parziali“: un rebus risolvibile solo spostando il tiro dal piano della normazione al piano dei controlli?, in: www.federalismi.it Nr. 4/2016 v. 25. 2. 2016, S. 1 ff.; Pasquale Costanzo, Non c’è nulla come il diffuso consenso per smuovere lo spirito di contraddizione, in: www. federalismi.it Nr. 4/2016 v. 25. 2. 2016, S. 1 ff.; Andrea Morrone, Uno, nessuno, centomila referendum costituzionali?, in: www.federalismi.it Nr. 4/2016 v. 25. 2. 2006, S. 1 ff.; Paola Carnevale, Considerazioni critiche sull’iter e sulla procedura referendaria, in: www.federalismi.it Nr. 12/2106 v. 8. 6. 2016.
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der Mitglieder einer Kammer oder fünfhunderttausend Wählern sowie fünf Regionalversammlungen beantragt werden kann. Dieses Instrument wird – wie im Fall der Renzi-Reform – genutzt, um Regierungsvorhaben erneut in Frage zu stellen.
V. Fazit Heute, wie vor siebzig Jahren, hat man sich für schwache Institutionen entschieden. Statt sich an institutionelle Fragen heranzumachen, sucht man nun die Lösung in einer Reform des Parlamentswahlrechts, das seit über zehn Jahren ein immerwährendes und ungelöstes Problem darstellt. Die wahlrechtliche Homogenität zwischen beiden Kammern war bereits unter der Regierung Berlusconi vom Wahlgesetz Nr. 270/2005 gebrochen worden, das eine Mehrheitsprämie auf nationaler Ebene für die Abgeordnetenkammer einführte, im Senat hingegen eine regionale Mehrheitsprämie vorsieht, sodass sich in beiden Parlamentskammern unterschiedliche Mehrheiten bildeten. Das hat die Stabilität der Regierungen insbesondere bei den letzten Wahlen aus dem Jahre 2013 stark ins Wanken gebracht.37 Ein Beweis für die Brisanz dieser Frage liefert die Tatsache, dass ein Vorwurf gegen die Verfassungsreform auf einer angeblichen fehlenden Legitimität des Parlaments beruhte.38 Anfang 2014 hatte der Verfassungsgerichtshof mit dem Urteil Nr. 1/2014 das Wahlgesetz 270/2005 teilweise für verfassungswidrig erklärt, jedoch gleichzeitig festgehalten, dass das Ergebnis der letzten Wahlen nicht in Zweifel gezogen werden konnte und dass daher das Parlament arbeitsfähig war. Es gab jedoch Stimmen, die behaupteten, dass ein so gewähltes Parlament keine umfangreiche Verfassungsänderung verabschieden konnte. Nun hat sich im vergangenen Januar der Verfassungsgerichtshof auch über das neue Wahlgesetz Nr. 52/2015 ausgesprochen und es wiederum teilweise für verfassungswidrig erklärt. Dieses 2015 verabschiedete und am 1. 1. 2016 in Kraft getretene Gesetz betrifft nur die Abgeordnetenkammer, da man davon ausgegangen war, dass der Senat nicht mehr gewählt werden würde. Auch dieses Mal hat der Verfassungsgerichtshof eine besondere Zurückhaltung an den Tag gelegt und dem Gesetzgeber eine weite Einschätzungsprärogative eingeräumt, um Neuwahlen zur Erneuerung des Parlaments nicht im Wege zu stehen.39 Das Wahlgesetz wird nämlich vom Verfassungsgerichtshof „als verfassungsrechtlich notwendig“ (legge costituzionalmente necessaria) eingestuft und darf daher nicht ersatzlos aufgehoben werden.40 37 Cecchetti (Fn. 1), S. 7; vgl. auch Tommaso Edoardo Frosini, Bicameralismo differenziato e governabilità, in: www.federalismi.it 12/2016 v. 8. 6. 2016. 38 Caravita (Fn 3), S. 6. 39 Renzo Dickmann, La Corte costituzionale trasforma l’Italicum in sistema elettorale maggioritario „eventuale“, ma lascia al legislatore l’onere di definire una legislazione elettorale omogenea per le due Camere, in: www.federalismi.it 4/2017 v. 15. 2. 2017, S. 1; Alessio Rautti, La Corte costituzionale ed il legislatore. Il caso emblematico del controllo sulle leggi elettorali, in: Consulta online 2/2017. 40 Corte cost. 16/2008 Punkt 4 (rechtliche Erörterung).
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Zurzeit ist also das Wahlgesetz für die Abgeordnetenkammer und den Senat nicht dasselbe. Der Senat wird nach dem sog. „Consultellum“ gewählt, das heißt nach dem Wahlgesetz Nr. 270/2005, das vom Verfassungsgerichtshof (Consulta, daher diese Bezeichnung) teilweise aufgehoben wurde. In diesem Urteil (Nr. 1/2014) hatte der Verfassungsgerichthof die übermäßige Länge der blockierten Listen und die Mehrheitsprämie von 54 %, die der stärksten Partei bzw. Koalition unabhängig vom Anteil der erhaltenen Stimmen zuerkannt wurde, für verfassungswidrig erklärt. Somit kommt für den Senat ein reines Verhältniswahlrecht zur Anwendung, wenn auch nur sofern eine Partei in der Lage ist, die achtprozentige Sperrklausel sowie die sonstigen für Parteienkoalitionen vorgesehenen Sperrklauseln zu überwinden. Mit dem Urteil Nr. 35/2017 hat sich hingegen der Verfassungsgerichtshof mit dem neuen Wahlgesetz Nr. 52/2015 (Italicum) für die Abgeordnetenkammer auseinandergesetzt und dabei statuiert, dass auch hier die Mehrheitsprämie von 54 % nur denjenigen Parteien zugutekommen sollte, die mindestens 40 % der Stimmen erhalten haben. Das Urteil hat also auch für die Abgeordnetenkammer einen reinen Proporz und nur in Ausnahmefällen einen Majorz zugelassen. Ansonsten wäre das Prinzip der Stimmengleichheit verletzt gewesen.41 Demnach konnte nach dem Verfassungsgerichtshof auch keine Stichwahl zwischen den zwei Parteien mit den meisten Stimmen zulässig sein, da sie den Wählerwillen zusätzlich verzerrt hätte. Ebenfalls sollte der in verschiedenen (bis zu zehn) Wahlkreisen gewählte Listenführer nicht die freie Wahl seines Parlamentssitzes haben, der hingegen per Auslosung ermittelt werden soll. Als weitere Unterscheidungsmerkmale zur Senatswahl sind die dreiprozentige Sperrklausel sowie die nur für die Abgeordnetenkammer zulässige Abgabe von bis zu zwei Vorzugsstimmen zu erwähnen.42 Wenige Monate vor Ende der Legislaturperiode ist nicht davon auszugehen, dass eine Einigung über ein neues Wahlgesetz erzielt werden kann. So soll der Senat nach dem alten vom Verfassungsgerichtshof teilweise aufgehobenen Wahlgesetz gewählt, die Abgeordnetenkammer nach dem ebenfalls vom Verfassungsgerichtshof teilweise gekippten neuen Wahlgesetz bestimmt werden. Nach drei Jahren politischer Diskussion steht man wieder am Anfang mit einem parlamentatischen Zweikammersystem, das trotz seiner Bezeichnung alles anders als „perfekt“ ist, und ohne funktionierendes Wahlgesetz. Es gilt ein Spruch aus einem Meisterwert der italienischen Literatur („Il Gattopardo“ von Giuseppe Tomasi di Lampedusa) „Wenn alles bleiben soll wie es ist, so soll sich alles ändern“.
Dickmann (Fn. 39), S. 17. Cecchetti (Fn. 1), S. 13 ff. Vgl. auch Stefano Ceccanti, I sistemi elettorali per le elezio ni politiche dopo la 35/2017: una sentenza figlia del referendum, ma per il resto deludente per i proporzionalisti, in: www.federalismi.it 4/2017 v. 22. 2. 2017. 41
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Bürgerbeteiligung ohne Parlament? Von Margrit Seckelmann Bürgerbeteiligung ohne Parlament? Margrit Seckelmann
Bürgerbeteiligung ohne Parlament: Ist das nicht ein Widerspruch in sich in einer Demokratie, also einer Herrschaft des Volkes, wie der aus dem Altgriechischen stammende Begriff 1 ja übersetzt heißt? Oder aber ist das gar eine Form ‚demokratischerer‘ Demokratie, da hier das Volk ja direkt abstimmt und nicht die von ihm gewählten Vertreter? Oder kann man beide Formen gar nicht gegeneinander ausspielen, wohl aber kombinieren? Im Folgenden sollen zur Beantwortung dieser Fragen zunächst (I.) die Gründe für und die Gefahren einer Bürgerbeteiligung „ohne Parlament“ untersucht werden. An eine Darstellung der Argumente, die für direkte Demokratie vorgebracht werden (1.) soll sich (2.) ein Bericht aus Erfahrungen aus Kommunen in Nordrhein-Westfalen sowie aus Hamburg anschließen: Während im Flächenstaat Nordrhein-Westfalen eher eine punktuelle Durchlöcherungen des Sparwillens durch Volksinitiativen und andere direktdemokratische Partizipationsinstrumente zu beobachten ist, betreffen entsprechende Initiativen im Stadtstaat Hamburg eher Aspekte der gerechten Verteilung (im konkreten Fall von Geflüchteten auf die Bezirke) oder aber Bildungsfragen, die immer auch Gerechtigkeitsfragen sind. Aber auch jenseits konkreter Vorhaben besteht (3.) die Gefahr einer langfristigen Delegitimierung, wenn direkte Demokratie – wie gelegentlich zu lesen2 – als „mehr Demokratie“ oder aber als eigentliche „Vollversion“ von Demokratie aufgefasst wird, hinter die die repräsentative Demokratie zurückfalle.3 Diese Frage hat inzwischen auch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung erreicht, namentlich das Hamburgische Verfassungsgericht, dessen Reflektion über dieses Problem unter (4.) dargestellt werden soll. Dieser Aufsatz soll aber nicht bei einer Art „Negativbilanz“ stehen bleiben, sondern unter II. Antwortversuche auf die Frage formulieren, ob es – zumindest auf kommunaler Ebene – auch gelungene Beispiele für 1 Margrit Seckelmann, Liquid Democracy – Solution or Problem?, in: Cristina Fraenkel/ Sabine Kropp/Francesco Palermo/Karl-Peter Sommermann (Hrsg.), Federalism, Alternative Forms of Democracy and Better Governance, Leiden 2015, S. 192 – 203, 193; Andreas Voßkuhle, Über die Demokratie in Europa, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 13/2012, S. 3 – 9, 4. 2 So Hans Herbert von Arnim, Vom schönen Schein der Demokratie. Politik ohne Verantwortung, München 2000. 3 So distanzierend Margrit Seckelmann, Wohin schwimmt die Demokratie?, Liquid Democracy auf dem Prüfstand, in: Die Öffentliche Verwaltung 67 (2014), S. 1 – 10, 2; gleichsinnig Hans Peter Bull, Netzpolitik. Freiheit und Rechtsschutz im Internet, Baden-Baden 2013, S. 104.
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direktdemokratische Verfahren gibt. Aber auch hier sollte man sich davor hüten, in mögliche Denkfallen4 zu tappen, die zu Schluss dieses Beitrags beschrieben werden sollen.
I. Gründe für und die Gefahren einer Bürgerbeteiligung „ohne Parlament“ 1. Grundsätzliches Zunächst einige grundsätzliche Überlegungen: Eine verbreitete politökonomische Annahme lautet, dass direkte Demokratie gleichsam näher an den Problemen ‚dran‘ sei,5 Vertreter dieses Ansatzes sprechen insoweit auch von einer „sachunmittelbaren Demokratie“.6 Unter Berufung auf Schweizer Erfahrungen wird weiter ins Feld geführt, direktdemokratische Verfahren sparten (nicht nur politisch, sondern auch) ökonomisch Kosten, da diejenigen, die von den Entscheidungen unmittelbar betroffen seien, sparsamere Lösungen fänden als die Amtswalter, die mit der Situation ‚vor Ort‘ nicht so vertraut seien.7 Das klingt zunächst überzeugend, ist aber weder empirisch für Deutschland so belegt noch normativ verallgemeinerbar. Denn die oben genannte Aussage blendet, wenn vom Schweizer Beispiel auf alle denkbaren Anwendungsfälle geschlossen wird, kulturelle wie institutionelle Faktoren aus. Zu den institutionellen Faktoren gehört vor allem, dass in der Schweiz oftmals – anders als zumeist in Deutschland – zumindest bei obligatorischen Referenden im Referendum selbst Hinweise zur Finanzierung neuer Vorhaben gemacht werden.8 Das heißt, dass dort eine Bildung
4 Helmuth Schulze-Fielitz, Wege, Umwege oder Holzwege zu besserer Gesetzgebung durch sachverständige Beratung, Begründung, Folgenabschätzung und Wirkungskontrolle?, in: Juristenzeitung 59 (2004), S. 862 – 871; vgl. auch die Beiträge in Hans Herbert von Arnim (Hrsg.), Direkte Demokratie. Beiträge auf dem 3. Speyerer Demokratieforum vom 27. bis 29. Oktober 1999 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Berlin 2000. 5 Nachweise bei Margrit Seckelmann/Christian Bauer, „Mehr Netzbeteiligung wagen: Wie Open Government, e-Democracy und Liquid Democracy die politische und administrative Willensbildung verändern sollen“, in: Verwaltung und Management 18 (2012), S. 81 – 87, 83. 6 Vgl. etwa Peter Neumann, Sachunmittelbare Demokratie im Bundes- und Landesverfassungsrecht unter besonderer Berücksichtigung der neuen Länder, Baden-Baden 2009; ders./Denise Renger (Hrsg.), Sachunmittelbare Demokratie im interdisziplinären und internationalen Kontext 2011/2012 (Mittel- und Osteuropa/Deutschland nach Stuttgart 21), Baden-Baden 2014. 7 Gebhard Kirchgässner/Lars P. Feld, Föderalismus und Staatsquote, Jahrbuch für Föderalismus 5 (2004), S. 67 – 87; Christoph A. Schaltegger, Budgetregeln und ihre Wirkung auf die öffentlichen Haushalte: Empirische Ergebnisse aus den US-Bundesstaaten und den Schweizer Kantonen, Schmollers Jahrbuch 122 (2002), S. 369 – 413.
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von Prioritären und damit zwangsläufig auch Posterioritäten erfolgt, die – zumindest theoretisch – wohl abgewogen erfolgt. Zu den kulturellen Faktoren gehört, dass es bis zur Aufkündigung der konsensdemokratischen Vorgehensweise durch die Schweizerische Volkspartei (SVP) einen gewissen Konsens über die ‚Spielregeln‘ von Referenden und Volksinitiativen9 gab. 8
Zu diesen gehörte die Annahme eines verantwortungsvollen Umgangs mit direkter Demokratie. Genau dieses Argument wird oftmals auch für Deutschland ins Feld geführt: 68 Jahre seit Kodifikation des Grundgesetzes und fast 18 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung sei die deutsche Demokratie inzwischen ‚erwachsen‘ geworden und könne endlich ‚aus dem Schatten von Weimar‘10 treten.11 Zudem bestehen in den meisten deutschen Bundesländern mehr Instrumente bzw. Formen direkter Demokratie als auf der Ebene des Bundes.12 Allerdings lassen die jüngsten Erfahrungen mit dem „Brexit“13 aufhorchen. Wenn schon das über Generationen hinweg eingespielte Westminster-System mit seiner starken Betonung der Kompetenzen des Parlaments zeigt, dass auch dort konsultative Volksbefragungen zu entscheidenden außenpolitischen Fragen zum Zwecke der Entscheidung eines innenpolitischen Machtkampfes zweier Politiker durchgeführt werden – und das kaum jemanden zufriedenstellende ‚Protest‘-Votum aufgrund des von diesem ausgehenden faktischen – nicht rechtlichen – Drucks umgesetzt wird,14 so können sich die Warner vor zu viel direktdemokratischen Instrumenten auf deutscher Bundesebene15 bestätigt fühlen. Bürger können dieses zumindest verlangen, so Lars Holtkamp, Verwaltungsreformen. Problemorientierte Einführung in die Verwaltungswissenschaft, Wiesbaden 2012, S. 255; zu den positiven Konsequenzen vgl. auch Peter M. Huber, Überlegungen zum Unterlassen aus dem Blickwinkel von Staat, Recht, Politik, in: Corinne Michaela Flick (Hrsg.), Tun oder Nichttun. Zwei Formen des Handelns, Göttingen 2015, S. 83 – 94, 91. 9 Frank Decker, Der Irrweg der Volksgesetzgebung. Eine Streitschrift, Marburg 2016, S. 51 u. 60; Manfred G. Schmidt, Lehren der Schweizer Referendumsdemokratie, in: Claus Offe (Hrsg.), Demokratisierung der Demokratie, Frankfurt am Main/New York 2003, S. 111 – 123, 122. 10 Zu diesem grundlegend Ernst Fraenkel, Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat [1958], wiederabgedruckt in und zitiert nach: ders, Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart u. a. 1974, S. 113 – 151. 11 Helmuth Schulze-Fielitz, Schattenseiten des Grundgesetzes, in: Horst Dreier (Hrsg.), Macht und Ohnmacht des Grundgesetzes, Berlin 2009, S. 9 – 50. 12 Denise Estel, Bundesstaatsprinzip und direkte Demokratie im Grundgesetz, Baden-Baden 2006; Mario Martini, Wenn das Volk (mit)entscheidet …: Wechselbeziehungen und Konfliktlinien zwischen direkter und indirekter Demokratie als Herausforderung für die Rechtsordnung; mit einem Abdruck der wichtigsten (landes)verfassungsrechtlichen und kommunalrechtlichen Bestimmungen zu Volks- und Bürgerentscheiden, Berlin 2011. 13 Dazu der Beitrag von Harris-Hümmert im vorliegenden Band. 14 Ebd. 15 Insbesondere Fraenkel (Fn. 10). 8 Die
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2. Erfahrungen aus den Kommunen: punktuelle Durchlöcherungen des Sparwillens bzw. der gerechten Verteilung? Für Deutschland lassen sich die soeben beschriebenen, in der Schweiz festgestellten Befunde empirisch nicht bestätigen. Für Nordrhein-Westfalen liegen hierzu Studien von Lars Holtkamp und Jörg Bogumil16 vor. Lars Holtkamp erklärt seine sogleich vorzustellenden Befunde durch eine „Status-quo-Orientierung“.17 Diese besagt, dass neue Vorhaben wie die Errichtung bzw. Einrichtung von Schwimmbädern oder Theatern meist nicht durch Referenden vorgeschlagen werden, sondern eher auf Beschlüsse im Stadtrat (oder wie die Kommunalvertretung sonst jeweils bezeichnet wird) zurückgehen. Demgegenüber sind Volksbegehren das Mittel der Wahl, wenn es darum geht, die Schließung bestehender Einrichtungen zu verhindern, selbst wenn das bedeutet, dass dafür andere Vorhaben nicht realisiert werden können.18 Dieser Status-quo-Bias hat auch einen kognitiven Hintergrund: Unser Gehirn tendiert zu einem risikoaversen Verhalten. Das heißt, dass es die Beibehaltung des Status Quo zumeist instinktiv als ‚kostengünstiger‘ ansieht, auch wenn sie das nicht ist.19 Da „das Volk eher dazu [neigt], ein Reformvorhaben zu stoppen, als selbst eines zu initiieren“, ist, so Andreas Kost, „der direkten Demokratie durchaus ein konservatives Strukturelement zu Eigen“.20 Direkte Demokratie kann zudem, gerade auch auf kommunaler Ebene (Stichwort: Tanztheater), einen stark bildungsbürgerlichen Bezug21 haben. Dieser schreibt Kultur zu Recht einen hohen Stellenwert für das Gemeinwesen zu, der aber zu Lasten sozialer Projekte gehen kann. Dabei wird ausgeblendet, dass es sich um Verteilungskonflikte handelt, die man nur durch Bildungen von Priorisierungen und Posteriorisierungen bezogen auf einen bestimmten Gesamtetat lösen kann (dieses Problem reflektiert das Konzept des sog. „Bürgerhaushalts“, auf das noch einge16 Zusammengefasst und aufbereitet bei Jörg Bogumil/Lars Holtkamp, Kommunalpolitik und Kommunalverwaltung. Eine praxisorientierte Einführung, Bonn (Bundeszentrale für politische Bildung) 2013. 17 Holtkamp (Fn. 8), S. 255; vgl. auch Andreas Kost, Das Output-Spektrum von Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden, in: Theo Schiller/Volker Middendorf (Hrsg.), Direkte Demokratie – Forschungsfragen und Perspektiven, Opladen 2002, S. 207 – 217, 212; Hiltrud Naßmacher, Keine Erneuerung der Demokratie „von unten“, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 1997, S. 445 – 460, 456. 18 Holtkamp (Fn. 8), S. 254 ff. 19 Arno Scherzberg, Strategien staatlicher Risikobewältigung, in: Hermann Hill/Utz Schliesky (Hrg.), 2016, S. 31 – 69, 53 ff. 20 Kost (Fn. 11), S. 402. 21 Holtkamp (Fn. 8), S. 258: „So setzt sich gerade die gut ausgebildete Mittelschicht nicht selten gegen Kinderspielplätze, Skaterparks und Asylbewerberheime ein (Sankt-FloriansPrinzip) und ist dabei in Beteiligungsverfahren zu keinem Kompromiss bereit.“ Dazu u. a. Margrit Seckelmann, „E-Government – Chancen und Risiken für Bürgerinnen und Bürger“, in: Hermann Hill/Utz Schliesky (Hrsg.), e-Volution des Rechts- und Verwaltungssystems, Baden-Baden 2009, S. 285 – 303.
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gangen wird). Direktdemokratische Verfahren werden insbesondere dort eingesetzt, wo es um die Verhinderung neu geplanter Vorhaben bzw. deren Schließung geht. In Deutschland ist nicht anzugeben, was stattdessen (nicht) finanziert werden soll. Das begünstigt auch die Entstehung unsolidarischen Verhaltens. So richtete sich in Hamburg ein direktdemokratisches Verfahren gegen den Bau eines Flüchtlingswohnheims in einem großbürgerlichen Stadtteil zu Lasten derjenigen Stadtteile, in denen ein solcher Bau Konflikte in sozialen Brennpunkten weiter verstärkt.22 Insofern kann man durchaus die Frage stellen, wie demokratisch die direkte Demokratie eigentlich ist, wenn sie in Deutschland Tendenzen dazu hat, ein Elitenprojekt zu sein.23 Diese Frage intensiviert sich bei internetbasierten Partizipationsformen: Mit dem Begriff des „digitalen Grabens“ („digital divide“) wird das Phänomen bezeichnet, dass die Teilhabe an e-Partizipationsformen nicht nur den Zugang zu Hardware und Internet voraussetzt, sondern auch Sprachkenntnisse.24 Daher werden in einer Art Echokammereffekt bestimmte Ansichten im Internet verstärkt – und es melden sich nicht alle Bevölkerungsteile zu Wort, beispielsweise diejenigen, die von sozialen Projekten besonders profitieren würden.25 Wolfgang Merkel hat dieses Phänomen aufgrund eigener Studien einmal folgendermaßen auf den Punkt gebracht: „Nicht das Volk in seiner Gesamtheit, sondern die höheren und mittleren Schichten, die Gebildeten und überproportional die Männer stimmen typischerweise bei Referenden ab. Der politisch aktive Demos ist dabei mehr als halbiert und hat bei Volksabstimmungen damit eine noch größere soziale Schieflage als bei den nationalen Parlamentswahlen.“26
Und er bilanziert skeptisch: „Volksabstimmungen sind im Kern ein Instrument für die mittleren und oberen Schichten unserer Gesellschaft. Nicht ‚mehr‘, sondern ‚weniger‘ Demokratie würde gewagt werden. Das kann keine Perspektive für das 21. Jahrhundert sein.“27
Auch ist das Argument, Volksbefragungen seien ja ‚nur‘ ein schwaches Instrument, spätestens seit der sog. ‚Brexit‘-Entscheidung überholt. Man erkennt nämlich, dass Regierungen kaum von den dort ermittelten Ergebnissen abweichen wol22 Vgl. etwa http://www.stern.de/politik/deutschland/hamburg--empoerung-ueber-sargprotest-gegen-fluechtlinge-7492676.html [20. 05. 2017]. 23 Bogumil/Holtkamp (Fn. 16), S. 185: „Demokratisierung der Demokratie von unten“; Holtkamp (Fn. 8), S. 258. 24 Dazu u. a. Margrit Seckelmann, „E-Government – Chancen und Risiken für Bürgerinnen und Bürger“, in: Hermann Hill/Utz Schliesky (Hrsg.), e-Volution des Rechts- und Verwaltungssystems, Baden-Baden 2009, S. 285 – 303, 302 m. w. N. 25 Ebd., S. 302, auch zu Abhilfemöglichkeiten durch die Verwaltung, vgl. dazu auch ebendort S. 287 f. 26 Wolfgang Merkel, Volksabstimmungen: Illusion und Realität, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 44 – 45/2011, S. 47 – 55, 51. 27 Ebd., S. 55; dagegen aber Decker (Fn. 9), S. 44 (auch bei Wahlen zeigt sich eine soziale Selektivität bei der Wahlbeteiligung).
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len und es faktisch wohl auch kaum können.28 Auf kommunaler Ebene zeigen sich ähnliche Effekte: Wie Lars Holtkamp nachgewiesen hat, sind Anpassungsprozesse des Rats im Vorfeld direktdemokratischer Verfahren durchaus nachweisbar, man erkennt also ein adaptives Verhalten bezogen auf angekündigte Bürgerbegehren.29 Auch im Nachgang sind Anpassungsprozesse zu beobachten, sogar dann, wenn ein Referendumsergebnis aus formalen Gründen nicht zustande kam (beispielsweise, weil gegen einen in der jeweiligen Landesverfassung vorhandenen Ausschluss haushaltswirksamer Vorschläge verstoßen wurde).30 Ein nachgerade ‚klassisches‘ Problem direkter Demokratie ist dasjenige, dass die in einer (hier: Rats-)Abstimmung unterlegene Partei (in der Regel die Opposi tion) dadurch versucht, zu einer „zweiten Chance“ zu kommen, dass sie intensiv mit Bürgerinitiativen zusammenarbeitet.31 Eine solche Tendenz zur langfristigen Entmachtung des Rats/der Bürgerschaft/ der Stadtverordnetenversammlung könnte – und erste Beispiele aus NRW sprechen dafür32 – auch dadurch begünstigt werden, dass sich kooperative Betreibungsfor(m) en letztlich überfordert zeigen (beispielsweise mit dem richtigen Chloren eines Schwimmbads oder der Aufrechterhaltung des Angebots längerer Öffnungszeiten) und die Aufgabe dann dem (Ober-)Bürgermeister ‚zurück‘-übertragen anstatt dem Stadtrat. In diesen Fällen käme es zu einem Kompetenzzuwachs der Exekutive.33 Eine Regierungsform, in der ein starker Mann (oder eine starke Frau) an der Regierungsspitze, der mit seinem (oder ihrem) Staatsvolk unter Umgehung (und Delegitimierung) des Parlaments kommuniziert und interagiert, hat man bislang als Bonapartismus bzw. Napoleonismus bezeichnet.34 Präsident Donald Trump versucht derzeit, in den USA eine plebiszitäre Demokratie unter den Bedingungen von Facebook und Twitter zu etablieren. Droht uns nun ein „Bonapartismus 2.0“,
28 Zur juristischen Debatte um die Vermeidbarkeit eines Verschwimmens von „Beratung“ und „Entscheidung“ vgl. Jan Eggers, Die Rechtsstellung von Ausschüssen, Beiräten und anderen Einrichtungen im Bereich der vollziehenden Gewalt, Diss. Kiel 1969; Klaus Grupp, Rechtsschutz gegen Gremienentscheidungen, in: Karl-Peter Sommermann (Hrsg.), Gremienwesen und staatliche Gemeinwohlverantwortung, Berlin 2001, S. 133 – 150; Karl-Peter Sommermann, Gremienwesen und staatliche Gemeinwohlverantwortung – Eine Einführung, in: ebd., S. 9 – 15; Alexandra Unkelbach, Vorbereitung und Übernahme staatlicher Entscheidungen durch plural zusammengesetzte Gremien – Empirische und rechtliche Eckdaten des deutschen Gremienwesens auf Bundesebene, Speyer 2001. 29 Holtkamp (Fn. 8), S. 255 m. w. N. 30 Bogumil/Holtkamp (Fn. 16), S. 190. 31 Holtkamp (Fn. 8), S. 255. 32 Bogumil/Holtkamp (Fn. 16), S. 191. 33 Ebd. S. 169 f. und 189 ff. 34 Dazu grundlegend Martin Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert. Der monarchische Konstitutionalismus als europäischer Verfassungstyp – Frankreich im Vergleich, Göttingen 1999.
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der mit einer langfristigen Delegitimierung der repräsentativen Demokratie einhergeht? 3. Gefahr langfristiger Delegitimierung repräsentativer Demokratie? Eins ist klar: Durch die Möglichkeiten der Kommunikation „in Echtzeit“ verändert sich die parlamentarische Demokratie. Ganz andere Anforderungen der Rechenschaftslegung werden an sie herangetragen. Prozesse der Kompromissfindung erscheinen gegenüber einer „in Echtzeit“ operierenden Liquid Democracy35 mühsam und langwierig, ja irrational, wie es nicht nur Aussagen der Piratenpartei,36 sondern auch des Bündnisses „mehr Demokratie e. V.“ nahelegen.37 Eine der diskursiven Strategien zur Delegitimierung der repräsentativen Demokratie ist der Begriff der Transparenz. Dieser stellt eine Art „Zauberwort“ dar.38 Denn jeder, der sich dieser sozialnormativen Anforderung entziehen möchte, wird diskursiv begründungspflichtig, warum er das tun wolle und ob er etwas zu verbergen habe.39
Margrit Seckelmann/Christian Bauer, Open Government, Liquid Democracy, e-Democracy und Legitimation. Zur politischen Willensbildung im Zeichen des Web 2.0, in: Hermann Hill/Utz Schliesky (Hrsg.), Die Vermessung des digitalen Raums. E-Volution des Rechts- und Verwaltungssystems III, Baden-Baden 2012, S. 325 – 343. 36 „Unabhängig von einem Einsatz der Konzepte der Liquid Democracy innerhalb der Piratenpartei gibt es auch die Idee, das Parteiensystem durch eine Liquid Democracy abzulösen. Somit könnte der eigentliche Anspruch der Demokratie verwirklicht werden: Demokratie bedeutet, zu jeder Zeit gezielt zu einzelnen Themen verbindlich Stellung beziehen zu können und nicht nur alle vier Jahre die Wahl zwischen Parteien mit unverbindlichen Parteiprogrammen zu haben.“ Vgl. https://www.wiki.piratenpartei.de/Liquid_Democracy [20. 5. 2017]. 37 „Umfragen belegen seit Jahrzehnten, dass sich eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung für bundesweite Volksentscheide ausspricht – und das unabhängig von den parteipolitischen Präferenzen. Durch die Volksbegehren und Volksentscheide werden Menschen ermutigt, sich zu engagieren. Sie übernehmen Verantwortung und können sie nicht mehr ,nach oben‘ abwälzen. Die Indentifikation mit dem politischen System steigt. Direkte Demokratie kann somit auch eine wirksames Mittel gegen schädlichen Populismus sein. Sie schließt Repräsentationslücken und nimmt Demagogen den Wind aus den Segeln.“ Vgl. https://www. mehr-demokratie.de/themen/volksabstimmungen/faktencheck/. 38 Göttrik Wewer, Legitimation staatlichen Handelns durch Transparenz? Eine Fallstudie für Hamburg, in: der moderne staat (dms) 2015, S. 295 – 313. 39 Christoph Gusy, Einseitige oder allseitige Transparenz? Das Informationsverwaltungsrecht und die post-privacy-Debatte, in: Lothar Knopp/Heinrich Amadeus Wolff (Hrsg.), Umwelt – Hochschule – Staat, Festschrift für Franz-Josef Peine, Berlin 2016, S. 423 – 440; Margrit Seckelmann, Transparenz als Legitimationsinstrument: das Beispiel der Liquid Democracy, in: Veith Mehde/dies. (Hrsg.), Zukunft der repräsentativen Demokratie, Festkolloquium anlässlich des 80. Geburtstags von Hans Peter Bull, Tübingen 2017 (i. D.). 35
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Aber war der Staat bisher wirklich eine „düstere Trutzburg“, wie Göttrik Wewer kürzlich ironisch fragte?40 Wie viel Intransparenz ist notwendig für politisches Handeln?41 Und verhindert „Transparenz“ nicht gerade die Findung sinnvoller Kompromisse?42 4. Die Reflexion dieser Frage in der Rechtsprechung Das Hamburgische Verfassungsgericht hat die Frage nach dem Verhältnis von repräsentativer und direkter Demokratie jüngst reflektiert. In seinem Urteil vom 13. Oktober 2016 zum Volksbegehren „Rettet den Volksentscheid“ formulierte es unter Bezugnahme auf Art. 20 Abs. 2 i. V. m. 28 Abs. 1 S. 2 GG bezogen auf das Verhältnis von repräsentativer und direkter Demokratie, dass zwar beide Möglichkeiten („Wahlen“ und „Abstimmungen“) in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG, der über Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG auch in den Ländern zu gewährleisten ist, genannt werden. Jedoch formulierte es das Verhältnis direkter zu repräsentativer Demokratie wie folgt: „Da zu diesen Grundsätzen [die über Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG auch in den Ländern zu gewährleisten sind, M. S.] die in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG verankerte Staatsform der repräsentativen Demokratie gehört, ist das als selbstverständlich vorausgesetzte Übergewicht des parlamentarischen Gesetzgebers nicht in Frage zu stellen.“43
Denn das Grundgesetz garantiere „dem Repräsentationsorgan eine substantielle Aufgabenzuweisung im Sinne quantitativ und qualitativ genügender Entscheidungsbefugnisse“.44
II. Antwortversuche 1. Zwischenbilanz Repräsentative und direkte Demokratie sind gleichermaßen im Grundgesetz erwähnt (Art. 20 Abs. 2 GG). Wenn direkte Demokratie als eine „rationalere“ Form von Demokratie dargestellt wird,45 so verschleiert dieses Argument, dass es ver-
40 Göttrik Wewer, Allheilmittel Transparenz? – Anmerkungen zur Diskussion, in: Verwaltung und Management 20 (2014), 4 – 18. 41 Dazu instruktiv die Beiträge in Stefan Hornbostel/Dagmar Simon (Hrsg.), Wieviel (In-)Transparenz ist notwendig? Peer Review Revisited, (= IFQ-Working-Paper Nr. 1), Bonn 2006. 42 Vgl. etwa Gusy (Fn. 39), S. 427 f.; Matthias Jestaedt, Das Geheimnis im Staat der Öffentlichkeit – Was darf der Verfassungsstaat verbergen? –, in: Archiv des öffentlichen Rechts 126 (2001), S. 204 – 243; Göttrik Wewer, Machen Transparenzgesetze Gesetzgebung transparent?, in: Kritische Vierteljahresschrift 2016, S. 462 – 487. 43 HVerfG v. 13. 10. 2016 – 2/16, S. 41 (Kursivsatz durch die Autorin, M. S.). 44 Ebd., S. 41 f. (Kursivsatz durch die Autorin, M. S.).
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schiedene Rationalitätsbegriffe gibt.46 Der parlamentarische Kompromiss, der von den Vertretern jenes Arguments als zu zeitraubend betrachtet wird, ist das zentrales Instrument politischer Rationalität,47 die man nicht gegen andere Rationalitätsbegriffe ausspielen darf.48 Aus diesem Grund sind auch „Plebiszite […] nicht demokratischer als die repräsentative Demokratie“.49 Sie „reduzieren die Bewältigung komplexer politischer Herausforderungen auf singuläre Ja/Nein-Entscheidungen, für deren politische Anschlussfähigkeit und Umsetzung andere verantwortlich sind“.50 45
Insofern ist die Zeit, die eine parlamentarische Kompromissfindung benötigt, auch kein Negativausweis. Sie macht Entscheidungen nachhaltiger und damit auch effektiver, Effizienz und Effektivität dürfen insoweit nicht gegeneinander ausgespielt werden. In den Worten von Hans Peter Bull braucht Politik „Zeit“ – und zwar im positiven Sinne.51 2. Bürgerkommunen und Bürgerpanel bzw. Planungszellen als Lösungsmöglichkeiten? a) Bürgerkommunen Das aber bedeutet im Umkehrschluss noch nicht, dass die repräsentative Demokratie und direktdemokratische Instrumente sich nicht ergänzen könnten. Dafür spricht, dass sie – richtig eingesetzt – unterschiedliche Sachverhalte betreffen. Diesen Gedanken macht sich auch die „kooperative“52 Demokratie (Bür-
45 Eine Tendenz dazu findet sich bei Emanuel Towfigh, Das Parteien-Paradox. Ein Beitrag zur Bestimmung des Verhältnisses von Demokratie und Parteien, Tübingen 2015, insbesondere S. 196 f. 46 Dazu Margrit Seckelmann, Evaluation und Recht. Strukturen, Prozesse und Legitimationsfragen staatlicher Wissensbeschaffung durch (Wissenschafts-)Evaluationen, Tübingen 2018 (i. D.). 47 So Christian Bickenbach, Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers. Analyse einer Argumentationsfigur in der (Grundrechts-)Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Tübingen 2014; Klaus Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, Berlin 2000; Helmuth Schulze-Fielitz, Der politische Kompromiß als Chance und Gefahr für die Rationalität der Gesetzgebung, in: Dieter Grimm/Werner Maihofer (Hrsg.) Gesetzgebungsthorie und Rechtspolitik (= JbRSoz XIII), Opladen 1988, S. 291 – 326; Seckelmann (Fn. 46). 48 Bernd Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Gesetzgebung, VVDStRL 71 (2012), S. 49 – 81; Schulze-Fielitz (Fn. 46); Seckelmann (Fn. 46); vgl. jetzt auch Armin Steinbach, Rationale Gesetzgebung, Tübingen 2017. 49 Voßkuhle (Fn. 1), S. 5. 50 Ebd. 51 Bull (Fn. 3), S. 108. 52 Bogumil/Holtkamp (Fn. 16), S. 191.
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gerkommune) zunutze, zu der auch Bürgerhaushalte53 und Bürgerpanels54 gehören. Hier haben sich bislang, auch wenn die freiwillige Beteiligung daran bislang überschaubar geblieben ist,55 eher positive Effekte gezeigt, zumindest dann, wenn „Vereine und Bürger in öffentlichen Einrichtungen stärker ihre eigenen Ressourcen einbringen“.56 Können sie das Angebot auch aufrechterhalten (s. o.), dann kann hier tatsächlich ein Einsparungseffekt entstehen, der zugleich mit einer besseren Verankerung der Angebote in der Bevölkerung einhergehen kann.57 Allerdings sollte es nicht dazu kommen, dass gesellschaftliche Angebote und kommunale Angebote neben- oder sogar gegeneinander agieren, wie es auch schon beobachtet wurde.58 Wichtig ist es vor allem, direktdemokratische Angebote für Sachfragen einzusetzen, wo Bürger tatsächlich etwas mitentscheiden können. Lässt man partizipative Elemente nur für solche Materien zu, in denen sie wenig bewirken (aber auch wenig ‚Schaden anrichten‘) können, droht, so Lars Holtkamp, die „Niedlichkeitsfalle“.59 Setzt man sie aber umgekehrt bei Fragen ein, die letztlich gar nicht in den Kommunen entschieden werden können, sondern nur vom Land, und beteiligt die Bürger nur unverbindlich, können Frustrationseffekte entstehen, wenn sich die Beteiligten später fragen, was denn aus ihrem Votum geworden sei.60 b) Planungszellen Ein zielführendes Modell, das eine soziale Selbstselektion vermeidet, da es die beteiligten Bürger zufällig auswählt, ist die Planungszelle,61 die in jüngster Zeit eine 53 Helmut Klages/Carmen Daramus, „Bürgerhaushalt Berlin-Lichtenberg“. Partizipative Haushaltsplanaufstellung, -entscheidung und -kontrolle im Bezirk Lichtenberg von Berlin. Begleitende Evaluation, Speyer 2007 (= Speyerer Forschungsberichte, 249); weitere Beispiele finden sich bei Bogumil/Holtkamp (Fn. 16), S. 195 f. sowie Holtkamp (Fn. 8), S. 262 ff. 54 Hartmut Bauer/Lydia Hayasch, Vom passiven Untertan über den Wutbürger zum aktiven Citoyen: in Hartmut Bauer/Christiane Büchner/Lydia Hayasch (Hrsg.), Partizipation in der Bürgerkommune, Potsdam 2017 (= KWI-Schriften, 10), S. 15 – 31, 27 f. und passim. 55 Holtkamp (Fn. 8), S. 262 m. w. N. 56 Holtkamp (Fn. 8), S. 260. 57 Marc Gnädiger, Schuldenfreie Kommunen 2010. Ein Überblick über die schuldenfreien Gemeinden und Gemeindeverbände der dreizehn deutschen Flächenländer, Taunusstein 2010, S. 196 f.; Holtkamp (Fn. 8), S. 260. 58 Dazu instruktiv der Gastbeitrag von Christian Kreutz vom 28. 04. 2016 auf netzpolitik.org, https://netzpolitik.org/2014/frankfurter-buergerbeteiligung-und-was-das-ueber-den-zustand-von-open-government-in-dtl-sagt/ [20. 05. 2017]. 59 Bogumil/Holtkamp (Fn. 16), S. 191 unter Bezugnahme auf Roland Roth, Bürgerorientierung, Bürgerengagement, Corporate Citizenship, in: Heidi Sinnig (Hrsg.), Stadtmanagement. Strategien zur Modernisierung der Stadt(-region), Dortmund 2007, S. 132 – 143. 60 Bogumil/Holtkamp (Fn. 16), S. 191; als Beispiel für derartige Frustrationseffekte vgl. Kreutz (Fn. 58).
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Renaissance erlebt.62 Hierbei handelt es sich um ein Anfang der 1970er Jahre von Peter C. Dienel entwickeltes Verfahren, das „Betroffene und themenspezifische Experten zusammenbringt“: Um „einen möglichst repräsentativen Querschnitt der Gesellschaft oder einer Organisation zu erreichen, werden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer durch Zufallsstichproben ausgewählt“.63 Dieses Verfahren ist in der Tat sehr brauchbar, da es – wie gesagt – vermeidet, dass sich nur die Angehörigen einer gut ausgebildeten Mittelschicht zu Wort melden können. Es handelt sich allerdings um ein recht voraussetzungsreiches und zeitintensives Unterfangen, das nicht für jedes Vorhaben durchgeführt werden kann – wohl aber für besonders wichtige. 61
III. Bilanz Fällt also die Bilanz einer „Bürgerbeteiligung ohne Parlament“ eher nüchtern aus? Stehen wir mit Bertolt Brecht „selbst enttäuscht und sehn betroffen [d]en Vorhang zu und alle Fragen offen“64? Nein, es sollte nur deutlich geworden sein, dass bürgerschaftliche Partizipation gut und wünschenswert ist, sofern sie nicht dazu ge- oder sogar missbraucht wird, die repräsentative Demokratie und damit auch die Parteiendemokratie „zunehmend entbehrlich“ machen65 oder anderweitig delegitimieren zu wollen. Gerade unter den Bedingungen des digital divide und von Echokammereffekten können auch (Online-)Partizipationsverfahren Fehlsteuerungen aufweisen, denen es dann wieder mithilfe eines staatlichen bzw. kommunalen „Partizipationsmanagement[s]“66 entgegenzusteuern gilt. Denn der Staat, die res publica, das sind wir, die Bürgerinnen und Bürger. Er ist uns nicht feindlich entgegengestellt.67
61 Peter C. Dienel, Die Planungszelle. Der Bürger als Chance, 5. Aufl., Wiesbaden 2002; ders., Demokratisch, Praktisch, Gut. Merkmale, Wirkungen und Perspektiven von Planungszellen und Bürgergutachten, Bonn 2009. 62 Vgl. beispielhaft Bauer/Hayasch (Fn. 54), S. 25 f.; Towfigh (Fn. 45), S. 218 ff. 63 So die Darstellung unter http://www.planungszelle.de/index.php/die-planungszelle [12. 05. 2017]. 64 Bertolt Brecht, Der gute Mensch von Sezuan, Frankfurt am Main 1964, S. 144. 65 So aber die Zielvorstellung von Towfigh (Fn. 45), S. 196 f. 66 Begriff nach und gute Beispiele dafür bei Bogumil/Holtkamp (Fn. 16), S. 191. 67 Mit dieser Tendenz aber Karl-Heinz Ladeur, Der Staat gegen die Gesellschaft. Zur Verteidigung der Rationalität der „Privatrechtsgesellschaft“, Tübingen 2006.
Gesetzgebung in Zeiten der „Flüchtlingskrise“ Von Constanze Janda Gesetzgebung in Zeiten der „Flüchtlingskrise“ Constanze Janda
Die sogenannte „Flüchtlingskrise“ hat seit dem Sommer 2015 nicht nur einen erheblichen Anstieg der Asylgesuche, sondern auch zahlreiche und umfassende Rechtsänderungen1 mit sich gebracht, mit denen versucht wurde, die Verfahren zu beschleunigen und zugleich die Zahl der Asylsuchenden zu reduzieren. Der folgende Beitrag zeigt zunächst die migrationsrechtlichen Gestaltungsspielräume im Mehrebenensystem auf (A.), nimmt sodann die parlamentarische Arbeit in der „Flüchtlingskrise“ in den Blick (B.) und geht abschließend der Frage nach, ob das Parlament seiner Verantwortung im Gesetzgebungsprozess gerecht wird (C.).
I. Ausländerrecht im Mehrebenensystem Die Regulierung des Zugangs von „Fremden“ zum Staatsgebiet ist eine der ureigenen Domänen des Nationalstaats, der durch ein eigenes Staatsvolk, ein nach außen abgegrenztes Staatsgebiet sowie die souveräne Staatsgewalt geprägt ist.2 Entsprechend umfassend sind die Rechtssetzungsbefugnisse des Bundes in der Flüchtlingsgesetzgebung. 1. Der grundgesetzliche Rahmen der Flüchtlingsgesetzgebung Als Grundrecht ist die Einreisefreiheit von Ausländern3 in der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 I GG zu verorten4 – und folglich der Einschränkung im Rahmen der allgemeinen verfassungsmäßigen Ordnung unterworfen.5 Diese Schranke hat der Gesetzgeber mit Erlass des AufenthG determiniert, in dem die Einreise und der Aufenthalt von Ausländern in der Bundesrepublik einem Verbot mit Erlaubnisvorbehalt unterstellt ist.6 Dies gilt auch für den Personenkreis,
Vgl. den Überblick bei Berlit, Flüchtlingsrecht in Zeiten der Krise, S. 86 ff. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 394. 3 Die Einreise von Deutschen in das Bundesgebiet ist von Art. 11 I GG – einem Deutschengrundrecht – geschützt, st. Rspr. seit BVerfGE 2, 266, 273. 4 BVerfGE 35, 382, 398. 5 Zuleeg, Zur staatsrechtlichen Stellung der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, DÖV 1973, 361. 6 Wallrabenstein, Das Verfassungsrecht der Staatsangehörigkeit, S. 24; Bast, Aufenthaltsrecht und Migrationssteuerung, S. 28. 1 2
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der gemeinhin unter dem Begriff des „Flüchtlings“7 zusammengefasst wird. Auch das Asylgrundrecht aus Art. 16a GG vermittelt als solches keine Einreisefreiheit, sondern setzt den Aufenthalt des Asylsuchenden in der Bundesrepublik voraus.8 Verfahren und Status im Verlauf der Überprüfung der Asylberechtigung sind einfachgesetzlich im AsylG determiniert. Das bei der Verabschiedung des Grundgesetzes so essenzielle Asylgrundrecht aus Art. 16 GG a.F.9 hat inzwischen erheblich an Bedeutung eingebüßt. Dies liegt nicht nur an der erheblichen Einschränkung seines Schutzbereichs durch den sogenannten Asylkompromiss im Jahr 1993: Als Reaktion auf den damaligen starken Anstieg der Asylgesuche wurde mit verfassungsändernder Mehrheit beschlossen, dass sich auf das Asylgrundrecht nur noch berufen kann, wer weder aus einem sicheren Herkunftsstaat stammt noch über einen sicheren Drittstaat in die Bundesrepublik eingereist ist.10 Das nationale Grundrecht ist zudem durch die internationalrechtlichen Schutzgewährleistungen überformt, die teilweise mit diesem deckungsgleich sind, insgesamt aber erheblich darüber hinausgehen.11 Die Präzisierung der grundrechtlichen Verbürgungen obliegt dem Gesetzgeber, der sich auf einen weiten Kompetenzkatalog stützen kann: Nach Art. 72 I GG verfügt der Bund über die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz im Staatsangehörigkeitsrecht (Nr. 2) sowie im Passwesen, der Regelung von Ein- und Auswanderung sowie Auslieferung (Nr. 3). Der konkurrierenden Gesetzgebung sind in Art. 74 I GG das Aufenthalts- und Niederlassungsrecht der Ausländer (Nr. 4), die Angelegenheiten der Flüchtlinge und Vertriebenen (Nr. 6) sowie das Sozialrecht (Nr. 7 und Nr. 12) zugewiesen, wobei letzteres vor allem in seiner Ausprägung als „Fürsorge“ für die existenzsichernden Leistungen an international Schutzsuchende von Bedeutung ist. 2. Das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) Über die Genfer Konvention hinaus prägt das Europarecht inzwischen wesentlich das Migrations- und Flüchtlingsrecht. Union und Mitgliedstaaten teilen sich die 7 Der Begriff umfasst tatsächlich eine recht heterogene Gruppe: Personen, die um Asyl nach Art. 16a GG nachsuchen, stellen nach § 13 AsylG implizit stets auch Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes i.S.v. § 1 Abs. 1 AsylG. Dies umfasst den Flüchtlingsstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), als auch den subsidiären Schutz. Darüber hinaus können nationalrechtliche Abschiebungsverbote (§ 60 V, VII AufenthG) wie auch die Duldung (§ 60a AufenthG) der Lebenssituation als „Flüchtling“ zuzuordnen sein. Zur Abgrenzung der Schutzstatus Berlit, Flüchtlingsrecht in Zeiten der Krise, S. 34 ff., Funke, JZ 2017, 533, 534 f. 8 Funke, Das Flüchtlingsrecht zwischen Menschenrecht, Hilfspflicht und Verantwortung, JZ 2017, 533, 533. 9 Zur Entstehungsgeschichte Wittreck, in: Dreier, GG, Art. 16a, Rn. 11. 10 Kluth, in: Oppelland, Das Recht auf Asyl im Spannungsfeld von Menschenrechtsschutz und Migrationsdynamik, S. 11 f. 11 Bast, Aufenthaltsrecht und Migrationssteuerung, S. 185 ff.
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Zuständigkeit im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, Art. 4 II lit. j) AEUV. Ursprünglich als bloßes Kooperationsgebot ausgestaltet, wurde die Zuständigkeitsregelung mit dem Vertrag von Amsterdam im Jahr 1997 eingeführt.12 Sie ist nicht zuletzt notwendige Konsequenz des Wegfalls der Kontrollen an den Binnengrenzen, welche die Überwachung des Zugangs zum Territorium der Mitgliedstaaten an die Außengrenzen der Union verlagert. Die Mitgliedstaaten verfolgen gemäß Art. 67 II AEUV eine gemeinsame Politik in den Bereichen Asyl, Einwanderung und Kontrollen an den Außengrenzen, die sich auf die Solidarität der Mitgliedstaaten gründet und gegenüber Drittstaatsangehörigen angemessen ist. Ziel dieser gemeinsamen Politik ist einerseits die Verhinderung des sogenannten asylum shopping – die freie Wahl des Zielstaats durch Migranten, etwa aufgrund des als besonders großzügig wahrgenommenen nationalen Rechts – als auch einer als refugees in orbit umschriebenen Situation, in der kein Mitgliedstaat die Verantwortung für die Überprüfung eines Schutzgesuchs übernehmen will. Um diese Ziele zu erreichen, etabliert das Unionsrecht nicht lediglich Mindeststandards in der Grenzschutz- (Art. 77 AEUV), Asyl- (Art. 78 AEUV) und Einwanderungspolitik (Art. 79 AEUV), sondern kann eine weitgehende Harmonisierung bewirken.13 Die Prinzipien des Gemeinsamen Asylsystems wurden anlässlich des Rats von Tampere im Jahr 199914 präzisiert. Ziele sind eine Angleichung der Schutzstandards, die praktische Zusammenarbeit zwischen den und die Solidarität unter den Mitgliedstaaten. Dementsprechend ermächtigt Art. 78 II AEUV Rat und Parlament zum Erlass von Regelungen über einen einheitlichen Asyl- bzw. subsidiären Schutzstatus für Drittstaatsangehörige, einschließlich des Verfahrens zu dessen Gewährung bzw. Entzug, einheitliche Regeln zum vorübergehenden Schutz von Vertriebenen im Falle eines Massenzustroms, Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats, die Aufnahmebedingungen sowie die Partnerschaft und Zusammenarbeit mit Drittstaaten zur Steuerung des Zustroms von Schutzsuchenden. In Ausübung dieser Kompetenzen sind neben der Dublin-Verordnung15 über die Bestimmung des zuständigen Staats für das Asylverfahren ver-
12 Huber, Die europäische Asylpolitik nach Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages, InfAuslR 2000, 302; Zimmer, Der Vertrag von Amsterdam und das deutsche Asylrecht, NVwZ 1998, 453. 13 Schmahl, Die Vergemeinschaftung der Asyl- und Flüchtlingspolitik, ZAR 2001, 3; Kluth, Reichweite und Folgen der Europäisierung des Ausländer- und Asylrechts, ZAR 2006, 1; Dörig, Auf dem Weg in ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem, NVwZ 2014, 106. 14 Vgl. Europäischer Rat von Tampere, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Dok. SN 200/1/99, Rz. 13 ff. 15 Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, ABl. Nr. L 180 S. 31.
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schiedene Richtlinien erlassen worden: die Qualifikationsrichtlinie,16 die Verfahrensrichtlinie,17 die Massenzustrom-Richtlinie18 und die Aufnahmerichtlinie.19 Die bisherigen Regelungen haben sich jedoch als unzureichend erwiesen, um den gewünschten Harmonisierungsgrad zu erreichen. Auch das Ziel der solidarischen Lastenverteilung unter den Mitgliedstaaten wurde nicht verwirklicht.20 Im neuen GEAS sollen daher die Richtlinien weitgehend durch Verordnungen ersetzt werden,21 die das Europäische Asylrecht auch inhaltlich neu justieren und damit die Reform des gemeinsamen Europäischen Asylsystems vollenden sollen.22 Die Kommission 23 hat hierzu eine Reihe von Vorschlägen unterbreitet, namentlich zur Neufassung der Dublin-Verordnung,24 der Eurodac-Verordnung,25 zur Asylverfahrensverordnung26 und zur Qualifikationsverordnung.27 Sie zielen auf eine Harmonisierung der Anerkennungskriterien und eine Vereinheitlichung des Verfahrens. 16 Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit internationalem Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl. Nr. L 337, S. 9. 17 Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zum gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes, ABl. Nr. L 180, S. 60. 18 Richtlinie (2001/55/EG) vom 20. Juli 2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten, ABl. N. L 212, S. 12. 19 Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, ABl. Nr. L 180, S. 96. 20 Ausführlich Groß, Wie solidarisch ist das europäische Asylrecht?, Z’Flucht 2017, 72; Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Migration und Integration (SVR), Chancen in der Krise: Zur Zukunft der Flüchtlingspolitik in Deutschland und Europa. Jahresgutachten 2017, S. 30 f.; Trauner, Wie sollen Flüchtlinge in Europa verteilt werden? Der Streit um einen Paradigmenwechsel in der EU-Asylpolitik, integration 2/2016, 93, 87. 21 Vgl. den umfassenden Überblick von Marx, Europäische Integration durch Solidarität beim Flüchtlingsschutz, KJ 2016, 150, 159 ff.; Henkel, Die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, DVBl 2017, 269 ff.; Berlit, Flüchtlingsrecht in Zeiten der Krise, S. 30 ff. 22 EU-Kommission, Vollendung der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems: eine effiziente, faire und humane Asylpolitik, http://europa.eu/rapid/press-release_IP16 – 2433_de.htm. 23 KOM(2016) 197 endg. 24 KOM(2016) 270 endg. 25 KOM(2016) 272 endg. 26 KOM(2016) 467. 27 KOM(2016) 466 endg.
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Werden die Vorschläge umgesetzt, was angesichts der derzeitigen Stimmungslage unter den Mitgliedstaaten der EU, namentlich der sogenannten Visegrád-Gruppe28 mehr als fraglich ist, mindert sich der Gestaltungsspielraum des nationalen Gesetzgebers erheblich. Der Fortbestand der Regelungen über nationale Abschiebungshindernisse nach § 60 V, VII AufenthG ist dabei ebenso fraglich wie der Asylstatus nach Art. 16a I GG.29 Von besonderem Gewicht dürfte eine Harmonisierung des Konzepts der sicheren Herkunftsstaaten sein, das nach dem Entwurf der Asylverfahrensverordnung zur Unzulässigkeit – im deutschen Recht: offenkundige Unbegründetheit – des Antrags führt und weitaus mehr Staaten umfasst als bislang in Anlage II zu § 29a AsylG enthalten. In verfahrensrechtlicher Hinsicht ist beabsichtigt, das Europäische Asylunterstützungsbüro EASO30 zu einer EU-Agentur für Asylfragen31 umzugestalten. Auch für die Verfahrensregeln selbst wird eine Harmonisierung angestrebt, die von der Vereinheitlichung von Fristen wie auch des Rhythmus für eine Überprüfung des Fortbestand der Fluchtgründe über die Mitwirkungspflichten von Asylsuchenden bis zur Verpflichtung zur Gewährung kostenloser Rechtsbeistände im Asylverfahren reicht.32 Unverändert durch eine Richtlinie sollen hingegen die Mindeststandards für die Aufnahme von Schutzsuchenden geregelt werden.33 Wegen der erheblichen Unterschiede in den Rechtstraditionen und den Ausrichtungen der sozialen Sicherungssysteme der Mitgliedstaaten soll so Raum für Flexibilität gegeben werden. Dies gilt jedoch nicht umfassend, denn beispielsweise werden Arbeitsmarktzugang,34 Residenzpflichten und Tatbestände, die zu Leistungskürzungen führen können, vereinheitlicht. 3. Zwischenergebnis Im Ergebnis ist zu konstatieren, dass – sollten die politischen Widerstände35 gegen eine Einigung auf Unionsebene überwunden werden – die Spielräume der nationalen Parlamente in der Migrations- und Flüchtlingspolitik schwinden. Für 28 Ein Zusammenschluss von Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn. Wegen der Weigerung, sich an dem vereinbarten Umverteilungsprogramm zu beteiligen, hat die Kommission im Juni 2017 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen, Tschechien und Ungarn eingeleitet, http://europa.eu/rapid/press-release_IP-17 – 1607_de.htm. 29 Henkel, DVBl 2017, 269, 270 f. 30 Rechtsgrundlage war die Verordnung (EU) Nr. 439/2010. 31 KOM(2016) 271 endg. 32 Henkel, DVBl 2017, 269, 271 f. 33 KOM(2016) 465 endg.; dazu Henkel, DVBl 2017, 269, 272 f. 34 Schon nach derzeitiger Rechtslage ist das in § 61 AsylG verankerte Verbot des Arbeitsmarktzugangs für Asylsuchende aus sicheren Herkunftsstaaten nicht mit Art. 15 RL 2013/33/EG vereinbar. 35 Die fehlende Einigkeit rügte EU-Innenkommissar Avramopoulos beispielsweise auch anlässlich der fehlenden Umsetzung des bereits auf europäischer Ebene beschlossenen Verteilungsmechanismus zur Umverteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU-Mitgliedstaaten, Pressemitteilung vom 16. 5. 2017, http://europa.eu/rapid/press-release_IP-17 – 1302_en.htm.
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die Zusammenarbeit der Polizei sowie der Justiz in Strafsachen ist in Art. 69 AEUV ausdrücklich angeordnet, dass die nationalen Parlamente Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit der europäischen Rechtssetzung überwachen.36 Für das GEAS findet sich keine entsprechende Anordnung. Art. 72 AEUV sieht einen ordre-public-Vorbehalt vor, dessen Gehalt schwer einzuordnen ist – er wird zugunsten der Mitgliedstaaten als „Souveränitätsvorbehalt“ interpretiert, der eine „Kompetenzausübungsgrenze“ für den Unionsgesetzgeber bildet und den Mitgliedstaaten beispielsweise die Wiederaufnahme von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen ermöglicht, sofern sie ihre öffentliche Sicherheit und Ordnung bedroht sehen.37
II. Das Parlament als Akteur in der Flüchtlingspolitik Solange das vereinheitlichte europäische Asylsystem nicht verabschiedet ist, bleibt es bei der Gestaltungsaufgabe des nationalen Gesetzgebers im derzeitigen Rechtsrahmen des Mehrebenensystems.38 Sind danach die Zuständigkeiten für die Prüfung von Asylgesuchen europarechtlich determiniert – auf dem Höhepunkt der „Flüchtlingskrise“ blieb das Dublin-System freilich weitgehend unangewendet – kann sich die mitgliedstaatliche Politik vor allem auf Verfahrensfragen und die Ausgestaltung der Aufnahmebedingungen beziehen. Diese Kompetenzen hat der Gesetzgeber durchaus umfassend genutzt. Das Wirken des Parlaments verdient jedoch aufmerksame Betrachtung: öffentliche Wahrnehmung, Themensetzung und Tempo der Gesetzgebung legen den Schluss nahe, dass das Parlament nur unzureichend als aktiver Gestalter der Flüchtlingspolitik beteiligt war. 1. Öffentliche Wahrnehmung Der Satz der Bundeskanzlerin „Wir schaffen das!“39 erweist sich insofern als Symptom einer weitgehend fehlenden parlamentarischen Debatte über die Ausrichtung des Flüchtlingsrechts als Reaktion auf den mass influx. In der öffentlichen – vor allem: medialen – Debatte wurde dieser Satz oftmals zu Unrecht als Einladung zur unkontrollierten Einreise in die Bundesrepublik interpretiert,40 aber auch als Ausdruck der sogenannten „Willkommenskultur“41 und einer Offenheit und Großzügigkeit gegenüber Geflüchteten. Suhr, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 69 AEUV, Rn. 4 ff. Rossi, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 72 AEUV, Rn. 4 und 8. 38 Papier, NJW 2016, 2391, 2396. 39 Sommerpressekonferenz der Bundeskanzlerin vom 31. 8. 2015, https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/2015/08/2015 – 08 – 31-pk-merkel.html 40 Dazu SVR, Chancen in der Krise: Zur Zukunft der Flüchtlingspolitik in Deutschland und Europa. Jahresgutachten 2017, S. 32; KJ 2016, 407, 408. 41 Zu diesem Begriff Barwig/Schumacher, Willkommenskultur – Anfragen an ein euphemistisches Projekt, in: Devetzi/Janda, Freiheit – Gerechtigkeit – Sozial(es) Recht, S. 36 ff. 36 Dazu 37
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Dieser Eindruck steht freilich in krassem Widerspruch zur tatsächlichen Rechtsentwicklung, die mit dem Begriff „Rollback“ recht treffend umschrieben werden kann: Es wurde nicht nur der Kreis der sicheren Herkunftsstaaten (Anlage II zu § 29a AsylG) ausgeweitet, sondern Asylsuchende aus diesen Staaten werden seit Inkrafttreten des „Asylpakets I“ dauerhaft vom Arbeitsmarkt ferngehalten und dürfen bis zum Abschluss ihres Verfahrens nicht dezentral untergebracht werden. Neben den durchaus begrüßenswerten Maßnahmen zur frühzeitigen sprachlichen und beruflichen Integration von Asylsuchenden mit sicherer Bleibeperspektive nach dem Integrationsgesetz wurde aber auch das Sanktionssystem in § 1a AsylbLG erheblich verschärft. Diese lediglich beispielhaft aufgezählten Rechtssetzungsakte werfen die Frage nach ihrer Vereinbarkeit mit dem Verfassungsrecht, namentlich dem Recht auf Sicherung einer menschenwürdigen Existenz aus Art. 1 I, 20 I GG oder dem Gleichbehandlungsgebot aus Art. 3 I GG auf, wurden und werden im medialen Diskurs aber kaum wahrgenommen.42 2. Themensetzung Das Parlament war an diesen Entwicklungen beteiligt, schließlich hat es die Gesetze verabschiedet. Deren Entstehung und Diskussion fand jedoch weniger im Bundestag statt: Durch einen Kabinettsbeschluss vom 6. 10. 2015 wurde die „politische Gesamtkoordinierung“ der Flüchtlingspolitik dem Bundeskanzleramt zugeordnet; dem bis dahin federführende Innenministerium (auch nicht Legislative) oblag die „operative Koordinierung“. Die Länder wurden durch einen neu geschaffenen „Bund-Länder-Koordinierungsstab Asyl und Flüchtlinge“ einbezogen, der sich bereits am 26. 8. 2015 konstituiert hatte. In der 18. Wahlperiode lassen sich ca. 40 Gesetzentwürfe ausmachen, die einen inhaltlichen Bezug zu Zuwanderung, Flucht, Ausländerrecht oder Integration aufweisen. Von diesen stammte nahezu die Hälfte aus der Bundesregierung.43 Der Schwerpunkt der gesetzgeberischen Initiativen ging folglich nicht vom Parlament aus, sondern verdeutlicht schon in der Ideenfindung eine „Dominanz der Exekutive“. 3. Beschleunigung der Rechtsetzung Auch das Tempo der Gesetzgebung veranschaulicht die unzureichende Einbeziehung des Parlaments: Das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz (in der Öffentwissenschaftlichen Debatte vgl. Pelzer/Pichl, ZAR 2016, 96 (zu Wohnsitzauflagen); Voigt, info also 2016, 99 (zu den Änderungen im AsylbLG); Kluth, ZAR 2016, 121 (zum Asylpaket II); Putzer, NVwZ 2017, 1176 (zur Einschränkung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte); v. Harbou, NVwZ 2016, 421; Thym, ZAR 2016, 241 (jeweils zum Integrationsgesetz). Umfassend Möstl, Verfassungsfragen der Flüchtlingskrise 2015/16, AöR 2017, 175 ff. 43 Quelle: Eigene Recherche in den Datenbanken des Parlamentsservers (http://www. bundestag.de/dokumente), Stand 15. 5. 2017. 42 Zur
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lichkeit als „Asylpaket I“ bezeichnet)44 wurde am 29. 9. 2015 als Gesetzentwurf durch die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebracht. Die erste Lesung im Bundestag fand nur zwei Tage später statt, die Beschlussempfehlung des Ausschusses erfolgte weitere zwei Wochen später. Das Gesetz trat am 24. 10. 2016 – nach nicht einmal vier Wochen – in Kraft. Das Integrationsgesetz45 wurde am 26. 5. 2016 als Gesetzentwurf durch die Bundesregierung eingebracht und trat keine drei Monate später – am 6. 8. 2016 in Kraft. Zwischen der ersten Lesung im Bundesrat und der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Soziales vergingen knapp zwei Wochen – wenig Zeit, um ein Gesetz umfassend zu debattieren, um Expertinnen und Experten für die Ausschussarbeit zu finden und diese vorzubereiten.
III. Schlussfolgerungen Die sogenannte Flüchtlingskrise hat den öffentlichen Diskurs über lange Zeit dominiert.46 Wenn jedoch eine Vielzahl von Gesetzentwürfen von der Stabsstelle Migration des Bundeskanzleramts vorbereitet wird, stellt sich die Frage, ob der Bundestag hier tatsächlich eigene Akzente setzt oder lediglich ausführt, was die Bundesregierung vorlegt. Bedenklich ist dies nicht nur im Lichte des Demokratieprinzips, insbesondere des Grundsatzes der Gewaltenteilung. Die unzureichende parlamentarische Debatte birgt auch die Gefahr mangelnder Akzeptanz der Flüchtlingspolitik in der Bevölkerung: Wenn im Parlament nicht um Lösungen gestritten und gerungen wird, können populistische Strategien Platz greifen, die Teilen der Bevölkerung den Eindruck vermitteln, dass ihre Interessen keine Beachtung mehr finden.47 Sicher war die Situation im „Sommer der Migration“ eine besondere. Die Ereignisse überschlugen sich und es mussten schnell Auswege gefunden werden. Es ist jedoch zu diskutieren, ob wirklich eine unzureichende Gesetzeslage zur „Flüchtlingskrise“ geführt hat48 oder vielmehr die fehlenden Kapazitäten der Verwaltung, welche die Bewältigung der großen Zahl von Asylsuchenden erheblich verlangsamt hat. Statt in Aktionismus zu verfallen, wäre es Aufgabe des Parlaments, intensiv über ein solides Konzept zur Einwanderung zu verhandeln. Diese Debatte braucht 44 BT-
Drs. 18/6185. BT-Drs. 18/8829. 46 Berlit, Flüchtlingsrecht in Zeiten der Krise, S. 9; Wallrabenstein, „Ich sehe was, was du nicht siehst“ Wahrnehmungsunterschiede in der Flüchtlingsdebatte, KJ 2016, 407, 408. 47 Rechtspopulistische Bewegungen und Parteien verzeichneten seit 2015 einen erheblichen Zulauf. Dieser ist zwar nicht ausschließlich auf die „Flüchtlingskrise“ zurückzuführen, war aber durch diese maßgeblich bedingt, dazu SVR, Chancen in der Krise: Zur Zukunft der Flüchtlingspolitik in Deutschland und Europa. Jahresgutachten 2017, S. 164 f. 48 So Papier, Asyl und Migration als Herausforderung für Staat und EU, NJW 2016, 2391, 2391. 45
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Zeit, denn sie muss eine Vielzahl von Interessen, Bedenken, Zielsetzungen und Ansätze vereinen.49 Nur so kann der gesellschaftliche Zusammenhalt gestärkt werden. Populistischen Ansätze beschränken sich in aller Regel auf ein „Dagegen“ und suchen nicht konstruktiv nach Lösungen. Die Zuwanderung von Flüchtlingen wird in einigen Teilen der Bevölkerung als bedrohlich empfunden.50 Dieser Ängste muss sich der Gesetzgeber annehmen – nicht indem er sich diese unreflektiert zu Eigen macht, sondern indem er Lösungswege aufzeigt, welche sowohl den Interessen der inländischen Bevölkerung als auch denen der Schutzsuchenden gerecht werden. Für die Ausgestaltung des Flüchtlingsrechts sind vielfältige Vorschläge gemacht worden: von der Etablierung einer Obergrenze für Asylsuchende über den Aufbau von Hotspots bis hin zur Einführung humanitärer Visa.51 Das Parlament ist der Raum, in dem solche rechtspolitischen Initiativen zu Gesetzen werden, die unser Rechtssystem langfristig prägen und nachhaltig beeinflussen. Es ist daher zu wünschen, dass sich die Parlamentarier dieser Verantwortung stellen und ihre Beteiligungsrechte gegen exekutive Dominanz nutzen. Das müssen wir schaffen.
49 Siehe auch Funke, JZ 2017, 533, 541: „… jede Ausgestaltung des Flüchtlingsrechts [ist] durch Aushandlung und Kompromiss gekennzeichnet.“ 50 SVR, Chancen in der Krise: Zur Zukunft der Flüchtlingspolitik in Deutschland und Europa. Jahresgutachten 2017, S. 163. 51 Siehe den umfassenden Überblick bei Berlit, Flüchtlingsrecht in Zeiten der Krise, S. 59 ff.; speziell zur Obergrenze Funke, JZ 2017, 533, 540 f.
Demografischer Wandel und Entscheidungsspielräume des Parlaments Von Gisela Färber Demografischer Wandel und Entscheidungsspielräume des Parlaments Gisela Färber
I. Einleitung Dass Deutschland schrumpft und altert, weil die Frauen für den Bevölkerungserhalt nicht mehr genug Kinder bekommen, haben viele alte und auch viele jüngere Männer seit mehr als 35 Jahren beklagt1. Nach dem Geburtenboom, der mit dem sog. Wirtschaftswunder in der Nachkriegszeit einsetzte, nahmen weltweit auch als Folge der effektiveren Empfängnisverhütung etwa ab Mitte der 1960er Jahre die Geburtenzahlen bis etwa Mitte der 1970er Jahre stark ab, was in der Literatur gerne als „Pillenknick“ bezeichnet wird. Die verschiedenen Industrieländer unterscheiden sich lediglich hinsichtlich der Stärke des Geburtenrückgangs Deutschland. In Deutschland fehlten etwa ein Drittel der Geburten zum Erhalt der Müttergeneration – zeitweise hatte nur der Vatikan niedrigere Geburtenraten –, während in den skandinavischen Ländern nur 20 % fehlten. In Frankreich schließlich „erholten“ sich die Geburtenziffern wieder mit der Folge, dass Deutschlands unmittelbarer Nachbar im Westen heute zusammen mit Irland mit die höchsten Geburtenraten der entwickelten Länder aufweist2. Schon seit den 1980er Jahren beschäftigt sich nicht nur die Wissenschaft mit dem demografischen Wandel und seinen Folgen für die verschiedensten Politikbereiche. Auch und gerade die Parlamente waren schon früh und immer wieder damit befasst: Hier ist einerseits bereits auf die Bundestags-Drucksachen 8/4437 v. 8. 8. 19803 und 1 Vgl. Bomsdorf, Eckart/Winkelhausen, Jörg: Das Geburtendefizit steigt dramatisch – Modellrechnungen auf der Basis der Bevölkerungsdaten von 2011; in: ifo Schnelldienst 19/2012, S. 26 ff. Birg, Herwig: Migration, Geburtendefizit und Alterung in Deutschland – Entwicklung und Problematik aus demographischer Sicht, in: David, M./Borde, T./Kentenich, H. (Hrsg.): Migration, Frauen, Gesundheit: Perspektiven im europäischen Kontext. Frankfurt/M. Eds); Frankfurt /M. 2000, S. 187 ff.; Bujard, Martin: Folgen der dauerhaft niedrigen Fertilität in Deutschland – Demografische Projektionen und Konsequenzen für unterschiedliche Politikfelder; in: Comparative Population Studies, 2015, S. 53 ff. 2 Zu den Geburtenzahlen vgl. Statistisches Bundesamt: Deutschland im EU-Vergleich 2017 [https://www.destatis.de/Europa/DE/Staat/Vergleich/DEUVergleich.html; download 29. 9. 2017]. 3 Vgl. Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht über die Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland; 1. Teil: Analyse der bisherigen Bevölkerungsentwicklung und Modellrechnungen zur zukünftigen Bevölkerungsentwicklung; BTDrs. 8/4437 v. 8. 8. 1980.
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10/8634 zu verweisen, andererseits auf die zehn Jahre von 1992 bis 2002 tagende Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“ des Deutschen Bundestages5. Auch Landtage diskutierten das Thema mit Expertenunterstützung, so z.B. in den Enquetekommissionen des Sächsischen Landtags „Demographische Entwicklung und ihre Auswirkungen auf die Lebensbereiche der Menschen im Freistaat Sachsen sowie ihre Folgen für die politischen Handlungsfelder“6 sowie zuletzt des Landtags Nordrhein-Westfalen „Bewertung der Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte in Nordrhein-Westfalen unter den Bedingungen der Schuldenbremse und des demografischen Wandels in der Dekade 2020 bis 2030“ (Enquetekommission III)7. Verschiedene Expertenkommissionen, darunter z.B. die Kommission zur Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme8, erarbeiteten Reformvorschläge, die von der Politik umgesetzt wurden. Vielfach wird der demografische Wandel als längst programmiert und die politischen Konsequenzen als zwangsläufig vorgegeben dargestellt. Der vorliegende Beitrag will indes am Beispiel der Folgen für die öffentlichen Haushalte zeigen, wie unsicher die in den letzten 30 Jahren angestellten Modellrechnungen waren und dass politische Entscheidungsträger, insbesondere die Parlamente, gut daran tun, die Ergebnisse nicht nur nachzuhalten, sondern auch die Reformmaßnahmen ggf. zu revidieren, wenn dies notwendig sein sollte. Im folgenden werden zunächst die Parameter der Bevölkerungsentwicklung und ihre Folgen für die öffentlichen Haushalte kurz dargestellt. Der dritte Abschnitt widmet sich dem politischen Entscheidungsbedarf als Funktion des demografischen Wandels und auf der Basis verschiedener Modellrechnungen der letzten 30 Jahre, bevor im abschließenden vierten Abschnitt einige Schlussfolgerungen für die parlamentarischen Entscheidungsprozesse gezogen werden. 4 Vgl. Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht über die Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland, 2. Teil: Auswirkungen auf verschiedene Bereiche von Staat und Gesellschaft, BT-Drs. 10/863 v. 5. 1. 1984. 5 Vgl. Enquête-Kommission „Demographischer Wandel – Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft an den Einzelnen und die Politik“: Schlussbericht; BT-Drs. 14/8800 v. 14. 3. 2002. 6 Vgl. Sächsischer Landtag: Bericht der Enquête-Kommission „Demographische Entwicklung und ihre Auswirkungen auf die Lebensbereiche der Menschen im Freistaat Sachsen sowie ihre Folgen für die politischen Handlungsfelder“, Dresden 2008; LT-Drs. 4/13000 v. 30. 9. 2008 [http://www.landtag.sachsen.de/dokumente/20080930-Bericht-Enquetekommission.pdf]. 7 Landtag Nordrhein-Westfalen: Bericht der Enquetekommission „Bewertung der Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte in Nordrhein-Westfalen unter den Bedingungen der Schuldenbremse und des demografischen Wandels in der Dekade 2020 bis 2030“ (Enquetekommission III), LT-Drs. 16/9500 v. 21. 08. 2015 (http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/ dokumentenarchiv/Dokument?Id=MMD16 %2F9500|1|0). 8 Kommission zur Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme: Bericht der Kommission, Berlin 2003 [http://www.bmas.de/coremedia/generator/9926/ruerup __bericht.html, download 8. 7. 2017].
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II. Probleme der öffentlichen Haushalte im demografischen Wandel Der demografische Wandel in Form von seit 50 Jahren fehlenden Geburten, einer seit 150 Jahren kontinuierlich steigenden Lebenserwartung und einer diskontinuierlichen Nettozuwanderung stellt alle öffentlichen Haushalte und insbesondere die sozialen Sicherungssysteme vor besondere Herausforderungen: • Die Zahl der Rentnerinnen und Rentner und die Bezugszeiten der Renten steigen mit der wachsenden Restlebenszeit nach Renteneintritt, • die Gesundheits- und Pflegekosten wachsen zusätzlich wegen überdurchschnittlicher Kosten der Älteren, und • die Erwerbsbevölkerung schrumpft und mit ihr die Zahl der BeitragszahlerInnen mit zusätzlichen Problemen in Form von Fachkräftemangel und beschleunigtem Strukturwandel in der Wirtschaft. Die Folgen für die unmittelbaren Staatshaushalte lassen sich wie folgt zusammenfassen: • Die Personalausgeben werden steigen, weil die Pensionslasten sowohl als Folge der wachsenden Lebenserwartung als auch des Pensionseintritts von in der Vergangenheit zusätzlich eingerichteter Planstellenzahlen überdurchschnittlich wachsen werden. Die Knappheit gut qualifizierter junger AbsolventInnen der Bildungssysteme wird die Arbeitsentgelte ebenfalls überdurchschnittlich erhöhen. • Die Bevölkerungsentwicklung wird sich über alle Parameter (Geburtenzahlen, Residenz älterer Menschen und Außen- wie Binnenwanderungen) räumlich ungleich entwickeln. Im Zuge der (Re-)Urbanisierung wird es noch lange Zeit wachsende Regionen und Kommunen geben, während ländliche und hier vor allem sog. periphere Räume und solche, die im Strukturwandel in besonderem Maße Arbeitsplätze verlieren werden, weiter oder erstmals schrumpfen werden. So lange die deutsche Wirtschaft allerdings international wettbewerbsfähig bleibt, wird der Rückgang der inländischen Bevölkerung durch Zuwanderung aus dem Ausland ausgeglichen werden können, für die jedoch besondere Ausund Weiterbildungsaufwendungen entstehen. • Die Abwanderungsregionen werden auch in Zukunft uns ggf. noch stärker als bislang unter hohen Remanenzkosten bei den Gütern der Daseinsvorsorge leiden. Dieser Entwicklung, die zusätzliche Anreize zur Abwanderung setzt, kann nur durch einen systematischen Rückbau der Leitungsgebundenheit zugunsten einer „technischen Individualisierung“ dieser öffentlichen Leistungen entgegengewirkt werden. • Gleichzeitig benötigen die Zuwanderungsregionen zusätzliche Infrastruktur, die bis vor kurzem vor dem Hintergrund der Annahme stark sinkender Bevölkerungszahlen vor allem bei den jungen Menschen sogar abgebaut, geschlossen oder vor diesem Hintergrund nicht mehr substantiell werterhalten wurde. Gerade die öffentlich finanzierten Bildungssysteme sind hier besonders gefor-
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dert, denn sie sind zugleich die Basis qualifizierter Erwerbstätiger bei weiter schrumpfender Erwerbsbevölkerung, Voraussetzung höherer Erwerbsbeteiligung vor allem auch der Frauen und eines späteren Renteneintritts bei längerer Lebensarbeitszeit. • Schließlich werden sich vor diesem Hintergrund die „gleichwertigen Lebensverhältnisse“ in Deutschland verteuern. Ohne auf die auch ökonomischen Probleme der Definition dieses unbestimmten Rechtsbegriffs9 einzugehen, dürfte es auf der Hand liegen, dass es schwieriger werden wird, vor allem im ländlichen Raum ein ähnlich qualitativhochwertiges öffentliches Güterangebot zu gewährleisten wie in den zudem auch einkommensstärkeren Agglomerationen. Welche Folgen hätte es aber, wenn Kinder aus dünner besiedelten Regionen weniger Chancen hätten, eine gute Schulausbildung zu erhalten? Oder werden sie gezwungen sein, Internatsbetriebe zu besuchen wie in den 1950er Jahren noch? Wieviel Erwerbstätige resp. Arbeitsplätze werden in den ländlichen Räumen benötigt, um diese ökonomisch stabil zu halten? Zu welchen Bedingungen lässt sich dort eine angemessene Gesundheitsversorgung gewährleisten? Welche besonderen Kosten der Ballung treten auf? Wieviel Subventionsbedarf ergibt sich daraus vor allem auch für den bundesstaatlichen Finanzausgleich, der gerade mit Milliarden Ausgleichzahlungen aus dem Bundeshaushalt seinen horizontalen Ausgleichsgrad ab 2020 abgesenkt hat? Viele Frage, auf die die Politik bislang noch keine langfristig tragfähigen Antworten erarbeitet hat.
III. Politischer Entscheidungsbedarf bezüglich des demografischen Wandels Das Thema des demografischen Wandels ist mittlerweile auf allen föderalen Ebenen angekommen und hat eine Vielzahl von politischen Entscheidungen nicht nur beeinflusst, sondern auch und gerade verursacht. Viele „Experten“ sagen Katastrophen voraus und schlagen Lösungsoptionen vor, die in der Mehrzahl ihre Geschäftsfelder füllen sollen10. Auch Lobbyisten haben den demografischen Wandel mit wissenschaftlicher Unterstützung als williges Vehikel ihrer Interessen gefunden11. Auch der Schrei nach mehr Geburten und vor allem nach noch mehr (finanzieller) Unterstützung der Familien über die bereits fließenden ca. 125,5 Milliarden 9 Vgl. bereits Fischer-Menshausen, Unbestimmte Rechtsbegriffe in der bundesstaatlichen Finanzverfassung; in: Dreißig, Wilhelmine (Hrsg.): Probleme des Finanzausgleichs I, Berlin 1978, S. 135 ff. 10 Vgl. z.B. erst kürzlich PricewaterhouseCoppers: Fachkräftemangel im öffentlichen Dienst – Prognose und Handlungsstrategien, o.O. 2017 [.https://www.pwc.de/de/offentlicheunternehmen/assets/pwc-fachkraeftemangel-oeffentlicher-dienst.pdf; download 27. 9. 2017]. 11 Zum gleichen Thema vgl. Vesper, Dieter: Aktuelle Entwicklungstendenzen und zukünftiger Handlungsbedarf im öffentlichen Dienst; Gutachten erstellt im Auftrag des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung in der Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf 2016.
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Euro bereits im Jahr 201012 sowie in Abhängigkeit von der Kinderzahl reduzierte Rentenbeiträge13 oder aus Beiträgen aller Erwerbstätigen gespeiste Kinderrente für alle die Menschen, die Kinder großgezogen haben14, werden immer lautstark propagiert. Indes gehen diese Analysen ohne Berücksichtigung der methodischen Probleme an den eigentlichen Fragen des demografischen Wandels vorbei. Zwei Kernfragen stellen sich hier: 1. Wie sicher sind die Bevölkerungsvoraussagen bzw. welche Parameter können als „sicher“ angesehen werden? 2. Welche Politikoptionen sollten von den Parlamenten bevorzugt werden? Dabei sind zunächst sogar die: Bevölkerungsvorausschätzungen häufig ideologisch präformiert und weisen dafür, dass sie eine gute Basis in der Gegenwart haben, hohe Fehlerraten auf! Die zentralen Annahmen der Bevölkerungs-„Hysteriker“ sind jedoch einerseits falsch und andererseits unvollständig: 1. Es werden nicht 2,1 Geburten pro Frau zum „Bevölkerungserhalt“ gebraucht! 2. Die seit 150 Jahren kontinuierlich wachsende Lebenserwartung wurde viele Jahre schlicht ignoriert! 3. Die Bedeutung von (Außen- Zu-)Wanderungen wird ebenfalls nicht realistisch angesetzt. Die Unkenrufe mancher älterer und weniger alter, meist männlicher Bevölkerungsforscher, dass Deutschland wegen seines geburtenarmen Lebensstils auf einen langfristigen Niedergang programmiert ist, hat sich bislang als irrig herausgestellt, obwohl seit nunmehr 40 Jahren ein Drittel weniger Kinder geboren werden, als dies für den Erhalt der Müttergeneration erforderlich wäre15. Gleichzeitig wächst allerdings die Lebenserwartung ungebrochen. Jeder Geburtsjahrgang wird ca. 40 Tage älter als der vorhergehende. Bei einer Nettoreproduktionsrate von 1, d.h., einer Zahl von lebend geborenen Mädchen, welche die Müttergeneration er12 Vgl.
BMJFSJ: Politischer Bericht zur Gesamtevaluation der ehe- und familienbezogenen Leistungen, Berlin 2013 [https://www.bmfsfj.de/blob/76374/2bb96146178ab57f64ae97790ba70c06/familienbezogene-leistungen-data.pdf; download 29. 9. 2017]. 13 Vgl. bereits Schmidt-Kaler, Theodor: Rentengesetzgebung als Instrument zur rationalen Steuerung und Rückkoppelung des Bevölkerungsprozesses, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 1978, S. 75 ff., wobei die kinderzahlabhängige Differenzierung der Rentenbeiträge aus Praktikabilitätsgründen der sog. Elternrente, bei der die Zahl der Kinder zur Berechnung der Rente bei Renteneintritt meistens klar feststeht, in der politischen Diskussion gewichen ist. 14 Vgl. Sinn, Hans-Werner: Das demografische Defizit – die Fakten, die Folgen, die Ursachen und die Politikimplikationen, in: ifo-Schnelldienst 21/2013, S. 20, sowie Werding, Martin: Familien in der gesetzlichen Rentenversicherung: das Umlageverfahren auf dem Prüfstand, Bielefeld 2014, S. 53 ff. 15 Vgl. Statistisches Bundesamt: Geburtentrends und Familiensituation in Deutschland, Wiesbaden 2012, S. 1 ff.
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Quelle: Statistisches Bundesamt, prognos, DIW, VDR; eigene Berechnungen
Abbildung 1: Gesamtbevölkerung nach versch. Modellrechnungen (1990 = 100 %)
setzt, würde die deutsche Bevölkerung bei dieser rückläufigen Mortalität dauerhaft wachsen. Eine positive Nettozuwanderung, wie sie Deutschland seit Jahren und nur mit wenigen Ausnahmen, z.B. in Krisenjahren, realisiert16, würde diesen Wachstumseffekt dann weiter verstärken. Unzweifelhaft führen aber wachsende Lebenserwartung und Nettozuwanderung zu starken Strukturveränderungen in der Bevölkerung, die auch und gerade für die Stadtentwicklung von Bedeutung sind. Deutschland wird älter, bunter, aber – vorläufig zumindest – nicht weniger! Dieser Befund wird auch durch den Vergleich verschiedener Bevölkerungsvorausberechnungen der letzten 30 Jahre gestützt, die damals schon unternommen worden waren, nachdem die Relevanz des demografischen Wandels zunächst für den Bereich der Alterssicherung, danach aber auch für andere Politikbereiche in Wissenschaft und Politik angekommen war17. So nahm das Statistische Bundesamt im Jahr 1988 an, dass die Bevölkerung im Jahr 2030 um rd. 23 % gegenüber 1990 – dem für den Vergleich gewählten Referenzjahr – zurückgegangen sein würde. Bereits 1990 revidierten die Vereinigung der Deutschen Rentenversicherer (VDR) und das DIW diese Perspektive auf einen Rückgang von nur noch 10 %. Ein Minus von 23 % würde erst 10 Jahre später, nämlich im Jahr 2040 erreicht (vgl. Abb. 1). Alle späteren Vorausberechnungen gingen zunächst von wachsenden Einwohnerzahlen aus, bevor das Geburtendefizit die Effekte von Zuwanderung und wachsender Lebenserwartung überkompensie16
Vgl. Statistisches Bundesamt: Fachserie 2.1 und 2.2., verschiedene Jahrgänge. Färber, Gisela: Probleme der Finanzpolitik bei schrumpfender Bevölkerung, Frankfurt/M., New York 1988. 17 Vgl.
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Prognos 98 StaBA 2015
Quelle: Statistisches Bundesamt, prognos, DIW, VDR; eigene Berechnungen
Abbildung 2: 20 – 60-Jährige nach versch. Modellrechnungen (1990 = 100 %)
ren würde. Seit dem Jahr 2000 verschiebt sich der Bevölkerungsrückgang von Modellrechnung zu Modellrechnung nicht mehr nur parallel nach rechts, es verändert sich auch die Steigung. Ursache hierfür ist, zuvor immer von einer nur endlich steigenden Lebenserwartung ausgegangen wurde, seither aber diese als kontinuierlich steigend angenommen wird. Die 13. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahr 2015, die bereits auf den nach unten korrigierten Daten des Zensus von 2011 basiert, nimmt für 2060 nur noch einen Rückgang der Gesamtbevölkerung von rd. 6 % gegenüber 1990 an. Sehr viel deutlicher fällt der Bevölkerungsrückgang in der sog. Erwerbsbevölkerung aus (vgl. Abb. 2). Hier hatte das Statistische Bundesamt 1988 für die Zahl der Menschen im Alter zwischen 20 und 60 Jahren einen Rückgang von mehr als einem Drittel bis 2030 errechnet. Die jüngste Modellrechnung nimmt bis 2060 einen Rückgang „nur“ noch von 28 % an. Mittlerweile hat sich aber nicht nur die Regelaltersgrenze nach oben verschoben, auch de facto gehen immer weniger Menschen vorzeitig in Ruhestand. Die Beschäftigungsquote der Über-60-Jährigen steigt kontinuierlich18, ebenso wie die Erwerbsquote der Frauen steigt. Mit 43,27 Erwerbstätigen (saisonbereinigt) hat die Erwerbstätigkeit im Januar 2016 in Deutschland einen Rekordwert erreicht. Die Erwerbsquote betrug im Jahr 2015
18 Vgl. Statistisches Bundesamt. Arbeitsmarkt auf einen Blick: Deutschland und Europa, Wiesbaden 2016, S. 68. (https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Arbeitsmarkt/Erwerbstaetige/BroeschuereArbeitsmarktBlick0010022169004.pdf?__blob=publicationFile; download 4. 5. 2016].
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Prognos 98 StaBA 2015
Quelle: Statistisches Bundesamt, prognos, DIW, VDR; eigene Berechnungen
Abbildung 3: Über-60-Jährige nach versch. Modellrechnungen (1990 = 100 %)
55,1 %19. Steigende Erwerbsbeteiligung und späterer Renteneintritt kompensieren, seitdem es genügend Arbeitsplätze gibt, den demografischen Rückgang der Erwerbsbevölkerung und werden dies auch noch einige Jahrzehnte weiter schaffen20. Die größten Irrtümer sind den Statistikern bei der Vorausschätzung der Über-60-Jährigen unterlaufen. Nahm man noch 1988 an, dass bis 2030 ein Anstieg dieser Altersgruppe von „nur“ 37 % erfolgen würde – und man war sich sehr sicher dabei, denn diese Bevölkerungsgruppe lebte damals schon! –, so geht man heute recht stabil davon aus, dass der Anstieg doppelt so hoch, nämlich etwa 75 % sein wird. Solange man nur mit einem begrenzten Anstieg der Lebenserwartung rechnete, wurde auch angenommen, dass die Zahl der Über-60-Jährigen nach 2030 wieder sinken würde, wenn der sog. „Pillenknick“, also die geburtenschwachen Jahrgänge nach 2030 endlich in Rente gehen würden. Die wachsende Lebenserwartung bewirkt jedoch vielmehr, dass die Zahl der älteren Menschen weiter steigt, nur etwas langsamer als zuvor. Mit einem sehr leichten Rückgang ist nach den jüngsten Modellrechnungen erst nach 2050 zu rechnen. 19 Vgl.
Statistisches Bundesamt: Presseerklärung Nr. 068 v. 1. 3. 2016 [https://www. destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2016/03/PD16_068_132.html; download 21. 3. 2016}. 20 So zuletzt ein Gutachten des DIW im Auftrag der GRÜNEN Bundestagsfraktion Bach, Stefan u.a.: Zum Zusammenhang von Beschäftigung und Beitragssatz zu den Sozialversicherungen, Berlin 2016 [https://www.gruene-bundestag.de/fileadmin/media/gruenebundestag_de/themen_az/rente/PDF/Gutachten-RV-DIW-Endbericht-Teil-I.pdf; download 7. 5. 2016].
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Prognos 98 StaBA 2015
Quelle: Statistisches Bundesamt, prognos, DIW, VDR; eigene Berechnungen
Abbildung 4: Altersquotienten (60/20 – 60) nach versch. Modellrechnungen
Die geringsten Abweichungen haben die Bevölkerungsvorausschätzungen bei den Unter-20-Jährigen. Hier ging die Zahl zwischen 1990 und 2010 bereits um knapp 20 % zurück, soll nach der jüngsten Rechnung jetzt aber für die nächsten 15 – 20 Jahre stagnieren. Für die Zahl der Schul- und KiTa-Plätze bedeutet dies auf mittlere Frist bundesweit keine Entlastung, wohl aber gravierende regionale und lokale Unterschiede mit unterschiedlichen Vorzeichen. Den wohl dramatischsten Anstieg wird man infolge steigender Lebenserwartung in der Altersgruppe der Über-80-Jähringen verzeichnen müssen. Deren Zahl hat sich seit 1990 bereits verdoppelt, wird sich aber bis 2060 gegenüber 1990 verfünffachen! Da bei den sog. Hochbetagten mutmaßlich jeder Zweite pflegebedürftig ist, wird dies die Pflegeversicherung extrem belasten und in all den Fällen, wo deren Leistungen und die Einkommen der Pflegebedürftigen nicht ausreichen, die kommunalen Kassen zur Hilfe in besonderen Lebenslagen heranziehen. Angesichts der z.T. extremen Über- und Unterzeichnungen der demografischen Entwicklung in den vergangenen Vorausberechnungen stellt sich die Frage, mit welcher Entwicklung denn nun zu rechnen ist. Fest steht, dass die 13. koordinierte Bevölkerungsvorausschätzung und diverse länderbezogene Rechnungen der Statistischen Landesämter aus dem Jahr 2015 durch die Nettozuwanderung des letzten Jahres von 1,14 Mio. Menschen 21 schon überholt sind. Die zuwandernden Menschen erhöhen nicht nur die Zahl der Gesamtbevölkerung gegenüber den 21 Vgl. Statistisches Bundesamt: Pressemitteilung Nr. 105 vom 21. 03. 2016 [https://www. destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2016/03/PD16_105_12421.html; download 21. 3. 2016].
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Quelle: Statistisches Bundesamt, prognos, DIW, VDR; eigene Berechnungen
Abbildung 5: Über-80-Jährige nach versch. Modellrechnungen (1990 = 100 %)
Schätzungen, sondern weisen auch eine deutlich andere Geschlechter- und Altersstruktur als die bereits ansässige Bevölkerung auf. Insoweit wird sich einerseits der Schrumpfungsprozess um mindestens 10 – 15 Jahre verschieben. Ob die Gesamtbevölkerung in Deutschland jemals substantiell schrumpfen wird, hängt von vielen Faktoren ab, mit Sicherheit aber auch von den Möglichkeiten stabile Arbeitsplätze zu finden. Andererseits resultieren aus der der veränderten Bevölkerungsstruktur vor allem auch für Länder und Kommunen neue Herausforderungen. Am offensichtlichsten sind die gewachsenen Integrationsaufgaben für die neue, aus anderen Kulturkreisen stammende Bevölkerung. Zudem sind jenseits der angestiegenen Geburtenrate der deutschen Wohnbevölkerung wegen des hohen Kinderanteils unter den Flüchtlingen und deren trotz neuer Begrenzungen nachziehenden Familien weniger Entlastungen als früher berechnet, sogar zunehmende Bevölkerungszahlen bei den Unter-20-Jährigen zu erwarten. In den Ballungsräumen werden derzeit schon deutlich wachsende Schülerzahlen registriert. Dies erfordert statt Schulschließungen die Erneuerung und den Ausbau der Schulinfrastrukturen. Die mit Sicherheit stark wachsende Zahl älterer Menschen erfordert einen weiteren Umbau der Städte auf deren Bedürfnisse hin. Mehr Hochbetagte erfordern mehr Pflegeleistungen, es werden mehr und kostenschonende Pflegeinfrastrukturen benötigt, die dann den Anstieg der von den Kommunen zu tragenden ergänzenden Hilfe zum Lebensunterhalt abfedern werden. Der bereits jetzt stattfindende Rückgang der Erwerbsbevölkerung ist noch sehr lange durch eine Erhöhung der Erwerbsquote insb. der verheirateten Frauen und
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eine längere Lebensarbeitszeit zu kompensieren. Dafür werden aber mehr und arbeitsplatznahe Betreuungsinfrastrukturen nicht nur für Kinder, sondern auch für eventuelle Pflegezeiten benötigt. Soweit die ausgeweitete Kinderbetreuung mit (frühkindlicher) Bildung verknüpft wird, sind längerfristig hier auch wieder mehr erfolgreiche Erwerbsbiografien und Einsparungen beim kommunalen Anteil an den Kosten der Unterkunft zu erwarten. Die spätere „Rentabilität“ der Aufwendungen für früh einsetzende Bildung und Kinderbetreuung hängt freilich für die einzelne Kommune davon ab, dass sie mit ihrem zukünftigen Arbeitskräftepotential als Wirtschaftsstandort auch attraktiv ist und bleibt. Fehlen in Zukunft die Arbeitsplätze, dann „erntet“ ein anderer Standort die Früchte der aktuellen lokalen Anstrengungen. Zurück zur Frage, wie die Politik mit den „Unsicherheiten“ angeblich sicherer Vorausberechnungen umgehen soll, wieviel Handlungsspielraume sie gegenüber diesem viele Politikfelder durchziehenden demografischen Wandel hat. Sicher ist aus heutiger „nüchterner “Sicht eigentlich nur, dass • die Bevölkerung altert und dass • sie „bunter“ wird. • Schrumpfen wird sie, wenn überhaupt, sehr viel später als vorhergesagt. • Räumliche Ungleichgewichte werden im Zuge von Zuwanderung und weiterer (Re-)Urbanisierung wachsen. Politische Problemlösungen/Reformen sollten deshalb • flexibel auf die Problemparameter reagieren und z.B. die Anhebung der Altersgrenze an die konkret gemessene steigende Lebenserwartung knüpfen; • einseitige wirtschaftliche (‚rent-seeking‘22) sowie ideologische Interessen rechtzeitig identifizieren und ggf. ‚verbannen‘, zumal viele Maßnahmen sehr langfristig wirken und für die Betroffenen oft nicht reversibel sind; • viele Instrumente nutzen und über die jeweiligen institutionellen Systemgrenzen hinaus zu denken anstatt ein „ideales“ System generieren zu wollen, denn • die demografische Entwicklung ist im Zweifel immer nur eine Quelle von Handlungsbedarf und zudem interdependent mit anderen Problembereichen, insb. mit der Wirtschaftsentwicklung verknüpft. Als Beispiel mögen die Rentenreformen der letzten 28 Jahre gelten, die in Abbildung 6 zusammengestellt sind. Die Reformen mit einem expliziten ursächlichen Bezug auf den demografischen Wandel unternommen wurden, sind mit einer roten Ellipse markiert. Sie sind in der Minderzahl, obwohl sie zweifellos – vielleicht mit Ausnahme der Eingliederung der neuen Bundesländer – für das Alterssicherungssystem die stärksten Veränderungen und finanziellen Auswirkungen brachten. Daneben gab es aber eine Vielzahl anderer Rentenreformen, 22 Vgl. bereits und grundlegend Krueger, Anne O.: The Political Economy of the Rent-Seeking Society, in: The American Economic Review, Vol. 74 No. 3, S. 291 ff.
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Abbildung 6: Rentenreformen seit 1989/90
die insb. auch Veränderungen am Arbeitsmarkt als Hintergrund hatten. Der Gesetzgeber war mit Ausnahme zwischen 2007 und 2014 ununterbrochen tätig. Wie das RV-Leistungsverbesserungsgesetz belegt, wurden dabei auch Maßnahmen verabschiedet, die Ressourcen des Systems, die man zuvor mit schmerzhaften Reformen aktiviert hatte, wieder für neue Leistungen ohne bzw. im Fall der Rente mit 63 mit negativem Bezug „zweckentfremden“. Dies wird in wenigen Jahren zusätzlichen Reformbedarf zur demografischen Stabilisierung des Alterssicherungssystems verursachen.
IV. Konsequenzen für das Parlament Auch der demografische Wandel ist nichts extern Gegebenes. Vielmehr gilt es ihn, der schließlich auf Entscheidungen der Bürgerinnen und Bürger beruht und – insb. auch in Form eines verlängerten, gesunden „Un-Ruhestands“ den Menschen selbst hohen Nutzen beschert – und seine Folgen politisch so zu gestalten, dass sich die Lebensbedingungen nachhaltig verbessern und nicht die, die ohnehin schlechte Lebenschancen haben, höhere Lasten zu tragen haben als die wohlhabenden. Der demografische Wandel hat langfristige Auswirkungen. Er generiert insbesondere Handlungsbedarf in Politikfeldern, die wie die sozialen Sicherungssysteme langfristig angelegt sind, oder die wie Investitionen in die Infrastruktur der Daseinsvorsorge, langfristige Nutzungsfristen aufweisen, in denen sich der Finanzierungsaufwand über zusätzliches Wirtschaftswachstum und Steuereinnahmen „refinanzieren“ muss. Indes lassen sich aus den Reformen der letzten 25 Jahre einige Erfahrungen ableiten, die sich auch auf Anpassungsmaßnahmen an den demografischen Wandel anwenden lassen:
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• Die Erfahrungen mit einem expertokratischen Ansatz, wie er der Hartz-Kommission zugrunde lag (Übertragung 1:1), verbiete jegliche Wiederholung. Vielmehr sollte sich das Parlament auf das sog. „Struck’sche Gesetz“ besinnen, nach dem „kein Gesetz den Bundestag so verlässt, wie es eingebracht wurde“. Denn das ermöglicht den kritischen Blick auf die Auswirkungen von Reformen und den tatsächlichen langfristigen Interessenausgleich. • Genauso „gefährlich“ wie Expertokratie ist die pauschale Rücknahme aller Reformen der Vorgängerregierung, wie dies die damals neu gewählte rot-grüne Bundesregierung mit ihrer Parlamentsmehrheit 1998/99 verfügte. Die hierdurch im Umlagesystem der Gesetzlichen Rentenversicherung verursachten Verwerfungen können nie wieder kompensiert werden und belasten die langfristige Ressourcenbasis, so wie man versäumtes Wirtschaftswachstum nicht nachholen kann. • Vorsicht ist immer geboten, wenn langfristige und schwer reversible Folgen durch die Entscheidungen der Politik ausgelöst werden, wie dies z.B. bei der Schaffung größerer Mengen neuer Planstellen der Fall ist, die Zahlungsverpflichtungen über einen Zeitraum von mehr als 75 Jahren auslösen, bis der/die Witwe/r der junge BeamtIn verstirbt, oder eben bei Rentenreformen, auf die sich junge Menschen von heute mit ihrer Lebensplanung einlassen. Wichtige Reformen sollten auch von der Opposition nach wenigen Jahren evaluiert werden (können). Dafür sind Haushaltsmittel und Humanressourcen in Form von dafür qualifiziertem Personal vorsehen. Die Evaluierungen können durch standardisierte Fragen bereits im Gesetzgebungsverfahren vorbereitet werden und sollten ggf. auf die Gesetzesfolgenabschätzung und Evaluierungsverfahren der Bundesregierung aufgesetzt werden. Das Parlament sollte sich das Recht nehmen, die Evaluierungsfragen, die die Bundesregierung in ihren Gesetzentwürfen vorformulieren müsste, dann auch selbständig zu ergänzen.
Algorithmic Regulation – Der Einsatz algorithmischer Verfahren im staatlichen Steuerungskontext Von Nadja Braun Binder∗ Algorithmic Regulation– Der Einsatz algorithmischer Verfahren im staatlichen Steuerungskontext Nadja Braun Binder
I. Einleitung Parlamente sind die Dreh- und Angelpunkte parlamentarischer Demokratien. Eine Diskussion über ihre Zukunft kommt nicht um Fragestellungen herum, die sich aus der Digitalisierung der Gesellschaft, Wirtschaft, Arbeitswelt und Verwaltungstätigkeit ergeben. Als Gesetzgeber sind sie gefordert, die passenden Rahmenbedingungen zu schaffen, um eine Nutzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien sicherzustellen, die rechtsstaatlichen und grundrechtlichen Anforderungen genügt. Der Beitrag kann freilich nicht das gesamte Spektrum möglicher Fragestellungen abdecken. Stattdessen legt er seinen Fokus auf einen kleinen Ausschnitt: Algorithmic Regulation. Das Thema bietet sich aus zwei Gründen besonders für die Diskussion um die Rolle der Legislative in Zeiten der Digitalisierung an: Erstens, handelt es sich dabei um ein Phänomen, das – soweit ersichtlich – noch keine systematische rechtswissenschaftliche Analyse erfahren hat.1 Es besteht vielmehr noch reichlich Diskussionsbedarf – nicht zuletzt im Hinblick auf die künftige Gesetzgebungstätigkeit der Parlamente. Zweitens, bringt Algorithmic Regulation mit der Digitalisierung der Verwaltungstätigkeit2 einen Aspekt zum Vorschein, der sich gegenüber aktuellen Debatten – die sich häufig auf die privat∗ Die Verfasserin war bis Ende August 2017 Koordinatorin des Programmbereichs „Transformation des Staates in Zeiten der Digitalisierung“ (PB DIG) des Deutschen Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung (FÖV). Seit dem 01. 09. 2017 ist sie Assistenzprofessorin für öffentliches Recht unter besonderer Berücksichtigung europäischer Demokratiefragen an der Universität Zürich. Sie dankt Herrn Marius Herr für wertvolle Hinweise. Herrn Michael Kolain gebührt besonderer Dank für zahlreiche Anregungen und Verbesserungsvorschläge. Alle in diesem Beitrag angegebenen Internetadressen wurden zuletzt am 06. 07. 2017 aufgerufen. 1 Hinzuweisen ist allerdings auf Wolfgang Hoffmann-Riem, Verhaltenssteuerung durch Algorithmen – Eine Herausforderung für das Recht, AöR 142 (2017), S. 1 – 41, der unter dem Blickwinkel einer „Governance durch Algorithmen“ verschiedene Steuerungskontexte analysiert. Demgegenüber liegt der Fokus dieses Beitrags ausschließlich auf dem staatlichen Steuerungskontext. Vgl. Kapitel II. 1. 2 Die Feststellung bezieht sich allerdings weniger auf die Forschungstätigkeit, die Fragestellungen der Digitalisierung der Verwaltung intensiv analysiert. Vgl. nur die Arbeiten im PB DIG am FÖV: http://www.foev-speyer.de/de/forschung/digitalisierung.php.
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wirtschaftliche Nutzung von Algorithmen3 in Computerprogrammen konzentrieren – eher im Hintergrund bleibt4. Der Schwerpunkt des Beitrags liegt darauf zu analysieren, welche Bedeutung Algorithmic Regulation für Parlamente in Zukunft haben könnte. Perspektivische Überlegungen anzustellen ist umso schwieriger, als sich bisher (noch) kein festes Konzept herausgebildet hat, das im Detail beschreibt, was unter dem Schlagwort Algorithmic Regulation überhaupt zu verstehen ist – geschweige denn ist eine rechtswissenschaftliche Dogmatik erkennbar. An erster Stelle steht daher zunächst die Frage, welchem Begriffsverständnis der Beitrag folgt (II.). Danach fällt der analytische Blick auf erste skizzenhafte Kriterien einer Algorithmic Regulation (III.). Es folgen Überlegungen zu ihrer Bedeutung für Parlamente (IV.). Den Abschluss bildet ein Fazit (V.).
II. Algorithmic Regulation – nur ein neues Schlagwort? Die fortschreitende Digitalisierung im staatlichen Kontext geht mit regelmäßigen neuen Begriffsschöpfungen einher. Bisweilen stellt sich die Frage, ob eine neue Terminologie lediglich neue Schlagworte für altbekannte Phänomene liefert – oder ob sie tatsächlich neuartige Vorgänge zum Inhalt hat. Vor diesem Hintergrund verdient auch der Ausdruck Algorithmic Regulation eine kritische Reflexion. 1. Begriffsverwendungen Der Ausdruck Algorithmic Regulation findet sich – naturgemäß – zuvorderst in englischsprachigen Quellen. Dort taucht er in zwei unterschiedlichen Bedeutungsvarianten auf:5 Auf der einen Seite als Umschreibung der Notwendigkeit, für den Einsatz von Algorithmen6 (z. B. in selbstfahrenden Autos) spezifische Regeln zu entwickeln. Dabei geht es um eine „Regulierung von Algorithmen“, also die Frage der Implementierung normativer Handlungsanweisungen in Programmcode und
3
Zum Begriff „Algorithmus“ vgl. Kapitel III. 3. wird etwa über eine Offenlegung von Algorithmen diskutiert, allerdings nur mit Blick auf private Unternehmen. Vgl. z. B. Adrian Lobe, Gebt die Algorithmen frei!, in: FAZ Feuilleton vom 28. 06. 2017, aber auch schon: Patrick Beuth, Bundesregierung will mehr über Googles Algorithmus wissen, in: Zeit Online vom 13. 05. 2016, abrufbar unter http:// www.zeit.de/digital/internet/2016 – 05/transparenz-algorithmen-bundesregierung-googlefacebook. 5 Eine ähnliche Zweiteilung findet sich bei der Unterscheidung zwischen „Governance von Algorithmen“ und „Governance durch Algorithmen“. Vgl. Wolfgang Hoffmann-Riem, Verhaltenssteuerung durch Algorithmen – Eine Herausforderung für das Recht, AöR 142 (2017), S. 1 – 41 (10) m.w.N. 6 Vgl. zum Begriff der Algorithmen Kapitel III. 3. 4 So
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geeigneter Aufsichtsstrukturen.7 Der Beitrag verfolgt diesen Aspekt nicht weiter, da über die damit einhergehenden Fragestellungen bereits ein lebendiger Diskurs im Gang ist.8 Auf der anderen Seite spielt Algorithmic Regulation eine Rolle als „System der Governance“. Es stützt sich auf Daten, die aus der Nutzung von Computern und intelligenten Geräten durch Bürgerinnen und Bürger resultieren – und verfolgt das Ziel, die Organisation des menschlichen Zusammenlebens effizienter zu machen.9 An dieses Begriffsverständnis, das sich in der Mehrheit der Quellen wiederfindet, knüpft auch der Beitrag an. Bei Algorithmic Regulation handelt es sich um einen Terminus, der sich im staatlichen Steuerungskontext verorten lässt.10 Der Begriff umfasst Situationen, in denen der Staat die Mechanismen einer Big-Data-Auswertung durch Algorithmen für seine Aufgabenerfüllung nutzt. Im Rahmen einer Algorithmic Regulation macht er sich die automatisiert gezogenen Schlussfolgerungen und/oder die von den Algorithmen vorgenommenen weiteren Handlungsschritte (weitgehend) zu eigen.11 2. Beispiele Algorithmic Regulation ist kein festes Konzept. Es handelt sich vielmehr um einen Oberbegriff, mit dem sich unterschiedliche Vorgänge erfassen lassen.12 Das Phänomen einer Algorithmic Regulation kann sich in unterschiedlichen Anwendungskontexten entfalten. bei Ben Wagner, Algorithmic regulation and the global default: Shifting norms in Internet technology, Etikk i praksis. Nordic Journal of Applied Ethics 2016, S. 5 – 13 (abrufbar unter https://www.ntnu.no/ojs/index.php/etikk_i_praksis/article/view/1961). Eine „Regulierung von Algorithmen“ lässt sich als Aspekt einer „Governance von Algorithmen“ einstufen. 8 Vgl. etwa Boris P. Paal/Moritz Hennemann, Regulierungsoptionen in Ansehung von Algorithmen, Fake News und Social Bots, ZRP 2017, S. 76 – 79 sowie die Nachweise in Fn. 4. 9 Evgeny Morozov, in: The Observer, 20. 07. 2014, abrufbar unter: https://www.theguardian.com/technology/2014/jul/20/rise-of-data-death-of-politics-evgeny-morozov-algorithmic-regulation. 10 Hierin liegt die zentrale Einschränkung gegenüber der von Wolfgang Hoffmann-Riem, Verhaltenssteuerung durch Algorithmen – Eine Herausforderung für das Recht, AöR 142 (2017), S. 1 – 41, behandelten Verhaltenssteuerung, die weit über den staatlichen Steuerungskontext hinausgeht. 11 Zum Einschluss von Schlussfolgerungen und Handlungsschritten vgl. auch Kapitel II. 3. 12 Neben den nachstehenden Beispielen sind durchaus weitere Szenarien denkbar. Vgl. etwa die Szenarien einer „Feuerwehr 4.0“ oder einer „Landwirtschaft 4.0“ bei Jörn von Lucke, Smart Government – Intelligent vernetztes Regierungs- und Verwaltungshandeln, in: Hermann Hill/Dieter Kugelmann/Mario Martini (Hrsg.), Perspektiven der digitalen Lebenswelt, 2017, S. 99 – 123 (116 f.). 7 So
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a) Smart City Im Rahmen einer digital vernetzten Stadt kann Algorithmic Regulation etwa bedeuten, dass der Staat Computerprogramme einsetzt, um die Verkehrsinfrastruktur optimal auszulasten.13 Dabei könnten z. B. verkehrsträgerübergreifende Datenplattformen auf Open-Data-Basis über Mobilitätsangebote, Staus, Verspätungen und Fahrplandaten informieren.14 Datengelenkter Verkehr soll in der Smart City zu weniger Staus, weniger Autos in Innenstädten und damit zu einem besseren Klimaschutz beitragen.15 Internetkonzerne wie Google (bzw. die Muttergesellschaft Alphabet) sind Treiber einer Entwicklung hin zum algorithmengesteuerten Verkehr.16 b) Smart Grids Auch mit Blick auf die Energiewende setzen Politik und Wirtschaft verstärkt auf Algorithmen, etwa durch die (bereits in Teilen verpflichtende) Nutzung sog. Smart Meter. Dabei handelt es sich um Geräte zur Echtzeitauswertung des Strom-, Wasser-, Gas- und Fernwärmeverbrauchs eines Haushalts.17 Die dabei gesammelten und gespeicherten Daten können die Energieversorgungsunternehmen – und damit etwa auch kommunale Stadtwerke – digital auswerten. Das ist notwendig, um ein Smart Grid18 („intelligentes Stromnetz“) zu betreiben. Softwareanwendungen werten die anfallenden Echtzeitdaten aus und erleichtern damit die Planung zur notwendigen Auslastung des Netzes. Im besten Fall ist Energie dort verfügbar, wo sie akkut benötigt wird, statt sie unnötig vorzuhalten. Maschinelle Lernverfahren und Big-Data-Analysen erhöhen die Wahrscheinlichkeit, Engpässe zielsicher zu prognostizieren. 13 Vgl. nur etwa DIVSI Studie „Digitalisierte urbane Mobilität. Datengelenkter Verkehr zwischen Erwartung und Realität“ vom September 2016, abrufbar unter https://www.divsi. de/wp-content/uploads/2016/09/DIVSI-Studie-Digitalisierte-Urbane-Mobilitaet.pdf. 14 Franz-Reinhard Habbel/Susanne Ehneß, Digitalrepublik Deutschland. Chancen für eine starke Wirtschaft, gerechte Bildung und ein freies und sicheres Internet, eGovernment-Computing, 27. 11. 2013. 15 Vgl. z. B. http://www.ict-smart-cities-center.com/smart-cities/mobilitaet. 16 „Google liefert das Betriebssystem für die Politik“ formuliert etwa der Journalist Adrian Lobe in der FAZ im Oktober 2015, siehe http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/ google-gruendet-in-den-usa-government-innovaton-lab-13852715.html. 17 Vgl. mit Bezugnahme auf den Stromverbrauch u.a. Annette Guckelberger, Smart Grids/Smart Meter zwischen umweltverträglicher Energieversorgung und Datenschutz, DÖV 2012, S. 613 – 622 (613 f.). Eine überblicksartige Erklärung liefert auch Steffen Benz, Energieeffizienz durch intelligente Stromzähler – Rechtliche Rahmenbedingungen, Zeitschrift für Umweltrecht 2008, S. 457 – 463 (458 f.). 18 Annette Guckelberger, Smart Grids/Smart Meter zwischen umweltverträglicher Energieversorgung und Datenschutz, DÖV 2012, S. 613 – 622 (613) sowie umfassend zu den „Smart Grids“ auch die Empfehlung der Kommission vom 9. März 2012 zur Vorbereitung für die Einführung intelligenter Messsysteme (2012/148/EU).
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c) Predictive Policing Ein weiteres Beispiel kommt aus dem Bereich der Kriminalitätsprävention: In verschiedenen Bundesländern werden algorithmengesteuerte Programme zur präventiven Kriminalitätsbekämpfung getestet (Stichwort „Predictive Policing“).19 Dabei verarbeitet die Polizei verschiedene Datenquellen und -typen mit Hilfe von Softwareanwendungen. Die Ergebnisse sollen dazu beitragen, eine zukünftig mögliche Straftat bereits zu erkennen, bevor der Täter sie begeht.20 In die Programme fließen Personenmerkmale bereits bekannter Opfer und Täter, Geoinformationen, Kalender- und Veranstaltungsdaten sowie weitere vorhandene situationsbezogene Datenarten ein.21 Mit Hilfe statistischer Verfahren ermitteln sie Brennpunkte, an denen das Risiko einer Straftat erhöht ist und sich durch Polizeipräsenz möglicherweise eindämmen lässt. 3. Entscheidungsunterstützung und autonome Steuerung Die Beispiele Smart City, Smart Grid und Predictive Policing zeigen allesamt einen Bezug zum staatlichen Steuerungskontext. Zugleich betreffen sie unterschiedliche Tätigkeiten der öffentlichen Verwaltung. Sowohl die optimale Auslastung der Verkehrsinfrastruktur in einer Smart City als auch Smart Grids weisen einen tendenziell weiten Anwendungsbereich auf: Im Rahmen einer Algorithmic Regulation geht es dort nicht nur um die Auswertung bestimmter Daten, sondern darüber hinaus auch darum, automatisiert Steuerungsentscheidungen zu treffen. So soll ein Verkehrsleitsystem etwa automatisch anzeigen, welche alternativen Strecken sich bei Staus in der Innenstadt anbieten, und ein Smart Grid nur so viel Strom zur Verfügung stellen, wie die Bevölkerung tatsächlich braucht. In solchen Entscheidungsprozessen wird in der Regel keine menschliche Intervention stattfinden. Bei Predictive Policing ist demgegenüber vorgesehen, dass ein Mensch zwischen Algorithmus und praktische Anwendung tritt. Ansätze einer Algorithmic Regulation geben hier zwar Handlungsvorschläge – etwa, dass die Polizei zu be19 Vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage versch. Abgeordneter am 30. 12. 2016, BT-Drs. 18/10785; Alexander Gluba, Predictive Policing – eine Bestandsaufnahme. Historie, theoretische Grundlagen, Anwendungsgebiete und Wirkung, Februar 2014, abrufbar https://netzpolitik.org/wp-upload/LKA_NRW_Predictive_Policing.pdf. Siehe auch Wolfgang Hoffmann-Riem, Verhaltenssteuerung durch Algorithmen – Eine Herausforderung für das Recht, AöR 142 (2017), S. 1 – 41 (15). 20 Alexander Gluba, Predictive Policing – eine Bestandsaufnahme. Historie, theoretische Grundlagen, Anwendungsgebiete und Wirkung, Februar 2014, abrufbar https://netzpolitik.org/wp-upload/LKA_NRW_Predictive_Policing.pdf, S. 7 ff. 21 Alexander Gluba, Predictive Policing – eine Bestandsaufnahme. Historie, theoretische Grundlagen, Anwendungsgebiete und Wirkung, Februar 2014, abrufbar https://netzpolitik.org/wp-upload/LKA_NRW_Predictive_Policing.pdf, S. 5 ff.
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stimmten Zeiten an bestimmten Orten Streife fahren sollte. Die Handlungsvorschläge müssen aber stets Menschen in die Tat umsetzen.22 Im Ergebnis ist ein weites Verständnis von Algorithmic Regulation sinnvoll: Es bezieht sowohl die von Algorithmen gezogenen Schlussfolgerungen (Beispiel 3) als auch weitere Handlungsschritte, die wiederum automatisch ausgeführt werden (Beispiele 1 und 2), mit ein. Zur Algorithmic Regulation gehören demnach nicht nur algorithmenbasierte Systeme autonomer Steuerung,23 sondern auch Formen der Entscheidungsunterstützung. Bei der autonomen Steuerung findet keinerlei menschliche Intervention mehr statt – die Entscheidung erfolgt vollautomatisiert.24 Demgegenüber ist die Entscheidungsunterstützung dadurch gekennzeichnet, dass die Algorithmen auf Basis der Datenauswertung lediglich (unverbindliche) Vorschläge unterbreiten. Es bedarf dann jeweils noch einer menschlichen Beurteilung, ob die vorgeschlagene Maßnahme tatsächlich sinnvoll ist und in die Praxis umgesetzt werden sollte. Die Unterscheidung, ob eine menschliche Entscheidung dazwischentritt oder nicht, ist zwar rechtlich von Bedeutung: Sie kann etwa eine Rolle bei der Beurteilung von eventuellen Haftungsfragen spielen.25 Ferner etabliert Art. 22 Abs. 1 DSGVO26 den Grundsatz, dass vollautomatisierte Entscheidungen – also solche ohne jegliche menschliche Intervention – datenschutzrechtlich unzulässig sind; Ausnahmen sind nur für Vertragsverhältnisse, aufgrund besonderer Bestimmungen unionaler oder mitgliedstaatlicher Regelungen und im Falle einer ausdrücklichen Einwilligung des Betroffenen denkbar (Art. 22 Abs. 2 DSGVO).27 Eine Differen22 Diesen Ansatz verfolgt z. B. auch ein aktuelles Projekt zur automatisierten Bild- und Videoanalyse. Auf Basis einer forensischen Analyse von Video-Massendaten sollen behördliche Ermittler Handlungsvorschläge erhalten. Über die Umsetzung der Handlungsvorschläge entscheiden sodann Menschen. Vgl. Katharina Wentland/Stephan Schindler, PERFORMANCE: Neues Forschungsprojekt zur automatisierten Bild- und Videoanalyse, ZD-Aktuell 2017, S. 05448. 23 So aber wohl das Begriffsverständnis einer „Scientific Regulation“ bei Hermann Hill, Scientific Regulation – Automatische Verhaltenssteuerung durch Daten und Algorithmen, in: Hermann Hill/Utz Schliesky (Hrsg.), Auf dem Weg zum Digitalen Staat – auch ein besserer Staat?, 2015, S. 267 – 287. 24 Zur terminologischen Differenzierung zwischen voll- und teilautomatisiert im Zusammenhang mit Verwaltungsverfahren vgl. Nadja Braun Binder, Vollautomatisierte Verwaltungsverfahren im Verwaltungsverfahrensrecht?, NVwZ 2016, S. 960 – 964 (960) m.w.N. 25 Zum „Verschulden“ eines Sachbearbeiters bei fehlerhaft programmierter Software vgl. etwa Ulrich Stelkens, Staatshaftung und E-Government: Verwaltungsorganisationsrechtliche Gestaltungsmöglichkeiten, in: Hermann Hill/Utz Schliesky (Hrsg.), Auf dem Weg zum Digitalen Staat – auch ein besserer Staat?, 2015, S. 189 – 240 (213 f.). 26 Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG, ABl. L 119 v. 04. 05. 2016, S. 1 (Datenschutz-Grundverordnung). Das grundsätzliche Verbot automatisierter Entscheidungsfindung (Art. 22 Abs. 1 DSGVO) gilt ab dem 22. 05. 2018. 27 Vgl. Mario Martini/David Nink, Wenn Maschinen entscheiden … – vollautomatisierte Verwaltungsverfahren und der Persönlichkeitsschutz, NVwZ-extra 2017, Nr. 10, S. 1 – 14 (3 f.).
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zierung zwischen Algorithmic Regulation im Sinne einer autonomen Steuerung (Autonomous Algorithmic Regulation) und Algorithmic Regulation als Entscheidungsunterstützung (Supportive Algorithmic Regulation) kann deshalb je nach Kontext durchaus sinnvoll sein. Wo nicht ausdrücklich anders vermerkt, verwendet der Beitrag den Begriff Algorithmic Regulation in einem weiten Sinne, der beide Konstellationen umfasst. Als zentrale Aspekte erfasst er die algorithmenbasierte Auswertung großer Datenmengen und das damit verfolgte Ziel der staatlichen Steuerung mithilfe von Softwareanwendungen. Algorithmic Regulation ist demnach auch eine Facette von „Smart Government“.28
III. Kriterien einer Algorithmic Regulation Als geistiger Vater des Gedankens einer Algorithmic Regulation taucht verschiedentlich Tim O’Reilly auf: Er ist Gründer und Geschäftsführer eines Medienunternehmens.29 Für ihn zeichnet sich ein erfolgreiches System der Algorithmic Regulation durch vier Kriterien aus:30 erstens, ein vertieftes Verständnis für das gewünschte Ergebnis (1.); zweitens, eine Echtzeitmessung zur Kontrolle, ob das gewünschte Ergebnis erreicht werden kann bzw. erreicht worden ist (2.); drittens, Algorithmen, die auf der Basis neuer Daten Anpassungen vornehmen (3.); und, viertens, eine regelmäßige, vertiefte Analyse der Algorithmen im Hinblick darauf,
28 Zur Definition von „Smart Government“ vgl. Jörn von Lucke, Smart Government – Intelligent vernetztes Regierungs- und Verwaltungshandeln, in: Hermann Hill/Dieter Kugelmann/Mario Martini (Hrsg.), Perspektiven der digitalen Lebenswelt, 2017, S. 99 – 123 (103 f.). 29 Vgl. Tim O’Reilly, Open Data and Algorithmic Regulation, in: Brett Goldstein/Lauren Dyson, Beyond Transparency. Open Data and the Future of Civic Innovation, San Francisco 2013, S. 289 – 300, abrufbar unter http://beyondtransparency.org/pdf/BeyondTransparency. pdf. Auf Tim O’Reilly beziehen sich verschiedene Internetquellen, vgl. z. B. Fn. 9 oder https://www.intelligenthq.com/technology/are-you-ready-for-algorithmic-regulation. Kritisch zu Tim O’Reilly: Lambert Strether, Algorithmic Regulation, „Code is Law“, and the Case of Ferguson, abrufbar unter http://www.nakedcapitalism.com/2014/08/algorithmic-regulation-code-law-case-ferguson.html. Referenzen auf Tim O’Reilly finden sich auch etwa bei Hermann Hill, Scientific Regulation – Automatische Verhaltenssteuerung durch Daten und Algorithmen, in: Hermann Hill/Utz Schliesky (Hrsg.), Auf dem Weg zum Digitalen Staat – auch ein besserer Staat?, 2015, S. 267 – 287 (271). 30 Tim O’Reilly, Open Data and Algorithmic Regulation, in: Brett Goldstein/Lauren Dyson, Beyond Transparency. Open Data and the Future of Civic Innovation, San Francisco 2013, S. 289 – 300 (289 f. und 299). Eigene Übersetzung. Im Original: „1. A deep understanding of the desired outcome; 2. Real-time measurement to determine if that outcome is being achieved; 3. Algorithms (i.e. a set of rules) that make adjustments based on new data; 4. Periodic, deeper analysis of whether the algorithms themselves are correct and perform ing as expected.“
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ob sie korrekt sind und sich wie erwartet verhalten (4.). Die Kriterien von O’Reilly sind darüber hinaus um ein weiteres zu ergänzen: Daten (5.). 1. Ergebnis Spätestens seit der Übernahme privatwirtschaftlicher Managementtechniken in der öffentlichen Verwaltung (Stichworte: New Public Management, Neues Steuerungsmodell) ist die ergebnis- und wirkungsorientierte Steuerung ein bekanntes Thema.31 Die Arbeit der öffentlichen Verwaltung soll sich an bestimmten Zielen orientieren. Indikatoren dienen dazu, den Stand der Zielerreichung regelmäßig zu überprüfen. Eine ähnliche Logik liegt auch der Idee einer Algorithmic Regulation zugrunde. Sie fußt ebenfalls auf einer Definition von messbaren Zielen. Bei rein numerischen Größen stellt das keine Schwierigkeiten dar – etwa wenn es Zielvorgabe ist, den Stromverbrauch um einen bestimmten Prozentsatz zu reduzieren. Sobald Komponenten menschlicher Beurteilung dazu treten, etwa wie zufrieden die Abnehmer mit der Verfügbarkeit von Strom sind, ist eine vollautomatisierte Rückkoppelung nicht mehr so einfach möglich. Wichtig ist darüber hinaus, dass die Definition der Ziele auch beinhaltet, dass rechtliche Vorgaben erfüllt sind. So wäre etwa, um beim Beispiel des Stromverbrauchs zu bleiben, die Pflicht zur Sicherstellung der Grundversorgung (§ 36 Abs. 1 EnWG32) einem Steuerungsprogramm als zwingend vorzugeben. (Lernende) Algorithmen könnten andernfalls „auf die Idee kommen“, den Stromverbrauch zu reduzieren, wenn aus wirtschaftlicher Sicht keine ausreichend rentable Nachfrage besteht – etwa indem sie die Stromversorgung in bestimmten Gebieten oder zu bestimmten Tageszeiten regelmäßig unterbrechen.33 2. Ergebniskontrolle Ein wesentlicher Unterschied zwischen Algorithmic Regulation und einer ergebnis- und wirkungsorientierten Verwaltungssteuerung34 besteht darin, dass die Prüfung der Zielerreichung in einem digitalen System fortlaufend (in Echtzeit) möglich ist und sich notwendige Anpassungen unmittelbar vornehmen lassen. Im Rahmen einer autonomen Steuerung können die Vorgänge sogar vollautomatisiert ablaufen. Bildet Algorithmic Regulation hingegen nur die Basis einer Entscheidungsunterstützung, bedarf es einer Rückkoppelung zwischen der Handlungsempfehlung (bzw. der auf dieser Basis durch die Behörde ergriffenen Maßnahme) und deren Erfolg. Die schnelle Anpassungsfähigkeit und effiziente Rückkoppelung zu
Vgl. nur etwa Kuno Schedler/Isabella Proeller, New Public Management, 2011. Energiewirtschaftsgesetz v. 07. 07. 2005 (BGBl. I S. 1970, 3621), das durch Art. 13 des Gesetzes v. 29. 05. 2017 (BGBl. I S. 1298) zuletzt geändert wurde. 33 Vgl. zu den Algorithmen als Kriterium Kapitel III. 3. 34 Siehe Kapitel III. 1. 31 32
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den Zielen einer Algorithmic Regulation erweisen sich als klare Vorteile, wenn es darum geht, hoheitliche Maßnahmen effizient und zielgerichtet durchzuführen. 3. Algorithmen Ein Algorithmus ist eine Handlungsanweisung bzw. „eine eindeutige Beschreibung eines in mehreren Schritten durchgeführten (Bearbeitungs-)Vorganges“.35 Er kann z. B. auf Papier dokumentiert oder in ein Computerprogramm implementiert sein.36 Für den Beitrag sind indes nur Algorithmen in (staatlichen) Softwareanwendungen von Relevanz. Die im Rahmen einer Algorithmic Regulation genutzten Algorithmen müssen in der Lage sein, große Datenmengen (Stichwort: Big Data37) zu verarbeiten. Gleichzeitig muss ihr Anwender bzw. Programmierer sicherstellen, dass notwendige Anpassungen rasch ihren Weg in die Programme finden. Grundsätzlich lassen sich Algorithmen danach unterschieden, ob ihr Ergebnis determiniert ist oder nicht. Die in der konventionellen Verwaltungsautomation eingesetzten Softwaresysteme arbeiten Probleme in der Regel nach einem vorgegebenen statischen Muster ab. Zu jedem Zeitpunkt ihrer Ausführung ist der jeweils nächste Schritt eindeutig definiert.38 Davon zu unterscheiden sind Algorithmen, deren Ergebnis nicht zwingend (vollständig) determiniert ist. Systeme, die bestimmte maschinelle Lernverfahren nutzen, können unter Umständen ihre Funktionalität und damit ihr Verhalten ändern (Stichwort: lernende Algorithmen). Dabei ist es auch möglich, dass sie von der ursprünglich bei der Programmierung intendierten Funktionalität abweichen.39 Sie verfügen also über einen gewissen Grad an Autonomie. Schon allein aufgrund des technischen Fortschritts ist davon auszugehen, dass der Staat vermehrt auch nicht deterministische Algorithmen einsetzen wird. Oftmals können nur Anwendungen maschinellen Lernens Echtzeitempfehlungen aus einer Masse unstrukturierter Daten herausfiltern; deterministische Systeme kommen hier an ihre technischen und Effizienzgrenzen. Die rechtliche oder aufsichtsbehördliche Kontrolle lernender Algorithmen entwickelt sich dann aber zu einer großen Herausforderung. 35 Gunter Saake/Kai-Uwe Sattler, Algorithmen und Datenstrukturen, 5. Aufl., Heidelberg 2014, S. 3. 36 Vgl. Thomas H. Cormen/Charles E. Leiserson/Ronald Rivest/Clifford Stein, Algorithmen – eine Einführung, 4. Aufl., München 2013 (aus dem Englischen von P. Molitor), S. 6. 37 Vgl. zu Big Data etwa Mario Martini, Big Data als Herausforderung für das Datenschutzrecht und den Persönlichkeitsschutz, in: Hermann Hill/Mario Martini/Edgar Wagner (Hrsg.), Die digitale Lebenswelt gestalten, Baden-Baden 2015, S. 99 – 169. 38 Vgl. Julian Reichwald/Dennis Pfisterer, Autonomie und Intelligenz im Internet der Dinge, CR 2016, S. 208 (210). 39 Stefan Kirn/Claus. D. Müller-Hengstenberg, Intelligente (Software-)Agenten: Von der Automatisierung zur Autonomie? Verselbständigung technischer Systeme, MMR 2014, S. 225 (228 ff.).
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4. Algorithmenkontrolle Das letzte Kriterium nach O’Reilly bezieht sich auf die Kontrolle der eingesetzten Algorithmen. Inwieweit dafür Vorgaben in den einschlägigen Fachgesetzen notwendig sind, bedarf einer tiefgehenden Analyse, die den Rahmen des Beitrags sprengen würde.40 Grundsätzlich ist aber festzuhalten, dass der Staat, sofern er Algorithmen zur Wahrnehmung seiner Aufgaben einsetzt, gewährleisten muss, dass sie mit der Rechtsordnung übereinstimmen. An der verfassungsrechtlich verankerten Bindung der vollziehenden Gewalt an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) führt kein Weg vorbei: Das exekutive Handeln muss mit allen Rechtsnormen im Einklang stehen.41 Die Rechtsbindung erfasst alle Handlungsformen der Verwaltung42 – und damit auch Algorithmen, die in der Regel als Verwaltungsvorschriften zu qualifizieren sind43. Liegt es in der Verantwortung des Staates sicherzustellen, dass Algorithmen mit rechtlichen Vorgaben übereinstimmen, folgt daraus auch eine Pflicht, deren korrekte Funktionsweise zu gewährleisten. Daraus lässt sich ein Gebot zur Kontrolle der Algorithmen ableiten. Inwieweit eine staatliche Aufsicht bei lernenden Algorithmen überhaupt möglich ist44 und auf welche Art und Weise staatliche Behörden sie im Detail bewerkstelligen können, ist allerdings bislang noch unzureichend geklärt. Die altbekannte Diskussion über die Vor- und Nachteile des Einsatzes proprietärer Software wird im Rahmen einer Algorithmic Regulation wohl ihre Renaissance erleben. Die Forderung, Open-Source-Code zu verwenden, um eine effektive Kontrolle durch Dritte zu ermöglichen, ist bereits absehbar.45 40 Vgl. aber das Projekt „Algorithmenkontrolle als Regulierungsaufgabe“: http://www. foev-speyer.de/de/forschung/digitalisierung/daten %C2 %ADgestuetzte-erfuellung-oeffentlicher-aufgaben/algorithmenkontrolle-als-regulierungsaufgabe.php. 41 Hans D. Jarass, in: Hans D. Jarass/Bodo Pieroth (Hrsg.), GG. Kommentar, 14. Aufl. 2016, Art. 20 Rn. 51 ff. 42 Stefan Huster/Johannes Rux, in: Volker Epping/Christian Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, 32. Ed., Stand: 01. 03. 2017, Art. 20 Rn. 170. 43 Vgl. nur etwa Martin Eifert, Electronic Government, 2006, S. 129; Hermann Hill/ Mario Martini, in: Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhardt Schmidt-Aßmann/Andreas Voß kuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2. Aufl., 2012, § 34 Rn. 67; Wolfgang Hoffmann-Riem, Gesetz und Gesetzesvorbehalt im Umbruch, AöR 130 (2005), S. 5 – 70 (59); Ulrich Stelkens, in: Paul Stelkens/Heinz Joachim Bonk/Michael Sachs (Hrsg.), Verwaltungsverfahrensgesetz. Kommentar, 8. Aufl., 2014, § 37 Rn. 72. 44 Maschinelle Lernverfahren erweitern ihre Datenbasis und ihren Entscheidungsmechanismus mitunter ad hoc, ohne dass sich die Änderung im Programmcode widerspiegelt. Bei neuronalen Netzen kann selbst ihr Entwickler bei einer bestimmten Komplexität nicht mehr nachvollziehen, wie die Systeme zu ihren Ergebnissen kommen. Eine Forderung nach Transparenz des Programmcodes läuft hier derzeit ins Leere. 45 Vgl. z. B. Lambert Strether, Algorithmic Regulation, „Code is Law“, and the Case of Ferguson, abrufbar unter http://www.nakedcapitalism.com/2014/08/algorithmic-regulation-code-law-case-ferguson.html.
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Indes bestehen auch Ausweichmöglichkeiten von einer Einsicht in den Programmcode. Eine Möglichkeit ist eine auf Input oder Output gerichtete Kontrolle eines Algorithmus. Dabei fiele der prüfende Blick jeweils nicht auf die Algorithmen selbst bzw. den Programmcode, sondern entweder auf die Daten, die Algorithmen heranziehen (Inputkontrolle) oder darauf, ob das Resultat der Algorithmic Regulation rechtskonform ist (Outputkontrolle). So wird z. B. im Zusammenhang mit vollautomatisierten Verwaltungsverfahren die Einführung einer Zertifizierung im Sinne einer Inputkontrolle vorgeschlagen: Regelmäßige Kontrollen würden dann prüfen, ob lernende Systeme diskriminierende Auswahlfaktoren heranziehen.46 Daneben findet sich die Idee einer Outputkontrolle: Kommt es bei der Eigenprogrammierung eines lernenden Systems zu unerwünschten Ergebnissen, lassen sie sich gegebenenfalls im Wege einer menschlichen Neuprogrammierung oder Anpassung korrigieren.47 Im Rahmen einzelner Anwendungsfälle einer Algorithmic Regulation bedarf es einer Konkretisierung, ob tatsächlich die Kontrolle der Algorithmen notwendig ist – oder ob eine Input- bzw. Output-Kontrolle ausreicht. Mitunter bedarf es sogar ganz neuartiger Aufsichtsmechanismen (z. B. bei neuronalen Netzen). 5. Daten Auch wenn O’Reilly es nicht als separates Kriterium ausweist, sind große Datenströme eine notwendige Voraussetzung für Algorithmic Regulation.48 Neuere Entwicklungen im Feld der IT ermöglichen es, unstrukturierte Daten in enormem Umfang zu sammeln und sie in Echtzeit kontextbezogen auszuwerten.49 Dazu ge46 Mario Martini/David Nink, Wenn Maschinen entscheiden… Persönlichkeitsschutz in vollautomatisierten Verwaltungsverfahren, NVwZ 2017, S. 681 f. (682). Vgl. für eine ausführliche Diskussion verschiedener Möglichkeiten der Algorithmenkontrolle bzw. der Transparenz- und Offenlegungspflichten der Algorithmen einsetzenden staatlichen Stelle Mario Martini/David Nink, Wenn Maschinen entscheiden … – vollautomatisierte Verwaltungsverfahren und der Persönlichkeitsschutz, NVwZ-extra 2017, Nr. 10, S. 1 (10 ff.), sowie Mario Martini, Transformation der Verwaltung durch Digitalisierung, DÖV 2017, S. 443 – 455 (452 f.). 47 Ulrich Stelkens, in: Paul Stelkens/Heinz Joachim Bonk/Michael Sachs (Hrsg.), Verwaltungsverfahrensgesetz. Kommentar, 9. Aufl. (erscheint voraussichtlich 2018), § 35a Rn. 47. Kritisch zu einer reinen Outputkontrolle im Rahmen von vollautomatisierten Verwaltungsverfahren Nadja Braun Binder, Potenziale und rechtliche Grenzen elektronischer vollautomatisierter Verwaltungsverfahren, vollautomatisiert erlassene Verwaltungsakte, elektronische Aktenführung, in: Margrit Seckelmann (Hrsg.): eGovernment – Neuauflage des Bandes „e-Government“ von Frank Bieler/Gunnar Schwarting, (erscheint voraussichtlich 2018), Rn. 19. 48 Vgl. auch Hermann Hill, Scientific Regulation – Automatische Verhaltenssteuerung durch Daten und Algorithmen, in: Hermann Hill/Utz Schliesky (Hrsg.), Auf dem Weg zum Digitalen Staat – auch ein besserer Staat?, 2015, S. 267 – 287 (268 ff.). 49 Vgl. Philipp Otto, Leben im Datenraum – Handlungsaufruf für eine gesellschaftlich sinnvolle Nutzung von Big Data, in: Hermann Hill/Dieter Kugelmann/Mario Martini (Hrsg.), Perspektiven der digitalen Lebenswelt, 2017, S. 9 – 36 (9 ff.).
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hören Social-Media-Dienste, auf denen ihre Nutzer etwa unmittelbare Reaktionen auf das Weltgeschehen und visuelle Eindrücke von aktuellen Ereignissen veröffentlichen.50 Eine wichtige Datenquelle sind auch Sensoren, die z. B. in Smartphones, Autos oder Haushaltsgeräten angebracht sind und unaufhörlich Daten aufzeichnen.51 Bei den Datenbeständen, die in die Entscheidungsmaschinerie einer Algorithmic Regulation einfließen, dürfte es sich zwar in der Regel um Open (Government) Data52 handeln.53 Dennoch sind Probleme hinsichtlich der Nutzungs- und Zugangsrechte an den Daten nicht auszuschließen. Daneben kommt es zu datenschutzrechtlichen Herausforderungen. So ist etwa die Datenauswertung im Rahmen von Smart Grids durchaus kritisch zu sehen: Die Algorithmen nutzen personenbezogene Messdaten, aus denen sich nicht nur der Tagesablauf der Haushaltsangehörigen rekonstruieren lässt, sondern aus denen sich auch Rückschlüsse auf die elektronischen Geräte des Hauses ziehen lassen.54 Eine weitere Herausforderung besteht darin sicherzustellen, dass die genutzten Daten auch tatsächlich inhaltlich korrekt sind – jedenfalls dann, wenn sie nicht aus staatlichen Quellen stammen.
IV. Bedeutung für Parlamente Parlamente sind von den Entwicklungen algorithmischer Verfahren in verschiedener Hinsicht betroffen. In künftigen Gesetzgebungsvorhaben werden sie sich mit den wesentlichen Aspekten einer Algorithmic Regulation auseinanderzusetzen haben. Dazu gehören Fragen des Datenschutzes, aber auch ein Bewusstsein für Fragen der staatlichen Steuerung und Kontrolle.
50 Eden Medina, Rethinking algorithmic regulation, Kybernetes 2015, S. 1005 – 1019 (1005). 51 Eden Medina, Rethinking algorithmic regulation, Kybernetes 2015, S. 1005 – 1019 (1005); Tim O’Reilly, Open Data and Algorithmic Regulation, in: Brett Goldstein/Lauren Dyson, Beyond Transparency. Open Data and the Future of Civic Innovation, 2013, S. 289 – 300 (294 f.). 52 Open Data meint Daten, die für die Allgemeinheit freigegeben sind und von jedermann ohne jegliche Einschränkungen genutzt werden können. Häufig werden solche Daten heute von staatlicher Seite zur Verfügung gestellt. In diesem Fall kann auch von Open Gov ernment Data gesprochen werden. 53 Vgl. nur etwa Tim O’Reilly, Open Data and Algorithmic Regulation, in: Brett Goldstein/Lauren Dyson, Beyond Transparency. Open Data and the Future of Civic Innovation, 2013, S. 289 – 300 (291 f. und 299 f.). 54 Vgl. u.a. Margrit Seckelmann, Auf dem Weg zum Smart Grid – Vorteile und datenschutzrechtliche Probleme, in: Hermann Hill/Utz Schliesky (Hrsg.), Auf dem Weg zum Digitalen Staat – auch ein besserer Staat?, 2015, S. 241 – 275 (253 ff.); Sebastian Bretthauer, Smart Meter im Spannungsfeld zwischen Europäischer Datenschutzgrundverordnung und Messstellenbetriebsgesetz, EnWZ 2017, S. 56 – 61.
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Unabhängig davon stellt sich die grundsätzliche Frage, ob die Berufung eines Kontrollgremiums für eine staatliche Big-Data-Nutzung notwendig wird. So wird etwa vorgeschlagen, eine „Big-Data-Kommission“ des Bundes einzusetzen. Ihre Aufgabe bestünde darin, Verantwortungsbereiche zu identifizieren, in denen Big-Data-Analysen Anwendung finden können.55 Eine andere übergeordnete Fragestellung stellt jene nach der verfassungsrechtlichen Normierung grundlegender Rahmenbedingungen digitaler Steuerung dar.56 Eine solche Normierung könnte auch die staatliche Steuerungsdimension umfassen. Auch die Schaffung eines Rahmengesetzes für „automatische Regulierung“ ist denkbar.57 Eine weitere Frage ist jene nach (neuen) Nutzungs- und Zugangsrechten an Daten. Die Datensouveränität ist nicht nur im Rahmen der staatlichen Big-Data-Nutzung im Sinne einer Algorithmic Regulation, sondern auch für die Wirtschaft von zentraler Bedeutung.58 Schließlich ist ganz grundsätzlich zu klären, inwieweit eine Algorithmic Regulation von der Kollaboration mit Privaten abhängen darf. Eine Kooperation zur Aufgabenerfüllung erscheint angesichts der Konstruktionsmaximen der digitalen Welt zwar nahezu unausweichlich. Eine komplette Abhängigkeit von Technologiekonzernen, etwa bei der Steuerung der Infrastruktur einer Smart City, sollte dagegen kritisch betrachtet werden.59 Parlamente könnten darüber hinaus in institutioneller Hinsicht von einer Algorithmic Regulation betroffen sein. Die Beispiele Smart City, Smart Grid und Predictive Policing zeigen zwar, dass Algorithmic Regulation in erster Linie ein „Instrument“ der Exekutive ist bzw. sein wird. Gleichwohl können Parlamente durch 55 Philipp Otto, Leben im Datenraum – Handlungsaufruf für eine gesellschaftlich sinnvolle Nutzung von Big Data, in: Hermann Hill/Dieter Kugelmann/Mario Martini (Hrsg.), Perspektiven der digitalen Lebenswelt, Baden-Baden 2017, S. 9 – 36 (29). Vgl. auch Hermann Hill, Scientific Regulation – Automatische Verhaltenssteuerung durch Daten und Algorithmen, in: Hermann Hill/Utz Schliesky (Hrsg.), Auf dem Weg zum Digitalen Staat – auch ein besserer Staat?, 2015, S. 267 – 287 (285). 56 Die Notwendigkeit einer Anpassung des Grundgesetzes bejahend: Utz Schliesky, Ist der digitale Staat ein besserer Staat? in: Michael Fehling/Utz Schliesky (Hrsg.), Neue Machtund Verantwortungsstrukturen in der digitalen Welt, Baden-Baden 2016, S. 97 – 119 (114); ders., Eine Verfassung für den digitalen Staat?, ZRP 2015, S. 56 – 58. Dagegen: Hans-Peter Bull, Der „digitale Staat“ und seine rechtliche Ordnung, ZRP 2015, S. 98 – 101 (99). 57 s. Hermann Hill, Scientific Regulation – Automatische Verhaltenssteuerung durch Daten und Algorithmen, in: Hermann Hill/Utz Schliesky (Hrsg.), Auf dem Weg zum Digitalen Staat – auch ein besserer Staat?, 2015, S. 267 – 287 (286 f.). 58 Philipp Otto, Leben im Datenraum – Handlungsaufruf für eine gesellschaftlich sinnvolle Nutzung von Big Data, in: Hermann Hill/Dieter Kugelmann/Mario Martini (Hrsg.), Perspektiven der digitalen Lebenswelt, Baden-Baden 2017, S. 9 – 36 (30). 59 Vgl. auch Hermann Hill, Scientific Regulation – Automatische Verhaltenssteuerung durch Daten und Algorithmen, in: Hermann Hill/Utz Schliesky (Hrsg.), Auf dem Weg zum Digitalen Staat – auch ein besserer Staat?, 2015, S. 267 – 287 (278 ff.); Philipp Otto, Leben im Datenraum – Handlungsaufruf für eine gesellschaftlich sinnvolle Nutzung von Big Data, in: Hermann Hill/Dieter Kugelmann/Mario Martini (Hrsg.), Perspektiven der digitalen Lebenswelt, Baden-Baden 2017, S. 9 – 36 (30).
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den Einsatz von Algorithmic Regulation in ihrer Kontrollfunktion gegenüber der Gubernative berührt sein.60 Die skizzierten Schwierigkeiten hinsichtlich der Algorithmenkontrolle61 schlagen sich auch hier nieder.
V. Fazit Die Analyse zeigt: Algorithmic Regulation ist mehr als nur ein neues Schlagwort zur Umschreibung bereits bekannter Phänomene. Im Kern geht es darum, einen zentralen Aspekt künftiger exekutiver Tätigkeit zu erfassen, der zum einen durch eine weitgehende Steuerung durch Algorithmen und zum anderen durch die Nutzbarmachung großer Datenbestände gekennzeichnet ist. Algorithmic Regulation lässt sich als Element des weitgehenderen Ansatzes Smart Government einordnen. Den Kriterien für Algorithmic Regulation von O’Reilly folgend, sollte eine Behörde klare Zielvorstellungen für den Einsatz von Softwareanwendungen entwickeln und die Zielerreichung (anhand von geeigneten Kennzahlen) fortlaufend prüfen. Außerdem wird sie verfügbare Datenbestände im Hinblick auf hoheitliches Handeln bzw. die Anpassung von hoheitlichem Handeln mithilfe von Algorithmen auswerten. Schließlich muss die Behörde ihre Algorithmen periodisch kontrollieren – besondere Herausforderungen bestehen dabei beim Einsatz maschineller Lernverfahren.62 Der Gesetzgeber wird künftig gefordert sein, die normative Basis für den Einsatz und die Kontrolle algorithmischer Verfahren zu schaffen. Dabei drängt sich die Frage auf, ob die Notwendigkeit eines Rahmengesetzes für Algorithmic Regulation besteht.
60 Von einer Bedrohung der Kontrollfunktion der Parlamente durch die Digitalisierung spricht etwa Utz Schliesky, Ist der digitale Staat ein besserer Staat? in: Michael Fehling/ Utz Schliesky (Hrsg.), Neue Macht- und Verantwortungsstrukturen in der digitalen Welt, Baden-Baden 2016, S. 97 – 119 (106). 61 Vgl. Kapitel III. 4. 62 Vgl. Kapitel III. 3. und 4.
Kommunikation und Entscheidung in der „VUCA-World“ Von Hermann Hill Kommunikation und Entscheidung in der „VUCA-World“ Hermann Hill
I. „VUCA-World“ und Digitalisierung Unsere aktuelle Lebenswelt ist von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität (Mehrdeutigkeit) geprägt. Dies wird in der modernen Managementliteratur mit dem Akronym „VUCA-World“ bezeichnet1. Andere Kennzeichnungen lauten „Age of Turbulence“ (Alan Grenspan), „unknown unknowns“ (Donald Rumsfeld) oder knüpfen an das vermeintlich unmögliche Auftreten sog. „schwarzer Schwäne“ (Nassim Taleb) an 2. Diese Entwicklungen sind vom Grundansatz her nichts Neues, sie wurden in der sog. Postmoderne schon früher konstatiert. So existiert schon seit 1973 der Begriff der „wicked problems“, der die Verflochtenheit, Undurchschaubarkeit und Dynamik vieler Probleme beschreibt3. Schon in einer Tagung vor Auflösung des „Eisernen Vorhangs“, der die früheren politischen Verhältnisse in neue Bewegung brachte, ging es um staatliches Handeln bei „veränderlichen Bedingungen“4. Was die persönlichen Lebensverhältnisse und die politische Kommunikation indessen von Grund auf verändert, ist die Digitalisierung. Sie schafft neue Möglichkeiten, aber auch neue Risiken5 und verstärkt damit die Unwägbarkeiten und Turbulenzen der „VUCA-World“. So diagnostiziert die FAZ, Digitalisierung habe die Gesellschaft komplizierter gemacht und zitiert Sean Evins, einen Mitarbeiter von Facebook: „Es gibt viel mehr Faktoren zu berücksichtigen als früher“. 1 Oliver Mack u. a. (Hrsg.), Managing in a VUCA World, 2016; Hermann Hill, Die Kunst des Entscheidens, DÖV 2017, 433. 2 Hill, Mobilisierung der Verwaltung – ein Fitnessprogramm zur Steigerung der Leistungsfähigkeit, VerwArch 103 (2012), 475 (476); ders., Die Zukunft erproben – Vom pragmatischen Umgang mit Unsicherheit und Komplexität, in: Hermann Hill/Utz Schliesky (Hrsg.), Management von Unsicherheit und Nichtwissen, 2016, S. 327 ff. 3 Horst Rittel/Melvin M. Webber, Dilemmas in a general theory of planning, Policy Sciences 4 (1973), 155; Brian W. Head/John Alford, Wicked Problems: Implications for Public Policy and Management, Administraion & Society 47 (2015), 711. 4 Hill, Staatliches Handeln bei veränderlichen Bedingungen, in: Thomas Ellwein/Jens Joachim Hesse (Hrsg.), Staatswissenschaften: Vergessene Disziplin oder neue Herausforderung?, 1990, 55. 5 Hill, Digitalisierung – Veränderungen und Herausforderungen, in: Jörn von Lucke/ Klaus Lenk (Hrsg.), Verwaltung, Informationstechnik & Management, Festschrift für Heinrich Reinermann, 2017, S. 101 ff.
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Ähnlich wird Yvonne Hofstetter mit der Bemerkung zitiert: „Durch das Internet und die sozialen Medien sind mehr Beziehungen entstanden. Die Gesellschaft ist komplexer geworden“6. An anderer Stelle wird darauf verwiesen, statt zu Transparenz sowie zu klaren und eindeutigen Entscheidungsprozessen führten Vernetzung, Rückkopplung und Gleichzeitigkeit zu multiplen Realitäten, einem „permanenten Clash von Codes und Wirklichkeitswelten“, einem Ende von „Wahr“ und „Falsch“ sowie einem Wandel des Zeitbegriffs7. Einige Beobachtungen sollen die Entwicklungen der Digitalisierung illustrieren8: Das sog. Web 2.0 hat eine Veränderung „Vom User zum Producer“ erbracht. Man nutzt nicht mehr nur Informationen, sondern erstellt und verbreitet eigene Beiträge, was die Kommunikationswelt verbreitert und komplexer werden lässt. Soziale Netzwerke, Messenger-Dienste und Kurzbotschaften auf Twitter sowie automatisch durch sog. Social Bots9 generierte Beiträge sorgen weiterhin für ein Ansteigen der Kommunikationsflut. Aus kommerziellen Interessen versuchen viele Dienste die Nutzer durch sog. Clickbaits (Köder)10 möglichst lange auf ihren Seiten zu halten. Ob soziale Netzwerke zu neuen Teilöffentlichkeiten im Sinne von geschlossenen Kommunikationswelten (sog. Filterbubbles oder Echokammern) führen, wird dabei zunehmend diskutiert11. Die Frage, inwieweit Algorithmen12 und künstliche Intelligenz13 die Kommunikation beeinflussen bzw. verändern, betrifft das grundlegende Verhältnis zwi6
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. April 2017, S. 19. Lena Papasabbas, Multi-Logik: Jenseits der Linearität, in: Zukunftsinstitut GmbH (Hrsg.), Digitale Erleuchtung – alles wird gut, 2016, S. 72 (74). 8 Vgl. Hill, Die Vermessung des virtuellen Raums – eine Zwischenbilanz, in: Hill/ Schliesky (Hrsg.), Die Vermessung des virtuellen Raums, 2012, S. 345 ff. 9 Simon Hegelich, Invasion der Meinungsroboter, Analysen und Argumente der Konrad-Adenauer-Stiftung, Ausgabe 221, September 2016; Kevin Dankert/Stephan Dreyer, Social Bots – Grenzenloser Einfluss auf den Meinungsbildungsprozess? Kommunikation & Recht 2017, 73; Armin Steinbach, Social Bots im Wahlkampf, ZRP 2017, 101; Andreas Jungherr, Das Internet in der politischen Kommunikation: Forschungsstand und Perspektiven, PVS 2017, 284 (297). 10 Bernhard Pörksen, Schöne falsche Welt, Chrismon 3/2017, 48 (49). 11 Boris P. Paal/Moritz Hennemann, Meinungsbildung im digitalen Zeitalter, JZ 2017, 641 (644); Andreas Heimann, Medienforscher: „Angst vor der Filterblase ist übertrieben“, https://www.heise.de/newsticker/meldung/Medienforscher-Angst-vor-der-Filterblaseist-uebertrieben-3632255.html. 12 Christoph Drösser, Total berechenbar? Wenn Algorithmen für uns entscheiden, 2016; Hill, Scientific Regulation – Automatische Verhaltenssteuerung durch Daten und Algorithmen, in: Hill/Schliesky (Hrsg.), Auf dem Weg zum Digitalen Staat – auch ein besserer Staat?, 2015, S. 267 ff., Wolfgang Hoffmann-Riem, Verhaltensteuerung durch Algorithmen – Eine Herausforderung für das Recht, AöR 142 (2017), 1. 13 John Brockman (Hrsg.), Was sollen wir von Künstlicher Intelligenz halten? 2017; Gerhard Lakemeyer, Künstliche Intelligenz, Analysen & Argumente der Konrad-Adenauer-Stiftung, Ausgabe 261, Juni 2017. 7
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schen Mensch und Maschine. Die Abgrenzung und Zuordnung der verschiedenen Kompetenzen sowie die Zusammenarbeit zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz stellt eine bedeutende Zukunftsfrage dar. Die Datenflut hat enorm zugenommen (Big Data). Es wird immer schwieriger, in dieser Datenfülle relevante Informationen zu finden14. Viele Menschen geben zudem ihre persönlichen Daten preis, um überhaupt am Informationsaustausch teilnehmen zu können oder maßgeschneiderte Angebote zu erhalten. In Verbindung mit modernen Techniken zur Datenkombination und -auswertung bietet dies nicht nur Chancen für neue Geschäftsmodelle und Möglichkeiten zur Beeinflussung des Konsumverhaltens oder für personalisierte Wahlkampfstrategien („Profiling“, „Microtargeting“15), sondern verändert auch das Verhältnis von Privatsphäre, Persönlichkeitsschutz und Öffentlichkeit16. Hacker-Angriffe (zuletzt „WannaCry“ und „Petya“17) erschüttern nicht nur die Firmenwelt, sondern auch gemeinwohlrelevante kritische Infrastrukturen und staatliche Institutionen. Der Wahrheits- und Objektivitätsgehalt sowie die Verlässlichkeit und Verbindlichkeit von Informationen werden und durch sog. alternative Fakten18, Fake News19 in Frage gestellt. Dieser digitale Strukturwandel der Öffentlichkeit stellt auch die Politik vor neue Herausforderungen20. Was bedeutet dies insbesondere für die Zukunft der Parlamente?21 14 Hill, Aus Daten Sinn machen: Analyse- und Deutungskompetenzen in der Datenflut, DÖV 2014, 213. 15 Wolfie Christl, An ihren Daten sollt ihr sie erkennen, FAZ vom 20. Dezember 2016, S. 13; Mario Gatti, Was Präsidenten schon immer über Wähler wissen wollten, FAZ vom 20. Januar 2017, S. 13; Christoph Koch, Verbessern soziale Medien die Welt? brand eins 5/2017, S. 92 (96 f.). 16 Hill, Neubestimmung der Privatheit – auf dem Weg zu „Neuer Sozialität“, in: Hill/ Schliesky (Hrsg.), Die Neubestimmung der Privatheit, 2014, S. 249 ff. 17 Axel Weidemann, Es ist noch nicht vorbei. Computervirus „Petya“ richtet große Schäden an, FAZ vom 8. Juli 2017, S. 16; ders., Die Frage ist nur, wann sie angreifen, FAZ vom 30. Juni 2017, S. 17. 18 So Kellyanne Conway, Beraterin von US-Präsident Donald Trump, https://www.welt. de/politik/ausland/article161409351/Unser-Pressesprecher-hat-alternative-Fakten-dazu.html. 19 Ingrid Brodnig, Lügen im Netz. Wie Fake News, Populisten und unkontrollierte Technik uns manipulieren, 2017; Norbert Lossau, Gefährden Fake News die Demokratie?, Analysen & Argumente der Konrad-Adenauer-Stiftung, Ausgabe 263, Juli 2017. 20 Hill, Veränderung von Staatskommunikation und Staatskultur durch neue Medien, in: Edwin Czerwick (Hrsg.), Politische Kommunikation in der repräsentativen Demokratie der Bundesrepublik Deutschland, Festschrift für Ulrich Sarcinelli, 2013, S. 67 ff.; ders., Öffentliche Angelegenheiten im Wandel: Neue Herausforderungen für Regieren und Verwalten, in: Karl-Peter Sommermann (Hrsg.), Öffentliche Angelegenheiten – interdisziplinär betrachtet, Forschungssymposium zu Ehren von Klaus König, 2016, S. 49 ff.; Utz Schliesky, Auf dem Weg zum digitalen Staat – auch ein besserer Staat?, in: Hill/Schliesky (Hrsg.), Auf dem Weg zum digitalen Staat – auch ein besserer Staat?, 2015, S. 9 ff. 21 Schliesky, Digitalisierung – Chancen und Risiken, in: Martin Morlok/Utz Schliesky/ Dieter Wiefelspütz (Hrsg.), Parlamentsrecht. Praxishandbuch, 2016, S. 1656 ff.; ders., Ist der
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Bundesratspräsidentin Malu Dreyer hat diese Entwicklungen in den digitalen Medien und ihre Auswirkungen auf die Rolle des Parlaments in einer Grundsatzrede vor Parlamentspräsidenten in Bratislava am 24. April 2017 aufgegriffen. Zunächst heißt es dort: „Jedoch scheint … für viele Bürgerinnen und Bürger das Parlament nicht mehr allein der zentrale Ort des politischen und gesellschaftlichen Diskurses zu sein… Nur noch selten verfolgen Bürgerinnen und Bürger Parlamentsdebatten, auch die Berichterstattung in den Medien ist mehr an exekutiven Entscheidungen als an parlamentarischer Debatte interessiert“. Und weiter: „Für das Funktionieren und die Akzeptanz der repräsentativen Demokratie ist die Wahrnehmbarkeit des Parlaments von zentraler Bedeutung … Dabei müssen wir feststellen, dass die Diskussionskultur in den digitalen Medien oftmals eine andere ist als in der analogen Welt … Gerade angesichts von gezielt verbreiteten Falschmeldungen und manipulierten Meinungsäußerungen ist eine vertrauenswürdige Informationsgrundlage umso wichtiger … Aktuelle Informationen über die Arbeit des Bundesrates umfassen nicht nur einen Live-Stream aus der Plenarsitzung sowie die Bereitstellung aller Dokumente im Internet und in mobilen Anwendungen, sondern vielmehr auch eine redaktionelle Aufarbeitung der wichtigsten Beratungsgegenstände“22.
II. Postfaktische und klassische Kommunikation Die Gesellschaft für deutsche Sprache hat das Wort „postfaktisch“ zum Wort des Jahres 2016 gewählt. In der Begründung heißt es dazu, das Kunstwort postfaktisch, eine Lehnübertragung des amerikanisch-englischen „post truth“23, verweise darauf, dass es in politischen und gesellschaftlichen Diskussionen heute zunehmend um Emotionen anstelle von Fakten gehe. Immer größere Bevölkerungsschichten seien in ihrem Widerwillen gegen „die da oben“ bereit, Tatsachen zu ignorieren und sogar offensichtliche Lügen bereitwillig zu akzeptieren. Nicht der Anspruch auf Wahrheit, sondern das Aussprechen der „gefühlten Wahrheit“ führe im „postfaktischen Zeitalter“ zum Erfolg24. Der Begriff ist indessen nicht unumstritten25. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen spricht von einer „ahistorischen Idealisierung“ und nennt den Begriff digitale Staat ein besserer Staat?, in: Michael Fehling/Utz Schliesky (Hrsg.), Neue Machtund Verantwortungsstrukturen in der digitalen Welt, 2016, S. 97 (103 ff.). 22 Malu Dreyer, Politik im Zeichen des digitalen Zeitalters, http://www.bundesrat.de/ SharedDocs/reden/DE/dreyer-2016 – 17/20170424-rede-dreyer-ppk-bratislava.html. 23 Ralph Keyes, The Post-Truth Era. Dishonesty and Deception in Contemporary Life, 2004; vgl. noch Michael Scherer, Can Trump Handle The Truth?, Time, April 3, 2017, 21, Magazin-Titel: „Is Truth Dead?“. 24 http://gfds.de/wort-des-jahres-2016/. 25 Vgl. noch Eduard Kaeser, Das postfaktische Zeitalter, https://www.nzz.ch/meinung/ kommentare/googeln-statt-wissen-das-postfaktische-zeitalter-ld.111900; Armin Steinbach, Meinungsfreiheit im postfaktischen Umfeld, JZ 2017, 653; Brodnig (Fn. 19), S. 54.
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zudem eine „Resignationsvokabel“, mit der man achselzuckend akzeptiere, dass das Rationalitäts- und Realitätsprinzip des Diskurses nicht mehr gelte26. Die Leiterin des Instituts für Demoskopie Allensbach, Renate Köcher, schreibt: „Begriff und Diagnose suggerieren, dass wir aus einem Zeitalter der sachlichen, faktenorientierten Urteilsbildung kommen. Diese Zeit hat es so nie gegeben.“27 Wie sah denn die Kommunikation in der analogen Welt aus? Einige Schlaglichter mögen dies skizzieren: „Roh-Daten“, wie häufig im Zusammenhang mit Open Data gefordert, sind schwer auszumachen, denn jedes Datum ist schon durch das Erkenntnisinteresse, die Erhebungsinstrumente, die Versuchsanordnung und den sonstigen Kontext seiner Entstehung geprägt28. Schon Herbert Simon sprach im Zusammenhang mit Informationsverarbeitung von „bounded rationality“29, da nie alle Informationen zur Verfügung stehen und die Verarbeitung zudem noch durch Wahrnehmungs-, Beurteilungs- und Übermittlungsfehler eingeschränkt ist. Wir bedienen uns sog. Heuristiken („Daumenregeln“) zur vereinfachten Entschlüsselung30, suchen und glauben gerne, was unsere bisherige Auffassung bestätigt („confirmation bias“)31 oder greifen in effizienter und bequemer Weise zu leichtzugänglichen, angebotenen Lösungen („Solutionismus“)32. Zudem waren Menschen schon immer an Gerüchten oder Klatsch interessiert, insbesondere, wenn diese unter dem vermeintlichen Siegel der Vertraulichkeit weitergegeben wurden. „Interessen schlagen Fakten“ schreibt Renate Köcher: „Immer wenn Interessen oder Weltbilder im Spiel sind oder eine gesellschaftliche Debatte aufgeladen ist, treffen faktenbasierte Argumente auf erhebliche Gegenwehr“33. Die Politik kannte schon immer sog. „Spin Doctors“34, die Fakten in einem gewünschten Licht erscheinen lassen („Framing“35) oder insbesondere in Wahlkämpfen Fakten gezielt mit Personen in Verbindung bringen („Personalisierung“).
Pörksen, Das peinliche Zeitalter, Forschung & Lehre, 2/2017, 97. Renate Köcher, Interessen schlagen Fakten, FAZ vom 22. Februar 2017, S. 10. 28 Hill, DÖV 2014, 213 (215). 29 Herbert Simon, Administrative Behavior, 4. Aufl. 1997, S. 118 ff. 30 Gerd Gigerenzer/Peter M. Todd and the ABC Research Group, Simple heuristics that make us smart, 2001; Moritz Loock/Gieri Hinnen, Heuristics in Organizations: A review and research agenda, Journal of Business Research 2015, 2. 31 Brodnig (Fn. 19), S. 54; Klaus Wilhelm, Wir Gutgläubigen, Psychologie heute 4 /2017, S. 34 ff. 32 Evgeny Morozov, Smarte neue Welt, 2013, S. 19 ff. 33 Köcher (Fn. 27). 34 Mathias Ulmann, Spin it! Denken und überzeugen wie ein Spin-Doktor, 2015. 35 Elisabeth Wehling, Politisches Framing, 2016. 26 27
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Andererseits entscheiden sich auch Medien manchmal, bestimmte Nachrichten nicht zu bringen, weil sie vielleicht in einer bestimmten Situation politisch nicht opportun oder korrekt sind (sog. „weiße Lügen“36). Neuerdings versucht auch die Politik, durch bestimmte Voreinstellungen oder Auswahlanordnungen die Bürger mit ihrer Entscheidung oder ihrem Verhalten in eine bestimmte Richtung zu „schubsen“ (sog. „Nudging“37). Was ist deshalb neu oder anders bei der Kommunikation im „postfaktischen Zeitalter“? Vielleicht sind es die Vielzahl der Beiträge und Kommentare und der Zwang, in sozialen Netzwerken, ständig zu reagieren und zu interagieren, die eine größere Komplexität erzeugen. Vielleicht aber auch die Anonymität38 oder umgekehrt die Bereitschaft, auch persönliche Daten zu offenbaren und damit auch mehr Emotionen ins Spiel zu bringen. Schließlich tragen auch die Beschleunigung und der Zwang, in Echtzeit zu reagieren, so dass keine Zeit mehr bleibt, Informationen zu überprüfen, dazu bei, dass Kommunikation anders erfolgt und vor allem anders erlebt wird. Möglicherweise ist es insgesamt der Grad der beschleunigten Modernisierung, der bei einigen zu Überforderung führt und die Bereitschaft steigen lässt, einfachen Parolen oder populistischen39 Schwarz-Weiß-Malereien schneller Glauben zu schenken. Sicher trägt auch ein neuer Politikstil mancher Spitzenpolitiker, die mit Twitter-Nachrichten, häufig spontan und unabgestimmt, direkten Kontakt zur Bevölkerung suchen, zur Veränderung der (politischen) Kommunikation bei. Wie auch immer, egal ob man Begriff und Diagnose „postfaktisch“ für gelungen hält oder nicht, „Fakt“ ist, die Kommunikation ist durch das Internet und die Digitalisierung nicht einfacher, sondern schwieriger geworden. Es fehlt indessen nicht an Vorschlägen, wieder mehr Ordnung, Objektivität und Verlässlichkeit ins Spiel zu bringen. Sicher würde es einem modernen Verständnis von Öffentlichkeit in einer freiheitlichen Demokratie nicht entsprechen, in Anlehnung an George Orwell in seinem Roman „1984“ ein „Wahrheitsministerium“ einzurichten, um verbindliche Wahrheiten zu dekretieren. Dagegen wird durchaus darüber nachgedacht, dass zum Beispiel der Bundestag, um Desinformationskampagnen zu begegnen, im Bereich seiner Sachkompetenzen eine Clearing-Stelle schaffen könnte, die Falsch meldungen adressieren und richtig stellen soll40. Norbert Bolz, Die Pöbel-Demokratie, Cicero, März 2017, S. 15 (21). Richard H. Thaler/Cass R. Sunstein, Nudge – Wie man kluge Entscheidungen anstößt, 2009; Alexandra Kemmerer et al. (Hrsg.), Choice Architecture in Democracies – Exploring the Legitimacy of Nudging, 2016. 38 Jens Kersten, Anonymität in der liberalen Demokratie, JuS 2017, 193. 39 Carsten Reinemann, Populismus, Kommunikation, Medien. Ein Überblick über die Forschung zu populistischer politischer Kommunikation, ZfP 2017, 107; Wolfgang Knöbl, Und täglich grüßt der Populismus, FAZ vom 26. Juni 2017, S. 6. 40 Tabea Rößner/Karl-E. Hain, Wie man Lügen am besten bekämpft, FAZ vom 7. März 2017, S. 13; vgl. auch Brodnig (Fn. 19), S. 151: „Monitoring-Stelle für Desinformation“; 36 37
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Weiterhin wäre denkbar, quasi als Geschäftsgrundlage jeder politischen Diskussion im Bundestag oder in den Medien41 einen Faktencheck zugrunde zu legen. Sobald es aber um Zahlenwerte, Relationen oder Statistiken geht, wird es schon wieder schwierig, weil meistens unterschiedliche Interpretationen möglich sind. Ob und wie man mit schärferen Gesetzen gegen Falschmeldungen und automatisierte Meinungsmache vorgehen kann, bleibt weiterhin umstritten. So denkt der Bundesjustizminister Heiko Maas nach Verabschiedung des sog. Netzwerkdurchsetzungsgesetzes42 über ein „digitales Antidiskriminierungsgesetz“ nach – „gegen digitale Diskriminierung und vorurteilsfreies Programmieren“43. Verwiesen wird darauf, dass die klassischen Medien ihr Monopol auf die Weitergabe von Informationen an die großen Plattformen und sozialen Netzwerke des Internets verloren hätten44. Umso aufmerksamer und kritischer nehmen sie die Diskussionen in den sozialen Netzwerken wahr45. Generell ist fraglich, ob man von diesen Informationsanbietern und Kommunikationsplattformen eine Art Qualitätsjournalismus verlangen oder ihnen etwa im Wege medienrechtlicher Regulierung rundfunkähnliche Pflichten auferlegen kann46. Neuerdings gibt es in verschiedenen Medien sog. Faktenfinder47 oder Anleitungen, wie man Fake News erkennen kann48. Sicher bleibt es weiterhin Aufgabe der Gesa Coordes, Vom Gift der Manipulation, duz 5/2017, 14 f.: Gemeinnützige Aufklärungsredaktionen, finanziert durch Stiftungen (Vorschlag von Johanna Haberer). 41 Wilhelm (Fn. 31), S. 37: Sofortiger Faktencheck bei Talkshows im Fernsehen. 42 Karl-Heinz Ladeur/Tobias Gostomzyk, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz und die Logik der Meinungsfreiheit, K & R 2017, 390; Nikolaus Guggenberger, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz – schön gedacht, schlecht gemacht, ZRP 2017, 98; Dominik Höch, Nachbessern: ja, verteufeln: nein. Das NetzDG ist besser als sein Ruf, K & R 2017, 289; Martin Eifert, Rechenschaftspflichten für soziale Netzwerke und Suchmaschinen, NJW 2017, 1450; Gedankenfreiheit, Minister Maas!, FAZ vom 16. Juni 2017, S. 18; Fabian Reinhold, Das Facebook-Gesetz ist erst der Anfang, http://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/heiko-maasund-facebook-das-netzdg-ist-erst-der-anfang-die-analyse-a-1155222.html. 43 Heiko Maas, Zusammenleben in der digitalen Gesellschaft, Rede vom 3. Juli 2017, http://www.bmjv.de/SharedDocs/Reden/DE/2017/07032017_digitales_Leben.html;jsessionid=9B82890D9C47472834DCFB4C695707D7.1_cid289?nn=6705022, Constanze Kurz, Diskriminierung ist Menschenwerk. Das neue Gesetzesvorhaben von Heiko Maas überschätzt die Macht der Algorithmen, FAZ vom 10. Juli 2017, S. 12. 44 Dinah Riese, Die neue Propaganda, FAZ vom 22. Juni 2017, S. 15. 45 Zur Rolle der klassischen Medien vgl. noch Bolz (Fn. 36), S. 22. 46 Die SPD will das Internet regulieren, FAZ vom 18. Mai 2017, S. 17; Michael Hanfeld, Meinungsfreiheit im Neuland, FAZ vom 19. Mai 2017, S. 13. 47 http://faktenfinder.tagesschau.de/; Brodnig (Fn. 19), S. 182. 48 Dennis Horn, Der Kampf gegen Fake News – und die Ideen, die es bisher gibt, https://blog.wdr.de/digitalistan/der-kampf-gegen-fakenews-und-die-ideen-die-es-bisher-gibt/; Bayersicher Rundfunk, Fake News im Netz erkennen, http://www.br.de/sogehtmedien/ stimmt-das/luegen-erkennen/un-wahrheiten-luegen-erkennen124.html; Markus Böhm, So enttarnen Sie Fakes im Internet, http://www.spiegel.de/netzwelt/web/internet-fakes-entlar-
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Schulen und der politischen Bildung, Filter- und Prüfkompetenzen im Dschungel der digitalen Medienlandschaft auszubilden und zu pflegen und „Digitalcourage“49 zu entwickeln. Eines ist jedenfalls sicher: Die „Suche nach der Wahrheit“, nach Glaubwürdigkeit und Glaubhaftigkeit macht Mühe. Sie fordert auch weiterhin den Diskurs und die Auseinandersetzung, das Ringen um intersubjektive Anerkennung und Vermittlung sowie die Prüfung von Aktualität und neuen Erkenntnissen. Sie verlangt Integrität und Offenheit sowie Verantwortung, sie kostet Sorgfalt und Zeit50.
III. Algorithmische und agile Entscheidungsformen Nicht nur die Analyse der Sachverhalte und die Kommunikation mit der Öffentlichkeit werden durch „VUCA-World“ und Digitalisierung herausgefordert, sondern auch die Entscheidungsfunktion der Parlamente. Dies geschieht durch künstliche Intelligenz und automatisierte Entscheidungsverfahren sowie durch agile Entscheidungsformen und neue Wege zur Innovationsfindung. Aus der Vielzahl der öffentlich zur Verfügung stehenden Daten und persönlichen Meinungsäußerungen im Netz können leistungsfähige Rechner hohe Wahrscheinlichkeiten der Stimmabgabe der Bürger wie der Abgeordneten ermitteln und vorhersagen („predictive analytics“). Nicht nur die Exekutive oder private Dritte können durch Algorithmen Verhalten steuern und bedürfen deshalb der rechtlichen Einhegung51, sondern auch die Entscheidung des Parlaments bzw. der Bürgerschaft wäre insofern berechenbar und vorhersagbar, ja in diesem automatisierten System von Datenverknüpfungen im Ergebnis sogar ersetzbar. Die provozierende Frage von Adrian Lobe „Brauchen wir noch Gesetze, wenn Rechner herrschen?“52 bringt dies auf den Punkt. Auch Yvonne Hofstetter warnt vor entsprechenden Folgen: „Demokratie? Eine veraltete Technologie!“ lautet ihre Schlagzeile und darunter: „Wenn künstliche Intelligenz den Bürger bis ins Detail kennt, kann sie auch seinen politischen Willen hochrechnen“53. Das klassische Gesetz entwickelt aus den Erfahrungen der Vergangenheit auf der Basis politischer Ziele und Absichten Regelungen für die Zukunft. Es wird in einem geregelten und gestuften, zeitlich gestreckten Verfahren erlassen. Politische ven-tipps-fuer-den-surf-alltag-a-1121315.html; vgl. auch www.mimikama.at; www.hoaxmap.org. 49 Bundesratspräsidentin Dreyer, Rede in Bratislava (Fn. 22). 50 Vgl. auch Philipp Felsch im Gespräch mit Lorraine Daston und Georg Mascolo, Welchen Fakten können wir trauen?, Philosophie Magazin 3/2017, S. 58 ff. 51 Dazu Nadja Braun Binder, in diesem Band S. 107 ff. 52 Adrian Lobe, Brauchen wir noch Gesetze, wenn Rechner herrschen?, FAZ vom 7. Januar 2015, S. 13. 53 Yvonne Hofstetter, Demokratie? Eine veraltete Technologie!, FAZ vom 7. Januar 2017, S. 14.
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Programme, mittelfristige Finanzpläne und Masterpläne werden ebenfalls über einen längeren Zeitraum entwickelt. Die Verwaltung handelt rechtsstaatlich vorhersehbar und demokratisch legitimiert auf der Basis der vom Parlament erlassenen Gesetze. Diese treffen insofern „Entscheidungen über Entscheidungen“54. In der „VUCA-World“ und angesichts der durch die Digitalisierung vermittelten Dynamik werden aber immer mehr Entscheidungen in Echtzeit erwartet, die allenfalls noch rahmenartig programmierbar und angesichts situativer und kooperativer Konkretisierungen im Nachhinein auch nur schwer kontrollierbar bzw. aufhebbar sind. In der Politikgestaltung entwickeln sich daher neue Formen eines sog. „Agile Policymaking“55 oder einer „Pantoffeltierchen-Politik“56. Wenn nahezu in Echtzeit die Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit staatlichen Handelns auf der Grundlage aktuell erhobener Daten verfolgt und beurteilt werden kann, ist eine zeitnahe Evaluation und Nachsteuerung möglich. Auf der Seite der „vollziehenden Gewalt“ werden zunehmend innovative und situative, angepasste Lösungen erwartet. In sog. Innovation Labs57 entwickeln Entscheidungsverantwortliche, Betroffene und Stakeholder gemeinsam ein sog. „Minimum Viable Product“58 in Form eines lauffähigen und allseits konsentierten und abgestimmten Prototyps. Dieser war durch Gesetzgebung möglicherweise so nicht vorhersehbar und es dürfte auch schwer sein, ihn im Nachhinein wieder aufzuheben. Es geht vielmehr darum, diese vorläufige, in weiten Teilen funktionsfähige Lösung in iterativen Prozessen anzupassen und weiterzuentwickeln, was aber wieder nicht „von oben“ erfolgen kann. Es müssen daher neue Formen von parlamentarischer Steuerung und Kontrolle entwickelt werden. Ebenso sind etwa Rechnungshöfe und Evaluationsagenturen gefordert, Wirksamkeits- oder Kosten-Nutzen-Analysen weiterzuentwickeln und zukunftsorientierte Evaluationen59 durchzuführen. Für Gerichte stellt sich die Frage, inwieweit die Kontrolle von Handlungsspielräumen der Verwaltung fortentwickelt werden kann, etwa in Richtung einer Gesamtbewertung der gefundenen Lösung am Maßstab der Gemeinwohlorientierung („Public Value“).
Walter Schmidt, Einführung in die Probleme des Verwaltungsrechts, 1982, Rn. 44, 63. Graham Room, Complexity Theory and Agile Policy-Making, in: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), „To the Man with a Hammer …“. Augmenting the Policymaker’s Toolbox for a Complex world, 2016, S. 107 ff.; Hill, 2016 (Fn. 2), S. 341. 56 Kuno Schedler/Ali A. Guenduez, Pantoffeltierchen-Politik durch Echtzeit-Information, innovative verwaltung 4/2017, 10 (12). 57 Hill, Innovation Labs – Neue Wege zu Innovation im öffentlichen Sektor, DÖV 2016, 493. 58 Vgl. Hill, DÖV 2017, 433 (441). 59 Margrit Seckelmann, Zukunftsorientierte Evaluation, in: Hill/Schliesky (Fn. 2), S. 309 ff. 54 55
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IV. Kommunikation im Internet und im Parlament Ist das Parlament mit der digitalen Welt überfordert? Sind seine Strukturen und seine Willensbildungs- und Entscheidungsformen nur für eine analoge Welt geeignet und für durch die Digitalisierung entstehende multiple und alternative Öffentlichkeiten nicht mehr angemessen? Ist das Parlament noch das „Forum der Nation“? Hat es noch die Deutungshoheit? Gibt es mit seinen Diskussionen noch Orientierung für gesellschaftliche Entwicklungen? Gehen die beschriebenen Herausforderungen vielleicht einher mit einer allgemeinen „Krise der Institutionen“?60 Verschiedentlich wird zumindest eine „Krise der Experten“ diagnostiziert. Auch die Methoden und Ergebnisse der Wissenschaft werden in diesem Kontext hinterfragt61. Teilweise erwartet die Gesellschaft von ihr unumstößliche, eindeutige Wahrheiten62. Stattdessen gibt es immer auch Skepsis und Zweifel, ja gegenläufige Meinungen, und schon morgen können neue Erkenntnisse eine andere Sicht der Wirklichkeit nahelegen. Möglicherweise erleben wir rund 50 Jahre nach 1968 eine neue Emanzipation, etwa die des durch digitale Potenzen und soziale Netzwerke sich von klassischen Institutionen unabhängig fühlenden „Homo Deus“63. Bei dieser Einschätzung wird jedoch übersehen, dass sich auch im Internet neue Machtverhältnisse bilden. So ist etwa die Transparenz internationaler Datenkonzerne sicher geringer als diejenige von Parlamenten und Wissenschaft. Andererseits schafft die Eigenart der Kommunikation im Netz neue Muster und Erwartungen. So zeigen etwa die meisten Websites und Blogs die Beiträge in umgekehrter chronologischer Reihenfolge, der neueste Beitrag ist der erste, den Besucher sehen. Daraus folgt die Regel: „Du bist immer nur so gut, wie dein letzter Beitrag“64. Diese Haltung stellt tendenziell Autoritäten und Erfahrung in Frage, belohnt dagegen aktuelle Kompetenz und zeitgemäßen und zukunftsorientierten Nutzen. Insbesondere für junge Leute sind das Parlament ebenso wie klassische Medien nicht mehr die Hauptinformationsquelle. Woran liegt das? Sind Diskussion, Willensbildung und Entscheidung im Parlament unzeitgemäß? Was machen soziale Medien anders? Dazu ebenfalls nur ein paar Schlaglichter. Soziale Medien lenken und binden Aufmerksamkeit und fordern oft den ganzen Menschen und seine volle Zeit. Sie vermitteln damit ein neues Gefühl von GemeinDaston (Fn. 50), S. 61 f. Thomas Grundmann, Die Wahrheit über Fake News, FAZ vom 21. Juni 2017, S. 13: „Postfaktisches Denken fängt an mit der Geringschätzung der Experten“; Anna Friedrich, Im Kampf gegen alternative Fakten, FAZ vom 5./6. August 2017, S. C 3: „Wann gilt ein wissenschaftliches Ergebnis als Fakt?“. 62 Armin Nassehi, Zu Fakten gibt es oft eine Alternative, FAZ vom 28. Juni 2017, S. N 4. 63 Yuval Noah Harari, Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen, 2017, S. 527 beschwört allerdings den „Übergang von einem homozentrischen zu einem datazentrischen Weltbild“. 64 Austin Kleon, Alles nur geklaut. 10 Wege zum kreativen Durchbruch, 4. Aufl. 2013, S. 90. 60 Dazu 61
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schaft, eine neue Sozialität65. Ihre Leitfiguren erscheinen attraktiver, etwa Youtube Influencer im Verhältnis zum politischen Vertreter oder zum „Anchorman“ bei klassischen Medien. Im Übrigen entsteht in sozialen Medien der Eindruck der Gleichordnung und von Einflussmöglichkeiten. Den Erfahrungen und Einschätzungen der gleich Gestellten („Peers“) wird eher geglaubt als offiziellen oder amtlichen Verlautbarungen, wie sich etwa bei Hotelbewertungen oder Bürgerplattformen zeigt. Nach der Theorie des „Long Tail“66 können auch Nischenprodukte und Einzelmeinungen im Internet Aufmerksamkeit erlangen. Nicht nur die Entwicklung „Vom User zum Producer“, sondern auch die Möglichkeit der Kommentierung und des „Likens“ schaffen sichtbare Einflussmöglichkeiten. Die Zahl der Follower wird zum Maßstab der Anerkennung. Interaktivität und Vernetzung treten an die Stelle von (Politik-)Verkündung und Konsum. Seriöse Auseinandersetzung und sachliche Diskussion werden in Teilen der Gesellschaft eher als langweilig empfunden. Emotionalität und spielerische Elemente berühren mehr. Im Zusammenhang mit Computerspielen wurde geltend gemacht, die reale Wirklichkeit biete kaum noch Möglichkeiten zum Engagement und zum Erlebnis von Selbstwirksamkeit („Reality is broken“67), Spiele hingegen ließen dies zu, bieten damit ein „second life“, das attraktiver erscheint. Vor diesem Hintergrund erscheint es umso notwendiger, den Wert parlamentarischer Kommunikation und Entscheidung erneut herauszuarbeiten und zu betonen68. So hat etwa das Repräsentationsprinzip69 gerade im Zeitalter hektischer digitaler Betriebsamkeit seine Berechtigung. Es schafft Distanz zum Problem und zu den Betroffenen und erfordert eine Rechtfertigung der getroffenen Entscheidung in der Öffentlichkeit und im Wahlkreis. Die Akteure stehen unter ständiger Beobachtung („Abgeordneten-Watch“). Ihr Entscheidungsverhalten ist transparent. Das Entscheidungsverfahren erfolgt öffentlich. Die Diskussion findet im Parlament mit allen Beteiligten und gleichzeitig statt. Die Opposition sorgt für Gegenrede und Kontrolle. Statt in Teilarenen wird in einem Forum diskutiert70.
Hill (Fn. 16), S. 255. Chris Anderson, The Long Tail. Der lange Schwanz. Nischenprodukte statt Massenmarkt. Das Geschäft der Zukunft, 2007. 67 Jane McGonigal, Reality is broken, 2011; deutsch: Besser als die Wirklichkeit, 2012; dazu Hill (Fn. 16), S. 264. 68 Zu Begriff und Bedeutung der Parlamentsfunktionen umfassend Schliesky, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz (Fn. 21), S. 204 ff. 69 Dazu, auch im Hinblick auf Vorschläge einer „Liquid Democracy“, vgl. Schliesky, in: Fehling/Schliesky (Fn. 21), S. 108. 70 Zur Raum- und Zeitfunktion der repräsentativen Demokratie Schliesky, in: Fehling/ Schliesky (Fn. 21), S. 109. 65
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Die Willensbildung und Entscheidung erfolgten gestuft und in einem gestreckten Prozess mit der Möglichkeit zur Überprüfung und zum Lernen. Die externe Kontrolle durch Gerichte und Medien schafft die Möglichkeit zur Reversibilität von Entscheidungen. Das Muster der parlamentarischen Willensbildung und Entscheidung hat daher auch heute noch seinen guten Wert. Dennoch lohnt es sich, über Anpassungen und Weiterentwicklungen nachzudenken.
V. Parlamentarische Maßnahmen Die folgenden Überlegungen beziehen sich zunächst auf Grundfragen der Gesetzgebung und in einem zweiten Abschnitt auf spezielle Aspekte der Digitalisierung. Maßnahmen zur Verbesserung des Gesetzgebungsprozesses sowie zur Vermittlung der Gesetze sind schon seit Jahren immer wieder vorgeschlagen worden. Das sog. innere Verfahren71, die Methodik der Entscheidungsfindung, deren Einhaltung und Offenlegung zur Rationalität der Gesetzgebung72 beitragen kann, wird von der herrschenden Meinung nicht als Verfassungspflicht, sondern lediglich als Sorgfaltspflicht gesehen. Entscheidend für die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes ist der „verobjektivierte“ Wille des Gesetzes73. Für die „VUCA-World“ könnte man indes erneut über Rahmen- und Grundsatzgesetze74 nachdenken, die statt Detailregelungen Richtungsentscheidungen enthalten. In einem sog. „beweglichen System“ könnten zudem grundlegende Wertentscheidungen mit Abwägungsrelationen als Leitlinien für Verwaltung und Bürger getroffen werden, etwa nach dem Beispiel des Polizeirechts sog. „Je-desto-Entscheidungen“ im Verhältnis von Gefahr und Eingriffsintensität75. In einem Gesetzesvorspruch76 nach dem Vorbild der Regelwerke der Europäischen Union könnten die zugrundeliegenden Fakten und Erwartungen als Material und Ausgangspunkt der Entscheidung dargelegt werden. Eine Begründung des Gesetzes77 – nicht nur des Gesetzesantrags – könnten ebenso wie zusammenfassende Berichte über Parlamentsdiskussionen den Anwendern weitere Orientierungshilfen bieten. Hill, Einführung in die Gesetzgebungslehre, 1982, S. 62 ff. Steinbach, Rationale Gesetzgebung, 2017. 73 Zur Diskussion vgl. etwa Detlef Merten, „Gute“ Gesetzgebung als Verfassungspflicht oder Verfahrenslast? DÖV 2015, 349. 74 Zu Grundlagengesetzen vgl. Ulrich Smeddinck, Gesetzgebungsmethodik und Gesetzestypen, in: Winfried Kluth/Günter Krings (Hrsg.), Gesetzgebung, 2014, § 3 Rdn. 77 ff. 75 Vgl. schon Hill, Gesetzesgestaltung und Gesetzesanwendung im Leistungsrecht, VVDStRL 47 (1989), S. 173 (181 ff.). 76 Hill (Hrsg.), Gesetzesvorspruch – verbesserter Zugang des Bürgers zum Recht, 1988. 77 Umfassend Uwe Kischel, Die Begründung, 2003. 71
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Durch Regelbespiele, beispielhafte zugrundeliegende Lebenslagen sowie Wirksamkeitsanalysen könnte der Abstraktionsgrad der Gesetze vermindert und der Anwendungsbezug verbessert werden. Vorläufige Regelungen oder Zeitgesetze78 könnten die Dynamik der Entwicklungen aufgreifen und die Reversibilität und Anpassungsmöglichkeit erhöhen. Speziell für die Regulierung technischer Entwicklungen fordert etwa Yvonne Hofstetter ein sog. „Digitales Umgebungsrecht“79, bei dem rechtliche Aspekte, etwa Fragen des Datenschutzes, in technische Lösungen eingearbeitet sind. Inwieweit die Offenlegung von Algorithmen, etwa durch sog. Erklärungskomponenten80, geregelt werden kann, ist weiterhin umstritten. Als Reaktion auf Prozesse der Digitalisierung sowie auf sog. postfaktische Öffentlichkeiten lassen sich weitere Maßnahmen diskutieren. Teilweise wird der Staat insgesamt als Plattform für die Diskussion und Entscheidungsfindung in politischen Angelegenheiten verstanden81. Zumindest könnte man aber eine (moderierte) Parlamentsplattform schaffen, auf der Interessierte Informationen und Kommentare als Information für Abgeordnete einstellen könnten. Teilweise werden in Verwaltungen schon sog. Chatbots zur Bearbeitung von Bürgeranfragen und zur Bürgerinformation eingesetzt82. Zugrundeliegende Wissensmanagementsysteme, wie etwa bei der einheitlichen Telefonnummer 115, erleichtern dabei die Kommunikation. In ähnlicher Weise könnte überlegt werden, Sprachsysteme für die Parlamentskommunikation einzusetzen83. Ob dies auch für die Bearbeitung einfacher Petitionen gelten kann, wäre zu prüfen. In den USA gibt es eine Initiative („challenge.gov“)84, bei der der Staat nach der Methode „Open Innovation“ Themen oder Probleme ins Netz stellen und die Bürger auffordern kann, ihr Wissen und ihre Lösungsvorschläge beizusteuern. Die „Weisheit der Vielen“85 kann insofern dazu beitragen, dass der Staat „schlauer wird“. Bürgerantrag und Bürgerbegehren auf kommunaler Ebene sowie Volksbegehren auf Landesebene zielen auf Initiativen der Bürger. Ob irgendwann ein 78 Jan Funke, Bürokratieabbau mit Hilfe zeitlich befristeter Gesetze. Zu den Erfolgsbedingungen der Sunset-Gesetzgebung, 2011. 79 Hofstetter, Das Ende der Demokratie. Wie die künstliche Intelligenz die Politik übernimmt und uns entmündigt, 2016, S. 429 ff. 80 Hofstetter (Fn. 79), S. 442. 81 Tim O’Reilly, Government as a Platform, in: Daniel Lathrop/Laurel Ruma (Hrsg.), Open Government, 2010, S. 11 ff.; dazu Hill (Fn. 8), S. 360. 82 https://www.govbot.io/; http://www.egovernment-computing.de/die-stadt-wien-hateinen-chatbot-a-585872/. 83 Vgl. auch Timo Steppat, Bayerische Chat-Kultur. Die CSU hat einen Bot entwickelt, der dem Bürger antwortet, FAZ vom 4. Mai 2017, S. 5. 84 https://challenge.gov/; Hill, Wandel von Verwaltungskultur und Kompetenzen durch Öffnung für gesellschaftliche Innovation, Die Verwaltung 47 (2014), S. 435 (439). 85 James Surowiecki, Die Weisheit der Vielen, 2005.
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Initiativrecht für Algorithmen bei Gesetzesvorschlägen denkbar wird, bleibt abzuwarten. Technisch nicht ausgeschlossen dürfte es sein, bei Parlamentsreden einen begleitenden Faktencheck86 nach Art eines Videobeweises im Fußball, etwa in einem eigenen Fernsehkanal oder als Unterzeile bzw. als zweites Fenster durchzuführen. Twitter Walls bei Parlamentsdebatten sowie die begleitende Visualisierung („Graphic Recording“) böten weitere Möglichkeiten zur Kommentierung und Verständnisförderung87. Dem Parlament ist es unbenommen, auch trotz entgegenstehender Fakten eine politische Entscheidung zu treffen, um etwa in Zukunft diese Fakten zu ändern und neue politische Überzeugungen umzusetzen. Dies sollte indessen auch jeweils offengelegt werden. Möglicherweise sind manche dieser Vorschläge mit dem überkommenen Bild des Parlaments nicht ohne Weiteres vereinbar. Es erscheint indessen notwendig, in neuen Zeiten und neuen Lagen auch über veränderte Kommunikations- und Entscheidungsmuster nachzudenken, um den Kontakt zur Lebenswelt nicht zu verlieren und disruptiven Entwicklungen auch in der parlamentarischen Demokratie vorzubeugen.
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Vgl. bereits Fn. 41. Zum Effekt graphisch aufbereiteter Informationen vgl. Wilhelm (Fn. 31), S. 37.
Verzeichnis der Autoren Nadja Braun Binder, Dr., Ass. Prof., am Rechtswissenschaftlichen Institut der Universität Zürich Gisela Färber, Dr., Uni.-Prof., Inhaberin des Lehrstuhls für Wirtschaftliche Staatswissenschaften, insbesondere Allgemeine Volkswirtschaftslehre und Finanzwissenschaft, Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer Cristina Fraenkel-Haeberle, Dr., Prof., Programmbereichskoordinatorin des Deutschen Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung, Speyer Susan Harris-Huemmert, Dr., Wiss. Mitarb. am Lehrstuhl für Wissenschaftsmanagement, Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer Hermann Hill, Dr., Uni.-Prof., Inhaber des Lehrstuhls für Verwaltungswissenschaft und Öffentliches Recht, Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer Constanze Janda, Dr., Uni.-Prof., Inhaberin des Lehrstuhls für Sozialrecht und Verwaltungswissenschaft, Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer Margrit Seckelmann, Dr., Priv.-Doz., Geschäftsführerin des Deutschen Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung, Speyer Wolfgang Weiß, Dr., Uni.-Prof., Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere Europa- und Völkerrecht, Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer Joachim Wieland, Dr., Uni.-Prof., Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Finanz- und Steuerrecht, (Rektor bis 30. 09. 2017), Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer