388 53 26MB
German Pages XVIII, 808 [790] Year 2020
Wolfgang Roters Horst Gräf Hellmut Wollmann Hrsg.
Zukunft denken und verantworten Herausforderungen für Politik, Wissenschaft und Gesellschaft im 21. Jahrhundert
Zukunft denken und verantworten
Wolfgang Roters · Horst Gräf · Hellmut Wollmann (Hrsg.)
Zukunft denken und verantworten Herausforderungen für Politik, Wissenschaft und Gesellschaft im 21. Jahrhundert
Hrsg. Wolfgang Roters Düsseldorf, Deutschland Hellmut Wollmann Berlin, Deutschland
Horst Gräf Staatssekretär a. D. Berlin, Deutschland
ISBN 978-3-658-31703-4 (eBook) ISBN 978-3-658-31702-7 https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung der Verlage. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Christoph Zöpel gewidmet
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Ein Wort vorweg Vorwort von Wolfgang Roters
Diese Festschrift hat eine Geschichte. Nichts Besonderes, wird einwenden, wer jemals eine Festschrift herausgegeben hat. Festschriften sind prozessuale Projekte. Von der Idee bis zum Büchertisch vergeht Zeit, manchmal nicht wenig Zeit, und in einem bisweilen aufwendigen kommunikativen Netzwerk müssen Autoren gewonnen werden und sind Verständigungen über Ziele und Inhalte von Beiträgen und Gesamtkomposition zu erzielen. Und schließlich: Es gilt, eine Persönlichkeit mit einer Festschrift zu würdigen und zu ehren. Damit stehen die Autoren einer Festschrift mit Vorliebe mit dem Rücken zur Zukunft. Gewürdigt wird bevorzugt Geleistetes, Vergangenes. Festschrift-Routine. Nicht so hier, nicht für den hier zu Ehrenden. Für ihn ist wichtig, die Zukunft in den Blick zu nehmen. Nicht als Spekulation, nicht als Prophetie; als werdende, als zu gestaltende Wirklichkeit. Die Gegenwart als die, die Verantwortung verlangt: für die Beurteilung der Vergangenheit wie für die Gestaltung der Zukunft. Es gibt zwei, die ihm wichtig sind. Einerseits Albert Camus: „Die wahre Großzügigkeit der Zukunft gegenüber besteht darin, in der Gegenwart alles zu geben“. Andererseits Willy Brandt, in seiner Abschiedsrede auf dem Kongress der Sozialistischen Internationale in Berlin am 15. September 1992, verlesen von Hans-Jochen Vogel: „Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist von Dauer. Darum – besinnt Euch auf Eure Kraft und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll.“ Also ist der Anspruch an dieses Buch: Habt den Mut, die ganze Komplexität von Gewordenem, Seiendem und Künftigem aufzurufen, mit der generellen Forderung an Politik (welche die Aufgabe hat, notwendige kollektiv bindende Entscheidungen herzustellen), an Wissenschaft (deren Aufgabe: nach Wahrheit zu forschen), und an Gesellschaft und ihre vielfältigen Systeme (mit der Möglichkeit, über Künftiges zu kommunizieren): „Zukunft denken und verantworten“. Wer ihn kennt, wundert sich nicht über diese seine andere, anspruchsvollere Perspektive: Zukunft. Über eine andere Methode: Aufklärung. Über ein anderes, komplexeres Format: Weltgesellschaft. Und vor allem über den gesellschaftlichen Anspruch: Menschenrechte. In den Koordinaten Zukunft, Aufklärung, Weltgesellschaft und Menschenrechte findet man das Material, das dem Festschriftadressaten gerecht wird und das – was ihm selbst wichtiger sein wird – Stoff für die Gestaltung von Zukunft birgt. VII
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Vorwort von Wolfgang Roters
Die Geschichte dieses Buches ist eine verhältnismäßig kurze und eine verhältnismäßig unkomplizierte. Der Name Christoph Zöpel und sein inhaltlicher Anspruch haben zahlreiche Autoren motiviert, über Zukünfte nachzudenken und über verantwortliche Zukunft miteinander zu kommunizieren, und dies – der Entschleunigungswirkung des Lockdowns sei Dank – sehr konzentriert und in erstaunlich kurzer Frist. Die Geschichte dieses Buches ist in einer ganz anderen Weise bemerkenswert: eben jener pandemisch verursachte Lockdown hat den Blick auf Zukünfte verändert. Während die Autoren dieses Buches über Vergangenes, Gegenwärtiges und Künftiges nachdenken, geschieht Unerwartetes, Ungeplantes, tatsächlich oder vermeintlich Unverfügbares. Eine Friktion will beim Vermessen von Zukunft berücksichtigt werden: Corona. Genau jetzt fokussiert nämlich die Pandemie Globalität und globale Herausforderungen – Klimawandel, globale Ungerechtigkeit, weltweit gefährdete Demokratien – und löst die Zukunftsgewissheit ganzer Gesellschaften wie von selbst auf. Das einfache Fortschreiben von Geschichte stößt offensichtlich an seine Grenzen. Genau jetzt wechselt das Vorzeichen der Zukunftsverantwortung: von der Nutzenmaximierung zur Schadensminimierung; Fortschrittsdenken wird synonym mit Resilienz, Prävention und Präemtion. Genau jetzt wird das Verhältnis von politischer und wissenschaftlicher Zukunftsverantwortung radikal auf den Prüfstand gestellt – Virologen und Klimatologen einerseits, Parlament und Regierung andererseits; können wissenschaftliche Perspektiven jene eindeutigen Sätze formulieren, die man für politische Entscheidungen benötigt? Und welche Wissenschaftler? Nur Naturwissenschaftler? Und wer hat die fundiertere Legitimation? Genau jetzt wird Durchregieren im Staat erleichtert und akzeptiert – auf Kosten des modernen gewaltenteiligen und föderal organisierten Staates, eine der größten zivilisatorischen Errungenschaften. Genau jetzt sucht nationales Denken das Universale zu verdrängen. Genau jetzt drohen, statt Aufklärung Fake-News, Verschwörungstheorien und Parallelgesellschaften in ‚sozialen‘ Netzwerken die Oberhand zu gewinnen. Während dieses Buch entsteht, beobachtet die Welt also sich selbst, hochgradig irritiert. Sie schwankt zwischen Untergangs-, Beschwichtigungs- und Fatalismusszenarien sowie allen Szenarien dazwischen. Dabei verfestigt sich der Eindruck, dass sich gegenwärtig etwas vollzieht, was künftige Generationen als Epochenbruch bezeichnen könnten. Es kumulieren globale Krisen: ökologische, ökonomische, fiskalische, soziale, gesellschaftliche, medizinische, kulturelle und politische Krisen. Das Bewusstsein, vor planetarischen Herausforderungen – Klimawandel und Verlust von Biodiversität – zu stehen, in einem Zeitalter des Anthropozän zu leben, das für langfristig zu erwartende Folgen Entscheidungen hier und heute unausweichlich erforderlich macht, wegdriftende Demokratien, strukturelle Menschenrechtsverletzungen – dies alles trifft auf akute einschneidende Erfahrungen mit einer grassierenden verheerenden Pandemie. Darunter liegend die Wahrnehmung, dass die Finanzkrise der Jahre 2007 bis 2009 keineswegs langfristig beherrscht ist, verbunden mit dem empirischen Faktum tiefgreifender globaler Ungerechtigkeiten von Kinderarmut über mangelnden Zugang zu sauberem Wasser und bezahlbarer Medizin bis hin – als
Ein Wort vorweg
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Folge – weltweiter Migration. Die bisher gebräuchliche Metapher, die Welt sei aus den Fugen geraten, wird von der gegenwärtigen, kaum widersprochenen Erwartung überformt, nach Corona werde nichts mehr so sein wie zuvor. Eine Konjunktur für Weltendeuter, Zukunftsprognostiker, Crash-Propheten. Wenn die Zeit gekommen sein wird, die Coronakrise historisch einordnen zu können, wird man wohl feststellen, dass sie keine existenzielle Bedrohung für die Menschheit darstellte, ja dass sie gegenüber den Krisen von Klima, Demokratie und globalen Menschenrechten zwar die aktuell erregendere, langfristig aber vielleicht die weniger einschneidende war. Heute, sozusagen auf der Schneide möglicher künftiger Entwicklungen, in der Kenntnis der Amplituden zwischen Horror und Routine, ist Zeit, diese Entwicklungen mit der Gelassenheit, der Besonnenheit und der Bedachtsamkeit wissenschaftlicher Objektivität und in demokratisch-politischer Diskursbereitschaft zu beobachten, einzuordnen und in Erwartungen und Forderungen an die Gestaltung von Zukunft zu gießen. Dies ist das Anliegen dieser Festschrift: Aufklären über Zukünfte. Die geschilderten Krisen werden manifest in einer Zeit, in der Vieles auch zum Besseren wird: Nie waren die weltweite Alphabetisierung, nie die Lebenserwartung so hoch, nie die Welt so reich. Zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte ging es der Mehrheit der Menschen so gut wie heute – der Mehrheit. Was die Pandemie daran ändert, wissen wir nicht. Was der Klimawandel bewirken wird, ahnen wir. Wir werden sehen. Oder wir handeln. In dieser Umbruchphase des gerade beginnenden dritten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts denken Wissenschaftler und Politiker in diesem Band auf Einladung der Herausgeber über verantwortliche Zukunftsgestaltung in eben diesem neuen Centennium nach. Begonnen hat alles mit dem Anliegen, mit zeitdiagnostischer Brille einen retrospektivischen Blick auf die 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts zu werfen, mit dem Fokus auf Nordrhein-Westfalen und dessen Stadtentwicklungs-, Wohnungs-, Verkehrs- und Planungspolitik. Rasch zeigte sich in Gesprächen mit den Autoren und mit Blick auf das Weltgeschehen (es blieb alles andere als ein abstraktes, fernes Weltgeschehen): Der Blick muss geweitet werden, räumlich – über Nordrhein-Westfalen hinaus – und zeitlich – in die Zukunft hinein. Der zu Würdigende mag sich bestätigt sehen! Weltgesellschaft und Zukunft. Nicht nur, dass alles mit allem zusammenhängt. Manches, das festzuhalten und in Erinnerung gerufen zu werden lohnt, hat in Nordrhein-Westfalen der 80er-Jahre seinen Anfang genommen. Maßstäbe sind gesetzt worden, die hier und heute von Belang sein können. Autoren dieses Bandes berichten davon. Lernprojekt Festschrift: Die gegenwärtige emotional hoch aufgeladene gesellschaftliche, politische und wissenschaftliche Kommunikation über die aktuellen wie langfristigen, gleichwohl drängenden Entwicklungen – sowie deren wechselseitige Resonanz und Überlagerung – hat den Prozess der Erarbeitung dieser Festschrift permanent begleitet – mit immer neuen sich nahezu einander überschlagenden Meldungen und Meinungen über Zeitdiagnosen, Katastrophenerwartungen und Hoffnungen. Fridays for future, Corona, Artensterben, Brexit, Europa als Zukunfts- oder Abbruchprojekt, Rechtsradikalismus, Populismus, Massengrab Mittelmeer, Moria, geopolitische Verwerfungen: China, Russland, USA, Indien. IX
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Vorwort von Wolfgang Roters
Kann man in einer solchen Situation jenseits moralischer oder feuilletonistischer Anstrengungen vernunft- und faktenbasiert über die Gestaltung von Zukunft reden? Und nicht nur reden, sondern sich kommunikativ verständigen? Also Aufklärung betreiben? Aufklärung über Großes und Kleines, über Disziplinen hinweg, in Politik und Wissenschaft? Man kann. Man muss. Genau jetzt! Aufklärung jetzt! Jetzt, wenn nicht jetzt, wann dann über staatliche Verantwortung für öffentliche Güter wie Gesundheit, Bildung, Wohnen und Infrastruktur, über Öffentlichkeit und Urbanität, über Stadt, öffentliche Räume und Landschaft, über Technik und Natur, über umweltgerechte Mobilität, über Nachhaltigkeit und Demokratie, über Verteilungs-, Steuer- und Bildungsgerechtigkeit, über Europa und Globalisierung bis hin zu der künftigen Verantwortung der Vereinten Nationen nachzudenken und zu streiten! Wann, wenn nicht jetzt Rekuperation staatlicher Verantwortung für common goods einfordern! Was ist die Zukunft der großen Netze der physischen und sozialen Infrastruktur, also der Leitungsund Schienensysteme, die uns mit Wasser, Elektrizität, Heizung und Transportleistungen versorgen, und der kollektiv institutionalisierten Leistungsbeziehungen, die Gesundheit, Bildung, Pflege und soziale Sicherheit liefern? Jetzt, wenn nicht jetzt, wann dann kritische Distanz üben und durchhalten gegenüber Weltuntergangsprognosen ebenso wie gegenüber Heilsversprechungen, seien sie technologischer oder ideologischer Natur! Wann, wenn nicht jetzt vernunftgeleitetes politisches Handeln! Die Herausgeber begreifen diese aufgewühlten, herausfordernden Zeiten daher als eine ganz besondere Chance. Fragen, die nicht gestellt wurden, weil sich die Zukunft alternativlos gab; Fragen, die zu klein, zu konkret betrachtet wurden, um sie mit globalen Megatrends in Verbindung bringen zu dürfen; Fragen, die zu generell und zu weit weg erschienen, um sie mit Alltagsthemen verknüpfen zu können; Fragen, die sich lange Zeit ein neoliberaler Zeitgeist verbot – all diese Fragen fordern nun ihr Recht ein und verlangen Aufklärung. Nur Mosaiksteine eines zwingend notwendigen Diskurses können und wollen die Autoren dieses Buches liefern. Aber sie wollen sie jetzt, in dieser herausfordernden Zeit, auf den Tisch legen und mit ihnen helfen, ein kollektives Lernen anzustoßen. Einiges wird in den nächsten Jahren wiederaufgebaut werden. Nicht wie nach Kriegen in erster Linie baulich. Gesellschaftliche Energie und gesellschaftliches Lernen werden sich schon bald Vernachlässigtem und drängend Neuem widmen müssen: gesellschaftlicher Zusammenhalt, Nachhaltigkeit, Vorsorge, Sicherheit, Technik und Freiheit, Weltgesellschaft – wohl nicht nur mit bisher eingeübten Instrumenten, traditionellen Verfahren und „‚alter“‘ Bürokratie. Die Zukunft wird interessant! Ein Zukunftsbuch als Festschrift? Zukünfte lassen sich nicht würdigen. Sie lassen sich – ihre Verfügbarkeit vorausgesetzt – begreifen, bestenfalls gestalten. Herausforderungen für Staat, Politik und Wissenschaft lassen sich definieren und Voraussetzungen für verantwortliche Gestaltung beschreiben. Gegenstand einer Festschrift? Ja, wenn Zukunft mit Vergangenheit gekoppelt wird, wenn wesentliche Maßstäbe wieder ins Bewusstsein zurückgeholt werden. Insofern ist der Rückblick auf die Zeit vor der Neoliberalisierung,
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der Ökonomisierung nahezu aller Lebensbereiche, dem Leben gefährdenden Wachstum und dem kurzfristigen ‚Auf-Sicht-Fahren‘ aussichtsreich – also etwa vier Dekaden zurück. Die 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts: eine hoch ambivalente Zeit, in der Prinzipien und Maßstäbe ‚guten Regierens‘ programmatisch formuliert wurden – nicht zuletzt in Nordrhein-Westfalen und nicht zuletzt von dem, dessen Wirken hier gewürdigt wird – und sich parallel dazu neoliberale Ansätze und ein eher fundamentalistisch-ökologisches Denken parteipolitisch und außerparlamentarisch etablierten. Bei aller Unterschiedlichkeit, ja Unvereinbarkeit der Programme von Neoliberalen und Umweltstreitern teilten beide die wachsende Skepsis gegenüber dem Staat, die Betonung der Eigeninitiative und das Ziel, ‚zivilgesellschaftliche‘ Verantwortung zu stärken, und das Virus der Entstaatlichung und Entfesselung der Märkte verschonte auch die damaligen Volksparteien keineswegs. Die 80er-Jahre sind deshalb von besonderem Interesse, weil hier die programmatischen Weichenstellungen gelegt wurden, derer man sich wieder bewusst werden sollte oder die nunmehr – Klimakrise, Pandemie, überforderte staatliche Finanzen und schwächer gewordene Solidarität – auf den Prüfstand gehören. Wo ist die öffentliche, die staatliche, die wissenschaftliche Verantwortung? Sozialwissenschaftler brachten damals die Gleichzeitigkeit von gesellschaftlichen Programmen auf die Begriffe „Risikogesellschaft“ oder „Zweite Moderne“ und umschrieben damit die neue Unsicherheit im Zeichen der beginnenden Globalisierung und des absehbaren Endes der traditionellen Industriegesellschaft. Heute ist aus Risiko Gefährdung geworden, aus der Zweiten Moderne droht Regression und Verlust an Demokratie zu werden. Mit dem Blick auf vier Jahrzehnte zurück, mit dem Anspruch, die Vergangenheit mit der Sonde der Gegenwart zu betrachten und mit dem Versuch, Voraussetzungen dafür freizulegen, dass wir „Zukunft lernen und verantworten“ können, greifen die Herausgeber nicht nur die Anregung des zu Ehrenden auf. Sie charakterisieren damit zugleich seinen Wirkungskreis. Zukunftsminister in Nordrhein-Westfalen, der für Geschichtsbewusstsein, Erhalt und Nachhaltigkeit stand; Staatsminister im Auswärtigen Amt, der seinen Sinn für die kleinen, konkreten Projekte nicht verlor; Professor an Hochschulen im In- und Ausland, der nie ein nur beobachtender Zeitgenosse, sondern immer auch ein gestaltender, forschender Lehrer war und ist; Visionär von „Ruhr“, dessen Argumentation aus Empirie und Geschichte besteht; und Autor von Werken, welche die Weltgesellschaft zum Thema haben, ohne konkrete Handlungsempfehlungen zu verschweigen. Ein Mann auf der Grenze von Wissenschaft und Politik, so eigen-sinnig wie anspruchsvoll-komplex. Den Umbau der Emscher und die Weltgesellschaft, die Weltbevölkerung und das Weltklima zusammen zu denken, den sozialen Zusammenhalt in der Dortmunder Nordstadt wie in Gesamteuropa im Blick zu haben, die geschichtliche Entwicklung der größten deutschen Agglomeration – Ruhr – und deren Gegenwart und visionäre Zukunft zu thematisieren: Das alles ist Christoph Zöpel. Das ihm gewidmete Buch ist keine Festschrift im überkommenen Sinne. Festschriften im herkömmlichen Sinne erscheinen zu festlichen Anlässen und zu Ehren eines Jubilars. Festschriften sind feierliche Gelegenheitsschriften.
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Vorwort von Wolfgang Roters
Diese Publikation ist weder Gelegenheits- noch feierliche Schrift. Weder gibt es einen festlichen Anlass noch einen zu ehrenden Jubilar. Diese Publikation hat keinen Anlass. Sie hat einen Grund. Dieser Grund ist eine Entwicklung, die durch besondere Dynamik gekennzeichnet ist und die, um sie zu begreifen, qualitativer Analysen bedarf. In unseren Zeiten findet offensichtlich ein Übergang von einem Zustand in einen anderen statt, wie auch immer Zeitdiagnostiker diesen massive change bezeichnen: Zeitenwende, Epochenbruch oder Disruption. Und doch ist dies eine Festschrift. Sie würdigt das Lebenswerk eines Menschen, der, seit er vor vier Jahrzehnten die politische Bühne betrat, Maßstäbe für die Herausforderungen für Staat, Politik, Wissenschaft und Gesellschaft auch im 21. Jahrhundert formuliert hat, weil er seiner Zeit voraus war und ist, einer, der das Leben in der Schau nach rückwärts versteht und in der Schau nach vorwärts lebt. Heute, vierzig Jahre nach dem Beginn der Ära Zöpel, besinnen sich Architekten, Planer, Verkehrsfachleute, Wohnungsbauer und Landschaftsgestalter – jetzt fast unisono – auf damals heftigst bekämpfte Prinzipien für die Zukunft der Städte: Ende des Abrisses, Ende der autogerechten Stadt, Raum für Fußgänger, Platz für Kinder, Grün in die Stadt, Umbau statt Neubau, ehrliche Angabe der Energie- und Ressourcenmengen, „weniger ist mehr“. Heute, im Jubiläumsjahr Georg Wilhelm Friedrich Hegels, sei dies erlaubt, gilt es einen zu würdigen, dessen Ziel es ist, systematische Theorie mit politischem Argument zu verbinden, einen – wie nicht wenige Autoren ihn charakterisieren – Brückenbauer zwischen wissenschaftlicher Wahrheit und politischem Ethos, einen, der ebenso geschichtsversessen ist, wie er Zukünfte im wachen Blick hat, einen, der ermutigt, die aktuellen Herausforderungen einer sich wandelnden Welt auf der Höhe der Zeit zu begreifen. Geehrt wird mit diesem Buch ein vernunftgeleiteter Optimist mit der Kraft des pragmatischen Visionärs. In aufgewühlten Zeiten wie diesen braucht es viele Vernünftige, Optimisten, Pragmatiker und Visionäre. Insofern ist diese Schrift ein Fest: Gemeinschaft stiftend und Gemeinschaft erhaltend und um sozialen Zusammenhalt bemüht. Im Namen der drei Herausgeber sei allen Autorinnen und Autoren für ihre Zusammenarbeit und ihre Beiträge gedankt, mit denen sie Christoph Zöpel als Politiker, Wissenschaftler, Kollegen und Menschen würdigen. Dank gebührt auch Iris Bocian und Thomas Lilienthal für ihre redaktionelle Mitarbeit, dem Verlag Springer VS, namentlich Jan Treibel und Katharina Gonsior, für die engagierte und wirksame Begleitung des Publikationsprozesses, und Britta Fietzke für das mehr als umsichtige Lektorat. Nicht zuletzt sei der Emschergenossenschaft für die Unterstützung der Herausgabe dieses Bandes herzlich gedankt. Wolfgang Roters
Inhalt Inhalt
Zukunft denken und verantworten – eine Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Wolfgang Roters
Teil 1
Zukunft und Zukünfte
Die Zukunft der funktional differenzierten Gesellschaft: Herausforderungen und Gestaltungsoptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Dieter Grunow Zukunftsfähigkeit und Zukunftsgestaltung aus der Sicht der zwei dominierenden Weltleitbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Rolf Kreibich Die nachhaltige Gesellschaft. Eine konkrete Utopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Harald Welzer
Teil 2
Welt – Europa
Nachdenken über die Zukunftsfähigkeit von Staat und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Klaus Töpfer Weltdemokratie – als Gestaltungsaufgabe dringender denn je . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Klaus-Jürgen Scherer Kultur der Stadt, Stadt der Kultur. Das Lokale gewinnt an Bedeutung: Außenpolitik braucht eine „Urban Diplomacy“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Michelle Müntefering
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Inhalt
Für ein starkes, souveränes und solidarisches Europa – gerade jetzt . . . . . . . . . . . . . . 135 Achim Post Die Metropolen und Ballungsräume in Polen. Zwischen den Handlungsformen der Kooperation und der Neuorganisation der kommunalen Selbstverwaltung . . . . 139 Irena Lipowicz The notion of migration in Amman. New perspective in perceiving heterogeneous communities . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Maram Tawil and Lubna Alawneh Historische Stadtkerne im goldenen Ring, Russland. Gedanken und Erfahrungen aus einer anderen Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Friedrich Wolters
Teil 3
Herausforderungen
Interview mit Kurt Biedenkopf und Christoph Zöpel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 (geführt von Martin Kessler) Den sozialen und ökologischen Umbau mutig gestalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Svenja Schulze Die Zukunft des Sozialstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Norbert Lammert
Teil 4
Staat und Politik
Nach 30 Jahren. Ein freundlicher Blick auf die Deutsche Vereinigung . . . . . . . . . . . . 225 Wolfgang Thierse Die digitale Transformation der deutschen Verwaltung. Analysen zu Marktversagen und Daseinsvorsorge in Zeiten der Covid-19-Pandemie . . . . . . . . . . 231 Norbert Kersting und David Graubner Entwicklungs- und Konfliktlinien des Bildungssektors im deutschen Föderalismus. Neue Dynamik durch Digitalisierung in Zeiten des Coronavirus? . . 253 Hellmut Wollmann
Inhalt
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Innovatives Lehren und Lernen in Zeiten des Coronavirus. Erfahrungen in und aus den Schulen Neuseelands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Verena Friederike Hasel Smart City und der ‚European Way of life‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Jürgen Rüttgers Die Sehnsucht nach Zukunftspolitik im Zeitalter der Politikverdrossenheit . . . . . . . 303 Karsten Rudolph Das Vermächtnis der Arbeiterbewegung und die Zukunft der Demokratie . . . . . . . . 313 Thomas Meyer Zukunftsfähigkeit: Impulse der Zivilgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Roland Roth Whistleblower (un)erwünscht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Annegret Falter Open Government als Zukunftsvision für Kommunen? Zu Ergebnissen eines Modellprojekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Göttrik Wewer Wissenschaftliche Politikberatung –von strategischen Visionen zur Analyse der Innovationsblockaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Rolf G. Heinze Am Wendepunkt angekommen? Kommunale Haushaltskonsolidierung zwischen Hebesatzanpassung und Vergeblichkeitsfalle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 Lars Holtkamp und Benjamin Garske
Teil 5
Stadt
1970 bis 2020: Ein unvollständiger Bilderbogen verpasster Chancen sozialer Wohnungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 Klaus Bussfeld Die Stadt – Mikrokosmos der Demokratie und des gesellschaftlichen Zusammenhalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 Edda Müller
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Inhalt
„Ohne die Stadtgesellschaft geht es nicht“. Dortmunds Oberbürgermeister Ullrich Sierau im Gespräch mit Klaus Selle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 Ullrich Sierau und Klaus Selle Düsseldorfs schönstes Bauwerk sieht man nicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 Thomas Geisel Spurensuche. Christoph Zöpel und die Verkehrspolitik – genutzte und verpasste Chancen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 Heiner Monheim Die Erfindung der historischen Stadtlandschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 Birgitta Ringbeck Die lebenswerte Stadt. Landschaft als „Grüne Infrastruktur“ im Städtebau der Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 Andreas Kipar Universitätsklinikum Aachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 Dieter vom Rath
Teil 6
Ruhr
Das Konstante ist der Wandel: Chancenregion Ruhr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 Stephan Holthoff-Pförtner Ruhr – Mut und Fantasie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537 Frank Baranowski Die Zukunft des Ruhrgebietes. Auf dem Weg zur ökologischen Wissensregion . . . . 543 Jörg Bogumil Heimat Ruhrgebiet? Zur mentalen Rekonstruktion eines altindustriellen Ballungsraumes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 553 Theo Grütter Herausforderungen und Chancen einer polyzentrischen Agglomeration Ruhr . . . . 569 Christa Reicher Industrie und Nachhaltigkeit für eine starke Ruhrbanität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587 Franz Lehner
Inhalt
XVII
IBA, oder die Kunst, Innovationen zu organisieren in nicht-innovativen Milieus . . . 611 Walter Siebel Die IBA Emscher Park im Kontext der Stadtentwicklungspolitik für Nordrhein-Westfalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623 Gerd Seltmann Die Emscher – Erinnerungsort und Zukunftswerkstatt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 631 Ulrich Paetzel Emscher I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 647 Stefan Klein Stadt Architektur Vergangenheit Zukunft Ruhr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 657 Wolfgang Sonne Altes „Bauhaus“ und neue „Industriekultur“, oder Courage zur Transformation . . 677 Thomas Schleper
Teil 7
Christoph Zöpel
Wegweisende Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 713 Norbert Walter-Borjans Der letzte Preuße. Eine Annäherung an Christoph Zöpel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 717 Uwe Knüpfer Lieber Christoph . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 725 Anke Brunn Sieben Begegnungen mit Professor Christoph Zöpel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 735 Krysztof Kafka Zur richtigen Zeit am Puls der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 743 Horst Gräf Blicke nach innen – enge Mitarbeiter begeben sich auf Spurensuche . . . . . . . . . . . . . 751 Hein Arning, Klaus Bussfeld, Ulrich Giebeler, Horst Gräf, Joachim Henneke, Wolfgang Roters, Gerd Seltmann und Ullrich Sierau
XVII
XVIII
Inhalt
Anhang Christoph Zöpel: Vita . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 769 Christoph Zöpel: Publikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 783 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 805
Zukunft denken und verantworten – eine Einleitung Wolfgang Roters
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Komplexität
Stephen Hawking wurde in einem Interview um die letzte Jahrhundertwende gefragt: „Es gibt Leute, die sagen, das 21. Jahrhundert werde das Jahrhundert der Biologie sein, nachdem das 20. das Jahrhundert der Physik war. Wie sehen Sie das?“ Er antwortete: „Ich denke, das nächste Jahrhundert wird das Jahrhundert der Komplexität sein“ (Hawking 2000). Nicht ein Jahrhundert der Gen- oder Biotechnologie würde es sein, sagte der Astrophysiker, nicht eines der Quantentechnologie, der technischen Digitalisierung, der Künstlichen Intelligenz, der Kommunikationstechnologien oder sonstiger Technologien. Der Naturwissenschaftler Hawking nannte: Komplexität. Die Zukunft im 21. Jahrhundert: nicht auf Technologiepfade verkürzt. Sie ist eine der gesellschaftlichen, kulturellen, wissenschaftlichen und nicht zuletzt politischen Beherrschung, mindestens Zähmung von Komplexität. Die entsteht zweifellos vorrangig durch technologische Innovationen und deren ökonomische Verwertung, aber keineswegs nur durch sie. Auch etwa die demografische Entwicklung in der Welt ist ein wesentlicher ‚Treiber‘ größerer Komplexität, ebenso unverfügbare Naturkatastrophen: Pandemien wie Corona gehören dazu, und Migrationsströme, ausgelöst durch global ungleich verteilte Lebenschancen, erhöhen ebenfalls den Komplexitätsgrad. Die globale Welt ist eine komplexe Welt. Was diesen Begriff der Komplexität so interessant macht, ist die Notwendigkeit, die zur Selbstreferenzialität neigenden Systeme der Natur- und der Geisteswissenschaften, der Wirtschaftswissenschaften, der mathematischen Statistik, der Geschichtswissenschaften und der Zukunftswissenschaften, der Philosophie und der Sozialwissenschaften aufzubrechen zugunsten einer Wissenschaft auf dem Komplexitätsniveau der Herausforderungen dieser Welt. Diese Wissenschaft muss dann auch noch kommunikationsfähig mit Staat, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sein. Und sie muss dies weltweit sein. Eine Überforderung? Eher eine notwendige Forderung, wenn auch eine Jahrhundert-Herausforderung. Nahezu jede der heute den Diskurs bestimmenden wissenschaftlichen Beschreibungen von Zukünften sieht das entscheidende Defizit in eben der unzulänglichen Kommunikation über die Komplexität möglicher Zukünfte. Die Komplexität der Zusammenhänge zwischen menschlichem Handeln, seinen Auswirkungen auf Ressourcenverbrauch, Klima, Biodi© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_1
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versität, Solidarität, Demokratie und Menschenrechte und wiederum den globalen, aber lokal und regional unterschiedlichen und zeitlich versetzten Rückkopplungseffekten sowie den kollektiv verbindlichen Entscheidungsmöglichkeiten von der Kommune bis zu den Vereinten Nationen – diese Komplexität scheint eine der großen Herausforderungen aller Systeme, der wissenschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen, zu sein. Wie soll und kann es gelingen, aufgrund dieser komplexen Gemengelage effektive Lösungen und für die dann auch noch gesellschaftliche Mehrheiten zu finden? Was hilft gegen schreckliche Vereinfacher, die angetreten sind, Komplexität zu kappen, gegen weltweit grassierenden Populismus, dessen zynische Strategie in der Leugnung komplexer Wirklichkeiten besteht? „Wir sind das Volk!“, die Verweigerung von Dialog, „Diskurse“ von Hass, die Ablehnung von Inklusion und die Behauptung des Identitären sind nur einige der gegenwärtig gängigen Komplexitätsleugnungen mit Hegemonie- und Tribunalgehabe und das Gegenteil von „Anerkennungskämpfen im demokratischen Rechtsstaat“ (Habermas 2009). Erforderlich ist eine nicht komplexitätsvergessene Vernunft, die stets im Blick hat, dass die Gesellschaft eben nicht aus einem Guss ist, sondern vielfältig auf Eingriffe reagiert (Nassehi 2018), und um wie viel mehr verlangt die „Welt-Gesellschaft“ ein vernetztes Denken, das Komplexität nicht vermeidet und wegredet, sondern versteht und entfaltet! Um das 21. Jahrhundert und seine Herausforderungen in komplexer werdenden Zeiten geht es in diesem Buch. Kommunikation über komplexe Zukünfte ist weder Verdrängen von Konflikten und Widersprüchen noch Ersatzstrategie. Im Gegenteil: Wer daran interessiert ist, gesellschaftliche, ökonomische oder kulturelle Konflikte zu lösen, sollte auf Entrüstungsposen verzichten, jedenfalls es nicht bei ihnen belassen, sondern muss nach Bedingungen für Erfolg fragen, das Regelbare in Angriff nehmen. Er muss Komplexität verstehen. Er muss Handlungsmöglichkeiten entwerfen und zur Diskussion stellen, mit denen Ziele – Solidarität, Menschenrechte, Klima, Demographie, Gesundheit usw. – mit all den Widersprüchen dieser komplexen Weltgesellschaft erreicht werden können. Höhere Komplexität bedeutet höhere Risikoanfälligkeit. Im Vergleich zum fordistischen Industriekapitalismus erweist sich der postindustrielle und globalisierte Kapitalismus mit seiner extrem gestiegenen Komplexität als gleichfalls extrem risikoanfällig. Die global an Bedeutung gewonnene Finanzökonomie, internationale Produktionsnetzwerke und die Begrenztheit nationalstaatlicher Einflüsse auf die globale Ökonomie haben zuletzt in der Finanzkrise 2008 deutlich gemacht, wie krisenanfällig, fragil und riskant die gegenwärtige Welt ist. Nicht weniger komplex und risikoreich sind die Entwicklung des Weltklimas und weltweiter Pandemien. Beherrschung von Komplexität ist Beherrschung von Risiken. Kommunikation über Komplexität, Risiken und Krisen kann nicht an die Technik delegiert werden. Denn neue Technik ist durchaus nicht immer die Löserin neuer Komplexitätsprobleme, sondern nicht selten deren Ursache. Weitergehend: Die globale infrastrukturelle und digital vernetzte Technosphäre ist in ihrer Kapitalintensität und ökonomischen Macht eher Inbegriff einer Hyperkomplexität, die sich gesellschaftlicher Beherrschung mehr und mehr entzieht (Bridle 2019). Es ist die Demokratie, die die ansonsten reichlich unwahrscheinliche Beherrschung gesellschaftlicher Komplexität überhaupt möglich macht (Lessenich 2019, S. 7). Demokratische Kommunikation ermöglicht mehr als ein rein
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funktionales Verständnis von Technologie, Systemen und Komplexität – sie ermöglicht Bildung. Die allerdings ist unabdingbar, um Zukunftschancen zu begreifen und zu nutzen. Die gegenwärtige Phase des kulturellen Umbruchs, in der sich vor allem das lebenslange Lernen infolge des durch Corona bedingten Booms von kreativen Lehr- und Lernformaten befindet, kann eine solche Bildung in einer komplexer werdenden Welt ermöglichen: digitale Werkzeuge nutzen für ergänzende Wissensvermittlung, um damit frei zu werden für unerlässlich bedeutsame individuell-persönliche Kommunikation, für Beratung und Hilfe (Pellert 2020). „Zweizeitlichkeit“ nennt Botho Strauß (2020) die Fähigkeit, gleichermaßen im Hergebrachten wie im Gegenwärtigen, im Analog-Physischen wie im Digitalen zu leben. Zweizeitlichkeit kann gelernt werden (Richter 2020, S. 319ff.). Lernen – das digitale wie das persönlich-unmittelbare – ist ein Schlüsselwort für den Umgang mit Komplexität. Lernen, individuelles wie kollektives, schulisches wie lebenslanges, ist die erste wesentliche Antwort auf Komplexität. Einige Beiträge dieses Bandes heben Charakteristikum und Dynamik dieser Entwicklung in den Vordergrund: Norbert Kersting und David Graubner mit der Digitalisierung im Allgemeinen, Hellmut Wollmann mit einem Fokus auf die Digitalisierung des schulischen Lehrens und Lernens, Verena Hasel mit einem Kommentar vor dem Hintergrund neuseeländischer Erfahrungen und Jürgen Rüttgers als Anwalt einer sozialverträglichen smart city als Gegenmodell zum Silicon Valley. Dass die Smartifizierung unserer Lebensumwelt auch ein Bevormundungs- und Enteignungsprogramm ist, verdeutlicht Sadowski (2020) sehr überzeugend. Die andere Antwort ist neues Kulturbewusstsein. Die Digitalisierung wirbelt anscheinend durcheinander, was traditionell fest gefügt geglaubt war: als Student in Dortmund vor dem Computer zu sitzen und an einem Seminar in London teilzunehmen oder dem Pianisten Igor Levit viele Abende per Streaming zu lauschen, und zugleich den Wert eines Präsenzseminars, einer räumlich erlebten Performance der Ruhrtriennale in der Jahrhunderthalle in Bochum oder eines persönlichen Besuchs des Folkwang-Museums in Essen erneut und intensiv schätzen zu lernen. Einiges kommt in Bewegung und vieles hängt anscheinend damit zusammen, wie klug und differenziert wir im Alltag mit Komplexität umgehen, wie lernfähig wir sind. Das Generalthema des 21. Jahrhunderts ist also wohl: verantwortliche Bewältigung von Komplexität durch zeitgemäße staatliche und suprastaatliche Strukturen und Entscheidungsprozesse, demokratische und auf Lernen eingerichtete Kommunikation in der Weltgesellschaft und schließlich eine an der Wahrheit orientierte Wissenschaft, insgesamt also eine Kultur des Lernens. Es geht um nichts weniger als um die Erhaltung und Gewinnung von Fähigkeiten, eine komplexer werdende Welt zu verstehen und ihre Zukunft zu gestalten – durch wissenschaftliche Forschung und gesellschaftliche Kommunikation, nicht zuletzt durch verbindliche staatliche Entscheidungen. Dieter Grunow legt für diese Sicht in seinem Beitrag die systemtheoretische Grundlage und exemplifiziert sie an Digitalisierung und Klimaschutz; Themen, die sich durch zahlreiche Beiträge dieses Bandes wie rote Fäden hindurchziehen. Das Komplexitätsproblem wird gegenwärtig mit technischen Möglichkeiten der Digitalisierung weiter gesteigert und die Digitalisierung ihrerseits erweist sich als unverzichtbar zur gesellschaftlichen 3
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Beherrschung etwa des Klimawandels (Nassehi 2019, S. 321‒322). Alles spricht dafür, dass Hawking den Nerv der Zeit und der Zukunft getroffen hat. Seit 50 Jahren überwuchert (‚kapert‘) die Kapitalzone ehedem nicht kapitalgetriebene Sphären der Daseinsvorsorge: Gesundheit, Pflege, Renten, Bildung, Kultur, Kommunikation; diese ‚Landnahme‘ wurde zudem in den letzten zwei Jahrzehnten mit Internet, Computer, Smartphone, Informationstechnologie und Künstlicher Intelligenz rasant beschleunigt. Grunows These: Für die gesellschaftsbezogene Zukunftsgestaltung verdient die notwendige, aber schwierige, manchmal ‚unwahrscheinliche‘ Balancierung gesellschaftlicher Funktionssysteme eine besondere Bedeutung, namentlich zum Schutz der natürlichen Umwelt und der Erhaltung des Klimas. Zum gleichen Ergebnis kommt Rolf Kreibich. Er setzt historisch an und erläutert die Herausbildung einer wissensbasierten Zukunftsforschung, um auf dieser Grundlage die beiden Welt-Leitbilder Science Society und Sustainable Society einander gegenüberzustellen. Er wirbt dafür, in allen Lebensbereichen unser Handeln und Konsumieren im Einklang mit den ökologischen Kreisläufen und dynamischen Gleichgewichten der Natur zu praktizieren. Daran schließt Harald Welzer seine Forderung nach einem Pfadwechsel in Richtung einer nachhaltigen Lebenskunst an. Kann gar ein ästhetisches Programm für eine nachhaltige Lebenskunst entwickelt werden? Svenja Schulze greift das Komplexitätsproblem auf und entwickelt als ihre Antwort eine umfassende Strategie für einen sozialen und ökologischen Umbau, der zum archimedischen Punkt aller anderen politischen Schritte werden soll. Ihrer Meinung nach muss die komplexe Aufgabe einer sozial-ökologischen Transformation als systemisch relevante Frage angenommen werden, weil sie systemische Sprengkraft mit offenem Ausgang besitzt. Während dieses Buch entsteht, wird, was abstrakt beschrieben wird, konkret begriffen und unmittelbar im Lebensalltag erfahrbar: Die Komplexität der Zukunft gewinnt Nähe und Gestalt. Anlass, nicht Grund – der ist viel umfassender und komplexer – dafür ist, dass SARS-CoV-2 immer tiefer in unsere Welt eindringt, die Verletzlichkeit unserer Lebensweise bewusstwerden lässt und somit die zentrale Frage dieses Buches nach „Zukunft“, wie seit langem nicht mehr, in den Fokus nimmt. Wir befinden uns in einer globalen Laborsituation. Zahlreiche Autoren hat die Pandemie veranlasst, ihre Beiträge unter dem Blickwinkel der Bedeutung der epidemischen Bedrohung anzupassen und zu erweitern; was sich heute als besonders fruchtbar erweist: Unter den Autoren begann ein nicht immer unstreitiger, aber der Komplexität angemessener lebhafter multiperspektivischer Diskurs, der sich in den Beiträgen niederschlägt: eine ‚geschenkte‘ Phase konzentrierter und kommunikativ angelegter Reflexion. Ein besonders eindrucksvolles Ergebnis dieser Phase der Besinnung ist der Beitrag von Klaus Töpfer. Komplexität – Politik – Zukunft: Diese Trias wird hochaktuell, ja entscheidend für die historische Einordnung unserer komplexen Gegenwart und für ihre Kompetenz, Herausforderungen zu erkennen und zu bewältigen: Was können wir wissen über Zukünfte? Wie stellen sich Staat, Zivilgesellschaft, Politik und Wissenschaft dem Paradoxon: dem unendlichen Übermaß an Informationen und zugleich deren eklatantem Mangel. Was
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heißt also: Entscheiden in Unsicherheit? Was kann und darf der Staat? Kann er, was er darf, und darf er, was er kann? Seit Jahrzehnten waren diese Fragen nicht so zwingend wie heute. Wie definiert Politik ihre Rolle zur Wissenschaft? Trägt sie wissenschaftliche Erkenntnisse in staatliche Entscheidungsprozesse hinein und macht sie zum Gegenstand abwägender Vernunft? Oder erliegt sie der Versuchung des Populismus? Und Wissenschaft: Versteht sie sich als Methode der Wahrheitsfindung, der Falsifikation, also der Irrtumsfreundlichkeit und der immer wieder neuen Fragen? Gleich, was Politik und Wirtschaft kommentieren? Einer Institution, die wissen will, was ist, was war und was werden kann? Die Probe aufs Exempel ist jetzt: Klima. Artenvielfalt. Demografie. Migration. Demokratie. Kultur. Bildung. Digitalisierung. Weltgesellschaft. Globale Menschenrechte. Corona. Jetzt, nicht morgen. Jetzt für morgen! Das Virus ist weder eigentlicher Gegenstand noch Mittelpunkt dieser Fragen. Es hat eher eine katalytische Wirkung. Es erhellt, was „der Fall“ ist. Unsere komplexen Gesellschaften sind es gewohnt, ständig mit großen Unsicherheiten, Widersprüchlichkeiten und Paradoxien umzugehen, die allerdings lokal und ungleichzeitig in Erscheinung treten, wobei sie mehr oder weniger professionell von den Teilsystemen beherrschbar gemacht werden. Anders jetzt: Gegenwärtig verbreitet sich mit den Themen Klimawandel, Biodiversität, globale Menschenrechte und Demokratie existenzielle Unsicherheit, global und global gleichzeitig. Das ist die eigentliche Komplexität. Svenja Schulze nennt das in ihrem Beitrag die „nicht enden wollende Kumulation globaler Krisen“. Diese Krisen sind nicht durch die Pandemie ausgelöste oder gar verursachte Krisen. Sie waren schon vorher da und werden jetzt nur kollektiv sichtbar an die Wahrnehmungsoberfläche gespült. Vor allem der kosmopolitische Gedanke des Weltbürgertums mit der Idee der allgemeinen Menschenwürde und der daraus abgeleiteten globalen Menschenrechte, der derzeit – black lives matter – weltweit auf den Straßen eingeklagt wird, wird sich auch zu Wort melden beim vorsorgenden Schutz vor Krankheiten und Seuchen, bei der Verteilung von Impfstoffen und Medikamenten sowie bei der Versicherung gegen Krankheitskosten. In diesen und vielen anderen Fällen, vor allem bei der Bewältigung der weltweiten Migration – derzeit 80 Millionen Flüchtlinge, was der Bevölkerung Deutschlands entspricht – wird sich zeigen, was es bedeutet, Bürger einer einzigen, gemeinsamen Weltordnung zu sein (Nussbaum 2020). Schon 1949 wies Thomas Mann, als er in der Frankfurter Paulskirche den Goethepreis entgegennahm (Mick 1985), rhetorisch fragend auf den globalen Kontext der Demokratie als politische Herausforderung hin: „Weltökonomie, die Bedeutungsminderung politischer Grenzen (…), das Erwachen der Menschheit zum Bewusstsein ihrer praktischen Einheit, ihr erstes Ins-Auge-fassen des Weltstaats – wie sollte all dieser über die bürgerliche Demokratie hinausgehende soziale Humanismus, um den das große Ringen geht, dem deutschen Wesen fremd und zuwider sein?“ Menschenrechte transponieren Zukunft in Rechte. Das Recht auf Zukunft für alle scheint ein Generalthema der Gegenwart zu sein: das Existenzrecht für alle – weltweit – fordert der Philosoph und Historiker Achille Mbembe in seiner – abgesagten – eindrucksvollen Rede zur Eröffnung der – abgesagten – Ruhrtriennale 2020 ein (Mbembe 2020b); das Recht auf 5
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Stadt (Levebvre 2016; Harvey 2013) – gegen soziale Verdrängung und Privatisierung des öffentlichen Raums, für das Recht auf angemessenes und bezahlbares Wohnen – wird in einer sich verstädternden Welt universell eingeklagt; Gleiches gilt, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt zunehmend, für das gleiche Recht der Geschlechter, für das Recht auf Bildung, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung … Die Universalität der Menschenrechte und die wachsende Globalität von Zukunft lassen sich nicht mehr auseinanderdividieren. Sie sind ein Menschheitsprojekt. Es kann nur unter den Bedingungen der Gleichheit anstrebenden und Inklusion ermöglichenden Demokratie gelingen, und diese kann nur eine transnationale und globale sein (Richter 2020). Achille Mbembe schreibt in seiner Kritik der schwarzen Vernunft (2014, S. 330) im Epilog unter dem Titel „Es gibt nur eine Welt“, dass im Blick auf den unumkehrbaren Prozess der Verquickung und Verschachtelung der Kulturen, Völker und Nationen in der einen Welt nur ein Prozess des erneuten Zusammenfügens der amputierten Teile, der Reparatur der zerrissenen Bande, der Wiederaufnahme des Wechselspiels der Reziprozität der Sorge um das Offene und einer Politik der Zukunft dienen kann. Klima, Artenvielfalt, Demokratie, Menschenrechte und Pandemie konkurrieren mit ungleichen Waffen um Aufmerksamkeit. Pandemie einerseits und Klima, Biodiversität, Demokratie und Menschenrechte andererseits sind – oberflächlich betrachtet – grundverschieden. Die Toten des Virus sieht man jetzt und morgen. Die Klimakrise dagegen wird mit etlicher Verzögerung diejenigen treffen, die heute jung sind. Demokratische Gesellschaften erodieren schleichend, und Menschenrechtsverletzungen geschehen weitgehend ‚draußen vor der Tür‘. Die Pandemie erzeugt unmittelbar gesellschaftliche Energien gegen die Bedrohung und für eine vorsorgende Zukunftsgestaltung; für die anderen Herausforderungen müssen gesellschaftliche Kommunikation und politischer Konsens erst hergestellt werden. Corona ist ein Beispiel für die weitgehende Unverfügbarkeit von Naturereignissen wie Erdbeben oder Vulkanausbrüche. Der Klimawandel ist von Menschen gemacht; Artensterben ist von Menschen verursacht; Demokratie und Menschenrechte werden von Menschen verletzt. Auf Unverfügbares muss man sich einstellen lernen; Verfügbares kann man ‚verfügen‘, man sollte es, wenn es geboten ist. Insofern kann man Corona als Lerngeschichte zivilisatorischen Fortschritts nicht unmittelbar auf die Klimakrise, auf Demokratiedefizite und Menschenrechtsverletzungen übertragen. Aber mittelbar: Alle haben einschneidende Wirkungen auf das gesellschaftliche Leben, beispielsweise auf Solidarität, Hunger und Gesundheit, auf Zivilität und Urbanität in Zeiten von social distancing, Homeoffice und der Überhitzung städtischer Areale, auf Flüchtlingsdramen und Integrationsaufgaben bis hin zu europäischem Zusammenhalt. Sie prägen die Rolle von Politik im Verhältnis zu Natur und Wirtschaft bei der Frage, wie nachhaltig und resilient repariert und gestaltet wird. Nicht zuletzt auch: Wie wird das künftige Verhältnis von Staat und Wissenschaft, wird es eine Diktatur von Virologen und Klimaexperten? In diesem Aufmerksamkeitswettbewerb kommt bemerkenswerter Weise die globale Bevölkerungsentwicklung ganz zu kurz. Nach vermeintlicher Bevölkerungsexplosion und vermeintlichem Schrumpfen von Städten und Regionen – häufig zeitgleich als Be-
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drohungsszenarien in Parallelwelten traktiert – bleibt weitgehend unbeachtet, dass die tatsächliche Bevölkerungsentwicklung zwar Wachstum aufweist, aber kein bedrohliches, sondern beherrschbares, dass das Wachstum weltregional gesehen ungleich verteilt ist und dass von Schrumpfen allenfalls in überschaubaren Räumen die Rede sein kann. Bei allen Zukunftsszenarien ist künftig die faktische Entwicklung der Weltbevölkerung als ein maßgeblicher Parameter präziser und intensiver zu berücksichtigen, wenn Fehlschlüsse vermieden werden sollen. Bei genauerem Hinsehen, wenn man nämlich nach Kausalitäten fragt, wird Langfristiges und Grundsätzliches sichtbar. Dann erscheint scheinbar Unverfügbares jedenfalls teilweise wieder als verfügbar; denn Virus, Artenschwund und Klima haben miteinander eng verschränkte Ursachen. Im Jahr 1998 hat der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung zu Globalen Umweltfragen (WBGU 1998) eine Typisierung anthropogener Risiken vorgenommen und diese mit Namen aus der griechischen Mythologie versehen: Damokles für die Atomenergie (geringe Eintrittswahrscheinlichkeit, großer Schaden), Kassandra und Pythia für Klimawandel (Irreversibilität, hohe Verzögerungswirkung), Zyklop für eine Pandemie (ungewisse Eintrittswahrscheinlichkeit). Alle diese Krisen sind miteinander verbunden. Das Erscheinen von neuen, zwischen Tier und Mensch übertragenen Infektionskrankheiten ist eine Folge der fortschreitenden Zerstörung von Lebensraum für Wildtiere. Ursachen dafür sind Waldzerstörung und industrielle Landwirtschaft, Flächenversiegelung. Der Zusammenhang zwischen Pandemie, Klimakrise und Artensterben ist systemisch, denn es sind Folgen des quantitativen wirtschaftlichen Wachstumsparadigmas, von globalen Logistik- und Wertschöpfungsketten. Brasilien ist ein Beispiel dafür, wie Demokratieabbau, Menschenrechtsverletzungen, Vernichtung von Arten, Raubbau an der Natur und virale Vulnerabilität ein- und demselben Kalkül entspringen: dem ‚Kapern‘, wie Grunow dies nennt, aller Teilsysteme durch Kapitalinteressen. Der Verfügbarkeitsrahmen und somit die Notwendigkeit der Zukunftsgestaltung durch den Menschen – namentlich durch Wissenschaft, Wirtschaft und Politik – ist anscheinend größer als oberflächlich ersichtlich. Das Virus sucht den Menschen als Wirt, jenen Menschen, der seit geraumer Zeit strategisch diesen Planeten umgestaltet. Für dieses Zeitalter, in dem der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden ist, hat sich im Anschluss an Paul Crutzen (2019) der Terminus „Anthropozän“ durchgesetzt, wobei umstritten ist, ob es sich dabei wirklich um eine neue geochronologische Epoche handelt. Auf differenziertere und komplexere Zusammenhänge weist Todd (2018, S. 33ff.) hin: Die Wirtschaftsentwicklung in den entwickelten Staaten und Regionen dieser Welt hat sich als das „Bewusste“ in einem Maßstab von 50 Jahren, der Bildungsfortschritt als das „Unterbewusste“ in einem von fünfhundert Jahren und die Entwicklung der Familie als das „Unbewusste“ in einem von fünftausend Jahren vollzogen. Das legt nahe, den Begriff des Anthropozäns komplexer zu fassen, ihn nicht allein technologisch-ökonomisch zu definieren, sondern auch anthropologische und kulturelle Maßstäbe anzulegen, die es ermöglichen, dieses „Menschenzeitalter“ nicht als Schicksal, sondern als zu verantwortende Zukunft zu verstehen. 7
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Das Virus und seine rasante Vermehrung legen die Struktur dieser anthropozänen Welt mit all ihren Defiziten schonungslos offen: Das Gleichgewicht des Planeten wird aus der Balance gebracht. Der Klimawandel ist nur ein Aspekt dieser großen Beschleunigung. In der global gewordenen Welt mit einer exponentiell angestiegenen Mobilität, mit gigantischen technologischen Infrastrukturen von Flughäfen, Lieferketten, weltumspannenden Kabelnetzwerken und Serversystemen findet das Virus den idealen Gesamtwirt mit allen Chancen ebenfalls exponentieller Verbreitung auf dem gesamten Planeten. Wie die Welt mit dem viralen Angriff von Corona virologisch, medizinisch, ökonomisch, sozial, kulturell und rechtlich fertig werden wird, ist heute, im Herbst 2020, nicht absehbar. Nach einer Phase ungewöhnlich einheitlicher Bewertung und des breiten Konsenses hinsichtlich der Notwendigkeit harter Einschnitte in das gesellschaftliche und ökonomische Leben hat inzwischen Phase Zwei begonnen: heftiger fachwissenschaftlicher und politischer Streit über den Einstieg in eine ‚neue Normalität‘, Verdrängung versus Hysterie, wachsende Dissonanz zwischen Bevölkerung, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, Zentralstaat gegen föderale Ordnung. Eine wilde Mischung aus Verschwörungserzählern, Funkmastenbekämpfern, Impfgegnern und Verängstigten, instrumentalisiert durch Rechtsradikale, treffen in ihrer Agitation auf beträchtliche Resonanz und bilden eine anschwellende Protestwelle. Nicht absehbar ist, wie und wann dies in eine Phase Drei übergehen wird, in der es entweder um Schuldzuweisungen oder um kollektives Lernen gehen wird – oder um die Fortsetzung des gewohnten Lebensstils und um Routine. Dass kollektiv gelernt werden kann und sollte, ist Gegenstand dieses Buches. Wenn nicht jetzt, wann dann? Corona steht – wie gesagt – nicht im Zentrum der Komplexitätsdebatte. Die Wirklichkeit ist viel komplexer und existenzieller. Corona ist eher das Brennglas des anthropozänen Lebensmodells. Dieses ist das eigentliche Komplexitätsproblem. Es droht staatliche und suprastaatliche Entscheidungsstrukturen und -verfahren wie Rechtsstaat, Föderalismus, Gewaltenteilung, Demokratie, Meinungsvielfalt und Freiheitsrechte zu überfordern. Gefahren und Risiken werden entweder überwältigend schnell und aggressiv Realität, dann bleibt nur wenig Zeit zum vernünftigen rechtsstaatlichen und demokratischen Handeln; oder diese Gefahren und Risiken – gegenwärtig unsichtbar oder nur zu erahnen – werden erst in fernerer Zukunft existenziell bedrohlich und fordern aktuell schwierige Entscheidungen ein, für die allerdings präsente Mehrheiten nur schwer zu finden sind. Auf die Gefahren für den demokratischen Staat weist mit Nachdruck Klaus Töpfer hin. Anthropozän steht allerdings nicht nur für Bedrohliches oder gar unverfügbar Bedrohliches. Dieses Zeitalter steht auch für einen vor Jahrzehnten noch nicht für möglich gehaltenen weltweiten Bildungslevel, eine exorbitant gestiegene Lebenserwartung, Gesundheit, materiellen Wohlstand und kulturellen Reichtum. Und doch überwiegen in der Wahrnehmung Herausforderungen und Risiken: Das Anthropozän verdichtet lange geschichtliche Linien plötzlich zu akuten, ja dramatischen globalen Herausforderungen für Staaten, für Politik, für Wissenschaft und für die Gesellschaft. Die ‚Menschenzeit‘ verweist nicht nur auf einen zeitlichen Abschnitt der Erdgeschichte, für den in den letzten Millionen Jahren keine Entsprechung zu finden ist, sondern auf Handlungsnotwendigkeiten, auf die in dieser und zunächst nur in dieser Gene-
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ration einschneidende Antworten gefunden werden müssen. Wer – wie im Pariser Vertrag festgelegt – die Erderwärmung auf höchstens 2 Grad begrenzen will, hat nicht mehr als ein Vierteljahrhundert Zeit, um klimaneutral zu werden, ein Viertel der zu erwartenden Lebenszeit der heute Geborenen. Ein Vierteljahrhundert entscheidet vermutlich über Jahrtausende. Der Rekurs auf das Zeitalter des Anthropozän ist alles andere als akademisch. Dieser historische Kontext ist auch aktuell von Interesse: Das Anthropozän hat einen mächtigen Schub durch die Kolonisierung erhalten. Damals wurden das Planetarische erst so richtig bewusst und der weltweite Transport von Seuchen zum ersten Mal unmittelbar erlitten. Es waren frühe Vorläufer der Spanischen Grippe und von Corona. Ein zweiter Aspekt ist nahezu spektakulär; denn das Zeitalter Anthropozän hängt unmittelbar mit einem bestimmten regionalen Kraftzentrum zusammen, dem dieses Buch ein eigenes Kapitel widmet: Ruhr. Wann der Beginn dieses Erdzeitalters anzusetzen ist, ist unklar. Klar und unumstritten aber ist, dass das Anthropozän durch die Erfindung der ersten Dampfmaschine und die Nutzung fossiler Energie, wenn nicht bewirkt, so doch maßgeblich intensiviert wurde. Die Menschen erwarben die Fähigkeit, die physische Welt im großen Stil zu wandeln. Die Nutzung fossiler Brennstoffe, verbunden mit der Technologie der Dampfmaschine, bewirkte eine Entfesselung der schwerindustriellen Revolution (Lovelock 2020). Zum Spektakulärsten, was das auf Dampfmaschinen basierende Anthropozän hervorgebracht hat, gehört die Agglomeration Ruhr. Sie ist historisch ohne die Erfindung und den Einsatz der Dampfmaschine nicht denkbar. Ruhr verdankt dieser technologischen Entwicklung den ökonomischen und demografischen Aufstieg sowie seine heutige städtebauliche und landschaftliche Struktur. „Ruhrbanität“ ist der Kunstbegriff, der für dieses Spezifikum jenseits der „europäischen Stadt“ gefunden wurde (Christa Reicher, in diesem Band). Mit dieser größten deutschen Stadtlandschaft und ihrer historischen Entwicklung hat sich Christoph Zöpel wie kein anderer wissenschaftlich und als verantwortlicher Politiker befasst. Was „Anthropozän“ wirklich bedeutet, ist in Ruhr ablesbar wie nur in wenigen Räumen sonst. Das „Menschenzeitalter“ hat in dieser Landschaft das Unterste nach oben gekrempelt, gewachsene Siedlungen, Naturräume und soziale Netzwerke zerstört, in der Logik der schwerindustriellen Produktion Technologien, Logistik, Migration und Integration, Arbeitersiedlungen und Städte jenseits der „europäischen Stadt“ ermöglicht, gefördert und geschaffen. Die Stadtlandschaft Ruhr ist nicht weniger als eine Schlüsselregion für das Verständnis anthropozäner Zusammenhänge; auch – was für die Zukunftsdebatte von Bedeutung ist – für Zukunftsstrategien: Wie geht die Gesellschaft mit den verbliebenen altindustriellen Relikten, mit den ungewöhnlichen Raumstrukturen und mit der prekären Sozialstruktur um? Was ist die Zukunft dieses so unverwechselbar anthropozänen Raumes? Gelingt ihm gar eine bewusste Strategie einer neuen – humanen und nachhaltigen – Dimension von Anthropozänität: • Bildung und Wissen, vermittelt durch eine der dichtesten Hochschullandschaften Europas (Roters et al. 2019), 9
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• Transformation-Lernen, exerziert in der Internationalen Bauausstellung Emscher Park („Wie gelingen Innovationen in nicht-innovativen Milieus?“), • neue Bühnen, vor allem geschaffen durch die Ruhrtriennale (Wagnis anderer Formate von Kultur), die Europäische Kulturhauptstadt 2010 (Wandel durch Kultur, Kultur durch Wandel), und die geplante Internationale Gartenausstellung (Agglomeration als Landschaft) sowie • letztlich Natur, Landschaft, Siedlung und Stadt neu denken (beispielhaft das Jahrhundertbauwerk Renaturierung der Emscher). Viele Autoren in diesem Band haben eben diese Fragen zum Gegenstand. Auf einen dritten Zusammenhang weist Mbembe mit einer analogen Begrifflichkeit aus der Architekturkritik hin: Brutalismus. Was dort grobe industrialisierte Betonsprache meint, überträgt Mbembe auf den Prozess des strukturell angelegten „Aushungerns kritischer Fähigkeiten“; was dort von Kritikern als Übergriff rigiden technologischen Bauens auf humane Lebens- und Wohnbedürfnisse beklagt wird, heißt für die Analyse des fortgeschrittenen Anthropozäns allgemein die Frage: „Wem gehört diese Welt?“ (Mbembe 2020a). Aber auch hier lädt die „Menschenzeit“ zu verträglicheren Mustern ein: Was im Bereich des Städtebaus und der Architektur „erhaltende Stadterneuerung“, Substanzerhalt, qualitativer Umbau, Bauen mit der Natur, Ressourcen sparendes Bauen und Nachhaltigkeit bedeutet, gewinnt auch als Lebensmodell Gewicht, wie etwa die Beiträge von Kreibich, Welzer, Schulze und Töpfer belegen. Anthropozän muss nicht eine Metapher für Zerstörung, Verlust und Gewalt sein; die „Menschenzeit“ kann eine humane Zeit werden.
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Konkrete Nähe
Anthropozän und Ruhr: Die Konnexität beider – der zeitlichen Dimension wie der räumlichen – ist zugleich eine Klammer des Allgemeinen mit dem Konkreten: Wagen wir also den anderen Blick, den Blick auf das Konkrete. Denn die laufende Pandemie brachte auch Entschleunigung, Abbau von Mobilität, Vereinfachung, Stillstand, Ortsnähe und Übersichtlichkeit mit sich: eine geringere Komplexität. Die kleine Erfahrungswelt wurde auf einmal im Alltagsleben wichtiger als die abstrakte, global vernetzte Welt. Eben jene konkrete, lokale Welt ist – geschuldet einem neben der ‚Weltgesellschaft‘ anderen biografischen Schwerpunkt Christoph Zöpels – der thematische Zentralraum dieses Buches: das Nahe, das Lokale, die Stadt, die Landschaft, die Agglomeration, das Bauen, Erhalten und Gestalten. Innovationen ‚von unten‘ spielen eine große Rolle. Von Heimat und Nähe und bürgerschaftlicher Verantwortung ist in den Beiträgen viel die Rede. Zahlreiche Autoren liefern dafür interessante Beispiele: den Stolz der Stadt Düsseldorf auf die Rheinufergestaltung, die Bedeutung des Welterbes Zollverein und der gesamten Industriekulturlandschaft Ruhr, das Jahrhundertprojekt der Renaturierung der Emscher oder die systematische Erhaltung gründerzeitlicher Stadtquartiere.
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Die Leitsätze dieser Strategie hat Zöpel zu Beginn seiner Amtszeit als Minister für Landes- und Stadtentwicklung NRW so formuliert: • • • • • •
Lieber kleiner als zu groß! Grün in die Stadt! Mehr Spielraum für Kinder! Mehr Raum für Fußgänger! Eine Straße weniger kann mehr sein als eine Straße zu viel! Abbrechen können wir immer noch!
Diese plakativen Mottos sind die denkbar größte Reduktion von Komplexität, aber sie haben ihre kommunikative wie auch praktische Wirkung nicht verfehlt. Norbert WalterBorjans demonstriert in seinem Beitrag plastisch den erfolgreichen Weg der Umsetzung jener Leitsätze in praktische Politik. Die Strategie der erhaltenden Stadterneuerung (Christa Reicher) hat sich aus ihnen entwickelt, ebenso ein ‚goldenes Zeitalter‘ für Denkmalschutz und Denkmalpflege (Birgitta Ringbeck, Wolfgang Sonne und Thomas Schleper), die Praxis der flächendeckenden Beruhigung des automobilisierten Individualverkehrs (Heiner Monheim), die Politik der sozialen Stadt einschließlich des engagierten sozialen Wohnungsbaus (Klaus Bussfeld, Ullrich Sierau und Klaus Selle) und nicht zuletzt das Konzept der Internationalen Bauausstellung Emscher Park (Walter Siebel, Gerd Seltmann und Uli Paetzel). In der gesellschaftlichen Kommunikation dieser Tage wird gerne das eine, das Große und Ganze, gegen das andere, das Kleine und Partikulare ausgespielt: die große Welt gegen die kleine Heimat. Aber die lokale Erfahrungswelt ist kein Gegenmodell zur globalen Komplexität – sie ist ihr Teilelement. „Heimat ist ein Raum aus Zeit“ – nichts bringt die Komplexität der Gegenwart besser auf einen kommunikationsfähigen Nenner als der Titel des Films von Thomas Heise aus dem Jahr 2019. Heimat hat Dimensionen: zeitliche und räumliche. Sie konstruieren in ihrem wechselseitigen Zusammenhang Komplexität, zu deren Bewältigung Erzählungen gehören, die das Große und das Kleine, das Abstrakte und das Konkrete, das Ferne und das Nahe, Weltinnenraum und nationale Grenzen, die chronologische Bewegung und das Jetzt und Hier zusammenbringen: Weltklima und individuelle Mobilität, globale Wanderung und lokale Befindlichkeit, gegenwärtige internationale Seuchenzeitordnungen (grün, orange, rot) und subjektive Ängste, große Linien der planetarischen Entwicklung und persönliche Zukunftserwartungen, Anthropozän und Ruhr. Michael Bachtin hat für diese neuartige Kombination von Zeitstrahl und Lageplan den Begriff Chronotopos geprägt (Bachtin 2008). Die Gegenwart bestätigt ihn: Alles, was derzeit weltweit diskutiert wird, sucht Orientierungssysteme in Zeit und Raum, selbst wenn dabei so unterkomplexe Bilder von Identitärem, Nationalem, Vergangenheitsverdrängung, Zukunftsblindem und Weltabgewandtheit herauskommt. Wichtiger erscheint, dass das globale Bewusstsein von räumlicher Konnexität und zeitlicher Verantwortungsgemeinschaft wächst. Weltgesellschaft und Nachhaltigkeit sind keine akademischen Sprachbilder mehr; sie sind Gegenstand lebhafter globaler Kommunikation, und die findet in und zwischen konkreten Heimaten statt. 11
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Nichts wäre also verfehlter, als ‚Heimat‘ und ‚Welt‘ in Stellung gegeneinander zu bringen. Aber das Verhältnis beider zueinander kann neu austariert werden. Darüber nachzudenken könnte jetzt besonders günstig sein: Es wird nicht das Ende der Globalisierung geben, aber vielleicht deren Begrenzung und effektivere politisch-institutionelle Beherrschung. Und es wird in einer auf die 9 Milliarden Weltbevölkerung zusteuernden Weltgesellschaft keine nostalgisch-idyllischen vormodernen Reservate geben und keine Renaissance des Separatismus geben dürfen. Die zentralen Fragen werden vielmehr sein: Kann es gelingen, der Globalisierung wirksame politische Strukturen zu geben? Dies ist eine der Hauptfragen in den Beiträgen von Klaus-Jürgen Scherer, Klaus Töpfer und Svenja Schulze. Andererseits aber auch: Unter welchen Voraussetzungen gibt es Chancen, konkrete heimische Erfahrungs-, Freiheits-, Labor- und Experimentierräume zu schützen, kleine dezentrale lokale Einheiten zu stärken und föderale Lernsysteme zu vitalisieren? Wie kann aus regionalen Kreisläufen und lokalen Entscheidungsprozessen gelernt werden? Dieser Frage widmen sich besonders Norbert Walter-Borjans, Edda Müller, Ullrich Sierau und Klaus Selle, Stephan Holthoff-Pförtner, Frank Baranowski, Theo Grütter, Stefan Klein, Birgitta Ringbeck, Wolfgang Sonne und Thomas Schleper. Und was ist der gesellschaftliche Mehrwert föderaler Strukturen (Hellmut Wollmann)? Die Konstruktion dieses Bandes mit all seinen Beiträgen zeigt sich also in der Verknüpfung unterschiedlicher Komplexitätsniveaus. Svenja Schulzes Aufruf, der sozial-ökologische Aufbruch müsse nun mutig gestaltet werden, greift diese Konnexität auf: auf der einen Seite die Verletzlichkeit der hochkomplexen Gesellschaft mit den Herausforderungen für die globalen Institutionen, auf der anderen Seite die Resilienz- und Laborfähigkeiten der lokalen Ebene.
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Aufklärung
In einer Phase der Unsicherheit reden wir über die Zukunft. Das kann man spekulativ, feuilletonistisch oder eklektizistisch anlegen. Oder mit dramatisierenden Untergangsszenarien – jede politische Richtung hat das ihre für die jeweilige Gegenseite parat. Oder einfach mit dem Anspruch sachlicher Aufklärung, der selbstkritischen Befragung der Gesellschaft, der verantwortungsvollen Wissenschaft und der vernunftgeleiteten Politik. Aufklärung: Dies ist der Anspruch dieses Buches. Allerdings spricht einiges dafür, über Aufklärung in dieser herausfordernden Zeit erneut nachzudenken, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Die globale Welt, die Welt der Wissensexplosion und die Welt der Technikbeherrschung – sie alle verlangen eine Aufklärungsantwort auf der Höhe unserer Zeit. Der überragende Gedanke der Aufklärung muss anschlussfähig gemacht werden für die Weltgesellschaft, für die Wissensgesellschaft und für die der Nachhaltigkeit verpflichteten Risikogesellschaft. Dies ist ein politisches Postulat. Aber auch wissenschaftlich verdichten sich die Anregungen, den Aufklärungsgedanken auf die Höhe der Zeit zu bringen, zu der Erkenntnis:
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„Aufklärung jetzt“ (Pinker 2018), „Die Dritte Aufklärung“ (Hampe 2018; Mason 2019). Zuletzt fordert Fratzscher (2020) eine „neue Aufklärung“: Die Corona-Pandemie könne einen Wendepunkt darstellen, der ein neues Zeitalter einläutet – ein Zeitalter der Aufklärung, das die Herausforderungen unserer Zeit meistert und mit einem Bewusstseinswandel hin zu einem neuen Humanismus einhergeht; ein Zeitalter, in dem die Eigenverantwortung des Individuums, die Wissenschaft und Rationalität sowie die Fokussierung auf die großen Fragen unserer Zeit im Mittelpunkt stehen. Es besitzt einige Plausibilität, nach der ersten in der griechischen Antike (der Sokratischen, die man die argumentative nennen könnte) und der zweiten im 17. und 18. Jahrhundert (der wissenschaftlichen) heute in einer global werdenden, fragilen und gefährdeten Welt ohne wirkmächtiges Zentrum die Politik vermeintlicher Sachzwänge („Politik der Unvermeintlichkeit“) und der Hilflosigkeit („Politik der Ewigkeit“) abzulösen durch eine zukunftsorientierte „Politik der Verantwortlichkeit“ (Snyder 2019). Der irrationale Glaube an die Zwangsläufigkeit der Geschichte und das mangelnde Bewusstsein für die normativen Auswirkungen des technischen Wandels vor allem auf die Normen des Wissens und der Wissensverwertung müssen Gegenstand einer neuen Aufklärung sein. Ziel dieser Aufklärung muss es sein, die Menschen wieder zu Subjekten der Geschichte zu machen. Als Kollektive entfalten sie – zum Teil zerstörerische – globale Wirkungen, sind aber offenkundig zu gemeinschaftlichem Handeln auf globaler Ebene nur höchst unzureichend in der Lage. Die Dritte Aufklärung muss also ein Projekt der globalen Bewusstseinsbildung sein, statt nur der individuellen oder nationalen. Dies scheint umso notwendiger, als global governance und die damit verbundenen völker- und menschenrechtlichen Denkmuster sich in der Defensive befinden. Eben dem zu begegnen ist das Anliegen der Untersuchung Zöpels: Politik mit 9 Milliarden Menschen in Einer Weltgesellschaft. Klaus-Jürgen Scherer analysiert in seinem Beitrag dieses Zöpel-Projekt der ‚Weltgesellschaft‘. Dem doppelten Defizit, zu wenig global zu denken und die politischen Institutionen zu unterschätzen, setzt Zöpel den angesichts der Globalisierung von Problemlagen notwendigen und möglichen Weg hin zum globalen Regieren entgegen. Er beschreibt, wie das bisherige System internationaler Politik, die Staatenwelt mit dem Gewaltmonopol nach innen und einem Recht zur Kriegsführung nach außen, durch ein politisches System der Weltgesellschaft mit globaler Regionalisierung und Gewaltenteilung ersetzt werden kann. Global anschlussfähige Aufklärung! Mit universellem Geltungsanspruch war und ist die europäische Aufklärung immer konzipiert; dass sich auch ihre Substanz und Begründung den außereuropäischen Ansätzen öffnen müssen, wird erst allmählich bewusst. Für diese wirklich universale Weitung des Aufklärungsgedankens streiten derzeit vor allem Amartya Sen (2020) und Achille Mbembe (2020a). Aufklärung muss noch aus einem weiteren Grund anschlussfähig werden. Dabei geht es um das Verhältnis von Theorie und Praxis, das sich in einer Wissensgesellschaft anders darstellt als zu Zeiten Kants. Hampe (2018, S. 68‒69) unterscheidet unter Rückgriff auf Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht von 1796 die Theoretiker als die Zuschauer und die Pragmatiker als die Mitspieler in der Welt. Die Theoretiker diagnostizieren, die Pragmatiker versuchen zu gestalten.
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Das geht heute nicht mehr. Die Science Society, die zugleich Sustainable Society sein soll, wie Kreibich dies in diesem Band beschreibt, ist auf einen verlässlich funktionierenden Wissenstransfer zwischen den diagnostizierenden und gestaltenden Systemen – somit auch zwischen Wissenschaft und Politik – angewiesen. Vor allem Heinze beschreibt dies hier am Beispiel der wissenschaftlichen Politikberatung und erläutert eine Forschungskonzeption des ehemaligen NRW-Städtebauministeriums, die er zusammen mit Claus Offe zum Thema strategischer Zukunftsgestaltung entwickelt hat. Wissen und Macht – ein klassisches Thema aufgeklärter Politik! Offensichtlich war Zöpel schon in den frühen 80er-Jahren einer der Politiker, die politische Tätigkeit als notwendige Umsetzung von theoretischen Erkenntnissen in Politik verstanden haben. Der institutionelle Kontrast zwischen Diagnose und Beobachtung einerseits und andererseits Gestaltung und Verantwortung war ihm fremd. So sehen denn auch zahlreiche Beiträge in diesem Band Zöpel als den Theoretiker, der sich praktisch beteiligt und um- und durchsetzt (Uwe Knüpfer, Anke Brunn, Heiner Monheim). Insofern gilt dieses, also sein Verständnis von wissenschaftlichem Wissen und praktischer Gestaltungskunst, als ein frühes Beispiel einer zeitgemäß aufgeklärten „wissenschaftlichen Politik“. Die Zweite Aufklärung hinterlässt Zwiespältiges, worauf Max Horkheimer und Theodor W. Adorno bereits im Jahr 1944 in Dialektik der Aufklärung mit dem Verweis auf die problematische Verselbstständigung der rein instrumentellen Vernunft aufmerksam gemacht haben. Der Befund ist ernüchternd: das Sagen bekamen auch geschichtsvergessene Modernisten mit autogerechten Städten, Schnellstraßen durch lebendige Wohnviertel, mit funktionaler Trennung von Wohnen, Arbeiten und Freizeit, mit gähnend leeren Plätzen, brutalistischer Architektur und verschandelten Stadtbildern. Gestaltungsverantwortung wurde abgelöst von der Herrschaft der Technik. Wie zwei wissenschaftlich-technische Systeme – das der Medizin und das der Bauplanung sowie Bautechnik – sich gegenseitig und im Verhältnis zum staatlichen Auftraggeber zulasten staatlicher Verantwortung für demokratisches Bauen zu verselbstständigen gesucht haben, ist am Beispiel des Baus des Klinikums Aachen zu studieren. Dieter vom Rath vermittelt in seinem Beitrag diesen Prozess. Horst Gräf schildert den schwierigen Weg der Wiedereingliederung des staatlichen Bauens in eine verantwortungsvolle Stadtentwicklungspolitik.
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What time is it?
Welche Zeit haben wir? Hegels Frage in seiner Phänomenologie des Geistes hat zu beantworten, wer „Zukunft denken und verantworten“ fordert. Wir müssen wissen, was heute ist, um bestimmen zu können, was in Zukunft sein wird, nein: sein sollte. The Times They Are a-Changin’: Endlos wirken die zeitdiagnostischen Bemühungen, die Gegenwart mit einem Etikett zu versehen. Dieter Grunow und Rolf Kreibich weisen in ihren Beiträgen auf die Vielzahl solcher Gesellschaftskonzepte hin, die sich allerdings
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jeweils nur auf wenige, spezifische Dimensionen gesellschaftlicher Entwicklung beziehen (Risikogesellschaft, Wissensgesellschaft oder postmoderne Gesellschaft). Mit Blick auf die Zukunft führt dies, so Grunow, zu einem Katalog spezieller Wunschvorstellungen für die ‚gute‘ Gesellschaft. Nicht immer werde dabei deutlich gemacht, dass diese Betrachtungsweisen jeweils ‚blinde Flecken‘ aufweisen, weil sie in bestimmter Weise von der Perspektive des Beobachters abhängen. Aktuell konkurrieren vor allem Überwachungskapitalismus und Ökodiktatur miteinander. Einen weiter rapide anschwellenden Katalog von Zeitdiagnosen beschreibt Manfred Prisching (2018). Auch die Autoren dieses Bandes nehmen zum Teil unterschiedliche Perspektiven ein, wenn sie Gegenwart beschreiben: sektorale (Soziales, Verkehr, Finanzielles), politische (eher konservativ, eher links), räumliche (Stadtquartiersgesellschaft bis Weltgesellschaft) und zeitliche (historisch ableitend bis weit in die Zukunft schauend). Dennoch eint sie ein unbedingter Erkenntniswille: Was ist neu an der Gegenwart, was sind wiederkehrende historische Muster? Tragen diese Muster bei der Beschreibung von Zukünften bei? Geben sie Orientierung für verantwortungsvolles Gestalten von Zukunft? Wo ist neues Denken nötig? Was sind die Herausforderungen? Wer ist herausgefordert? Das sind einige Fragen dieses Buches und sie führen in ein wissenschaftliches Terrain, das zwischen der Domäne der gegenwartsbezogenen, zeitdiagnostischen Sozialwissenschaften, den Geschichtswissenschaften, die sich nur schüchtern über die Epochenschwelle von 1989 hinauswagen, und den Zukunftswissenschaften liegt, die gar nicht so selten kaum mehr als futuristische Spekulationen sind. Die Beiträge dieses Bandes versuchen solche Eindimensionalität zu vermeiden und das „Niemandsland“ (Rödder 2015) zu vermessen und zu erkunden. Historische, zeitdiagnostische und zukunftsorientierte Ansätze treten in einen Diskurs; historisch argumentierende und zukunftsoffene Zeitdiagnostiker treffen auf ebensolche Zeitgeschichtler und Zukunftswissenschaftler. Alle finden sich in diesem Band. Komplexität und Unlesbarkeit der Gegenwart sowie die gegenwärtig besonders verbreitete Unsicherheit über Zukünfte haben zwei unterschiedliche Lesarten hervorgebracht. Die historische Sichtweise neigt dazu, nichts Neues unter der Sonne zu erkennen, weil wohl irgendwie alles schon einmal da gewesen sei. Feuilletonisten und Gegenwartswissenschaften dagegen verstehen die Gegenwart mit Vorliebe als radikalen Bruch mit der Vergangenheit. Nonchalance, vielleicht auch Souveränität im Umgang mit Ungewissem, sind mögliche Ergebnisse im einen Fall, Alarmismus bis hin zur Hysterie und Verschwörungstheorien, vielleicht aber auch engagiertes Neudenken im anderen (Rödder 2015, S. 381). Zukunftswissenschaften und Geschichtswissenschaften haben seit jeher ein ebenso prekäres Verhältnis zueinander wie Historiker und Gegenwartswissenschaftler. Wer über verantwortliche Zukunftsgestaltung reden will, sollte diese akademischen Fallen umgehen. Insofern soll zunächst der Blick historisch geweitet werden, um geschichtliche Halte- oder Referenzpunkte ausfindig zu machen, die Orientierung ermöglichen. Denn wenn so gut wie alle Zeitdiagnosen eine massive Umbruchsituation in der Gegenwart konstatieren, während zahlreiche historisch argumentierende Wissenschaftler eher Kontinuität sehen, muss ermittelt werden, was umgebrochen wird, wenn etwas umgebrochen wird, und wohin Um-, Ab- oder Aufbruch tendieren. Als „Zeitenwende“ charakterisieren 15
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Friedman und Welzer (2020) die Gegenwart und beklagen damit einen „Angriff auf Demokratie und Menschenwürde“. Wer aber heute eine ‚Zeitenwende‘ ausruft, sollte Zeiten in Erinnerung rufen, die mit dem gleichen Prädikat versehen wurden und werden, um aus diesem Vergleich mögliche Schlüsse zu ziehen. Denn als Teilnehmer des gegenwärtigen Geschehens sind wir keine besonders geeigneten Beobachter und erst recht keine unbestritten legitimierten historischen Analysten. Welche Bedeutung diese ‚Zeitenwende‘ für die Gestaltung der Zukunft hat, wird durch historische Fluchtpunkte erkennbar, jene Momente, auf die sich spätere Ereignisse zurückführen lassen und die Resonanz für die Zukunft auslösen. Dabei ist Vorsicht angebracht, alte Erfahrungen auf heute zu übertragen. Weder wiederholt sich Geschichte noch darf sie instrumentalisiert werden. Ein erster Fluchtpunkt ist eine ganz besondere Zeit: die Zeit vor 100 Jahren, die Welt um 1920, als die Welt 2.0 entstand (Rödder 2015, S. 389), als die Zeit der akuten Beschleunigung und der grundlegenden Verunsicherung erlebt wurde. Die Spanische Grippe von 1918/19 war im Abklingen. Mehr als 50 Millionen Menschen waren an ihr gestorben, einer von ihnen wohl Max Weber, der große Soziologe des Krisenhaften; zwei Jahre nach einem Krieg, der als Zivilisationsbruch in die Geschichte eingegangen ist und zur traumatischen Massenerfahrung wurde. Die Spanische Grippe hatte jeden dritten Erdbewohner infiziert und hinterließ mehr Tote als der Erste und Zweite Weltkrieg (Spinney 2020). Das Jahr 1920 war ein bewegtes, ein Jahr, in dem vieles in Bewegung und noch nichts entschieden war. Rödder erblickt in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts eine ungeheure Aktualität. Nullpunkt nennt er jene Zeit. 1920 – Am Nullpunkt des Sinns heißt eine weitere Epochenschilderung (Martynkewicz 2019). In wenigen Jahren entstanden eine entfaltete Industriegesellschaft, ein nationenübergreifender organisierter Kapitalismus, eine Massendemokratie und eine urbane Massenkultur. Die Berliner 20er-Jahre waren ihr Schaufenster (Reckwitz 2020). Wenig wird von den Zeitdiagnostikern jenes Jahres ausgelassen, was nicht auch heute in der politischen Weltlage präsent ist und uns bewegt. In der Welt von 1920 sind Gewissheiten verschwunden, Orientierungen haben sich aufgelöst. Katastrophenahnung macht sich breit. Katastrophen hielten Freud, Brecht, Döblin, Jünger und Spengler nicht nur für möglich, sondern für wahrscheinlich. Musil beklagt das „hilflose Europa“ und „Das Leben, das uns umfängt, ist ohne Ordnungsbegriffe“(1922 S. 1075). Für Tucholsky ist die Welt in Bewegung, „es rumort in der Tiefe, und der Boden schwankt leise“.(1920 S. 288) Es gibt keinen, der lenkt, keinen, der steuert. Allenthalben entsteht Wut, hinter der sich der Wunsch nach Vereinfachung, nach Klarheit und, in Bezug auf das Politische, nach Entscheidung und Führung verbirgt. Massensuggestion wird zum zentralen Topos der Weimarer Republik. Als Referenzzeitraum taugt das Jahr, das heute 100 Jahre zurückliegt, gleichwohl nur bedingt: Damals erfolgte eine Abwendung der politischen, militärischen, wirtschaftlichen und juristischen Eliten – jedenfalls in ihrer Mehrheit – von der parlamentarischen Demokratie. Das ist heute gänzlich anders. Zudem gelangt heute ein globales und anthropozänes, ein völlig anders auf Wissen und Kommunikation basierendes, digitales Zeitalter mit weltweit wachsender Bevölkerung, globaler Kommunikation und planetarischer Gefährdung ins
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kollektive Bewusstsein, was in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts kaum der Fall sein konnte. Der Blick 100 Jahre zurück ist als Warnung vor illiberalen, antidemokratischen oder autoritären Erscheinungen konstruktiv. Für die Konstruktion von gegenwärtig absehbarer Zukunft hilft der Blick jedoch wenig. Ein anderer Referenzzeitraum könnte die ‚Zeitenwende‘ vor vier Dekaden sein. Die 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts mit dem vorlaufenden Datum 1979 gelten als jene Zeit, in der Prämissen der klassischen Moderne infrage gestellt und die Kräfte freigesetzt wurden, aus denen die Welt 3.0 hervorging. Zeitenwende 1979 nennt Franz Bösch seine historische Untersuchung: „Als die Welt von heute begann“ (2019). Ende der 70er- bzw. Anfang der 80er-Jahre beginnt die multipolare Welt von heute (Leggewie 2009). David Harvey spricht von einem „revolutionären Wendepunkt in der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Welt“ (Harvey 2005, S. 1). Peter Sloterdijk bezeichnet 1979 „aus heutiger Sicht als das Schlüsseldatum des 20. Jahrhunderts“ aufgrund des Eintritts des Neoliberalismus, Islamismus und Post-Kommunismus mit Blick auf China, Polen und Afghanistan (2006). Die frühen 80erJahre sind im Übrigen jene Zeit, in welcher der Widmungsträger dieses Buches, Christoph Zöpel, die größere politische Bühne betritt und in Nordrhein-Westfalen sowie weit darüber hinaus Weichen stellt, die bis heute Geltung haben und in die Zukunft wirken. Zahlreiche Autoren dieses Buches beleuchten diesen Zusammenhang. Dabei wird deutlich, dass drei von vier maßgeblichen Dimensionen der gegenwärtigen Epochenschwelle damals von Zöpel bereits – zum Teil gegen den Zeitgeist – thematisiert wurden: die Postindustrialisierung der westlichen Ökonomie, also die Umwälzung der Erwerbstätigkeit und der Wertschöpfung in Richtung Wissens- und Dienstleistungsökonomie, die Globalisierung als Verbreitung internationaler Produktionsnetzwerke und Intensivierung von Migration und schließlich die sozialen Ungleichheiten und ungerechten Chancen in der Weltgesellschaft. Die vierte Dimension, die Digitalisierung, war in den 80er-Jahren mehr erahn- als konkret erwartbar. Neben technologischen Forschungsergebnissen – Computer, Smartphone, KI, Bio-, Gen- und Medizintechnologie – unterscheidet sich die heutige globale Entwicklung von der Zeit um 1980 vor allem aber auch durch die weltweit zu beobachtende Verstädterung in einer Welt, die auf neun Milliarden Menschen zusteuert. Die langfristige Zukunftsfähigkeit der Menschheit ist untrennbar mit dem Schicksal unserer Städte verbunden: Energieverbrauch, Umweltbelastung, Wasser, Gesundheit, Wohnen, Verkehr und Solidarität. Michelle Müntefering weist auf diese Phase der planetarischen Entwicklung hin, die Geoffrey West „Urbanozän“ nennt (2019). Dabei ist keine dieser Chancen und Gefahren neu. Sie begannen bereits mit den Anfängen der industriellen Revolution. Wachstum, Wohlstand, aber auch Beschleunigung und Intensität der Risiken sind es, die diese ‚urbane Epoche‘ charakterisieren. Vor vier Dekaden waren die mit der globalen Verstädterung verbundenen Gefahren (langfristige Veränderungen der Umwelt, Gesundheit, Erderwärmung, Endlichkeit der Vorräte an Energie und Wasser) eher Experten als einer breiten Bevölkerungsmehrheit bekannt oder bewusst. Das ist heute anders. Das Bewusstsein von Licht- und Schattenseiten des „Urbanozäns“ ist weit verbreitet, ja, es bestimmt den gesellschaftlichen Diskurs dieser Tage auch jenseits wissenschaftlicher Forschung.
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West (2019, S. 223) fragt, ob es heute eine „Städtewissenschaft“ geben könne, also einen konzeptionellen Ansatz, der es erlaubt, Dynamik, Wachstum und Entwicklung von Städten zu verstehen und dieses Verständnis für die Gestaltung von Zukunft nutzbar zu machen. Dazu gibt es gerade an den Hochschulen Nordrhein-Westfalens vielversprechende Ansätze. Eine transdisziplinäre „Städtewissenschaft“, also ein integratives methodisches Vorgehen, das wissenschaftliches Wissen über Städte, Urbanität und Landschaft mit praktischem Wissen einer Stadtentwicklung verbindet, gab es in Ansätzen bereits im NRW-Ministerium für Stadtentwicklung der 80er- und 90er-Jahre etwa mit dem Konzept der erhaltenden Stadterneuerung, den Forschungen des Instituts für Landes- und Stadtentwicklung NRW oder dem Forum Zukunft, worauf einige Autoren hinweisen. In seiner Eröffnungsrede anlässlich des XXI. Weltkongresses Stadt – Natur – Zukunft der Internationalen Föderation der Landschaftsarchitekten IFLA am 31. August 1983 hat Zöpel dazu wesentliche begriffliche, analytische und programmatische Aussagen formuliert.
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Zukunftskunst: Wissen, Kommunikation und Lernen
Bei aller gebotenen Zurückhaltung: Das 21. Jahrhundert verspricht ein weiteres Jahrhundert des massiven Umbruchs der Menschheitsgeschichte zu werden. Welcher Art dieser Umbruch sein wird, wird unterschiedlich beschrieben. Zwischen etwa Hararis Szenarien (2018) – neue Technologien verleihen gottgleiche Fähigkeiten, es wird eine neue Stufe der Evolution geben – und Bloms (2020) zitierten fast apokalyptischen Ausruf – „Wir führen einen Krieg gegen die Zukunft!“ – liegen Welten. Einen human-aufgeklärten Weg der Zukunftsgestaltung zu finden, ist die Aufgabe der Gegenwart. „Zukunftskunst“ nennt Uwe Schneidewind (2018), langjähriger Präsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt und Energie, die mehrdimensionale Fähigkeit, technologische, ökologische, ökonomische, soziale, institutionelle und kulturelle Umbruchprozesse zu gestalten. Zur Zukunftskunst gehört, die Werte von Aufklärung, nachhaltiger Entwicklung und Humanität in verbindliche institutionalisierte Regelsysteme zu übersetzen. Wissen, Kommunizieren und Lernen erweisen sich dabei als bedeutende Elemente. In Zeiten von Corona gibt es dafür gute Chancen. Wir lernen derzeit mehr über den Zustand unserer Gesellschaft als über die Pandemie, vor allem aber über Komplexität und stoßen dabei immer auf die Diskrepanz zwischen der zunehmenden Komplexität aller Verhältnisse und unserer Fähigkeit, ihr wirksam zu begegnen. Offensichtlich muss in unserer Gegenwart und absehbaren Zukunft gelernt werden, global wie national, von Unternehmen und Verbrauchern. Von Ernst Ulrich von Weizsäcker stammt die Behauptung: „Wir verfügen über genügend Wissen, die erforderlichen Veränderungen für den Erhalt der Welt zu schaffen“ (2017). Jürgen Habermas auf der anderen Seite sagte: „So viel Wissen über unser Nichtwissen und über den Zwang, unter Unsicherheit handeln und leben zu müssen, gab es noch nie“ (Schwering 2020). Wenn sogar über die tatsächliche Verfügbarkeit von Wissen, die Dimensionen von Komplexi-
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tät und das Ausmaß des Zwangs, unter Unsicherheit handeln zu müssen, Unwissen und Unsicherheit besteht, was heißt dann ‚Lernen‘? Offensichtlich haben wir eine Überdosis Weltgeschehen und ungekannte Komplexität, aber wir haben Defizite, so zu handeln, wie es erforderlich ist, auch wenn wir in Unsicherheit handeln müssen. „Doch wir taten nicht, was wir wussten“ (Kreibich), ist die eine Seite der Medaille. Die andere: Das Treffen guter Entscheidungen unter Bedingungen von Unsicherheit kann und muss gelernt werden. Der Schlüssel einer gelingenden Zukunftskunst liegt daher offensichtlich im Übergang von Wissensproduktion und Wissensverwertung. Traditionelles Lernen ist, folgt man dem zweiten Bericht des Club of Rome, ein Lernen nach dem Schock. Dieses Lernen ist allerdings erstens teuer erkauft und zweitens meistens nicht von Dauer. Ein anderes kollektives Lernen ist geboten. Gerade in Pandemiezeiten wird deutlich, dass neben das Lernen aus Erfahrung und das Lernen mithilfe von Zukunftsszenarien ein Drittes hinzutreten muss: ein Lernen ‚in Echtzeit‘. Für das Lernen aus Erfahrung stehen ganze Wissenschaften und Akademien zur Verfügung, für Zukunftsszenarien schon deutlich weniger, aber immerhin gibt es seriöse anspruchsvolle und professionelle Institute, deren wissenschaftlicher Gegenstand die Zukunft ist. Für beide Lernapproaches gilt: Sie ermöglichen Lernen auf Vorrat und proaktives Handeln. Erfahrungen und Zukunftsprojektionen können genutzt werden, sich professionell auf potenzielle Entscheidungsnotwendigkeiten in der Zukunft einzustellen. Dazu dienen Szenarien, also nicht Prognosen, die einen Zukunftsverlauf exakt angeben wollen. Es geht um die Planung von Sicherheit unter Bedingungen kalkulierter Unsicherheit: Preparedness, um die Planung des nur begrenzt Planbaren. Anders in unvorhersehbaren, akuten Krisensituationen: Hier können die zur Entscheidung berufenen Institutionen und Gremien kaum auf eingespielte Verfahren der qualitativen und fachlich unbestrittenen Beratung durch Wissenschaften zurückgreifen, eher noch auf einzelne Wissenschaftler mit Reputation, was den streitigen wissenschaftlichen Diskurs in der ‚Szene‘ in der Regel allerdings eher noch anfacht, als ihn zum Konsens zu führen. Dies erleben die Gesellschaften gegenwärtig. Eine weitere Steigerung dieser Komplexität liegt in der Globalität von Entscheidungszusammenhängen. Wir leben nicht mehr in traditionellen, nationalen „border power containern“ (Giddens 2001, S. 88). Unsere global vernetzte Welt mit ihrer großen Mobilität und vielfältigen Verflechtungen benötigt andere Formen des institutionellen Lernens: globales Lernen. Dies bedeutet ohne Zweifel die Notwendigkeit, global wirksame Institutionen nachhaltig zu stärken, nicht zuletzt in akuten Krisensituationen. In akuten, eruptiven und unvermittelten Situationen, also in extremer Unsicherheit klug, ohne Verzug und verantwortungsvoll lernen zu lernen und in der Abwägung zwischen ungewissen Risiken kompetent und glaubwürdig entscheiden zu lernen, ist vielleicht die größte globale Herausforderung. Schon auf lokaler und regionaler Ebene ist ein ‚Just-in-time-Lernen‘ schwierig genug. Um wie viel schwerer ist es, in der globalen Politik bei ungleich komplexeren Gemengelagen von Interessen und viel weniger überschaubaren Datenlagen ‚in Unsicherheit‘ und unter Zeitnot entscheiden zu müssen. Klaus Töpfer und Klaus-Jürgen Scherer (unter Bezug auf Christoph Zöpel) beziehen sich in ihren Beiträgen auf diesen ungewöhnlich herausfor19
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dernden Befund. Was können wir lernen, ohne uns zu überfordern, und was müssen wir uns an Lernfähigkeit zumuten, um Zukunft gestalten zu können? Im Folgenden soll in wenigen Skizzen die Quintessenz jener Beiträge dargelegt werden, die sich mit Notwendigkeit, Formen und Inhalten kollektiven Lernens für die Gestaltung der Zukunft befassen:
5.1
Staat und Politik
• Planetarisches Denken muss gelernt werden. Die populistische Rückkehr zum Nationalstaat kann nur ein temporärer Rückschritt sein, die Menschheit ist im 21. Jahrhundert mehr denn je zur globalen Kooperation gezwungen. Eine Weltgesellschaft, die auf neun Milliarden Menschen zustrebt, benötigt globales Bewusstsein (Zöpel 2008; Emmott 2013). Das Ignorieren der sozialen Dimension des globalen Wandels ist neben den geopolitisch-militärischen Risiken dabei vielleicht der gefährlichste Blindfleck (Sen 2017), was zuletzt auch die Enzyklika „Fratelli Tutti“ überzeugend darlegt. • In der Krise wird erkennbar, dass eine Neujustierung der Aufgaben von Staatlichkeit unabdingbar ist. Nach dem Wandel des Wohlfahrtsstaats zum Wettbewerbsstaat geht es heute und in Zukunft darum, einen handlungsfähigen Staat zu erhalten bzw. zu schaffen, der die Qualität der öffentlichen Güter und Einrichtungen – Gesundheit, Bildung, Wohnen, Energie, Verkehr – sichert. Vieles deutet darauf hin, dass ein neuer Strukturwandel der Staatlichkeit ansteht, dessen weitere zentrale Aufgaben Prävention und Katastrophenmanagement sind. Dies ist ein resilienter Staat, der vordenkt und vorsorgt gegenüber Risiken, Gefährdungen und nicht auszuschließenden Katastrophen. Die von der gegenwärtigen Pandemie ausgelöste Krise kann helfen, staatliche Garantien für Infrastruktur, Bildung, Gesundheit und überhaupt Daseinsvorsorge mit mehr Reputation und mehr Legitimität zu versehen. • Ein einiges und institutionell starkes Europa mit europäischer Solidarität und der Fähigkeit, Europa auch räumlich groß zu denken, ist Voraussetzung nicht nur für Wohlstand, sondern auch für die Verteidigung europäischer Werte wie Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte. Die Wiederaufbaufonds der EU werden maßgeblich mit darüber entscheiden, ob Europa in der Lage ist, eine gemeinsame und leistungsfähige Wirtschafts- und Sozialpolitik zu betreiben und mit ihr eine ökologisch nachhaltige und eine zugleich eine global wettbewerbsfähige Strategie zu verfolgen (Achim Post). • Das kollektive Entscheiden ist das Herz des Politischen. Der Umfang und der Grad staatlicher Entscheidungsfähigkeit zeigen an, welche Bedeutung dem Politischen als genuinen sozialen Raum noch zukommt. Vor allem muss der Beschädigung der Öffentlichkeit als desjenigen Forums, auf dem Kontroversen ausgetragen werden, entgegengewirkt werden. Entparlamentarisierung, mediale Parallelforen, Auslagerung von faktischen Entscheidungsprozessen, Alternativlosigkeit und Lobbyismus zerstören Öffentlichkeit. • Politisches Bewusstsein in Deutschland sollte sich selbstbewusst der Geschichte seiner Vereinigung stellen: ein Erfolg (kritisch dazu: Ther 2019)! Die Geschichte der Vereini-
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gung ist eine gemeinsame Geschichte von Ost und West. Diese Geschichte weist in die Zukunft. Sie kommt nicht an ihr Ende (Wolfgang Thierse). Mut zu großen historischen Erzählungen ist gefordert. Er kann den Sinn von Politik als freiheitliche und solidarische Gestaltung von Zukunft vermitteln helfen und damit etwas von der Schönheit von Politik begreifbar machen (Karsten Rudolph, Harald Welzer). Aufgeklärtes Denken ist gefordert, auf der Grundlage wissenschaftlichen Wissens kollektiv überzeugende narrative Weltzugänge zu ermöglichen. Eine funktionierende Demokratie bedarf der „komplementären Rationalitätsanforderungen von Faktizität und Narrativität“ (Münkler 2019). Volksparteien sind berufen, gesellschaftliche Konflikte aufzugreifen und zu guten, tragbaren Kompromissen zu führen (Thomas Meyer, Kurt Biedenkopf, Svenja Schulze, Norbert Lammert). Getragen werden sollte dieser Prozess von Werten einer erneuerten sozialen, ökologischen und demokratischen Zukunftspolitik. Wissenschaft und Politik sollten angesichts der Komplexität von Entscheidungen auf eine neue Ebene der Verbindung zueinander gehoben werden, wobei Logik, Codes und Ethos beider Systeme zu achten sind. Das Ergebnis könnte eine strategische Zukunftsgestaltung durch professionelle wissenschaftliche Politikberatung sein – jenseits von Lobbyismus, Klüngel, Auftragsgutachten und „Hinterzimmer“-Beratungen (Rolf G. Heinze). Zivilgesellschaftliche Impulse können zur gesellschaftlichen Zukunftsfähigkeit beitragen, indem sie die natur- und technikwissenschaftlich geprägten Zukunftsdebatten ‚erden‘, Zeit zur Reflexion schaffen, schwächeren Bevölkerungskreisen Gehör verschaffen sowie Beratungs- und Entscheidungsprozesse für weite Bevölkerungskreise öffnen (Roland Roth). Whistleblower spielen in demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnungen eine unzureichend definierte Rolle, die, wenn sie weiter gesetzlich ungeregelt ist, außerordentlich prekär ist. Der gesetzliche Schutz von Whistleblowern ist ebenso erforderlich wie das Aufzeigen der Grenzen, um Missbrauch zu vermeiden (Annegret Falter). Die Digitalisierung aller Lebensbereiche ist in vollem Gange. Deutschland ist nach allgemeiner Einschätzung kein digitaler Spitzenreiter. Auch hier hat die Pandemie Erkenntnisgewinne gebracht, was die Ausstattung etwa von Schulen, die infrastrukturelle Anbindung des eher ländlichen Raums oder die eingeschränkten Möglichkeiten von Homeoffice und Videokonferenzen betrifft (Norbert Kersting und David Graubner, Helmut Wollmann, Verena Friederike Hasel). Klärungen über Zuständigkeiten und Finanzierung sind erforderlich, noch mehr aber eine Verständigung über die Notwendigkeit des instrumentell-technischen Ausbaus bei gleichzeitigem Konsens darüber, dass unmittelbar-physische Kontakte sozial lebensnotwendig sind und durch technische Kommunikation nicht ersetzt werden können (Jürgen Rüttgers). Nassehi (2019, S. 12) bezeichnet die Digitalisierung als jene Kulturerscheinung, die vielleicht nur mit den beiden großen Erfindungen des Buchdrucks und der Dampfmaschine vergleichbar ist. Das föderal organisierte Staatswesen mit kommunaler Selbstverwaltung ist ein zivilisatorischer Fortschritt, den es zu verteidigen gilt (Hellmut Wollmann). Zentralistisch organisierte Systeme sind eindeutig krisenanfälliger. Sie warten auf ein Signal von der 21
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Spitze. Hingegen garantiert die Schwarmintelligenz föderaler Strukturen bessere Ergebnisse. Durchregieren hat noch nie gesellschaftlich gute Ergebnisse erbracht. Konkrete ‚heimische‘ Erfahrungs-, Freiheits-, Labor- und Experimentierräume müssen geschützt, kleine dezentrale lokale Einheiten gestärkt und föderale Lernsysteme vitalisiert werden. Dazu gehört zwingend eine kommunale Finanzausstattung durch einen Stärkungspakt der Stadtfinanzen, um die Haushaltsverschuldung zahlreicher Kommunen zu beseitigen (Norbert Kersting).
5.2
Stadt
Zwei umfangreiche Kapitel befassen sich mit der Stadt: das erste mit Stadtentwicklung, Stadtverkehr, Stadtkultur und Landschaft im Allgemeinen, das zweite mit der ‚Stadt‘ Ruhr im Besonderen. Stadtentwicklung, Städtebau, Wohnen, Denkmalschutz und Stadtverkehr zählen mindestens seit 1980 zu Christoph Zöpels zentralen Wirkungsfeldern, worauf zahlreiche Autoren rekurrieren. Die Agglomeration Ruhr spielt dabei gewiss keine Nebenrolle. Zur Zukunft von Ruhr äußert sich ebenfalls eine Reihe kompetenter Verfasser aus Politik und Wissenschaft. Die Pandemie hat auch hier eine katalytische Wirkung. Stärken und Schwächen der Stadt, also Zeitdiagnose, und Herausforderungen an die Stadt, also Ansprüche und Erwartungen an ihre Zukunft, werden offengelegt. Epidemiologie und Stadtplanung sind historisch schon immer eng miteinander verknüpft. Heute geht es allerdings nicht einmal in erster Linie um die Frage, wie sich Städte entwickeln können und sollen, um mit Blick auf künftige Pandemien zukunftsfähiger und resilienter zu werden. Dies wird auch zu diskutieren sein. Viel grundsätzlicher zeigen sich die Zukunftsherausforderungen der Stadt in dieser Zeit der Unsicherheit wie in einem Brennglas: • Die Stadt wird eine andere. Das Arbeiten zu Hause funktioniert gar nicht einmal so schlecht. Noch arbeitet jeder Zehnte der 32 Millionen Bürobeschäftigten in Deutschland mehr oder weniger regelmäßig zu Hause. Dieser Wert könnte sich vervielfachen. Vor allem für die ständig steigende Zahl an ‚Wissensarbeitern‘ wird es eine massive und dauerhafte Änderung der Arbeitskultur geben. Apps mit Konferenzprogrammen können langfristig einen ähnlichen Effekt auf den Bedarf an Büroflächen haben, wie ihn Onlinebestellungen auf den Einzelhandel haben. Ganze Bürotrakte sind heute schon mehr oder weniger verwaist. Die Masse an Büroagglomerationen und die bisherige Art und Intensität der städtischen Mobilität könnten tendenziell Auslaufmodelle werden; Parkhäuser, Parkplätze, viele Straßen könnten die neuen Ruinen und Brachen werden. Und immer noch werden gewerbliche Einheitsarchitekturen am Fließband produziert für Bedarfe, die es in Zukunft immer weniger geben wird; wird eine Autoinfrastruktur immer weiter ausgebaut, wo doch eher wieder öffentliche Räume, Platz für Kinder und Raum für Radfahrer und Fußgänger benötigt werden (Wuppertal Institut 2020).
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• Der öffentliche Raum kann und muss insgesamt neu gedacht werden. Wie, warum und unter welchen Bedingungen erfolgt künftig Crowd Culture, wenn sich die Angebote der Museen, der Konzerthallen, der Kinos und Clubs verändern und wenn die Zentren kaum mehr werden als eine Summe austauschbarer Einzelhandelsketten, weil sich viele kleine und mittelgroße Geschäfte angesichts der Onlinekonkurrenz und hoher Mieten nicht halten können? • Die Innenstadt der Zukunft darf nicht allein Einkaufsort sein. Sie kann viel multifunktionaler werden. Sie muss Arbeits-, Wohn-, Begegnungs-, Lern-, Spiel-, Betreuungs-, Logistik-, Gastronomie- und Einkaufsmöglichkeiten in kluger Weise miteinander kombinieren. Eine Möglichkeit hierbei stellt die multiple Nutzung von Flächen und Räumlichkeiten dar. Ein Grundstücks- oder Bodenfonds kann die öffentliche Einflussnahme auf den innerstädtischen Grundstücksverkehr verbessern. • Wie stark unsere Städte inzwischen Dienstleistungsstädte geworden sind, wird offenkundig. Eine Funktionstrennung von Arbeiten und Wohnen wirkt ganz und gar anachronistisch. Moderne Produktionsverfahren bieten die Chance, auch Fertigungsprozesse wieder in die Stadt zu holen, weil sie mit kleineren, sauberen und geräuscharmen Produktionsanlagen arbeiten. • Wie wenig traditionelle Stadtplanung, Wohnungsbau und Architektur zu den neuen Familienformen und neuen gesellschaftlichen Gemeinschaftsformen, zu Homeoffice und Homeschooling passen, erlebt die städtische Gesellschaft täglich. • Ausnahmezustände demonstrieren in besonderer Weise den Unterschied, ob man mit Kindern in einer kleinen Wohnung ohne Grünflächen und Spielraum lebt oder in größeren Wohnungen mit Garten. Wohnnahe Grünflächen können das Leben erträglicher machen, deren Fehlen zur Qual. • Landschaft wird integraler Bestandteil urbanen Lebens und urbaner Siedlungsstruktur werden müssen. Proportional zur Automatisierung und Digitalisierung steigt das Naturbedürfnis. Der Primat der ein wenig begrünten Stadt, die sich von Landschaft außen vor absetzt, ist an sein Ende gekommen (Andreas Kipar). • Hans-Jochen Vogel (2019) klagt seit Jahrzehnten mit Vehemenz eine neue Bodenordnung ein, um Wohnen wieder bezahlbar zu machen. Klaus Bussfeld ordnet diese Forderung in den Kanon notwendiger wohnungspolitischer Imperative ein. Städtische Gesundheits-, Sozial-, Umwelt- und Grünflächenpolitik sollten künftig noch stärker zusammen gedacht und auch institutionell in Stadtverwaltungen noch enger aufeinander bezogen werden. • Das Hygieneversprechen der industrialisierten funktionsgetrennten und autogerechten Stadt ist längst zu einer Gesundheitsbedrohung für Menschen und Überforderung des Systems Stadt verkommen. Die Folgekosten von Hypermobilität und immer weiter ausfransenden Städten sind weder sozial, ökologisch noch ökonomisch verantwortbar. Dichte kann ebenso neu gedacht werden wie Mobilität. Dichte kann soziale Urbanität ermöglichen, wenn sie nicht technische Verdichtung ist, sondern Nähe ermöglicht. Gleichermaßen kann Mobilität Freiheit versprechen, wenn sie mehr und anderes ist als ‚freie Fahrt für alle‘ oder autonomes Fahren, sondern eine intelligente Verknüpfung von Verkehrsmitteln (Heiner Monheim). 23
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• Vielfach drängt ein neues Denken in Richtung Smart City. Jürgen Rüttgers warnt in seinem Beitrag in diesem Band vor der rein instrumentellen Übernahme des Modells der ‚Silicon-Valley-Welt‘ und fordert einen „European way of life“, der auf die Grundfragen der sozialen Frage zurückführt. • Dass die Pandemie die vorhandene soziale Spaltung fast aller Städte mildern wird, prognostiziert niemand. Im Gegenteil: Die soziale Segregation dürfte eher zunehmen wie bei den großen Seuchen der Vergangenheit. Cholera und Typhus treffen wie Corona die Immun- und Einkommensschwächsten am stärksten. Die zu erwartenden gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen bei der Bewältigung der hohen Staatsverschuldung werden dazu beitragen, dass sich die Kluft zwischen Arm und Reich weiter vertieft, ebenso wie das im globalen Maßstab zu befürchten ist. Alles in allem: Es besteht heute die Chance, Stadt neu zu denken. Neu zu denken? Gedacht wird eine nachhaltige, humane und lebenswerte Stadt schon lange; sie wirkungsvoll zu realisieren, ist defizitär. Unter dem Titel Der Umzug der Menschheit. Die transformative Kraft der Städte (WBGU 2016) liefert der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung aus dem Jahr 2016 einen Kompass für die ‚Urbane Wende‘ zu einer nachhaltigen Entwicklung. Dessen Empfehlungen entsprechen in verblüffender Weise der Praxis der nordrhein-westfälischen Stadtentwicklungspolitik von vor drei bis vier Jahrzehnten: Mobilitätswende, lebenswerte Innenstädte mit hoher Natur- und Aufenthaltsqualität, Quartiersorientierung, soziale Durchmischung in den Städten, Stärkung des Fuß- und Radverkehrs, Zurückhaltung bei Hochhäusern, Transformation vorhandener Bausubstanz für neue Nutzungen, Kopplung von Arbeiten, Wohnen, Freizeit und Kultur, Stadtraum für alle … Der gegenwärtige Entwurf einer Novelle des NRW-Denkmalschutzgesetzes gefährdet in problematischer Weise einen der wichtigsten Grundpfeiler der Nachhaltigkeit: die Denkmalpflege und den Denkmalschutz. Nach dem ‚goldenen Zeitalter‘ der Denkmalpflege in NRW in den 80er- und 90er-Jahren könnten die 20er-Jahre dieses Jahrhunderts die Abbruchjahre der geschichtsbewussten erhaltenden Stadterneuerung werden. Das wäre das Gegenteil eines zeitgemäßen Lernens im Sinne nachhaltiger Politik.
5.3
Ruhr
Ein Sonderfall von Stadt ist Ruhr. Gleich, ob man sie als „Stadt der Städte“, als Metropole oder Agglomeration bezeichnet: Die hier lebenden fünf Millionen Einwohner sehen sich in einer Stadtlandschaft mit besonderer Urbanität. Deren Konstante ist der Wandel, sagt Stephan Holthoff-Pförtner; er zieht eine Linie von den Erfolgen von Universitätsgründungen, der IBA Emscher Park, der Ruhrtriennale und von Ruhr 2010 bis hin zum gegenwärtigen Konzept der Landesregierung: Ruhrkonferenz. Sämtliche Zukunftsherausforderungen in den Texten dieses Bandes, soweit sie sich auf Ruhr beziehen, verbinden – bei aller Unterschiedlichkeit der Erwartungen und Forderungen – Vergangenheit mit Zukunft:
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• Mit Nachdruck muss in Ruhr wieder auf die Ressourcen Mut und Fantasie gesetzt werden, in Anknüpfung an die Strategie der IBA Emscher Park (Walter Siebel, Gerd Seltmann, Theo Grütter). Überzeugende Bilder einer zukunftsweisenden Stadtlandschaft müssen entworfen oder weiterentwickelt werden, um gerade in Zeiten des Umbruchs – der mehr und anderes ist als Strukturwandel – die Macht der Vorstellungskraft zu wecken. Dafür ist es erforderlich, die größte deutsche Agglomeration auf eine internationale Bühne zu heben. In der IGA 2027 und in den Olympischen Spielen 2032 können wesentliche Perspektiven einer erfolgreichen Entwicklung liegen. • Die Handlungsfähigkeit von Ruhr hängt maßgeblich davon ab, ob die Ruhr-Kommunen von Altschulden entlastet und von der Finanzierungslast bundesrechtlich verordneter Soziallasten befreit werden (Frank Baranowski, Lars Holtkamp und Benjamin Garske). • Nötig ist eine konsequente Weiterführung der durchgreifenden Umgestaltung von Ruhr hin zu einer vorbildlichen Wissensregion (Jörg Bogumil, Franz Lehner). Dazu gehört eine im nationalen Maßstab angemessene und gerechte Ausstattung der Hochschulen in Ruhr mit Forschungsmitteln, Forschungsinstituten und Personal. • Mobilität muss mehr als bisher vernetzte Mobilität sein. Der Öffentliche Personennahverkehr muss deutlich verbessert werden. Radwege sind auszubauen. Eine durchgreifende Verkehrswende ist überfällig (Heiner Monheim). • Ein Quantensprung ist möglich: Alle städtebaulichen Strategien in Ruhr sollten auf die hier vorhandene chancenreiche polyzentrale Siedlungsstruktur aufsetzen. In der architektonischen und städtebaulichen Tradition der Ruhrbanität liegt eine ergiebige Inspirationsquelle für die Zukunft des Planens und Bauens (Christa Reicher). • Eine international wettbewerbsfähige Region mit dem Fokus der Nachhaltigkeit sollte das Ziel sein. Dies ist möglich nach dem Ende der schwerindustriellen Belastung des Raumes mit einer heutigen verantwortungsvollen nachhaltigen Flächennutzung, der beispiellosen Ressource Grünflächen und einer nicht-fossilen Energieversorgung (Franz Lehner). • Glanzstück der IBA Emscher Park war das „Jahrhundertprojekt“ des Emscher-Umbaus, das Roland Günter die bedeutendste Landschaftsgestaltung der Welt nennt (zitiert nach Stefan Klein, Emscher I, in diesem Band). • Nötig ist die Vollendung dieses Werkes im Sinne eines ökologischen Erinnerungsortes und einer Zukunftswerkstatt zugleich (Ulrich Paetzel, Stefan Klein). • Der IBA-Ansatz, Innovationen in nicht-innovativen Milieus zu organisieren, sollte fortgesetzt werden. Wenn die damals eingerichteten Rahmenbedingungen, vor allem eine zentrale Finanzierung und geeignete politisch-administrative Rahmensetzungen, geschaffen werden, können auch künftige Formate ähnlicher Art wichtige Innovationen hervorbringen (Walter Siebel). • Ein „New Deal Industriekultur“ sollte im Kontext der baukulturellen Geschichte von Ruhr – von der vorindustriellen bis hin zur Bauhaustradition – konzeptionell angegangen werden, um die in Ruhr prägenden baulichen Artefakte der schwerindustriellen Wirtschaft einschließlich der Ruhr-typischen Landschaft, der Siedlungsstruktur und der
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technischen Infrastruktur auf eine neue zukunftsweisende Bühne zu stellen (Wolfgang Sonne, Thomas Schleper).
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Wissenschaft
Der angstvolle Pausenmodus, den die Welt während Corona über sich verhängt hat, schafft Raum zum Nachdenken, zum Kommunizieren und zum Lernen. Wenn es gut läuft, führen diese auch über die Pandemie hinaus. Nachgedacht, kommuniziert und gelernt werden kann dann auch – und vorrangig – über Klima, Biodiversität, Demokratie, Menschenrechte und so manch andere Herausforderung heute – Herausforderungen auch und zuerst der Wissenschaft. Sie ist die Grundlage dafür, dass politisches Handeln reflexiv fundiert werden kann. Durch Dissense zwischen wissenschaftlichen Experten ist die überragende epistemische Bedeutung der Wissenschaft im Übrigen nicht gefährdet. Auch unterschiedliche wissenschaftliche Expertisen und irrtumsfreundliche, lernfähige Expertisen gehen als gewichtige Abwägungsgesichtspunkte in staatliche Entscheidungsprozesse ein. Im Gegenteil: Transparente wissenschaftliche Forschungen mit unterschiedlichen empirischen Befunden und unterschiedlichen politischen Empfehlungen bereichern die Prozesse der gesellschaftlichen Konsensbildung und der notwendigen kollektiv bindenden Entscheidungen. Voraussetzung dafür ist, dass das, was die Pandemieforschung gegenwärtig im Zusammenhang mit Covid-19 exerziert, nämlich Transparenz, Open Access und Open Data, genereller Maßstab wissenschaftlicher Forschung wird: transparente und offene inter- und intradisziplinäre Kooperation an Stelle der Individualisierung und Kommerzialisierung von Forschungsleistungen. Entscheidend ist, wie wissenschaftliche Erkenntnisse – auch divergente – in den Prozess der politischen Willensbildung und staatlichen Entscheidungen einfließen. Das Brennglas der Pandemie richtet seinen Strahl auf zum Teil eklatante Systembrüche zwischen Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Medien, wobei die diversen Logiken dieser Systeme aufeinanderprallen und zu Fehlinterpretationen führen können. Nahezu alle Krisen – der Kollaps der Finanzmärkte, die Eurokrise, die Flüchtlingskrise und erst recht die Klimakrise – sind von Experten vorausgesagt worden, ohne dass wirksame nationale oder internationale Präventionsmaßnahmen eingeleitet worden wären (Rolf Kreibich). Wissenschaftliche Erkenntnisse sind nicht oder nur unzureichend oder verspätet in politische Prozesse eingespeist worden. Das zu ändern scheint eine wesentliche Herausforderung zu sein: es nicht zum ‚Kontrollverlust‘ kommen zu lassen. Krisenresilienz ist gefordert. Alle Systeme müssen lernen, ‚auf Vorrat‘ zu denken. Für aufgeklärte, offene demokratische Gesellschaften überlebenswichtig sind Transparenz und wechselseitige Lernfähigkeit von Wissenserzeugung und Wissensnutzung. Gelernt werden muss in beiden Systemen, und gelernt werden muss im Verhältnis beider zueinander. Eine Brücke dazu kann ein engeres Zusammenwirken zwischen den modernen empirischen und technischen Wissenschaften mit den Geisteswissenschaften bilden.
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Die Kulturgüter Diskurs, Abwägung, Folgenabschätzung und Konsenssuche könnten in ihr Recht gesetzt werden und die Wissenslandschaft nicht nur demokratisieren, sondern auch qualitativ verbessern helfen. Während sich viele Disziplinen der Geistes- und Sozialwissenschaften darauf eingestellt haben, dass die Welt komplex ist, unsere Vorstellungen von ihr entsprechend komplex und die Kommunikationsmuster zwischen Wissenschaft und Politik ebenso komplex ausgestaltet sein sollten, scheinen die technikorientierten Wissenschaften noch in einem eindimensionalen „Wissenschaft-Technik-Industrie-Paradigma“ (Rolf Kreibich) gefangen zu sein. Sie suchen überwiegend weiterhin nach einfachen, universalen und zeitlosen Gesetzen, um ‚Fortschritt‘ zu ermöglichen. Aber komplexe Systeme – wie die Welt, in der wir leben – zeichnen sich nicht zuletzt durch Emergenz und Relationen aus: Was auf der Makroebene sichtbar wird, ist erst durch Wechselwirkungen zwischen den Elementen des Systems zu erklären (Mitchell 2008). Für die Zeit nach Corona kann und sollten die Wissenschaften eine Vorbild- und Taktgeberfunktion übernehmen, indem sie, was sie schon bisher auszeichnet, mit ihren Spitzenforscherinnen und Forschern internationale Netzwerke weiter ausbauen und stabilisieren. In dieser Verfassung sind sie gute Ratgeber bei der Gestaltung von Politik, die über nationale Grenzen hinauswirken will. Die Idealkonstellation der nationalen und internationalen wissenschaftlichen Politikberatung ist: Die Wissenschaft zeigt Handlungsoptionen auf, Akademien beraten das Für und Wider und die Politik entscheidet. Soweit die Theorie. Was aber, wenn beides unter Zeitdruck und bei unsicherer Faktenlage zusammenfällt? Wer zu kollektiv bindenden Entscheidungen legitimiert und verpflichtet ist – der Staat mit seinen Institutionen und alle suprastaatlichen Einrichtungen – kann nicht warten, bis empirische Daten eindeutig sind. Sie alle müssen entscheiden – in Unsicherheit und in ‚Echtzeit‘. Ein guter Ratgeber könnte dabei die Jugend sein: „Der Realitätsschock der Jugend ist offenkundig. Zum ersten Mal in der Geschichte kehrt sich das Weltverständnis der Generationen um. Während viele Erwachsene die Welt kaum verstehen, hat die Jugend ein erstaunlich präzises Gegenwartsgespür entwickelt und begreift im Schnitt früher, was los ist.“ (Lobo 2019, S. 369)
Die jüngere Generation besteht zum großen Teil aus ‚Echtzeit‘-Profis, eine Ressource, die genutzt werden sollte. Handeln in Echtzeit in Umbruchsituationen heißt auch, kommunale Labor- und Experimentierräume zu schaffen, die zu bisher und in den gängigen Entscheidungsprozessen nicht möglichen ‚Lockerungsübungen‘ aufrufen. Die IBA Emscher Park wird dafür immer wieder als Referenzmodell genannt (Walter Siebel, Gerd Seltmann). Dieses Format ermöglicht Unwahrscheinliches, nämlich versuchsweise zu formulieren, gegebenenfalls zu revidieren und ständiges Nachjustieren zu ermöglichen (perspektivischer Inkrementalismus). Ohne handlungsfähige und vitale Universitäten wird das System Wissenschaft seine Vorbild- und Taktgeberfunktion nicht erfüllen können. Die Digitalisierung konfrontiert 27
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die Hochschulen mit der Möglichkeit der Abweichung von sich selbst: Aus einer Präsenzuniversität wird tendenziell eine Abwesenheitsinstitution. Dies bedeutet eine Umstellung der Lehre auf digitale Formate, eine temporäre Aussetzung, jedenfalls Schwächung der Hochschuldemokratie und einen Formatwandel: aus dem Dialog im Seminar wird der Chat in Moodle. Damit verstärkt sich die ohnedies zunehmende Ausrichtung der universitären Kommunikation an Marktimperativen. Ohne die kritische, physisch-präsente Kommunikation am Ort Hochschule verliert die Gesellschaft an Innovations-, Widerstands- und Kreativitätskraft.
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Gebrauchsanweisung und Leitfaden
Wer das Anschaulich-Konkrete dem Abstrakten, dem eher Theoretischen vorzieht, und wer dem Speziellen und dem Besonderen mehr abgewinnen kann als dem Allgemeinen, dem Großen und Umfassend-Generellen, oder wer einfach Lust am unkonventionellen Lesen hat – lesen gegen den Strich: Der beginne dieses Buch bei seinen letzten Kapiteln, den konkreten und eher persönlichen Beiträgen. Er lese also von hinten her, beginne bei dem Widmungsträger Christoph Zöpel: Norbert Walter-Borjans erinnert an einen tatkräftigen Visionär; Uwe Knüpfer beschreibt den „letzten Preußen“; Anke Brunn fertigt eine Collage der politischen Begegnungen mit Zöpel, betrachtet sein Wirken über ein halbes Jahrhundert und formt das Bild eines außergewöhnlichen Politikers; Krysztof Kafka schlägt eine Brücke zwischen der TU Gliwice – dem Geburtsort Zöpels – und der TU Dortmund, an der Zöpel lehrt, und somit zwischen den postindustriellen Agglomerationen Oberschlesien und Ruhrgebiet; Horst Gräf beschreibt den Integrator Zöpel, der staatliches Bauen und Stadtentwicklung zusammen dachte, nein: zusammen machte; und ehemalige Mitarbeiter Zöpels schließlich erinnern sich an einen besonderen Minister in einer besonderen Zeit. Der Leser begebe sich dann auf eine Zeit- und Raumreise über vier Jahrzehnte hinweg in die Gegenwart: von den anschaulich-konkreten Entscheidungen Zöpels vor allem in Ruhr – dem Jahrhundertprojekt Emscher, der Internationalen Bauausstellung Emscher Park, dem Welterbe Zollverein (eine Minimalauswahl) – und in ganz Nordrhein-Westfalen – der erhaltenden Stadterneuerung, dem Düsseldorfer Rheinufertunnel, der menschen- statt der autogerechten Stadt, der „goldenen Zeit des Denkmalschutzes“ (eine ebenso unvollkommene Auswahl). Diese Reise führt dann aus der Zeit der 80er-Jahre hinaus zu zeitdiagnostischen und ambitioniert zukunftsorientierten Beiträgen, die diesen Band einleiten, und sie führt zu Europa und zur Weltgesellschaft. Wer hingegen den Halt gebenden Rahmen liebt, der ihm die Einordnung konkreter Projekte, Planungen und Entscheidungen aus den letzten vier Dekaden erlaubt, der sei eingeladen, sich an allgemeineren zeitgenössischen Diagnosen, Zukunftserwartungen, Fragen, Maßstäben und Forderungen zu orientieren, die namhafte Wissenschaftler und Politiker zu Beginn dieses Bandes formulieren, adressiert an eine bessere Zukunft. Dieter Grunow offeriert eine umfassende Theorieperspektive für die Gestaltung der Zukunft
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einer funktional differenzierten Gesellschaft. Rolf Kreibich stellt die beiden Weltbilder der Science Society und der Sustainable Society gegenüber und formuliert Maßstäbe für eine nachhaltige Gesellschaft. Dies ist auch Thema des Beitrags von Harald Welzer, dieser postuliert nicht nur, sondern beschreibt auch einen Pfadwechsel hin zu einer nachhaltigen Lebenskunst. Beide Wege sind erlaubt, vom Anfang zum Ende dieses Buches – und umgekehrt. Die Wanderer auf beiden Wegen begegnen einander mehrfach: Sie begegnen einander, wenn bei der Gestaltung der Zukunft das Globale in den Blick gerät, die Weltgesellschaft. Unter dem Eindruck des von Corona verursachten merkwürdigen Pausenmodus denkt Klaus Töpfer über die Zukunft von Staat und Politik nach: Nachdenken über Stabilität, Resilienz und Perspektive der Gesellschaft in der offenen Demokratie. Klaus-Jürgen Scherer sieht Weltdemokratie als eine Gestaltungsaufgabe heute dringender denn je. Michelle Müntefering verknüpft das Lokale mit dem Globalen. Achim Post plädiert für ein starkes, souveränes und solidarisches Europa. Irena Lipowicz zieht als polnische Wissenschaftlerin in bewundernswertem Deutsch bemerkenswerte Parallelen zwischen Oberschlesien und Ruhr. Maram Tawil widmet sich der Migration in Amman: neue Perspektive in der Wahrnehmung heterogener Gemeinschaften in Jordanien. Friedrich Wolters schließlich berichtet über die Kooperation Nordrhein-Westfalens mit der russischen Föderation in den 80er- und 90er-Jahren in den historischen Stadtkernen im ‚Goldenen Ring‘ Russlands. Auch in der Konfrontation mit Herausforderungen der Zukunft treffen beide Wanderer aufeinander; Herausforderungen, die Entscheidungen der Gegenwart verlangen. Kurt Biedenkopf und Christoph Zöpel beschreiben in einem Interview unter Leitung von Martin Kessler die Herausforderungen, denen sich die Volksparteien gegenübersehen. Svenja Schulze definiert als die zentrale Aufgabe der Volksparteien die Gestaltung eines sozial-ökologischen Aufbruchs. Norbert Lammert sieht heute den Punkt erreicht, das Verhältnis des Sozialleistungssystems und der Wettbewerbsfähigkeit von Gesellschaft und Wirtschaft neu zu justieren – ebenfalls eine Aufgabe von Volksparteien. Die Wanderer begegnen einander bei der Analyse der Rolle von Staat, Politik und Zivilgesellschaft: Einen gelassen-leidenschaftlichen, vor allem freundlich-souveränen Blick richtet Wolfgang Thierse auf die Deutsche Wiedervereinigung, die er als einen „asymptotischen Prozess“ bezeichnet: Sie kommt nie an ihr Ende. Dann stehen Fragen von Bildung und Verwaltungskultur angesichts von Digitalisierung im Zentrum: Norbert Kersting und David Graubner mit der Digitalisierung im Allgemeinen, Hellmut Wollmann mit einem Fokus auf die Digitalisierung des schulischen Lehrens und Lernens, und Verena Hasel mit einem Kommentar vor dem Hintergrund neuseeländischer Erfahrungen. Smart City und der „European way of life“ nennt Jürgen Rüttgers sein Plädoyer gegen eine Gesellschaft der anonymen Daten, unüberschaubaren Algorithmen und anonymen Machtzentren à la Silicon Valley. Seine Forderung: den Prozess der Digitalisierung im Sinne einer Stadt zu beherrschen, die auch in Zukunft ein Reich der Freiheit sein soll. Den „Sinn von Politik“ ruft Karsten Rudolph in Erinnerung und plädiert für den Wiedereinzug von Ideen und Werten in die konkrete Politik, während Thomas Meyer die Zukunft der Demokratie mit dem Vermächtnis der Arbeiterbewegung verknüpft, deren Lehren in 29
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einer zeitgemäß erneuerten sozialen, ökologischen und demokratischen Zukunftspolitik bestehen sollten sowie in der Bereitschaft und Fähigkeit zu historischen Kompromissen in den neuen großen Konfliktlagen. Die Zivilgesellschaft rückt mit dem Beitrag von Roland Roth weiter in den Fokus. Deren positive Impulse für die gesellschaftliche Zukunftsfähigkeit erläutert er an exemplarischen Handlungs- und Konfliktfeldern. Annegret Falter analysiert ein besonders prekäres Feld von ziviler Haltung und Institutionen: den Schutz von Whistleblowern in Deutschland. Die Wucht der öffentlichen Meinung sei erforderlich, um Institutionen so richtig durchzuschütteln. Ebenfalls aus der Perspektive der Zivilgesellschaft beschreibt und kommentiert Göttrik Wewer das Modellprojekt „Open government“ zwischen bloßer Utopie und praktikablem Reformansatz. Wie kann die Zukunftskompetenz von Politik systematisch verbessert werden? Dieser Frage geht Rolf G. Heinze unter dem Gesichtspunkt wissenschaftlicher Politikberatung nach. Er analysiert Innovationsblockaden und erläutert ein Beispiel strategischer Zukunftsgestaltung: informelle Wohlfahrtsproduktion. Mit der Qualität staatlicher Entscheidungsfähigkeit auf kommunaler Ebene befassen sich Lars Holtkamp und Benjamin Garske unter dem Gesichtspunkt kommunaler Haushaltskonsolidierung und wagen einen Ausblick auf aktuelle Defizite von Kommunen als Folge des Corona-bedingten Lockdowns. Angel- und Knotenpunkt ist immer die Stadt. Hier bildet sich alles und spielt sich vieles ab. Hier entsteht Neues und hier werden Fehler hautnah erlebt. Klaus Bussfeld unternimmt eine kritische wohnungspolitische Betrachtung der letzten 40 Jahre. Er fordert ein rationales, langfristig angelegtes zielorientiertes Handeln, um Wohnungen wieder bezahlbar und Grund und Boden für die öffentlichen Hände wieder verfügbar zu machen. Auch Edda Müller sorgt sich um den gesellschaftlichen Zusammenhalt, wirbt für Transparenz und Partizipation und skizziert die Leitlinien einer „aktiven Politik“ vor allem für die sozial benachteiligte Stadtbevölkerung. Ullrich Sierau und Klaus Selle stimmen darin ein: „Ohne die Stadtgesellschaft geht es nicht.“ Im Mittelpunkt steht die Dortmunder Strategie „nordwärts“ für den sozialen Zusammenhalt in der Dortmunder Nordstadt. Thomas Geisel schwärmt von „Düsseldorfs schönstem Bauwerk“, dem Rheinufertunnel, und die durch ihn möglich gewordene prächtige Rheinuferpromenade, ein Projekt, das Christoph Zöpel initiiert hat. Heiner Monheim begibt sich auf eine kritische Spurensuche: Christoph Zöpel und die Verkehrspolitik. Seine Bilanz ist durchwachsen. Die Widerstände gegen eine humane Verkehrspolitik haben nicht alle Blütenträume reifen lassen. Wären die Chancen heute günstiger als vor 40 Jahren? Zwei innovative Ansätze haben die Landschaft im Blick. Birgitta Ringbeck umschreibt den landschaftskulturellen Kontext von Denkmalschutz und Denkmalpflege und öffnet damit eine zukunftsorientierte Perspektive für den Umgang mit historischen Stadtlandschaften, wofür sie in NRW den internationalen Vorreiter sieht. Landschaft und Stadt sind auch das Thema von Andreas Kipar. Er sieht Landschaft als „Grüne Infrastruktur“ im Städtebau der Zukunft. In die für 2027 in Ruhr geplante Internationale Gartenausstellung, die er in der Kontinuität der IBA Emscher Park sieht, setzt er große Hoffnung. Den Abschluss dieses Kapitels bildet ein Bericht von Dieter vom Rath über das ‚Experiment‘ des
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Baus des Klinikums Aachen. Das Experimentelle bestand in der zeitlichen Parallelität und wechselseitigen Abhängigkeit von Medizinforschung und baulichem Fortschritt. Diese Strategie war bereits vor dem Amtsantritt von Zöpel im neu geschaffenen Bauministeriums begonnen worden. Das Verfahren ist bis heute hoch umstritten. Stephan Holthoff-Pförtner schlägt einen Bogen von den Erfolgen von Universitätsgründungen, IBA Emscher Park, Ruhrtriennale und Ruhr 2010 bis hin zu den gegenwärtigen Konzepten der Landesregierung „Ruhrkonferenz“. Frank Baranowski fordert mehr Mut und fachliche Fantasie bei der Bewältigung der Herausforderungen der Zukunft, vor allem bei der Verbesserung der finanziellen Lage der Kommunen, bei Mobilität und Bildung. Hoffnung setzt auch er auf die IGA 2027 und auf Olympische Spiele 2032. Auf dem Weg zur ökologischen Wissensregion sieht Jörg Bogumil die Zukunft von Ruhr. Er registriert einen wirtschaftlichen Aufholprozess, nennt die Hochschulen die „Treiber der Stadtentwicklung“ und begrüßt das weitere Aufblühen der Kulturszene. „Heimat Ruhrgebiet?“ fragt Theo Grütter und versucht eine mentale Rekonstruktion des altindustriellen Ballungsraumes Ruhr. An beeindruckenden Beispielen macht er die tiefe Verankerung eines besonderen Heimatgefühls sichtbar. Was ist das Spezifische der Agglomeration Ruhr? Sie ist polyzentrisch strukturiert und hat damit neben spezifischen Problemen vor allem auch spezifische Chancen, die in einer spezifischen Urbanität gefasst werden können. „Ruhrbanität“ nennt Christa Reicher diese räumliche Eigenlogik und fordert nichts weniger als einen Quantensprung, der auf die polyzentrische Siedlungsstruktur und damit auf das Charakteristikum der Ruhrbanität als Ausgangspunkt aufsattelt. Eine „wirkliche Metropole Ruhr“ klagt wiederum Franz Lehner ein. Er plädiert für eine radikale, aber noch machbare Strategie zu einer international wettbewerbsstarken Region. Deren Urbanität müsse nach wie vor industriell geprägt sein, allerdings eine, die dem Leitbild einer nachhaltigen Wirtschaft verpflichtet ist. Die Internationale Bauausstellung Emscher Park gilt vielen Autoren als Referenzformat einer zukunftsweisenden Strategie vielleicht nicht einmal nur für altindustrielle Räume. Walter Siebel, selbst seinerzeit Wissenschaftlicher Direktor der IBA, beschreibt sie als ein Instrument zur Organisation von Innovationen, namentlich in nicht-innovativen Milieus. Siebel verlängert die Grundidee einer Internationalen Bauausstellung in die Zukunft und entwirft Szenarien möglicher künftiger Ausstellungen. Gerd Seltmann war als stellvertretender Leiter der IBA ebenfalls unmittelbar in die Praxis dieses 10-Jahres-Projektes involviert. Er betrachtet die IBA einerseits aus dem politisch-administrativen Innenblick („systematische Koordination der staatlichen Handlungsinstrumente“) und andererseits in ihrer strukturpolitischen Bedeutung („Fundament für eine ausgeprägte interkommunale und regionale Zusammenarbeit“). Das zweifellos am langfristigsten angelegte und aufwändigste Projekt der IBA Emscher Park war und ist die Renaturierung der Emscher. Uli Paetzel beschreibt den Fluss, der lange Zeit nicht mehr war als eine Kloake, heute als einen ökologischen Erinnerungsort und Zukunftswerkstatt zugleich. Die Emscher ist auf einem guten Weg, samt ihrer Nebenflüsse abwasserfrei und naturnah umgestaltet zu werden. Wer sich einen sinnlichen Eindruck verschaffen möchte, welchen Weg der Emscherumbau zurückgelegt hat, der lese den Essay 31
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„Emscher I“ von Stefan Klein. Er erfährt dann auch, wie sich die Menschen in der Nachbarschaft auf ihre ‚neue Emscher‘ einstellen. Wolfgang Sonne stellt die Stadt Ruhr in einen großen historischen Zusammenhang, von den Anfängen des Urbanen in Antike, Mittelalter und Neuzeit – eine häufig vergessene historische Dimension, wenn nur die schwerindustrielle Epoche betrachtet wird! – und stellt leidenschaftlich fest: Das höchste Gut einer Stadt, damit auch von Ruhr, sind ihre Plätze und öffentlichen Gebäude. Wenn das beherzigt werde, sei Ruhr fit for the future. Im Jahr 2019 feierte NRW „100 jahre bauhaus im westen“. Thomas Schleper war maßgeblich an diesem Projekt beteiligt. Er schlägt eine Brücke, die zunächst gewagt wirkt, sich dann aber als außerordentlich konstruktiv erweist: Bauhaus und Industriekultur. Daraus entwickelt er einen „New Deal Industriekultur“, einen Kompass für das Weiterdenken der kulturellen Bedeutung des industriellen Erbes. Persönliches zum Widmungsträger Christoph Zöpel bildet den Abschluss: Norbert Walter-Borjans beschreibt in seinem persönlich gehaltenen Beitrag wesentliche Aspekte der Stadtentwicklungspolitik der 80er-Jahre in Nordrhein-Westfalen, besonders die innovative Stadtverkehrspolitik Zöpels und die ihm zu verdankende Erhaltung des industriekulturellen Erbes. Dann charakterisiert Uwe Knüpfer den „letzten Preußen“, beschreibt Anke Brunn einen ungewöhnlichen Politiker, illustriert Krysztof Kafka sieben Begegnungen mit Christoph Zöpel, beschreibt Horst Gräf den Weg der Integration von Stadtentwicklung und staatlichem Bauen, und ehemalige Mitarbeiter erinnern sich – mit Dankbarkeit und Hochachtung. Eine Biografie Zöpels schließt sich an, und den Abschluss bildet ein ausführliches Verzeichnis seiner literarischen Arbeiten. Die Herausgeber wünschen Freude und Anregungen bei der Lektüre – beim Denken von Zukünften und beim verantwortlichen Gestalten von Zukunft.
Literatur Bachtin, Michail M. (2008). Chronotopos. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Blom, Philipp (2020). Das große Welttheater – Von der Macht der Vorstellungskraft in Zeiten des Umbruchs. Wien: Zsolnay. Bösch, Frank (2019). Zeitenwende 1979 – Als die Welt von heute begann. München: C.H. Beck. Bridle, James (2019). New Dark Age – Der Sieg der Technologie und das Ende der Zukunft. Übers. v. Andreas Wirthensohn. München: C.H. Beck. Crutzen, Paul J. (2019). Das Anthropozän, Schlüsseltexte des Nobelpreisträgers für das neue Erdzeitalter. Hrsg. v. Michael Müller. München: oekom. Emmott, Stephen (2013). Zehn Milliarden. Berlin: Suhrkamp. Fratzscher, Marcel (2020). Die neue Aufklärung – Wirtschaft und Gesellschaft nach der CoronaKrise.. Berlin: Berlin-Verlag Friedman, Michel/ Welzer, Harald (2020). Zeitenwende. Der Angriff auf Demokratie und Menschenwürde. Köln: Kiepenheuer&Witsch
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Giddens, Anthony (2001). Entfesselte Welt. Wie die Globalisierung unser Leben verändert. Frankfurt: Suhrkamp. Habermas, Jürgen (2019). Anerkennungskämpfe im demokratischen Rechtsstaat. In Charles Tayler (Hrsg.), Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung (S. 123ff.). Berlin: Suhrkamp. Hampe, Michael (2018). Die Dritte Aufklärung. Diskurse, die wir führen müssen. Berlin: Nicolai. Harari, Yuval Noah (2018). 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert. München: C.H. Beck. Harvey, David (2013). Rebellische Städte. Vom Recht auf Stadt zur urbanen Revolution. Berlin: Suhrkamp. Hawking, Stephen (2000). „‚Unified Theory‘ is getting closer, Hawking Predicts“. 23. Januar 2000. San Jose Mercury News. Horkheimer, Max, & Adorno, Theodor W. (1988 [1944]). Dialektik der Aufklärung. Frankfurt am Main: Fischer. Lebesque, Morvan (1960). Albert Camus in Selbstzeugnisse und Bilddokumenten. Übers. v. Guido G. Meister. Reinbek: Rowohlt. Leggewie, Claus (2009). „Gedenkjahr 1979 – Die Zeitenwende“. 17. Mai 2009. Süddeutsche Zeitung. https://www.sueddeutsche.de/politik/gedenkjahr-1979-die-zeitenwende-1.472483. Zugegriffen: 19. August 2020. Lessenich, Stephan (2019). Grenzen der Demokratie: Teilhabe als Verteilungsproblem. Stuttgart: Reclam. Levebvre, Henry (2016). Das Recht auf Stadt. Hamburg: Nautilus. Lobo, Sascha (2019). Realitätsschock – Zehn Lehren aus der Gegenwart. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Lovelock, James (2020). Novozän: Das kommende Zeitalter der Hyperintelligenz. Übers. v. Annabel Zettel. München: C.H. Beck. Martynkewicz, Wolfgang (2019). 1920 – Am Nullpunkt des Sinns. Berlin: Aufbau. Mason, Paul (2019). Klare, lichte Zukunft – Eine radikale Verteidigung des Humanismus. Berlin: Suhrkamp. Mbembe, Achille (2014). Kritik der schwarzen Vernunft. Berlin: Suhrkamp. Mbembe, Achille (2020a). Die Leben wägen. 05. August 2020. Süddeutsche Zeitung. Mbembe, Achille (2020b). Reflections on planetary living. Ruhrtriennale 2020 Archiv der verlorenen Ereignisse. Interview mit Stefanie Carp & Josef Vonfavreux. Mick, Günter (1985). Den Frieden gewinnen – Das Beispiel Frankfurt 1945 bis 1951. Mit den Reden in der Paulskirche von Fritz von Unruh (1948), Thomas Mann (1949) und Albert Schweitzer (1951). Frankfurt am Main: Kramer. Mitchell, Sandra (2008). Komplexitäten. Warum wir erst anfangen, die Welt zu verstehen. Frankfurt am Main: S. Fischer. Münkler, Herfried und Marina (2019). Abschied vom Abstieg – Eine Agenda für Deutschland. Berlin: Rowohlt Musil, Robert (1978 [1922]) Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausende. In Ders., Gesammelte Werke II (S. 1075ff,). Hrsg. v. Adolf Frise. Reinbek: Rowohlt. Nassehi, Armin (2018) Die letzte Stunde der Wahrheit: Kritik der komplexitätsvergessenen Vernunft. Hamburg: Kursbuch.edition 2. Auflage Nassehi, Armin (2019). Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. München: C.H. Beck. Nussbaum, Martha (2020). Kosmopolitismus. Revision eines Ideals. Darmstadt: WBG. Pellert, Ada (2020). Die Revolution der Lernens hat begonnen. 9. Juni 2020. Frankfurter Allgemeine Zeitung. Pinker, Steven (2018). Aufklärung jetzt – Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und fortschritt. Eine Verteidigung. Frankfurt am Main: S. Fischer. Prisching, Manfred (2019). Zeitdiagnose. Methoden, Modelle, Motive. Weinheim: Beltz. Reckwitz, Andreas (2020). „Verblendet vom Augenblick“. 9. Juni 2020. Die Zeit. https://www.zeit. de/2020/25/corona-krise-staat-risikopolitik-andreas-reckwitz. Zugegriffen: 19. August 2020. 33
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Wolfgang Roters
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Teil 1 Zukunft und Zukünfte
Die Zukunft der funktional differenzierten Gesellschaft: Herausforderungen und Gestaltungsoptionen Dieter Grunow Die Zukunft der funktional differenzierten Gesellschaft
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Einleitung und Übersicht
Warum die Gestaltung der gesellschaftlichen Zukunft ohne eine umfassende Theorieperspektive nicht zu schaffen ist. Die Weltgesellschaft befindet sich in einer schwierigen, paradoxen Lage. In der Alltagssprache wird dies unter anderem so formuliert: je mehr wir unsere Schritte beschleunigten, desto weiter entfernten wir uns von unserem Ziel. Die Zeitforscher betonen die Notwendigkeit, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichermaßen zu thematisieren, stellen gegenwärtig aber oft das Gegenteil fest und beklagen unter anderem, dass wir mit der „Daten speichernden“ Gegenwart – einer die Menschen oft überfordernden globalen „Synchronwelt“ (Sloterdijk 2017) – die Vergangenheit und die Zukunft „auffressen“. Aber auch die neuesten Entwicklungen – „Big Data“ als „aufgesammelte Vergangenheit“ – machen dabei keinen großen Unterschied. Versuche, eine umfassende Zeitdiagnose zu erstellen – z. B. unter der Überschrift „Postmoderne“ (Kramer 2019) – belegen die zunehmende Unübersichtlichkeit der Weltlage: eine Vielzahl von Beobachtungen, Kommentaren und Bewertungen, die nicht aufeinander bezogen werden (können). Unbestritten ist, dass sich verschiedene Segmente der Gesellschaft unterschiedlich schnell entwickeln und dass deshalb oft „das Ende der großen, integrierenden Erzählungen (Narrative)“ festgestellt wird (z. B. Reckwitz 2019). Unbestritten ist deshalb auch, dass dies unter anderem die „Vordringlichkeit des Befristeten“ zur Folge hat. Zugleich haben jüngste Ereignisse gezeigt, dass eine solche ‚Steuerung auf Sicht‘ immer weniger erfolgversprechend ist: die zukünftige Entwicklung wirksam zu beeinflussen, ist dann nahezu aussichtslos. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass in den letzten Jahren immer häufiger ein Mangel an zukunftsbezogenen Perspektiven – manchmal auch ‚Visionen‘ – beschrieben und beklagt wird. Dahinter verbirgt sich die wachsende Einsicht, dass ein langfristiges ‚weiter so‘ nicht überzeugt. Schaut man auf Projektionen vergangener Jahrzehnte zurück, dann zeigt sich „das Ende der Geschichte“ (Fukuyama 1993) eher als eine Fehleinschätzung, während die „Grenzen des Wachstums“ (Club of Rome) über 40 Jahre später mehr Resonanz erzeugen (Randers 2012). Daraus lassen sich bereits Hinweise für die zukunftsbezogenen © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_2
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Herausforderungen ableiten: Die Vielfalt globaler Kooperations- und Konfliktmuster in einer zunehmend entgrenzten Weltgesellschaft einerseits und die Grenzen der natürlichen Ressourcen des Globus andererseits. Betrachtet man zu Letzterem die jährlichen Berichte über den „Welterschöpfungstag“ (World Overshoot Day), der im Jahresverlauf kontinuierlich nach vorne rückt, den umfangreichen Katalog der „Sustainable Development Goals 2030“ der UN (UN 2016) oder auch die massive Häufung von diesbezüglichen Publikationen und Kongressen, dann verlagert sich die Frage von der Beschreibung der Herausforderungen und Erfordernisse zu der Frage, warum offenbar zu wenig für eine gesellschaftsbezogene, langfristige Zukunftsperspektive und – vor allem – für ihre Umsetzung getan wird. Die Begründung der Themenwahl und ihre Ausgestaltung in den folgenden Ausführungen können – wenngleich sie voraussetzungsvoll sind – unter diesen Bedingungen in knapper Form erfolgen1: • Der Blick auf zukünftige Entwicklungen ist gerade deshalb notwendig und auch schwierig, weil darüber nichts Verlässliches gesagt werden kann. Notwendig ist daher auch eine Einbindung von Analysen zur Vergangenheit und zur Gegenwart. • Der Blick auf die Gesellschaft ist notwendig, um die Interdependenzen verschiedener Handlungsfelder berücksichtigen zu können. Mit Blick auf die Zukunft sollte ohnehin auf allzu kleinteilige Themen verzichtet werden. • Die Begründung des gewählten Zugangs zu diesen Themen wird durch diese Ausgangssituation vereinfacht: es liegt nahe, einen Theorierahmen zu wählen, der die notwendige Breite aufweist, um die zu analysierenden Sachverhalte in einen (Entwicklungs-) Zusammenhang stellen zu können. Dafür wird die Systemtheorie von Niklas Luhmann (1927–1998) gewählt. Er selbst hat diese Anforderung – zuletzt in seiner Abschiedsvorlesung (Luhmann 1993) – in folgende Fragen gekleidet: „Was ist der Fall?“ und „Was steckt dahinter?“ Auf die erste Frage wird – wie schon angedeutet – mit einer ständig wachsenden Zahl von (meist diversen) Antworten reagiert2. Bei der zweiten Frage sind Antworten – nicht zuletzt wegen der Reaktionen auf die erste Frage – eher selten zu finden. Luhmann hat deshalb eine stärkere Verknüpfung beider Beobachtungsperspektiven empfohlen. Dies gilt besonders dann, wenn man die gesellschaftliche Entwicklung insgesamt in den Blick nehmen will – also nicht nur über Schuhmode, Wahlpräferenzen oder KI-Fortschritte etc. reflektiert. Trotz des knappen Textes ist es
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Eine ausführliche Darstellung des Zugangs zu den Zukunftsthemen findet sich bei Grunow (2017); eine ergänzende Erläuterung dessen, was durch die Pandemie sichtbar wird, ist zugänglich unter: www.politische-bildung.nrw.de/publikationen/titelverzeichnis/print/die-gesellschaftder-zukunft-beobachtungen-aus-der-gegenwart/ Um die Darstellung nicht zu überfrachten, wird für die konkreten Beispiele meist auf Quellenhinweise verzichtet: die Stichworte lassen sich in der Regel im Internet finden. Die Literaturhinweise sind deshalb vor allem Vertiefungsvorschläge.
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also unvermeidlich, sich auf eine komplexe Theoriearchitektur einzulassen, die einen breiten Beobachtungsrahmen ermöglicht3. Dies soll zunächst dabei helfen, die Schwierigkeiten zu verstehen, die derzeit mit Blick auf eine zukunftsweisende Entwicklungsaussicht bestehen. Dabei wird immer wieder auf zwei abstrakte – aber kaum zu bestreitende – Sachverhalte Bezug genommen: die hochgradige Komplexität (Vielfalt) der (Welt-)Gesellschaft und die damit erzeugte Kontingenz (Zufälligkeit, Unberechenbarkeit) vieler Wirkungszusammenhänge4. Die Frage nach der Überlebensfähigkeit der – quantitativ weiter wachsenden – Weltgesellschaft ist an diese beiden Rahmenbedingungen gebunden: eine zentrale Antwort bezieht sich deshalb auf die fortschreitende gesellschaftsinterne Differenzierung (Seiler 2015), durch die diese Komplexität reduziert, ‚gebändigt‘ wird. Im Hinblick auf die weit entwickelten Gesellschaften (z. B. OECD) steht dabei die funktionale Differenzierung als neueren Typus der Strukturierung im Mittelpunkt: Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich deshalb gegenwarts- wie zukunftsbezogen auf diesen (modernen) Typus von Gesellschaftsarchitektur. Die Analyse von unterentwickelten Gesellschaften, Failed States oder Diktaturen diverser Art, würde anders ausfallen müssen. Dies schließt nicht aus, dass auf solche Gesellschaften im Hinblick auf globalisierte Problemstellungen Bezug genommen werden muss. Vielfach können die dort beobachteten Entwicklungen als Folgeabschätzung und Warnsignal genutzt werden. • Im ersten Schritt wird der theoretische Rahmen beschrieben: die Beobachtung einer modernen Gesellschaft, die immer mehr durch eine funktionale Differenzierung geprägt ist. Wie sind die einzelnen Funktions- bzw. Kommunikationssysteme5 aufgebaut und welche Möglichkeiten wechselseitiger Resonanz gibt es? • Im zweiten Schritt werden zwei aktuelle Gestaltungsaufgaben mit besonderem Zukunftsbezug beschrieben, um durch Illustrationen für die gewählte Beobachtungsperspektive zu ‚werben‘ – d. h., die notwendige Breite des diskursiven Zugangs zu begründen: die Digitalisierung und der Klimawandel. • Im dritten Schritt werden Schwerpunkte für eine kontinuierliche Beobachtung der Gesellschaftsentwicklung vorgeschlagen – wobei inhaltliche Beispiele wiederum vor allem auf die Ökologie bezogen sind. Ergänzt werden die Vorschläge durch die Beschreibung
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Einer der bekannten Glossare zu Luhmanns Theorie (Baraldi 1997) umfasst mehr als 200 Seiten! Es kann also nicht darum gehen, eine breite Einführung in die Systemtheorie zu geben. Es geht vielmehr um das Angebot, sich auf eine veränderte (theoretisch begründete) Beobachtungsperspektive der Gesellschaft einzulassen. Diese abstrakten Gesellschaftsmerkmale werden im Text häufig wiederholt, um eine Vereinfachung der Argumente zu ermöglichen. Zum Beispiel ganz aktuell: ein kontingenter Virus trifft auf eine hoch komplexe Weltgesellschaft. Diese Begriffsverknüpfung wird im Text verwendet, um die Kommunikationsbasis der Systeme immer wieder deutlich zu machen. Es besteht sonst die Gefahr, die Funktionssysteme mit typischen Organisationen oder Personengruppen gleichzusetzen. 39
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von Strategien der praktischen Durchführung von Beobachtung und Balancierung der Funktionssysteme. • Im vierten Schritt erfolgt eine knappe Zusammenfassung.
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Erläuterung des Vorgehens bei der Beobachtung der Gesellschaftsentwicklung
Was bedeutet die Beschreibung moderner Gesellschaften als ‚funktional differenziert‘ – mit der Komplexität und Kontingenz als Bezugsprobleme? Warum ist die funktional differenzierte Gesellschaft auch für die Zukunft von Belang – was wären die Alternativen? Mit der Systemtheorie von Niklas Luhmann und anderen die Gesellschaft und ihre Entwicklung zu beobachten, macht es erforderlich, sich zunächst auf eine abstrakte und zugleich differenzierte Argumentation einzulassen (Luhmann 1992, 1998; Überblick: Jahraus et al. 2012). Dies leisten andere Gesellschaftskonzepte nicht in hinreichendem Maße, weil sie sich auf wenige, spezifische Dimensionen gesellschaftlicher Entwicklung beziehen. Dies ist häufig mit typisierenden Begriffen verbunden: Risikogesellschaft, granulare Gesellschaft, Wissensgesellschaft, postmoderne Gesellschaft. Mit Blick auf die Zukunft führt dies u. U. zu einem Katalog von Wunschvorstellungen für die ‚gute‘ Gesellschaft. Nicht immer wird dabei deutlich gemacht, dass diese Betrachtungsweisen jeweils ‚blinde Flecken‘ aufweisen, weil sie in bestimmter Weise von der Perspektive des Beobachters abhängen. Dieser Sachverhalt wird gegenwärtig – nicht zuletzt durch die neuen Formen der Mediennutzung – allgemein wahrgenommen und bestätigt: in der Wissenschaft wird von Konstruktivismus (Simon 2008) gesprochen, d. h., dass die Erkenntnisprozesse und -ergebnisse (mehr oder weniger) von der Art menschlicher Beobachtung abhängen. Das bedeutet, dass mit der Präsentation von Informationen und Einsichten stets die Art der Beobachtung mitgeteilt werden muss. Im Alltag wird dies als Narrativ und Framing, aber auch als Lügenpresse oder Fakes thematisiert. Nicht zuletzt deshalb wird immer häufiger der „fehlende gesellschaftliche Zusammenhalt“ erwähnt. Vor allem für die Wissenschaft ist es notwendig anzuerkennen, dass andere Beobachter*innen und ihre Sichtweisen zu unterschiedlichen Ergebnissen und Bewertungen gelangen können, und dass es erforderlich sein kann, diese Vielfalt in den Konzepten zu berücksichtigen. Der Vorteil der hier genutzten Systemtheorie ist es, dass dies gelingen kann6. Dazu trägt die Bezugnahme auf Menschen und ihre Kommunikation als Basis für die Gesellschaftsentwicklung und -gestaltung bei – sowie die Berücksichtigung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Damit werden die Herausforderungen sichtbar, die durch drei kaum in Zweifel zu ziehende Entwicklungen geprägt sind: übermäßiger Verbrauch
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Als Indikator kann der Zettelkasten von Luhmann gelten, dessen Hunderte von Zetteln derzeit in der Bielefelder Universität digitalisiert werden.
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natürlicher Ressourcen, weiterer Zuwachs der Weltbevölkerung (von derzeit 8 Mrd. auf ca.10 Mrd. in 2100) und eine zunehmende Entgrenzung der Weltgesellschaft. Die zurückliegenden Bevölkerungsentwicklungen haben deutlich gemacht, dass die Reaktion auf wachsende Komplexität und Kontingenz – insbesondere ihre Bewältigung im Sinne einer bewussten ‚Reduktion‘ – zu den Überlebens- und Evolutionsvoraussetzungen der Menschheit zählte. Die Ordnungsbildung begann mit einer kleinteiligen Arbeitsteilung in Familien und Clans, die sich unter bestimmten Naturbedingungen (Zugang zu Nahrung) ausweiteten bzw. zusammenschlossen. Die Arbeitsteilung wurde um technische Hilfsmittel erweitert. Um die Arbeitsteilung für große Menschengruppen, also gesellschaftsbezogen, zu organisieren, waren im weiteren Verlauf der Evolution umfassendere Grenzziehungen und auf ihnen basierende Kooperationsmuster erforderlich: neue Formen der Differenzierung und ggf. veränderte Regeln der Kooperation in horizontaler und vertikaler Richtung. Territorien, Hierarchien, Zentrum-Peripherie-Muster waren wichtige Strategien zur ‚Reduktion von Komplexität‘. Zu betonen ist dabei die Kennzeichnung als ‚Reduktion‘, denn die Komplexität wurde in der Regel nicht dauerhaft vernichtet, sondern in ihrer Wirkung ‚gebändigt‘7. Dies zeigen u. a. Naturkatastrophen oder gewaltsame Konflikte um natürliche Ressourcen, die die Differenzierungsprinzipien und die Leistungen ihrer spezifischen Ordnungsmuster zunichte machten: Chaos, Flucht, Hungersnöte und Todesfälle waren die Folge. Komplexität und Kontingenz konnten dabei nicht (mehr) gebändigt werden. Ein ‚Neustart‘ ist umso schwieriger (unwahrscheinlicher), je komplexer die Ordnungsmuster sind (waren). Nicht selten führte dies (zurück) zu totalitären Mustern der Komplexitätsbewältigung8. Die Systemtheorie benutzt zur Beschreibung der Grenzziehungs- und Ordnungsmuster den Systembegriff und unterscheidet zwischen einfachen Sozialsystemen, Organisationssystemen und Gesellschaftssystemen. Im Mittelpunkt der Beobachtung stehen dabei die verschiedenen Formen der (zwischenmenschlichen) Kommunikation, durch die die Systeme von ihrer sozialen Umwelt abgegrenzt werden. Damit unterscheidet sich die Theorie von Ansätzen, die jeweils nur Familien, Vereine, Unternehmen oder sogenannte Gesellschaftssektoren etc. im Blick haben. Durch die Betonung der Kommunikation kann die Analyse der sozialen Systeme ggf. auch von ihren institutionellen Kennzeichnungen – z. B. bestimmten Organisationen – getrennt werden. Für die hier behandelte Fragestellung ist die Analyse des Gesellschaftssystems von besonderem Interesse. Sie schließt aber die anderen Formen des kommunikativen Zusammenhangs – auch als Element der gesellschaftsinternen vertikalen und regionalen Differenzierung – mit ein. Die Beobachtung der evolutionären
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Instruktiv ist hierfür Luhmanns Formulierung „kontrafaktische Dauergeltung“ mit Bezug zu Regelwerken (Gesetzen etc.) oder auch „Vertrauen“ als notwendige Beiträge zur „Bändigung“ von Komplexität und Kontingenz. Dies wird u. a. in die Frage gekleidet „wer kontrolliert den Ausnahmezustand“? Damit wird allerdings von der Tatsache abgelenkt, dass ein Ausnahmezustand bewusst – im Interesse einer Machtergreifung – herbeigeführt werden kann: eine irritierende Perspektive im Hinblick auf die Probleme des Klimawandels. 41
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Entwicklung zeigt also, dass in vielen modernen (leistungsfähigen) Gesellschaften die historisch gewachsenen territorialen, hierarchischen und ringförmigen Differenzierungsmuster nicht aufgehoben sind, aber an Bedeutung verlieren und von einer ‚funktionalen‘ Differenzierung der Gesellschaft überlagert werden. Mit anderen Worten: die Unterteilung der Gesellschaft erfolgt dabei nach je spezifischen Aufgaben bzw. Funktionen, die diese ‚Subsysteme‘ erfüllen (sollten) und den Mustern der Kommunikation, die dafür typisch sind: besondere Medien – als generalisierte Mittel der Kommunikationstransfers – und binäre Codes – als Indikatoren für die Annahme oder Ablehnung der Kommunikation, z. B. • die Politik (Herstellung bindender Entscheidungen – mithilfe des Mediums Machtressourcen), • die Zivilgesellschaft (gesellschaftliche Selbstalarmierung – mithilfe des Mediums Sorge), • die Wirtschaft (Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen – mithilfe des Mediums Geld), • die Medien (Meinungsbildung der Öffentlichkeit – mithilfe des Mediums Information), • die Wissenschaft (Gewinnung neuen Wissens – mithilfe des Mediums Wahrheit) • etc. (vgl. die Übersicht auf Seite XXX). Innerhalb der Funktionssysteme kann (durch die Spezialisierung) die Kontingenz reduziert werden9. Dabei wird – um auf die weiterhin zunehmende Komplexität reagieren zu können – auch die Binnendifferenzierung der Funktionssysteme erhöht: soziale Rollen und ihre Kommunikationsrepertoires ebenso wie die Organisationen der Funktionssysteme (politische Parteien, föderale Verwaltungsarchitekturen, duales Mediensystem, Wissenschaftsdisziplinen, Spezialkliniken, Industriebranchen, Familienstrukturen etc.). Die konkrete Ausgestaltung der jeweiligen Funktionserbringung kann dabei von Gesellschaft zu Gesellschaft variieren, denn die Entwicklungen wurden vielfach zunächst noch durch starke territoriale Bezüge geprägt, wie z. B. durch die Charakteristika von Nationalstaaten. Dies erlaubt(e) es, die einbezogenen Menschen und die funktionalen Subsysteme der Gesellschaft gegenüber anderen Gesellschaften oder Staaten abzugrenzen. Diese gut begründete Entwicklung moderner Differenzierungsprinzipien erzeugt allerdings (zugleich) eine neue Schwierigkeit: die funktional differenzierte Gesellschaft hat kein Kommunikations- oder Entscheidungszentrum, keine Steuerungszentrale. Alle Funktionssysteme zusammen sind die Gesellschaft – aber jedes ist eben nur ein Teil davon. Die Entwicklung leistungsfähiger Funktionssysteme muss deshalb auch ihre produktiven Wechselbeziehungen10 untereinander gewährleisten. Dass beides nicht selbstverständlich ist, zeigt ein Blick auf Länder, die eine entsprechende Ausdifferenzierung (noch) nicht erreicht haben (Entwicklungsländer; Failed States) oder (teilweise) wieder verloren haben: 9
Es wäre ungewöhnlich, wenn Parlamentarier Herzoperationen durchführen, Priester Autos bauen sollten oder ein Forschungslabor Schlafanzüge verkauft. 10 Um die folgende Argumentation zu vereinfachen, werden in der Regel die Begriffe Resonanz (systembezogen) und Balance (Wechselwirkungen zwischen den Systemen) verwendet.
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Bürgerkriege und der ‚Ausnahmezustand‘, Rückkehr zur Diktatur – mit verschiedenen ‚Gleichschaltungen‘ – selbst in Europa. Zu beachten ist zudem die Einbindung in die Weltgesellschaft (Entgrenzung, Globalisierung), die z. T. die Probleme verschärfen oder abmildern kann. Für einige Länder spielt dabei der ‚Ressourcenfluch‘ eine wichtige Rolle: die Tatsache, dass die Verfügung über natürliche Ressourcen (insbesondere Öl) einen Eintausch von Subsystemleistungen anderer Länder ermöglicht: medizinische Versorgung? – gerne in der Schweiz! Eine qualifizierte Ausbildung? – willkommen in Harvard etc. Sind diese Ressourcen erschöpft oder nicht mehr nachgefragt, stehen diese Länder vor der schwierigen – nachholenden – Entwicklung einer funktional differenzierten Gesellschaft. Die besonderen Herausforderungen für das Funktionieren dieser modernen Gesellschaftsarchitekturen ergeben sich einerseits durch die Art der Grenzziehung zwischen den Subsystemen und andererseits durch die Mechanismen, mit deren Hilfe in einer Gesellschaft ohne zentrale Steuerungsinstanz die Beziehungen zwischen den Funktionssystemen ‚moderiert‘ werden können. Diese ‚Balancierung‘ in der Gesellschaft ist erforderlich, weil die Subsysteme aufeinander angewiesen sind. Insofern sind sie nicht hermetisch abgeschlossen, sondern beobachten ihre soziale Umwelt (die anderen Funktionssysteme) und versuchen ggf. deren Beobachtung zu ‚irritieren‘. Ein Durchgriff ist unmöglich, ohne deren spezifische Leistungen infrage zu stellen; in einem solchen Fall könnte man vom ‚Kapern‘ eines Funktionssystems sprechen: konkret wird z. B. von „Verstaatlichung des …“ oder „der Markt regelt alles …“ gesprochen. Dieses Problem (Dilemma) der Wechselbeziehungen lässt sich teilweise dadurch erklären, dass die Funktionssysteme i. d. R. keine (wirksamen) Stoppregeln entwickeln, stattdessen entwickeln sie eine autopoietische, d. h. selbstbezügliche Expansion11. Es liegt also nahe, dass in der systemtheoretischen Analyse diesen Wechselbeziehungen zwischen den Funktionssystemen besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. So kann u. a. zwischen (wechselseitiger) Beobachtung, Irritation, und struktureller Kopplung unterschieden werden, um die Grade wechselseitiger Resonanz zu bestimmen. Der im Folgenden zur Vereinfachung genutzte Begriff Resonanz bedeutet dann, dass die Beobachtung anderer Systeme im Rahmen der systemspezifischen (autopoietischen) Kommunikation verarbeitet wird. Eine besondere Bedeutung haben dabei Organisationen – auf Entscheidungen spezialisierte Sozialsysteme –, die ggf. Elemente verschiedener Funktionssysteme als organisationsinterne Entscheidungsprämissen festlegen. Dazu können auch Mechanismen zur Selbstkontrolle und -begrenzung gehören. Das zentrale Element der Gesellschaftsanalyse ist die Rolle der Menschen. Sie sind als psycho-physische Wesen eine natürliche Umwelt der durch Kommunikation konstituierten Sozialsysteme. Menschen können jedoch als Personen in viele verschiedene Kommunikationszusammenhänge eingebunden sein. Selbstverständlich und einfach ist dies allerdings nicht: Der Ablauf der Kommunikation – in den Etappen Mitteilung, Information und 11 Einen wichtigen Hinweis liefern die oft wenig wirksamen Versuche der Selbstbegrenzung: z. B. Ethikbeiräte, Technikfolgenabschätzung und anderes – wie spezielle Watch-Organisationen (der Zivilgesellschaft) zeigen. 43
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Verstehen – setzt eine gemeinsame Sprache und ein geteiltes Sinnsystem voraus: Worüber wird kommuniziert – was ist dagegen nicht das Thema?12 Während dies für einfache Sozialsysteme noch eher einfach erscheint, wird es bei komplexeren Systemen (Organisation, Gesellschaft, Weltgesellschaft) zur Grundvoraussetzung13. Die Folge sind differenzierte Muster des Kommunikationszugangs, die in der Systemtheorie als Formen der Inklusion (alltagssprachlich: Teilhabe) der Bevölkerung analysiert werden. Damit ist auch sichtbar, dass und wie mit der funktionalen Differenzierung die Inklusionsmöglichkeiten der Menschen (Bevölkerung) – zum Beispiel im Vergleich zu Monarchien, Klassensystem, Kastenwesen, Militärdiktaturen, religiösen Sekten oder Armutsregionen – verändert werden. Im Vergleich zu diesen Beispielen kann in den hier näher betrachteten Gesellschaften (OECD) zunächst von einer breiten Inklusion der Bevölkerung ausgegangen werden. Als typische Beispiele werden dafür u. a. das Politiksystem und das Rechtssystem – z. B. das Grundgesetz – benannt, die besondere Impulse zur Inklusion enthalten: Menschenrechte, Staatsbürger*innen-Rolle, Wahlrecht etc. Aber selbst in diesem Kontext können viele Situationen faktischer Exklusion beobachtet werden. Dafür wird oft das Bildungssystem als Beispiel zitiert – obwohl es durch Schulpflicht einen Inklusionsimpuls setzt. Die Auswirkungen können sich kumulativ entfalten, weil u. U. die Exklusion von einem Funktionssystem auch die Exklusion in anderen befördert. Das Wirtschaftssystem gilt als typisches Beispiel dafür. In den meisten Funktionssystemen ist es deshalb generell sinnvoll, zwischen potenzieller und faktischer Inklusion zu unterscheiden – was dann auch die andere Seite, die Exklusion, zu beschreiben erlaubt. Sowohl für die Gegenwartsanalyse als auch für die Zukunftsaussichten ist die Beobachtung, ob und wie – d. h. in welcher Intensität und Qualität – die Menschen als Personen in Kommunikationsprozessen adressiert und eingebunden sind, von besonderer Bedeutung. Dies betrifft nicht nur den ‚Zusammenhalt‘ der Gesellschaft und die Möglichkeit, die Durchsetzung von Einzelinteressen – gegenüber Gemeinschaftsinteressen – zu begrenzen, sondern auch die Tatsache, dass multiple Kommunikationsbeteiligungen der Bevölkerung einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung von Resonanz zwischen den Funktionssystemen leisten können: auf diese Weise lernen die Menschen die unterschiedlichen Kommunikationsmuster der einzelnen Funktionssysteme kennen und lernen dabei ggf. Strategien, um die Kommunikationsbarrieren zu überwinden14. 12 Die Szenerie ist hinreichend bekannt: jemand „platzt“ in ein Beratungsgespräch bei einem Anwalt und fragt: „kann ich hier eine Pizza bestellen?“ Er ist in einem falschen Sinnsystem – alltagssprachlich „im falschen Film“ – gelandet. 13 Inzwischen gibt es allerdings viele Beispiele dafür, wie einfache Sozialsysteme durch die Konflikte auf der Gesellschaftsebene „zerrissen“ werden (z. B. der Generationenkonflikt beim Brexit). 14 Die von Stanislaw Lem formulierte Utopie, die Resonanz könne dadurch erzeugt werden, dass die Menschen in relativ kurzen Zeitabständen immer wieder – quasi über Nacht – in andere gesellschaftliche Funktionssysteme „katapultiert“ werden, hat allerdings keine Chance auf Verwirklichung. Zielführender sind dagegen Berufsbiographien wie die von Christoph Zöpel, die Erfahrungen aus Politik, öffentlicher Verwaltung, Zivilgesellschaft und Wissenschaft miteinander zu verbinden erlauben.
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In diesem Zusammenhang lassen sich bereits weitere (eher neuere) Komplikationen (abstrakt: die Steigerung von Komplexität und Kontingenz) erkennen. Sie sind mit einer Entgrenzung der Nations-Gesellschaft – bis hin zur Weltgesellschaft – verbunden. Als Beispiel können die internationalen Wanderungsbewegungen beschrieben werden: Tourist*innen, Aus- und Einwanderer, Studierende, Asylbewerber*innen, temporär Beschäftigte etc.15 Komplikationen hinsichtlich der Kommunikationsfähigkeit und der Durchsetzung von Standards für zivilisiertes Verhalten in privaten und öffentlichen Räumen sind immer häufiger zu beobachten. Oder konkret: man kann das Leben wie in der Herkunftsgesellschaft nicht einfach fortsetzen – kein Linksverkehr auf den Straßen, keine Vererbung von Positionen im öffentlichen Dienst, der Religionsführer steht nicht über dem Gesetz, die Zwangsverheiratung von Minderjährigen ist verboten etc. In China gibt es deshalb sogar Kurse für Reisefreudige: „Wie benehme ich mich angemessen in Europa?“ In Deutschland gibt es Integrationskurse (mit Spracherwerb), durch die eine Inklusion befördert werden soll. Vergleichbare Komplikationen gelten für die meisten Funktionssysteme. Sie sind in anderen Ländern anders gestaltet und anders wechselseitig aufeinander bezogen (Resonanz). Als aktuelle Beispiele auf globalem Niveau seien – für die Wirtschaft – die Steuereintreibung bei Google oder die Beteiligung von Huawei beim Netzausbau nach 5G-Standard erwähnt. Das TTIP-Abkommen ist u. a. daran gescheitert, dass damit eine Paralleljustiz geschaffen worden wäre. Es ist also nicht überraschend, dass mit Verträgen, Kontrollstrukturen und Mediationsverfahren (z. B. WTO) versucht wird, einheitliche Standards in den immer komplexer gestalteten Wertschöpfungsketten und Handelsbeziehungen zu etablieren. Dabei gilt der Weltmarkt für Güter und Dienstleistungen bei ‚Experten‘ noch als durchschaubar und dadurch ggf. auch koordinierbar. Ganz anders ist es bei dem internationalen Finanzmarkt mit seinem Fokus auf Shareholder-Interessen und insbesondere bei den Digitalplattformen. Abstrakt ausgedrückt: es fehlt an Ideen und Mitteln der Komplexitätsreduktion. Zudem: Der ständig wachsende Strom von Daten und Informationen erhöht die Kontingenz. Diese Entwicklungen haben u. a. dazu geführt, dass Beispiele durchlässiger Grenzziehung und Ordnungsbildung immer häufiger mit dem Begriff Governance erfasst wurden – ein Ansatz, der rasch auch auf die globale Ebene (der Weltgesellschaft) angewendet wurde: global governance. Von einer ‚Weltregierung‘ wurde (noch) nicht gesprochen, sondern eher von dem Kampf der Kulturen (Huntington 1998) – außer vielleicht mit Blick auf die impliziten Herrschaftsansprüche der ‚Masters of the Universe‘ aus dem Silicon Valley. Beobachtet man vor diesem Hintergrund die aktuellen Debatten über eine „bi-polare Weltlage“, in der die USA („America first“) und China („China 2040“) um Dominanz kämpfen, dann wird möglicherweise übersehen, dass beide Nationalstaaten sind – mit besseren Chancen für die Balancierung der Funktionssysteme und für transnationale Einflussnahmen. Europa ist dagegen oft nicht hinreichend in der Lage, mit einer Stimme zu sprechen und das global governance zu beeinflussen: es fehlt häufig an der „Hochzonung“ – oder zumindest einer 15 Plastischer als durch die Statistiken über den wachsenden Flugverkehr und lange Lieferketten wird dies aktuell durch die Probleme bei der Eindämmung der Virus-Verbreitung (Corona) illustriert. 45
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„Harmonisierung“ von Funktionssystemen16. Die Folgen wechselseitiger Zollkonflikte (USA‒China) sind nur ein erster ‚Vorgeschmack‘ auf diesbezügliche Herausforderungen: immer häufiger wird Europa unter Druck geraten, siehe u. a. Huawei, Wirtschaftsbeziehungen zum Iran oder die Nord-Stream-2-Gasleitung. Wie kann mit der durch die Globalisierung anwachsenden Daten-‚Schwemme‘ (Komplexität) umgegangen werden? Den Menschen werden u. a. neue technische Hilfsmittel (Smartphones mit unzähligen Apps) zur Verfügung gestellt, die aber gerade zur Zunahme der Kontingenz beitragen. Die Organisationen sollen durch hybride Muster auf die Komplexität vorbereitet werden etc. In einzelnen Funktionssystemen steigt die Zahl der Kommissionen, Konsortien und Thinktanks – nach dem bekannten Motto: „wenn du nicht mehr weiter weißt, gründe einen Arbeitskreis“. Auf der gesellschaftlichen Ebene gibt es Versuche, Komplexitätsreduktion durch regionale oder hierarchische Differenzierungsmuster zu befördern. Dies gilt für neuen Nationalismus, separatistische Bewegungen ebenso wie für überregionale Kooperation oder veränderte Subsidiaritäts- bzw. Föderalismusmodelle. Diese eher begrenzten Reaktionen auf die neuen Herausforderungen der Weltgesellschaft sowie die oft nur kurzfristigen Zukunftsaussichten sollen hier nicht näher untersucht werden. Für die weitere Argumentation wird davon ausgegangen, dass für die gesellschaftsbezogene Zukunftsgestaltung die notwendige, aber schwierige, manchmal ‚unwahrscheinliche‘ Balancierung gesellschaftlicher Funktionssysteme eine besondere Beachtung verdient.
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Zwei Entwicklungsfelder mit hohem (welt-)gesellschaftlichen Resonanzbedarf und Zukunftsbezug
Wie oben gezeigt gibt es viele Beobachtungen dessen, ‚was der Fall ist‘. Wissenschaftliche Analysen können dabei vielfältige alltagspraktische Erfahrungen ergänzen und präzisieren. Für einen Blick auf zukünftige Entwicklungsmöglichkeiten ist allerdings die Frage „was steckt dahinter?“ unter den beschriebenen Bedingungen dringlicher denn je. Ein Vorteil der Systemtheorie liegt darin, dass die Kommunikation auf den drei oben beschriebenen Ebenen beobachtet wird. Was steckt hinter der Überforderung der einfachen Sozialsysteme, der Organisationen oder der (funktional differenzierten) Gesellschaft – sowie der Personen als Adressaten der Kommunikation? Es wird also empfohlen, sich auf die hier geschilderte Beobachtungsperspektive einzulassen: Anschauungsmaterial wird – heute vor allem in Folge der Corona-Pandemie – täglich und reichhaltig in Deutschland, in Europa
16 Die Entwicklung zum Brexit mit der Aussage „We want our country back“ ist ein Extrembeispiel für die Entwicklung in die Gegenrichtung. Boris Johnson hat die Ablehnung von Funktionssystem-Resonanzen beispielhaft formuliert: Umweltschutz und Beschäftigungsstandards dürfen keine Bestandteile des Warenaustausches mit der EU sein.
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oder in der Weltgesellschaft bereitgestellt. Zwei besonders wichtige Problemfelder der Zukunftsgestaltung werden im Folgenden näher beschrieben. Für die Analyse der Gegenwartsgesellschaft und ihren Zukunftsperspektiven ist es unvermeidlich, dass hinsichtlich der wissenschaftlichen Beobachtungs- und Analysebereiche Schwerpunkte gesetzt werden (müssen). Die vorangegangenen Erläuterungen haben zumindest indirekt wichtige Optionen aufgezeigt: 1. Analysen einzelner Subsystemmerkmale (insbesondere Medium und Code für die systemspezifische Kommunikation); 2. Analysen einzelner Subsysteme mit ihren internen Differenzierungen, ihren Leistungen und ihrer Resonanzfähigkeit gegenüber der sozialen Umwelt – sowie ihrer Inklusionsleistungen; 3. Formen von Wechselbeziehungen zwischen den Funktionssystemen sowie ihre ‚Balance‘; 4. Folgen der weltweiten Entgrenzungen; 5. spezielle Themen der Kommunikation (und Entscheidungen) mit weit reichenden Folgen für die Gesellschaft und deren Zukunft. Wenn im Folgenden zwei Beispiele für solche speziellen Themen erläutert werden, dann muss zumindest der Rahmen – also eine hinreichend funktional differenzierte Gesellschaft auf OECD-Niveau – vorausgesetzt werden. Für andere Gesellschaftsformen müsste die Analyse anders erfolgen. Mit den Themen Digitalisierung und Vernetzung sowie Ökologie und Klimawandel werden zwei besonders risikoreiche zukunftsbezogene Problemstellungen aufgegriffen. Das erste Thema betrifft die Bedrohung der Gesellschaftsentwicklung von innen: die Zerstörung des Kommunikationszusammenhangs (Nassehi 2019)17. Das zweite betrifft die Bedrohung von außen – die Zerstörung der natürlichen Ressourcenbasis (Luhmann 1986; Hölz 2012; Edenhofer 2019). In beiden Fällen sind zukunftsbezogene Weichenstellungen schon in der Gegenwart notwendig und möglich. Das macht die wachsende Bedeutung dieser zwei Zukunftsthemen in der öffentlichen und privaten Kommunikation plausibel.
3.1
Digitalisierung und Vernetzung in der funktional differenzierten Gesellschaft
Das Thema ist durch eine hochgradige Unübersichtlichkeit geprägt. Dies ist u. a. eine Folge der Kombination von technischen Bausteinen und den Vernetzungsmöglichkeiten. Je nach dem, welche Sachverhalte im Mittelpunkt der Beobachtung stehen, ist die diesbezügliche Dynamik ein Segen oder ein extremes Risiko für die Zukunft der (Welt-)Gesellschaft: die Szenarien variieren zwischen der technischen Effizienzsteigerung, der großen individuellen Freiheit durch weltweite Vernetzung und der Entwicklung umfassender Informationsressourcen, die für die Komplexitätsreduktion notwendig sind – einerseits ‒, sowie von Jobverlusten, der Zunahme von Cyberkriegen und der Auflösung der Gesellschaft als Kommunikationszusammenhang – andererseits. 17 Nota bene: im Folgenden wird nur auf die Bedeutung der Digitalisierung für die Gesellschaft als Kommunikationszusammenhang eingegangen. Die Veränderungen in der Arbeitswelt – z. B. Güterproduktion und Dienstleistungen – oder auch im Bildungssystem werden nicht behandelt. 47
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Die Digitaltechnik war zunächst in wirtschaftliche Produktionszusammenhänge – und damit organisationszentriert – entwickelt worden. Erst mit der Miniaturisierung der Bausteine und der Anwendung als Basis für den Datenaustausch hat sich die Anwendbarkeit der neuen Technologien auf fast alle Funktionssysteme (jenseits von Wissenschaft, Militär und Wirtschaft) ausgeweitet: Die Netzentwicklung stand dabei zunehmend im Mittelpunkt. Verstärkt durch internationalen Wettbewerb und Kooperation wurde eine Dynamik ausgelöst, deren Folgen immer weniger durchschaut und bewertet werden konnten. In systemtheoretischer Perspektive wurden damit die Grundlagen der gesellschaftlichen Kommunikation z. T. stark verändert: Schien die Technik zunächst ein Instrument zur Unterstützung und Erleichterung der zwischenmenschlichen Kommunikation in den verschiedenen Formen sozialer Systeme darzustellen, wurde sie im weiteren Verlauf von einzelnen Funktionssystemen ‚gekapert‘ und für ihre je spezifischen Zwecke eingesetzt. Dieses Dilemma zwischen prosozialen und destruktiven Nutzungsformen wird inzwischen in verschiedenen Systemzusammenhängen thematisiert. Das bedeutet zugleich, dass es immer aufwändiger wird, sich ein ‚Bild der Lage‘ und deren Folgen zu machen. Dies gilt erst recht für den zukunftsbezogenen Umgang mit diesen Folgen. Vier Beispiele für spezifische Themen und Analysen, die in den letzten zwei Jahrzehnten Beachtung fanden, seien hierzu kurz beschrieben; sie sollen die vielfältigen Auswirkungen auf das ‚Ensemble‘ von Funktions- und Kommunikationssystemen sichtbar machen: • Nachdem sich die Vorstellung von einer von allen Menschen jeweils selbst bestimmten Nutzung der digitalen Technologie und des Netzes schon bald als unrealistische Utopie gezeigt hat, wurde zunehmend die Frage untersucht, welche Akteure im Hintergrund die Entwicklung und die Nutzungsbedingungen bestimmen. So entstanden vor allem Analysen über die ‚Masters of the Universe‘ im Silicon Valley und deren Zukunftsvisionen18. Mit Blick auf die Monopolbildungen bei der Entwicklung der Digitalplattformen sowie der damit intensivierten Datenerfassung und -speicherung wurden vermehrt auch die Folgen für die Nutzer*innen von Geräten und Netzstrukturen detailliert untersucht – z. B. unter den Stichworten „Ökonomie der Aufmerksamkeit (Aufmerksamkeitshändler)“ (Bernardy 2014) oder „Überwachungskapitalismus“ (Zuboff 2018). • Der vor allem auch international angetriebene Wettbewerb um die erfolgreiche Zukunftsgestaltung hat die Nutzung digitaler Technologien und Vernetzungen in fast allen Funktionssystemen bewirkt: angetrieben von der Wirtschaft (z. B. Automatisierung der Produktion, Werbung und Onlineverkauf), über die Massenmedien (einschließlich der ‚sozialen‘ Medien u. a.), die Politik (mediale Kampagnen und Fakes), die Medizin (Patientendateien, Big Data und Therapien), die Wissenschaft (mediale Auftritte vs. Wissenschaftliche Erkenntnisse: einschließlich der Auseinandersetzung mit Verschwörungstheorien u. ä.), Öffentliche Verwaltung (E-Government) etc.
18 Die Entwicklung ging so rasch voran, dass vermeidliche Science Fiction Bücher wie „Der Circle“ (Eggers) damit konfrontiert wurden, dass die meisten „Voraussagen“ schon Realität sind.
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• Ein weiterer Themenschwerpunkt bezieht sich auf die veränderten Interdependenzen zwischen den Funktionssystemen auf Grund der technisch angestoßenen Entwicklungen. Dabei wird an frühere oder noch bestehende Technologien (Telefon, Fax, TV etc.) sowie die Muster der Resonanzerzeugung angeknüpft, um die Änderungen (neue Möglichkeiten, Schwierigkeiten) sichtbar zu machen. Die Beispiele umfassen immer häufiger Cyberattacken auf Unternehmen, aber auch u. a. ‚Übergriffigkeit‘, Fakes, Mobbing und Manipulation in der politischen Kommunikation: zuletzt auch mit Blick auf die Verbreitung des Coronavirus (Schick 2020). Bei alledem spielen die Schwierigkeiten von Regulierung, Kontrolle, und gerichtlicher Prüfung von technikbasierten (illegalen) Praktiken eine immer wichtigere Rolle – wobei die Globalität der Vernetzung große Beachtung verlangt. • Ein besonders wichtiger Bezugspunkt der Analysen ist inzwischen der Mensch als Nutzer*in der Digitalen Technologie – vor allem von ambulanten Geräten. Was sind die Vorteile der mobilen Kommunikation, was die Nachteile? Vielfach wird gezeigt, dass gar keine Kommunikation mehr stattfindet. Dann wird u. a. von „Echokammern“, „Monologen“ und „Selbstdarstellungssucht“ (Narzissmus) gesprochen: Selfies ohne Ende; die Behinderung von Rettungskräften durch Unfallfilmen schon fast die Regel. Alles erscheint als Sendung im Netz: Bilder, Texte, Filme von Alltagsgeschäften – zunehmend unter der Regie von sogenannten Influencer*innen. Seltener in der Diskussion sind inzwischen die individuellen Folgen einer ständigen Smartphonenutzung: Abnahme zwischenmenschlicher Kommunikation, „digitale Demenz“ bei den Digital Natives, Suchterscheinungen (u. a. durch Computerspiele), die einer klinischen Behandlung bedürfen, Überlastung und Stress durch ständige Erreichbarkeit oder Hassmails und Mobbing (Spitzer 2015). Zu beachten ist dabei, dass diese Probleme von der Art der Nutzung abhängen – vor allem, inwieweit der*die Einzelne selbst entscheidet und steuert, wann und wie die technischen Möglichkeiten genutzt werden – oder ob man Opfer der medialen (psychologischen) Manipulationen wird19. Was macht diese Entwicklung mit dem Kommunikationszusammenhang in der Gesellschaft? Wie immer man die zuvor skizzierten Beiträge (und viele andere) zur Frage „was ist der Fall“ gewichtet und bewertet: Die Relevanz für die Zukunft der Gesellschaft – und insbesondere der funktional differenzierten Gesellschaft – ist nicht zu bestreiten. Einerseits wird die Entwicklung beschleunigt vorangetrieben: vom Smartphone über Smarthome zur Smart City und zur Smart World Society. Dazu werden in der Zukunft auch die KI und die Super-KI mit ihren Robotern beitragen. Anderseits kann gleichzeitig beobachtet werden, dass diesen Entwicklungen zu einer umfassenden Kontrolle und/oder Manipulation der
19 Deshalb wird u. a. empfohlen, sich von Facebook und vergleichbaren Plattformen fernzuhalten (Lanier 2018) – und ggf. andere Tools zu nutzen: z. B. DuckDuckGo statt Google; Verzicht auf Tracking und Cookies usw. Lieber auch eine Gebühr entrichten – anstelle einer Bezahlung durch persönliche Daten. Beachtenswert: Facebook hat zugesagt, die „Fakes“ zum Thema Virus-Verbreitung zu löschen – zuletzt auch die „Compact“- Accounts. 49
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Menschen offenbar wenig entgegengesetzt werden kann. Ein instruktives Beispiel sind die kritischen Beiträge einiger Erfinder*innen der kommerziellen Datenerfassungs- und Verwertungssysteme sowie deren Hinweis, dass sie ihre Kinder auf die Waldorfschule schickten, damit sie nicht zu früh von der digitalen Datenflut gekapert würden. Die Zukunftsgestaltung muss sowohl die Makroarchitekturen der Gesellschaft (und ihrer Funktionssysteme) zum Thema machen, als auch die Inklusion der Menschen als potenzielle Kommunikationsbeteiligte. Bei Ersterem sind die zunächst wichtigen und wirksamen Vernetzungen zu beachten, die jedoch bei naturbedingten oder kriminellen Eingriffen Katastrophen zur Folge haben können: Beispiele betreffen die Energieversorgung oder auch den Krankenhausbetrieb. Das Risikobarometer (für Unternehmen) der Allianz-Versicherungsgruppe platziert in der Bilanz für 2019 und 2020 Hackerangriffe und Cyberkriminalität deutlich vor rechtlichen Restriktionen und Handelskonflikten. Im Hinblick auf die Bevölkerung ist die Frage zu prüfen, wie sie sich gegen die unerlaubte Sammlung ihrer Zustands-, Verhaltens- und Kommunikationsdaten wehren will und kann. Das Digitalisierungsexperiment wird erst volle Wirkung zeigen, wenn die Digital Natives die Geschicke der Gesellschaft (in verschiedenen Funktionssystemen) verantworten sollen. Sind sie dann zur Kommunikation (im systemtheoretischen Sinne!) fähig – oder nur zur Verbreitung von persönlichen Meinungen, Anfeindungen und Verteilung von Likes? Werden sie noch entscheiden können, ob sie mit einem Bot oder einem Menschen Informationen austauschen – und: ist das überhaupt bedeutsam20? Wird es in der Zukunft noch eine Zivilgesellschaft geben? Schon heute würden viele Mitglieder der jüngeren Generationen eher auf Rechtsstaat und Demokratie verzichten als auf die Smartphonenutzung21. Wird Kommunikation in einfachen Sozialsystemen (z. B. Familien) noch stattfinden oder sitzen alle ‚gemeinsam allein‘ mit ihrem Smartphone am Tisch?
3.2
Ökologie und Klimawandel
Unabhängig davon, ob man versteht, was hinter den vielfältigen aktuellen Problemen und Herausforderungen der Gesellschaft steckt: eine zumindest diffuse Einsicht, dass es so nicht weitergehen kann wie bisher, setzt sich immer mehr durch. Eine besondere Rolle spielt dabei die Ökologie und hier zunehmend die Diskussion über den Klimawandel. Angesichts vielfältiger Beobachtungen des gegenwärtigen Geschehens, der Rekonstruktion von zurückliegenden Entwicklungsprozessen und den Prognosemodellen (Erderwärmung, Meeresspiegel, Wüstenbildung etc.) sind die komplexen Verflechtungen von Naturentwicklungen und menschlichen Einflüssen sowie die damit ausgelösten, oft unvorhersehbaren Folgeentwicklungen (Kontingenzen)22 immer sichtbarer geworden. Inzwischen haben die 20 Da ist es eine wichtige Nachricht, dass Microsoft das Botnet Necurs außer Gefecht gesetzt hat. 21 Siehe hierzu die jährlichen Shell-Jugend-Studien. 22 Dies wird dann als mögliche Kipp-Punkte beschrieben – u. U. mit weitreichenden Wirkungen. Als jüngstes Beispiel können die Feuer in Australien dienen: Lebensräume von Menschen und
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regelmäßigen Berichte des Weltklimarates (Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC) die Konferenz in Davos (World Economic Forum, WEF) erreicht: für 2020 werden im Global Risk Report fünf Klimathemen als größte Risiken für die Erde beschrieben. Deshalb gerät die Frage immer mehr in den Vordergrund, warum vom Politiksystem (u. a.) so wenig getan wurde. Dies wird von der Friday for Future-Bewegung (FFF) thematisiert und von den politischen (In-)Aktivitäten bestätigt: sei es auf kommunaler Ebene (Klimanotstand), der Landesebene (Klimaschutzgesetz), der Bundesebene (Klimaschutzpaket) oder in der EU (Green Deal): viel Rhetorik, wenige sachlich und zeitlich zielführende Maßnahmen, kaum Durchführungskontrollen. Das Thema ist für die systemtheoretische Analyse insofern besonders instruktiv, als die Bezugsprobleme eine andere Resonanzqualität aufweisen als zum Beispiel bei der Diskussion über Mindestlöhne – mit überschaubaren Beteiligten. Im Hinblick auf die Natur müssen alle gesellschaftlichen Sozialsysteme Resonanz zeigen. Dass dies kontrovers – aus verschiedenen Systemperspektiven – diskutiert wird, hat z. B. die Ressortkoordination für das Klimaschutzpaket der Bundesregierung sichtbar gemacht. Die Bundesumweltministerin zeigte sich erfreut, dass die anderen Ressorts nun auch dem Umweltschutz Rechnung tragen müssten. Dies gilt vor allem dann, wenn das Thema nicht auf die CO2-Emissionen beschränkt bleibt23. Wenn die Umwelt- oder Klimapolitik schon an der unzureichenden Ressortkoordination in Bund und Ländern scheitert, dann ist eine ‚Balancierung‘ zwischen den Funktionssystemen kaum zu erwarten. Alle an der Kommunikation in den Funktionssystemen beteiligten Personen müssen im Hinblick auf die Natur Resonanz zeigen. Die dafür erforderliche Kommunikation ist eine große Herausforderung – um das permanente ‚Aneinandervorbeireden‘ einzudämmen. Als alltagsnahe Illustration ist u. a. die Beobachtung von Talkshows zu empfehlen. Talkshows der neueren Art – mit der Leitidee „wir müssen reden“ – machen noch eine andere Problematik deutlich: die Meinungsvielfalt der einbezogenen Bürger*innen. Diese irritiert oft die Beteiligten mehr als die Kommunikation seitens der Funktionsträger. Dahinter verbirgt sich ein weiteres Problem: die Rolle der Zivilgesellschaft. Zunächst könnte man unterstellen, dass die Menschen ein Interesse an einer intakten Ökologie hätten und sich das auch für die Zukunft wünschten – und dies bei ihrer Beteiligung an der Kommunikation zum Ausdruck brächten. Trotz vieler öffentlicher, oft durch NGOs initiierten Deklarationen und Demonstrationen („für unsere Kinder und Enkelkinder“, „our house is on fire“ bis hin zu „ihr tötet die Kinder“) zeigen viele andere Kommunikationen das Gegenteil: Typisch sind dabei die Aussagen „ja, aber“, „NIMBY“ (not in my backyard) und „NIMLT“ (not in my life-time; „Nach mir die Sintflut“). Insofern kann es als symptomatisch angesehen werden,
Wälder werden vernichtet – aber auch ein nicht erwartetes Ausmaß des Artensterbens findet statt. Ähnliches gilt für die Ausbreitung des Corona Virus. 23 In eigenen Forschungen haben wir diese Resonanz-Problematik immer wieder beobachtet: so z. B. bei Untersuchungen im Projekt „Dynaklim“: die Bitte um Interviews in allen kommunalen Ämtern einer Stadt führte meist dazu, dass wir auf das Umweltamt verwiesen wurden: „wir haben damit nichts zu tun“. 51
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dass das „Unwort des Jahres“ für 2019 „Klimahysterie“ lautet. Dies gilt vor allem für die Überlegungen und Kommunikationen, die die weitere Zukunft betreffen: die Probleme werden zwar heute (mit) erzeugt, wirken sich teilweise aber erst in späteren Jahrzehnten aus: inzwischen gibt es viele Dokumentationen über die häufigsten Ausreden, warum man mit dem Klimawandel nichts zu tun habe. Teilweise wird man dies auf Desinteresse, Unkenntnis, unübersichtliche Mediendarstellungen, Kaperung durch Populisten – oder schlicht auf fehlende Bereitschaft, über Änderungen von Lebens- und Konsumstil nachzudenken24, zurückführen können. Mit diesen Beobachtungen werden die systemtheoretischen Folgerungen bestätigt: 1. die ökologische Kommunikation führt zu einer verstärkten Betonung von Werten und Interessen sowie einer darauf bezogenen ‚Bedrohungskommunikation‘; 2. die Notwendigkeit einer Resonanz in allen Funktionssystemen führt zu einer breiten Konfliktlage zwischen ihnen – zumindest, wenn sie ihre jeweilige Funktionserfüllung betonen25; 3. diese Situation erfordert ein besonders hohes Maß an übergreifender ‚Balancierung‘. Insofern ist es notwendig, über neue Formen des breiten (inkludierenden) Dialogs nachzudenken und zu entscheiden. Für eine Balancierungsinitiative ist das Politiksystem am ehesten in der Verantwortung – ggf. in struktureller Koppelung mit dem Wissenschaftssystem. Dies betrifft alle Teilbereiche: • Wertprämissen (Politik), • Regeln (Recht) und • Implementation bzw. Kontrolle (öffentliche Verwaltung). Bisher ist der Dialog zwischen den einzelnen Interessengruppen und der Politik vielfach unzureichend. Die Inklusion der Menschen in den diesbezüglichen (gesellschaftlichen) Kommunikationsprozess ist erst dann wirksam und erfolgversprechend, wenn die Politik konkrete Balancevorschläge in die Debatte einbringt. Dabei ist es notwendig und möglich, die Bevölkerung mit der Gesellschaftsarchitektur vertraut zu machen: in welcher Gesellschaft leben wir, wie kann man ihre Entwicklung gestalten? Wie könnten Nachteile, Opportunitätskosten und Vorteile in der Gesellschaft fair verteilt werden? Das ist bisher nicht gelungen. Wenn man den Studien über die Kaperung von Aufmerksamkeit folgt, dann wird es dabei auch darum gehen müssen, die ‚Ökonomisierung in den Köpfen‘ zu
24 Zu den Nachhaltigkeitszielen gehört auch eine Abwägung von Individualinteressen und Gemeinschaftsinteressen – wie man am Beispiel der Windkraftanlagen beobachten kann. Die Kanzlerin hat für die Pandemie-Eindämmung zu rücksichtsvollem und solidarischem Handeln aufgerufen. 25 Luhmann beschreibt dieses Spannungsverhältnis unter der Überschrift „zu wenig und zu viel Resonanz“ (1993, S. 218ff)
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reduzieren: die Gesellschaft insgesamt ist kein Selbstbedienungsladen! Die Perspektive einer ‚Echokammer‘ kann nicht die Leitlinie der Gesellschaftsentwicklung darstellen. Bei der Entwicklung eines Balancevorschlages muss allerdings nicht bei Null angefangen werden: Inzwischen gibt es vielfältige Vorschläge dazu in kleinen und mittelgroßen Dimensionen. Bei deren Nutzung ist aber stets zu beachten, von welchem Funktionssystem sie stammen. Wichtig wäre zudem, sie mehr als bisher mit einer Nutzen-Schaden- bzw. Kostenbilanz auszustatten (Cui-bono-Prinzip): allzu häufig wird der Nutzen privatisiert und der Schaden auf die Allgemeinheit abgewälzt 26. Die ökologischen Beobachtungsbereiche haben eine große Spannweite: vom Schutz der nächtlichen Krötenwanderung im Stadtwald bis zum Auftauen des Permafrostbodens in Russland. Für den Klimawandel besteht eine besondere Herausforderung auch darin, dass er eine weltweite Reaktion erforderlich macht. Dabei darf nicht übersehen werden, dass die Folgen einer weiteren Erderwärmung die einzelnen Weltregionen in unterschiedlichem Maß betreffen, dass die besonders Betroffenen oft nicht die Hauptverursacher sind und vielfach keine Ressourcen für notwendige Veränderungen besitzen27. Kritisch zu prüfen bleibt dabei, ob die Situation mit aussagekräftigen Indikatoren beschrieben wird. Zudem ist die Frage zu klären, ob sich bestimmte Bevölkerungsgruppen (sog. ‚Superreiche‘) den Folgen entziehen können – ggf. durch den Kauf von Raketensilos in den USA. Trotz und wegen der Besonderheit des Umwelt- bzw. Klimaproblems, das unabhängig von den jeweiligen gesellschaftlichen Architekturen existiert und auch in Failed States eine Herausforderung darstellt: die funktional differenzierten Gesellschaften können und müssen einen wichtigen Beitrag zur klimabewussten Zukunftsgestaltung leisten, der auch die Länder einbezieht, mit denen andere Formen der Kooperation – z. B. wegen Menschenrechtsverletzungen oder Bürgerkrieg unerwünscht oder unmöglich sind. Auf europäischer Ebene gibt es zwar hinreichende Ansätze zur internationalen Kooperation, da die Umweltpolitik in großen Anteilen europaweit gestaltet ist. Vieles bleibt aber auch hier prekär, weil die funktionale Differenzierung in den Mitgliedsstaaten uneinheitlich und z. T. unvollständig ist. Dies gilt nicht nur für das Dauerthema Rechtstaatlichkeit. Wie schwierig Nachhaltigkeit als Grundprinzip durchzusetzen ist, zeigen diverse Verstöße gegen diesbezügliche EU-Richtlinien – z. B. hinsichtlich der Landwirtschaft, auch von deutscher Seite (Gülle, Pestizide etc.). Dies belegen die Komplikationen in den vertikalen Beziehungen: von der unverbindlichen Rhetorik, über politische Programme und Vorschriften bis zur Implementation und Wirksamkeit ist es ein langer, z. T. konfliktreicher Weg. Man wird also genau beobachten müssen, wie die neue EU-Kommission das Thema Klimaschutz nicht nur auf die Tagesordnung setzt, sondern auch wirksam gestaltet. Dazu gehört auch
26 Aktuell: Flucht in Steueroasen hindert Unternehmen nicht, wegen Virus-Effekten staatliche Hilfen anzumahnen. 27 Wie die Diskussion über „Klima-Flüchtlinge“ oder Ernteeinbußen zeigen, können die Folgewirkungen (Kontingenzen) allerdings viel weitreichender sein und eine unerwartete/ungeplante Lastenverteilung bewirken. 53
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weiterhin die Frage, welche Komponenten der Funktionssysteme auf europäischer Ebene verankert werden sollten („Hochzonen“). Viel schwieriger bleibt dies alles auf der Weltebene. Das betrifft nicht nur die Tatsache, dass Präsident Trump den Klimawandel als „Erfindung der Chinesen“ bezeichnet hat, oder die Brandrodungen im Regenwald Brasiliens, oder den Ausbau des Kohleabbaus in Australien etc. Viele Staaten, die die Pariser Verträge (2015) unterschrieben haben, vernachlässigen die Umsetzung und/oder die Durchführung von Kontrollen. Ähnliches gilt für die in den SDG2030 formulierten Zielsetzungen für eine nachhaltige (Welt-)Entwicklung (United Nations 2016). Entgegen den Erwartungen hat die CO2-Konzentration in der Luft in den letzten Jahren weiter zugenommen. Daher ist das kritische Statement des UN-Generalsekretärs zur Weltklimakonferenz in Madrid im Jahr 2019 nachvollziehbar.
3.3
Die Interdependenz von Digitalisierung und Klimaschutz
Die beiden Beispiele sind gleichermaßen durch eine breite Einbindung von Funktions- bzw. Kommunikationssystemen und eine große Zukunftsrelevanz gekennzeichnet; sie sind zudem gute Illustrationen für die abstrakte Kennzeichnung der Probleme, die gelöst werden müssen: die Vielfalt umweltbezogener und informationstechnischer Entwicklungen sowie die damit verbundene Ungewissheit durch unvorhersehbare Wechselwirkungen. Die Dynamik der Entwicklung verhindert zudem den Aufbau von Redundanzen (vielfältige alternative Optionen) im Umgang mit diesen Herausforderungen28. Sie liefern Beispiele für die Notwendigkeiten und Schwierigkeiten der Leistungssicherung der einzelnen Funktionssysteme. Betrachtet man die kaum bestreitbaren Gegebenheiten des Klimawandels, dann zeigt sich zugleich die Widersprüchlichkeit der Digitalisierungs- bzw. Vernetzungseffekte: einerseits kann die Digitalisierung zur Aufklärung beitragen (Wissenschaftssystem, Bildungssystem, Mediensystem); andererseits kann sie die Fake-Verbreitung und Zweifelstreuung sowie das mediale Greenwashing fördern (Zivilgesellschaft, Mediensystem); einerseits ist Digitalisierung ein Teil einer gigantischen Reichtumsanhäufung29 und von klimaschädlichem Konsum (Wirtschaftssystem); andererseits kann sie wichtige Beiträge zur Steuerung und Kontrolle komplexer Abläufe (Wissenschaft, Politik und Verwaltung, Wirtschaft) sowie nachhaltiger Produktentwicklung leisten (Wirtschaft). Ohne wechselseitige Resonanz, die Entwicklung von Grenzen und systemspezifischen Stoppregeln sind diese Widersprüche unauflösbar. Die Verankerung vieler diesbezüglicher Entwicklungen in der Weltgesellschaft ermöglicht (zumindest) eine breite Beobachtung destruktiver Wechselwirkungen sowie beachtenswerter Problemlösungen. Systemtheoretisch ausgedrückt: es geht um die Suche nach ‚funktionalen Äquivalenten‘ für nachhaltige Muster der Funktionserfüllung. 28 Vgl. hierzu die Folgen des Lieferprinzips „Just in time“ oder die Verlagerung der Medikamentenproduktion nach Indien und China. 29 Die vier Konzerne mit über 1 Billion $ Börsenwert sind Alphabet, Apple, Amazon, und Microsoft.
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Ansätze zur Gestaltung der funktional differenzierten Gesellschaft
Benutzt man die systemtheoretische Beobachtungs- und Analyseperspektive – auch um Entwicklungen zu vermeiden, die z. B. mit den Begriffen Überwachungskapitalismus und Ökodiktatur umschrieben werden ‒, dann müssen sich die zukunftsbezogenen Konzepte und Entscheidungen kontinuierlich und systematisch mit den Leistungen und Mängeln der funktional differenzierten Gesellschaft beschäftigen. Der an Bedeutung gewinnende Bezug zur Nachhaltigkeit der Entwicklung hat dabei den Vorteil, dass daran alle Funktionssysteme beteiligt sind und dass die Naturphänomene nicht einfach ignoriert oder ‚wegverhandelt‘ werden können. Daraus ergeben sich allerdings zugleich besondere Herausforderungen: die wechselseitige Resonanz der Funktionssysteme und die damit verknüpften Inklusionserfordernisse müssen umfassend balanciert werden, was durch den globalen Charakter der Referenzprobleme zusätzlich erschwert wird. Immerhin kann auf immer mehr Beobachtungen und Kommentierungen dessen, was – auch an Vorschlägen oder Ausreden und Widerständen – der Fall ist, Bezug genommen werden. Für die Erörterung von Gestaltungsfragen ist es hilfreich zu wissen, worauf man sich dabei einlässt. Vor allem die immer häufiger zu hörende Feststellung, dass wir keinen Planeten B haben, hat inzwischen eine – inzwischen fast undurchschaubare – Vielzahl von Vorschlägen für Einzelmaßnahmen zur zukünftigen Umwelt und Klima schonenden Gesellschaftsentwicklung angeregt. Sie sind hilfreich, aber nicht zielführend, wenn es um einen Umbau der Gesellschaft und seiner Funktionssysteme geht. Das neue Balancierungsmuster bedeutet einerseits einen Rückbau, und/oder Umbau und/oder Ausbau einzelner – z. T. übergriffiger oder unterbewerteter – Funktionssysteme und andererseits eine veränderte wechselseitige Beobachtungs- und Irritationsstrategie30. Als wichtiger Fokus kann – vor allem für die Klimaproblematik mit ihren messbaren bzw. prognostizierbaren Merkmalen – das mangelhafte Management von Stoppregeln innerhalb von Funktionssystemen gelten. Fehlende Stoppregeln sind in einer ‚Gesellschaft ohne Zentrale‘ eines der wichtigsten ‚Defekte‘ der Funktionssysteme. Grenzenlose Expansion gehört nicht erst seit heute zu den Fehleinschätzungen für die Zukunft (so schon der Club of Rome im Jahr 1972 – siehe Randers 2012): Wirtschaftswachstum ohne Ende, grenzenlose Kaperung von Aufmerksamkeit durch das Mediensystem, Akkumulation von Macht und Regulierungsexpansion im Politiksystem, „further research is (always!) needed“ im Wissenschaftssystem, angebotszentrierte Gesundheitsversorgung etc. Stoppregeln – vielfach auch als ‚rote Linien‘ bezeichnet – sind durch konkrete Zielsetzungen, feste Zeitpläne und messbare Effekte ausgezeichnet. Damit kann verhindert werden, dass Vereinbarungen – wie z. B. zuletzt an diversen Koalitionsverträgen in Berlin ablesbar – immer neue Aufgüsse derselben Vorhaben präsentieren. Wie die bereits vorhandenen Beispiele zeigen – Stopp für Kohlenbergbau, Stopp für die Einfahrt in Städte (bei 30 Siehe dazu die aktuelle Diskussion über „systemrelevante“ Aufgaben, Personengruppen und Organisationen. 55
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hohen CO2- oder Feinstaub-Emissionen), Stopp für innerdeutsche Flüge (z. B. Bonn‒Berlin) u. a. – ist dieses Instrument nur mit einem kontinuierlichen Monitoring wirksam. Dazu gehört auch die Kontrolle der Umgehungsstrategien – wie bei verbotenen Waffenexporten oder Finanztransaktionen (CumEx-Geschäfte u. a.), aber auch bei verschleiernder Rhetorik und irreführenden Ethik- oder Ökoetiketten. Eine differenzierte Dauerbeobachtung dieser Sachverhalte ist zwingend erforderlich, weil die Entwicklungsprognosen nicht nur einen Zeitpfad abbilden, sondern auch hoch riskante ‚Kipppunkte‘ enthalten können – z. B. Entwicklungen in Arktis, Antarktis, Permafrostregionen etc. Die Zuspitzung vieler Kommunikationen auf die CO2-Emissionen hat den Vorteil, dass es gute sachliche Gründe dafür gibt und dass diese Gründe globale Dimensionen haben. Dieser Bezugspunkt erlaubt zudem eine Ursachenzurechnung auf Regionen, Akteure und Praktiken. Damit kann verhindert werden, dass bestimmte Ursachen ignoriert werden – wie bisher noch der Energieverbrauch für die Smartphoneaufladung und die Kühlung gigantischer Datenspeicher im Hintergrund. In unterschiedlichen Weltregionen könnte dann über die dominanten Ursachen kommuniziert werden. Dies reduziert die Chancen für Ausreden und führt möglicherweise zu der Einsicht, dass Ressourcen im globalen Maßstab umverteilt werden müssen. Ein potenzieller Nachteil dieser Zuspitzung besteht darin, dass andere Probleme für eine ökologische Zukunftsaussicht weniger Beachtung finden – wie z. B. Feinstaubemissionen, Meeresverschmutzung, diverse Plastik- und Müllprobleme, Grundwasserverseuchung, Massentourismus etc. Sie müssen gleichfalls Gegenstand der Beobachtung und Umgestaltung sein.
4.1
Fragen an die Beobachtung und Bewertung der Gestaltungserfordernisse
Die vorangegangenen Hinweise haben deutlich gemacht, dass es vielfältige Kommunikationen und z. T. auch konkrete Entscheidungen und Maßnahmen gibt, die auf veränderte Zukunftsperspektiven bezogen sind. Dies alles muss allerdings systematisch gebündelt und ergänzt werden. Dazu gehört es, alle Funktionssysteme einzeln und in ihren wechselseitigen Resonanzen auf einen von der Breite der Gesellschaft getragenen Prüfstand zu stellen: a. Wie ist die Leistungs- bzw. Zukunftsfähigkeit des Funktionssystems x, y, z einzuschätzen? Wo sind Mängel, Änderungserfordernisse, Entwicklungspotenziale? b. Wie ist die Resonanz zu anderen Funktionssystemen (x, y, z): aktiv bis übergriffig; passiv bis korrumpiert (hier ist oft eine besondere Beobachtung des Wirtschaftssystems notwendig)? c. Wie ist der Beitrag der Funktionssysteme x, y, z zur wechselseitigen Balancierung des Ensembles (hier ggf. eine besondere Beobachtung von Politik, Wissenschaft, und Medien)? Schwerpunkt: Entwicklung der natürlichen Umwelt und des Klimas. d. Die Bewertung der Inklusionsbilanz (in allen Funktionssystemen).
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e. Wie ist mit der Globalisierung umzugehen: das „Hochzonen“ der Wirtschaft und der Politik – oder das parallele „Hochzonen“ möglichst vieler Funktionssysteme? Bei den folgenden Erläuterungen wird vor allem das Politiksystem (Politik, öffentliche Verwaltung) berücksichtigt, weil viele Zukunftsinitiativen (insbesondere die Balancierungsimpulse) von diesem System ausgehen (müssen). Dafür sind allerdings auch Hinweise auf andere Funktionssysteme erforderlich. Dies alles kann hier nur mit wenigen Beispielen unterlegt werden. a. Wie ist die Leistungs- bzw. Zukunftsfähigkeit des Funktionssystems x, y, z einzuschätzen? Wo sind Mängel, Änderungserfordernisse, Entwicklungspotenziale? Die aktuelle Leistungsfähigkeit der Politik wird eher mittelmäßig eingeschätzt, im Hinblick auf die Zukunftsfähigkeit besonders kritisch (fehlende Zukunftsvisionen); Inputlegitimation (Programme, Gesetze) wird immer weniger akzeptiert, weil häufig die Legitimation über Output (Umsetzung, Implementation) fehlt. Zudem überlagern die internen Struktur- und Personalprobleme die Funktionserfüllung. Die breite Inklusion der Bevölkerung ist nicht gewährleistet – nicht zuletzt deshalb, weil sich bisher vorhandene Segmente (Milieus, Schichten, Links-Rechts-Sortierung etc.) auflösen. Beachtenswert ist dabei u. a. die kontinuierliche Nichtbeachtung von dauerhaft schlechten Umfragewerten zum Thema „Vertrauen in …“. Das Rechtssystem und die öffentliche Verwaltung schneiden dabei stets besser ab als die Politik bzw. die Politiker im engeren Sinne. Ein Blick auf andere Funktionssysteme zeigt vor allem bei dem Erziehungssystem einen besonderen Handlungsbedarf. Dies gilt nicht zuletzt auch für die Erwachsenenbildung, über die u. a. ein Verständnis der funktional differenzierten Gesellschaft vermittelt werden kann. Qualitätseinbußen zeigen sich auch in dem durch die Digitalisierung und die ‚sozialen‘ Medien geprägten Systeme der Massenmedien – wenn der Beitrag zur ‚Meinungsbildung‘ betrachtet wird. b. Wie ist die Resonanz zu anderen Funktionssystemen (x, y, z): aktiv bis übergriffig; passiv bis korrumpiert (hier ist oft eine besondere Beobachtung des Wirtschaftssystems notwendig)? Wie zu erwarten, variieren die Bewertungen und die Anforderungen zur Resonanz mit den unterschiedlichen Subsystembeobachtungen. Dies lässt sich an einem Dauerthema ablesen: die Bürokratisierung. Weniger Beachtung findet die Tatsache, dass viele Regeln eine Reaktion auf Regelverstöße darstellen. Ein wichtiger Hintergrund ist (dabei) zugleich die ständig zunehmende Komplexität der Funktionssysteme. Politik, öffentliche Verwaltung und Justiz – sowie auch die dadurch gewährleistete Infrastruktur – können bei dem Tempo der globalisierten Wirtschaft oft nicht mithalten. Deshalb wird inzwischen über Möglichkeiten der ‚Entschleunigung‘ diskutiert. Die Dominanz des ökonomischen Systems hat viele historische und aktuelle Gründe. Die Leistungen des Systems sind für die Subsistenz der Gesellschaft von großer Bedeutung. Der Übergang zum Finanzkapitalismus sowie der damit erleichterten Globalisierung hat
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die Funktionsbedingungen allerdings deutlich geändert31. Privatisierungskampagnen haben die Kaperung des politischen und administrativen Systems immer wieder erleichtert. Ein wichtiger Resonanzmechanismus, der Potenzial zum Kapern besitzt, ist der Lobbyismus. Die Einflüsse der Autobranche auf die deutsche Politik sind (auch international) legendär. Nicht selten kommt dabei auch die ökologische Thematik ins Spiel: der größte Teil der Umweltbelastung und -zerstörung ist dem ökonomischen System zuzurechnen. Es ist nicht überraschend, dass immer häufiger Überlegungen angestellt werden, wie die Expansion dieses Systems zu bremsen ist. Stichworte sind dann z. B. Degrowth, Inclusive Economy, grünes Wachstum etc. Übergriffig wird das Wirtschaftssystem mit Unterstützung des Wissenschaftssystems (hier u. a. der Psychologie) auch bei der Kaperung der Menschen durch Aufmerksamkeitsbindung und Konsumanreize. Die Ökonomisierung hat inzwischen die gesamte Gesellschaft infiziert, sodass schon Bücher über das Thema Was man für Geld nicht kaufen kann (Sandel 2012) publiziert wurden. Die Beispiele sind inzwischen breit gestreut: Shareholder Value (Kapitalrendite) ist wichtiger als die nachhaltige Versorgung der Bevölkerung. Ein Doktortitel oder eine gute Bewertung in der Fachbuchrezension sind käuflich zu erwerben. Die Zahl der Hüftoperationen wird durch die Umsatzerwartungen der Kliniken beeinflusst. Werbung kapert die Aufmerksamkeitspotenziale – nicht zuletzt durch die neuen Medien. Nicht immer wurden und werden diese Entwicklungen mit Blick auf alle Funktionssysteme hinreichend sichtbar gemacht und kommuniziert. Dies gilt auch für die multiple Inklusion der Menschen in das Wirtschaftssystem: als Beschäftigte, als Konsument*innen, als Freizeitplaner*innen, als Werbungsadressat*innen, als Aktionäre. Dies ist eine mögliche Erklärung dafür, dass ein Eindämmen der Übergriffigkeit des Wirtschaftssystems so schwierig ist und zu (bisher) uneinlösbar erscheinenden Verknüpfungen bei den Zukunftsperspektiven führt. All dies macht eine langfristige gemeinsame Zielsetzung erforderlich. Durch verschiedene Massenmedien gibt es ebenfalls starke Impulse zur Kaperung von Politik. So wird es fast unmöglich, systeminterne Kommunikationen durchzuführen, ohne dass sie in die Medien gelangen, die dann eine systemspezifische Kommunikation praktizieren (schon früher: „die Bild-Zeitung sprach als erste mit dem Toten“). Das Problem ist dabei vor allem, dass Anpassungen an die asozialen Formen der Internetkommunikation stattfinden (können). Insofern kann man sogar von einer Kaperung der Politik durch Teile der Zivilgesellschaft sprechen – z. B. unter den Stichworten Rüpelrepublik und Radikalisierung. c. Wie ist der Beitrag der Funktionssysteme x, y, z zur wechselseitigen Balancierung des Ensembles (hier ggf. eine besondere Beobachtung von Politik, Wissenschaft, und Medien)? Schwerpunkt: Entwicklung der natürlichen Umwelt und des Klimas. Das Thema natürliche Umwelt betrifft alle Funktionssysteme, deshalb muss die diesbezügliche Resonanz wechselseitig kritisch beobachtet werden – vor allem von der Politik. Neben den Stoppregeln (von innen und außen) stehen auch Innovationen – im Sinne von 31 Dies zeigt sich am medialen „Overload“ mit Börsendaten ebenso wie an der Verlagerung der Bankenfunktionen in Richtung auf „Investment-Banking“.
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nachhaltiger Funktionserfüllung – zur Debatte. Dies betrifft nicht nur das Wirtschaftssystem sowie die Nahrungs- und Energieversorgung, sondern auch die Wissenschaft und deren Forschungsschwerpunkte, das Erziehungssystem und dessen Vermittlung des gesellschaftlichen Zusammenhangs, das Medizinsystem und dessen Beobachtung neuer Gesundheitsrisiken, das Religionssystems und dessen Einsatz für die Erhaltung der Schöpfung, das Mediensystem und dessen Bereitschaft, nicht nur alarmierende Geschichten zu liefern, sondern auch die guten Beispiele zu beschreiben. Vieles davon kumuliert bei der zwischenmenschlichen Kommunikation – insbesondere auch bei der Zivilgesellschaft, die den Weg der zukünftigen, nachhaltigen Gesellschaftsentwicklung kritisch konstruktiv mitgehen muss. Nicht alle Funktionssysteme beobachten alle anderen gleichermaßen intensiv und zeigen ggf. Resonanz. Das Thema Umwelt und Klima ist jedoch geeignet, die gesellschaftsweite Balancierung der Funktionssysteme stärker in den Blick zu rücken. Dabei geht es nicht darum, das eine gegen das andere auszuspielen, sondern die notwendigen Leistungen eines jeden anzuerkennen und zu würdigen – ggf. auch durch selbst entwickelte Stoppregeln. Das Leitmotiv könnte z. B. heißen: „du sollst nicht kapern“. Du sollst Resonanz zeigen und kannst Resonanz erwarten. Damit wird die besondere Verantwortung von Politik, Wissenschaft und Medien (für die Zivilgesellschaft) erkennbar. Alle drei Systeme sind hoch komplex und haben eine breite interne Differenzierung: sie können Komplexität reduzieren, indem sie eine breite Beobachtung anderer bzw. aller Systeme einbeziehen. Dass dies bisher nicht immer überzeugend funktioniert, lässt sich hinsichtlich der holprigen Ressortkoordination in der Politik oder an Mängeln interdisziplinärer Zusammenarbeit in der Wissenschaft oder den Redaktionsstrukturen der Medien ablesen. Gleichwohl gibt es bereits Ansätze einer übergreifenden Kommunikation, die sich weiter entwickeln lassen und die Grundlage für eine bessere wechselseitige Resonanz der Funktionssysteme bilden könnten. Ob es dann zu einem „Parlament der Funktionssystem-Repräsentanten“ (Nassehi 2019) oder Ähnlichem kommen kann und soll, bleibt allerdings zu prüfen. d. Die Bewertung der Inklusionsbilanz (in allen Funktionssystemen). Insgesamt wird die Inklusion der Bevölkerung überwiegend ambivalent bis kritisch bewertet. Dies gilt für alle Funktionssysteme. Dazu trägt die zunehmende Komplexität der gesellschaftsinternen Kommunikation bei, die durch vielfältige Migrationsprozesse sowie durch neue digitale Medien mehr denn je sichtbar gemacht und gefördert wird. Sitzt bald jeder nur noch in einer individuellen ‚Blase‘, in seiner ‚Ich-AG‘ bzw. in seiner kleinen Parallelgesellschaft? Im Politiksystem macht sich dies in der Zersplitterung der Parteien und einem neuen Populismus bemerkbar: es wird immer schwieriger, politische Mehrheiten zu organisieren. Wie lässt sich der Zusammenhalt unter diesen Bedingungen fördern? Hilfreich ist manchmal schon der Hinweis auf die Geltung des Grundgesetzes. Zumindest ist zu erwägen, ergänzende Formen der Kommunikationsbeteiligung auch mit dem Hinweis auf die Gesellschaftsarchitektur – als funktional differenziertes Muster – zu erproben und anzuwenden. Es gibt bereits viele Beispiele für Alternativen der Gestaltung von Mitgliedschafts- und Beteiligungsrollen. Familien, das Erziehungssystem, die Medien 59
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(mit ihrer Rolle in der Meinungsbildung) und die Zivilgesellschaft (mit der Bereitschaft zu ehrenamtlicher Tätigkeit) können wichtige Beiträge leisten, um gemeinsam faire Regeln für die klimabezogene Veränderungen in der Gesellschaft zu entwickeln. e. Wie geht man mit der Globalisierung um: durch das „Hochzonen“ der Wirtschaft und der Politik – oder das parallele „Hochzonen“ möglichst vieler Funktionssysteme? Es ist wiederholt beschrieben worden, wie die Globalisierung das zuvor beschriebene Vorgehen erschwert: die von der Weltwirtschaft geprägte Weltgesellschaft hat keine hinreichend ausgestaltete funktionale Differenzierung. Die Gestaltung dieser Ebene wird oft von den Fragen „kann ich die globale Architektur bestimmen bzw. dominieren?“ und „was nützt mir eine spezifische Mitwirkung?“ bestimmt. Dass vor allem das Klimaproblem globalen Charakter hat und – wie zuletzt die Coronaviren – nicht einfach wegdefiniert werden kann, ist unbestritten und hat zu Resonanzen sowohl auf EU- als auch UN-Ebene geführt. Betrachtet man allerdings die Erosionen des Global Governance und die Angriffe auf den europäischen Zusammenhalt, so sind die beiden Ebenen der „Hochzonung“ deutlich zu trennen. Vor allem für die EU besteht die Anforderung, für die Zukunft die Weichen hinsichtlich ihrer grundlegenden Strukturen zu stellen: Rückfall in die ‚Kleinstaaterei‘ mit einer Freihandelszone, oder eine stärkere Koordination, oder gar Harmonisierung der Funktionssystemarchitekturen auf europäischer Ebene32? Global Governance auf Weltniveau ist gleichwohl für bestimmte Probleme erforderlich – wie das Klimaproblem und zuletzt auch das Virusproblem zeigt. Dabei müssen alle Staaten bzw. Gesellschaften ‚mitgenommen‘ werden – selbst, wenn sie den Charakter von Failed States oder Diktaturen – durch Partei-, Militär-, Wirtschafts- oder Religionsführer – aufweisen. Dies kann auch den Abbau von Außenhandelsungleichgewichten oder Ressourcentransfers in besonders betroffene Länder einschließen. Mit anderen Worten: eine Systemkonkurrenz zwischen Demokratien und Diktaturen ist dann eher nicht auf der Tagesordnung – auch nicht mit der Frage, ob nur in einer Diktatur die Klimaziele (oder auch eine Virusbekämpfung) durchgesetzt werden können, weil dort die komplizierte Funktionssystembalance (vielleicht) nicht erforderlich ist. Letztlich setzen direkte und indirekte Folgen umweltbezogener Entscheidungen jede Gesellschaftsformation unter Beobachtungs- und Entscheidungsdruck. Gleichwohl bleibt es erforderlich, Stoppregeln für die inhumane und umweltschädliche Erzeugung von Produkten und ihren weltweiten Transport (durch die sogenannten Lieferketten) festzulegen. Dies könnte auch zu einer neuen subsidiären Architektur der Weltwirtschaft führen33.
32 Damit dürften auch alte Debatten wieder aufleben: z. B. das Europa der zwei Geschwindigkeiten oder der Kompetenzkatalog. Es ist erforderlich, das Ausmaß der auf europäischer Ebene zu verankernden Systemfunktionen zu bestimmen. Besondere Verantwortung trägt dabei das europäische Parlament und die europäische Justiz. 33 Dies gilt vor allem für lebenswichtige Produkte (wie Wasser, Nahrung, Medikamente etc), Dienstleistungen (wie Bildungssystem, Medizinsystem, Wissenschaft etc) und die materielle Infrastruktur – weniger wohl für neue Modeartikel oder „Fun Services“.
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Gleichwohl bleiben für das Natursystem erhebliche Risiken durch die unzureichend reduzierte Komplexität und die Unberechenbarkeit vieler Folgeeffekte. Daher ist und bleibt es erforderlich, neben dem Klimaschutz (climate mitigation) auch die Folgenanpassung (climate adaptation) schon jetzt und vor allem in der Zukunft zu thematisieren und kooperativ zu gestalten.
4.2
Praktiken der Dokumentation und Entscheidungsvorbereitung
Die Beschreibungen von Gegenwärtigem und Kommunikationen über die Zukunft haben sichtbar gemacht, dass es sich bei der systemtheoretischen Zugangsweise nicht um eine normative Neuerfindung der (Zukunfts-)Gesellschaft handelt. Es geht um die Reduktion der Komplexität durch ein Schema der Beobachtung und Bewertung dessen, was der Fall ist. Zudem konnte gezeigt werden, dass es begründet ist, die Frage, was steckt dahinter, mit einem Hinweis auf Probleme im Arrangement und in der wechselseitigen Resonanz funktionaler Subsysteme der Gesellschaft zu verknüpfen. Dies gilt vor allem auch für das Problem des Klimawandels sowie der Ökologie und Nachhaltigkeit. Es ist also notwendig und sinnvoll, auch die damit verbundenen Handlungsimpulse in einen breiten Zusammenhang zu stellen und so ihre Zukunftsfähigkeit zu prüfen und zu verankern. Im Folgenden geht es deshalb um Praktiken für die Gestaltung der funktional differenzierten Gesellschaft der Zukunft, die neben dem Kurzfristigen, Alltäglichen und Kleinteiligen mehr Beachtung verdienen. Dabei kann und muss die Weltgesellschaft nicht neu erfunden werden. Eine Anknüpfung an bisherige Entwicklungen erfordert die Bewertung der Zukunftsfähigkeit dessen, was an Handlungsoptionen (weltweit) zur Nachhaltigkeit der systemspezifischen Funktionserfüllung, zur Inklusionsleistung der Funktionssysteme und zu ihrer wechselseitigen Balancierung schon vorhanden ist, erprobt oder projektiert wird. Vor dem Hintergrund systemtheoretischer Analysen können vier Gestaltungsaufgaben hervorgehoben werden: 1. Bestimmung der Indikatoren für die Erfassung dessen, „was der Fall ist“ (Zustandsund Zielbezüge) Die Komplexität und Kontingenz der modernen Gesellschaft machen es erforderlich, gezielt Informationen auszuwählen, die den Zustand der Gesellschaft und ihre Zielsetzungen beschreiben. Dabei ist es oft hilfreich, sich von den Selbstbeschreibungen einzelner Funktionssysteme zu trennen und eine möglichst unabhängige Situations- sowie Entwicklungsanalyse durchzuführen. Das Wissenschaftssystem (mit dem Code wahr‒falsch) ist hier besonders gefordert – zumindest, wenn es eine hinreichende Eigenständigkeit bewahrt hat. Den Ausgangspunkt und Rahmen sollten die Aufgaben- und Leistungszuschreibungen für die einzelnen Funktionssysteme bilden – wie Politik (Herstellung bindender Entscheidungen), Recht (Konfliktregulierung), Erziehung (unwahrscheinliche Kommunikation erlernen), Wirtschaft (Bedürfnisbefriedigung), Wissenschaft (neues Wissen schaffen), Medien (öffentliche Meinung befördern), Zivilgesellschaft (Selbstorganisation). Die Auf61
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gabe besteht dann zunächst in der systematischen Bewertung der Nutzbarkeit verfügbarer Datenquellen – oder auch deren Ergänzung – und schließlich in der Auswahl der zu nutzenden Indikatoren: z. B. Lebenserwartung, Mediennutzung, Aktienkurse, Wahlbeteiligung, Vertrauen in Institutionen, Arbeitslosenquoten, PISA-Ergebnisse, Schuldenbarometer, Wissenschaftspreise, Patentanmeldungen, geahndete Straftaten, Zu- und Abwanderungen etc. Kritisch zu prüfen ist dabei auch die relative Aussagekraft der Indikatoren. Häufig dürften qualitative Unterteilungen – z. B. nach Bevölkerungsgruppen oder nach Regionen – erforderlich sein34. Dies gilt besonders für die Formulierung von Zielsetzungen, die mit den Indikatoren verbunden werden, denn sie müssen im Zeitvergleich Fort- und Rückschritte sichtbar machen. Für die Festlegung und Ausgestaltung der Zustandsbeschreibungen und Zielkataloge sollten sowohl verfügbare Bewertungen durch die Bevölkerung (z. B. Belastungs- und Risikowahrnehmungen – auch hinsichtlich der Zukunft) als auch internationale Vergleichsdaten genutzt werden. Letztere liefern Ansatzpunkte zur Erklärung von Stärken und Schwächen, und helfen letztlich auch, funktionale Äquivalente aufzudecken. Dies gilt vor allem für europäische Vergleiche, weil hier u. U. wechselseitige Angleichungen erforderlich sind. Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass die festgelegten Indikatoren für eine regelmäßige (ggf. quartalsmäßige, zumindest aber jährliche) Erfassung und Präsentation genutzt werden können. Eine Herausforderung besteht in der dabei zu leistenden Komplexitätsreduktion: die Übersicht soll dazu beitragen, den Gesellschaftsmitgliedern eine grundlegende Vorstellung von ihrer Gesellschaft und den zukunftsbezogenen Zielen zu vermitteln – und dabei den Kampf gegen einen Daten-Overload und die ‚Aufmerksamkeitshändler‘ aufzunehmen sowie die Menschen aus ihren ‚Echokammern‘ oder ‚Parallelgesellschaften‘ herauszuholen. 2. Bestimmung der Indikatoren für die Erfassung dessen, „was dahintersteckt“ (Stärken und Schwächen der einzelnen Funktionssysteme; ggf. Ansätze zur Umgestaltung) Um die zuvor beschriebenen Dokumentationserfordernisse mit Blick auf die Frage „Was steckt dahinter“ zu ergänzen, müssen ggf. weitere Indikatoren zum ‚Zustand‘ der Funktionssysteme und ihrer Resonanzqualität ergänzt werden: z. B. Beobachtungen der Organisationsmuster und Kommunikationspraktiken – und ihr Beitrag zur Funktionserfüllung: wissenschaftliche Kommissionen, Rechercheverbünde der Medien, Rechnungshöfe, WatchOrganisationen, Interessengruppen etc. können dabei helfen, Zustandsbeschreibungen und Zielsetzungen zu bestimmen. Zu ergänzen wäre dies durch systemtheoretisch begründete Sachverhalte, wie vor allem Inklusions- und Resonanzqualität, aber auch interne Stoppregel-Arrangements (z. B. Ethikkommissionen; systeminterne Folgenbewertung); ‚Kaperungsindikatoren‘ (z. B. Personalrotation zwischen den Funktionssystemen, Korruption), Flucht ins Ausland (z. B. Kapital- und Steuerflucht, Race to the Bottom bei Produktions34 Das BIP pro Kopf zu beschreiben, ist wenig hilfreich, wenn die Reichtums- und Einkommensverteilung höchst ungleich ist. Ebenso problematisch ist es, bei der Arbeitslosenquote alle Teilnehmer*innen an Umschulungen nicht zu berücksichtigen.
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standards). Für die Identifikation und Zugänglichkeit solcher Indikatoren ist die Sicherung von Informationsquellen – z. B. der Schutz von Whistleblowern – von großer Bedeutung. Auch diese Bestandsaufnahme sollte mit Änderungsimpulsen (Reformzielen) verbunden sein, um sie einer kontinuierlichen (z. B. jährlichen) Bewertung unterziehen zu können. 3. Exkurs: Nachhaltigkeitsindikatoren und die wechselseitige Systemresonanz (Balancierung) Die besonders hervorgehobenen Themen Nachhaltigkeit und Balancierung machen nicht nur Qualitätsbestimmungen (CO2-Emissionen, Wasserqualität, Bodenversiegelung, Plastikmüll etc.), sondern häufig auch die Kennzeichnung problemspezifischer Muster der Kommunikation erforderlich – um u. a. das aneinander Vorbeireden, Echokammern zu reduzieren. Dies ist sowohl für die gemeinsame Bilanzierung des Naturzustandes als auch – besonders – für die längerfristigen Zukunftsentwürfe notwendig. Konkret: die verschiedenen Nachhaltigkeitsziele müssen unter breiter Beteiligung – also von allen Funktionssystemen der Gesellschaft – erörtert und festgelegt werden. Dies gilt vor allem für die Ziele, die deutliche Änderungen der bisherigen Lebensweisen erfordern35. 4. Beteiligungsverfahren für die Festlegung von Indikatoren und Zielen gestalten Wie immer wieder betont, ist für die Festlegung von Schritten zur Gesellschaft der Zukunft eine breite Beteiligung der Bevölkerung (z. B.) durch Zufallsauswahlen und bewusste Rollenverteilungen – auch: taking the role of the other – zu organisieren. Dem muss die Anerkennung der Tatsache zugrunde liegen, dass alle Funktionssysteme notwendige Beiträge zur nachhaltigen Gesellschaftsentwicklung leisten müssen, und dass diese Leistungen wechselseitig gewürdigt werden. Wenn es gelingt, durch Mediationsverfahren, Foren, Fokusgruppen, Dialoge etc.36 – z. B. koordiniert durch Akteure von Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft – neue Zustandsindikatoren sowie Ziele für die Zukunftsgestaltung zu entwickeln, dann müssen diese Vorschläge in die Breite der Gesellschaft – und vor allem in die jungen Generationen – übermittelt werden, sodass sich ggf. Rückmeldungen und Plebiszite daran anknüpfen lassen. Dabei ist es wichtig, nicht nur die als notwendig angesehenen Veränderungen – ggf. auch gegen die NIMBY-Mentalität –, sondern auch die weiterhin bestehenden Spielräume der Lebensgestaltung zu kommunizieren. Ebenso wichtig ist es, diesbezügliche Signale frühzeitig zu übermitteln, sodass ggf. Zeit für gut begründete Modifikationen bleibt37.
35 Instruktiv sind Reaktionen auf die Virus-Bekämpfung: dies dürfe nicht zu einem zukünftigen Rückbau der wirtschaftlichen Globalisierung führen. 36 Inzwischen gibt es hierzu viele innovative Konzepte – wie z. B. die „Theorie U“ (Scharmer 2019). 37 Dies widerspricht den neuesten Aussagen von Jonathan Franzen (im Spiegel, Jan. 2020), der davon ausgeht, dass die Welt am Abgrund stehen muss, um ggf. noch etwas zu ihrem Überleben zu unternehmen. Gleichwohl soll nicht verschwiegen werden, dass Luhmann bei den hier 63
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Zusammenfassung
Was ist der Fall? Die Gesellschaft ist in Unordnung, die Menschen sind im Stress. Was steckt dahinter? Das Wachstum und die Entgrenzung der (Welt-)Gesellschaft erhöhen die Komplexität ihrer Strukturen sowie die Kontingenz von Kommunikations- und Entscheidungsprozessen. Eine zusätzliche Komplikation besteht darin, dass ein „Weiter so“ nicht mehr tragfähig ist. Besonders die Projektionen der Klimaentwicklung haben das Argument bekräftigt, dass wir nur einen Planeten haben und somit die Zukunft wesentlich nachhaltiger (umweltschonender) gestalten müssen. Dies gilt nicht nur für CO2-Emissionen, sondern für die Lebens- und Konsumstandards generell. Was ist der Fall? Die meisten diesbezüglichen ‚Erkenntnisse‘ gibt es schon seit Jahrzehnten. Sie werden ständig durch neue Vorschläge und Deklarationen ergänzt. Das Irritierende ist dabei, dass dies alles keine hinreichende Wirkung zeigt. Was steckt dahinter? Oder konkreter: was steckt hinter dem Versagen der Gesellschaft hinsichtlich der ökologischen Herausforderungen? Diese Frage wurde als vordringlich angesehen und deshalb in den Mittelpunkt der Ausführungen gerückt. Die Antworten darauf sind von der Beobachtungsperspektive abhängig. Mit Blick auf die Klimaproblematik ist es unerlässlich, in großen Dimensionen zu beobachten. Die zuvor formulierten Überlegungen basierten deshalb auf einer Gesellschaftstheorie: auf der Systemtheorie von Niklas Luhmann. Damit sollte zugleich ein allzu esoterischer Theoriediskurs überwunden werden, um die Beobachtungsstrategien und Analyseperspektiven für die Zukunftsgestaltung der modernen Gesellschaft zu nutzen. Zunächst wurde gezeigt, wie die ‚Reduktion von Komplexität‘ in der Geschichte (Evolution) des Planeten stattgefunden hat: vor allem durch Arbeitsteilung in unterschiedlichen qualitativen und quantitativen Dimensionen. Besondere Beachtung erfordern die neueren Entwicklungen zur funktionalen Differenzierung auf der gesellschaftlichen Ebene. Sie steigert die Leistungsfähigkeit der modernen Gesellschaften durch neue Organisations- und Kommunikationsformen und ermöglicht ihnen so ihr Überleben. Die Funktionssysteme der Gesellschaft können ihre besondere Leistung erbringen, weil sie jeweils in einem spezifischen Medium mit einem spezifischen binären Code kommunizieren: z. B. Geld in der Wirtschaft, Recht im Rechtssystem, Wahrheit im Wissenschaftssystem, Macht im Politiksystem etc. Die Kehrseite: Es gibt keine zentrale Steuerungsinstanz. Alle tragen zum Funktionieren der Gesellschaft bei, sind vielfach aufeinander angewiesen. Dies gilt besonders für die hier im Mittelpunkt stehenden rechtstaatlich, liberal und demokratisch verfassten Gesellschaften. Deren Fähigkeit zur Zukunftsgestaltung wird immer häufiger mit immer mehr Indikatoren in Zweifel gezogen. Nicht selten wird dabei auf die Aussage (das „Diktum“) von Ernst-Wolfgang Böckenförde (1991) verwiesen, dass diese demokratischen Gesellschaften von Rahmenbedingungen abhängen, die sie selbst nicht gewährleisten können. vorgetragenen Zielsetzungen seinen häufig (auch im Buch „Ökologische Kommunikation“) verwendeten Terminus „hoch unwahrscheinlich“ benutzen würde.
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Was steckt also dahinter? Aus systemtheoretischer Perspektive besteht das Hintergrundproblem darin, dass auch bei einer weiteren Zunahme von Komplexität und Kontingenz in der Zukunft ein balanciertes Ensemble von Funktionssystemen zu gestalten ist. Nur so kann die notwendige Reduktion der Komplexität und die Resonanz gegenüber Kontingenzen der Umweltereignisse erreicht werden – wodurch auch eine Auflösung in singuläre Echokammern oder die Entwicklung diktatorischer Gesellschaftsarchitekturen vermieden werden kann. Zwei Rahmenbedingungen der natürlichen Umwelt, die nicht – wie die sozialen Systeme – aus Kommunikation bestehen, erfordern besondere Beachtung: 1. die Menschen als psycho-physische Wesen und 2. die Natur (Flora, Fauna, Klima). Die Balancierung der Funktionssysteme ist also u. a. deshalb zwingend, weil sie Resonanz bezogen auf die Menschen (durch Schutzrechte und Inklusion) und die Natur (durch Ressourcenschonung) zu zeigen haben. Bei der Natur ist ein Dilemma zu beachten, das zum Teil die gegenwärtige Dramatik der Klimaproblematik erklärt: Die Natur kann nicht sprechen bzw. kommunizieren oder – wie die Menschen immerhin: öffentlich protestieren. Menschen müssen für die Natur sprechen, um Resonanz einzufordern. Dies geschieht bisher schon, aber meist ohne hinreichende, nachhaltige Wirkung. Was ist zu tun? Allgemein formuliert geht es darum, die wechselseitige ‚Übergriffigkeit‘ von Funktionssystemen zu bremsen und dabei eine bessere Funktionserfüllung anzuregen. Vor allem mit Blick auf die natürliche Umwelt wurde die Nutzung von systemspezifischen Stoppregeln als wichtige Gestaltungsoption beschrieben. Da das Fehlen solcher Regeln innerhalb der Funktionssysteme weit verbreitet ist, müssen die Anstöße oft von außen kommen. Manchmal helfen bewusste Rollenwechsel: taking the role of the other; das System x beobachtet sich quasi durch die ‚Augen‘ eines anderen Systems. Dies bedeutet z. T. ein Stopp für bestimmte Prozeduren und Strukturen – wie bei Menschenrechtsverletzungen, Fakes und Hass in den Medien, der Reichtumskonzentration, der Korruption, der unverhältnismäßigen Ausbeutung und Zerstörung natürlicher Ressourcen etc. Teilweise geht es aber auch darum, die Funktionserfüllung des jeweiligen Systems umzugestalten. Je früher diesbezügliche Regeln kommuniziert und aufgegriffen werden, desto mehr Möglichkeiten gibt es für die Entwicklung ‚funktionaler Äquivalente‘. Ein Beispiel ist die Energiewende, d. h. die Verlagerung der Energieerzeugung auf erneuerbare Quellen: die Funktionszuschreibung bleibt erhalten, das Arbeitsprogramm ändert sich. In Einzelfällen ist auch eine Verlagerung einer bestimmten Problembearbeitung in ein anderes Funktionssystem sinnvoll: Verstaatlichung, Privatisierung, Verwissenschaftlichung, Verrechtlichung, Bürger*innen-Entscheide etc. Die Herausforderung besteht bei allen zukunftsbezogenen Neuausrichtungen darin, die wechselseitige Beobachtung und einen Austausch zwischen den Funktionssystemen und die Inklusion der Menschen in die Kommunikationszusammenhänge sicherzustellen. Damit kann auch die Frage gemeinsam geklärt werden, wer die Nutznießer*innen von Zukunftsaussichten sein werden und wer dafür welche Konsequenzen oder Lasten zu tragen hat. Ohne neue Standards von Fairness wird dies wohl nicht gelingen. Dies gilt auch für die Sicherung von kommunikativer Anschlussfähigkeit auf europäischer und UN-Ebene. Politik und Zivilgesellschaft sind dabei besonders gefordert: weltweite Klimakonferenzen und weltweite FFF-Proteste ergänzen 65
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einander, müssen eben aber auch praktisch wirksam werden. Ohne eine zukunftsfähige funktionale Differenzierung der Gesellschaft wird das nicht gelingen.
Anhang Übersicht über die systemtheoretischen Beobachtungs- und Analysekategorien Für die Beobachtung von (einzelnen) Funktionssystemen bietet die Systemtheorie eine Reihe von Gesichtspunkten an, die die jeweilige Operationsweise der funktionsbezogenen Kommunikation zu kennzeichnen erlauben. Im Mittelpunkt stehen dabei ‚generalisierte‘ Kommunikationsmedien und der (binäre) Code. Diese sowie ergänzende Kennzeichnungen sollen deutlich machen, wie die kommunikative Anschlussfähigkeit innerhalb einzelner Funktionssysteme gesichert werden kann. • Problem ist das alltagspraktische Pendant zur Funktion: Es bezeichnet ein Defizit bzw. unerfülltes Erfordernis für die Gesellschaft – wie z. B. Knappheit (an Lebensmitteln); das Problem wird auch als Kontingenzformel bezeichnet, weil damit auch signalisiert wird, dass nach einer Problemlösung gefragt oder gesucht wird – ohne dass sie gefunden werden muss. • Funktion ist dann die Bezeichnung der Leistung, die als Problembearbeitung bzw. -lösung angesehen wird: z. B. Lösung von Knappheitsproblemen durch Güterversorgung. • Leistung bezeichnet das mögliche oder faktische Ergebnis einer Problemlösung (z. B. Bedürfnisbefriedigung). • Medium ist eine der Hauptkomponenten der Funktionssystembezeichnung. Es beschreibt die generalisierten Mittel des Kommunikationstransfers; sie sind meist lose gekoppelt und gerade deshalb oft nur in fest gekoppelter Form beobachtbar: Das Geld ist ein typisches generalisiertes Medium für wirtschaftsbezogene Kommunikationen und Entscheidungen; zu beobachten ist es aber oft nur in Geldscheinen. Glaube, Recht, Macht, Geld, Wahrheit und Information sind die am häufigsten analysierten Medien, weil sie den größten Anteil gesellschaftsbezogener Kommunikation beinhalten. • Code ist das zweite Kernelement und direkt mit dem Medium verbunden. Besonders hervorzuheben ist der binäre Charakter der Codes38, durch den sichergestellt wird, dass die Annahme oder Ablehnung der Kommunikation beobachtbar wird. Zahlen: ja oder nein; ein Geschäft kommt zustande oder nicht.
38 Beispiele sind: Recht/Unrecht, Macht haben/keine Macht haben (Regierung/Opposition), Zahlung/Nichtzahlung, Wahrheit/Unwahrheit. Diese Unterscheidungen bestimmen die Anschlussfähigkeit und den Fortgang der Kommunikation in den jeweiligen Funktionssystemen.
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• Programm beschreibt ein Muster, das typisch für organisierte Sozialsysteme ist, denn es legt wichtige Kommunikationsbeteiligungen und Entscheidungsmodalitäten fest. Es kanalisiert und erleichtert damit die Kommunikation. Die in systemtheoretischen Analysen und Diskursen besonders häufig thematisierten Funktionssysteme39 deuten ihr relatives Gewicht in modernen Gesellschaften an. Die Liste ist allerdings sowohl von Luhmann als auch von Fachleuten für besondere gesellschaftliche Aufgabenfelder und Organisationen (wie Sozialarbeit) sowie hinsichtlich informeller Strukturen (wie Protestbewegungen) oder kleinteiliger Elemente (wie Familie) erweitert worden. Sie belegen, dass im Rahmen zunehmender Komplexität und Kontingenz weitere Ausdifferenzierungen möglich sind. Dabei ist zu beachten, dass dies die Koordination innerhalb und zwischen den Funktionssystemen erschweren kann. Die folgende Übersicht über wichtige Funktionssysteme zeigt die ‚üblichen‘ und vereinfachenden Kennzeichnungen (Krause 2001, S. 43).
Funktion Erziehung Selektion für Karrieren
Recht
Leistung Ermöglichung unwahrscheinlicher Kommunikation Erwartungserleichterung, Konfliktregulierung Umsetzung kollektiv bindender Entscheidungen
Ausschaltung Kontingenz normativer Erwartungen Politik Ermöglichung kollektiv bindender Entscheidungen Wirtschaft Knappheits- Bedürfnisbeminderung friedigung Wissenschaft Medizin
Erzeugung neuen Wissens Krankheitsbehandlung
Medium Lebenslauf & Karriere
Code Besser lernen oder schlechter lernen, Platzierung oder keine Platzierung
Programm Bildungsprogramm, Lehr-, Lernpläne
Rechtsprechung
(Un-)Recht
Konditionalprogramme, Rechtsnormen
Macht
(Keine) Macht haben; Regierung/ Opposition
Regierungs-/ Parteiprogramme, Budget
Geld
(Nicht-)Zahlung
Zweckprogramm, Budgets Theorien, Methoden
Bereitstellung Wahrheit neuen Wissens
(Un-)Wahrheit
Krankheitsbewältigung, Heilung
Krankheit/Gesund- Therapien heit
Krankheit
39 Luhmann selbst hat einige von ihnen ausführlich analysiert – mit Titeln wie: die Politik…, die Religion…, die Wissenschaft…, die Wirtschaft der Gesellschaft. Viele dieser Bücher wurden in Zusammenarbeit mit Experten aus diesen Themenfeldern geschrieben. 67
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Massenmedien Zivilgesellschaft Familie
Religion Kunst
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Funktion Kommunikationsasymmetrierung Gesellschaftliche Selbstalarmierung Grundlegende Inklusion Kontingenzausschaltung Sicht auf ausgeschlossene Möglichkeiten
Leistung Formung öffentlicher Meinung Selbstorganisation
Medium „Information“
Code (Nicht-)Information
Angst/ Sorge
Dafür-/Dagegensein
Sozialisation
Liebe
(Nicht-)Mitglied
Diakonie
Glaube
Selbstprogrammierung
Immanenz/Transzendenz Alternative Schön/hässlich Realitäten schaffen
Programm „antizipierte“ öffentliche Meinung Bürgerinitiativen, NGOs Beziehungsgeschichten Offenbarung, Heilige Schrift Ausstellungen, Museen, Vorführungen
Die derart unterschiedenen Funktionssysteme sind als jeweils selbstbezügliches geschlossenes Kommunikationssystem anzusehen. Dabei kann die Binnenarchitektur (z. B. Organisationen) gleichwohl unterschiedliche Formen annehmen; da sie aber der gleichen Funktion dienen, werden sie als „funktionale Äquivalente“ bezeichnet: dies wird im Rahmen des internationalen Vergleiches besonders sichtbar, denn Politiksysteme, Schulsysteme, Medizinsysteme etc. werden häufig unterschiedlich strukturiert (organisiert). Gleiches gilt für systeminterne Reformen im Zeitverlauf. Durch die fortschreitende Differenzierung der Gesellschaft wird es zunehmend schwieriger, sich der Unterschiede der Funktionssysteme hinsichtlich Medium und Code bewusst zu sein.
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Zukunftsfähigkeit und Zukunftsgestaltung aus der Sicht der zwei dominierenden Weltleitbilder Rolf Kreibich
Zukunftsfähigkeit und Zukunftsgestaltung 1
Historischer Kontext
Zukunftsfragen und der Wunsch, zukünftige Ereignisse und Entwicklungen zu erkennen und bewusst zu gestalten, haben zu allen Zeiten die Menschen bewegt. Das war schon in der Antike so, die umfangreiche klassische Literatur legt darüber ein beredtes Zeugnis ab. Das war auch ein zentrales Anliegen in zahlreichen anderen alten Kulturen (Minois 1998). Bis zum Ausgang des Mittelalters versuchten Zukunftsdeuter mit weitgehend spekulativen Mitteln, Erkenntnisse über die Zukunft bzw. zukünftige Entwicklungen zu erlangen. Das Orakel von Delphi bildet hierfür die geeignete Metapher. Erstrebenswert waren vor allem Erkenntnisse über künftige Naturereignisse wie Sonnen- und Regenperioden, starke Winde, die Deutung von Himmelszeichen etc. Aber auch wirtschaftliche, technische, militärische und politische Prognosen waren gefragt, um sich darauf ein- und ausrichten zu können. Natürlich war damit die Vorstellung verbunden, dass die Kenntnis über zukünftige Ereignisse und Entwicklungen praktische Vorteile und günstige Handlungschancen ermöglichen würde, wenn man auf die zukünftigen Vorgänge gezielt Einfluss nehmen oder gewünschte Entwicklungen sogar bewusst herbeiführen und gestalten könne. Die Befassung mit Zukunftsfragen und zukünftigen Entwicklungschancen spielte im 18. und 19. Jahrhundert durch die rasante Technisierung im Rahmen der industriellen Revolution eine immer größere Rolle für das Leben und Handeln in der damaligen Gegenwart. Denn mit der naturwissenschaftlich basierten Entfesselung von Technik, Industrie, technischen Infrastrukturen, Haushalts- und neuen Militärtechniken veränderten sich die Lebensverhältnisse, die Lebensbedingungen und die Umfeldsituation der meisten Menschen in einem bis dahin ungeahnten Tempo. Das gilt vor allem für die Menschen in den schnell wachsenden Städten und Industrieregionen. Die Zukunft jedes Einzelnen und der Gesellschaft insgesamt war nun viel weniger ähnlich zu Vergangenheit und Gegenwart als in der vorindustriellen Zeit. Wer sich nicht mit den Potenzialitäten und Optionalitäten der Zukunft befasste, lief jetzt viel mehr Gefahr, abgehängt oder unfreiwillig in nicht gewollte Zukunftsentwicklungen (Zukünfte) gestoßen zu werden. Trotzdem blieb die Befassung mit Zukünften noch weitgehend spekulativ oder einseitig auf die technisch-industriellen Entwicklungschancen ausgerichtet. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_3
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Die Zukunftsfragen und Zukunftserwartungen wurden allerdings im Rahmen der industriellen Revolution immer stärker von den naturwissenschaftlich-technischen Erkenntnissen und Innovationen geprägt. Mehr noch, sie fokussierten vermehrt auf einen einzigen Zukunftspfad, den der naturwissenschaftlich-technisch-industriellen Entfaltung aller Lebensbereiche. Wir sprechen von nun an vom „Wissenschaft-Technik-IndustrieParadigma(WTI)-Paradigma“ (Kreibich 1986, S. 134ff.). Dieses dominiert vermehrt die Warenproduktion, den Dienstleistungsbereich, die Haushaltswirtschaft, den Verkehrsbereich, die innere und äußere Sicherheit sowie die Waffen- und Militärtechnik. Arbeit und Konsumtion, das Gesundheitswesen, die Freizeitgestaltung und selbst die Kultur sind schon bald nicht mehr ohne wissenschaftsbasierte Techniken vorstellbar. Der Pfad des wissenschaftlich-technisch-industriellen Fortschritts avancierte zum Fortschritt schlechthin. Die Zukunftsfragen und zukünftigen Gestaltungsmuster kumulieren in der Suche nach naturwissenschaftlich basierten technisch-innovativen Lösungen. Obwohl schon im 19. Jahrhundert Zukunftsprobleme vor allem auch als Folgen dieses Entwicklungsweges selbst hervortraten – konfliktträchtige ökonomische und soziale Disparitäten zwischen Fabrikarbeitern und besitzender Bourgeoisie, Frieden bedrohende wissenschaftlich-technische Ungleichgewichte zwischen den Völkern und Staaten, gravierende Umweltbelastungen und Zivilisationskrankheiten – blieben Wissenschaft, Technik, Wirtschaft und vor allem auch die Politik weltweit im so ‚erfolgreichen‘ WTI-Paradigma verhaftet. Denn dieses versprach eine Verbesserung der Lebensbedingungen und des Lebensstandards für eine große Anzahl von Menschen, insbesondere für die Besitzenden von Reichtum und Macht der aufstrebenden bürgerlichen Klasse. Für diese gab es nach der Aufklärung und der Erfindung der empirisch-analytischen und mathematisch-formalisierenden Wissenschaftsmethode der Naturwissenschaften und deren Erkenntnisgewinne sowie technischen Erfindungen keinen Zweifel, dass alleine das WTI-Paradigma den großen Fortschritt für eine grandiose Zukunftsgestaltung bedeutete. Die Politik, die Wirtschaft und die Gesellschaft belohnten deshalb die Wissenschaft, insbesondere die Naturwissenschaften und Technikentwicklungen in einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß. Das wiederum forcierte den Prozess der wissenschaftlich-technischen Innovation und Produktion. Von nun an bestimmte dieser positiv rückgekoppelte Prozess das Leben der meisten Menschen und die Entwicklungen in den ‚fortgeschrittenen‘ Staaten Europas und Nordamerikas (Kreibich 1986, S. 243ff., S. 314ff.).
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Herausbildung einer wissenschaftsbasierten Zukunftsforschung
Nach diversen Ansätzen im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, auch die Zukunft (natur-) wissenschaftlich empirisch-analytisch zu erfassen, bildete sich erstmals in den 30er- bis 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts, hauptsächlich in den USA, eine wissenschaftsbasierte Zukunftsforschung heraus. Diese beruhte weitgehend auf den erstmals praktizierten multi-
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und bald auch interdisziplinären Kooperationen zahlreicher Vertreter unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen der Naturwissenschaften sowie der Sozial- und Geisteswissenschaften (Kreibich 1986, S. 378ff.). Hier bildeten sich neue Wissenschaftsbereiche wie die Systemwissenschaft (Systemtheorie, Systemanalyse, Systemtechnik), die Kybernetik, die Planungswissenschaft, die Organisations- und Managementwissenschaft, die Informations- und Kommunikationswissenschaft heraus. Zahlreiche neue Methoden und Techniken wurden erfunden, insbesondere zur Erfassung von Zukunftsentwicklungen (Zukünften), beispielsweise Simulationstechniken, Systemtechniken, Optimierungsverfahren, Analogietechniken, die Delphi-Methode, Netzplantechniken, Szenariomethoden etc. Entscheidend ist aber, dass alle neuen Wissenschaftsgebiete und -methoden, ebenso die politischen und wirtschaftlichen Steuerungsinstanzen in Staat und Privatwirtschaft im alten Fortschrittsmuster des WTI-Paradigmas verhaftet blieben. So nutzten die Entscheider in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zwar die neuen hocheffizienten Wissenschaften und wissenschaftlichen Methoden zur Bewältigung kurz- und mittelfristiger komplexer Entwicklungs-, Wachstumsziele und Problemlösungen. Diese Forschung bezog sich somit in erster Line auf Zukünfte und Zukunftsfragen, die auf ein quantitatives Mehr an Produkten, Dienstleistungen und Konsumtion sowie auf Effizienzsteigerung von Produktion und Vertrieb ausgerichtet waren. Hierfür wurden operationalisierbare Zukunftsstrategien mittlerer Reichweite entwickelt und mit neuen Methoden und Instrumenten effizienter erfüllt. Das war ganz im Sinne der grundlegenden kapitalistischen Wirtschaftsweise und einer Effektivierung der herrschenden Marktwirtschaft.
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Think-Factories und Zweiter Weltkrieg
Als Beispiele für die Nutzung neuer moderner Denk- und Zukunftsfabriken vor und während des Zweiten Weltkriegs sei hier der amerikanische New Deal genannt: Hierbei handelte es sich um eine Serie von Wirtschafts- und Sozialreformen, die in den Jahren 1933 bis 1938 unter US-Präsident Franklin Delano Roosevelt als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise, die auf den neuen Grundlagen der Zukunftswissenschaft entwickelt worden waren, umgesetzt wurden. Der New Deal stellte zweifellos einen großen Umbruch in der Wirtschafts-, Sozial- und Politikgeschichte der USA dar. Die zahlreichen Maßnahmen wurden unterteilt in solche, die kurzfristig die Not lindern sollten (relief ), in solche, die die Wirtschaft beleben sollten (recovery), und in langfristige Maßnahmen (reform). Unter relief fielen die Hilfen für die zahlreichen Arbeitslosen und Armen, unter recovery erhebliche Änderungen in der Geldpolitik und unter reform neue Regulierung für die Finanzmärkte, die Einführung von Sozialversicherungen und effiziente Produktionsverfahren. Weitere Beispiele sind vor allem aus dem militärischen Bereich zu benennen. Die wohl folgenschwersten politischen und ökonomischen Entscheidungen waren jene zur Entwicklung einer Strategie und zum Bau einer Atombombe in den USA, zum sogenannten Manhattan-Projekt. Die Grundlagen hierfür wurden weitgehend von den neuen Wissen73
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schaftsfabriken der inter- und multidisziplinären Systemtechniken und Zukunftswissenschaft erarbeitet. Auch die politischen Entscheidungen zur Entwicklung und Großfertigung von Radaranlagen und modernen touring-mächtigen Computern beruhten sowohl in den USA als auch in Deutschland und England auf Strategien, die im Rahmen der mittlerweile auch hier während des Zweiten Weltkriegs gegründeten großen inter- und multidisziplinär arbeitenden Forschungseinrichtungen außerhalb der Universitäten entstanden waren. In den USA verbindet sich das mit Namen wie RAND-Corporation, Massachusetts Institute for Technology (MIT) oder Stanford Research Institute (SRI). Diese neuen Einrichtungen erhielten milliardenschwere Budgets aus staatlichen Sonderprogrammen und wuchsen in kürzester Zeit auf mehrere tausend Mitarbeiter an. Sie liefen bald unter der Bezeichnung „Think Factories“ oder „Moderne Denk- und Zukunftsfabriken“ (Kreibich 1986, S. 335ff.). Ähnliche Einrichtungen entstanden auch in der Sowjetunion und in England noch während des Zweiten Weltkriegs. In Deutschland gab es für die Radarentwicklung schon die 1934 gegründete GEMA (Gesellschaft für elektroakustische und mechanische Apparate mbH, Berlin) und die Telefunken AG/AEG. Während des Zweiten Weltkriegs errichteten die Nationalsozialisten zahlreiche Rüstungsbetriebe in einer Abart von Think Factories zum Beispiel für die Raketenentwicklung und den Raketenbau in Peenemünde, für die Flugzeugentwicklung und den Flugzeugbau bei Wismar, Rostock, Augsburg, Regensburg, Landsberg und in Österreich. Hier handelte es sich fast ausschließlich um unter die Erde gebaute geheime Großanlagen für Forschung, Entwicklung und Bau von Waffensystemen zur Kriegsführung. Auch die 1911 gegründete Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft e. V. wurde im Dritten Reich ausgebaut und erhielt aufgrund ausschließlich politischer Entscheidungen massive staatliche Budgets für zahlreiche NS-dienliche Projekte (Rürup & Schieder 2000). Hierzu gehörten u. a.: „Ost- und ‚Lebensraum‘-Forschung“; „Rüstungsforschung im Kaiser-Wilhelm-Institut für Metallforschung“; „Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie: Rassenpolitik, menschliche Erblehre und Eugenik (1933‒1945)“; „Biowissenschaften: Forschungsstrukturen und Forschungspraxis im Nationalsozialismus“; „Rüstungsforschung über chemische Kampfstoffe: zum Verhältnis von Militär, Industrie und Wissenschaft im NS-Staat“; „Textile Faserstoff-Forschung im Rahmen der nationalsozialistischen Autarkiepolitik“; „Vergleichende und experimentelle Erbpathologie in Deutschland 1920 bis 1945“ (Maier 2002). Ein auch für die Nachkriegswissenschaftsentwicklung besonders relevantes Projekt war: „Biochemie im Krieg im Adolf-Butenandt-Institut der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft 1935 bis 1945“ (Maier 2002). Der Biochemiker Adolf Butenandt unterzeichnete 1933 das Bekenntnis der deutschen Professoren an den Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und den nationalsozialistischen Staat (Proctor 2000). Schon mit 32 Jahren wurde er 1935 Mitglied der Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Am 1. Mai 1936 wurde er trotz Aufnahmesperre in die NSDAP aufgenommen (Parteimitgliedsnummer 37–16562; Maier 2002). Im gleichen Jahr trat er sowohl der Deutschen Arbeitsfront als auch dem NS-Lehrerbund bei.
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Nach dem Zweiten Weltkrieg war er Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Biochemie in Berlin-Dahlem. Im Jahr 1948 wurde das Kaiser-Wilhelm-Institut für Biochemie in Max-Planck-Institut für Biochemie umbenannt, zunächst nach Tübingen und später an die Ludwig-Maximilians-Universität München verlegt. Butenandt wurde 1960 bis 1972 Nachfolger des Nobelpreisträgers Otto Hahn Präsident der Max-Planck-Gesellschaft e. V., der mit Abstand bedeutendsten deutschen außeruniversitären Forschungseinrichtung. Die MPG war die direkte Nachfolgeorganisation der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft e. V. und wurde bereits 1948 umgewidmet. In den Jahren 1951 und 1952 war Butenandt Vorsitzender der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte.
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Wissenschaft und Technik in Deutschland
Im Nachkriegsdeutschland und in der 1949 gegründeten Bundesrepublik Deutschland, ebenso in der DDR, gab es hinsichtlich der Weiterführung und des Neuaufbaus von Wissenschaftseinrichtungen nur ein Grundmuster. Alle Universitäten und Hochschulen waren wie vor der Herrschaft der Nationalsozialisten prinzipiell den in Deutschland geltenden wissenschaftlichen Qualitätskriterien und Zielprojektionen einer der Wahrheitsfindung dienenden Forschung und einer den Anforderungen einer fortgeschrittenen Industriegesellschaft und Kultur angemessenen Bildung und Ausbildung verpflichtet. Das war in den Natur-, Technik-, Formal- und Sozialwissenschaften sowie in der Medizin eine Orientierung an den Methoden des empirisch-analytischen und formalisiert-algorithmischen Forschens und Lehrens. In den Geistes- und Kulturwissenschaften dominierten Methoden zur empirischen Erfassung von Tatsachen und ganzheitlichen Betrachtungen von Systemen und Entwicklungen sowie deren normative Verlängerungen in mögliche und wünschbare Global- bzw. Idealmodelle zukünftiger Gesellschaften und Lebensweisen. Entscheidend war und ist bis heute, dass es keine Wissenschaftsdisziplin und keine Wissenschaftsinstitution im politischen, wirtschaftlichen oder wissenschaftlichen Bereich gab, in denen es Zweifel an dem WTI-Fortschrittsparadigma (Wissenschaft-Technik-Industrialismus-Paradigma) gab. Wissenschaft und wissenschaftsbasierte Technik wurden per se positiv bewertet. Die nachfolgend noch aufgezeigten Folgen des positiv rückgekoppelten Prozesses zwischen der permanent wissenschaftlich-technischen Produktion und Innovation einerseits sowie der politisch-ökonomischen Verwertung der Produkte und Neuerungen in allen Gesellschaftsbereichen wurde allgemein als der einzig richtige und positive Weg in die Zukunft angesehen. Die positive Rückkopplung erfolgte durch hohe Belohnungen – ständig steigende Finanzbudgets des Staates und Förderungen der Wissenschaften durch die Wirtschaft, hohe Anerkennungen der Wissenschaftler*innen und der in diesem Sinn besonders erfolgreichen Wissenschaftsdisziplinen (Physik, Chemie, Kernforschung und Kerntechnik, Kunststoffe, Kunstdünger; Pharmazie, Impfstoffe, Antibiotika …; Medizin, Heilung schwerster Erkrankungen … etc.) in der Gesellschaft.
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Die Wissenschaftler*innen gehörten zu jeder Zeit in repräsentativen Umfragen zu den Berufsgruppen mit dem höchsten Sozialprestige. Vor diesem Hintergrund war es nur logisch, dass unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg der Wiederaufbau und eine beschleunigte Organisierung der Funktionsfähigkeit der Hochschulen sowohl für die Politik als auch die Wirtschaft hohe Priorität hatten. So konnten die 1945 noch bestehenden 96 Universitäten und Hochschulen in West und Ost zügig ihre Forschungs-, Lehr- und Dienstleistungsaufgaben wieder aufnehmen. Es ist hinreichend historisch erforscht, dass in den Nachkriegsjahren in Deutschland, insbesondere nach Gründung der Bundesrepublik 1949, weitgehend die bisherigen Professoren und sonstigen Wissenschaftler*innen aus der NS-Zeit mit großer Präferenz wieder in den Universitäts- und Hochschuldienst aufgenommen wurden. Die deutschen Universitäten waren schon immer ein Hort des Nationalismus und Antisemitismus. Jüdische Professoren und Studenten mussten die Universitäten verlassen, wurden vertrieben oder in Vernichtungslagern ermordet. So ist es nicht verwunderlich, dass auch nach dem Zweiten Weltkrieg die Grundsituation an den Universitäten konservativ bis reaktionär war. Die einzige Ausnahme bildete die 1948 im Westteil von Berlin von Studenten und Assistenten der Humboldt-Universität gegründete Freie Universität Berlin. Nur hier wurden ehemalige Emigranten und Verfolgte des Naziregimes entweder in einzelne Fakultäten oder über die in Berlin wiedererstandene Deutsche Hochschule für Politik (DHfP) berufen. Diese war in der Weimarer Republik eine 1920 gegründete private Hochschule, die aus Friedrich Naumanns Staatsbürgerschule hervorging. Die DHfP hatte als Lehr- und Forschungsziel die Aufgabe, aus einer liberalen Grundverpflichtung das neue demokratische Gemeinwesen in Deutschland zu fördern und zu stärken sowie gegen die antidemokratischen Tendenzen in der Weimarer Republik als Abwehrzentrum zu fungieren. Politikwissenschaft wurde an der DHfP als Demokratiewissenschaft verstanden. Zu den Mitgliedern des Gründungskuratoriums gehörten u. a. Walter Simon, Friedrich Naumann, Friedrich Meinecke, Max Weber, Hugo Preuß, Gertrud Bäumer, Moritz Julius Bonn. Ein besonderer Förderer war der damalige liberal gesinnte Orientalist und preußische Kultusminister Carl Heinrich Becker, der sich vor allem durch eine umfassende Hochschulreform und als Förderer der Künste in der Weimarer Republik einen besonderen Ruf erwarb. An der DHfP lehrten u. a. so bedeutende Persönlichkeiten wie Rudolf Breitscheid, Gertrud Bäumer, Hermann Heller, Theodor Heuss, Rudolf Hilferding, Hermann Luther, Ernst Niekisch (Politiker und später Soziologieprofessor in der DDR), Albert Salomon, Hans Delbrück, Arnold Brecht, Hans Staudinger, Walter Simons und Walther Rathenau. Es war eine gute und folgerichtige Entscheidung, dass die DHfP 1959 in die Freie Universität Berlin integriert wurde und sodann als Otto-Suhr-Institut eine zentrale Forschungs- und Bildungsstätte des liberalen demokratischen Deutschlands wurde. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig hervorzuheben, dass in den Jahren von 1945 bis etwa 1970 an fast allen deutschen Universitäten Vertreter oder Sympathisanten des NS-Regimes berufen wurden, während Verfemte und Verstoßene, vor allem auch Emigranten, kaum eine Chance hatten, auf einen Lehrstuhl zu kommen.
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Die DHfP und in ihrer Folge auch die FU Berlin hatten zur Gründerzeit als Förderer und Unterstützer den damaligen Regierenden Bürgermeister Ernst Reuter, der vor den Nationalsozialisten in die Türkei fliehen musste. Weitere Emigranten waren u. a. der Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel, der Romanist und Literaturwissenschaftler Erich Loos, der Journalist und Politologe Richard Löwenthal, der Literaturwissenschaftler, Kritiker, Übersetzer und Essayist, Begründer der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, der Parteien- und Zukunftsforscher Ossip K. Flechtheim, der Literaturwissenschaftler, Kritiker, Übersetzer, Essayist und Begründer der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft Peter Szondi, die Redakteurin und Philosophin Margeritha von Brentano, der Politologe Otto Heinrich von der Gablentz, der Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus und Mitglied der Widerstandsgruppe Kreisauer Kreis, der aus einer jüdischen Rabbinerfamilie stammende Religionssoziologe, Philosoph und Judaist Jacob Taubes, der Emigrant in Paris und Vermittler zwischen dem deutschen und französischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus und Philosoph Wilhelm Weischedel. Der außerhalb der Universitäten und Hochschulen in den 1950er-Jahren in der Bundesrepublik sich entwickelnden Großforschung (Big Science) lagen ausschließlich politische und wirtschaftliche Entscheidungen zugrunde. Es war die Zeit der Atom- und Wasserstoffbombe des Raketenbaus und des kalten Krieges sowie der Euphorie einer friedlichen wirtschaftlichen Kernenergienutzung. Nach dem Königsteiner Staatsabkommen von 1949 war die Forschungspolitik primär Ländersache. Noch im gleichen Jahr erfolgte die Gründung der Fraunhofer-Gesellschaft zur Förderung der angewandten Forschung e. V. durch die Bayerische Staatsregierung „zum unmittelbaren Nutzen für Unternehmen und zum Vorteil der Gesellschaft“. Im Jahr 2019 besteht die Gesellschaft aus 82 Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen in ganz Deutschland. Sie verfügt über ein Budget von 2,8 Milliarden Euro, überwiegend Finanzmittel und Aufträge der Industrie und staatlicher Einrichtungen, und hat 28.000 Mitarbeiter mit überwiegend natur- und technikwissenschaftlicher Ausbildung. Mit der Einrichtung des Bundesministeriums für Atomfragen und dem Atomgesetz wurde 1955 die Erforschung der Kernenergie als bundespolitische Aufgabe bestimmt. Bis 1960 entstanden der erste deutsche Kernreaktor in Karlsruhe (KFK), die Kernforschungsanlage Jülich (KFA), das Hahn-Meitner-Institut für Kernforschung in Berlin, das Deutsche Elektronen-Synchrotron (DESY) in Hamburg und das Forschungsinstitut für Plasmaphysik (IPP) in Garching. Quasi parallel hierzu wurde in der DDR das Zentralinstitut für Kernforschung (ZfK) in Rossendorf bei Dresden als Einrichtung der Akademie der Wissenschaften der DDR errichtet. Mit einem eigenständigen Kernreaktor wurde die Bedeutung der Kernenergieforschung und -entwicklung im Sinne von Big Science und ihrer wirtschaftlichen Verwertung deutlich unterstrichen. Nach 1960 wurde in der Bundesrepublik das Prinzip der Großforschung auf weitere Anwendungsbereiche übertragen. So entstanden unter anderem die Deutsche Forschungsanstalt für Luft- und Raumfahrt (DLR), die Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung (GMD), das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ), das Alfred-Wegener-Institut 77
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für Polar- und Meeresforschung (AWI). Nach der deutschen Wiedervereinigung wurde 1995 der größte deutsche Forschungsverbund, die Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren e. V., gegründet. Sie ist ein Verbund aus 19 naturwissenschaftlichtechnisch und biologisch-medizinisch ausgerichteten Forschungszentren mit zusammen 40.400 Beschäftigten im Jahr 2018. Das Budget beträgt 4,8 Milliarden Euro (Stand 2019). Als Ziel wurde festgeschrieben, „große und drängende Fragen von Wissenschaft, Gesellschaft und Wirtschaft zu beantworten“. Die Leibniz-Gemeinschaft e. V. ging aus der Arbeitsgemeinschaft Blauer-Liste-Institute hervor. Die Neugründung erfolgte 1991. Im Jahr 2020 gehören ihr 96 außeruniversitäre Forschungsinstitute und Serviceeinrichtungen der Natur-, Ingenieur-, Raum-, Wirtschafts-, Sozial-, und Geisteswissenschaften an. Die Institute verbinden in der Regel Grundlagenforschung mit Anwendungsbezug. Die Leibniz-Gemeinschaft beschäftigt 20.200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ihr Budget betrug 1,9 Milliarden Euro im Jahr 2018.
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Wissenschaft und Technik: zentrale Innovationskraft moderner Gesellschaften
Die Befassung mit der Entwicklung moderner Gesellschaftssysteme und deren Antriebskräfte hat mich über das Studium der wichtigsten Produktivkräfte (Arbeit/menschliche Fertigkeiten; Natur/Energie/Rohstoffe; Kapital; Wissenschaft/Intelligenz/Technik) und Innovationsprozesse (Methoden; Verfahren; Techniken; Organisationsmodelle) über formalisierte Modelle in der Soziologie, die Systemtheorie, die Kybernetik zur modernen Zukunftswissenschaft und Ökosystemforschung geführt. In meiner Arbeit zur Wissenschaftsgesellschaft – Von Galileo zur High-Tech-Revolution (Kreibich 1986) habe ich dargelegt, dass in allen modernen Gesellschaften seit der industriellen Revolution ab Mitte des 19. Jahrhunderts ‚Wissenschaft und Technologie‘ die zentrale Produktiv- und Innovationskraft ist. Das gilt für alle Gesellschaftsformen, die vielseitig mit Begriffen wie Industriegesellschaft, Post-Industrial Society (Bell 1973), Dienstleistungsgesellschaft, Informationsgesellschaft, Wissensgesellschaft, Wissenschaftsgesellschaft (Kreibich 1986), Digitalisierte Gesellschaft 2015 (Akademie der Wissenschaften Leopoldina; Leopoldina 2015) belegt wurden. Mit der Entwicklung der modernen experimentell-analytischen und mathematisch-formalisierten Wissenschaft hat sich der Mensch eine höchst effiziente Methode geschaffen, den Prozess der Produktion und Innovation gezielt und planmäßig zu betreiben. Zugespitzt war es die Erfindung der Methode der systematischen Erfindung und Erneuerung. Zunächst war die Methode nur auf die äußere Natur gerichtet. Die großen Erfolge im Sinne von Erkenntnis, Wahrheitsfindung und produktivem Nutzen haben dazu geführt, dass diese Methode fortan auf alle Bereiche der Natur und des sozialen Lebens angewandt wurde. Heute reicht sie hinein bis in das ungeborene Leben, die Fortpflanzung des Menschen, in Bewusstseinsvorgänge und in die Sphäre von Intelligenzprozessen (Künstliche Intelligenz).
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Diese Wissenschaft, oder genauer die moderne naturwissenschaftlich-algorithmische Wissenschaft, ist jene Denk- und Handlungsmethode, die das industriegesellschaftliche Paradigma ‚Erzielung ökonomisch-politischer Fortschritt, Macht und Überlegenheit‘ geradezu idealtypisch erfüllt. Auf diese Weise avancierte der ‚Wissenschaftlich-Technische Fortschritt‘ zum (gesellschaftlichen) ‚Fortschritt‘ schlechthin. Nachfolgend wird qualitativ und quantitativ dargelegt, dass die Erfolge dieses Fortschritts sich vor allem in gigantischen ökonomischen, politischen und militärischen Gewinnen widerspiegeln. Diese Gewinne wurden hauptsächlich im Rahmen kapitalistischer Wirtschaftsstrukturen, der Marktwirtschaft und des neoliberalen Wachstumspostulats erzielt. Was vollzog sich auf der Sonnenseite dieser Entwicklung? Wir konstatieren, dass dieser Fortschritt allein im 20. Jahrhundert (in 100 Jahren) eine unvorstellbare materielle Wohlstandsmehrung gebracht hat. In Zahlen bedeutet das beispielsweise einen Anstieg des durchschnittlichen Nettoeinkommens (Kaufkraft) um 3.500 %. Grob gesagt, können sich die Menschen in den hochentwickelten Ländern 35-mal so viele materielle Güter kaufen wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In eben dieser Zeit ist die Produktivität (Produktion pro Produktionseinheit) in der Landwirtschaft um 3.500 %, im Produktionsbereich um 4.000 %, im Dienstleistungsbereich um 4.500 % gestiegen. Das heißt anschaulich, dass heute eine Arbeitskraft im Produktionsbereich mithilfe wissenschaftlich basierter Technik genau so viel erarbeitet wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts 40 Arbeitskräfte. Die Lebenszeit der Menschen in den hochentwickelten Ländern ist um etwa 38 Jahre (Deutschland) gestiegen. Das bedeutet, sie hat sich im Durchschnitt im Verhältnis zum Anfang des 20. Jahrhunderts fast verdoppelt. Die Mobilität des Industriemenschen (Geschwindigkeit mal Distanzüberwindung) hat sich in diesen menschheitsgeschichtlich betrachtet wenigen Jahren um etwa den Faktor 100 erhöht: Heute studieren junge Deutsche in USA, in China oder Neuseeland, während ihre Urgroßeltern in ihrem Leben kaum über einen Radius von 35 Kilometern hinauskam (Kreibich 1996). Die Gesamtzahl der Menschen auf der Erde (Weltbevölkerung) stieg in den letzten 100 Jahren von 1,8 Mrd. auf 7,8 Mrd. Menschen an (Statista 2020c). Neueste seriöse Schätzungen gehen davon aus, dass wir bei einer Fortsetzung der bisherigen Entwicklung bis zum Ende des 21. Jahrhunderts etwa 11 bis 12 Milliarden Menschen auf der Erde haben werden. Was vollzog sich auf der Schattenseite dieser Entwicklung? Die Grundlagen der wissenschaftlich-technischen Effizienzsteigerungen und permanenten Innovationen führen zu ebenso gigantischen Veränderungen, die heute sogar die Existenz der Menschheit sowohl in ihrem sozialen Dasein als auch in ihrer ökonomisch-ökologischen Einbettung in die Natur bedrohen. Die Erhöhungen des materiellen Lebensstandards in den Industrieländern haben Armut und Hunger in den Entwicklungsländern nicht beseitigt. Noch hungern ca. 840 Millionen Menschen und 24.000 Menschen sterben täglich an Hunger. Besonders gravierend sind die Veränderungen und Folgen aufgrund der vielfältigen Eingriffe in die Natur, das heißt in die weltweiten natürlichen Kreisläufe und dynamischen Gleichgewichte. Hierzu einige Tagesbilanzen:
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• Jeden Tag emittiert die Weltgemeinschaft 89 Millionen Tonnen CO2 in die Atmosphäre (Statista 2018). • Täglich werden global 82.000 Hektar Wald, überwiegend tropischer Regenwald, vernichtet. Das entspricht etwa 117.000 Fußballfeldern (Rettet den Regenwald e. V. 2020). • Weltweit gehen jährlich 10 Millionen Hektar Ackerfläche verloren, also 27.000 Hektar täglich (UBA Umweltbundesamt 2015). • Ein besonders düsteres Bild zeichnet die Bilanz der Vernichtung von Biodiversität. Der im Mai 2019 veröffentlichte Global Assessment Report des Weltbiodiversitätsrats (IPBES) präsentiert nach einer Auswertung von rund 15.000 wissenschaftlichen Arbeiten aus 50 Ländern für die Entwicklung der letzten 50 Jahre die folgende Bilanz: „Schon heute gibt es in allen wichtigen Lebensräumen mindestens 20 % weniger Arten als zu Beginn des 20. Jahrhunderts“ (Albat 2019). Geht man von der bekannten Schätzzahl aus, dass es etwa 33 Millionen Tier- und Pflanzenarten auf der Erde gibt, dann vernichten wir davon täglich ca. 190. Diese Zahl ist vor allem deshalb alarmierend, weil wir Menschen am Ende der Nahrungskette stehen, ebenso am Ende der Heilwirkungen durch Pflanzen und Tiere. Der UN-Weltwasserbericht 2020 der UNESCO zum Weltwassertag am 22. März (UNESCO 2020) weist auf die Größe, Folgen und Zusammenhänge von weniger und zunehmend schlechterem Wasser hin. So haben heute ca. „2,2 Milliarden Menschen weltweit keinen Zugang zu Trinkwasser (etwa 28 % aller Menschen), 4,2 Milliarden Menschen, also mehr als 55 % der Weltbevölkerung keinen Zugang zu sauberen Sanitäranlagen“ und bis zu „90 % aller Abwässer weltweit werden unbehandelt abgelassen und belasten die Umwelt und die Trinkwasservorräte.“ Zeitgleich verstärkt der Klimawandel „aufgrund von häufigeren und extremen Wetterereignissen wie Hitzewellen oder Starkregen den Wasserstress in verschiedenen Regionen. Höhere Wassertemperaturen und weniger gelöster Sauerstoff führen dazu, dass Flüsse und Seen sich weniger reinigen können und Krankheit erregende Verunreinigungen und Schadstoffkonzentrationen zunehmen“ (UNESCO 2020). In den letzten 100 Jahren hat sich die Waffenentwicklung und Waffenproduktion von Gewehren, Kanonen und Panzern auf der Grundlage der Produktivkraft ‚Wissenschaft und Technik‘ sowie ihrer wissenschaftlich-technischen Innovationspotenziale zu einer die Menschheit bedrohenden Entwicklung und Anhäufung von Atomwaffen, Interkontinentalraketen, ferngesteuerten Flugzeugen, atomar beladenen Flugzeugträgern, ferngesteuerten Drohnen, Cyber-Kampfprogrammen sowie biologischen und chemischen Kampfstoffen permanent hochgeschaukelt. Wir mussten nicht nur während der Kubakrise 1962 zittern, dass ein Atomkrieg weite Teile der Erde unbewohnbar machen und ein Großteil der Menschheit vernichten würde. Es gab noch weitere Fast-Tipping-Points, an denen die Menschheit vor ihrer atomaren Auslöschung stand. Gleichwohl haben sich die meisten Menschen in der modernen Welt nach den internationalen Abrüstungsabkommen zur Verhinderung eines Atomkrieges und der Ächtung von B- und C-Waffen damit abgefunden, dass der Waffenhandel und die Waffenarsenale ein Damoklesschwert für die Menschheit insgesamt sind und weiterhin enorme Ausmaße angenommen haben. Heute hat der Waffenhandel einen
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Umfang von jährlich weltweit 1.700 Milliarden Euro angenommen (SIPRI 2019, S. 6ff.). Das ist in Summe etwa fünfmal so hoch wie der deutsche Bundeshaushalt. Vor diesem Hintergrund sind die weltweiten regionalen Kriege, Konflikte und gewaltsamen Krisen ebenso ein kritisches Zerstörungspotenzial, das jederzeit die Möglichkeit in sich trägt, den Tipping-Point der Selbstzerstörung zu überschreiten. So blieb dieses Potenzial auf hohem Niveau und nahm 2019 folgende Größen an: 158gewaltsame Krisen; 23 begrenzte Kriege; 15 Kriege (Statista 2020a). Obwohl seit Jahren die Zukunftsforschung einen rasanten Anstieg der Migration prognostizierte, etwa vom IZT Berlin (Kreibich & IZT 2011, S. 26), wurde Europa 2015 von einer riesigen Migrationswelle förmlich überrollt. Im Jahr 2019 sind weltweit 272 Millionen Menschen aus politischen, sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Gründen auf der Flucht aus ihren Heimatländern (UN-Büro 2019). Wir wussten Jahre zuvor und wissen heute aus realer Erfahrung, was ein steiler Anstieg der Migrantenzahlen für dramatische Folgen haben kann. Ebenfalls von der Zukunftsforschung schon frühzeitig angekündigt, kam die Finanzkrise 2007/2008 für die meisten Experten in Politik und Wirtschaft völlig überraschend. Wie war es möglich, dass die große Zahl von Finanz- und Wirtschaftswissenschaftlern in Europa und speziell auch in Deutschland eine so geringe Zukunftsvorausschau hatten? In Deutschland gibt es etwa 1.600 Professoren der Wirtschafts- und Finanzwissenschaft an den 426 Universitäten und Hochschulen, die nicht in der Lage waren, die Politik und die Wirtschaft vor dem bevorstehenden Finanzcrash zu warnen. Auch die zahlreichen Wissenschaftler etwa der Leibniz-Gemeinschaft e. V. (Budget 2019: 1,9 Milliarden Euro), der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren e. V. (Budget 2017: 4,56 Milliarden Euro, 40.400 Mitarbeiter), der Fraunhofer Gesellschaft zur Förderung der angewandten Forschung e. V. (Budget 2018: 2,6 Milliarden Euro, 26.600 Mitarbeiter), der Max-Planck-Gesellschaft e. V. (Budget 2018: 1,8 Milliarden Euro; 23.800 Mitarbeiter) oder jene an den deutschen Akademien der Wissenschaften hatten die Finanzkrise in ihrem Fokus. Gleiches gilt für die Finanzexperten der Finanzministerien im Bund und in den Ländern ebenso wie im Deutschen Bundestag. Noch nicht einmal die Wirtschaftsweisen des „Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ der Bundesregierung haben auch nur angedeutet, dass Europa vor einem so einschneidenden globalen Finanzkollaps stehe. So gab es nur einige Wenige außerhalb des wirtschafts- und finanzwissenschaftlichen Mainstreams, die die Finanzkrise frühzeitig voraussagten und deren wirtschaftliche, finanzpolitische und soziale Sprengkraft erkannten (Roubini zit. in Bernau 2006; Otte 2006). Das ist bis heute im Grundsatz völlig unverständlich, denn jeder Finanz- und Wirtschaftsexperte konnte und musste wissen, dass das internationale und nationale Finanzsystem längst aus den Fugen geraten war. Nur die neoliberale Brille verhinderte, dass die massiven Anzeichen einer Krise erkannt wurden. Hier sollen im Folgenden nur drei Gründe genannt werden, die allein dafür sprachen, dass es früher oder später zu einem Finanzcrash kommen musste.
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Erstens stieg die Kurve der Spekulationen weltweit exponentiell an und erreichte im Frühjahr 2007 die gigantische Höhe von 4.300 Milliarden Dollar (4.300.000.000.000 $) pro Tag. Diese Summe wurde weitgehend virtuell transaktioniert. Es ist leicht zu verstehen, dass sich selbst bei geringen Renditen mit derart hohen Finanzsummen hohe Gewinne erzielen lassen. Diese Gewinne waren real und ließen sich in feste Sachwerte (Immobilien, Unternehmen, Flughäfen, Eisenbahntrassen, Seen, Inseln etc.) umwandeln. Auf diese Weise wurden der Realwirtschaft enorme Werte entzogen, für die keinerlei reale Gegenleistungen erbracht wurden. Jeder einigermaßen aufmerksame Beobachter konnte wissen, dass diesen Gewinnen keine real erwirtschafteten Werte gegenüberstanden. Wie lange hält eine Realwirtschaft solche Transaktionen aus? Teilweise waren bestimmte Finanz-‚Produkte‘ reine Luftnummern. Zweitens war bekannt, dass selbst die sogenannten systemrelevanten Banken heftig mit großen Summen spekulierten. Diese Banken hatten aber in den vorausgegangenen Jahren ihre Eigenkapitalquoten drastisch aufgebraucht oder in ‚ominöse‘ Tochterunternehmen verlagert. Eine Tatsache, die jeder wissen konnte! Drittens ist unverständlich, dass auf sogenannte ‚Finanzprodukte‘ keine Umsatzsteuern erhoben werden. Damit ist der mächtigste Wirtschaftssektor, die Finanzwirtschaft, als einziger ‚Produktionsbereich‘ von der Umsatzsteuer ausgenommen. Eine seit vielen Jahren geforderte Tobin-Steuer oder Finanztransaktionssteuer konnte angesichts der Schwäche von Politik gegenüber der Finanzwirtschaft bis heute weder international noch national durchgesetzt werden. Man bedenke, dass beispielsweise die drei größten Banken Englands jeweils ein größeres Finanzvolumen vertreten als der britische Staat insgesamt. Ein weiteres Krisensymptom des Finanzsektors sind die zahlreichen weltweiten Steueroasen. Hier werden gigantische Summen in Milliardenhöhe weitgehend steuerfrei gebunkert und die Steuerflucht von Unternehmen und Privatpersonen als aktives Geschäftsmodell betrieben. Darüber hinaus wird von Zeit zu Zeit kriminelles Kapital in den internationalen Geldtransfer eingeschleust. Auf diese Weise fungieren sie als riesige Geldwäscheanlagen, die für einen ordnungsgemäßen Finanztransfer und Handel wie Gift wirken. Hierzu gehören nicht nur die von der Europäischen Kommission angemahnten acht Länder, die massiv gegen die „Europäischen Geldwäscheregeln“ („Fünfte EU-Anti-Geldwäscherichtlinie vom Juli 2018“) verstoßen: Zypern, Ungarn, Niederlande, Portugal, Rumänien, Slowakei, Slowenien und Spanien. Auch Deutschland, Frankreich und Polen gehören zu den Sündern in Sachen Geldwäsche und einer laxen Verfolgung von Finanzkriminalität: „Die Geldwäscheprävention in Deutschland ist ein Desaster“ (Roubini zit. in Schumann 2008). Vor diesem Hintergrund stehen wir heute wieder vor der Frage, ob sich eine Finanzkrise des Ausmaßes von 2007/2008 wiederholen kann. Das ist nach dem heutigen Stand des Wissens und den bisher äußerst geringen Korrekturen am internationalen und europäischen Finanzsystem sehr wahrscheinlich (Fricke 2017; Giegold et al. 2016, S. 6ff., 70ff.). Wegen der gravierenden Veränderungen der Lebensbedingungen durch den Wandel der sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Grundlagen des Menschen infolge des wissenschaftlich-technischen Fortschritts war es notwendig, neben den positiven Entwicklungen auch jene Pfade aufzuzeigen, die die Tendenz haben, in einer relativ kurzen Zeit
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an einen Tipping-Point zu gelangen. Wir müssen uns bewusstwerden, dass es von einem Punkt aus irreversible Entwicklungen geben kann, von dem aus eine Umkehr unmöglich ist. Somit kommt alles darauf an, dass frühzeitig erkannt wird, welche Umfeld- bzw. natürlichen Lebensbedingungen sich in dieser Weise entwickeln. Genauso wichtig ist es, dass die Gesellschaft und die Bürgerschaft, in erster Linie die Politik und die Wirtschaft frühzeitig und mit allen Möglichkeiten mutig darauf reagieren und umsteuern. An der Realisierung dieser großen Aufgabe, sowohl die kritischen Pfade zu erkennen als auch vor allem die geeigneten politischen, ökonomischen, sozialen und ökologischen Umsetzungsmaßnahmen unverzüglich einzuleiten und zügig durchzusetzen, mangelt es ganz offensichtlich in Deutschland und weltweit. Hier vor allem liegt die große Verunsicherung vieler Menschen und eine große Skepsis bis Ablehnung einer weiteren Globalisierung der Lebensbedingungen auf der Grundlage des kapitalistischen Systems und seiner neoliberalen Forcierung des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs um Wachstum und Beschleunigung. Vor diesem Hintergrund müssen wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung noch weitere Entwicklungsbereiche genannt werden, die eine Tendenz zur Selbstzerstörung des menschlichen Daseins in einer sich auch weiterhin globalisierenden Lebenswelt aufweisen. Die wichtigsten dieser Tendenzen werden hier ohne besondere Kommentare wegen ihrer allgemeinen Bekanntheit nur aufgelistet. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sind folgende Problembereiche zu nennen: • das bisherige auf fossiler und atomarer Basis beruhende Energiesystem mit seinen gigantischen Energieverbräuchen (Strom und Wärme) in allen Verbrauchssektoren – Industrie, Dienstleistungen, Haushalte, Verkehr und Gewerbe. • die damit verbundene hohe und ständig steigende CO2-Konzentration in der Erdatmosphäre und der Klimawandel. • die permanent vorhandenen Gefahren radioaktiver Verseuchungen der Erdatmosphäre durch Reaktorschmelzen und die enormen Mengen radioaktiven Abfalls; weltweit gibt es nach 70 Jahren Kernenergieproduktion noch keinen einzigen geschlossenen und sicheren Entsorgungskreislauf. Demgegenüber leben wir mit zahlreichen höchst fragilen Zwischenlagern (das Beispiel der ehemaligen Schachtanlage Asse in Niedersachsen als radioaktives Zwischenlager und die dort zu Tage getretenen Schlampereien und Gefahren sollte eine ernste Warnung sein!). • der dramatische Anstieg der Erderwärmung und der bereits massiv spürbare Klimawandel mit den Folgen starker Unwetter, Zunahme der Hurrikane, Starkregenperioden, Trockenperioden etc. • der ungebremst hohe Verbrauch materieller natürlicher Ressourcen: Gebrauchsmetalle, Edelmetalle, Seltene Erden, Phosphor etc. • die Verseuchung der Luft, der Böden und der Meere mit Schadstoffen und Plastikabfällen. • der ungebremst wachsende hohe Konsum von Lebensmitteln, Kleidung, Haushaltsgeräten, Autos (SUVs), Informations- und Kommunikationstechniken, Pharmazeutika, Drogerieprodukte, Verpackungsmaterialien, Kunststoffprodukte etc.
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• die gigantischen Abfallmengen in allen Lebensbereichen mit der Folge einer – entropisch betrachtet – Vernichtung hochwertiger Grund- und Wertstoffe sowie der Vermüllung großer Lebensbereiche. In all diesen Problemfeldern ist es ja nicht nur der gigantische Ressourceneinsatz und -verlust, der bisher eine weitgehend irreversible Vernutzung natürlicher Wertstoffe zur Folge hat. Es sind auch und vor allem die Abfallsenken (Verseuchung von Böden, Wasser und Luft), die auf Tipping-Points zutreiben und in naher Zukunft möglicherweise nicht mehr zu bewältigen sind.
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Nachhaltige Entwicklung
Alle hier genannten Beispiele – das ist der Kern des Problems und der heutigen Situation des Menschen – zeigen weltweit ansteigende Kurven, die in der Regel einen exponentiellen Anfangsverlauf haben. Angesichts dieses Verlaufs und vielfach irreversibler Prozesse stehen wir vor der großen Herausforderung, die zukünftige Politik, die Wirtschaft und das Sozialverhalten in ein Ziel- und Handlungssystem der nachhaltigen Entwicklung zu überführen. Das gilt für die Erstellung von Produkten, für Dienstleistungen, für die Konsumtion und die ‚Abfall‘verbringung gleichermaßen. In diesem Prozess ist vor allem auch wichtig, die ursprüngliche Intention von Wissenschaft, die Hervorbringung neuer Erkenntnisse und Wahrheiten zum Nutzen einer primär menschendienlichen Entwicklung, wieder als Basis allen Denkens und Handelns sowohl im Wissenschaftssystem als auch in der Politik, in der Wirtschaft und im Sozialsystem neu anzuerkennen. Die bisher alles entscheidende Grundlage der Entwicklung war und ist der positiv rückgekoppelte Prozess zwischen einerseits der ‚Zielorientierung der Industriegesellschaft‘ (ebenso der Nachindustriellen Gesellschaft, der Informationsgesellschaft, der Digitalen Gesellschaft) zur ‚Maximierung des Wirtschaftswachstums‘ und andererseits die ‚Maximierung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts‘ durch eine möglichst maximale Effizienzsteigerung und Innovationsproduktion. Nochmals: derartige Prozesse schaukeln sich immer weiter auf und verursachen in der Regel instabile und teilweise auch irreversible soziale, ökonomische und ökologische Folgen. Das bedeutet aber auch starke und gefährliche Veränderungen der natürlichen Lebensgrundlagen für den Menschen und einen ebenso gefährlichen Wandel der Sozialsysteme. Eine solche Entwicklung kann und darf nicht ‚linear‘ im Sinne des WTI-Paradigmas fortgesetzt werden, denn sie verbaut auch den nachfolgenden Generationen eine lebenswerte Gestaltung ihrer Zukunft.
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Weltleitbilder
Nach heutigen Erkenntnissen werden sowohl entwickelte als auch in Entwicklung befindliche Gesellschaften gegenwärtig und voraussichtlich auch noch in einer mittleren Zukunft von zwei Leitbildern geprägt: der Wissenschaftsgesellschaft (Science Society) und der Nachhaltigen Gesellschaft (Sustainable Society). Diese Einsicht und Erkenntnis gehört zu den zentralen Ergebnissen der Zukunftsforschung am IZT Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung Berlin und am SFZ Sekretariat für Zukunftsforschung Gelsenkirchen/Dortmund/Berlin.
7.1
Weltleitbild Wissenschaftsgesellschaft (Science Society)
Die Science Society wird in erster Linie durch den Megatrend ‚Wissenschaftliche und technologische Inventionen und Innovationen, Bildung, Wissensvermittlung und wissenschaftlich basierte Ausbildung und Qualifizierung‘ bestimmt. Sie erhält ihre stärksten Impulse aus der wissenschaftlichen Forschung und Wissensproduktion, der darauf beruhenden Hochtechnologieentwicklung sowie der wissenschaftsbezogenen Bildung und Qualifizierung. Den deutlichsten ökonomisch und sozial relevanten Ausdruck finden die wissenschaftsbasierten Erkenntnisse und Entdeckungen in dem permanenten Prozess der Umsetzung in neue technische sowie wirtschafts- und sozialrelevante Systeme und Prozesse. Diese Tatsache lässt sich seit der ersten Industriellen Revolution bis heute verfolgen. Es kann keinen Zweifel geben, dass nach neuesten Erkenntnissen die Produktivkraft ‚Wissenschaft und Technologie‘ gegenüber ‚Arbeit‘, ‚Kapital‘ und ‚Natur‘ die entscheidende Triebkraft ist, die die relevanten Veränderungen moderner Gesellschaften und Wirtschaftssysteme antreibt (Kreibich 2015, S. 20ff.). Zur Charakterisierung der heutigen und zukünftigen modernen Gesellschaften wurden schon zahlreiche Bezeichnungen verwandt wie Nachindustrielle Gesellschaft, Postmoderne Gesellschaft, Informationsgesellschaft, Wissensgesellschaft oder Informierte Gesellschaft. Alle diese Begriffe sollten den Wandel kennzeichnen, der sich in den letzten Jahrzehnten, zunächst in den hochindustrialisierten Ländern, mittlerweile auch in den Schwellenländern und sogar in den Entwicklungsländern vollzogen hat beziehungsweise noch vollzieht. Den Bezeichnungen liegt der generelle Befund zugrunde, dass der Umsatz der Ressource ‚Information‘ relativ zum Umsatz materieller und energetischer Ressourcen stark zugenommen hat. Er steigt seit Jahren unvermindert exponentiell an (Big Data, Digitalisierung, Künstliche Intelligenz, Plattformökonomie, Industrie 5.0; Statista 2020b) Das rasante Anwachsen des Umsatzes an Informationen lässt sich nicht nur an der zunehmenden Zahl der verarbeiteten Informationen selbst, sondern am Anstieg aller mit dieser Ressource verbundenen Lebensbereiche nachweisen: Der Anteil der Informationserwerbstätigen an der Gesamtzahl aller arbeitenden Menschen liegt heute in Deutschland bei etwa 64 % (Dienstleistungsbereich 74 %), der Umfang der Informationsarbeit in den Unternehmen und Administrationen liegt bereits bei 78 % (Fischer 2015). Die Anzahl 85
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wissenschaftlicher Publikationen wächst seit Jahrzehnten exponentiell. Die Kapazität von Informationsspeichern hat weit über den Faktor 10.000 zugenommen. Gordon Moore, Mitbegründer von Intel, sagte schon 1965 voraus, dass sich die „Speicherkapazität, die man für einen Dollar kaufen könne, alle 18 Monate verdoppeln würde“ (Mooresches Gesetz). Der Einsatz von Mitteln für die Produktion, den Kauf und die Förderung von Informationen sowie von Informations- und Kommunikationstechniken hat mittlerweile den höchsten Wert aller Güterbereiche erklommen. Hiernach ist die Informationsgesellschaft bereits Wirklichkeit. Zur Plattformökonomie gehören 2020 die nach Umsatz fünf größten Unternehmen der Welt. Und tatsächlich dominieren die Informationsarbeiter auch alle wichtigen Unternehmen und die Macht- und Herrschaftsbereiche in Staat, Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie. Diese Feststellung sagt allerdings noch nichts darüber aus, um welche Informationen es sich vor allem handelt, die so stark alle Lebensbereiche und weite Teile der Naturnutzung dominieren. Insofern spiegeln die Begriffe Informationsgesellschaft, Informierte Gesellschaft oder Wissensgesellschaft zwar den Zustand des quantitativen Umsatzes der Grundgröße Information wider; damit ist jedoch noch nichts über die ‚Informiertheit‘ und das ‚Wissen‘ der in dieser Gesellschaft lebenden Bürger ausgesagt. Wir erleben seit einigen Jahren eine Welle von Fake-News, die natürlich auch Informationen sind, nur hat die Akkumulation derartiger Informationen wenig mit Informiertheit und Wissen über die wahren Abläufe im Sozial- und Umweltsystem zu tun. Derartige Lügen und Lügenmärchen, verbreitet vor allem in den sogenannten Sozialen Medien, halten natürlich keinem der bisher bekannten semantischen und pragmatischen Inhalte der Begriffe Wissen und Informiertheit stand. Sie können auch nicht beanspruchen, einem engeren Begriff von Rationalität und Wahrheit zu entsprechen. Denn Wissen und Informiertheit bedeutet ja nach gängiger Bestimmung, dass wir in der Lage sind, dieses Wissen im Sinne rationaler Ziele und Handlungsoptionen einzusetzen und zu nutzen. Wir stellen demgegenüber fest, dass Fake-News zwar Informationen sind, nur mit dem Makel behaftet, dass sie eher desinformieren oder/und häufig auch desorientieren sollen. Nicht zu bestreiten ist jedoch, dass sie Politik, Wirtschaft und Gesellschaft erheblich beeinflussen, aber nicht im Sinne einer zukunftsfähigen Gestaltung von Zukünften. Vor diesem Hintergrund sei deshalb noch einmal betont, dass der Wandel von der Agrar- zur Industriegesellschaft und die Transformation der Industriegesellschaft in eine Wissenschaftsgesellschaft hauptsächlich auf der ‚wissenschaftlichen Wissensproduktion und Technikverwertung‘ und deren zugrundeliegenden rationalen Denk- und Handlungsmustern beruht. Anders ausgedrückt: Es ist primär der bisher in der Moderne und mit großer Wahrscheinlichkeit auch in der Zukunft dominierende Produktiv- und Innovationsfaktor ‚Wissenschaft und Technologie‘, der alle entscheidenden Entwicklungsprozesse dominiert. Somit handelt es sich heute gerade nicht um eine ‚Wissensgesellschaft‘ oder ‚Informierte Gesellschaft‘, sondern um eine auf wissenschaftlichem Wissen beziehungsweise auf der Produktivkraft ‚Wissenschaft und Technologie‘ basierenden Gesellschaft. Es soll nicht unterschlagen werden, dass natürlich auch Alltagswissen und Alltagserfahrungen eine wichtige Grundlage der Wissenschaftsgesellschaft bilden, sofern sie in rationaler Weise in
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die gesellschaftlichen Entwicklungs- und Gestaltungsbereiche eingebracht werden. Es war vor allem die Zukunftsforschung, die die Einbeziehung der Bürger in den Wissenschaftsprozess durch eine aktive Bürgerbeteiligung propagiert und praktiziert hat (kommunikative und gestaltende Wissenschaftsmethoden). Hierzu drei zusammenfassende Thesen: These I Seit der Entstehung der modernen empirisch-analytischen Wissenschaftsmethode an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert, spätestens aber mit der gezielten Nutzung des Produktiv- und Innovationsfaktors ‚Wissenschaft und Technologie‘ im Rahmen der technisch-industriellen Revolution, bestimmt der positiv rückgekoppelte Prozess zwischen Wissenschaftssystem und Gesellschaftssystem die Dynamik der ‚modernen‘ Gesellschaften. Es ist gerade die spezielle wissenschaftliche Form der Informations- und Innovationsproduktion und -verwertung, die eine Reihe zentraler Grunddispositionen in der Gesellschaft am besten, das heißt im Sinne eines rationalistischen Handlungsansatzes am effizientesten und erfolgreichsten erfüllte. Bei allen Beteiligten am Spiel um Einfluss, Macht und ein süßes Leben verfestigte sich die Überzeugung, dass die Ziele eines ‚gesellschaftlichen Fortschritts‘ im Sinne des WTI-Paradigmas (Wissenschaft-Technologie-Industrialisierungs-Paradigma) am besten zu realisieren seien. Vor allem ging es um Annäherung an folgende Ziele: • • • • •
Sicherung der Überlebensfähigkeit der Art und des Individuums, Beherrschung der Natur durch den Menschen, Erfüllung der materiellen und immateriellen Bedürfnisse, Erkenntnisgewinn und Wahrheitsfindung, Ersetzung der auf metaphysisch-religiöser und erblicher Autorität beruhenden Herrschaft durch eine auf ‚objektive Erkenntnis und Rationalität‘ aufbauende ‚Sachautorität‘, • Erhöhung von persönlicher Anerkennung und Sozialprestige. These II Nicht die Produktion und der Umsatz von Informationen dominieren den gesellschaftlichen Wandel, sondern die spezifische wissenschaftliche Informationsproduktion mit ihren auf wissenschaftlichen Denk- und Handlungsmustern beruhenden technischen, ökonomischen, sozialen und ökologischen Innovationen und Erfahrungen sowie den daraus erwachsenen Folgewirkungen. Anders ausgedrückt: nicht die Produktivfaktoren Arbeit, Kapital, Natürliche Ressourcen oder die Ressource Information schlechthin enthalten primär den Schlüssel für den rasanten ökonomischen und sozialen Strukturwandel, sondern der Produktiv- und Innovationsfaktor ‚Wissenschaft und Technologie‘ sowie dessen wissenschaftsbasierte technische Verwertung.
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These III Der Prozess gegenseitiger Verstärkung von gesellschaftlicher Zielsetzung und Anwendung der Methode des wissenschaftlich-technischen Innovierens wurde immer erfolgreicher und schaukelte sich im Rahmen der Industriegesellschaft immer weiter auf. So wurde die Methode im Laufe der Moderne durch eine Reihe innovativer Entwicklungssprünge immer wirkungsvoller. Auf der anderen Seite verengten sich die gesellschaftlichen Grunddispositionen und Zukunftsaussichten auf die vordergründigen Ziele der Technikentwicklung, des Wirtschaftswachstums, der Produktivitätssteigerung, Produktion und Konsumtion, ganz im Sinne der politischen, ökonomischen und militärischen Zielsetzungen Wettbewerbsfähigkeit, Macht und Überlegenheit. Hierüber, so die herrschende Auffassung des Neoliberalismus, werden alle anderen Ziele wie Wohlstand, Gerechtigkeit und Freiheit des Einzelnen und der Gemeinschaft mehr oder weniger automatisch erreichbar. Auf diese Weise überwölbte und verfestigte sich das kapitalistisch-industrialistische Entwicklungsmuster als dominierende weltanschauliche Grundposition. Diese dominierte sogar soziale Klassengegensätze, staatliche Disparitäten und die rasant anwachsenden Umweltbelastungen und militärischen Hochrüstungen. Es ist dieses ‚Fortschrittsmuster‘, das vor allem die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und die Vernutzung der Natur zur Folge hat. Der sich vollziehende weltweite Ausbau zur High-Tech-Gesellschaft und High-Tech-Ökonomie befeuerte in den letzten Jahrzehnten diese Entwicklung in hohem Maße. Alle Lebensbereiche werden inzwischen von der wissenschaftlichen Wissensproduktion und vermehrt von ihrer Digitalisierung dominiert. Diese Dominanz erstreckt sich auf alle neuen und alten Wachstumsbranchen der Wirtschaft, die Mobilität, die Wissenschaft, den militärischen Hochtechnologiekomplex bis in die privaten Haushalte und den Freizeitbereich. Betrachtet man die Produktivität in den drei hochentwickelten Welten der Erde Asien, Nordamerika und Europa (einschließlich Russland) und die Verteilung der Produktivfaktoren Arbeit, Kapital, Natur sowie ‚Wissenschaft und Technologie‘, so wird klar, dass die globale Verteilung von wirtschaftlicher und politischer Macht heute in erster Linie von der Entwicklung und Verfügbarkeit über den letzteren Produktivfaktor beziehungsweise von deren wissenschaftlich basierten Produkten abhängt. Etwas verkürzt lassen sich also folgende Aussagen belegen: Der Produktivfaktor Arbeit spielt nur noch eine untergeordnete Rolle, denn er ist im Prinzip überall ausreichend vorhanden oder fast beliebig von außen ersetzbar. Ausnahmen bilden lediglich Spezialwissen und spezielle Kreativitäts-, Innovations-, Fertigungs- und Erfahrungspotenziale. Der Produktivfaktor Kapital ist zumindest im Prinzip in den drei entwickelten Welten reichlich vorhanden. Weithin sucht das Kapital nach Investitionsmöglichkeiten und spekulativen Gewinnen. Der Produktivfaktor Natur spielte bisher insofern eine untergeordnete Rolle, weil er in der dominierenden neoliberalen Theorie und Praxis der herrschenden Politiker und Wirtschaftslenker als beliebig verfügbar galt. Dass das nie richtig war, steht auf einem anderen Blatt. Gleichwohl bauen aber bis heute alle Wirtschaftssysteme der Industrie-
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nationen, der Schwellenländer und der Entwicklungsländer noch immer weitgehend auf dieser Prämisse auf. Offen bleibt allerdings die eigentliche und zukünftige Bedeutung des Produktivfaktors Natur. Denn es gibt zwei grundsätzlich unterschiedliche Pfade für die Entwicklung zukünftiger Produktionssysteme: den Pfad der extensiven unumkehrbaren Ausbeutung der Natur und ihrer natürlichen Ressourcen sowie Abfallsenken und den Pfad der effizienten, konsistenten und suffizienten reversiblen Nutzung aller natürlichen Ressourcen und Abfallsenken, also den Pfad der Nachhaltige Entwicklung. Entscheidend ist, dass die Faktoren Arbeit und Kapital weitgehend, und der Faktor Natur (intelligente Nutzung, Einklinken in die natürlichen ökologischen Kreisläufe und dynamischen Gleichgewichte) teilweise durch ‚Wissenschaft und Technologie‘ ersetzbar sind. Das gilt umgekehrt nicht: Schon heute lässt sich strategisch relevantes wissenschaftlich-technisches Know-how für den industriellen und militärischen Hochtechnologiebereich nur begrenzt kaufen oder tauschen. Daraus folgt, dass die globale Verteilung von Wirtschaftsstärke und politischer Macht auch in Zukunft dort liegen wird, wo die neuesten Grundlagen und Produkte der wissenschaftlichen Wissensproduktion und Technologieentwicklung vorhanden sind. Verfügt ein Staat oder eine Staatengemeinschaft zudem über hinreichend große Potenziale natürlicher Ressourcen (saubere Energiequellen, sauberes Wasser, fruchtbare Böden sowie über Metalle, seltene Erden, land- und forstwirtschaftlich nutzbare Flächen, Wälder etc.), dann ist die Machtposition der Wissenschaftsgesellschaft auch in einer globalen Welt für eine längere Zeitperiode gesichert.
7.2
Weltleitbild Nachhaltige Gesellschaft (Sustainable Society)
Das zweite Weltleitbild ist die Nachhaltige Gesellschaft (Sustainable Society) als Fernziel einer Nachhaltigen Entwicklung (Sustainable Development). Es ist empirisch belegt, dass die alle Lebensbereiche dominierende Technisierung, Ökonomisierung und Globalisierung seit Jahren bei vielen Menschen Angst, Ohnmacht und Unverständnis über den Fortgang und die Lösung der daraus erwachsenden sozialen, ökologischen und kulturellen Verwerfungen ausgelöst haben. Die Ergebnisse repräsentativer Umfragen in Deutschland etwa des Institut für Demoskopie (IfD) in Allensbach haben in den letzten Jahrzehnten eindeutige Ergebnisse erbracht. Die meisten Menschen sehen in der Globalisierung, der totalen Ökonomisierung und Technisierung aller Lebensbereiche, verbunden mit einem unbegrenzten Wachstum von Produktion und Konsum, zunehmend mehr Risiken als Chancen. Die Ängste verbinden sich hauptsächlich mit einem möglichen Absturz in die Armut, in Isolation, Verlust des Arbeitsplatzes, unbezahlbaren Wohnraum, massive Umweltzerstörungen, Zerfall des sozialen Zusammenhalts und Entsolidarisierung. Auch Ängste und Zweifel hinsichtlich der Erhaltung unserer Friedensordnung, der Leistungsfähigkeit demokratischer Strukturen und Institutionen sowie der großen individuellen Freiheit jedes Einzelnen haben in den letzten Jahren erheblich zugenommen. Hinzu kommt eine starke Skepsis an der Handlungsfähigkeit von Politik, insbesondere 89
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gegenüber der immer mächtiger werdenden Wirtschaftsdominanz der großen Konzerne und deren Lobbyisten. Die im Rahmen der Globalisierung sich verändernden und international vernetzten Entscheidungsstrukturen und -prozesse werden undurchschaubarer und sind kaum noch vom Einzelnen beeinflussbar. Wegen der Komplexität der weltweiten ökonomischen, sozialen und ökologischen Zusammenhänge und Verflechtungen wachsen Zukunftsängste trotz des vordergründig so erfolgreichen Produzierens und Konsumierens. Aber gerade dadurch verschlossen sich für viele Menschen in den vergangenen Jahrzehnten auch die realen Gefährdungen und die menschliche Existenz bedrohenden Folgen zahlreicher Megaprobleme: ABC-Waffenarsenale; ‚friedliche‘ Nutzung der Atomenergie; gigantischer Verbrauchsanstieg an fossilen Energieträgern (Kohle, Erdöl, Erdgas); Klimaveränderungen und -folgen; Vernichtung von Biodiversität; Verseuchung großer Flächen nutzbaren Bodens; Verschmutzung des Trinkwassers und der Atmosphäre; Vernichtung von tropischen Regenwäldern; Verschmutzung der Meere; Vernutzung stofflicher Rohstoffe (Metalle, seltene Erden, Chalkogene etc.); globale Seuchen und Pandemien; Laserwaffen und ferngesteuerte Interkontinentalraketen. Auch die langfristigen Rückwirkungen von Hunger und Armut in Ländern der Entwicklungsländer wurden in der Welt des Überflusses nicht unmittelbar als Bedrohung wahrgenommen, ebenso wenig die grundlegenden technologischen und ökonomischen Disparitäten zwischen den Industrienationen und den Entwicklungsländern. Erst mit den großen Migrationsströmen 2015 wurden die enormen Unterschiede im Lebensniveau zwischen den Menschen in Afrika, Asien und im arabischen Raum zu Europa vielen Europäern bewusst. Nun erst wurde klar, auf welchen Zeitbomben wir sitzen, wie sträflich die Politik und die großen Konzerne die zahlreichen Megaprobleme und die armen Länder auf dem afrikanischen Kontinent und in Asien vernachlässigt hatten. Seit einer Reihe von Legislaturperioden hatte die Bundesregierung in den 1960er-Jahren diese zentralen weltpolitischen Herausforderungen zwischen den Entwicklungsländern und Industrienationen an ein fast machtloses Ministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit abgeschoben. Es war der SPD-Politiker Erhard Eppler, der von 1968 bis1974 das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit führte und erstmals im Rahmen der Bundesregierung und in der Öffentlichkeit die Bedeutung der Entwicklungspolitik für die Industrieländer propagierte. Hieraus und aus unseren Verpflichtungen gegenüber den Vereinten Nationen zog er den Schluss, dass hier eine der großen Herausforderungen für Deutschland und Europa liege. Vor diesem Hintergrund und seinen scharfen Analysen zur Weltpolitik und Kritiken an der neoliberalen Wirtschaftspolitik zog er als einer der ersten die Konsequenz, dass in der Bundesrepublik Deutschland dringend ein Umsteuern in Richtung einer sozialen und ökologischen Wirtschaftspolitik erfolgen müsse. Erhard Eppler kann zu Recht als ein Vorbereiter und Vorkämpfer für eine nachhaltig zukunftsfähige Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik bezeichnet werden. Hierfür stehen auch seine wichtigen frühen Publikationen zu diesem Thema (1974, 1975). Viele Jahre wurden in der Phase der anhaltenden Euphorie über die Beendigung des Kalten Krieges und des Mauerfalls auch die weltweit schwelenden religiösen und ideo-
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logischen Konflikte sowie zunehmender Hass, Gewalt, Terrorismus und ein erstarkender Nationalismus und Rechtsextremismus in Europa nur als mittelbare Bedrohungen wahrgenommen. Die ‚im Hintergrund‘ bereits schwelenden Konflikte in den arabischen Ländern wurden in der geschützten und toleranten Welt der westlichen Demokratien nur als ungutes Grundrauschen empfunden. Die bereits weltweit sich ausbreitenden Krisen und Konflikte schienen von der eigenen Lebensgestaltung in Europa weit entfernt zu sein. Zu dieser Zeit wurden von den politischen Entscheidern und den Tarifpartnern die Folgen des abgeschwächten Wirtschaftswachstums, die relativ hohe Arbeitslosigkeit sowie die geringer werdenden Innovationsraten in den Vordergrund des politischen und wirtschaftlichen Handelns gestellt. Denn es durfte ja nicht sein, dass das kapitalistische System und die Marktwirtschaft versagten. Somit wurden internationale Konflikte und Krisen weitgehend ausgeblendet oder heruntergespielt. Die tatsächlichen Einbußen am Lebensstandard wurden durch die Hartz-Gesetzgebung (Agenda 2010) wieder auf den neoliberalen Wachstumspfad zurückgeführt. Das Ergebnis waren nicht Steigerung von Lebensqualität für einen Großteil der Bevölkerung, forcierter Umweltschutz und Schonung der Naturressourcen, sondern Wiedergewinnung von Wirtschaftswachstum sowie Schaffung von Arbeitsplätzen und Grundlagen für eine extensive Lebensweise mit zunehmendem Konsum und maximaler Bedürfnisbefriedigung für einen Großteil der Bevölkerung. Diese Entwicklung muss auch aus heutiger Sicht kritisch bewertet werden, denn schon 1991, also noch vor der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro, hatten sowohl die UNO als auch die Weltbank festgestellt, dass in fast allen Ländern der Erde die Lebensqualität seit 1978 abnehme. Das galt auch für die Industrieländer trotz eines im Durchschnitt permanenten Wirtschaftswachstums und einer Hochtechnologieentwicklung der vergangenen Jahre. Natürlich benutzten beide Weltorganisationen einen breiten Fächer von Indikatoren für Lebensqualität, der sich nicht nur auf Wirtschaftswachstum bzw. Steigerung des Bruttosozialproduktes bezog, sondern zahlreiche soziale, ökologische und kulturelle Parameter einbezog. Das war nur konsequent, denn Lebensqualität kann sich in einer Welt mit positiven Zukunftsaussichten nicht nur auf die Steigerung des Bruttosozialprodukts beschränken. Diese wichtige Botschaft konnten und mussten die Regierungen, die Parlamente und die politischen Parteien, im Prinzip alle Verantwortungsträger in Staat und Gesellschaft kennen: „Doch wir taten nicht, was wir wussten.“
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Der Weg zur Nachhaltigen Gesellschaft
Schon in den 1970- und 1980er-Jahren befassten sich verschiedene Institute der Zukunftsforschung, der Ökosystemforschung und einzelne Umweltorganisationen sowie einige Think-Tanks und Beratungseinrichtungen der Vereinten Nationen mit Fragen der Zielbestimmung und Operationalisierung zukunftsfähiger Entwicklungen in einer globalisierten Welt. Die UNO hatte bereits unmissverständlich alle Staaten und Völker aufgerufen, sich im Sinne einer wahren Steigerung von Lebensqualität für alle Menschen den gravierenden 91
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Zukunftsproblemen zu stellen. Deshalb muss an dieser Stelle noch einmal an die wichtigen Ergebnisse des Brundtland-Berichtes von 1987, der Rio-Konferenz von 1992 (Agenda 21 und Rio-Deklaration) sowie an die „Milleniumserklärung“ 2000 und an die „Erklärung von Johannesburg zur nachhaltigen Entwicklung“ vom September 2002 erinnert werden. Diese UN-Aufrufe und -signale wurden von allen Staaten der Erde verabschiedet und enthielten bereits konkrete Zielsetzungen, Strategien und Maßnahmen, um den globalen Bedrohungen entgegenzuwirken. Besonders deutlich war hierzu die „Erklärung von Johannesburg zur nachhaltige Entwicklung“: „‚Unser Weg von den Anfängen in die Zukunft.‘ 1) Wir, die Vertreter der Völker der Welt, versammelt auf dem Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung vom 2. bis 4. September 2002 in Johannesburg (Südafrika), bekräftigen unser Bekenntnis zur nachhaltigen Entwicklung. 2) Wir verpflichten uns, eine humane, gerechte und fürsorgende globale Gesellschaft aufzubauen, die der Wahrung der Würde aller Menschen stets eingedenk ist. 3) Zum Auftakt dieses Gipfels haben die Kinder der Welt in einfachen und klaren Worten gesagt, dass ihnen die Zukunft gehört, und sie haben uns allen die Aufgabe gestellt, ihnen durch unser Tun eine Welt zu hinterlassen, in der die unwürdigen und beschämenden Lebensbedingungen beseitigt sind, die durch Armut, Umweltzerstörung und nichtnachhaltige Entwicklungsmuster verursacht werden. 4) Als Teil unserer Antwort an diese Kinder, die unsere gemeinsame Zukunft darstellen, sind wir alle, aus welchem Teil der Erde wir auch kommen mögen und bei aller Verschiedenheit unserer Erfahrungen, durch das tief empfundene Gefühl vereint und geleitet, dass wir dringend eine neue und hoffnungsfrohe Welt schaffen müssen. 5) Daher übernehmen wir gemeinsam die Verantwortung dafür, die interdependenten, sich gegenseitig stützenden Säulen der nachhaltigen Entwicklung – wirtschaftliche, soziale Entwicklung und Umweltschutz – auf lokaler, nationaler, regionaler und globaler Ebene auszubauen und zu festigen. 6) Von diesem Kontinent aus, der Wiege der Menschheit, bekennen wir uns mit dem Durchführungsplan und dieser Erklärung zu unserer Verantwortung füreinander, für alle Lebewesen und für unsere Kinder. 7) In der Erkenntnis, dass sich die Menschheit an einem Scheidepunkt befindet, haben wir uns gemeinsam entschlossen, alle notwenigen Anstrengungen zu unternehmen, um einen pragmatischen und sichtbaren Plan auszuarbeiten, der zur Beseitigung der Armut führt und die menschliche Entwicklung im Sinne der Nachhaltigkeit fördert.“ (Enquete-Kommission 1993‒1998)
Es folgt noch einmal ein Bekenntnis zu den UN-Vorläuferkonferenzen sowie deren Forderungen nach einem weltweiten Politikwandel in Richtung Nachhaltigkeit: • schon die „Konferenz der Vereinten Nationen über die Umwelt und Entwicklung des Menschen“, die „Weltumweltkonferenz“ 1972 in Stockholm hatte strategische Leitlinien und konkrete Forderungen und Maßnahmen erarbeitet, um die Menschheit aus der drohenden Gefahr einer übernutzten Erde herauszuführen; • die „UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung“ in Rio de Janeiro 1992 nutzte ein einmaliges Zeitfenster in der Weltpolitik, um alle Staaten der Welt für die „Rio-De-
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klaration“ und die „Agenda 21 – Handlungsprogramm für das 21. Jahrhundert“ zu verpflichten. Spätestens von hieran musste es allen Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft deutlich sein, dass nur der Weg in Richtung einer Nachhaltigen Entwicklung (Nachhaltige Weltgesellschaft) zukunftsfähig sein würde; • zwischen den Konferenzen von Rio und Johannesburg gab es weitere wichtige Weltkonferenzen unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen, so u. a. den „Weltgipfel für soziale Entwicklung“ 1995 in Kopenhagen; die „Weltfrauenkonferenz“ zur Emanzipation der Frauen 1995 in Peking; die „UN-Konferenz über den unerlaubten Handel mit Kleinwaffen und leichten Waffen“ 2001 in New York; die „Weltkonferenz gegen Rassismus, Rassendiskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz“ 2001 in Durban (Südafrika), die UN-Konferenz über Entwicklungsfinanzierung 2002 in Monterrey (Mexiko). Unter den Ziffern 11. bis 15. der Johannesburg-Erklärung werden „Die Herausforderungen, vor denen wir stehen“ lückenlos benannt und deren Gefahren für den Fortbestand der Menschheit. Unter der Überschrift „Unser Bekenntnis zur nachhaltigen Entwicklung“ (Ziff. 16. bis Ziff. 30) werden zu allen großen globalen Herausforderungen nachhaltige Lösungen beschworen und hierfür zentrale strategische Handlungsnotwendigkeiten und Maßnahmen dargelegt. Der Tenor ist zuversichtlich, dass wir Menschen bei einem strikten Vorgehen im Sinne der Nachhaltigkeit die Mittel und Wege haben, um die großen Herausforderungen zu meistern. Angesichts der erkennbaren Gefahr eines Rückfalls in nationale Egoismen, in Nationalismus und Protektionismus, enthalten die Erklärungen unter „Die Zukunft gehört dem Multilateralismus“ (Ziffern 31 bis 33) geradezu beschwörend Festlegungen auf wirksame internationale und multinationale demokratische Institutionen mit Rechenschaftspflicht. Zudem wird die Führungsrolle der Vereinten Nationen gefordert. Nur so könnten in einer globalisierten Welt die Ziele und Maßnahmen der Nachhaltigen Entwicklung durchgesetzt werden. Die abschließenden Punkte „Vom Plan zur Tat“ verweisen auf die Notwendigkeit des schnellen gemeinsamen Handelns: „34. Wir sind uns einig, dass es sich um einen integrativen Prozess handeln muss, der alle wichtigen Gruppen und alle Regierungen einschließt, die an dem historischen Gipfeltreffen von Johannesburg teilgenommen haben [Anm. RK: Es war das zweite Mal nach Rio, dass eine große Anzahl von NGOs beteiligt war]. 35. Wir verpflichten uns, gemeinsam zu handeln, geeint durch unsere Entschlossenheit, unseren Planeten zu retten, die menschliche Entwicklung zu fördern und allgemeinen Wohlstand und Frieden zu schaffen. 36. Wir verpflichten uns auf den Durchführungsplan von Johannesburg und auf die rasche Verwirklichung der termingebundenen sozioökonomischen und umweltpolitischen Ziele, die darin festgelegt werden [Anm. RK: diese Festlegung war wegen der notwendigen Konkretisierung von Handlungen und Maßnahmen besonders wichtig und am stärksten umkämpft]. 37. Vom afrikanischen Kontinent aus, der Wiege der Menschheit, geloben wir feierlich vor den Völkern der Welt und vor den Generationen, die diesen Planeten erben werden, unsere 93
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Entschlossenheit, dafür Sorge zu tragen, dass unsere gemeinsame Hoffnung auf eine nachhaltige Entwicklung Wirklichkeit wird.“ (Enquete-Kommission 1993‒1998)
An dieser Stelle muss hervorgehoben werden, dass die unmittelbare Konferenzarbeit in Rio und Johannesburg sowohl hinsichtlich des Ablaufs als mehr noch der erzielten Ergebnisse großer Anerkennung bedarf. Das tage- und nächtelange Ringen um jeden Satz und jedes Wort, das von 180 Völkern der Welt getragen werden sollte, war eine bravouröse Leistung. Außenstehenden und vielen Medien waren die Kompromissformulierungen nicht präzise und eindeutig genug. So haben kurz nach der Rio-Konferenz selbst Umwelt-, Friedensund Menschenrechtsorganisationen manch harsche Kritik an den Ergebnissen geübt. Hier sei beispielhaft das unfreundliche Statement des deutschen „Forum für Umwelt und Entwicklung“ zitiert, das die Rio-Konferenz „Gipfel der Scheinheiligkeit“ nannte. Es ist zu bezweifeln, dass zu dieser Zeit die Mitglieder des Forums und manch andere Friedens- und Umweltaktivisten die Ergebnisse eingehend studiert und eine Vorstellung davon hatten, wie kompliziert die Einigung auf einen gemeinsamen Text gewesen war. Immerhin, ein halbes Jahr nach Rio waren sich fast alle einig, dass die Rio-Erklärung und die Agenda 21 völlig neue Perspektiven für eine zukunftsfähige nachhaltige Weltentwicklung eröffnet hatten. Besonders wichtig war, dass für die meisten Handlungsfelder sogar operationale Strategien und Maßnahmen vorgelegt wurden. Aus späterer Sicht kann sogar resümiert werden, dass die Ergebnisse von Rio eine der größten Leistungen der Weltorganisation sind und dass die Ergebnisse auch nur in einem schmalen Zeitfenster der Weltpolitik möglich waren. Die kolossalen weltweiten sozialen und ökonomischen Disparitäten zwischen den Industriestaaten und den Entwicklungsländern wurden erstmals nach Rio verringert. Das gilt insbesondere für die Zahl der Hungernden und in enormer Armut lebenden Menschen. Auch im Hinblick auf Bildung, Gesundheit, Emanzipation der Frauen, Mobilität, soziale Teilhabe, Ausbeutung und Unterdrückung wurden Fortschritte erzielt. Aus der Sicht der Zukunftsforschung konnte trotz der Erfolge keine Entwarnung gegeben werden. Es blieb dabei: in den meisten Ländern, einschließlich Deutschland, wurde viel zu wenig und in der Regel viel zu spät gehandelt. Unsere Kenntnisse, unser Wissen, unsere Kreativität und die wissenschaftlich-technischen Innovationsmöglichkeiten für eine zukunftsfähige nachhaltige Lebenswelt wurden bei weitem nicht genutzt. Besonders wichtig war allerdings, dass die Kernbestandteile des Leitbildes, die Forderungen nach inter- und intragenerativer Gerechtigkeit durch einen breiten Konsens sowohl der Staaten als auch von den weltlichen und den religiösen Wertesystemen getragen wurden. In der Folge wurde die Indikatorenbildung zur Messung von Nachhaltigkeit weltweit durch zahlreiche wissenschaftliche Institute, staatliche und kommunale Planungseinrichtungen und NGOs erarbeitet, um auf der Zeitskala verlässliche qualitative und quantitative Aussagen über Erfolge und Misserfolge der jeweiligen Nachhaltigkeitsmaßnahme(n) zu erhalten. Auf dieser Basis wurden für viele Handlungsfelder wie Energie, Klima, Biodiversität, Atmosphäre, Boden, Wasser, Bauen, Industrie, Mobilität und Verkehr, Haushalte, Dienstleistungen, Landwirtschaft, Wohnen, Freizeit etc. erste Bilanzen erstellt, die in der Regel durchaus aussagekräftige Ergebnisse im Hinblick auf Fortschritte im Nachhaltig-
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keitsprozess lieferten. Zahlreiche Wissenschaftliche Institute der Zukunfts-, Friedens-, Umwelt-, Ökosystem- und ökologischen Wirtschaftsforschung sowie Nichtregierungsorganisationen haben hierfür Pionierarbeit geleistet. Auch die OECD, das Umweltbundesamt, der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU), der Wissenschaftliche Beirat Globale Umweltveränderungen (WBGU), der Rat für Nachhaltige Entwicklung und die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Schutz des Menschen und der Umwelt“ (1993–1998) haben in den Folgejahren nach Rio zur Operationalisierung des Nachhaltigkeitskonzeptes sowie zur Umsetzung und Messung von Nachhaltigkeit konkreter Konzepte und Maßnahmen wichtige Beiträge erbracht. Selbst die „Perspektiven für Deutschland: Unsere Strategie für eine nachhaltige Entwicklung 2002“ und die „Fortschrittsberichte“ der Bundesregierung 2004 bis 2019 („Staatssekretärs-Ausschuss für Nachhaltige Entwicklung“) enthalten Maßnahmenbündel und Indikatorenlisten für diverse Aktionsfelder (Bundesregierung 2002‒2019). Natürlich handelte es sich hier um wichtige Gesellschaftsbereiche, die dringend nachhaltigen Zielen, Strategien und Maßnahmen unterzogen werden müssen. Es wurden aber keine klaren Strategien, Zeitpläne und Indikatorensets angegeben, wie die Ziele operationalisiert, gemessen und kontrolliert werden sollen. Demgegenüber enthält der Text zu den einzelnen Aktionsbereichen weitgehend nur allgemeine, unverbindliche Ziele, die kein politisches Entscheidungsorgan zu einem konkreten Handeln auf einer vorgegebenen Zeitachse verpflichtet. Diese Form der Durchsetzung einer Nachhaltigkeitsstrategie für Deutschland wiederholte sich mit einigen neuen Akzenten und zusätzlichen innovativen Zielsetzungen in allen weiteren „Nachhaltigkeitsfortschrittsberichten“ bis in das Jahr 2019. Vor diesem Hintergrund wird klar, dass die Bundesrepublik Deutschland nur wenige selbst gesteckte Nachhaltigkeitsziele konsequent durch Regierung und Parlament durchgesetzt hat oder durchsetzen wollte. Zudem wurde die Distanz der Bürgerschaft zur Politik, insbesondere zu den großen Volksparteien dadurch immer größer, auch weil die meisten guten Konzepte aus der Wissenschaft und der Zivilgesellschaft kaum Resonanz fanden. Das gilt viele Jahre für eine nachhaltige Energiewende, für einen konsequenten Klimaschutz, für die Erhaltung der Biodiversität, für eine gerechtere Einkommens- und Vermögensverteilung, eine ökologische Wirtschaftsentwicklung, für eine echte Kreislaufwirtschaft oder eine sozialökologische Landwirtschaft. Auch kam es nie zu einer überzeugenden nachhaltigen Entwicklungspolitik und wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern. So war schon frühzeitig zu befürchten, dass es zu starken Migrationsströmen kommen würde, wie die Warnungen des IZT Berlin und des SFZ frühzeitig aussagten (IZT 2011). Was den Glauben an die Willenskraft der Bundesregierung zur Durchsetzung einer konsequenten Nachhaltigkeitsstrategie in der Bürgerschaft, bei den Umweltverbänden und in der Wissenschaft erheblich schwinden ließ, lässt sich auch an dem Einfluss des „Rat für Nachhaltige Entwicklung“ (RNE) aufzeigen. Der Rat wurde im April 2001 von der Bundesregierung berufen. In der Begründung heißt es: „Der Rat berät die Bundesregierung in Fragen der Nachhaltigkeit und soll mit Vorschlägen und Projekten die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie fortentwickeln und umsetzen helfen.“ Weiterhin soll er in der Bevölkerung und bei Aktiven in Sachen Nachhaltiger Entwicklung die Kenntnisse und 95
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die Debatten über Nachhaltigkeit stärken und über Strategien und Projekte das gesamte Thema zu einem wichtigen öffentlichen Anliegen machen: „Der Rat entwickelt Beiträge zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie, richtet Empfehlungen an die Bundesregierung und benennt konkrete Handlungsfelder und Projekte dazu“ (RNE 2001‒2020). Zu den Aufgaben des Rats gehören: • Empfehlungen an die Bundesregierung über den Chef des Bundeskanzleramtes, • Organisation des öffentlichen politischen Dialogs über Veranstaltungen, Publikationen, Pressemitteilungen etc. sowie • Öffentlichkeitswirksame Projekte. Es ist zu würdigen, dass der RNE zahlreiche wertvolle Anregungen und Beiträge zur Nachhaltigkeitsdebatte in Deutschland erbracht hat. Gleichwohl blieb sein Einfluss auf die konkrete Politikgestaltung und Umsetzung äußerst gering. Die bisher letzte Jahresversammlung des RNE am 04. Juni 2019 fand unter dem Titel „Zukunft zur Heimat machen“ statt. Das Thema wurde ganz im Sinne der Zukunftsforschung gewählt. Wieder gelang es durch die Mitwirkung erfahrener und junger Aktivisten aus unterschiedlichen Institutionen (u. a. FUTURZWEI. Stiftung Zukunftsfähigkeit, BUND Jugend, Le Comité 21, Fridays For Future, Deutscher Sparkassen und Giroverband, Union Investment) ein interessantes Bild von Projekten und Initiativen zur Nachhaltigkeit in Deutschland aufzuzeigen. Auch das abschließende Thema „Was tun? Deutschland, Europa und der kommende Nachhaltigkeitsgipfel der Vereinten Nationen“ war richtig platziert und mit den deutschen Minister*innen Dr. Gerd Müller (BM für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) und Svenja Schulze (BM für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit) gut besetzt. Trotzdem blieb die politisch-praktische Resonanz, gerade auch anlässlich der Großdemonstrationen für Klimaschutz und Nachhaltige Entwicklung, völlig unbefriedigend. Wiederum wurde viel diskutiert, während konkrete Nachhaltigkeitsmaßnahmen im Unverbindlichen blieben. Zu dieser Zeit gab es noch Hoffnung, dass das ‚Klimakabinett‘ der Bundesregierung einen großen Schritt nach vorne gehen würde. Umso ernüchternder waren die im September 2019 verabschiedeten Maßnahmen des „Klimapakets der Bundesregierung“. Zu Recht wurde es von der Wissenschaft, der Zivilgesellschaft, den Jugendverbänden und sogar der Wirtschaft als völlig unzureichend kritisiert, um den drohenden ‚Klimakollaps‘ noch abzuwenden. Fridays for Future Germany und Scientists for Future reagierten mit der Aussage: „Das ist ein Schlag ins Gesicht aller, die in dieser Stunde zu Hunderttausenden in Deutschland für echten Klimaschutz auf die Straße strömen!“
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Leitperspektiven der Nachhaltigen Entwicklung
Schon vor den UN-Konferenzen von Rio 1992 und Johannesburg 2002 hatte die Zukunftsund die Ökosystemwissenschaft herausgearbeitet, dass die Leitziele für ein zukunftsfähiges Weltkonzept der Nachhaltigen Entwicklung mehr sein müsse als etwa die Millenniumsentwicklungsziele von 2000. Diese hatten in eindringlicher Form die Perspektiven sozialer globaler Gerechtigkeit in den Vordergrund gestellt. Weitergreifend forderte aber die UNKonferenz von Johannesburg die weltweite Umsetzung einer Nachhaltigen Entwicklung in allen gesellschaftlichen Bereichen. Das bedeutete jedoch, die Transformation der gesamten menschlichen Existenz- und Lebensweise so zu entwickeln, dass eine langfristig zukunftsfähige Entfaltung aller Menschen im Einklang mit der Natur ist, das heißt, im Einklang mit der Biosphäre, den natürlichen ökologischen Kreisläufen und dynamischen Gleichgewichten der Erde erfolgt. Nur so könne für alle Menschen langfristig ein würdevolles Leben und eine angemessene Lebensqualität erreicht werden. Dieser Nachhaltigkeitsperspektive für eine zukunftsfähige Weltgesellschaft liegt im Prinzip die ‚einfache‘ Erkenntnis zugrunde, dass die Erde im Gegensatz zum klassischen und neoliberalen Wirtschaftspostulat nicht unendlich ist, demzufolge sind es auch nicht die Ressourcen und die Abfallsenken. Es brauchte also erst die Einsicht, dass zur Existenzsicherung der Menschen für eine Langzeitperspektive die Erde bei immerwährendem Wirtschaftswachstum und Bevölkerungszuwachs natürliche Grenzen setzt. Die Selbsttäuschung, dass die Erde für die Menschheit dauerhaft unendlich viele Ressourcen und Abfallsenken bereithält, basierte ja auf dem vorherrschenden WTI-Fortschrittsparadigma. Erst allmählich kamen Zweifel auf, dass die Hochentwicklungen und Spezialisierungen der Einzelwissenschaften sowie deren technische Möglichkeiten und ökonomische Wachstumsperspektiven die Zukunftsfähigkeit des Menschen auf Ewigkeit sichern könne. So verstärkten insbesondere die multidisziplinäre Zusammenschau der Wissenschaften und deren interdisziplinäre Vernetzung diese Zweifel. Es waren vor allem die Systemwissenschaften, die Kybernetik, die Zukunftsforschung und die Ökosystemwissenschaft, die die Vernetzung vorantrieben und die Frage stellten, ob der Weg der Überbeanspruchung der Natur und ihrer Ressourcen sowie ihre begrenzte Regenerationsfähigkeit zu einem Umschlagpunkt führen kann, ab dem die langfristige Existenz des Homo Sapiens nicht mehr garantiert sei. Eine erste anschauliche Darstellung der Notwendigkeit, die gesamte Erde mit allen belebten und unbelebten Individuen und Entitäten in ihrer Vernetzung als Einheit zu betrachten und zu begreifen, lieferte Frederic Vester (1925–2003). Ursprünglich Biochemiker, wandte er sich als einer der ersten dem kybernetischen und systemaren Denken zu. Die neue global vernetzte Erkenntnismethode bildete die Grundlage seiner Forschung und Durchdringung aller Bereiche des individuellen und sozialen Lebens in der belebten und unbelebten Natur. Eine grandiose Leistung Vesters war die wissenschaftliche Konzeption des Werkes und die praktische Erstellung der Ausstellung Unsere Welt – ein vernetztes System (1975/1976). Diese Ausstellung zeigte erstmals anschaulich mit zahlreichen interaktiven 97
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Exponaten, wie vernetzt die komplexen Prozesse und Zusammenhänge auf der Erde sind und was wie zu tun sei, um einem Kollaps der Menschheit zu begegnen. Der Erfolg der mit dem IFZ Institut für Zukunftsforschung Berlin gemeinsam organisierten europaweiten Wanderausstellung war mit über 2,4 Millionen Besuchern überwältigend. Viele Menschen haben hier erstmals verstanden, wie eng vernetzt die Lebenssituation des Menschen mit der Natur gekoppelt ist und welche Weichen in der Politik und im Sozialsystem gestellt werden müssten, um eine nachhaltig-zukunftsfähige Entwicklung zu garantieren – das war vor 44 Jahren! Aus den umfangreichen Studien und praktischen Erkenntnissen der Agenda 21-Prozesse, den Vorschlägen des RNE, dem WBGU und dem SRU sowie unzähligen praktischen Initiativen und gelungenen sowie misslungenen Nachhaltigkeitsprojekten weltweit haben wir am IZT Berlin und am SFZ Gelsenkirchen im Jahr 2003 die folgenden Leitperspektiven für eine Nachhaltige Entwicklung erarbeitet (IZT & SFZ 2003): • Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, Schonung der Naturressourcen und Verhinderung irreversibler Zerstörungen von Natur und Kultur; • Verbesserung der Lebensqualität sowie Sicherung von ökologischer Wirtschaftsentwicklung und Beschäftigung; • Sicherung von sozialer Gerechtigkeit und Chancengleichheit; • Wahrung und Förderung der kulturellen Eigenentwicklung und Vielfalt von Völkern, Ethnien, Gruppen und Lebensgemeinschaften; • Förderung menschendienlicher Technologien und Verhinderung superriskanter Techniken und irreversibler Umfeldzerstörungen; • Drosselung des Wirtschaftswachstums in den Industrieländern und Zurückführung von Produktion und Konsumtion in die globalen ökologische Kreisläufe und dynamische Gleichgewichte der Natur und Biosphäre.
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Fazit
Besonders wichtig ist festzuhalten, dass die Kernbestandteile des Leitbildes, die Forderungen nach inter- und intragenerativer Gerechtigkeit durch einen breiten Konsens aller Staaten und von den weltlichen und religiösen Wertesystemen getragen werden. Die Indikatorenbildung und Maßnahmen sind hinsichtlich zukunftsfähiger Strategien, Initiativen und Projekte in fast allen Handlungsfeldern (Energie, Bauen, Wohnen, Industrie, Mobilität und Verkehr, Haushalte, Dienstleistungen, Landwirtschaft etc.) operationalisiert worden: z. B. Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Schutz des Menschen und der Umwelt“ 1992–1998, „Perspektiven für Deutschland – Unser Weg in eine Nachhaltige Entwicklung“ und „Fortschrittsberichte“ 2002–2019 der Bundesregierung; zudem durch viele wissenschaftliche Studien und praktische Anleitungen in Bundestagsdrucksachen sowie zivilgesellschaftlichen Expertisen.
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Die auf der Agenda 21 beruhende Vorgehensweise mit dem Fernziel einer Sustainable Society ist vor allem auch aus politisch-pragmatischer Sicht zukunftsweisend. Wir können heute mit Gewissheit sagen, dass die Nachhaltige Entwicklung viele Gewinner und nur wenige Verlierer hat. Das gilt für die unterschiedlichen Staaten ebenso wie für die meisten gesellschaftlichen Institutionen und Akteure. Nachhaltige Entwicklung kann zudem weltweit auf einer breiten Zustimmung der Bürgerschaft aufbauen. Das ist eine besonders wichtige Grundlage für alle demokratischen Staaten, denn nachhaltiges Handeln kommt den wichtigsten Bedürfnissen der meisten Menschen nach mehr Lebensqualität, Gesundheit, Wohlstand und Kultur ohne Negativfolgen entgegen. Nachhaltige Entwicklung ist auch als Handlungsprogramm in praktischer Hinsicht mit großen Realisierungschancen verbunden, weil es gleichzeitig ökologische, ökonomische, soziale und kulturelle Gewinne ermöglicht. Hinzuzufügen ist aus der Sicht der Zukunftsforschung an IZT und SFZ, dass es angesichts des mächtigen Produktiv- und Innovationsfaktors von Wissenschaft und Technologie undenkbar erscheint, ohne Nutzung dieser geistigen und praktischen Ressourcen des Menschen, eine nachhaltig-zukunftsfähige Entwicklung in der Moderne global und zeitnah so zu gestalten, dass keine Tipping-Points überschritten werden. Heute leben auf der Erde über 200 Millionen Menschen, die sich wissenschaftlich, technisch, wirtschaftlich und sozial mit Entwicklungen des ‚wissenschaftlich-technisch-ökonomischen Fortschritts‘ befassen. Es ist schier undenkbar, sie in Zukunft von diesen Tätigkeiten, von denen sie vollkommen fasziniert und überzeugt sind, im Sinne des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts zu handeln, abzubringen. Aus diesen Erkenntnissen haben wir im Rahmen der Zukunftsforschung am IZT und SFZ den Schluss gezogen, dass ein Überleben der Menschheit nur dann möglich sein wird, wenn alle zukünftigen wissenschaftlichen Erkenntnisse sowie die praktischen technisch-ökonomischen ‚Gewinne‘ und Handlungen strikt an den Leitzielen der Nachhaltigen Entwicklung ausgerichtet werden. Das heißt aber, dass sowohl die Politik als auch die Bürgerschaft und die Zivilgesellschaft in die Entwicklung und Kontrolle dieser neuer Perspektiven, Ziele und in die konkrete Zukunftsgestaltung einer Sustainable Society einbezogen werden müssen. Aber selbst eine solche Strategie wird nicht ausreichen, wenn nicht gleichzeitig neue nachhaltige Lebensmuster weltweit von uns Menschen gelebt werden. Das heißt vor allem, dass wir in allen Lebensbereichen unser Handeln und unseren Konsum im Einklang mit den ökologischen Kreisläufen und dynamischen Gleichgewichten der Natur praktizieren müssen. Die Menschheit wird nur dann Überlebenschancen zurückgewinnen, wenn wir in allen Gesellschaften und in allen Handlungsbereichen konsequent, zielgeführt und selbstorganisiert, eine Effizienz- und eine Konsistenzrevolution anstreben und durchsetzen.
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Die nachhaltige Gesellschaft Eine konkrete Utopie Harald Welzer
Nie war so viel von Nachhaltigkeit die Rede wie heute. Das ist, sozialpsychologisch gesehen, kein Zufall. Denn man redet ja immer über das besonders viel und intensiv, woran es mangelt. Denn nie waren die Gesellschaften der Welt weniger nachhaltig als heute; seit dem Erscheinen der ‚Grenzen des Wachstums‘, das war 1972, hat sich der Ressourcenaufwand vervierfacht; ein Ende der Steigerung ist nicht abzusehen. Wohl aber Reaktionsbildungen. Da immer deutlicher zu spüren ist, dass man mit business as usual nicht durch das 21. Jahrhundert kommen wird, treten wieder Akteure weltpolitisch auf den Plan, die sich ostentativ vom Universalismus verabschiedet haben und neo-nationalistisch verkünden, dass es ihnen nur darauf ankäme, für ihre eigene Nation noch herauszuholen, was eben ginge. Das ist insofern von gar nicht zu überschätzender Dramatik, als ja die Lösung der globalen Umweltprobleme nicht guten Willen oder interessant klingende Begriffe voraussetzt, sondern schlicht die Basisnorm des Universalismus: Alle Menschen haben unterschiedslos das gleiche Recht zu überleben. Die Aufkündigung dieser Norm ist auch eine Reaktion auf die Einsicht, dass mit business as usual das Überleben aller keineswegs gesichert ist. Statt von diesem abzukehren, kehrt man von der Norm ab und folgt einer partikularen Moral. Das ist für uns Kinder der universalistischen Moderne neu. Historisch ist es leider eher der Normalfall. Die letzten 70 Jahre der westlichen Nachkriegsmoderne mit ihren zeitweiligen Ausbreitungen in andere Teile der Welt waren vielleicht eine Ausnahme. Aber man weiß ja nie. Wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte oder das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland Erzählungen über das Sein-Sollen der Welt bzw. der Gesellschaft sind, die nicht in vollem Umfang eingelöst oder auch nur einlösbar sind, sollte man nicht bei fatalistischen Befunden verweilen, sondern die Anstrengung auf sich nehmen und utopisch denken. Wem business as usual und der zivilisatorische Rückschritt des Partikularismus keine akzeptablen Möglichkeiten erscheint, der muss sich Gedanken darüber machen, wie eine nachhaltige Gesellschaft aussehen kann, die die zivilisatorischen Standards der Moderne aufrechterhält.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_4
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Die nachhaltige Gesellschaft Wie sieht also eine nachhaltige moderne Gesellschaft aus? Das weiß leider kein Mensch. Denn moderne Gesellschaften sind nicht nachhaltig; ihr Wohlstand beruht auf einem Wirtschaftssystem, das permanent Wachstumsraten zu brauchen scheint, um sich selbst dynamisch zu stabilisieren. Zugleich wird man mit diesem Wirtschaftssystem, wenn es wie heute überall auf dem Planeten Verbreitung gefunden hat, nicht durch das 21. Jahrhundert kommen – es konsumiert ja schon längst seine eigenen Voraussetzungen, und das jedes Jahr mehr. Wollte man auf eine nachhaltige Lebens- und Wirtschaftsweise kommen und zugleich das normative Ziel einer globalen Gerechtigkeit verfolgen, dann müssten wir, die Bewohnerinnen und Bewohner einer der reichsten Gesellschaften der Erde, um vier Fünftel reduzieren: also 20 Prozent der heutigen Energie, der Nahrungsmittel, der Ausgangsmaterialien, der Mobilität. 80 Prozent Reduktion im Material- und Energieverbrauch, wenn man auf einen global gerechten Pro-Kopf-Verbrauch kommen will, das ist schwer vorstellbar, besonders dann, wenn man die zivilisatorischen Güter moderner demokratischer Gesellschaften aufrechterhalten will: Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Bildungs-, Gesundheits- und Sozialversorgung. Andererseits erfordert gerade die Bewahrung dieser immateriellen Güter einen Pfadwechsel, der der ökologischen Zerstörung gegensteuert – denn ohne einen Metabolismus, der mehr als das bloße Überleben sichert oder womöglich nicht einmal das, ist so eine schöne Zivilisation nicht vorstellbar. Aber: Ein solcher Pfadwechsel braucht Vorstellungen und Bilder einer anderen Zukunft, als sie die Fortsetzung des business as usual bieten würde. Zukunft scheint aber in der Gegenwart der früh industrialisierten Gesellschaften kaum noch eine Kategorie zu sein. Fast scheint es, als seien mit der Einlösung der Wohlstandsversprechen der Nachkriegszeit die Zukunftshorizonte gewissermaßen eingeholt und aufgebraucht, indem sie realisiert wurden. Der Status quo von heute ist die Utopie von gestern, und plötzlich, so scheint es, geht es nur noch um die Sicherung dieses Status quo. So jedenfalls zeigt es der Blick auf die offensichtliche transzendentale Obdachlosigkeit der ehemaligen Volksparteien und die Gestrigkeit ihrer Parteiprogramme, und so zeigt es die visionslose Ästhetik der Gegenwart, in der zum Beispiel lieber Schlösser und Fake-Altstädte nachgebaut als eigene Ausdrucksformen für die Signatur der Zeit entwickelt werden. Hat diese Gegenwart noch einen Sinn, in dem sie sich selbst erkennt? Oder hat sie womöglich gar keine Signatur? Ist sie einfallsund konturlos, weil sie nur noch um das Festhalten am Bestehenden, am Besitz und am Hyperkonsum kreist? Und ist das nicht dekadent, wenn doch Modernisierung nie ohne den Entwurf einer Welt auskommen kann, die anders ist als die, die da ist. Im Augenblick jedenfalls sind die einzigen übriggebliebenen Utopisten die Langweiler aus der digitalen Welt, die ja nichts Neues entwerfen, sondern bloß die Welt wie jetzt, nur bequemer, schneller, vollgestellter mit Produkten wollen. Eine digital sedierte Welt, in der den Menschen in den reichen Gesellschaften jede Mühsal abgenommen wird und sie gleichzeitig so geräteabhängig werden, psychisch wie physisch, dass sie auch nicht
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entfernt auf die Idee kommen, dass es nicht die Digitalisierung ist, die ihnen ihr Wohlergehen ermöglicht, sondern die Menschen, die ihnen die Rohstoffe bereitstellen, damit die analoge und die digitale Wirtschaft zu ihren Gunsten funktionieren können. Da Leben Stoffumwandlung ist, wird das Leben niemals digital sein. Und weil es Stoffumwandlung ist, wird es darum gehen müssen, unser Naturverhältnis so zu modernisieren, dass wir die Welt nicht als unendliches Reservoir zur Sicherung eines Lebens- und Wirtschaftsstils betrachten, sondern als endliche Raum-Zeit-Konstellation, die wir klug, also nachhaltig nutzen müssen, um langfristig Überleben, besser: langfristig gutes Überleben zu sichern. Es geht also darum, Denk- und Gestaltungsmöglichkeiten einer nachhaltigen Zukunft zu entwickeln. Das ist eine Aufgabe sozialer, nicht technischer Intelligenz. Ob sie und in welcher Weise sie realistisch werden können, ist eine Frage, die in der Wirklichkeit, nicht im Experiment entschieden wird.
Materielle und immaterielle Standards Die Notwendigkeit einer Nachhaltigkeitstransformation moderner Gesellschaften ist unabweisbar: Klimawandel, Übernutzung natürlicher Ressourcen, Erreichen bzw. Überschreiten der ‚planetaren Grenzen‘ – all das macht nun schon seit Jahrzehnten deutlich, dass ein Pfadwechsel in der Wirtschaftsweise, die Etablierung eines anderen gesellschaftlichen Naturverhältnisses unabdingbar ist. Aber die Umsetzung einer solchen Transformation ist durch eine Erfolgsfalle blockiert, denn das kapitalistische Wirtschaftsmodell hat nicht nur zu einem historisch ganz unvergleichlich hohen allgemeinen Wohlstandsniveau geführt, sondern auch zu den schon erwähnten nicht-materiellen Standards von Zivilisierung. Wenn man also die Frage nach den für eine nachhaltige Gesellschaft notwendigen Transformationen in Wirtschaft und Gesellschaft stellt, geht es um nichts Geringeres als um die Frage, ob sich der Standard von Freiheit und Lebenssicherheit, den die Menschen in den frühindustrialisierten Gesellschaften erreicht haben, bewahren lässt oder nicht. Die Herausforderung besteht also darin, einem Modus der Vergesellschaftung nachzuspüren, der bei radikal reduziertem Naturverbrauch die Aufrechterhaltung und sogar Weiterentwicklung eben dieser zivilisatorischen Standards ermöglicht. Es geht also um die Organisation eines nachhaltigen Naturverhältnisses unter den zivilisatorischen Bedingungen der Moderne. Das ökonomisch extrem erfolgreiche System, das sich während der vergangenen 250 Jahre in den früh industrialisierten Staaten herausbildete, basierte von Anfang an darauf, dass es die Ressourcen und den Treibstoff zur unablässigen Produktion von Mehrwert und Wachstum von außen, d. h. vor allem aus den (Ex-)Kolonien, bezog (Brand & Wissen 2011). Eine globalisierte Welt hat jedoch kein Außen mehr. Mit dem Aufstieg von Schwellenländern wie Brasilien, China und Indien sowie der industriellen Land- und Wassernutzung im ‚globalen Süden‘ verallgemeinern sich nun genau jene Produktions- und Konsummuster, die aus einer ökologischen Perspektive schlicht nicht verallgemeinerbar 105
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sind. Das bedeutet auch, dass sich die Ausbeutung vom Raum in die Zeit verlagert, was etwa der Earth Overshoot Day sinnfällig macht, der den Tag bezeichnet, an dem die für ein Jahr verfügbaren globalen Ressourcen erschöpft sind. Er wandert jedes Jahr weiter, bald in Richtung Frühjahr. Der Historiker Dipesh Chakrabary hat darauf hingewiesen, dass die „Große Beschleunigung“ (Steffen et al. 2009) der Konsumraten und des Ressourcenverbrauchs, die aus Perspektive der ökologischen Nachhaltigkeit so bedrohlich erscheint, für die Gesellschaften, die diesen Prozess durchliefen bzw. immer noch durchlaufen, eine Phase der Emanzipation und der Erweiterung von individuellen Handlungsspielräumen war bzw. ist: „The mansion of modern freedoms stands on an ever-expanding base of fossil fuel use. Most of our freedoms so far have been energy-intensive“ (Chakrabarty 2009). Der systemische Zusammenhang zwischen den materiellen und immateriellen Zivilisationsgütern macht deutlich, dass es beim Projekt einer nachhaltigen Gesellschaft also nicht um einen ‚Systemwechsel‘ gehen kann, um eine ‚große Transformation‘ der Gesellschaft in toto, sondern vielmehr um die Transformation, Schrumpfung oder Abschaffung nichtzukunftsfähiger Teilbereiche der Gesellschaft gerade mit dem Ziel, andere zu bewahren. Bislang haben wir weder ein theoretisches Modell noch ein empirisches Beispiel für eine moderne Gesellschaft, die die zivilisatorischen Merkmale Freiheit, Demokratie, Rechtstaatlichkeit, Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsversorgung bei gegenüber heute stark reduzierten ökologischen Belastungen realisiert. Länder, die gemessen am Human Development Index ein sehr hohes Niveau der menschlichen Entwicklung aufweisen, haben zugleich einen ökologischen Fußabdruck, der weit über einem nachhaltigen Niveau liegt. Umgekehrt ist es um die humanitäre Entwicklung von Ländern, bei denen die Pro-Kopf-Umweltbelastungen ökologische Grenzen nicht überschreiten, gegenwärtig schlecht bestellt. Und nicht ein einziges Land gibt es auf der Welt, das sich durch einen hohen menschlichen Entwicklungsstandard und ein nachhaltiges ökologisches Belastungsniveau auszeichnet. Genau die Zusammenführung dieser beiden Ziele wäre aber das Kennzeichen einer nachhaltigen Gesellschaft.
Wachstumswirtschaft und Nachhaltigkeit Das Prinzip der Wachstumswirtschaft erfordert einen ständigen Mehraufwand an Material und Energie. Die dafür notwendige stoffliche Substanz lässt sich nicht durch noch so viel Digitalisierung und Effizienzsteigerung ersetzen. Diesen systemischen Grundwiderspruch löst unsere Gesellschaft, indem sie Nachhaltigkeit jeweils an das Ende der Wertschöpfungskette verlegt – also nicht zuerst danach fragt, ob ein Produkt nötig ist, sondern seine Notwendigkeit selbstverständlich voraussetzt, es aber mit einer Art Nachhaltigkeitsornament verziert, wenn es fertig ist. Also: der Kühlschrank ist technologisch energieeffizienter gemacht worden, wird aber schneller ersetzt werden als das Vorgängermodell. Die Frage, ob nicht eine Verlängerung des Produktzyklus oder die Verringerung
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der zu kühlenden Menge an Nahrungsmitteln eine ‚nachhaltigere‘ Lösung wäre, tritt gar nicht erst in den Blick, denn prioritär ist es schließlich, mehr Kühlschränke zu verkaufen; die Effizienzerhöhung wird zum Argument, den alten Kühlschrank zu ersetzen. Bei Autos heißt das dann Blue Motion oder Blue Tec – Namen und Siegel werden fast jeden Tag dazu erfunden. Davon gibt es mittlerweile so viele, dass eigens ein Institut für Siegelklarheit geschaffen wurde, das vermutlich ein weiteres Siegel für besonders klare Siegel entwickeln wird. Schon dieses nur scheinbar merkwürdige Beispiel deutet den Grundsachverhalt an, dass moderne Gesellschaften zur Problemlösung neue Institutionen schaffen, also Aufwand erhöhen, statt ihn zu reduzieren. Hierzu noch ein besonders hübsches Beispiel: Als die vorherige deutsche Wissenschaftsministerin, Johanna Wanka, aufgrund der Nähe des Neubaus ihres Ministeriums zum Berliner Hauptbahnhof die Elektroautos für innerstädtische Wege kurzerhand abschaffte, wurde sie dafür kritisiert. Warum? Das Elektroauto sei doch die Mobilität der Zukunft – dass ausgerechnet das Forschungsministerium sie abschaffe, sei daher empörend. Dass die Mobilität der Zukunft vor allem weniger Mobilität durch eine andere Organisation von Lebens- und Arbeitswelt sein könnte, wie die Ministerin demonstrierte, tritt bei einer solchen Optik gar nicht erst in den Blick, und das gilt ganz grundsätzlich: So gut wie nie wird die Frage nach einem Rückbau von Infrastrukturen und vorhandener Technologie gestellt; so gut wie immer wird der Status quo zum Ausgangspunkt für ‚Verbesserung‘, ‚Optimierung‘, ‚Effizienzsteigerung‘ genommen. Eine nachhaltige Gesellschaft müsste aus dieser Logik ausbrechen und vor jeder planerischen Maßnahme, egal ob von staatlicher oder privater Seite, zunächst eine Erinnerungsübung einschieben, die einfach so formuliert ist: „Was war noch mal die Frage?“ Tatsächlich gibt es Beispiele für ein solches Vorgehen: Das vielleicht prominenteste lieferten die französischen Architekten Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal, die im Rahmen eines Wettbewerbs zur Neugestaltung eines Platzes in Bordeaux vorschlugen, den Platz zu lassen, wie er war, und die verfügbare Bausumme in die regelmäßige Pflege zu investieren. Sie gewannen den Wettbewerb; der Platz sieht bis heute so aus, wie er seit jeher war. Jean-Philippe Vassal sagt dazu: „Das Bauen kann man auf eine sehr materielle und systematische Art sehen, weil man mit Ziegeln, mit Beton, mit Stahl und Fenstern baut. In unserer Auffassung von Architektur bedeutet Bauen aber vor allem: nachdenken. […] Das Errichten einer Stimmung durch neue Atmosphären, die wir hinzufügen, aber auch unter Verwendung der Atmosphären, die bereits da sind: Das können die Qualitäten der Sonne sein, der Luft, der Blickbeziehungen oder eben der Bäume, der Landschaft und der Menschen, die wir vorfinden. Was sind die sozialen Gegebenheiten vor Ort? Das ist auch ein Element des Bestands, mit dem man sich auseinandersetzen muss. Erst im zweiten Schritt fügen wir neue Materialien dazu. Aber wir kümmern uns auch sehr um unsichtbare Materialien wie Gerüche, Atmosphären, Wärme und Luftbewegungen. Auf diesem Niveau spielt sich für uns das Bauen ab.“ (Vassal 2012)
Natürlich gehört zu einem um die Wahrnehmung erweiterten Begriff des Bauens dazu, die Lebenssituationen der Anwohner vor Ort und ihre Bedürfnisse zu berücksichtigen – eine 107
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scheinbare Selbstverständlichkeit, die in aller Regel in Planungsprozessen eher unberücksichtigt bleibt – man muss hier nur daran denken, dass zum Beispiel Schulen geplant und gebaut werden, ohne je eine Schülerin nach ihren Vorstellungen und Bedürfnissen gefragt zu haben. Alastair Parvin, ein Promotor von Open-Source-Architektur und der Erfinder des Wiki-House, das jedermann selbst bauen kann, hat in einem TED-Talk das Beispiel einer Schule erwähnt, die noch aus viktorianischer Zeit stammt, aber für heutige Schülerzahlen zu schmale Korridore aufweist. Ein Umbau der Schule, wie er von konventionellen Architekten geplant wurde, hätte etwa 20 Millionen Pfund gekostet. Die schließlich umgesetzte Lösung war erheblich günstiger: Man schaffte lediglich die Schulglocke ab, die dafür gesorgt hatte, dass alle Schülerinnen und Schüler gleichzeitig aus den Klassenräumen in die Korridore strömten. Stattdessen wurden die Schülerinnen und Schüler intelligenter verteilt: man installierte in jedem Klassenraum eine Glocke und ließ sie zeitversetzt klingeln, sodass zu große Gruppen in den Gängen gar nicht erst entstanden. Diese Lösung kostete lediglich ein paar Hundert Pfund und sparte natürlich eine Unmenge an Aufwand und Material. Stattdessen wurde soziale Intelligenz investiert und die entscheidende Frage vorverlagert: nicht „Wie können wir umbauen?“, sondern „Wie verteilen wir die Schüler besser?“ (TED 2013). Nach diesem Prinzip würde vor jeder Baumaßnahme zum Beispiel zu entscheiden sein, ob sie notwendig ist oder ob man nicht im Bestand umbauen kann; wenn es um individuelle Mobilität geht, käme nicht automatisch das Auto in Betracht, sondern etwa die Überlegung, wie sich Mobilität dadurch vermeiden lässt, dass man auch auf dem Land Einkaufsmöglichkeiten und medizinische Versorgung gewährleistet. Perspektiven solcher Art lassen sich beliebig, wie ein Gesellschaftsspiel, weiterentwickeln: Im Sommer 2015 fand in einem Luxushotel am Wetterstein der G7-Gipfel statt. Er kostete 140 Millionen Euro, was nicht wenig ist für ein anderthalbtägiges Treffen von sieben Personen. Ein solches Treffen der sieben Regierungschefs der selbsternannt wichtigsten Industrieländer der Welt macht es erforderlich, Zuwege zu planieren, Gas- und Wasserleitungen zu verlegen, einen Hubschrauberlandeplatz zu bauen, drei Wochen lang 180 Gäste einzubuchen, ein Jahr vorher 60 Experten mit dem Sicherheitskonzept zu befassen, akut 15.000 Polizisten im Einsatz zu haben und jede Menge Hubschrauber kreisen zu lassen. Alles wegen der Sorge um die Sicherheit. Die Besorgnis um das sensible Ökosystem am Berg fiel da vergleichsweise gering aus, es sollte hinterher auch alles wieder rückgebaut werden, die Zuwegung, der Landeplatz und so weiter. Der nächste in Deutschland ausgerichtete G7-Gipfel hinterließ in der ausrichtenden Stadt Hamburg eine Schneise der Verwüstung, mit einer nochmals verheerenderen Bilanz als jener in der vergleichsweise entrückten Bergwelt. Die zugehörige Frage lautet: Was soll das? In einer nachhaltigen Gesellschaft träfen sich die betreffenden sieben Leute per SkypeKonferenz, und wenn sie es für unabdingbar hielten, sich persönlich zu treffen, wofür es gute Gründe geben kann, im Pentagon. Da sind schon jede Menge Steuergelder für die Sicherheit ausgegeben worden, weshalb zusätzlicher Aufwand weder nachhaltig sein kann
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noch nötig ist. Unendlich viele Flugbewegungen, Bauaufwände, Logistik, Unterbringung, Transport der Sicherheitskräfte würden entfallen. In einer Gesellschaft, die Nachhaltigkeit immer an das Ende der Kette stellt, kommt einer vielleicht gerade noch auf die Idee, eine Naturzerstörung hinterher wieder zu beheben, aber eben niemand auf die Frage, ob und unter welchen Umständen solche Gipfeltreffen, Staatsbesuche, Sicherheitskonferenzen etc. überhaupt sinnvoll und angemessen sind, und falls ja, wie sie aus ökologischer Sicht am effizientesten durchzuführen wären. Wir können diese Überlegungen weiter ausdehnen: Hat eine nachhaltige Gesellschaft einen Sicherheitsapparat? Nach welchen Gesichtspunkten arbeitet er? Kann eine nachhaltige Gesellschaft Krieg führen oder muss sie schon aus ökologischen Gründen jeden Gewaltkonflikt vermeiden? Weiter: Geht eine nachhaltige Gesellschaft das Risiko materieller und energetischer Abhängigkeiten (wie die fossile Gesellschaft) ein, oder strebt sie Regime erneuerbarer Energie und re-regionalisierter Produktion an? Wie ist das Verhältnis von Arbeitszeit und Eigenzeit tariert, wie das von Gewinnmaximierung und Gemeinwohl? Verfolgt eine nachhaltige Gesellschaft das Prinzip der Effizienzerhöhung oder das der Effizienzvermeidung?
Wirtschaftlicher Pfadwechsel Kommen wir noch mal zurück auf die von der Wissenschaftsministerin praktizierte Lösung der Mobilitätsfrage, die in Reduktion auf Null statt in ‚Effizienzerhöhung‘ bestand. Eine solche Lösung ist in der Perspektive der nachhaltigen Gesellschaft zweifellos sinnvoll, aber im real existierenden systemischen Gefüge einer nicht-nachhaltigen Gesellschaft falsch: Denn wenn alle Entscheidungen so ausfielen wie die von Frau Wanka, wenn man die Frage der Nachhaltigkeit also an den Anfang der Wertschöpfungskette verlegte, würde notwendigerweise von allem weniger hergestellt und verkauft. Eine reduktive Orientierung steht der expansiven Logik der Wachstumswirtschaft radikal entgegen. Sie würde unausweichlich eine andere Form des Wirtschaftens voraussetzen, womöglich sogar den Kapitalismus durch etwas anderes ersetzen müssen. Aber durch was? Diese Frage ist natürlich alles andere als trivial, denn schließlich hängt die Finanzierung der staatlichen Institutionen, der öffentlichen Infrastrukturen, der Sozialsysteme und vieles mehr an der Vorstellung, nur mit einem kontinuierlich steigenden BIP ließen sich die staatlichen Leistungen auch finanzieren. Es könnte aber sein, dass die umgekehrte Reihenfolge der Entscheidungskriterien vom Primat der Ökonomie zum Primat der Ökologie eine neue Ära des demokratisch befriedeten Kapitalismus einläuten könnte. Schließlich ist sogar die vitale Postwachstumsszene keineswegs antikapitalistisch orientiert; sie zieht nur in Zweifel, ob er, besonders in den entwickelten Volkswirtschaften tatsächlich Wachstum braucht, um die notwendigen öffentlichen Leistungen zu erbringen. Ohnehin spricht wenig dafür, dass ein Mehr an Güterproduktion auch ein Mehr an subjektivem Glücksempfinden mit
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sich bringt, was im Übrigen schon eine von Ludwig Erhard angestellte Überlegung ist, der antikapitalistischer Umtriebe gewiss unverdächtig war. Daher könnte sich eine leitende Fragestellung der nachhaltigen Gesellschaft auf Konzepte der Gemeinwohlökonomie, der Bewirtschaftung von commons, der Genossenschaften u. ä. richten, wie sie in den letzten Jahren ohnehin wieder verstärkt nicht nur in die Diskussion, sondern auch in die Praxis kamen. Vor diesem Hintergrund bedeutet der Pfadwechsel zu reduktiven Wirtschafts- und Lebensstilen ökonomische Transformationen, die Kategorien wie Privateigentum, Gewinn usw. nicht infrage stellen, aber in Kombinatoriken mit wachstumsbefriedeten Wirtschaftsformen sehen. Andersherum formuliert: der Neoliberalismus hat weder in Bezug auf die Erhaltung der natürlichen Voraussetzungen einer funktionierenden Ökonomie noch in Bezug auf soziale Nachhaltigkeit auch nur ein einziges positives Ergebnis vorzuweisen. Der Klimawandel stellt mit Nicholas Stern das größte Marktversagen der Geschichte dar und viel spricht dafür, auch die anderen Überschreitungen der planetary boundaries genauso zu bilanzieren. Die nachhaltige Gesellschaft, die das Primat der Ökonomie durch das der Ökologie ersetzt, stellt ‚den Markt‘ dagegen wieder in eine dienende Funktion.
Die Ästhetik einer reduktiven Moderne Die Etablierung anderer, wachstumsbefriedeter Wirtschafts- und Lebensformen bedarf einer breiten sozialen Bewegung, flankiert von Politik, Wissenschaft und zivilgesellschaftlichen Organisationen. Heute gibt es in den frühindustrialisierten Gesellschaften viele heterogene Ansätze für eine solche soziale Bewegung, die vor allem praktisch orientiert sind und in Gestalt von Reallaboren andere Formen des Wirtschaftens, Wohnens, Ernährens usw. erproben. Es fehlen dieser heterogenen Bewegung einstweilen aber zwei formative Elemente: ein gesellschaftspolitischer Rahmen, der sich auf die individuellen und institutionellen Handlungsbedingungen und zivilisatorischen Standards moderner Gesellschaften sowie deren Bewahrung bezieht, und eine Ästhetik, die eine nachhaltige Gesellschaft in the making anders auftreten lässt als mit den Charakteristika des Verzichts. Was fehlt, ist eine positive Vision. Mit ihr entkäme man endlich dem Problem, dass die politische und ästhetische Referenz konventioneller Nachhaltigkeitsstrategien die Wachstums- und Konsumgesellschaft bleibt, auf die man sich nur negativ beziehen kann, ohne ihr wirklich auch nur gedanklich eine Alternative entgegensetzen zu können. Nachhaltigkeit, wie sie heute gedacht wird, bleibt Status-quo- und somit gegenwartsverhaftet. Das Projekt einer nachhaltigen Gesellschaft schafft aber vielleicht auch Wunschhorizonte, die die Bedingungen der Gegenwart überschreiten und diese Überschreitung politisch erstrebenswert erscheinen lassen. Denn je komfortabler auf der einen Seite und je krisenhafter auf der anderen Seite die Gegenwart in den frühindustrialisierten Gesellschaften geworden ist, desto weniger Zukunft taucht in den Wunschhaushalten auf. Zukunft, das
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ist heute: Schlimmeres verhindern, Vorhandenes konservieren, keine Experimente. Da hatte gerade der Kapitalismus früher mehr zu bieten. Und die üblichen Broschürenbildchen von der nachhaltigen Zukunft sind genauso dicht an der Warenästhetik der konsumistischen Wirklichkeit, dass darin auch nicht das kleinste Fünkchen des Anderen, also einer unentdeckten, zu erobernden, neuen Wirklichkeit aufblitzt. Zukunft ist bloß wie jetzt, nur nachhaltiger. Ihr Gegenteil, die Apokalypse, wird diskontiert: So schlimm wird es ja erst in einer noch unbestimmten Zukunft kommen, weshalb wir heute erst mal so weitermachen können wie bisher. So wird die dystopische Zukunft zu einer Abstraktion, trotz all der Untergangsbilder – und eine utopische gibt es gar nicht erst. Gerade hier, in der radikal sinnfreien Zone, wird das Verschwinden von Zukunftsbildern aus den Wunschhaushalten besonders spürbar. Und gerade an dieser Stelle ist der Bedarf an einer Ästhetik der reduktiven Moderne besonders greifbar: Wie kann unter Begriffen wie Entlastung, Erleichterung, Weglassen, Resonanz, Zeit, Ineffizienz usw. ein ästhetisches Programm für, sagen wir, eine nachhaltige Lebenskunst entwickelt werden? Die entsprechende Suchbewegung darf sich aber nicht auf philosophische Postulate beschränken, sondern sollte sich auf die Praxis richten – also auf Design und Designtheorie, Architektur, bildende Kunst, Literatur, Mode etc. Gerade in der westlichen Gegenwart, die zwischen dem höchsten jemals erreichten Lebensstandard und realen und irrationalen Ängsten vor Allem und Jedem oszilliert, sind Zukunftsbilder, Skizzen eines möglichen anderen Lebens, Wirtschaftens und Kooperierens unverzichtbar.
Literatur Brand, Ulrich, & Wissen, Markus (2011). Sozialökologische Transformation und imperiale Lebensweise. In Alex Demirovic et al. (Hrsg.), Vielfachkrise: Im finanzdominierten Kapitalismus (S. 78–93). Hamburg: VSA. Chakrabarty, Dipesh (2009). The climate of history: Four theses. Critical Enquiry 35(2), 197‒222. http://www.eurozine.com/pdf/2009-10-30-chakrabarty-en.pdf. Zugegriffen: 12. Mai 2014. Steffen, Will et al. (2009). The Anthropocene: From Global Change to Planetary Stewardship. Ambio 40(8): 739–761. TED (2013). Alastair Parvin: Architecture for the people by the people. 23. Mai 2013. http://www. youtube.com/watch?v=Mlt6kaNjoeI. Zugegriffen: 20. August 2002. Vassal, Jean Philippe (2012). Reduce, Reuse, Recycle: Ressource Architektur. Hrsg. v. Muck Petzet & Florian Heilmeyer. Stuttgart: Hatje Cantz.
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Teil 2 Welt – Europa
Nachdenken über die Zukunftsfähigkeit von Staat und Politik Klaus Töpfer
Nachdenken über die Zukunft von Staat und Politik – Nachdenken über die damit verbundene Stabilität, Resilienz und Perspektive der Gesellschaft in der offenen Demokratie – Nachdenken im Jahre 2020, dem Jahr der sich überholenden, wechselseitig verstärkenden globalen, bisher in ihrer Dramatik nie erfahrenen und bekämpften Krisen: • die Coronakrise als größte gesellschaftliche Herausforderung für alle drei Säulen der Nachhaltigkeit nach dem 2. Weltkrieg; • die dramatische Beschleunigung der Klimakrise, Bedrohung menschlicher Existenz auf diesem Planeten Erde; • die gesellschaftlichen Krisen wachsender Ungleichheit mit kaum absehbarer Sprengkraft für globales Miteinander; • eine Heuschreckenplage „biblischen Ausmaßes“ und damit verbunden die menschlichen Dramen der Hungerkrise nicht nur, aber vor allem in Afrika. Krisen mit vielfältigen Abhängigkeiten, gemeinsam gekennzeichnet durch ihr pandemisches Ausmaß. Ineinander ursächlich verwoben, von den jeweiligen wissenschaftlichen Spezialisten mit höchst unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten analysiert und auf die Strategien zu ihrer Bekämpfung hin erfasst, drohende Wirtschafts- und Finanzkrisen weltweit in noch nicht abzuschätzendem Ausmaß – verbunden mit Massenarbeitslosigkeit und Migrationen aus den Hungerregionen Afrikas, aus den Kriegsgebieten des Nahen Ostens, aus dem Dschungel der Shanty-Towns – immer wieder unmenschlichen Rassismus gebärend. Nachdenken über Zukunftsfähigkeit von Staat und Politik! • In der warmen, wenn auch deutlich verfrühten Frühlingssonne. April 2020. Freude über das „gute Wetter“ – sechs Wochen lang konstanter Sonnenschein mit sommerlichen Temperaturen, verbunden mit einem die Ernten bedrohenden Regendefizit, mit Dürre. Eine unwirkliche, wenn nicht gar gespenstige Ruhe und Leere auf den Straßen, in den Städten. Geschäfte geschlossen – Social Distancing verordnet – Quarantäne – Stillstand: ein Lockdown in gänzlich unbekanntem Ausmaß. „Alle Räder stehen still, / wenn dein starker Arm es will.“ © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_5
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So singt das „Bundeslied“ des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins 1863 – von Georg Herwegh. Dieser starke Arm – in diesem Lied der Arbeiterbewegung –, er gehört dem „Mann der Arbeit“: „Mann der Arbeit – aufgewacht / und erkenne deine Macht. / Alle Räder stehen still, / wenn dein starker Arm es will.“ Aufstände ausgebeuteter Arbeiter, Streiks – ausgebeutet durch das Kapital einer liberalen, „freien“ Marktwirtschaft – abgewälzte Kosten aus der Produktion, abgewälzt auf den „Mann der Arbeit“: Armut, Verzweiflung, Seuchen, Kinderarbeit. Arbeiteraufstände, blutig niedergeschlagen – dennoch erfolgreich: Dieser starke Arm erzwingt gebieterisch und erfolgreich den Weg von der „freien“ Marktwirtschaft zur Sozialen Marktwirtschaft. Stillstand, Lockdown im März, im April, im Mai 2020. Fieberhaft wird nach wirksamen Therapien, wird nach Impfstoffen geforscht. • Welcher „starke Arm“ erzwingt diesen Stillstand? Die Natur meldet sich brutal, rücksichtslos – ein Virus, ein Winzling trifft Staaten und Gesellschaft völlig unvorbereitet weltweit. Der Winzling CoV-2 ist der neue „starke Arm“, maximal 160 nm „groß“, ein winzig kleiner Teil der Natur. Dieser Virus mit zerstörerischen Wirkungen auf das menschliche Leben verbreitet sich weltweit exponentiell schnell in der globalisierten Welt. CoV-2 hat alle Räder angehalten. Die durch den Virus verursachte Krankheit COVID-19 hinterlässt eine tiefe Todesspur. Ein Impfstoff fehlt, obwohl die Virenfamilie Coronaviridae in der Wissenschaft keineswegs unbekannt ist – ganz im Gegenteil. Spätestens in den 1960er-Jahren wurde sie entdeckt und schrittweise erforscht und entschlüsselt. In der wissenschaftlichen Literatur finden sich vielfältige Hinweise auf das Pandemiepotenzial. Ein einschlägiger Vortrag von Bill Gates findet im Internet weltumfassende Beachtung. Verschwörungstheorien vervielfältigen sich in gleicher Geschwindigkeit. Ein Virus aus der Coronaviridae-Familie hatte bereits vor relativ kurzer Zeit über CoV-1 die SARS-Pandemie ausgelöst. Die Rolle der Wissenschaft im demokratischen Entscheidungsprozess wird zunehmend kontrovers diskutiert. Für die Zukunftsfähigkeit von Staat und Politik eine noch intensiver zu behandelnde Stellgröße. • Corona COVID-19: eine tödliche Gefahr für viele Menschen – ein „global player“ eigener Art, mit rasanter Ausbreitungsgeschwindigkeit. Diese Krankheit verändert weltweit und ohne Rücksicht auf den jeweiligen „Entwicklungsstand“ gesellschaftliches Zusammenleben. Selbstverständlichkeiten werden zur tödlichen Bedrohung: „Brüder reicht die Hand zum Bunde.“ Diese Aufforderung, von Mozart in herrliche Musik übersetzt und als Nationalhymne Österreichs geadelt – COVID-19 lässt diese Aufforderung erstarren – Hände reichen wird zur CoV-2-Brücke, lässt weltweit hunderttausende Menschen an COVID-19 erkranken und in erschreckend hohen Zahlen sterben. Social Distancing ist das Gebot der Stunde, ein Mindestabstand zwischen Menschen von 2 m wird dekretiert, höchstens zwei Menschen dürfen zusammenstehen oder -gehen. Das „Homeoffice“ wird eine zentrale Antwort auf dieses Distanzierungsgebot. Die damit verbundenen Konsequenzen für die Mehrfachbelastungen insbesondere von Frauen lassen selbstverständlich gewordene Erfolge der Emanzipation abrupt infrage stellen.
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Großveranstaltungen werden abgesagt – selbst König Fußball wird durch Corona beherrscht – „Geisterspiele“ werden zur Antwort: The show must go on! Der Deutsche Meister muss gekürt werden, das große Geschäft muss überleben. Besonders gefährdet sind ältere, vor allem gesundheitlich vorgeschädigte Personen. Altenheime dürfen nicht mehr besucht werden – gleiches gilt für den Besuch von Enkelkindern bei ihren Großeltern. Familiäres Zusammenleben wird in zu kleinen Wohnungen zum psychischen Stress für Familien, lässt aber auch die Freude am familiären Zusammenleben wieder wachsen. Ökonomische Selbständigkeit verliert ihre Grundlage – von einem auf den anderen Tag ist der volle, oft übervolle Terminkalender gänzlich leer und damit das Einkommen verloren: Absagen von Veranstaltungen aller Art. Der Tourismus erstarrt, gefährdet nachhaltig die wirtschaftliche Überlebensfähigkeit vieler Betriebe dieser Branche. Lieferketten in ihrer alleinigen Ausrichtung auf die Effizienz, auf die Ausnutzung von Unterschieden bei Lohn- und Umweltkosten wurden vor der Krise bis zum letzten Cent aufgedeckt und ausgepresst. Die alleinige Ausrichtung auf die Effizienz zeigt schonungslos ihre Anfälligkeit gegen jede Art von Störungen, erweist sich als nicht resilient, als nicht widerstandsfähig, als nicht fehlerfreundlich und damit höchst unökonomisch. Die kleinen Netze der Familie, der Nachbarschaften zeigen sich als ebenso tragfähige soziale Sicherungsnetze. Resilienz baut sich von unten nahezu zwangsläufig auf. • Nationale Grenzen werden geschlossen, selbst im „grenzenlosen“ Vereinten Europa. Lange Lkw-Staus an den Grenzübergängen vor allem von und nach Polen machen schlagartig die als selbstverständlich verinnerlichten Vorzüge der Europäischen Union sichtbar. Jeder Staat denkt an sich – viele Menschen denken nur an sich: Toilettenpapier wird zum Hamsterziel, ebenso Hefe! Globalisierung in weltweit verzweigten Lieferketten belegt, dass globale Effizienz der Resilienz nicht geopfert wurde: „Just in time“ zu produzieren, die Autobahn als Vorratslager zu nutzen – gänzlich neue Konsequenzen für ökonomische Optimierungen werden sichtbar. Lieferketten belegen die Ausnutzung von oft minimalen Kostenunterschieden, machen aber auch die damit verbundenen sozialen Ausbeutungsprozesse durch Hungerlöhne erkennbar. Unterschiedliche Einbeziehung der abgewälzten Kosten auf Umwelt und Natur werden in gleicher Weise sichtbar und die Subventionierung von Wohlstand auf Kosten der Natur wird damit belegt. Prämien auf dezentrale Lieferketten, auf regionale Strukturen und damit Resilienzgewinne steigen bedeutsam an. Der parteiübergreifend und gesellschaftlich intensiv diskutierte Vorschlag von Bundesminister Müller, ein Lieferkettengesetz zu erstellen, erhält mit der Krise zunehmend eine soziale, ökonomische und ökologische Bedeutung. Die Fehlerfreundlichkeit neuer Technologien erweist sich als Puffer gegen bewusste oder unbewusste Fehlbeurteilungen von Technologien, die Demokratiefähigkeit von sozialen Institutionen und neuen Technologien gewinnt an ökonomischer Relevanz. • Machtstrukturen verschieben sich. Die bisher allseits konstatierte Machtverschiebung von der Politik auf Finanzmärkte, auf globale Marktorganisationen – der Rückzug des Staates aus wirtschaftlichen Aktivitäten, Privatisierungen in allen Spielarten waren das 117
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selbstverständliche Gebot der Stunde. Die Coronakrise macht dies besonders sichtbar an dem Ausmaß der Privatisierung der Gesundheitsdienste. Die Krise dreht diese Tendenz der Machtverschiebung von der Politik weg abrupt um. Macht erweist sich erneut als ein Nullsummenspiel. Regierungen gewinnen in diesem Nullsummenspiel an Macht, werden zu den entscheidenden Institutionen, gewinnen in Wirtschaft und Gesellschaft bisher als gänzlich unmöglich erachtete Einflüsse, scheinbar aus der Zeit gefallene Renaissancen werden Realität. Staatliche Beteiligungen an Großunternehmen, selbst deren gänzliche Übernahme werden mit öffentlicher Billigung umgesetzt – die US-Regierung übernimmt de facto Boeing, die Bundesregierung stellt über zwei Billionen Euro für die Stabilisierung von Unternehmen bereit, bürgt zu 100 % für Kredite. Die „Bad Banks“ der Finanzkrise lassen grüßen – „too big to fail“ feiert Wiederauferstehung. Die damit verbundenen sozialen Ungleichgewichte bei der Bewältigung der Kosten der Krise werden nur sehr zaghaft aufgezeigt. Eine Machtverschiebung zwischen Parlament und Regierung zugunsten der Regierung ist damit ebenfalls verbunden. Es muss schnell entschieden werden. Zeit zur Entwicklung von Alternativen und kontroverse Diskussionen in Parlamenten bleibt nicht – Alternativlosigkeit „beherrscht“ die Szene: Zeit verlieren bedeutet Leben riskieren. • Ein kleines Büchlein kommt zurück in meine Erinnerung. Der Titel: The End of Foreign Policy? Der Autor: Peter Hain, um die Jahrhundertwende Staatsminister im britischen Foreign Office. Im Rahmen der Fabian Society 2001 vom Royal Institute of International Affairs veröffentlicht. In dieser Zeit, also Anfang des neuen Jahrtausends war ich Undersecretary General der Vereinten Nationen und Executivdirektor des United Nation Environment Programm (UNEP) mit Sitz in Nairobi/Kenia. In dieser Zeit war John Ashton im Foreign Office Berater der britischen Regierung für die Nachhaltigkeitspolitik. In dieser Funktion hat er an diesem Buch wesentlich mitgewirkt. Sehr oft haben wir darüber diskutiert, haben uns bemüht, die Außenpolitik in ihrer Zukunftsaussichten in einer globalisierten Welt zu konturieren. Meine acht Jahre in dieser Position mit Hauptsitz in Nairobi haben mich davon überzeugt: Immer mehr der entscheidenden Sachzusammenhänge „are bejond the capacity of any individual state“. Nationale Grenzen übergreifende Sachzusammenhänge werden, so die Konsequenz, immer stärker die Entscheidungsmöglichkeiten nationaler Außenpolitik überschreiten. Multilateralismus war erkennbar das Gebot der Stunde und wird es in der Zukunft noch gebieterischer sein. Das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ wird durch die Sachzwänge grenzüberschreitender Kräfte zunehmend infrage gestellt. Den vielfältigen Ausdifferenzierungen dieser Anforderungen an multilateralen Lösungen kann in diesem Beitrag nicht umfassend nachgegangen werden. Die eingangs aufgeführten Krisen mit ihren pandemischen Auswirkungen sind sicherlich Beispiele für diese Sachzwänge zur multilateraler Zusammenarbeit. Dies gilt für eine wirksame Klimapolitik ebenso wie für die Bekämpfung von COVID-19: Sie können global bekämpft werden oder gar nicht.
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Der leider viel zu früh verstorbene Ulrich Beck hat darauf hingewiesen, dass der Klimawandel Höhenlinien einer Region bedeutsamer werden lässt als nationale Grenzen! Mit Bezug auf Ulrich Beck analysiert und beklagt Zygmund Bauman, dass „die kosmopolitische Situation“ bisher nicht um ein „kosmopolitisches Bewusstsein“ ergänzt wurde. Bauman konstatiert, dass sich der „Nationalstaat“ mehr oder weniger dezent von der Aufgabe verabschiedet hat, Unabhängigkeit und Autonomie zu fördern, wofür er gedacht war (Bauman 2017, S. 194). Diese Analyse hat Bauman kurz vor seinem Tode vorgelegt! Die aktuelle Krise hat diese Analyse bestätigt und gleichzeitig massiv korrigiert – wobei sich noch herausstellen wird, inwieweit dies nur eine krisenbedingte Sofortmaßnahme ohne strukturelle Veränderungen bleibt. Die umfassende Krise offener, parlamentarischer Demokratien ebenso wie die Krise des Multilateralismus, verbunden mit dem Sieg der Fake News und Verschwörungstheorien, prägen gesellschaftliche „Realitäten“ und werden immer selbstverständlicher gebraucht und vor allem missbraucht. • Die Frage nach der Zukunftsfähigkeit von Staat und Politik verbindet sich zwingend mit der Frage der aktuellen und politischen Organisation der Gesellschaft. Sie verbindet sich folglich mit den Anforderungen an die Zukunftsfähigkeit einer offenen, parlamentarischen Demokratie und deren praktischen Realisierung. Bereits 2012 hat Herfried Münkler im Spiegel ein Essay veröffentlicht: „Die rasenden Politiker – Vom absehbaren Ende der parlamentarischen Demokratie“. Die Argumentationskette in diesem Essay knüpft Münkler an drei aus seiner Sicht konstituierende Voraussetzungen für eine funktionsfähige parlamentarische Demokratie: „Die erste dieser Voraussetzungen ist die Möglichkeit zur Entschleunigung von Entscheidungsprozessen, also die Fähigkeit der politischen Institutionen, die Entscheidungsprozesse in ihrer eigenen Rhythmik zu gestalten.“ Die zweite Voraussetzung sieht Münkler darin, dass „die zur Entscheidung anstehenden Probleme […]“ so entwickelt werden können, „dass sich das Volk bei der Wahl zwischen mindestens zwei Wahlmöglichkeiten entscheiden kann“. Die dritte Voraussetzung bestehe darin, dass die Wahlbürgerinnen und Wahlbürger diese Alternativen erfassen, durchdenken und für ihre Entscheidung beachtlich machen könnten. • Ergibt sich aus der bisher in diesem Beitrag entwickelten Argumentationskette in Kenntnis dieser drei Voraussetzungen die Schlussfolgerung eines absehbaren Endes der Parlamentarischen Demokratie? Die von Münkler (2012) genannten drei Voraussetzungen für die Parlamentarische Demokratie sind untereinander eng wechselseitig verbunden. Wird der Zeitrahmen für die Entscheidung extern festgelegt, ist somit die Beratung und Entwicklung von Lösungsansätzen und Alternativen einer externen Zeitdiktatur untergeordnet, befindet sich Politik im Würgegriff einer Diktatur der Kurzfristigkeit, dann wird die Erarbeitung von Alternativen – wenn überhaupt – nur noch rudimentär entwickelt und somit für das Verständnis und Interesse der Wahlbevölkerung kaum zugänglich sein. Sachzwänge entscheiden darüber, welche Entscheidung gefällt werden muss und wie sie auszusehen hat. So kann es nicht verwundern: das Unwort des Jahres 2011 in Deutschland – „alternativlos“! Politisches Handeln reduziert sich auf den Rahmen des durch vorangegangene Entscheidungen Machbaren, verpflichtet nicht 119
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mehr dazu, in der politischen und gesellschaftlichen Entscheidung das Notwendige möglich zu machen. In der Enzyklika „Laudato si“ verbindet Papst Franziskus (2015) diese Überlegungen mit dem von ihm sogenannten Technokratischen Paradigma. Mit der Frage, ob Finanzmärkte und Technologien den Menschen bestimmen oder ob der Mensch Finanzmärkte und Ausmaß der Nutzung von neuen Technologien beherrscht. Diese Entscheidung kommt mit der immer schnelleren und weiterreichenden Dekodierung und somit Beeinflussung von Natur und Umwelt eine immer größere Bedeutung zu. • Derartige Sachzwänge, die sich aus vorangegangenen Entscheidungen aufzwingen – sie sind vor allem Ergebnis der Tatsache, dass menschliche Entscheidungen stets Entscheidungen bei unvollkommener Information sind, dass sie folglich mit Risiken verbunden sind. Im Studium der Volkswirtschaftslehre wurde ich früh auf das Informationsparadoxon hingewiesen, um diese Erkenntnis einsichtig zu machen: Wenn der Verbrecher und der Detektiv jeweils vollkommene Informationen haben, dann werden sich beide nicht bewegen! Kürzlich hatte ich Gelegenheit, in einer größeren Versammlung einer wichtigen Versicherungsgruppe zu sprechen. In diesem Rahmen war es leicht, dies zu belegen. Versicherungen bauen ihr Geschäftsprinzip darauf auf, dass mit menschlichen Entscheidungen entweder bekannte Risiken unbeachtet bleiben oder derartige Wirkungszusammenhänge unbekannt waren. Gegen diese unberücksichtigten Auswirkungen eigener Entscheidungen will man sich „absichern“, will das Risiko auf möglichst viele Schultern verteilen und ist gleichzeitig bemüht, den Rahmen dieser „unberücksichtigten Auswirkungen“ immer weiter zu verkleinern. • Diese Überlegungen haben mich die Gedanken Karl Poppers und Hans Alberts in besonderer Intensität studieren lassen. Der von ihnen eingeforderte Kritische Rationalismus trägt der gekennzeichneten Entscheidungssituation Rechnung. Vorhandenes Wissen wird nicht als „Wahrheit“ begriffen, sondern verpflichtet beständig zur forschenden Falsifizierung vorhandener Erkenntnisse. Eine Verifizierung vorhandenen Wissens wird diesen dynamischen Prozess nicht vorantreiben, sie wird in die Falle der Ideologisierung, der „Glaubensgewissheiten“ hereinlaufen, ist verbunden mit der Gefahr selektiver Wahrnehmungen. • Wissenschaft und Forschung dekodieren immer weiterreichender die Bausteine von Natur und Leben. Mit dieser Dekodierung ist das forschende Interesse ausgerichtet auf die Frage, wie aus diesen neuen Erkenntnissen und deren gezielte Veränderung neue „Nützlichkeiten“ für den Menschen erschlossen werden können. Für eine Welt, die bis zur Mitte dieses Jahrhunderts über neun Milliarden Menschen tragen und ertragen wird, müssen diese Forschungsbemühungen erfolgreich vorangetrieben werden. Mit der ständig weiterreichenden Dekodierung von Natur und deren Nutzbarmachung für den Menschen wachsen die Risiken, die aus vernachlässigten oder (noch) unbekannten Wirkungszusammenhängen negativ entstehen können. Aus diesen Überlegungen heraus muss eine kritische Beurteilung aller Forderungen nach „großen Transformationen“ resultieren. Große Transformationen, die so bereits 1944 von Karl Polanyi thematisiert
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wurden, erhöhen die Wahrscheinlichkeit „alternativloser Sachzwänge“. Der Kritische Rationalismus hat dagegen Karl Popper bereits im gleichen Jahr in The Open Society and its Enemies ein „Piecemeal Engineering“ einfordern lassen: Technologische Entwicklungen, die in dem Sinne „fehlerfreundlich“ sind, indem sie nachbessern, nachsteuern, flexibel auf weiterreichende Erkenntnisse reagieren und offen sind für die Ergebnisse von Lernprozessen, sind ungleich demokratiefreundlicher, sind offen für alternative Lösungen und das Mitwirken vieler Menschen an der Entwicklung und Umsetzung dieser Alternativen. Sie sichern Freiheitsspielräume, verpflichten zur Abwägung von Alternativen. Die acht Jahre, die ich in Afrika als Verantwortlicher für UNEP in Nairobi verbringen konnte, haben mir z. B. gezeigt, dass die „große Transformation“ zu einer „unbegrenzten Energieproduktion durch Kernenergie“ keine Antwort auf die dringenden Energiebedarfe Afrikas sein wird und sein darf. Vor allem aber: dass derartige Technologien das Mitwirken vieler Bürgerinnen und Bürger nicht ermöglicht, dass die Kapitalintensität dieser Technologien die Einbindung weiterreichender Erkenntnisse und die gebieterische Vorherrschaft von Sachzwängen begründet. • Paul Crutzen hat einen kurzen Beitrag in Nature unter dem Titel „The Geology of Mankind“ (2002) veröffentlicht. Mit diesem Beitrag hat er eine breite Debatte darüber ausgelöst, inwieweit die Menschheit aus dem Naturzeitalter „Holozän“ bereits in die Menschheitszeitalter „Anthropozän“ eingetreten sei. Dieser kurze, gerade einmal 620 Worte umfassende Beitrag hat eine profunde wissenschaftliche und politische Diskussion ausgelöst. Kein anderer wissenschaftlicher Artikel wurde mehr zitiert! Die Argumentation: Die Auswirkungen menschlichen Handelns auf die Natur, auf ihre Nutzung und Ausbeutung, auf ihre Manipulierbarkeit verbunden mit der strukturellen Dekodierung von Natur und Leben haben den Menschen zu einer geologischen Kraft werden lassen. „Nature is over“ – dieses Signal erreichte und erreicht die Headlines des Tages, beeinflusste entscheidend die wissenschaftlichen Diskussionen und das wissenschaftliche Forschen. Die Konsequenzen für Staat und Gesellschaft werden ausbuchstabiert und instrumentell weitergedacht. Crutzen folgert aus diesen Überlegungen: Sollte es keine globalen Katastrophen geben, keinen Meteoriteneinschlag, keinen Weltkrieg oder keine Pandemie (!), wird die Menschheit als geologische Kraft die Zukunft beherrschen. Daraus folgert Crutzen (2002): „A daunting task lies ahead for scientist and engineers to guide society towards environmentally sustainable management during the era of the Anthropocene. That will require appropriate human behaviour on all scales and may well involve internationally accepted large-scale geo-engineering projects, for instance to ‘optimize’ climate. At this stage, however, we are still largely treading on terra incognita.“
Welch eine Feststellung! Ein „angemessenes menschliches Verhalten“ soll auf allen Ebenen sichergestellt werden. – Wer soll diese gigantische Aufgabe ausbuchstabieren und die Umsetzung gewährleisten? Großkalibrige Geo-Engineering-Projekte werden notwendig, müssen z. B. für die Klimapolitik realisiert werden – große Transformationen, und das vor dem Hintergrund, dass sich die Menschheit hierbei auf einer Terra Incognita wiederfindet – neue Sachzwänge aus noch unerkannten oder unberücksichtigten 121
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Konsequenzen, die aus der Aufgabe von Wissenschaftlern und Ingenieuren resultieren, die Gesellschaft durch das Menschheitszeitalter Anthropozän zu führen. Massive Pfadabhängigkeiten und die damit verbundenen Begrenzungen von Handlungsalternativen bis hin zur Alternativlosigkeit – das absehbare Ende der parlamentarischen Demokratie, wie von Münkler argumentiert? Der Mensch als quasi geologische Kraft – „Nature is over?“ • Nachdenken über die Zukunftsfähigkeit von Staat und Politik im Jahre 2020 – eine herausfordernde Aufgabe für Gesellschaft und Politik, zwingend verbunden mit der Überwindung von Pfadabhängigkeiten und der Sicherung von Freiheitsspielräumen. Die Verpflichtung zur Forschung für demokratisch legitimierte, mit Alternativen verbundenen politischen Freiheitsräumen und die Dominanz demokratisch entwickelter Entscheidungen, die nicht wissenschaftlichen Erkenntnissen untergeordnet werden – die aber offen bleiben für Veränderungen in Kenntnis geänderter oder erkannter wissenschaftlich belegter Erkenntnisse. Christoph Zöpel hat die Priorität der politischen, der demokratischen Entscheidung, der Sicherung von Freiheitsräumen von Alternativen mit Leidenschaft und viel geistiger Kraft verfolgt. Diesen Demokraten zu ehren, ist mir ein verpflichtender Auftrag.
Literatur Bauman, Zygmund (2017). Retrotopia. Übers. v. Jakubzik Frank. Berlin: Suhrkamp. Crutzen, Paul J. (2002). The Geology of Mankind. Nature 415(23). 3. Januar 2002. https://www. nature.com/articles/415023a. Zugegriffen: 27. August 2020. Hain, Peter (2001). The End of Foreign Policy? British Interests, Global Linkages and Natural Limits. London: Royal Institute of International Affairs. Münkler, Herfried (2012). Die rasenden Politiker – Vom absehbaren Ende der parlamentarischen Demokratie. Spiegel-Online. 16. Juli 2012. https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-87347252.html. Zugegriffen: 27. August 2020. Papst Franziskus (2015). Laudato Si’ – Enzyklika. Der heilige Stuhl. 24. Mai 2015. http://www.vatican. va/content/francesco/de/encyclicals/documents/papa-francesco_20150524_enciclica-laudato-si. html. Zugegriffen: 27. August 2020. Polanyi, Karl (1944). Origins of our time : the great transformation. London: V. Gollancz. Popper, Karl (1944). The Open Society and its Enemies. London: Routledge & Kegan Paul.
Weltdemokratie – als Gestaltungsaufgabe dringender denn je Klaus-Jürgen Scherer
Von Christoph Zöpel stammen wegweisende Impulse zwischen wissenschaftlicher Analyse und politischer Programmatik. Auf ein besonderes Werk von 2008, das das Denken in abgegrenzten Territorien zu überwinden sucht und nach Möglichkeiten der Realisierung von „gutem Leben“ und Demokratie allerorts fragt, will ich in diesem Beitrag hinweisen. Es beschäftigt sich mit der Weltgesellschaft, die bekanntlich keine Utopie, sondern in vieler – längst allerdings nicht in jeder notwendigen – Hinsicht eine Realität ist. Zuvor jedoch sei an die Jahre erinnert, die ich mit Christoph Zöpel -– er als Vorsitzender, ich als Geschäftsführer -– im Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie eng zusammenarbeiten durfte. Es ging uns in den 1990er- Jahren nicht nur um konkrete Fragen der Hochschul- und Forschungspolitik und sowie um die dramatische Abwicklung, Transformation und Integration der ostdeutschen Wissenschaftslandschaft nach der Deutschen Einheit, sondern auch darum, welche Beiträge aus Wissenschaft und Forschung besonders helfen würden, die großen ungelösten Zukunftsfragen zu bearbeiten. So beschäftigten wir uns mit ökologischer Kreislaufwirtschaft und Umwelttechnologien, mit der Technikfolgenabschätzung (wie es damals hieß), mit den entstehenden Informations- und Kommunikationstechnologien (wie man damals sagte), mit neuen Formen der Mobilität, mit den Konflikten der Energiepolitik – und überhaupt mit Zusammenhängen von technischer und sozialer Innovation. Wenn wir von Foren zur Technologiepolitik, zum Wissenstransfer und zur Verbindung von Politik und „Subpolitik“ (Ulrich Beck) sprachen, ging es stets darum, im Spannungsfeld aus akademischer Freiheit, wirtschaftlichem Nutzen und politischen Erwartungen Forschung und gesellschaftliche Verantwortung zusammenzubringen. Dabei hatte Christoph Zöpel immer, in bester sozialdemokratischer Tradition des Internationalismus, einen europäischen und globalen Blick. So ging es ihm in einer unserer gemeinsam mit der SPD-Bundestagsfraktion veranstalteten Konferenzen, eigentlich zur Zukunftsfähigkeit des in Deutschland bestehenden Forschungssystems, bereits vordringlich um den folgenden, die Welt in den Blick nehmenden Punkt: „Wohlstand wird sich allerdings im globalen Maßstab nur dann halten lassen, wenn der Wissenschaftstransfer auch und gerade in unterentwickelte Regionen der Welt gelenkt wird. […] Die eigentliche Herausforderung an die Wissenschaft in den hochmodernen Gesellschaften besteht darin, globale Ungleichheitsverteilungen und Deklassierungen entschlossen zu bekämpfen.“ © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_6
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Diese internationale Dimension seines Wirkens verstärkte sich bekanntlich in den folgenden Jahren: von seinem vielfältigen Engagement für die Sozialistische Internationale (SI) bis hin zum Amt des Staatsministers im Auswärtigen Amt. Da war meine Neugier groß, als Christoph Zöpel 2008 als Ergebnis jahrelanger Reflexion und umtriebiger Politikerfahrung in vielen Teilen der Welt, ein schier epochales, 635 Seiten umfassendes, Werk im damaligen Vorwärtsbuch-Verlag dazu vorlegte, wie ein politisches System einer Weltgesellschaft aussehen könnte. Und diese Neugier wurde nicht enttäuscht. Von Globalisierung war in den Nullerjahren jenseits der neoliberalen Ideologie, für die Deregulierung, Freihandel, Marktfundamentalismus und Entstaatlichung alles ist, zumeist die Rede, wenn es um die weltweiten selbstzerstörerischen Entwicklungen ging. Wenn die großen Zukunftsaufgaben – die Bändigung des Finanzmarktkapitalismus, die Überwindung von Massenarmut in den Entwicklungsländern und von neuen sozialen und kulturellen Spaltungen in der Wohlstandszone, die Ersetzung fossiler und nuklearer Ressourcen durch erneuerbare Energiequellen – angemahnt wurden. Ulrich Beck prägte den Begriff von der „Weltrisikogesellschaft“. Weitere globale Probleme – wie der Klimawandel, zunehmende Migration, Folgen der Digitalisierung, neue Bedrohungen durch Terror, asymmetrische und Bürgerkriege sowie neue kulturelle Konfliktlinien – kamen in den letzten zehn Jahren hinzu: Doch die politisch-institutionellen Antworten (polity) auf die Weltprobleme blieben in der Regel unscharf, weder bewegte sich die EU auf die Vereinigten Staaten von Europa zu, noch steht die kosmopolitische Vision eines demokratischen Weltparlamentes wirklich auf der Tagesordnung. Mehr denn je dominiert seit dem zweiten Weltkrieg, manch gutgemeintem Global Governance-Ansatz zum Trotz, die den globalen Problemen nicht mehr angemessene Tradition des politischen Denkens und Handelns in territorial abgegrenzten nationalstaatlichen Gesellschaften. Doch richten sich Hoffnungen im globalisierungskritischen Diskurs auch, so man sich nicht in Weltuntergangsszenarien ergeht, auf eine wie auch immer geartete neue weltweite Zivilgesellschaft. Internationale NGOs, Internetnetzwerke, Weltsozialforum, Occupy-Wall-Street („We are the 99 percent“) wurden als Zeichen eines globalen Aufbruchs von unten gedeutet. Im Jahr 2019 verschoben die „Fridays for Future“, ausgehend vom schwedischen „Skolstrejk för Klimatet“ einer Greta Thunberg, den weltweiten Diskurs. Greta wurde zum jugendlichen Gesicht und zur Botschafterin einer globalen sozialen Bewegung, die sich, mittlerweile auch unterstützt von weiteren Organisationen wie den „Scientists for Future“, für möglichst umfassende, schnelle und effiziente Klimaschutzmaßnahmen einsetzt, um das auf der Weltklimakonferenz in Paris 2015 im Weltklimaabkommen beschlossene 1,5-Grad-Ziel der Vereinten Nationen doch noch einhalten zu können. Demgegenüber lehrt die politikwissenschaftliche Bewegungsforschung, dass kritische Öffentlichkeit, Protestnetzwerke, Initiativen von unten, Bürgerengagement und soziale Bewegungen keinen Ersatz für institutionalisierte Politik darstellen, sondern dieser bestenfalls Beine machen. Auch die SPD konnte 2019 erfahren, dass Basisdemokratie nicht die Lösung aller ihrer Führungsprobleme ist. Zivilgesellschaft und soziale Bewegung haben
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eine wichtige ergänzende Funktion und sollten in einer konstruktiven Dialektik mit dem politisch-rechtlichen Institutionengefüge stehen. Diesem doppelten Defizit, zu wenig global zu denken und die politischen Institutionen zu unterschätzen, setzte Christoph Zöpel seinen faktenreichen Band mit dem etwas sperrigen Titel Politik mit 9 Milliarden Menschen in Einer Weltgesellschaft entgegen. Er zeigte den angesichts der Globalisierung von Problemlagen notwendigen und möglichen Weg hin zum globalen Regieren. Nicht nur ausgehend von seinen internationalen Politikerfahrungen, sondern auch sozialtheoretisch, wirtschaftswissenschaftlich und juristisch wohlbegründet. Beschrieben wurde, wie das bisherige System internationaler Politik, die Staatenwelt mit dem Gewaltmonopol nach innen und einem Recht zur Kriegführung nach außen, durch ein politisches System der Weltgesellschaft mit globaler Regionalisierung und Gewaltenteilung ersetzt werden könne. Wahrlich eine weitreichende Perspektive, der die entstandene, zur Jahrhundertwende u. a. von Niklas Luhmann und Manuel Castells so beschriebene, Weltgesellschaft zugrunde liegt. Auch im Hamburger SPD-Grundsatzprogramm (2007) wurde eine solche konkrete Utopie von „Weltinnenpolitik“ angedeutet: „Die Menschheit kann zum ersten Mal in ihrer Geschichte die existenziellen Probleme nur noch gemeinsam lösen. Umfassende Sicherheit lässt sich nur gemeinsam erreichen. Dafür gilt es eine Weltinnenpolitik mit starken Vereinten Nationen auszubilden und eine gerechte Weltwirtschaftsordnung zu schaffen.“ Und an anderer Stelle: „Das 21. Jahrhundert ist das erste wirklich globale Jahrhundert. Nie zuvor waren die Menschen weltweit so sehr aufeinander angewiesen.“ Wir erleben „den tiefsten geschichtlichen Umbruch seit der industriellen Revolution. Wissenschaft und Technik treiben ihn voran. Dieses Jahrhundert wird entweder ein Jahrhundert des sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Fortschritts, der allen Menschen mehr Wohlfahrt, Gerechtigkeit und Demokratie eröffnet. Oder es wird ein Jahrhundert erbitterter Verteilungskämpfe und entfesselter Gewalt.“ (SPD 2007)
Fast zeitgleich entwickelte Christoph Zöpel die Eckpunkte seines weltpolitischen Reformkonzeptes. Er führte systematisch aus, wie es reformpolitisch bis 2050 möglich sein sollte, ein auf handlungsfähigen regionalen Großräumen basierendes weltpolitisches System aufzubauen, das neben Exekutive und Gerichten auch eine parlamentarische Dimension enthält. Dass mittlerweile die Angelegenheiten aller Menschen irgendwie zusammenhängen, so die Ausgangsthese Luhmanns („dass Evolution Weltgesellschaft konstituiert hat“, 2005, S. 76), dürfte heute kaum noch Widerspruch hervorrufen. Die geschichtlichen Gründe liegen seit Hiroshima bzw. der ersten sowjetischen Atombombe in der Fähigkeit der Menschheit sich zu vernichten, im Anstieg der Weltbevölkerung seit 1945 von 2,5 auf 6,6 Milliarden und bis 2050 wohl auf über 9 Milliarden, sowie vor allem in der weltweiten Vernetzung durch die digitalen Technologien. Zudem kennen wir bereits erfolgreiche Beispiele globaler Politik: etwa in der Gesundheitspolitik die Ausrottung vieler Infektionen mit dem Hauptergebnis der Verlängerung der durchschnittlichen Lebenserwartung weltweit von 46 auf 67 Jahre seit 1950, oder die Umweltpolitik mit dem FCKW-Verbot und der Implementierung manchen Konzepts von Nachhaltigkeit. 125
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Die wesentliche Frage sei eben nicht, ob es die Weltgesellschaft gebe, sondern ob sie politikfähig sei. Die Beantwortung dieser Frage hängt wie die nach der territorialgesellschaftlichen Politikfähigkeit von Begriffs- und Geschichtsperzeptionen ab. Zöpel suchte deshalb nach universalen Begriffen und universaler Geschichte. Allen Menschen gemeinsam sind Sprachfähigkeit, Technikfähigkeit, Kulturfähigkeit und Rechtsfähigkeit. Kulturelle Identitäten sind multipel, universale Identität liegt in den Menschenrechten eines jeden einzelnen Menschen. Demgegenüber wurden Begriffe verworfen, die einem demokratischen politischen System der Weltgesellschaft entgegenstehen, wie ‚Nation‘ oder ‚der überlegene Westen‘. Wie könnte nun ein demokratisches politisches System der Weltgesellschaft gestaltet sein? Es müsse auf universalen Menschenrechten, also den Zielen menschlicher Sicherheit und auf globalpolitischen Leistungen beruhen, also den Zielen gesellschaftlicher Nachhaltigkeit. Sein Strukturprinzip ist die Gewaltenteilung, primär föderal, aber auch ganz im Sinne von Montesquieu. Föderale Gewaltenteilung lässt ein globales Mehr-Ebenen-System mit starken Weltregionen entstehen. Heute bestehen in der Struktur der UN Ungleichheiten zugunsten mächtiger Staaten, bei Missachtung gleicher politischer Rechte eines jeden Einzelnen. Formal gibt es 192 gleiche Staaten, aber auch die Entscheidungsprivilegien der Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates. Stattdessen seien auf die Einwohner bezogen ausgewogene Regionen erforderlich. Zum Maßstab werden bestehende Regionen, etwa China mit 1,3 Milliarden oder Indien mit 1,1 Milliarden Einwohnern. Perspektive sind neun oder zehn derartiger Regionen, mit im Durchschnitt 660 Millionen Einwohnern: eben China, Indien, dann die USA mit Zentralamerika, Südamerika, Subsahara-Afrika, der Mittlere Osten, Russland mit den GUS-Staaten, Europa und ein oder zwei asiatische Regionen. Sie sollten den UN-Sicherheitsrat bilden. Diese Weltregionen teilen Staatlichkeit mit den ihnen zugehörigen kleineren Staaten, der dritten Ebene. Funktionsfähige Staatlichkeit setzt Einwohnergröße voraus, plausibel sei 1 % der Weltbevölkerung. So gibt es die großen 18 Staaten mit 69 % der Weltbevölkerung, versteht man die EU als einen staatlichen Akteur sogar 75 %. Kleinere Staaten dienen häufig den Privilegien ihrer Eliten oder werden zum Spielball größerer Staaten. Auf der globalen Ebene ist die Montesquieu’sche Gewaltenteilung bereits ausgeprägt. Es gibt eine ausdifferenzierte Exekutive, als Gemeinschaftsinstitution der UN-Sekretariate und der Staaten im Sicherheitsrat, als Internationale Gerichtsbarkeit. Es fehlt aber ein globales Parlament, was notwendig sei trotz des westlichen Erschreckens, dass bei menschenrechtsorientierter Repräsentativität von 660 Sitzen 130 auf Chinesen,110 auf Inder, 49 auf Europäer, 30 auf US-Amerikaner entfallen würden. Hauptdefizit der globalen Ebene seien zudem die Finanzen, deshalb sollten 5 % der Soldaten und 5 % der Militärhaushalte aller Staaten den UN für ihre globalen Aufgaben zur Verfügung gestellt werden. Über die Begründung und die Institutionen der Weltpolitik hinaus werden fünf zentrale Programme globaler Entwicklungspolitik vorgeschlagen: Die Globalisierung der Raumgebundenheit mache ein Welt-Raumordungs-Programm notwendig. Die Individualisierung und gleichzeitige Universalisierung kultureller Identität führe zu einer globalen Politik der informationellen Selbstbestimmung, zu einem weltweiten
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Netzintegrationsprogramm. Die Ablösung kultureller Integration durch soziale Integration auf der Grundlage von Bildung müsse zu einem Weltbildungsprogramm führen. Die Entwicklung von der territorial gebundenen politischen und bürgerlichen Gesellschaft zur globalen Zivilgesellschaft verlange eine Politik des globalen Gewaltmonopols, ein Programm innerer Weltsicherheit. Die Entwicklung von der Agrar- über die Industrie- zur Wissensgesellschaft führe zu einem integrierten Weltforschungs- und -rohstoffprogramm. Diese fünf Programme, wie die Weltentwicklungspolitik insgesamt, bedürften dabei eines Weltfinanzausgleichs, der über die zwischenstaatliche Entwicklungsfinanzierung weit hinausgehen müsse. Heute, ein Jahrzehnt weiter, scheint dieses von Christoph Zöpel entworfene Projekt geregelter Globalisierung notwendiger denn je, denken wir nur an die Krisenanfälligkeit des Finanz- und Wirtschaftssystems, an die weltweit explodierte Ungleichheit, an die überfällige sozialökologische Transformation der Weltökonomie, an die Folgen der Digitalisierung (wie absolute Machtkonzentrationen, Prekarisierung vieler, Überwachung, Zerstörung demokratischer Öffentlichkeit), an die Degeneration der Weltordnung und des Rückgangs uneingeschränkt friedlicher Zeiten und Zonen; von neuartigen Gefährdungen, wie der Pandemie des Coronavirus 2020, ganz zu schweigen. Allerdings klingt das Projekt angesichts der geistigen Situation der Zeit auch utopischer als damals. Ein solch nationalistisch-völkisches Rollback, diese Zunahmen an Terrorismus, Gewaltexzessen, an permanenten (Bürger-)Kriegen, die sogar an den Dreißigjährigen Krieg erinnern, an die verstärkten Migrations- und Fluchtbewegungen auch an den Außengrenzen der EU – all dies war kaum voraussehbar. Erlebt haben wir eine Dekade, die durch Isolation und Rückzug, Rückbau und Kontrolle, Abgrenzung und Abwehr geprägt war. Donald Trump wurde US-amerikanischer Präsident wegen des Wunsches der WählerInnen nach „America First“ und der Abkehr von einer zu komplexen Welt. Eine Mehrheit der (älteren) Briten wollte sich mit dem Brexit nicht mehr von Europa reinreden lassen. Autoritäre Nationalisten und Rechtspopulisten bauen dort, wo sie Macht errangen, die Gesellschaft um, vielerorts, selbst in Deutschland, bedroht diese rechtskonservative bis rechtsextreme Melange demokratische Einrichtungen und Prozesse. Weltweit wurden in dieser Phase, die man fast schon Entglobalisierung nennen kann, die Institutionen des Multilateralismus für untauglich befunden. Internationale Vereinbarungen wurden untergraben und aufgekündigt. Handelskonflikte und Zölle bremsten und modifizierten die Weltwirtschaft. Der Kampf um die Weltführerschaft, um Technologien, Militär und Meinungsmacht ist neu entbrannt. Sicherheit und Stabilität, etwa im Nahen Osten, nehmen ab, die Parole von der „Entflechtung“ aus den USA mündet in der krisenhaften Neuaufteilung von Einflusssphären auf der ganzen Welt. Die politische Kultur der meisten Gesellschaften ist mittlerweile tief gespalten. Während die politische, ökonomische und kulturelle Globalisierung den „Leitmilieus der Spätmoderne“, der hochgebildeten, urbanen neuen Mittelkasse, neue Chancen bietet, hat diese bei der neuen prekären Unterklasse und bei der traditionellen, alteingesessenen Mittelklasse zu Desillusionierung und Abwertungsgefühlen geführt und den tief sitzenden Wunsch nach Identität, Unterscheidbarkeit, Abgrenzung und Abwehr hervorgebracht. Fremdenfeindlichkeit, 127
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Rassismus, Islamophobie, Antisemitismus, Elitenhass, ja überhaupt „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“, selbst aus der Mitte der Gesellschaft heraus, waren die Folge. Statt Realutopien zu entwerfen, wie es gehen könnte, scheinen Ängste, Dystopien und Rückzugsgefechte den Demokraten immer mehr Raum zu nehmen. Um wieder Gestaltungsoptimismus zu gewinnen, braucht es gerade, mehr denn je, ein solches weltpolitisches Reformkonzept, diesen großen Wurf, der Orientierung gibt und den Weg in die Zukunft weist. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass unser Denken wieder mehr durch die globalen Zusammenhänge geprägt wird und wir wieder aufklärerisch, handlungsorientiert, also politisch und programmatisch, kommunizieren. Immerhin, in mancher dramatischen internationalen Krise wurde schon gelernt: nach Fukushima der Ausstieg aus der Atomkraft. Wir besitzen jetzt ein internationales Tsunami-Frühwarnsystem. Beim Weltfinanzcrash setzten plötzlich alle auf abgestimmte staatliche Regulierung, als ob es den neoliberalen Marktradikalismus nie gegeben hätte. Bei Christoph Zöpel heißen die Gegner „Dogmatismus, Bürokratismus und sozialer Autismus“ (2007, S. xx). Fake news, Angriffe auf die Demokratie von rechts, das Gift des Nationalismus, die Wiederkehr des Rassismus und die Verlockungen des Autoritären kommen heute hinzu. Demgegenüber können „politische Wertorientierung und kritische Denkorientierung demokratisches Handeln entstehen“ lassen (Zöpel 2007, S. xx). Wie immer unsere Zukunftschancen stehen mögen – ohne Letzteres wird die Gestaltung der Globalisierung nicht gehen. Dabei geht es nach wie vor um nicht weniger als die Verpflichtung, für sich und für alle Menschen die Menschenrechte in Anspruch zu nehmen. „Diese Verpflichtung ist der alternativlose Wert, der von Aufklärern aller Jahrhunderte und Kulturen gefunden wurde, es ist der Wert, der humanen Sinn stiftet und damit Identität für die Weltgesellschaft begründen kann“ (Zöpel 2007, S. xx) – würden alle politischen Führer über Christoph Zöpels klaren Kompass verfügen, wäre die Welt längst eine bessere.
Literatur Beck, Ulrich. Risikogesellscheft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Edition suhrkamp 2015 Luhmann, Niklas (2005). Die Weltgesellschaft. In Ders., Soziologische Aufklärung 2 – Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft (S. 63‒88). 5. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. SPD (2007). Hamburger Programm – Das Grundsatzprogramm der SPD. 28. Oktober 2007. https:// www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Beschluesse/Grundsatzprogramme/hamburger_programm. pdf. Zugegriffen: 28. August 2020. Zöpel, Christoph (2008). Politik mit 9 Milliarden Menschen in Einer Weltgesellschaft – eine Orientierung in Worten und Zahlen. Berlin: Vorwärts.
Kultur der Stadt, Stadt der Kultur Das Lokale gewinnt an Bedeutung: Außenpolitik braucht eine „Urban Diplomacy“ Michelle Müntefering
Christoph Zöpel ist sein prüfendes Lächeln ins Gesicht geschrieben. Es empfängt mich jeden Morgen, wenn ich mein Büro im Auswärtigen Amt betrete. Sein Porträt hängt direkt neben meiner Bürotür, auf dem Flur der Staatsminister, neben all denen, die vor mir da waren: Ralf Dahrendorf etwa, Hildegard-Hamm Brücher und Hans-Jürgen Wischnewski. Christoph Zöpel war von 1999 bis 2002 Staatsminister im Auswärtigen Amt. Gerhard Schröder berief ihn in sein erstes Kabinett. Joschka Fischer war Außenminister – und ich gerade in die SPD eingetreten, nicht ahnend, wohin mich diese Entscheidung einmal führen würde. Natürlich verbindet so ein Amt: Gedanken, Aufgaben, Gremien – manche politische Struktur und manches Thema bleibt im Auswärtigen Amt über die Generationen allgegenwärtig, wie die alten Tassen in der Teeküche. Zu einem engagierten Menschen wie Christoph Zöpel aber führen viele Wege. Besonders dann, wenn man denselben Ausgangspunkt hat: dieselbe Heimat. Der erste Weg zu Christoph Zöpel führt also durch das Ruhrgebiet. Oder wie Christoph Zöpel sagen würde, durch „Ruhr“. Wie die Ruhrfestspiele oder die Ruhr-Universität, deren Entwicklung Zöpel schon als Minister bis hin zur Farbgestaltung begleitete. Den Namen Zöpel hörte ich im Ruhrgebiet bereits als junge Frau. In Nordrhein-Westfalen war er kein Unbekannter, sondern der ewig blutjunge Minister an der Seite Johannes Raus, der stets konzeptionell dachte und auch große und ungewöhnliche Lösungen nicht scheute, etwa als er für die Verkehrsprobleme in der Landeshauptstadt die Untertunnelung der Stadt vorschlug. Überhaupt fiel der promovierte Ökonom schnell mit politischen Ideen und Durchsetzungsstärke auf: In Nordrhein-Westfalen ist sein Name bis heute untrennbar mit der Internationalen Bauausstellung Emscher Park verbunden, die dem Strukturwandel in den Ruhr-Städten beachtlichen Schub verlieh. Die Rolle der Städte blieb für Christoph Zöpel ein Lebensthema. Er erkannte sie als Orte der Freiheit und der Möglichkeiten. „Stadtluft macht frei“ ist ein im Mittelalter formulierter Grundsatz. Damals bedeutete er die Freiheit von Leibeigenen, die durch das Leben in der Stadt ein freies und selbstständiges Leben erlangten. Später entwickelte sich aus den bürgerlichen Freiheiten heraus die Idee der universellen und unteilbaren Menschenrechte.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_7
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Zöpel sagt, Städte seien so interessant, denn sie „bieten Freiheit und bündeln Vielfalt.“ Das macht Städte zu Orten der Sehnsucht und der Hoffnung. Hoffnung, die sich allerdings nicht für jeden erfüllt. Bereits heute wird mehr als 80 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts in Städten erwirtschaftet. Gleichzeitig machen Städte, wie Zöpel sagt, vor allem einfache Wahrheiten sichtbar, indem sie soziale Probleme offenlegen. Denn in den Straßen spiegelt sich wider, wie gut eine Gesellschaft organisiert und regiert ist. Der Ausbau der Infrastruktur und des öffentlichen Nahverkehrs, die Beseitigung des Mülls, Naherholungsmöglichkeiten und das kulturelle Angebot – all die kleinen Dinge, die uns das Leben erleichtern und es lebenswert machen, lassen sich mit einem Blick feststellen. Für diese Aufgaben ist zumeist nicht der Staat zuständig, sondern die Kommunen. Also die Ebene, die den Bürgerinnen und Bürgern am nächsten ist und auf der sie sich am einfachsten einbringen können. Kommunalpolitikerinnen und -politiker kennen das: Wird der Müll nicht abgeholt, ist die Luft verschmutzt oder steigen die Mieten, wächst sofort der Druck auf die Rathäuser. Deshalb müssen Herausforderungen vor Ort zeitnah und pragmatisch gelöst werden. Eine Eigenschaft, die Zöpel nicht nur als engagierter Kommunalpolitiker beherzigt hat. Wenn er sich zu Wort meldet, geht es um die Zukunft, die aus den Entscheidungen von heute geformt wird. Und so führen die Wege, auf denen wir uns außerhalb von Bochum wieder begegnen, weit hinaus in die Welt. In der Globalisierung wird sowohl das Kleine als auch das Große wichtiger, die internationalen Zusammenhänge und das unmittelbare Erleben vor Ort. Bereits 1994 griff Christoph Zöpel in einem Beitrag zur Zukunft der Stadt die Formel „global denken – lokal handeln“ auf. Wir erleben auch durch die Coronapandemie, die weltweit Menschenleben kostet, wie stark wir miteinander vernetzt sind, ohne heute bereits absehen zu können, wie stark sich unser Zusammenleben durch diese Krise noch verändern wird. Fest steht: Die Globalisierung hat die Welt stärker vernetzt und gleichzeitig geschrumpft. Bricht in China eine Epidemie aus, haben wir sie ein paar Wochen später auch in unserem Umfeld. Brennt der Amazonas, können wir den Einfluss der vernichtenden Flammen auf das Klima bei uns nachweisen. Besetzen Terroristen Gebiete in Syrien, kommt es zu Flucht Richtung Europa. Es wird immer deutlicher: das Große und das Kleine, das Innen und das Außen – alles hängt mit allem zusammen. Globales Denken ist deshalb heute auf allen Ebenen unverzichtbar. Die Bedeutung des Lokalen, insbesondere der Städte, hat in den vergangenen 25 Jahren enorm zugenommen. Im Jahr 2007 lebten weltweit erstmals mehr Menschen in Städten als in ländlichen Regionen. und 2050 werden es 70 bis 80 Prozent der Menschheit sein. Damit sind die Urbanisierung und auch die damit einhergehende Machtzunahme der Städte einer der globalen Megatrends, die das 21. Jahrhundert wesentlich beeinflussen werden. Lokales Handeln und der direkte Austausch zwischen den Städten sind angesichts der Herausforderungen, die wir in diesem Jahrhundert in den Griff bekommen müssen, unabdingbar. Gleichzeitig ergeben sich neue Kooperationsmöglichkeiten, wenn sich Städte international gemeinsamen Zielen verschreiben. Etwa wenn Gouverneure und Stadtober-
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häupter an den in Paris vereinbarten Klimazielen festhalten und nachhaltige Stadtentwicklung vorantreiben wollen, auch wenn die nationale Regierung den Rückwärtsgang einlegt. Die aktiven Zivilgesellschaften finden in den Ballungsräumen Freiräume für Engagement. Diese Zivilgesellschaften in Europa waren es auch, die nach dem Zweiten Weltkrieg wieder Austausch im Rahmen von Städtepartnerschaften organisierten und schließlich Frieden und Aussöhnung ermöglichten. In Städten entstand die europäische Idee: Freiheit, demokratische Selbstverwaltung, grenzüberschreitender Handel, Kultur, Bildung und Wissenschaft. Auch heute, während der Coronapandemie ist es wieder die Zivilgesellschaft, sind es vor allem auch Künstlerinnen und Künstler, Freiwillige, lokale Akteure, die dazu beitragen, mit eigenen Ideen und Lösungen das demokratische Zusammenleben neu zu gestalten. Ohne sie bleibt auch der demokratische Rechtsstaat eine eintönige Lebensform, dessen Wirkungsmöglichkeiten begrenzt sind. Während Städtepartnerschaften bis in die 1990er-Jahre hinein vor allem der Völkerverständigung dienten, rücken heute der Austausch von guten Beispielen aus der Praxis sowie der Ausbau von Wirtschaftsbeziehungen in den Vordergrund. Damit geht auch eine Professionalisierung der Beziehungspflege einher. Inzwischen haben viele Rathäuser ein Büro für Städtepartnerschaften oder gar internationales Engagement. Los Angeles geht bereits einen Schritt weiter und führt einen eigenen diplomatischen Dienst ein. Dieser ist zwar hauptsächlich für den Aufbau von Handelsbeziehungen zuständig, doch allerorts sind Bürgermeisterinnen und Bürgermeister immer mehr gefragt, auch auf internationalem Parkett. Aktuell pflegen deutsche Städte und Gemeinden etwa 7.200 kommunale Partnerschaften und Freundschaften, die meisten davon mit Frankreich. 90 Prozent sind nach wie vor europäisch. Bürgerinnen und Bürger, Lehrer, Jugendliche, Arbeiter treffen sich nicht in den Konferenzräumen der Hotels, sondern in den Häusern der Gastgeber und lernen die Städte auch jenseits touristischer Pfade kennen. Doch die Menschen, die die meisten dieser Partnerschaften begründeten und über Vereine pflegten, sind älter geworden. Es braucht eine neue, eine junge Generation, die diese engen Verbindungen aufrecht hält und weiterträgt – auch mit neuen Impulsen und eigenen Ideen. Auch deswegen ist es sinnvoll, dass sich die Rolle der Städte als internationale Akteure 2020 zum ersten Mal im Haushalt des Auswärtigen Amtes mit einem eigenem Titel niederschlägt. Die Partnerschaften zwischen den Städten bilden hier den natürlichen Nukleus einer „Urban Diplomacy“. Diese „Außenpolitik von unten“ wird derzeit im Auswärtigen Amt über den Strategieraum „Urbanisierung“ im Planungsstab entwickelt. Gleich mehrere zentrale Handlungsfelder sind in den Blick deutscher Außenpolitik gerückt: Städte als Märkte für internationale Wirtschaftsförderung, als Orte der gesellschaftlichen Transformation und als eigenständige Akteure auf der internationalen Bühne. Dabei muss das Auswärtige Amt den Kommunen künftig insbesondere als Berater zur Seite stehen. Darüber, wie Partnerschaften angebahnt werden können, aber auch zu außenpolitischen Fragen, für die eine Einordnung von außenpolitischen Aktivitäten gewünscht ist. 131
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Denn der Blick der Kommunen richtet sich längst über Europa hinaus. Nach China, aber langsam auch nach Afrika, dem Nachbarn, der endlich verstärkt als das wahrgenommen wird, was er ist: ein Kontinent der Chancen. Mit Blick auf die globalen Herausforderungen wie Urbanisierung, Klimawandel, Flucht und Migration ist ein zunehmender Fokus auf Partnerschaften mit afrikanischen Städten besonders wichtig. Das meint auch Christoph Zöpel, der heute als ehemaliger Außenpolitiker einige Wochen im Jahr an der Deutsch-Jordanischen Hochschule in Amman sein Herzensthema unterrichtet: Städteplanung. Ihn beschäftigt dort auch der Einfluss des Kolonialismus auf die Stadtentwicklung in Afrika und dessen Bedeutung für die Versorgung der wachsenden Bevölkerung. Hier führen uns unsere Wege wieder zusammen: Im kreativen Rummel der afrikanischen Metropolen, in denen sich wichtige Zukunftsfragen entscheiden. Die Gestaltung der großen Städte auf dem afrikanischen Kontinent als Schlüssel zur Weltentwicklung – einmal mehr ist er seiner Zeit voraus. Fragen der Mobilität, der Umwelt und der wirtschaftlichen Entwicklung entscheiden über die Lebensqualität der Menschen eines wachsenden Erdteils. Allein Nigeria wird 2050 annähernd so viele Menschen beheimaten wie die gesamte EU. Wie nähert sich jemand wie Christoph Zöpel diesen Fragen, wie findet er seine Antworten? Über Argumente möchte man unmittelbar sagen. Doch das wäre viel zu unspezifisch, zu vage. Christoph Zöpel zu treffen heißt – und verheißt – Gespräch. Über die Kraft der Bildung und der Kultur. Ein weiterer Weg öffnet sich für die gemeinsame Überlegung. Zum Glück für mich hat Christoph Zöpel eine Strecke zurückgelegt, auf die ich wissbegierig zurückschauen kann. Im Gespräch mit ihm zeigen sich seine konstruktive Motivation und Zukunftsorientierung, die ihn zu einem angenehmen Gefährten auf den Wegen dieser Welt macht: Irgendwoher kommen wir und irgendwohin gehen wir. Christoph Zöpel ist Sozialdemokrat. Auch als Abgeordneter war er weniger der Typ stürmischer Teamspieler, als vielmehr nachdenklicher und zugewandter Einzelkämpfer. Er überzeugte andere stets mit seinem Verstand und praktischer Arbeit, von der Kommune bis in die internationale Politik. Interessant kann es werden mit ihm, wenn er bei aller Progressivität das Erhaltenswerte betont. Etwa, wenn er sich als bekennender Agnostiker für die Kirche einsetzt, zur Wendezeit lange für die Zweistaatlichkeit plädiert und den Erhalt des alten Plenarsaals der Bonner Republik anführt, weil er ihn als Symbol für die Demokratie in Deutschland erkennt. Christoph Zöpel hat Standpunkte – und es sind immer Christoph Zöpels. Ich beginne mein Gespräch mit ihm, als ich als Abgeordnete im Wahlkreis Herne-Bochum II Verantwortung übernehme, und erlebe seither einen Menschen, der von praktischer Vernunft geleitetet ist, ein Weltbürger im Bochumer Süden. Einer, der im Konkreten zu Hause ist und davon gibt es in seiner Wahlheimat Bochum reichlich. Er nimmt aktiv an der Stadtgesellschaft teil, man trifft ihn auf Stadtfesten und im Theater. Das Zusammenleben der Menschen und die Urbanität bestimmen seine Gedankenwelt. Er erlebt und lebt sowohl die „Kultur der Stadt“ als auch die „Stadt der Kultur“.
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In meinen Gesprächen begegne ich einem Menschen, der stets hohe Maßstäbe an sich und andere setzt, der aufgeklärte Kenntnis von Ökonomie einfordert, jedoch dort, wo es um Entwicklung der Sozialdemokratie geht, die soziale Dimension von Bildungspolitik betont. „Ruhr“, das Ruhrgebiet, braucht Leute mit diesem pragmatischem Zugriff auf die Entwicklung der Welt. Menschen, die Themen auch mal mit Distanz betrachten, aber die Heimatverbundenheit nicht verlieren. Die Politik hat ihm das sicher nicht immer leicht gemacht: Die Jusos nicht, mit denen er sich leidenschaftlich stritt – und Joschka Fischer schon gar nicht. Mancher berichtet im Nachhinein, beide seien sich zu ähnlich gewesen, um es miteinander auszuhalten. In Nordrhein-Westfalen hätte Christoph Zöpel gerne noch weitere Verantwortung übernommen, doch dafür sind die Wege der Politik, auch für einen konzeptionell arbeitenden Menschen wie ihn, zu wenig planbar. Mit kritischer Zuversicht, die ihm bis heute ins Gesicht geschrieben ist, kreierte er jedoch eine beachtliche Karriere. Seine Sicht auf die Dinge und sein Blick ermutigen mich, wenn ich ins Auswärtige Amt komme, auch für die Fortentwicklung der Internationalen Kulturpolitik als einer Außenpolitik der Gesellschaften. Noch viel mehr aber freue ich mich darauf, wenn sich unsere Wege das nächste Mal kreuzen. In Bochum, auf dem SPD-Parteitag oder – wer weiß schon wo – in der Welt.
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Für ein starkes, souveränes und solidarisches Europa – gerade jetzt Achim Post
Die europäische Einigung gründet auf einer geradezu fantastischen Idee: der Überzeugung, das Gegeneinander der Nationen in einem politischen Zusammenschluss neuer Art zu überwinden. Einem Zusammenschluss, der über Züge eigener Staatlichkeit verfügt. Der Freiheit, Demokratie, wirtschaftliche Zusammenarbeit und politische Partnerschaft über nationale Grenzen hinweg ermöglicht und letztlich den Nationalstaat in eine transnationale Demokratie einbettet. Dieser Zusammenschluss heißt heute Europäische Union und stellt eine der bedeutendsten politischen, wenn nicht zivilisatorischen Errungenschaften des vergangenen Jahrhunderts dar. Die Einheit Europas ist ein Geschenk. Doch sie ist gefährdet. So einzigartig diese Erfolgsgeschichte der europäischen Einigung ist. Selbstverständlich ist ihr Fortgang keineswegs. Vielmehr erleben wir heute, dass einige der Grundpfeiler, auf denen die europäische Einheit ruht, brüchig geworden sind. Im Zuge der Wirtschaftskrise der vergangenen Jahre sind die Zweifel am europäischen Wohlstandsversprechen gestiegen. In der Flüchtlingskrise ist es Europa nicht gelungen, die eigenen Werte der Freiheit, Solidarität und Humanität in eine überzeugende, gemeinsame Politik umzumünzen. Mehr noch: Einige Staaten der Europäischen Union handeln immer unverhohlener im eklatanten Widerspruch zu den freiheitlichen und demokratischen Grundprinzipien, die in den europäischen Verträgen verankert sind. Rechte und neue Nationalisten stellen sich frontal gegen den europäischen Einigungsgedanken. Hinzu kommt: Die gegenwärtige Coronakrise stellt den Zusammenhalt der EU vor eine neue beispiellose Herausforderung. Die EU ist eine Wirtschafts- und Solidargemeinschaft, die sich gerade in Zeiten der Krise bewähren kann und muss. In der Wirtschafts- und Finanzkrise ist es Europa alles in allem gelungen zusammenzuhalten und vielfach auch gestärkt aus der Krise hervorzukommen. Das muss Europa auch jetzt gelingen: • Erstens brauchen wir ein vernünftig koordiniertes europäisches Krisenmanagement. Nicht alles muss und kann jetzt in Europa geregelt werden, aber die nationalen AntiKrisen-Maßnahmen müssen sich in einen gemeinsamen europäischen Rahmen einfügen.
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• Zweitens brauchen wir die Bereitschaft zu europäischer Solidarität in der Krise – politisch, wirtschaftlich, sozial. Denn klar ist: Wenn ein europäisches Land kippt, dann hat das Folgen für alle anderen. • Und drittens werden wir nach der Coronakrise eine gemeinsame europäische Strategie der Wiederbelebung von Wirtschaft und Beschäftigung in Europa brauchen. Es ist möglich und dringend notwendig, dass die Länder Europas diese Krise gemeinsam bewältigen und Europa als Ganzes vielleicht sogar gestärkt aus ihr hervorgehen kann. Selbstverständlich ist dies allerdings keineswegs. Die Nationalisten und Populisten machen bereits gegen europäische Lösungen mobil. Die Differenzen zwischen Nord- und Südeuropa in Fragen der Wirtschafts- und Finanzpolitik drohen neu aufzubrechen. Umso wichtiger ist es, dass die deutsche Europapolitik so viele Brücken wie möglich baut, um vernünftige gemeinsame Lösungen zu bewirken und ein Auseinanderbrechen der EU zu verhindern. Nach der Krise wird Europa die richtigen Schlussfolgerungen aus selbiger ziehen müssen: indem wir eine gemeinsame europäische Strategie der Wiederbelebung von Wirtschaft und Beschäftigung in Europa auf den Weg bringen. Aber auch, indem wir eine Debatte darüber führen, wie wir die Handlungsfähigkeit und gemeinsame Souveränität Europas in der Welt weiter stärken. Es war in den letzten Jahren viel von einer notwendigen strategischen Autonomie Europas die Rede. Wenn wir viel richtig machen, kann die Krise uns vielleicht diesem Ziel einige Schritte näherbringen. Die Schlussfolgerung aus der Coronakrise kann jedenfalls nicht sein, dass wir die Abhängigkeiten Europas von anderen Staaten und Weltregionen weiter vergrößern, sondern dass wir Europas gemeinsame Handlungsfähigkeit und Souveränität stärken. Es geht dabei nicht um den Rückzug Europas aus der Welt und eine Rückabwicklung der Globalisierung. Das wäre grundfalsch. Aber es geht darum, dass Europa selbst in der Lage ist, strategisch wichtige Zukunftstechnologien zu entwickeln, überlebenswichtige Medikamente herzustellen sowie seine Interessen und Werte zu verteidigen und zu behaupten. Um Europa zusammenzuhalten und unter den auf absehbare Zeit weiterhin schwierigen Rahmenbedingungen europäischen Fortschritt überhaupt zu ermöglichen, ist aus meiner Sicht ein zweigleisiger politischer Ansatz erforderlich: • Erstens müssen wir realistischerweise erkennen, dass große gesamteuropäische Zukunftsentwürfe wie eine europäische Verfassung, so wünschenswert sie sein mögen, auf absehbare Zeit nicht erfolgversprechend sind. Stattdessen wird es wichtig sein, alles daran zu setzen, den Weg der eher graduellen Integrationsfortschritte, den Europa durchaus bereits nach der letzten Wirtschafts- und Finanzkrise eingeschlagen hat, nun auch nach der Coronakrise so gut es geht weiterzuführen. Das heißt nichts anderes, als dass wir versuchen müssen, überall dort, wo es möglich ist, praktische gemeinsame Fortschritte in der EU zu erreichen: etwa indem wir einen starken Zukunftshaushalt der EU vereinbaren, indem wir die Reform der Währungsunion und der Bankenunion unter Dach und Fach bekommen, indem wir eine ambitionierte EU-Klimaschutzpolitik vorantreiben, indem wir die EU-Außen- und Handelspolitik stärken oder indem wir
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den europäischen Parlamentarismus und das Spitzenkandidatenprinzip bei Europawahlen weiter ausbauen. • Zweitens wird es künftig aber vermehrt auch darauf ankommen, Handlungsfähigkeit und Fortschritte darüber zu erreichen, dass einige europäische Staaten bei konkreten Themen und Projekten Wege der verstärkten Zusammenarbeit vorangehen. Dies sollte und darf nicht gegen weitere Integrationsfortschritte in der Gesamt-EU gerichtet sein. Angesichts der fortbestehenden europäischen Handlungsblockaden gerade in Bereichen wie der Steuerpolitik, der Sozialpolitik oder auch der Flüchtlingspolitik sollten wir aber versuchen, über flexible Koalitionen integrationswilliger europäischer Staaten neue Dynamiken zu erzeugen. So sollte sich zumindest eine Gruppe von Staaten zur solidarischen Aufnahme und Verteilung von Flüchtlingen und zu Fortschritten für ein europäisches Einwanderungssystem bereit erklären. Im Steuerbereich muss die nunmehr seit langem vergeblich diskutierte europäische Finanztransaktionssteuer über die verstärkte Zusammenarbeit endlich realisiert werden. Sollten zudem keine Fortschritte im Rahmen der OECD für eine gerechte Besteuerung der großen Digitalunternehmen gelingen, dann sollten fortschrittswillige Staaten auch hier vorangehen und eine europäische Digitalsteuer vereinbaren. Klar ist: Die Bewährungsproben, vor denen wir in Europa stehen, sind gewaltig. Ein Scheitern der europäischen Einigung, wie wir sie kennen, ist eine reale Möglichkeit. Klar ist aber auch: Wir können Europa als Freiheits- und Wohlstandsraum nur gemeinsam erhalten. Ein Rückfall in nationale Kleinstaaterei würde nicht nur das Ende der EU in ihrer heutigen Form bedeuten, sondern es würde alle europäischen Staaten in Freiheit und Wohlstand massiv zurückwerfen. Vernünftige und verantwortliche Politik, zuvorderst unsere sozialdemokratische Politik, muss deshalb mit aller Kraft darauf gerichtet sein, das geeinte Europa zu erhalten und solidarisch weiter zu festigen. Wir dürfen die Zukunft Europas nicht den Feinden der europäischen Einheit überlassen. Investitionen in ein starkes Europa sind letztlich Investitionen in eine gute Zukunft unseres Landes sind. Umso wichtiger sind gerade jetzt Klarheit in der Überzeugung, Mut im politischen Handeln und die Bereitschaft dazu, Europas Einheit zu verteidigen und zu stärken. Sprachlosigkeit angesichts der Herausforderungen und die Visionslosigkeit einer reinen Sparpolitik reichen als Antworten auf die Zukunftsfragen Europas nicht aus. Wir müssen Impulse für mehr europäische Solidarität geben und die politische und soziale Integration Europas weiter voranzutreiben. Das ist der Kampf, den die SPD und die europäische Sozialdemokratie insgesamt in den nächsten Jahren zu kämpfen haben.
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Die Metropolen und Ballungsräume in Polen Zwischen den Handlungsformen der Kooperation und der Neuorganisation der kommunalen Selbstverwaltung Irena Lipowicz
Eine polyzentrische Struktur des Landes bedeutet eine positive Voraussetzung für die effiziente Verwaltungsorganisation. Polen gehört zu den Staaten, die nicht von einer Metropole – meistens der Hauptstadt – dominiert wurden (Sikora 2018, S. 316‒318). In zwölf Großstädten und in drei Agglomerationen (in Warschau und ihrer Umgebung, in Danzigs Metropole und im Ballungsgebiet um Kattowitz) ist eine harmonische Entwicklung zwar möglich, sie braucht aber einen modernen rechtlichen und institutionellen Rahmen. Bei der Durchsetzung der kommunalen Selbstverwaltungsreform, die in zwei Etappen in den Jahren 1990 und 1998 erfolgte, konzentrierte man sich auf eine einheitliche, klare, demokratisch legitimierte Struktur der Gemeinden, Kreise und Wojewodschaften und ihren bedeutenden Aufgabenbereich (Ofiarska 2018, S. 351ff.). Gleichzeitig wurden die speziellen Möglichkeiten und Bedürfnisse der Großstädte weitgehend ignoriert. Die Handlungsformen, die den Metropolen zur Verfügung gestellt worden sind, schienen am Anfang – nach der längeren Zeit des Zentralismus – ausreichend und elastisch genug für die selbstständige Verwaltungspolitik (Ziemski 2018, S. 401). Nur wenige Autoren, wie Karol Podgórski, haben damals die mangelnde Diversifikation als Gefahr für die Zukunft gesehen (1992, S. 46). In der frühen Phase der Debatte wirkte auch Christoph Zöpel positiv (2005, S. 7ff.). Allein der Gedanke, die schlesische Konurbation zu integrieren, neue Perspektiven zu entwickeln und die Parallelen zum Ruhrgebiet festzustellen, stärkten die lokalen Bestrebungen. Das Bewusstsein vieler Gemeinsamkeiten mit dem Ruhrgebiet war schon immer irgendwie da. Aber erst durch den Beitrag von Christoph Zöpel wurde darauf aufmerksam gemacht. Inspirierend war auch seine Vision „einer Weltstadt Ruhr“, die eine globale Perspektive zeigte. Als Experte, aber auch als geborener Schlesier, beeinflusste er die öffentliche Debatte stark. Die Idee der Metropole von Schlesien wurde dann von Bogdan Dolnicki und Czeslaw Martysz weitergetragen (Dolnicki 2014, S. 6). Nach 30 Jahren ist die Verwaltungsrechtslehre in Polen fast einig, dass das Fehlen einer gesetzlichen Grundlage für Metropolen, wie die schlesische mit Kattowitz und die DreiStädte-Metropole mit Danzig, aber auch andere kleinere (wie Krakau oder Posen), deren Entwicklung stark gehemmt hat (Szlachetko 2018, S. 345‒347). Lange Zeit hat man geglaubt, dass es ausreicht, wenn die Nachbarstädte eine enge funktionale Zusammenarbeit freiwillig gestalten. Das sollte in der Form eines kommu© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_9
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nalen Verbandes oder in anderen Formen verstärkter Zusammenarbeit erfolgen. Reiche Erfahrungen mit diesen Formen der Zusammenarbeit, sowohl in der schlesischen Konurbation als auch in den Gebieten Warschau oder Danzig, brachten aber keinen großen Erfolg (Izdebski 2018, S. 16‒17). Zweifelsohne haben sich auch die Metropolen und Agglomerationen in den vergangenen 30 Jahren geändert. Dies betrifft vor allem Kattowitz und andere Städte dieser Agglomeration, wo sich zuerst keine von vielen Städten besonders auszeichnete, sodass man von einer Konurbation sprechen konnte. Nach dem Jahr 2000 wurde die Rolle von Kattowitz in der Region immer größer und mindestens drei von kleineren Städten in der Umgebung bekamen den Status einer Peripherie. Es gibt hier eindeutige Gewinner und Verlierer der Transformation. Die Konurbation verliert langsam ihre Merkmale und steuert in Richtung einer Metropole mit klarem Zentrum (Dolnicki 2018, S. 90‒92). Es gab viele Versuche, diese Situation zu ändern: der Gesetzgeber, der mit der Form der Stadtstruktur experimentierte, setzte seine Neuerungen vor allem in Warschau durch – keine andere Agglomeration in Polen erfuhr so viele Veränderungen der Struktur und Rechtsform wie Polens Hauptstadt. Die Entwicklung variierte hier von der Selbstständigkeit der Stadtteile, der Bezirke, die als eigenständige Gemeinden gefasst wurden, bis zur Vision einer einheitlichen Stadt, wo die Stadtteile nur eine begrenzte Rolle spielen und so gut wie keine Selbstständigkeit besitzen. Geplant wurden auch neue Eingemeindungen, die zu einer einheitlichen Metropole führen sollten (Izdebski 2015, S. 76ff.). Von drei bekannten Modellen der Metropolverwaltung sind zu nennen: ein einheitliches „Metropolitan Reform Modell“ mit einer neuen Verwaltungsstruktur von radikaler Art der Umgestaltung, das „Public Choice Model“, wo man vor allem eine große Diversifizierung der Agglomeration als eine Chance der gesunden Konkurrenz sah und wo keine übergeordneten Organe vorausgesetzt wurden (Baileys 199, S. 7 -9), und das eng mit dem New Public Management verbundene „Metropolitan Governance Model“ (Seefried 2018, S. 315), wo man zahlreiche Akteure, öffentliche und private – darunter Unternehmer – als Teil der neuen Netzwerkverwaltung akzeptiert hatte. Aus dem Standpunkt der Rechtswissenschaften etablierten sich vor allem zwei Modelle: das Modell der kooperativen Verwaltung und das Modell der einheitlichen Verwaltung einer Metropole (Szydło (2018), S. 392). Das Kooperationsmodell bedeutet Entstehung vieler Einheiten – zum Beispiel der Gemeinden –, die in verschiedenen Formen, darunter auch in Form eines Kommunalverbandes, zu einem gemeinsamen Management beitragen. In diesem Fall existiert kein getrenntes, einheitliches Organ, das eine übergeordnete Position einnehmen würde. In diesem Konzept sind die Formen der Kooperation sehr heterogen. Sie können sowohl freiwillig als auch vom Gesetz bestimmt werden. Die Kompetenzen und Handlungsformen variieren stark: es ist nicht notwendig, dass unter Rechtsformen überhaupt hoheitliche Handlungsformen auftreten (Pyka, 2016, S. 88‒89). Das einheitliche Modell sieht eine zentralistische, interne Struktur der Metropole vor: ein klares Entscheidungszentrum und eine ausgebaute und kompetente Verwaltung sind eine gute Voraussetzung für die Integration der ganzen Agglomeration, für große Investitionen und für die Fähigkeit, strategische Entscheidungen schneller zu treffen und
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Konflikte effizient zu lösen. Es gibt auch Nachteile: die Bürokratisierung der Stadtverwaltung kommt ziemlich oft vor, die Randgebiete werden nicht selten benachteiligt und die Partizipation wird zweitrangig behandelt. Der technokratische Stil und eine absolutisierende Betrachtung der Effizienz können zu einer Entfremdung vieler Einwohner führen. Für die Konzepte Smart City und schnelle Einführung neuer Technologien soll dieses Modell bevorzugt sein. Allerdings lassen sich auch im kooperativen Modell gute Bedingungen für das Smart-City-Konzept und dessen Anwendung schaffen (Kidyba,Makowski 2017, S. 13). Die Hauptfrage in der Debatte der Verwaltungsrechtswissenschaft war: Wie lange kann man auf die neue Regulierung der Lage der Metropolen und anderen Agglomerationen verzichten, und wie sollte die neue Regulierung aussehen? Es gab zwei Ansichten: Erstens seien die Kooperation und die eventuelle Erweiterung der Handlungsformen auf freiwilliger Basis völlig ausreichend und neue oder besondere Gesetze für einen Teil des Stadtgebietes würden nicht gebraucht; zweitens sollte man grundsätzlich die neue Regulierung für alle Agglomerationen also Großstädte mit ihrer Umgebung schaffen. Das sei die wichtigste Herausforderung der Modernisierung der polnischen Verwaltung (Izdebski 2010, S. 23). Die andere Meinung lautete verkürzt: Es gibt nur zwei „echte“ Metropolen (im Sinne von NUTS 3) in Polen: Warschau und Oberschlesien (Górny Śląsk) – dabei besitzt Ersteres seit vielen Jahren ein besonderes Gesetz zur kommunalen Selbstverwaltung, Letzteres dagegen funktionierte immer noch in den bisherigen rechtlichen Rahmen der 41 Städten. In diesem Sinne sollte man zuerst diese Ungleichheit beseitigen, ohne auf allgemeine Lösungen auch für kleinere Metropolen in Zukunft zu verzichten (Dolnicki 2018, S. 12). Der Entwurf aus dem Jahre 2012 hat die Form eines metropolitanen Kreises vorausgesehen. Behandeln wir zuerst die Frage, ob es stimmt, dass die Strukturveränderungen in diesem Fall nicht zwangsläufig notwendig seien, weil die Erweiterung der Aufgaben und ein reicher Katalog der Handlungsformen ausreichend sollten. Aus polnischer Sicht konnte man nicht nur theoretische Überlegungen analysieren, sondern auch viele Versuche, die Aufgaben im Rahmen der Gemeinden und Kreise in einer freiwilligen Zusammenarbeit zu erfüllen. Die Doktrin der Verwaltungsrechtslehre stimmt bei den Analysen praktisch überein, dass, obwohl man auf diese Art und Weise isolierte Erfolge erreichen konnte, die wichtigsten Aufgaben in der Raumplanung, im Umweltschutz und Verkehr dann doch nicht vollständig erfüllt wurden. Der wichtigste Versuch der Änderung war ein großer kommunaler Verband (Górnośląski Związek Metropolitalny, GZM), der im Jahre 2007 auf freiwilliger Basis 14 Städte vereinigte. Schon diese limitierte Basis zeigte, wie schwierig die Überzeugungsarbeit bei der Festlegung der gemeinsamen Ziele und der Bestimmung der gemeinsamen Verwaltungspolitik war. Zum eigentlichen Kern der Metropole gehören heute immerhin 41 Städte. Dieser Verband hatte, wie es Dolnicki und Marchaj (2017, S. 75) bemerken, sehr ehrgeizige Ziele, die aber aufgrund der fehlenden Aufgabentrennung und der gesicherten Finanzquellen nicht verwirklicht werden konnten: Es gab auch keine reale Planungshoheit und keine Möglichkeit, strategische Investitionen, die für die ganze Metropole wichtig waren, durchzuführen. Immer wieder wurde deutlich, dass man ein starkes Gremium – gleichzeitig mit Entscheidungskompetenzen und neuen Finanzierungsquellen – brauchte. Diese Kompetenzen sollten 141
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jedoch die Selbstständigkeit der Gemeinden nicht einschränken. Der Entwurf wurde von den schlesischen Professoren Bogdan Dolnicki und Czeslaw Martysz ausgearbeitet; eine weitreichende Beratung und wissenschaftliche Debatten fanden statt. In diesem Modell war eine einheitliche Verwaltung für Metropolen und kleinere Agglomerationen als eine neue Kreisebene gedacht (Dolnicki 2014, S. 7‒14). Der Metropolenkreis sollte die zweite Stufe der kommunalen Selbstverwaltung bilden, es ist aber nicht gelungen, diese radikale Vision zu verwirklichen. Das erste Gesetz, das mindestens ein Teil der elementaren Voraussetzungen einer Metropolenreform erfüllte, stammte aus dem Jahr 2015. Dieses Mal war es keine exklusive Lösung für nur eine Metropole. Alle größeren Städte Polens sollten von dieser Möglichkeit Gebrauch machen können. Die Form – eine Vereinigung der Gemeinden – wurde eher kritisch bewertet, wichtig waren aber die Integration und eine klare Rechtsform. Das Datum der Verabschiedung des Gesetzes, das Jahr 2015 – ein Wahljahr, was nicht ohne Bedeutung war. Obwohl das Gesetz geregelt in Kraft getreten war, wurden keine entsprechenden Vollzugsverordnungen erlassen. Die erstaunliche Begründung lautete: In der neuen Regierung wäre bereits eine bessere Lösung – und zwar nur für eine Metropole – vorbereitet worden. Solch ein Verfahren hatte es in der Vergangenheit nicht gegeben. Nach polnischem Recht ist das Staatsorgan verpflichtet, nach der Verabschiedung des Gesetzes die dazugehörige Verordnung direkt zu erlassen. Eine gewisse Pathologie der Verwaltung war schon in den früheren Jahren sichtbar. Die gravierenden Verspätungen beim Erlassen neuer Verordnungen durch Regierungsverwaltung führten manchmal praktisch zu einer temporalen Blockade der schon verabschiedeten Parlamentsgesetze. Solche schlechte Praxis wurde zu lange toleriert und die Verspätung wurde meist mit technischen oder rechtlichen Argumenten begründet. Diese wurde dennoch nicht nur von Wissenschaftlern, sondern auch von Staatsorganen wie Rechnungshof und Ombudsmann angeprangert. Der Senat hatte aktiv in diesem Bereich gearbeitet. Noch nie zuvor gab es aber den Fall, dass die amtierende Regierung offiziell deklarierte, dass sie das schon verabschiedete Gesetz nicht umsetzen werde. Es sollte nun darüber nachgedacht werden, wie die Begriffe Metropolregion und Agglomeration sowie Metropolregion und Verband unterschieden werden könnten. Wie in der Literatur betont wird, gibt es zwar eine rechtliche Definition der Metropolregion, aber keine Definition der Agglomeration im geltenden Recht. Es muss daran erinnert werden, dass nach dem Gesetz von 2003 ein Ballungsgebiet zunächst „das Gebiet einer Großstadt und ihrer funktionell zusammenhängenden direkten Umgebung [ist], wie es im Konzept der Raumentwicklung des Landes definiert ist“ (Gesetzblatt von 2003, Nr. 717, Artikel 2, Punkt 9). Dies ist eine Definition, die in dem 2005 veröffentlichten „aktualisierten Konzept der Raumentwicklung des Landes“ weiter erläutert wurde. Dort wurde auf die folgenden Merkmale des Ballungsraums über die gesetzliche Definition von 2003 hinaus hingewiesen: hohe Qualität der Institutionen, Dienstleistungen und materiellen Ausstattung, große internationale Wettbewerbsfähigkeit, hohes Innovationspotenzial, ein Netz starker Verbindungen mit anderen in- und ausländischen Metropolen, bedingt durch ein gut entwickeltes Kommunikationssystem, Einzigartigkeit und Spezifität des Ortes sowie
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Attraktivität auf nationaler und internationaler Ebene; das Vorhandensein starker interner Verbindungen im Bereich der institutionellen wirtschaftlichen und sozialen Zusammenarbeit (Chaba 2018, S. 51). Eine weitere Annäherung an die Suche nach optimalen Definitionen war in den späteren Jahren die Bestimmung des Gesetzes vom 24. Januar 2014 zur Änderung unter anderen des Gesetzes über die Grundsätze der Entwicklungspolitik. In diesem Gesetz wurde die Definition des Ballungsraumes entfernt und durch den Begriff „funktionelles Stadtgebiet eines Woiwodschaftszentrums“ ersetzt – gemeint ist die Stadt, die Sitz der Woiwodschaftsselbstverwaltungsorgane oder eines Woiwoden ist, sowie ihre direkte Umgebung, die funktionell mit dieser Stadt verbunden ist (Artikel 2.6b des Gesetzes Gesetzesblatts von 2014, Nr. 379). Ein Jahr später (9. Oktober 2015) erschien der Begriff des Metropolverbandes wieder im Gesetz über die Metropolverbände (Gesetzblatt Nr. 1890); dort gibt es eine rechtliche Definition der Metropolregion, nach der es sich um eine räumlich zusammenhängende Einflusszone der Stadt handelt. Diese bilden zugleich den Sitz des Woiwoden oder des Woiwodschaftsparlaments (Sejmik). Die Einflusszone zeichnet sich durch das Vorhandensein starker funktioneller Verbindungen und damit verbundener Urbanisierungsprozesse aus. Sie hat mindestens 500.000 Einwohner (Artikel 5 des Gesetzes über die Metropolverbände). Dagegen ist der Metropolverband ein Zusammenschluss der territorialen Selbstverwaltungseinheiten der Gemeinden und Landeskreise, die sich in einem bestimmten Ballungsgebiet befinden (Artikel 1 des Gesetzes). Dieses Gesetz wurde wiederum am 7. April 2017 mit dem Inkrafttreten des Gesetzes vom 9. März 2017 über den Metropolverband in der Woiwodschaft Schlesien aufgehoben. Wie bereits erwähnt, war der offizielle Grund dafür, „die Feststellung der gegenwärtigen Regierung, dass die bisherigen Regelungen eine Reihe von Mängeln aufwiesen und daher nicht beschlossen wurde, sie umzusetzen“ (Chaba 2018, S. 53). In dem Gesetz finden wir keine Definition eines Ballungsraums (obszar metropolitalny) – stattdessen wurde nur der Metropolverband erwähnt. Er wird durch eine räumlich zusammenhängende Region mit mindestens 2.000.000 Einwohnern geschaffen und ist durch das Vorhandensein starker funktionaler Verbindungen gekennzeichnet. Nur die Metropole Górnośląsko-Zagłębiowska mit Sitz in Kattowitz erfüllt diese Bedingungen in Polen. Die Zahl der Metropolen wurde somit automatisch reduziert (Kuć-Czajkowska 2010, S. 62‒64, 79). Es muss betont werden, dass auf diese Weise zwei grundlegend verschiedene Konzepte unterschieden werden: die Metropolregion und der Metropolverband. Der Metropolverband funktioniert innerhalb einer Metropolregion, die aus lokalen Selbstverwaltungseinheiten und solchen besteht, deren Zweck es ist, öffentliche Aufgaben in eigenem Namen und in eigener Verantwortung zu erfüllen. Der Begriff der Metropolverbände wurde im Gesetz nicht definiert, obwohl es die Grundlage für die Gründung der Verbände ist. Das Gesetz über die Metropolverbände wurde aufgrund der verschärften Kriterien zum „Gesetz eines Falles“ – der oberschlesischen Metropolregion, die dann auf der Grundlage der Verordnung des Ministerrates vom 26. Juni 2017 geschaffen wurde. Solch eine Verordnung ist aus der
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Sicht der Prinzipien und der Gesetzgebungstechnik, die in der polnischen Theorie und Gesetzgebung des öffentlichen Rechts angenommen wurden, mangelhaft. Kann das europäische Recht in dieser Situation zu einem Hilfsmittel bei der Bewältigung des konzeptionellen Chaos werden? Schließlich ist es üblich, die Konzepte der NUTS-2-Gebiete und der Kategorie der Integrierten Territorialen Investitionen (ITI) zu verwenden. Die Klassifikation der Gebietseinheiten für die Statistik hat bereits eine große Rolle gespielt. Seit 2003 ist sie die in der Europäischen Union (in den neuen EU-Ländern etwas später) geltende Klassifikation, eine Unterteilung in drei NUTS-Ebenen von einer 2,3 (Artikel 1 Absatz 1 und Artikel 2 Absätze 1 und 2, EUR-Lex 2003). Die derzeit geltende Fassung stammt aus der EU-Verordnung 2016/2066 der Kommission vom 21. November 2016 zur Änderung der Anhänge der Verordnung (EG) Nr. 1059/2003 (EUR-Lex 2003) des Europäischen Parlaments und des Rates über die Schaffung einer gemeinsamen Klassifikation der Gebietseinheiten für die Statistik (Nomenclature des unités territoriales statistiques, kurz: NUTS). Polen ist derzeit in sieben Einheiten unterteilt. Die erste Kategorie bilden die Makroregionen, die nächste Ebene besteht aus NUTS 2 (die Woiwodschaften) und NUTS 3 (große Städte). Insofern kann man von der konzeptionellen Nähe des Begriffs Agglomeration und Metropole sprechen. In Erwägung werden auch die vierte (Landkreise) und fünfte Ebene (Gemeinden) gezogen. Erstmals wurden diese Statistiken in einzelnen Mitgliedstaaten, darunter auch Polen, in bestehende Gebietseinheiten unterteilt. Paradoxerweise gibt es nun innerhalb der NUTS 3 und der Integrierten Territorialen Investitionen (ITI) eine allmähliche Bottom-up-Pflasterung der Metropolregionen, die nicht zu den drei großen Ballungsgebieten gehören. ITIs sind auch ein Beispiel für wertvolle soziale Innovationen, die sich besonders deutlich in den Bottom-up-Integrationsprozessen der Ballungsräume Posen und Rzeszów zeigen (Kaczmarek & Mikuła 2010, S. 169‒170). In der Situation, in der der Gesetzgeber freiwillig auf sonst notwendige Regelungen verzichtet, könnte die Integration durch das interne Kommunalrecht gestärkt werden. Im polnischen Selbstverwaltungsrecht und vor allem in der Praxis ist diese interne Regulierung nicht gut entwickelt und die Statute sind äußerst schematisch. In diesem Fall kommt es jedoch – unter dem Druck der nach Integration strebenden gesellschaftlichen Kräfte – zu einem plötzlichen Wiederaufleben der lokalen Initiativen. Während der polnische Gesetzgeber in den ersten zehn Jahren nach der Reform gegen den Partikularismus der ständig sich trennenden und der konfliktbeladenen Kommunen kämpfen musste, streben die Großstädte heute effektiv nach der Integration mit ihrer Umgebung, und die Einwohner sehen dies wiederum als Chance für einen Zivilisations- und Technologiesprung. Vorbildlich in der Nutzung der Möglichkeiten trotz der eigentümlichen Untätigkeit des Gesetzgebers ist Rzeszów (Barczewska-Dziobek 2018, S. 24) – dank eines Beschlusses des Rates der Großstadt und der Nachbargemeinden (Feret 2018, S. 87‒89). Agglomerationen wachsen unter dem Druck wirtschaftlicher Veränderungen auf natürliche Weise. Wie die polnische Erfahrung zeigt, halten fehlende oder fehlerhafte Regulierungen die Metropolisierungsprozesse nicht auf. Eine solche Entwicklung vollzieht sich dann jedoch auf fragmentierte, aus der Sicht einer rationalen Verwaltung teils inkorrekte Weise, insbesondere in Bezug auf das Recht auf gute Verwaltung und die rationale Verwal-
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tungsleitung. Aus Sicht der Verwaltungsrechtswissenschaft ist die beschriebene Situation ein interessantes Forschungsfeld: Es lässt sich nachvollziehen, dass wir seit Jahren einem kontinuierlichen ‚Boykott‘ durch den Gesetzgeber ausgesetzt sind. Dies bezieht sich auf die dringende Notwendigkeit, die wandelnden gesellschaftlichen Verhältnisse zu regulieren. Zwar wird ein Bottom-up-Versuch der Gemeinden und Zivilgesellschaft unternommen, bestimmte legislative Prothesen einzuführen, dieser kann aber die umfassende gesetzliche Regelung nicht vollständig ersetzen. Wir haben hier eine ganze Reihe von verschiedenen Initiativen:; einerseits Initiativen der Vereine und, Stiftungen, die versuchen, in denr Metropolregionen Posenznań, Krakau oder DanzigGdańsk innovativ neue Strukturen innovativ zu schaffen, die noch außerhalb der kommunalen Selbstverwaltungsstrukturen funktionieren. Der nächste Schritt ist die Schaffung von Funktionsbereichen und Gebieten auf der Grundlage von der ZITIs. Die Literatur des Fachgebiets konzentriert sich in diesem Zeitraum auf die Untersuchung der Genese der Zusammenarbeit zwischen den lokalen Verwaltungsorganen eines bestimmten Gebiets und weist auf die Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung von komplexen Strukturen für die Verwaltung von Metropolregionen hin, wie sie in Frankreich und Deutschland vorkommen .(Pyka ,2012, S. 6ff.;) (Seefried, 2018, S. 310-‒314). Der Durchbruch für die meisten Großstädte war die Einführung des ITI-Instruments in 24 funktionalen Stadtgebieten. Es ist aber immer noch nur ein Ersatz. Rafał Gajewski (2018, S. 99) wies auf die Hybridität der bestehenden Lösungen hin. Die Tätigkeit der ITIBereiche in der finanziellen Vorausschau 2014 bis 2020 ermöglichte die Entwicklung von Finanzierungsregeln, die eine effektive Zusammenarbeit ermöglichen. Es lässt sich schwer sagen, wann die dauerhaften Strukturen wirklich geschaffen werden. Wenn man in der Literatur sogar Aussagen findet, die sich auf die aufeinanderfolgenden Generationen der Metropolinstitutionen beziehen, sowie die Aussage, dass die „Danzig‒Gdingen‒Zoppot“Metropolregion das „Erbe“ der großstädtischen Institutionen, die früher tätig waren, sei (Krukowska & Lackowska 2016, S. 82‒92), zeigt die Berechnung dieser Institutionen das Ausmaß der institutionellen Blockade. Das waren u. a. • Stadtrat des Golfs von Danzig, • Vereinigung der Danziger Metropolregion, • NORDA Metropolitan Forum von Präsidenten, Bürgermeistern, Vögten und Landräten (Gajewski 2018, S. 106‒107). Das bereits besprochene Gesetz über die Metropolverbände von 2015 ist zwar endgültig in Kraft getreten, wurde aber gleich wieder aufgehoben und deshalb hiermit nicht weiter berücksichtigt. Es war allerdings eine äußerst interessante Rechtserscheinung. In Mittelund Osteuropa werden Verwaltungsreformen traditionell von oben herab durchgeführt, um den sozialen Widerstand der an den bestehenden Strukturen hängenden Kreisen zu überwinden. Dies war während der zweiten Phase der Selbstverwaltungsreform von 1998 zur Einführung der Kreise und Woiwodschaften deutlich sichtbar. Seit 20 Jahren hat es in Polen keine umfassendere Reform der kommunalen Selbstverwaltung gegeben. Gleich145
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zeitig gibt es einen hohen sozialen, gesellschaftlichen Druck, die Governance-Strukturen der Großstädte zu modernisieren, aber nicht auf technokratische Weise, sondern um sie in Ordnung zu bringen und demokratisch zu legitimieren (Knosala 2010, S. 25‒27). Die oberschlesische Metropole, die zur Berücksichtigung der lokalen Befindlichkeiten Górnośląska-Zagłębiowska-Metropole genannt wird, ist aus diesem langjährigen ‚Kampf‘ erfolgreich hervorgegangen, aber auch in diesem Fall wurde keine neue kommunale Selbstverwaltungseinheit geschaffen – es handelt sich vielmehr um eine Übergangsstruktur. Wie Bogdan Dolnicki und die ganze Schule von Kattowitz betonen, hat dieses Geschöpf seine eigenen großstädtischen Aufgaben, die sich von denen der Gemeinden, die zur Metropole gehören, unterscheiden. Allerdings hat es nicht den Status einer kommunalen Selbstverwaltungseinheit im Sinne der Verfassung und der Gesetze zur kommunalen Selbstverwaltung erhalten. Wir befinden uns also noch in einem Zwischenstadium, und zwar nur in dieser einen Metropole. Die übrigen finden trotz ihrer sozialen Innovation, trotz ihres Mosaiks an Initiativen und Lösungen, nur in den ITI-Bereichen Unterstützung. Die Schaffung einer neuen Selbstverwaltungseinheit und der besondere Modus ihrer Gründung haben doch eine Reihe von Fragen aufgeworfen: Handelt es sich hier um eine neue lokale Selbstverwaltungseinheit, um einen Gemeindeverband oder um eine neue hybride Einheit, die das bestehende Netz der lokalen Selbstverwaltungseinheiten (der Gemeinden, der Kreise und der Woiwodschaften – in dieser Stadt mit Kreisrechten) nicht verletzt? Das Grundproblem ergibt sich aus der Bezeichnung „Metropolverband“, weil es ganz wesentliche Unterschiede zwischen den Metropolverbänden und den Gemeindeverbänden gibt. Diese sollten systematisch dargestellt werden. Wenn ein Metropolverband durch eine Verordnung des Ministerrates und auf Antrag des Ministers für öffentliche Verwaltung gegründet wird und aus dem Gesetz eindeutig hervorgeht, dass der Antrag auf Gründung eines Gemeindeverbandes durch den Rat einer bestimmten Stadt – in diesem Fall Kattowitz – vorbereitet wird, wird der Gemeindeverband oder Kreisverband nach polnischem Recht auf Grundlage eines Beschlusses des Gemeinderates oder des Kreisrates gegründet, der nur an den Woiwode gerichtet und vom Minister für öffentliche Verwaltung registriert wird. Die erforderlichen sozialen Beratungen sind ebenfalls unterschiedlich: Während die Gründung eines Metropolverbandes Gespräche mit den Einwohnern erfordert, muss die Meinung der Behörde, die die Gemeinde bildet, die Teil des Metropolverbandes sein soll, und darüber hinaus auch der Woiwode und der Sejmik der Woiwodschaft Schlesien ihre Meinung äußern, erfordert die Gründung eines Gemeindeverbandes keine Gespräche oder Stellungnahmen von anderen Personen als denen, die den Verband gründen sollen (Feret 2018, S. 95‒96). Auch die Bedingungen für die Gründung eines Metropolverbandes sind spezifisch: Erstens hat nur ein Organismus mit einer Gesamtbevölkerung von 2.000.000 Einwohnern das Recht, einen solchen Verband zu gründen, gleichzeitig hat der Gemeindeverband jedoch keine vom Gesetzgeber festgelegten Voraussetzungen für seine Gründung. Zweitens muss der Antrag auf Gründung eines Metropolverbandes begründet werden, während ein Gemeindeverband oder Kreisverband freiwillig und ohne Vorbedingungen gegründet wird. Das Gesetz über die Selbstverwaltung der Gemeinden regelt nur die grundlegenden
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Fragen. Daher kann man feststellen, dass der Metropolenverband in seiner Funktionsweise im Vergleich zum Gemeindeverband zu detailliert geregelt wurde. Gleichzeitig sind die Beitrittsbedingungen akzeptabel. Die großstädtische Vereinigung ist obligatorisch; ein Charakteristikum und eine gewisse Besonderheit ist die fehlende Austrittsmöglichkeit der Kommunen aus der Vereinigung (Dolnicki & Marchaj 2017, S. 75‒76). Einen äußerst wichtigen Punkt bilden die Unterschiede in den Aufgaben in beiden Fällen: die Aufgaben der Gemeindeverbände sind eine Ableitung der Aufgaben der lokalen Selbstverwaltungseinheiten und insbesondere der Aufgaben der Gemeinden. Wenn diese Aufgaben im Falle eines Metropolverbandes der Woiwodschaft Schlesien in der Satzung vorgesehen werden müssen, wird ein Katalog der eigenen Aufgaben des Verbandes erstellt. Im polnischen Recht ist dies der erste Fall, wenn eine Einheit, die keine neue lokale Selbstverwaltungseinheit im Sinne der Verfassung und der Gesetze ist, eigene Aufgaben übernimmt (Marchaj 2019, S. 102‒105). Klassische Gemeindeverbände werden immer durch Beiträge ihrer Mitglieder finanziert. Es ist auch möglich, Einkünfte aus den Aktivitäten des Verbands zu erzielen, während der Metropolverband über eine sehr spezifische, aber budgetierte Finanzierungsmethode verfügt. Die begrenzte Unabhängigkeit des Metropolverbandes bei der Festlegung seiner Struktur und seiner Organe drückt sich auch in der Festlegung der Anzahl der Delegierten aus. An der Verbandsversammlung nimmt immer jeweils ein Delegierter aus jeder Gemeinde teil. Der Gemeindeverband kann bestimmen, dass eine Gemeinde von mehr als einer Person in der Versammlung des Interkommunalverbandes vertreten werden darf. Im Falle eines Zusammenschlusses von Kreisen können es zwei Vertreter des am Verband beteiligten Kreises sein. Beschlüsse werden in einem klassischen Gemeindeverband mit absoluter Stimmenmehrheit gefasst, während Beschlüsse der Versammlung des Metropolverbandes einen besonderen Modus zur Definition der Mehrheit haben, die sogenannte doppelte Mehrheit. Ein wichtiger Unterschied ist auch die Fähigkeit des Metropolverbandes, die ausländische Zusammenarbeit mit den metropolitanen Einheiten anderer Staaten zu führen. Einerseits ist es eine Erweiterung der Möglichkeiten der Zusammenarbeit, die nicht für kommunale Verbände vorgesehen ist, andererseits ist die ausländische Zusammenarbeit begrenzt: sie betrifft nur Metropolregionen in anderen Ländern (Szlachetko 2018, S. 355‒356). Die dargestellten Unterschiede rechtfertigen eine Aussage, dass die Gründung eines Metropolverbandes, die für die Kommunalverwaltung typischen Merkmale erfüllt, eine vorübergehende Etappe bedeutet, aber die neue Struktur (noch) keine neue Selbstverwaltungseinheit ist. Obwohl es offiziell keinen Pilotcharakter zu haben scheint, wird es vom Gesetzgeber als eine Art Experiment in der Gesetzesbegründung bezeichnet. Trotz einiger Enttäuschungen der Experten, die sich seit Jahren bemühen, eine starke Metropole nicht nur im oberschlesischen Ballungsraum zu schaffen, wurde der Verband gegründet und akzeptiert. Es ist jedoch schwierig, rechtliche Argumente dafür zu finden, einem anderen Ballungsraum (im Verständnis einer Großstadt mit ihrer Umgebung) das Recht auf ähnliche Lösungen zu verweigern. Eine Analogie findet sich hier mit dem – aus historischer Sicht unnötigen – Hinauszögern der zweiten Phase der Kommunalselbstverwaltungsreform von 1998. Die Blockade der Reform drückte sich da in der Schaffung eines umfangreichen 147
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Pilotprojektes in Form einer öffentlichen Dienstleistungszone aus, die wiederum die Schaffung der notwendigen Kreisreform ersetzen sollte. Während die Existenz der öffentlichen Dienstleistungszone, die im Nachhinein einige Erfahrungen ermöglichte, war das aus der Sicht der Schaffung der zweiten Ebene der lokalen Selbstverwaltung (der Kreise) nur eine unnötige Verzögerung. Der Verlust von acht Jahren möglicher konsequenter und harmonischer Entwicklung der damaligen Kommunalselbstverwaltung führte zu einer erheblichen Verzögerung bei der Umsetzung notwendiger sozialer Innovationen, des Straßenbaus oder der Infrastrukturentwicklung. Man kann auch nicht behaupten, dass die grundlegenden Verwaltungsreformen beliebig warten könnten und dass man zuerst Pilotprojekte realisieren müsse. Dieses Argument ist fragwürdig, weil die Gründer des Metropolverbands selbst, kraft des Gesetzes vom 9. März 2017, die Einzigartigkeit des oberschlesischen Ballungsraumes (auch in leicht veränderter Form mit der wachsenden Dominanz der Stadt Kattowitz) betonen. Da diese Metropole so unterschiedlich und einzigartig im europäischen Maßstab ist, dass sie nur mit dem Ruhrgebiet vergleichbar ist, lassen sich die Erkenntnisse nur schwer für ganz Polen anwenden. Es wäre logischer, ein solches Pilotprojekt in einem der kleineren Ballungsräume oder zumindest in einem Ballungsraum mit einer Struktur mit einem Zentrum oder zwei Hauptzentren durchzuführen. Es wird darauf hingewiesen, dass die Erfahrungen des oberschlesischen Ballungsraumes (und jetzt des Metropolverbands) unter polnischen Bedingungen nur auf die Dreistadt-Agglomeration Danzig-Gdingen-Zoppot übertragen werden können. Die Argumente für die Legitimität der Pilotfunktion im Falle der Gründung eines neuen Metropolverbandes auf der Grundlage des Gesetzes von 2017 und der begleitenden Verordnungen können zu Recht infrage gestellt werden. Es ist anzuerkennen, dass die Pilotfunktionen eher durch eine Reihe von freiwilligen Initiativen unterschiedlichster Art, angefangen von Vereinen, Verbänden, Gemeindeverbänden bis hin zu einer Aktiengesellschaft, durchgeführt wurden. Letztere entstand durch die Bemühungen um ein modernes Management des Ballungsraums in Breslau. Diese in der Literatur hervorragend beschriebenen Erfahrungen, sowohl im Bereich des öffentlichen Rechts, der Managementtheorie als auch der Politikwissenschaften, schaffen einen wertvollen Erfahrungspool für Forscher (wie auch für Managementpraktiker). Es muss an dieser Stelle betont werden, dass die nachhaltige Entwicklung des Landes, insbesondere für die Raumplanung und den Ausbau der Straßen- und Schieneninfrastruktur, ohne die moderne Festlegung der Strukturen und Bestimmung der Funktionen für Metropolen und Agglomerationen sich unnötig verzögert. Es wäre so auch besonders schwierig, sich auf eine Smart-City-Verwaltung, die eine besonders hohe Kooperationsstufe verlangt, umzustellen.
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The notion of migration in Amman New perspective in perceiving heterogeneous communities Maram Tawil and Lubna Alawneh
1
Introduction “Cities are complex socioeconomic phenomena that spread physically in space, and exhibit a permanent and continuous evolutionary development trend over time.” (Jacobs 1970)
Cities are always growing and developing, leading to dynamics in most of its attributes. One of the most influential phenomena for cities is the change in its social structure that may not always be predicted or planned; an example of sudden growth is migration. This phenomenon can be reflected back to many factors (like economic or political ones), and can also have different user typologies (like internal or external migrants). An ever-emerging question concerning this topic is how much this phenomenon shapes cities – and how it can be dealt with. Amman has a long history of accepting and attracting migrants, more specifically refugees, having accommodated new populations following the Palestinian-Israeli conflict in 1948, the Arab-Israeli War in 1967, the Gulf Wars in the 1990s and early 2003, and the Syrian conflict from 2012. This caused a sharp rise in the city’s population which placed a huge strain on the city’s resources and infrastructure, including water, education, unemployment, transportation, housing, and medical services (Cities, 2017). A notable aspect concerning Amman’s migration is the basic characteristic for incomers (specifically, major waves) as a shared culture, language, and religious base exist between Jordan and migrant countries. This creates a foundation for co-existence, and will be further examined to understand its implications. Accordingly, to guide this research, as heterogeneity is a very wide term, the authors are defining it here as a social character, focusing on different nationalities within a space, focusing on refugees and humanitarian co-existing layers in Amman. The paper is trying to answer two main questions: how are emerging communities co-existing and adapting in a sample neighborhood in Amman? Should emergency policies and strategies pave the line to these continuous flows or shall Amman be seen and perceived as a heterogeneous community with a multicultural base for development? © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_10
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Literature Review
The topic of diversity and heterogeneity in cities is a highly researched topic; to guide this study, the research will focus on four main aspects: understanding the notion of cites and incomers, heterogeneity as a component of multicultural settings, heterogeneous communities socio-economic attributes, and strategic development of heterogeneous settings.
2.1
Cities and incomers
As stated by Grillo (2005), cities have high levels of social heterogeneity and dynamics. From a heterogeneous perspective “the citizen of the metropolis is free” as the large influxes and relationships allow the people to dethatch from the social control of their own group. This heterogeneity is usually referred to as “the fluidity of urban life”, which is the potential change for living in cities (Hannerz 1980). People make a city, and cities make people; the combination of its sociality usually makes each city as unique as could be. Although similarities and inimitabilities can be observed in cities (Lee & Grindrod 2016), key characteristics that stay in our mind regarding cities are rarely a city’s physical attributes, but, instead, we characterize a city by its people and social networks (Fischer 1982). A city’s identity is derived from the identity of its inhabitants, and vice versa as the urban environment reflects human needs and values (Ali, 2017). The appearance of diversity has always been a topic of debate, heavily discussed by phenomenal authors on urbanism such as Jane Jacobs, William Whyte, Lewis Mumford, and Kevin Lynch. The researchers have argued that diversity is a normative good in a city and “it is often recognized as one of the most important conditions of a good, vital human settlement” (Talen 2005; Kim 2010). Minkjan also argued that a city is never a static space; it is always being crystallized through values, economics, and politics (Minkjan 2012). Cities can be associated with chaos and diversity, a systematic pattern that emerges for a city to develop and expand physically and socially (Batty 2005).
2.2
Heterogeneity as a component of a multicultural setting
Understanding society and social components usually acts as a trigger for understanding development. As key characteristics that stay in our mind, regarding cities are rarely the physical attributes of a city, but instead we characterize a city by its people and social networks (Fischer 1982). Heterogeneity is the opposite of homogeneity. It is defined as diverse in character or content (Oxford Dictionary 2019). This paper is referring to different nationality and origin groups within one setting. Heterogeneity could mean diversity and it stresses the significance of variation, thus, it is a useful concept in order to understand
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the relationship between groups that together form a society because the relationship is not only based on the sizes of the groups involved but also by their variations (Ju-Lan 2011).
2.2.1
Heterogeneity and multiculturalism as a rising debate
Diversity and multiculturalism have been an active topic of discussion, the idea of heterogeneity in cities is being viewed as a norm in key authors’ publications and arguments. For instance, Jane Jacobs gave a speech analyzing Toronto, Ontario, in 1984 on the need to enhance diversity through specific policies that support multiculturalism: “The Canadian ideal is expressed metaphorically as the mosaic, the idea being that each piece of the mosaic helps compose the overall picture, but each piece nevertheless has an identity of its own” (Jacobs 1969; Green 2016). Karl Marx phrased the same concepts in a technical approach in “mode of production “according to (Storey, 2018). Each mode of production produces specific ways of obtaining the necessities of life and specific social interrelations between members of society. This analysis also covers the idea that a society produces and determines the political, social and cultural shape of said society and its possible future development (Storey, 2018). Among the first works that drew widespread attention to the social problems arising from diversity was Samuel P. Huntington’s The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order in 1996. His concept of multiculturalism appeared as a response or solution, as Berkes (2010) argues.
2.2.2
Migrants and the mechanisms of multicultural communities
In a more focused scope, this research is now approaching the topic of migration. The definition of a migrant is a generic term for anyone moving to another country with the intention of staying for a certain period of time (Degler & Liebig 2017). While migration is seen as a change in an individual’s usual place of residence, it is rarely a single, simple move. People move on and back; they move over for short-term as well as longer-term sojourns (Skeldon 2017). To define this further, Michael Cernea and Scott Guggenheim (1995) differentiated the mechanisms of migration into both forced resettlements and voluntary movements on the basis of push-pull factors and based on age of the displaced population. For example, push factors are the many domestic forces that can encourage individuals to leave their home country; pull factors are something in foreign countries that can attract a person to it. Both factors can be of social, political, economic or ecological nature (Piesse, 2014). The different rights and responsibilities that follow each migrant wave – whether be it political or economic – is always debatable. The United Cities and Local Governments’ (UCLG) Global Charter summarizes the needs in stating that “all city inhabitants have the right to a socially and economically inclusive city and, to this end, access to nearby basic social services of optimal and affordable quality” (Migrant’s inclusion in cities 2010). One of the main theories discussing the topic is one extracted from the Chicago school ideas: the social organization theory, which focuses primarily on processes internal to the neighborhood. An opposing theory is that of social isolation theory, which emphasizes 153
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social and cultural disconnections between neighborhood residents and the outside world (Wilson 1987; Harding 2007). Shaw and McKay first developed their well-known theory of social organization in neighborhoods in 1940; it aimed at explaining crime rates in specific neighborhoods. The theory found three connected factors in “socially disorganized” cities: ethnic heterogeneity, residential instability, and high neighborhood poverty (Small, 2002).
2.3
Heterogeneous communities and socio-economic implications on a neighborhood level
This section will guide the core of the literature, which will discuss the dynamics that emerge in a heterogeneous setting while socio-economic attributes will be the focus of this paper.
2.3.1
Social implications of heterogeneity on urban settings
Most of the international migrants settle down in urban areas due to the economic, cultural and social opportunities that host cities can offer (Bell et al. 2010). To further understand the social attributes of heterogeneity, research on cultural differences reveals three main findings: the first was that intercultural differences exist as people from different cultures possess different belief systems and practice different behaviors. The second was that cultures have signature characteristics that are not idiosyncratic. Individuals’ behaviors in a culture react consistently and allow others to predict their responses. The third aspect was that this consistency notwithstanding, people within cultures differ (Bednar et al. 2006). The main issue discussed concerning different social groups is the level of integration and cohesion between them; Turner & Reynolds (2012) argued that people interact in a socially structured system as the group regulations and ideas have specific consequences on their behaviors. For example, people are known to self-categorize themselves – a process by which people define their own self-concepts in relation to social groupings, on physical demographic or any other related features (Stroessner 1996; Chatman & Flynn 2001). Related would be the sense of integrative interaction between different groups. “Integration happens when everyone gets together not to do things for people, but with people” (Fenstermacher 2016). To understand social interactions, two key terms must be grasped and distinguished between as they tend to be used synonymously: ‘social network’ and ‘social support’. The social network concept refers to the structural characteristics of the social relationships maintained by an individual, group, or community. The social support concept is more precise: it refers to the roles, which social relationships play in the maintenance and improvement of individual well-being (Campos 1996). A more complex aspect of migration is the integration process of refugees and asylum seekers as their situation is usually more complex. At the recent Leaders’ Summit on Refugees, hosted by President Obama in partnership with six countries, the USA Ambassador to Germany stated that “[a]ll these folks, before they were ‘us,’ they were ‘them’ […] this is a part of our history” John B. Emerson, The U.S. Ambassador to Germany, 2016. During this meeting the “five pillars of integration” were introduced: linguistic integration, integration
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of school children, economic integration, provision of a clear path to citizenship and civic integration (Fenstermacher 2016). Upon settling in a new space, people usually develop in accordance to their norms and attributes; at the same time, people also carry their knowledge and expressions of distress with them when they change cultures (Bhugra 2004). Upon settling down in a new culture, a person’s cultural identity is likely to change and, in order to belong, they also attempt to settle down through either assimilation or biculturalism (Triandis et al. 1985). Many societies agree to a ‘we’ consciousness: collective identity, emotional interdependence, group solidarity, and obligations, the need for stable friendships, group decisions and particularism – all of these are essential for new emerging groups. These aspects are of the same importance to a person’s sense of individualism, (Triandis et al. 1985). In this sense, racial identity comes to the scene, which refers to a sense of a group or collective identity based on the perception that the shared racial heritage with a particular group exists (Helms 1990). Acculturation, which is the adoption of the values and behaviors of the surrounding culture and cultural identity, has to be studied at both individual and group levels to become a covering concept (Bhugra 2004). Migration also has an effect on the blossom and development of a host culture; although a lot of literature focuses on the downside of migration, another approach is focusing on its positive dynamics. It is viewed as a source of ideas and innovation, which can then contribute to businesses, governments, and other entities in the city. The “others’” way of life, music and creative endeavors play a role in enhancing the destined city. Nevertheless, migration involves complexities associated with a diversity of race, religion, ethnicity, language, and culture. While diversity is healthy for a city, it can also pose a risk to social cohesion, cultures and traditions as well as, to a certain extent, to the safety and security of all residents (Migration and Its Impact on Cities 2017).
2.3.2
Economic implications of heterogeneity on urban settings
Economy is a major attribute that can influence and be influenced by social heterogeneity and emerging groups in an urban setting: a country with more dynamics and emerging groups is usually observed as a country that magnets incomers; low paid workforce, multicultural gains, workforce that can fill in the labor market, and increased demand for services which could reflect to increased economies later on. However, as idealistic as it seems, the appearing migrants usually cause many negative aspects as well as the employment of migrants can cause reactions at the labor market, possibly leading to an increase in unemployment among locals, an extreme decrease of salaries, and possible increase in spending on social services for the incoming group. This could then extend into social problems related to the economy like an increase in crime rates, xenophobia, racism etc. (Divinský 2005; Čekanavičius & Kasnauskienė 2009; Tupa & Strunz 2013). Kancs & Lecca refereed to (Brücker & Jahn, 2011)) who agrees with the previously mentioned opinion, and they state that migration reduces average wages while,
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in the short run, increasing unemployment of the incumbent workforce that, in the longrun, then stays neutral (Kancs & Lecca 2017). Vranken (2011) argues that the fight over job opportunities often causes recession in a city, it is illustrated by declining labor market opportunities for many, which could result in an increasing intolerance towards minorities, or even polarization. Unfortunately, yet not surprisingly, a focus on the positive aspects of diversity is far more difficult during a recession than with economic prosperity (Vranken 2011). Ensuring the employment sustainability of every person regardless of their circumstances is one of the main tasks of a successful integration: “Everyone – regardless of citizenship – has the right to work and governments are obliged to take progressive measures to safeguard this right” (Price & Chacko 2012). Non-citizens who live in a city for both economic and political reasons are entitled to a treatment equal to that of citizens (Price & Chacho 2012). Economic exclusion can be present by many factors such as unemployment, a low level of education, lack of qualifications, or low-waged, insecure types of informal work. On a more economy-beneficial approach, migrants usually lead to an emergence of ethnic businesses, as (Aldrich & Waldinger, 1990) pointed out. An interesting expansion begins when these businesses burst beyond the ethnic concentration to serve non-ethnic markets (Hugo 1995). On the long run, migrants may change the composition of products and services produced in the economy, and could reach out to the occupational and industrial structure of the labor market. For example, the migration of low-skilled workers may expand the production of a product that intensively uses low-skilled labor. This expansion will then increase demand, drive wages back up, and many other skills or characters can influence the new economy (Ruhs & Vargas-Silva 2017). Seen over a longer period of time, migrants generally have a good influence on cities’ economics (Merler 2017), even concerning supply and demand and not just productivity as migrants in many cases could possess skills and businesses that are new to the local market and can in their way enlarge and diversify the business opportunities in the setting
2.4
Development of diverse cities
Diversity is now a norm in planning goals. The planners must cope with the added layers that the new groups bring in (Sandercock 1998; Kim 2010). In some sense, emerging heterogeneity due to sudden migrations and different political situations can be viewed as an impulse to the city. Although all aspects of cities (such as economic, social, political, and environmental) should be prioritized due to the dynamics in cities, developers and planners usually ignore the social depth. Public areas, housing, and transport hubs offer unique opportunities for developers to create potential positive social impacts and benefits that include strengthening the community bonds, enabling the accessibility of jobs, and making streets safer for all (Network 2018). Another approach of looking at cities and observing how they deal with emerging heterogeneity is to look at it as a multi-layered setting, the multi-layered city is built on a
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series of historical ‘layers’ that have different economic potentials than those where only a few layers or even just one dominate it. These layers can be economic, social, different physical structures from the past, or combinations thereof. Single-layered cities are more vulnerable to structural economic change and more exposed to short‐term booms and bursts than cities with greater diversity and variety. The same applies to the place’s residential compotation, once it has a variety of workers with many skillsets, it will be much easier to build upon it for a stronger city (Egedy et al. 2013).
3
Amman: a setting for emerging heterogeneities
Amman has acted as a refuge for several incomers who reached out to Amman for various reasons, each one with a specific story and justification that only adds to the city’s diversity. Some came as traders, others as refugees or administrative workers, along any other scenarios and criteria, they all saw in Amman a safe haven for settlement and resettlement (Daher 2011). Amman is currently hosting the largest group of migrants in Jordan; being a very diverse city, and being the capital of Jordan means that it has many social and economic opportunities, which is why it is an attraction to migrants. Understanding the dynamics in Amman is essential to the understanding of the social dynamics and its layers in Jordan.
3.1
Amman’s historical development
Tracing the historical attraction of incomers to Amman is linked to its historical growth patterns as Amman is “a passage and a campsite”, as one of its former mayors had put it (Shami & Hannoyer 1996). Both Findlay (1986) and Biegel (1996) observe how the growth of Amman has been influenced by a clear political aspect (Potter et al. 2009). Starting in 1860s, under the rule of the Ottomans, Circassia tribes, Muslims escaping religious prosecution from Russia, settled on Amman’s ancient site, mainly around the borders of the seasonal stream (Ali 2017). One of the most dominant waves in Amman are the Palestinian refugees and migrants who came during two main political conflicts. The year 1948 maps an important year for the Arab world in general as the Nakba in Palestine was happening, this led to one of the main migrant waves that arrived in Jordan and especially Amman. Palestinian refugees were escaping because of the foundation of the State of Israel, and many of them moved to Jordan (Kadhim & Rajjal 1988). The second major wave of refugees arrived in Amman after the Six Day War in 1967 between Israel and the Arab states of Egypt, Syria and Jordan (Kadhim & Rajjal 1988). The Palestinian refugees integrated well in the Jordanian community, obtaining Jordanian nationalities, and are now considered local groups. The 21st century brought a phenomenal growth of the urban area in both size and significance. The Iraqi War in 2003 brought a large influx of Iraqi refugees to Jordan, most of 157
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whom reside in Amman. The numbers and circumstances of Iraqis in Jordan is very hard to map, as different authorities have recorded different numbers as the Iraqis are divided into both residents and refugees. Most of the incomers were treated as “guests” and not refugees. The incoming Iraqi population was mainly viewed as an economic opportunity to Jordan and Amman specifically (Bel-Air 2016). The following and most recent wave was due to the Syrian refugee crisis, which had an essential and lasting impact on the urbanism of Jordanian cities, on a physical, economical, and social level (Alloway 2016). With about 178,000 registered Syrian refugees in Amman alone, the city is the second-largest host of refugees per capita in the world (UNHCR 2016). This dynamic, along the economic growth resulting from economic migrants had led to “[d]rastic growth spurts that have transformed the look and feel of the city and its connections with the outside world” (Al-Asad 2005; Potter et al. 2009). Figure 1 shows the current ratios of different nationalities in the city.
Fig. 1
Distribution of nationalities in Amman Source ((Census of Population and Housing 2015, 2015) 2015)
3.2
Overview on the Jabal Al-Hussein neighborhood
The research will be concentrating on Jabal Al-Hussein, a neighborhood in the middle of Amman with a rich history and an ever-changing structure. Jabal Al-Hussein’s importance varied throughout the years. Its location was and still is a strategic point for both residents and activities as it is highly connected to both downtown and many important landmarks and neighborhoods over all of Amman. Other than its location, social attributes like the existence of a refugee camp in the area, the social networks between people there or economic attributes like the rich economic center or the existence of many organizations and centers also play a role in the neighborhood analysis.
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This neighborhood was an extension of the downtown area when it started to be highly populated by residents. In 1951, the Hussein refugee camp for Palestinian refugees was created, this activated the area even more and was a main attraction which brought many residents to it, as it became an economic (market) hub in the area. In the 1980s, the area stared growing as an economic hub with the main market (Al-Hussein Market) which was a destination for people from all around Amman. The neighborhood changed after 1991 when returnees came back from the Gulf War and new residents settled in Jabal Al-Hussein, which boosted the area as they were considered to be well-financed groups. This in turn boosted the real-estate prices, along with shifting Jabal Al-Hussein to become one of Amman’s élite neighborhoods. However, at the start of the 21st century a sense of regression emerged throughout the area. The neighborhood was considered more middle to lower class and the wealthy residents moved to other neighborhoods. The neighborhood then became one of the centers for refugee settlement after the turn of the century, along with the Palestinian immigrants. However, the neighborhood stands as an overcrowded common neighborhood today and the social structure is fully changing and shifting (Ali 2017). Figure 2 shows the layout of the neighborhood Jabal Al-Hussein in the urban setting of Amman. It further shows the high density it encompasses including the Palestinian refugee camp.
Fig. 2
Jabal Al-Hussein Visual Image, Source Map (GAM_GIS, 2018); photos: taken by the authors in 2018)
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Accordingly, the area has been growing rapidly and has received many new groups. This neighborhood created an opportunity to understand the parameters of heterogeneity in Amman, and an insight to the most recent wave of Syrian refugees.
Fig. 3
Demographic Data of Jabal Al-Hussein (Census of Population and Housing 2015, 2015)
4
Methodology
We used a mixed-methods approach to develop and validate the results. The qualitative approach was illustrated in grounded theory analysis where interviews were coded and categorized to ensure the indicators and categories to be as accurate as possible. To validate the results, we used a quantitative questionnaire and co-related the results within the study. The qualitative methods were grounded theory interviews, interviews with experts, and semi-structured site observations. With grounded theory, theoretical sampling was used, a sample was analyzed and its results were evaluated, then leading to another sample with minimum contrast, and upon repetition, we analyzed samples with maximum contrast to ensure a coverage of all samples. Forty interviews were conducted accordingly. The data was coded into open, axial, and selective coding; further categorized and then developed into core categories, which was further studied quantitatively. The quantitative methods were illustrated in a stratified sample questionnaire, built upon the codes and categories resulting from the interviews. The strata were based on locational and nationality distribution, and the sample had 400 questionnaires. Another survey was conducted with the local market shop employees, during which 25 shops were visited to further understand the economic co-existence patterns.
The notion of migration in Amman
Fig. 4
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Research Design Source (Authors 2019)
After this data was collected, coded, analyzed and verified, we will triangulate the data collected in order to develop it further into a strategic approach for planning, taking into consideration both local and governmental needs and aspirations. We categorized all the data from the interviews into codes, categories and core categories, reaching core categories, both social and economic, as explained further in this research.
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Analysis and Discussion
On top of the above-mentioned methods, we focused on two main attributes within the analysis: the social and the economic. The former covers social coexistence, social tension traces, and cultural blooming in dynamic cities. Whereas the latter covers the employment attributes, micro economy, emerging economic traces, and illegal economic traces.
Fig. 5
Focus of the analytical research (Authors 2018)
5.1
Social core categories
A core category that was highlighted by the analysis is the definition of co-living in the urban hub. Sociality is especially important in a space, therefore, understanding the social dynamics impact is essential in this regard.
5.1.1
Social co-existence
The analysis showed clear results regarding the co-existing and acceptance of others in Jabal Al-Hussein. Clear acceptance and integrative norm in most of the neighborhood was obvious. However, limited levels of interaction between the different “nationality” groups in the neighborhood do exist. A local man stated concerning migration and refugees in Amman: “of course, the migrants are welcome here, we all come from the same soil in this nation, the Syrians and Iraqis are our siblings before neighbors. Yet with that being said, I can’t see us being more interactive with them as they have different mentalities, different customs and living conditions, I have them as neighbors, we say good morning and that’s it.”
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The questionnaire reveals that 32 % of the sample has no issue with interacting with the others, and that they are willing to cooperate with the other groups in the area. This shows that the neighborhood is not facing any real racial intolerance. However, a tricky aspect comes to light with the majority, as 40 % stated that they only interacted inside the neighboring or working environment – this might indicate existing barriers between society groups and sub-groups.
Fig. 6
Level of interaction between the local community and migrants in Jabal Al-Hussein (Author 2019)
Similar opinions to the aforementioned present the acceptance and welcoming approach, resulting from both qualitative and quantitative methods. Yet, some opposing opinions were traced. Sample of the statements by local inhabitants living in Jabal Al-Hussein are, “we now have a lot of visitors … to the point that the neighborhood is no longer for Jordanians, I don’t see this as a crucial issue, but what is crucial is the fact that they are taking our jobs and our income. Of course, they need it but it shouldn’t be an either-or situation, now we are losing way too much economically.”
Apart from this existing status, another issue emerges concerning the level of interaction between different groups a typical discussion that could be heard is the relationship between the same group members within a social setting, as they usually show traces of solidarity that can form a base for their existence and co-existence. The main driver for both locals and migrants was being near family and friends (same group members). We analyzed the spatial distribution of ethnic groups in the neighborhood 163
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Maram Tawil and Lubna Alawneh
and the survey tried to map ethnic concentrations. Even though specific minor concentrations of specific groups existed in the area, this did not reach out to creating migrant hubs. Moreover, even the social solidarity between the groups shows that both the locals and same group members are mostly helpful in guidance and support the newcomers upon their arrival. The results also show that the locals are more interactive within the aspect of having partnerships and businesses.
Fig. 7
Graph showing the social solidarity in Jabal Al-Hussein (Authors 2019)
5.1.2
Cultural bloom and dynamic
A noticed response to the emergence of migrants in Jabal Al-Hussein is a clear Social openness and transformation in social norms which are clear and profound impacts on the migrants in Jabal Al-Hussein. This has become evident upon the emergence of new mentalities in the neighborhood, and their impact on the beliefs and social norms in other groups. Statements of the residents and the local community have varied from opposing the newcomers and their social impact on the original community to having residents and locals who believe they had great impressions on the matter. A pro statement was articulated in such as, “nowadays, Jabal Al-Hussein has many new personalities and mentalities. It really made us grow, many of the costumes and traditions.. being subjected to new groups made us realize that some traditions are not as beneficial as we thought the new arriving groups turned us into more open-minded personalities and mentalities.”
On the other hand, an older lady was against the “new residents”, stating that “each group has their own personality and perceptions. They affect our little girls a lot. Now they want to dress like them and look like them, while none of this is how we were raised.”
The notion of migration in Amman
5.2
165
Economic co-existence and dynamics
Within an economic point of view, two main issues could be seen: the distribution of employment and the development of new business type.
5.2.1
Employment and the job market attributes
Unemployment and the distribution of employment opportunities is a key code not only in Jabal Al-Hussein but also in all of Jordan. To understand the employment sector here, many issues need to be understood. The first issue is how many of the people are unemployed, so an analysis of the area was conducted and it shows that one third are not working as can be seen in Figure 8, this could partly be due to the percentage of refugees who are unable to work and women who are staying at home.
Fig. 8
Distribution of Employment of the sample (number of responses) (Authors 2018)
To understand the unemployment and rhythm of the city, the results showed that the majority both lived and worked in Jabal Al-Hussein or adjacent areas. It is also an interesting point that the majority of the sample stated that they were able to find their jobs through personal and family connection (“wasta”) rather than traditional applications. Figure 9 shows that a major part works and lives in the neighborhood.
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Fig. 9
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Location of Employment area of the sample survey and the relation to their residential location (Authors 2018)
The competition for job opportunities is a major issue in Amman’s neighborhoods. A study created by Al-Ghad (2017) shows that there are three main reasons for high unemployment rates in general. One of the points was the competition between Jordanian and non-Jordanians on the labor market. It is worth noting that the latest study by (Census of Population and Housing 2015, 2015) shows that the economic activity for non-Jordanians (42.1 %) is higher than the one among Jordanians (39.1 %). Non-Jordanians are mainly Syrian migrants; this could be a reflection of an outcome from the London conference during which Jordan agreed to provide them with 200,000 job opportunities (Algad 2017). In Jabal Al-Hussein, the key issue was the fact that employers are replacing locals with refugees as they agree on lower wages. This issue was mapped significantly through the interviews. Figure 10 illustrates this perception of the community regarding employment in Jabal al-Hussein nowadays.
The notion of migration in Amman
Fig. 10
167
Situation analysis of employment in Jabal Al-Hussein (Authors 2018)
A local man was stating in this regard, “Many Syrian refugees are now replacing the Egyptian labor and the locals. I think in the case of Egyptians, the government is steering it that way by making it so hard to obtain a work permit, however, most of the refugees are working in the food industry, retail shops and car mechanics.”
It was possible to come up with four main causes from the interviews that caused the shift and replacement in the blue-collar work force: the lower wages that refugees and migrants agree upon. Furthermore, they tend to stay longer at the same job, something that Jordanians lack as they keep looking for better opportunities, wanting to climb the social ladder. As a third reason, the Syrians avoid any trouble, as they are always cautious of legal problems.
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The last point that could be captured from the survey is that shop owners view migrant groups as better salesmen as they are “nicer to customers”.
5.2.2
Micro economy
Two main issues become evident during the analysis of the economic market in Jabal Al-Hussein: a drawback in the local market and the emerging new economies that appeared due to heterogeneity in the neighborhood. As for the situation in the local market, the interviews showed that the economic situation in Jabal Al-Hussein is going downhill. Most agreed that it was decreasing because the regional economy is facing a crisis. However, on a more localized level, the local shop owners stated a clear lack of Syrian migrants’ consumption of daily supplies, clothes, and medical services. When further investigated, we found that, due to the coupons given by the UNHCR and other NGOs, migrants usually went to chain hypermarkets where the coupons are valid. On a health level, many preferred going to a public health center for the lack of health insurance and lack of finance. Figure 11 shows the advertisements for the coupon places of use.
Fig. 11
Example of Hypermarket food program signage (Authors 2018)
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5.2.3
169
Emerging economic attributes
During our research, we traced new job typologies. Some were productive (like opening ethnic businesses and home employment), while others are unfortunate (like child labor and illegal employment). Ethnic Businesses A clear attribute that is evident in Jabal Al-Hussein is the number of diverse ethnic businesses opening up. Residents mentioned it frequently in the interviews, and shop owners argued about it. When the residents were asked about their observation of a new phenomenon, over 250 of the sample mentioned observing the emergence of ethnic businesses as shown in Figure 12.
Fig. 12
Existence of Ethnic Businesses in the research setting (Authors 2018)
Accordingly, we tried to map the ethnic businesses in order to evaluate their distribution throughout the neighborhood. Four main types of ethnic businesses in the area could be found: ethnic foods and restaurants, this could be either an ethnically operated shop or an ethnic brand operated by local, retail shops that are related to a specific ethnicity, and, finally, partnership shops between Syrians and Jordanians. The nationalities of migrants’ businesses along with sample pictures are shown in Figure 12.
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Home Businesses The phenomenon of home businesses is also very visible nowadays among both locals and refugees. A variety of jobs from cooking to cleaning is being promoted from home. This is usual in the female community while their partners or family members work away from home. The researcher asked the sample about this phenomenon and the results show that the majority had observed this aspect, and they believe it reflects on multiple nationalities practicing it as shown in Figure 13.
Fig. 13
Existence of home businesses in the area and their nationalities (Authors 2019)
This was also validated through differentiated methods, as through interviews, a local lady explained: “We cook, clean, sow, whatever is needed, the crisis left our husbands without a job, we have to act upon it and work.” Moreover, a Syrian refugee said: “Us Syrians, we have a special cuisine, and it is very desired here in Jordan, therefore we cock, prepare the food, the canned products, and even event catering from our homes.” Child labor Child labors observed in Jabal Al-Hussein can be put into two categories: the employment of kids at the weekend or the full-time child labor. It is clear how inadequate this phenomenon is to the development of multicultural communities. However, it is observed by residents but could not be properly mapped or investigated. For the former category, it could be a social habit as the fathers bring their sons to work in order to teach them responsibility and commitment, which is not considered to be a type of child employment. As for the latter category, that is an actual employment. Residents argue that it emerged during the last ten years due to poor living conditions and the waves of migrants. The survey showed that 46 % of the research sample noticed that this phenomenon existed in the neighborhood.
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Fig. 14
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Graph showing the ratio of community believing of the existence of child labor (Authors 2018)
As for the typology and nationality of employed children, the sample showed that around two thirds are Syrian migrants, while the others are mainly Jordanians. In understanding the reasons for this phenomenon, the interviews showed that the main cause was the economic conditions. The lack of awareness was not an issue but the people argued that, once a person is extremely poor, they could not logically evaluate the consequences. An interview with a man in Al-Hussein camp stated: “The camp is filled with child laborers, they usually operate as assistants for specific trades like bakery or car shops or such, we all know this is wrong and unfair for them but their employment could be the only source of income for their families.” Illegal employment This phenomenon was largely observed by the residents at the beginning of the refugee crisis, and it still shows traces until today, even though the government legalized work permits. A lady who works in the commercial district in Jabal al-Hussein stated: “There were a lot of illegal workers here, mainly refugees who didn’t issue a work permit, whenever the authorities came for an inspection, they would leave through the back doors, so that the job owner doesn’t get into trouble.” During an interview with an Iraqi refugee, he stated that, “for us Iraqis, it is very hard because the penalty is really high and the second penalty would be deportation, that’s why we can’t risk working illegally her in Jordan.” We were not able to map this phenomenon precisely as an immediate tension from the side of the employers was noticeable once an interview with workers was conducted. This has led – in some cases – to the termination of the interview by the employer, when conducting interviews with some non-Jordanian workers. We also noticed in other cases a clear Syrian dialect, even though the worker had stated that they were Jordanian.
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Results and Strategy Development
Noticing the different backgrounds, needs and aspirations of the community members in Jabal Al-Hussein, a step into identifying community typologies is seen as important in approaching and forming responsive and tailor-made strategies for such a multicultural heterogeneous community. The characteristics of the interviewed people were set regardless to their demographic or ethnic backgrounds but rather according to their stands in the community and their personalities and values in the community they residing in. Table 1 shows these resulting typologies from which the further development can take place.
Table 1
Typologies of users in Jabal Al-Hussein as research results (Authors 2018)
Type Type A
Typology Economically driven
Type B
Oriented towards local economic development
Type C
Segregated co-existing type
Type D
Legally restricted
Description and characteristics • Oriented towards economic development and benefit regardless of co-existing groups • Believes that a beneficial social group is the economically effective groups • Is unconcerned for the socio-politics of space rather economy • Do not believe that emerging social groups are a productive addition to economy • Believes that even though incomers brought resources, it effects negatively on other scales • Indifferent about social or political aspect • Believes that each social group is co-existing but not interacting • Indifferent with each emerging group • Uninterested in interacting on deeper levels, only daily small talks, and believes other social groups to be uninterested as well • Is a potential resource for the city • Highly self-developing • Usually restricted due to social or political aspects
The emergence of the typologies mentioned above allowed us to remove ethnic concentrations and try to understand the users as inhabitants of the same space. This will allow a more directed approach towards development of the community with the migrants rather than the usual temporal development of the living status of the migrants.
The notion of migration in Amman
6.1
173
Key findings and results
The main findings from the survey and analysis is the acceptance and readiness of the local communities to receive migrants and coexist with them in the same setting. This guides the research to introduce a new perception and therewith introduce urban policies in a new way considering the migrants as part of the community with their skills and new cultures. To verify this statement and ensure this result, we concluded the testing process by conducting a small online survey distributed randomly among Amman’s residents via social media to ask about their perception of Amman. The sample was 800 people and the results were as shown in Figure 15: a majority believing and perceiving Amman as a heterogeneous setting.
Fig. 15
Graphs showing the general perception of Amman population stating its heterogeneous character (Authors 2019)
According to the analysis of the neighborhood, it is profound that Amman is acting as a unique heterogeneous hub. Amman is set as a transit country for some groups, a destination for others, and even something like a terminal for some. Each person’s situation is different and ever-changing. Many were planning to stay for shorter periods and ended up investing into the country, therewith, staying longer. Amman has proven to be a changing city; a key clash in its development would be if the development were not correspondent to this change and dynamics. This highlights the need for new alternative approaches than the traditional, previous planning approaches, which could ensure a harmonious co-existence, for both temporary and permanent settlements.
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6.2
Maram Tawil and Lubna Alawneh
Strategy development
Different needs may require altering the tactics to some extent. Accordingly, it is vital to identify the stakeholders in the process, the priority strategies and tactics as well as a specific timeframe, and ensure flexibility in both strategies and tactics. As concluded from the analysis, two main core categories taken from the analysis are social and economic layers that create the setting and have the potential for the development of it in a more integrated sense. This paper proposes four main strategies, for the development of a heterogeneous Jabal Al-Hussein, and therewith, a strategic level of developing Amman as a heterogeneous community. Figure 16 illustrates the different strategies built upon the typology differentiation of the community.
Fig. 16
Proactive strategies of the neighborhood Jabal Al-Hussein (Authors 2018)
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Strategy A: Facilitating an economic link in order to increase the local and regional economy The first strategy is within the economic development. It emerged from the need to incorporate new employment potentials as the availability does not meet the need. However, Amman’s economic dynamics and capabilities suggest that it would benefit if it were extraverted and connected with the surrounding areas. Therefore, the focus should shift on connecting this area with other potential areas or resources, along with the improvement of the situation in the neighborhood. Strategy B: Develop new job generator alternatives co-respondent to technology This strategy is more extroverted and needs less space as the technological or “out of the box” depth could add up to new economic potentials. We are proposing the use of technology and wireless communication in order to create job alternatives for people (may not only apply to residents of Jabal Al-Hussein). For example, some jobs require a minimum amount of equipment but could translate globally – as other nations in the world have already shown. Therefore, the tactic includes creating global links within the networks to employ locals in “trained professions” globally, such as call-centers or in offices. Strategy C: Creating a flexible approach in development that is proactive and responsive to change As discussed in the analysis, Amman’s dynamic history and current mobility is causing many of the emerging transformations. Therefore, we believe that creating flexible local and international networks can help expand whenever the needs require to, and shrink whenever the supply is larger than the demand. Accordingly, we are proposing three tactics for this: shifting the role of international agencies in the process, creating regional agreements of co-response to events, and creating a solid framework for emergency plans. Strategy D: Building belonging and co-existence norm through positive interactions The last strategy is a social strategy and aims to connect the heterogeneous community with a platform of acceptance and understanding of others. Here we propose three main tactics: raising awareness of heterogeneous integration, initiating a semi-formal entity representing all layers of society and acknowledging that integration can take a long time.
7
Conclusion
Heterogeneous communities is a result in Amman’s communities. They are shaping the society nowadays and urban policies shall be targeting communities and development considering this fact. Consequently, new innovative approaches must take place to deal with the socio-economic dynamics currently challenging the city. Based on that, the proposed strategies resulted from the locals’ and immigrants’ needs, aspirations and priorities – perceiving them as one heterogeneous community.
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Rethinking the neighborhoods and the city with a heterogeneous perspective does not neglect the characteristics, legal situation, and aspirations of each group. It also does not implicate that the residents are permanent. Rather, it deals with the current complexity in a more flexible and responsive approach, bringing in overarching frameworks within which the community – regardless the ethnicity of its residents, but rather their potentials and skills – can find their way and bring in a better development for the whole neighborhood and thus city. Moreover, the formulation of developmental strategies in such a heterogeneous setting and addressing development in it shall respond to society’s changing character and shall meet a different typology set for said community. It is important and crucial in this research to shift the attention of the demographic characters of the community towards the prevailing differentiated typologies based on thinking processes and values.
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Historische Stadtkerne im goldenen Ring, Russland Gedanken und Erfahrungen aus einer anderen Zeit Friedrich Wolters
Es war 1992, die Zeit der Umbrüche in Russland. Wir reisten mit einer Delegation der Landesregierung NRW nach Moskau in ein fremdes Land. Beschirmt und beschützt und geleitet. Staatssekretär, Ministerialbeamte, ein Stadtdirektor als Vertreter der Arbeitsgemeinschaft historische Stadtkerne und zwei Vertreter einigermaßen freier Architektur- und Stadtplanungsbüros. Dem Bericht vorausgeschickt werden muss an dieser Stelle, dass die Landesregierung NRW bereits Jahre vor unserer ersten Exkursion freundschaftliche Kontakte mit Moskau aufgebaut hatte, welche die Grundlage für unsere spätere Tätigkeit sein sollten.
Abb. 1
v.l. Minister Christoph Zöpel, Wolfgang Roters, Minister Stanislav Nikolajewitsch Sabanejew, Vorsitzender Staatskomitee für Bauwesen der Russischen Sozialitischen Föderativen Sowjetrepublik, Foto: Fotoarchiv Roters © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_11
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Im Gepäck hatten wir neben kleinen Geschenken im Wesentlichen Erfahrung und Wissen unserer Tätigkeiten im Kontext der Aufgabenstellungen der historischen Stadtkerne in NRW. Der Weg ab Moskau wurde uns von Vertretern des Ministeriums für Bauwesen der russischen Föderation – MINSTROJ – bereitet. Wir hatten auch die städtebaulichen Umbrüche im eigenen Land, besonders in NRW, hinter uns gebracht, als die Verantwortlichen im damaligen Ministerium für Stadtentwicklung, Kultur und Sport – MSKS – die bisher „kultivierten“ Datenfriedhöfe einfroren. Sie führten die sach- und fachkundige Erforschung der Planungsgebiete vor Ort und die Beteiligung der Bürger schon zu Beginn der Arbeit ein und forderten das Zuhören und ganz Besonders auch das Sehenlernen ein: Wir erlebten auf unserer Expedition nach Moskau, Pskow, Twer, Torshok und Kaschin die große Weite der Städte und Dörfer sowie die Ungeheuerlichkeit der russischen Landschaft.
Abb. 2
Silhouette Torshok 2006 Foto: Friedrich Wolters
Wir verglichen die Dimensionen der deutschen Planungsriesen wie z. B. der Neuen Heimat mit den russischen Planungsbüros, die jeweils über einige tausend Mitarbeiter verfügten. Wir fühlten eine gewisse Ratlosigkeit bei diesen unglaublichen Dimensionen im Vergleich zu unseren kleinen Teams. Anlässlich eines Besuches bei MOS-Projekt II erläuterte Abdullah Achmedow, dass MOSII mit seinen vielen Mitarbeitern das Entwurfsbüro von Moskaus Chefarchitekten sei und er diese unglaubliche planerische Aufgabe für diese 12-Millionen-Stadt bewältigen musste.
Historische Stadtkerne im goldenen Ring, Russland
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Abb. 3
Antaloi I. Winogradow, Chefarchitekt beim zentralen Forschungsinstitut für Städtebau in Moskau Foto: Kingler, 1966
Unsere Städtebauexpedition wurde von Anatoli I. Winogradow auf russischer Seite beschirmt. Ein erfahrener Planer, aber auch ein Spezialist, der in der alten Sowjetzeit groß geworden war. Eben jener junge, dreiunddreißigjährige Anatoli I. Winogradow, Chefarchitekt beim zentralen Forschungsinstitut für Städtebau in Moskau, referierte bereits im September 1966 auf dem internationalen Baukongress in Essen vor rund 800 Teilnehmern über die Stadterneuerung in der UDSSR – auf Deutsch! Im Jahr 1966 war Moskau bzw. Russland noch hinter dem eisernen Vorhang geheimnisvoll verschlossen.
Abb. 4
Masterplan östliche Innenstadt Torshok Entwurf/Zeichnung: WoltersPartner 181
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Im Laufe unserer Planungstätigkeit in den 90er-Jahren in Russland wurde Winogradow zum Förderer und Freund. Als wir später die Diskussion über die Größe der Küche im Hotel am Palastplatz in Torshok führten und wir über die Dimensionen der russischen Bauvorschriften stritten, sagte ein Torshoker Kollege, dass dieser Küchenerlass von Winogradow ausgedacht und entwickelt worden sei. Wir lernten, dass eine komplizierte Lagerhaltung, auch während des russischen Winters, zu diesen uns unbekannten Dimensionen führte. Zwischen Torshok, Kaschin, Twer und Pskow lernten wir die unterschiedlichen Stadtgrundrisse, die Typologien der jeweiligen Gebäude und die für die Russen so unverzichtbaren Silhouetten ihrer historischen Stadtkerne im Ansatz kennen. Als unsere städtebauliche Exkursion im Juni 2002 endete, stand ein Projekt fest, das uns in den Folgejahren weiter begleiten sollte und Wolters Partner zehn lange Jahre in unterschiedlichen russischen Städten in Atem hielt. Zum Ende dieser ersten Russlandreise wurde zwischen dem MINSTROJ, dem MSKS NRW und der Arbeitsgemeinschaft historische Stadtkerne NRW ein Paket geschnürt. Für folgende Städte wurde im Bunde mit russischen Spezialisten und deutschen Planern und Architekten eine Zusammenarbeit vereinbart: Pskow, Schröder Bavaj, Aachen; Twer, Pesch und Partner, Herdecke; Torshok, Wolters Partner, Coesfeld; Kaschin, Schmitz Aachen GmbH. Es wurde stets vom „goldenen Ring“ gesprochen, aber nur einige der uns zugewiesenen Städte lagen innerhalb dieses touristischen Verbundes. Später kamen noch Kostroma und Susdal dazu sowie Galic, die Gebietshauptstadt im Gebiet Kostroma. Galic wurde vom Büro Miksch und Partner, Düsseldorf betreut. So war der sogenannte „goldene Ring“ eher ein Stellvertreter für den Zusammenschluss der historischen Stadtkerne, die dieser „Marke“ im weitesten Sinne zugeordnet werden konnten. Die Arbeiten der Büros, die 1993 zeitgleich starteten, waren solide und fanden ohne Experimente statt. Dennoch war die Konkurrenz der Moskauer Planungsspezialisten spürbar. Wir kamen in ein fremdes Land und wurden gleichzeitig mit deutscher Geschichte konfrontiert. Jeder so, wie er es wollte und sich darauf einließ. Die Russen waren in dieser Hinsicht nie drängend oder fordernd. In Torshok waren schon 1942 deutsche Bomben gefallen und hatten ihre Spuren hinterlassen. Jahre später wurde das Büro in Rostow am Don im Zuge eines Projektes mit vielen gravierenderen Kriegszerstörungen konfrontiert. Neben dem Wiederaufbau des Gorkitheaters (in Form eines Traktors) in der Architektur der 1920er-Jahre hat die Kernstadt zwar ihre großartige Exposition am Don behalten, aber die unsägliche Bombardierung durch die deutsche Wehrmacht legte 1943 die Stadt in Schutt und Asche.
Historische Stadtkerne im goldenen Ring, Russland
Abb. 5
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Gorki Theater (Architekten W.A. Schtschuko, W.G. Gelfreich, u.a., errichtet zw. 1930 – 1935), Rudolf Wolters anlässlich einer Besichtigung der OT Einsatzleitung, 1942 Foto: Nachlass Rudolf Wolters, Landesarchiv Berlin
Die frühen 90er-Jahre in Russland waren von politischen Großereignissen geprägt: Gorbatschow und Schewardnadse, später dann auch Jelzin. In diesen Jahren wurden auch Fremde im fremden Land zu Freunden. Der „Eiserne Vorhang“ hatte sich gesenkt oder gehoben, je nachdem wie man es sah, und eine große Hoffnung auf ein Europa mit Russland wurde insbesondere für Deutschland zur großen Chance. Horst Teltschik beschreibt in seinem Buch Russisches Roulette – Vom Kalten Krieg zum Kalten Frieden (München: C.H. Beck, 2019) glaubhaft die damaligen Möglichkeiten und vertanen Chancen. Die Schießereien im „Weißen Haus“ in Moskau lagen hinter uns und wir hatten in jenen Tagen über die guten Verbindungen zu vielen Behörden und Ministerien in Moskau, beschützt von der NRW Landesregierung, einen unglaublichen Einblick in die inneren Strukturen eines Teils des Zentrums der Macht. In dieser Zeit spürten wir auch, wie die russische Kultur von den westlichen Errungenschaften überformt wurde. Damals entstand auch der tiefsinnige Satz von Jelzin, er wolle nicht, dass sein Land zur Sneakers-Republik verkomme. In jedem noch so kleinen Dorfladen oder Büdchen konnte man mittlerweile Cola oder Sprite kaufen, aber eben keinen Qwas mehr, das traditionelle Brotgetränk. Bis heute hat sich das Land von diesen westlichen Errungenschaften nicht erholt. Die alten Frauen, die an jeder Straßenecke in 183
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Moskau wunderbare Salzgurken und Piroggen verkauften, sind zugunsten von Coca-Cola usw. längst verschwunden. Die großen Moskauer Planungsinstitute lösten sich langsam auf und die Entscheidungsfindung auf lokaler Ebene bei den Städten, die auf ihre eigene Geschichte zurückblickten, wuchs beständig. Neben unseren Projekten wurden wir auch immer „Botschafter“ der NRW Landesregierung. Neben den historischen Stadtkernen mit ihren russisch-deutschen Planungsgruppen wurde auch eine Gruppe zum weichen Tourismus etabliert. Erfahrene Touristiker wie Wolfgang Mankel und Johannes Friedrich Engel, die nach dem Vorbild des Club Méditerranée, den Robinson Club erfanden, leiteten die große Hoffnung auf einen weichen Tourismus in Mittelrussland ein. Zu diesem Team gehörte auch der eindrückliche Schweizer Kommunikator Jost Krippendorf, Spezialist für einen sanften Tourismus. Das sogenannte russische Clubdorf stand in den Startlöchern und wurde durch Beratungen des österreichischen Holzbauarchitekten Josef Kiraly unterstützt. Hubert Berninger, der nach den Entscheidungen zum NATO-Doppelbeschluss aus der Bundeswehr ausgeschieden war, ging als Pfadfinder versuchsweise für einen Winter in die russische Landschaft, um die Überlebenschancen bei Eis und Schnee unter einfachsten Bedingungen in einem Holzhäuschen bei einer russischen Familie zu testen. Nicht nur der sogenannte Russische Club, der damals gegründet wurde, lebte noch, solange Wolfgang Roters schützend und belebend seine Hände über die Russlandaktivitäten des Ministeriums in Düsseldorf hielt. Professor Jost Krippendorf kommunizierte Hüben wie Drüben. Im Laufe der Jahre wurde dann auch die Arbeitsgemeinschaft der historischen Stadtkerne in Russland gegründet. Es folgte eine intensive Zeit voller Konferenzen in Mittelrussland und Nordrhein-Westfalen.
Abb. 6
Antaloi I. Winogradov, Präsentation von Studentenarbeiten der TU Wien in Twer, 1996 Foto: Friedrich Wolters
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In Moskau gab es Begegnungen mit Vertretern von INREKON, einem der großen Planungs- und Architekturkombinate, die zu Beginn unserer Tätigkeit in den historischen Stadtkernen Planungen vorlegten, die mit außergewöhnlich monumentalen Gedanken die historischen Gebäudestrukturen überformten. Mit der Zeit erkannten die Beteiligten unseren Gedankenansatz zur „kritischen Rekonstruktion“ im Sinne von Josef Paul Kleihues. Das Büro von Dr. Pesch legte zusätzlich ein deutsch-russisches Wörterbuch der Fachausdrücke vor, welches eine gewisse Klärung der Begrifflichkeiten ermöglichte.
Abb. 7
Zeichnung Hotel am Palastplatz, Torshok; Entwurf/Zeichnung: WoltersPartner 1993
Modell Hotel am Palastplatz, Torshok Foto: WoltersPartner 1993
Olga Petrotschinina organisierte Begegnungen mit dem Sohn des berühmten Architekten Ivan Illich Leonidow in Moskau, in einer Wohnung in einem mehrgeschossigen Gebäude weit außerhalb des Gartenringes. Der bereits betagte Sohn Leonidows verwaltete in seiner kleinen Wohnung riesige Pappmodelle, Pläne und Kollagen in rührender, chaotischer Ordnung. Erst Jahre später organisierte die Architektengruppe um Olga Petrotschinina und Tofik Magomedow in Twer eine Ausstellung mit Leonidows Arbeiten. Jahrzehnte später stellte auch Rem Koolhaas Leonidows Entwürfe in einer Ausstellung in Moskau vor. Der Besuch bei Abdullah Achmedow war ein Schlüsselerlebnis. Ein Ausflug über mehrere Treppen in einem grauen Verwaltungsgebäude des trostlosen und beklemmenden baulichen Allerleis und ein Vorraum, dessen Eingangstür mit einem weißen Gipskarton-Tympanon standesgemäß markiert war. Abdullah Achmedow führte durch die Modellräume voller grandioser Arbeiten.
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Abb. 8
Abdullah Achmedow Foto: Bildarchiv Dom Publishers, Verlag Phillip Meuser
Architekturbeiträge postmodern, modern, klassisch, weltstädtisch. Ein eindrücklicher Austausch mit einem international berühmten Architekten. Eine Begegnung von großer Kraft, aber auch der Auftritt eines bescheidenen Mannes, der kein Rad wie ein Pfau schlagen musste. Nahezu zeitgleich ein Besuch bei Alexander Skokan im Innenstadtquartier Ostoschenka in Moskau, das Skokan mit seinem Team als Quartiersarchitekt betreute. Es war wohltuende bauliche Disziplin im historischen Kontext – eine Projektphilosophie wie in den guten Zeiten in NRW. Mitte der 90er-Jahre waren alle Projekte von den Büros vorgestellt und abgeschlossen. Die Präsentationen fanden anlässlich vieler Konferenzen in Russland statt. Wolters Partner intensivierte die Kontakte in Russland.
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Abb. 9
Projektpräsentation Kostroma-Konferenz, 1994 v.l. Stefan Weiß, Friedrich Wolters, Wolfgang Roters Foto: Archiv Roters, Düsseldorf
Das Waisenhaus in Torshok war mithilfe eines Hilfswerkes in Coesfeld und Twer stabilisiert worden. Später entwickelte der Lions-Club Coesfeld dieses Hilfswerk in die Stiftung „Der Blaue Elefant“, die seit über 25 Jahren eine Erfolgsgeschichte auch zur Völkerverständigung ist und bis heute besteht.
Abb. 10 Kinder und Erzieher*innen Waisenhaus Torshok, 1993
Foto: Friedrich Wolters
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Der Versuch, den Bürgermeister in Torshok davon zu überzeugen, neben der traditionellen Goldstickerei auch die Bilder des in Torshok geborenen Malers Alexej von Jawlensky in das touristische Konzept einzubinden, blieb erfolglos. Damals fand dieser Vorschlag kein Gehör. Heute, nach über 20 Jahren, ist Jawlensky im Internetauftritt der Stadt Torshok wie selbstverständlich vertreten. Wir versuchen seitdem einmal jährlich ein Treffen mit den ehemaligen Projektpartnern zu organisieren. Inwieweit die Arbeiten der deutschen Büros, im Sinne von Alexander Brodski, zur Papierarchitektur werden, kann noch nicht beurteilt werden. In jedem Fall haben die russisch-deutschen Projekte dazu beigetragen, die Verbindungen zwischen Deutschland und Russland nachhaltig zu stabilisieren. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen politischen Entwicklungen erscheint das notwendiger denn je. Die Erfahrungen, die wir in diesen 90er-Jahren in Russland sammeln durften, sind vielleicht ein Baustein zwischen unseren Ländern. Vorurteile wurden in dieser Zeit auf beiden Seiten abgebaut und Freundschaften geschlossen, die bis heute halten – trotz aller Widrigkeiten.
Abb. 11
Imageplakat für das Waisenhaus Torshok 2006 Entwurf und Ausführung: Friedrich Wolters
Teil 3 Herausforderungen
Interview mit Kurt Biedenkopf und Christoph Zöpel (geführt von Martin Kessler)
Martin Kessler (MK): Was kann ein Doppelinterview von zwei einst führenden Politikern zu drängenden Zukunftsfragen beitragen und leisten? Christoph Zöpel (CZ): Erfahrungen einer langen Teilnahme am politischen Geschehen, zu denen das Erleben politischer Praxis in herausgehobenen Funktionen gehört, sind unverzichtbar für nachfolgende Generationen in allen Bereichen demokratischen Lebens, wenn sie politische Handlungsmöglichkeiten nicht auf aktuelle Kommunikationen beschränken wollen. Dabei waren und bleiben diese Erfahrungen und dieses Erleben zwischen den großen Parteien unterschiedlich, das demokratische Erfordernis dieser Alternativen sollte vermittelt werden. MK: Was verbindet zwei frühere politische Gegner miteinander? CZ: Lassen wir offen, ob der Begriff ‚Gegner‘ den Wettbewerb zwischen demokratischen Parteien und ihren Repräsentanten richtig erfasst. Kurt Biedenkopf und ich haben uns lange vor unseren unterschiedlichen politischen Funktionen in NRW, Biedenkopf Oppositionsführer, ich Minister, an der Ruhr-Universität Bochum kennengelernt. Biedenkopf war Rektor, ich Vorsitzender der Studentenschaft. Bei seiner Einführung habe ich für die Studentenschaft gesprochen. Biedenkopfs Rektoratsrede wurde wesentlich für unser Zusammenwirken. Er hatte aus dem Privileg der Universitätsautonomie abgeleitet, dass die Universität „Lobbyist der Freiheit“ sei. Konkretisiert für die Rechtswissenschaft hatte er postuliert, dass sie sich am Prozess der politischen Willensbildung bei der Rechtsetzung kritisch beteiligen müsse. Bald darauf kam es zu Demonstrationen und Blockaden von Studenten im Widerstand gegen die anstehende Notstandsgesetzgebung. Als Sprecher der Studentenschaft forderte ich im von außen belagerten Akademischen Senat unter Berufung auf Biedenkopfs Rektoratsrede einen, dabei vorlesungsfreien, Informationstag, an dem über die Notstandsgesetze auch von Hochschullehren informiert und dann breit diskutiert werden könne. Zum deutlichen Erstaunen der Mehrheit der Professoren sagte Biedenkopf, ich habe Recht und mein Vorschlag solle akzeptiert werde. Der Informationstag fand in vollbesetztem Hörsaal statt. Dieser Vorgang ist für mich beispielgebend für die Bewältigung von Konflikten in einem demokratischen Staat geworden.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_12
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(geführt von Martin Kessler)
MK: Warum ist Politik in der gegenwärtigen Situation für die Stabilität unseres demokratischen Gemeinwesens so wichtig? CZ: Ohne Politik, sie bedeutet kollektiv bindende Entscheidungen, ist gesellschaftliches Zusammenleben unmöglich. Bei demokratischer Verfasstheit muss das politische System immer wieder verdeutlichen, dass es diese Funktion erfüllt, ohne das gesellschaftliche Zusammenleben zu gefährden – das meint Stabilität. Die Gegenwart ist geprägt von einer wachsenden Weltbevölkerung und globalen Kommunikationsmöglichkeiten für jeden. Das zu ertragen ist für Menschen in Deutschland und in ganz Westeuropa, privilegiert im Vergleich zu der überwältigenden Mehrheit der Weltbevölkerung, eine schwierige Herausforderung. Demokratisch gewählte Politiker müssen das vermitteln und dabei die sozialen Probleme in Deutschland beachten. MK: Herr Biedenkopf, Herr Zöpel, Sie waren in den 70er- und 80er-Jahren die Vordenker in Ihren jeweiligen Parteien. Gibt es eine solche Rolle auch heute? Und wer übt sie aus? Kurt Biedenkopf (KB): Ich mag die Bezeichnung ‚Vordenker‘ nicht. Die Zeiten sind heute ganz anders. Wir haben damals eine Bestandsaufnahme des Gegenwärtigen gemacht und uns gefragt, was sich daraus Neues entwickeln könnte. Dann konnte man arbeiten. Große Programme funktionierten in der Politik höchst selten, weil sie die Menschen nicht ausreichend integrieren konnten, ja sogar an ihnen vorbeigingen. Heute geht es darum, dass viele Länder in Europa nicht handlungsfähig sind und dass der Populismus vernünftige Lösungen verhindert. CZ: Ich sehe, dass die beiden großen Volksparteien nicht mehr für Menschen interessant sind, die in Parteien über Veränderungen reden wollen. Intellektuelle Anstöße kommen heute von außen. Wer als Hochschullehrer oder Intellektueller über gesellschaftliche Probleme nachdenkt, macht das lieber außerhalb einer bestimmten Partei. Das war früher anders. In beiden Parteien gibt es kaum jemand Bekannten, der darüber nachdenkt, was grundsätzlich gemacht werden muss, und wenn ja, stößt das auf Ablehnung durch aktive Funktionsträger. KB: Ich gehe noch weiter. Es gibt derzeit keine Entschlossenheit, die Wirklichkeit zu verstehen. MK: Können Sie ein Beispiel nennen? KB: Wer hätte gedacht, dass in nur 10, 15 Jahren eine neue Technologie in Gestalt der Digitalisierung über das Land rasen könnte, und Zehntausende von Menschen ihre Jobs verlieren? CZ: Gleichzeitig entstehen aber dort neue Arbeitsplätze. Man weiß eben nur nicht genau, wo welche Stellen neu geschaffen werden. KB: Zugleich müssen Sie die Menschen mitnehmen, deren Jobs wegfallen. Das dürfen wir nicht nur ökonomisch sehen. Und vielen fehlt auch die Ausbildung für neue Tätigkeiten. Hier beginnt die Betrachtung der Wirklichkeit, die bekanntlich für jede Politik als Grundlage dienen muss.
Interview mit Kurt Biedenkopf und Christoph Zöpel
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MK: Es wird ja umgekehrt behauptet, dass Deutschland in der Digitalisierung zurückliegt. Der Mittelstand hat Defizite, die Versorgung mit Breitband und Mobilfunk ist unzureichend. Ist nicht das eher das Problem? CZ: Man sollte da nicht alles schlecht reden. An der Universität Bochum gibt es sieben Lehrstühle zu Informationssicherheit, ein junger Wissenschaftler ist dazu aus Harvard zurückgekehrt, weil die RUB besser sei. Das Urteil, Deutschland liegt in der Digitalisierung zurück, ist mir zu pauschal. KB: Und dann frage ich mich, warum es notwendig ist, alle Prozesse in allen Unternehmen zu digitalisieren. Sind die deutschen Unternehmen deshalb weniger wettbewerbsfähig, wenn sie sich auf die neue Technologie stürzen? Wenn ich die Exporterfolge unserer Firmen sehe, halte ich den angeblichen Rückstand für nicht so gravierend. Und wenn ich ins Ruhrgebiet oder nach München schaue, dann ist Deutschland in vielen digitalen Anwendungen sogar vorne. MK: Reden wir über die Folgen der Digitalisierung. Sind wir Deutsche darauf zu wenig vorbereitet? KB: Wir sind eine alternde Gesellschaft. Die USA sind jünger als wir, die Afrikaner sind noch weit jünger im Durchschnitt als unsere deutsche Bevölkerung. Junge Bevölkerungen nehmen die neuen Technologien bereitwilliger an als ältere. Zugleich verlassen viele Hochgebildete unser Land, weil die Entwicklung in anderen Teilen der Erde spannender und produktiver sein könnte. Insofern ist die Politik schon gefordert, die Probleme zu benennen und die Attraktivität der Bevölkerung und ihrer Strukturen in Deutschland zu befördern. MK: Warum findet diese Debatte nicht statt? CZ: Viele aktive Politiker, gerade in den Volksparteien, finden nicht den Mut, die Chancen und auch die Probleme so anzusprechen, dass sie verstanden werden. Wenn Debatten über digitale Probleme nur außerhalb der Parteien weiter an Dynamik zunehmen, dann sehe ich schwarz für die Zukunft der Volksparteien, ja sogar der demokratischen Parteien generell. KB: Und genau hier sieht die AfD ihre Chance. Sie prägt einen Heimatbegriff, der verhindern soll, dass die Menschen von hier fortgehen. Aber die meisten werden durch diesen Begriff nicht daran gehindert. Deshalb ist diese Prägung Unsinn. Gerade Menschen im aktiven Alter kümmern sich nicht so sehr um die Heimat, sondern wollen vorankommen. Dass Rechtspopulisten mit ihren Begriffen von Heimat einen solchen Erfolg erzielen, erfüllt mich mit Sorge. Es zeigt mir zugleich, dass in Teilen unserer alternden Gesellschaft die Dynamik fehlt. MK: Was können demokratische Parteien, zumal die traditionellen Volksparteien tun? KB: Ich darf es Ihnen an einem Beispiel erklären. Ich war mit 60 Jahren finanziell gut abgesichert und konnte mich auf einen erfüllten Lebensabend freuen. Aber ich habe damals gleichwohl das Wagnis unternommen, hier in Sachsen an verantwortlicher Stelle als Ministerpräsident des Landes noch einmal mitzuwirken und Neues zu lernen. Erst zwölf Jahre später habe ich dann die Politik verlassen, weil es zunehmend Intrigen gab. 193
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In einem solchen Klima kann ich nicht arbeiten. Intrigen konnten auch in meiner Partei andere wohl besser. MK: Fehlen solche Politiker heute? CZ: Es gibt und gab zu allen Zeiten Politiker, die den Mut hatten, etwas zu unternehmen – ohne Absicherung. Und gleichzeitig gibt und gab es immer Karrierepolitiker, die vor allem an ihre Posten denken oder dachten. MK: Auf was kommt es an? KB: Die Politik ist in Teilen komplizierter geworden. Wenn zwei große Parteien, in diesem Fall die Union und die SPD, die Strömungen im Land jeweils in ihrem Bereich zum Ausgleich bringen können, ist die Regierungstätigkeit leichter. Koalitionen von drei oder gar vier Parteien brauchen so viel Zeit für Grabenkämpfe zwischen diesen Gruppen und verschwenden damit konstruktive politische Arbeit. Die Folge ist, dass das Publikum sich von ihnen abwendet. Die Kompromisse sind dann kaum noch wirksam und haben einen immer geringeren Wert. Aus solchen Prozessen folgen dann die Ursachen für die Verdrossenheit der Bevölkerung an unseren gegenwärtigen Strukturen. CZ: Deshalb wäre es gut, wenn wieder die Alternative zur Auswahl stünde, ein linksdemokratisches und ein rechtsdemokratisches Lager. Wenn diese Alternative sichtbar ist, verlieren rechts- und linkspopulistische Angebote an Wert. Das ist notwendig für die parlamentarische Demokratie. Die neuen SPD-Parteivorsitzenden Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken haben die Aufgabe, nach der nächsten Bundestagswahl die linksdemokratische Alternative aus SPD, Grünen und Linken möglich zu machen, auch programmatisch. MK: Ist deshalb die Dauereinrichtung der Großen Koalition womöglich ein Totengräber der Demokratie? CZ: Soweit würde ich nicht gehen. Aber der Bundespräsident hätte nach der Flucht der FDP aus einer möglichen Jamaika-Koalition 2017 auch den Wert der Opposition in einer Demokratie erklären können, größte Oppositionspartei ist jetzt die AfD, und die SPD hat den Part eines Juniorpartners in der großen Koalition angenommen. MK: Die Union hat nicht verhindern können, dass eine Partei rechts von ihr in den Bundestag eingezogen ist. Machen Sie sich manchmal Sorgen um die Zukunft der Demokratie? KB: Die Situation ist in Ost- und Westdeutschland verschieden. Im Westen hat die AfD in der Regel nur einstellige Wahlergebnisse. Das ist ärgerlich. In Ostdeutschland ist die Lage anders. Dort fehlt noch eine über längere Zeit entwickelte Akzeptanz der Demokratie. In 30 Jahren kann man dieses Defizit nicht ausgleichen. Deshalb sind die Erfolge der AfD besorgniserregender. MK: Vielleicht wurden die Werte der Demokratie nicht ausreichend vermittelt? KB: Das ist nun wirklich zu kurz gegriffen. Die Menschen in Ostdeutschland waren über drei Generationen daran gehindert, demokratische Erfahrungen zu sammeln. Daran hinderten
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sie die diktatorischen Strukturen und Systeme. Und die Wirksamkeit des Populismus, der im Umfeld einer noch nicht gefestigten Demokratie besonders effektiv ist. CZ: Einige Versäumnisse gab es schon. Die SPD hat nicht Menschen integriert, die zwar das alte DDR-System repräsentierten, sich aber nichts haben zuschulden kommen lassen. Willy Brandt wollte das. KB: Wir haben in Sachsen anders gehandelt. Im Landtag wurde eine Kommission gebildet, die die Aufgabe hatte, bei allen Mitgliedern der CDU zu prüfen, welche Einstellungen sie zum alten System hatten und ob ihre Loyalität für die neue Ordnung deshalb nachhaltig gefährdet sein könne. Diejenigen, die den alten Verhältnisse zu sehr verbunden waren, wurden veranlasst, den Landtag zu verlassen. Das Verfahren wurde nicht abgelehnt. MK: Trotzdem bleibt die Frage, warum gerade die AfD in Ostdeutschland so stark ist. CZ: Wir brauchen Zeit, um die Menschen davon zu überzeugen, dass ihnen durch Globalisierung oder Migration keine dauerhaften Nachteile, sondern sogar Vorteile entstehen. In Ostdeutschland gibt es kaum Migranten, trotzdem ist die Ablehnung dort höher als in der alten BRD. Wenn die Menschen erkennen, dass Migranten die Sozialversicherung stabilisieren und tendenziell – bei allen Schwierigkeiten – den Facharbeitermangel lindern, wächst auch in Ostdeutschland die Wertschätzung für Migranten. KB: Ob die AfD weiter wachsen wird, ist offen. Zum einen sollten wir mit der Migration vernünftig umgehen und bedenken, dass nach einer gewissen Zeit die Migration sich sogar zu einem Gewinnthema für Deutschland entwickeln könnte. MK: Das müssen Sie mir erklären. KB: Der Migrationsdruck nimmt zu, vor allem in Afrika. Dort wird eine junge und heute schon weit über die europäische Dimension hinauswachsende Bevölkerung weiter zunehmen und sich auf 2,5 Milliarden in den kommenden 30 Jahren steigern. Auch diese Menschen haben das Recht, gut zu leben, zumindest in würdiger Existenz, wenn wir unsere eigenen Werte nicht verraten wollen. Und wenn die Entwicklung sich so fortsetzt, werden sie auch dorthin gehen wollen, wo das Bruttoinlandsprodukt höher ist als bei ihnen zu Hause. Zugleich erfahren sie durch ihre Migration oder Aufnahme in hochgebildete Gesellschaften die Möglichkeit einer Ausbildung und werden damit ihren eigenen Beitrag an die neue gesellschaftliche Umwelt verbessern können. So nützen sie dem Gastland und können als Hochqualifizierte wieder zurückkehren. MK: Überfordern Sie mit einem unkontrollierten Zuzug nicht die Menschen – im Osten wie im Westen? CZ: Die Zuwanderung muss geordnet sein, sie darf aber nicht verhindert werden. Ich bin sicher, dass viele syrische Flüchtlinge wieder heimkehren, wenn dort Frieden oder halbwegs sichere Verhältnisse bestehen. Mit der Türkei hätten wir einen solchen Stand schon erreicht, wenn sich die Lage dort politisch nicht entdemokratisiert hätte.
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KB: Die Entwicklung, dass Menschen Grenzen überschreiten, und zwar in beiden Richtungen, lässt sich nicht aufhalten. Ich halte insbesondere auf längere Sicht nichts von der Schließung von Grenzen. Wir müssen auch wegen der veränderten demografischen Entwicklung für Migration offen sein, wenn auch unter bestimmten Bedingungen. Schauen Sie doch, was sich jetzt schon entwickelt, etwa in den internationalen Filmen aus Hollywood und anderen Zentren der Branche. Dort ist es normal geworden, dass Menschen mit unterschiedlicher Hautfarbe oder Herkunft alle Rollen übernehmen können. Da wird eine schwarze Frau von einem Weißen gerettet und umgekehrt. Da ist ein Schwarzer mal der Gute und mal der Bösewicht, oder die junge Frau aus Asien oder die weiße Geschäftsfrau aus New York. Es geht um das Menschliche. Und dafür sind der Film oder andere Darstellungen hilfreich. Die Kinobesucher oder Netflix-Zuschauer sind dann nicht mehr überrascht, dass sie Menschen unterschiedlicher Herkunft und Aussehen auch in ihrer Stadt begegnen. MK: Die jungen Leute machen sich ohnehin mehr über das Klima Sorge als über ungeregelte Zuwanderung. Wie viel Zeit haben wir noch? KB: Manche Prozesse sind irreversibel. Gletscher sind geschmolzen, die Polkappen werden kleiner, Australien bekommt die Brände nicht in den Griff. Wir können solche Prozesse, die sich intensiv auf den Klimawandel auswirken, verlangsamen, vielleicht ganz stoppen. Wir müssen sie aber vor allem verstehen. Ich finde die Bewegung Fridays for Future und die Umweltaktivistin Greta Thunberg bemerkenswert. Die Schülerin aus Schweden habe ich selbst erlebt. Aber wir müssen auch darauf achten, dass die Jugendlichen ihre Ausbildung nicht zu sehr reduzieren. Sonst wird ihnen in der Zukunft die Expertise dafür fehlen, wie man mit der Jahrhundertherausforderung umgehen muss. CZ: Große Unternehmen müssen bereit sein, bei ihren langfristigen Investitionen Technologien zu benutzen, die nicht klimaschädlich sind. Ich kann mich noch an die Zeit erinnern, als Windkraft nicht als Alternative zur Kernkraft angesehen wurde. Jetzt lassen sich sogar die Kohlekraftwerke ersetzen. Eine Verkehrswende ist nur zu schaffen, wenn die großen Autokonzerne den Technologiewechsel vollziehen – übrigens besser in Richtung grünem Wasserstoff als in Richtung Elektromobilität. KB: Leider sind die Fragen jedoch schon vor Jahrzehnten gestellt worden, ohne sie zu beantworten. Die CDU in Westfalen hatte 1984 einen Parteitag ausgerichtet, an dem ökologische Fragen diskutiert und beantwortet werden sollten. Dabei wurden auch Vorschläge vorgetragen, die Sensoren und Sender an Autos betrafen. Am Auspuff des Autos sollten Sensoren angebracht werden, die den CO2-Gehalt und den Stickstoffgehalt messen sollten. Diese Daten wären in einer Blackbox gesammelt worden. Die Autofahrer hätten für das Ergebnis des Ausstoßes eine Gebühr bezahlen müssen, die mit dem CO2-Gehalt und dem Stickstoffgehalt gestiegen wäre. MK: Die Pläne wurden offenbar nicht weiterverfolgt. KB: Hätte man sie verfolgt, hätte das einen Wettlauf um die ausstoßärmsten Motoren ausgelöst. Auf diese Weise wäre es zu einem Wettbewerb um die besten Motoren gekommen. Aber kein Mensch hat sich dafür interessiert. Die „Politik“ ignorierte die Vorschläge.
Den sozialen und ökologischen Umbau mutig gestalten Svenja Schulze1
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Cui bono? – Herausforderungen für Staat und Politik im 21. Jahrhundert
Die Herausforderungen für Staat und Politik im 21. Jahrhundert scheinen vor allem darin zu bestehen, nicht enden wollende Kumulationen globaler Krisen bewältigen und meistern zu müssen. Dazu gehören ökologische Krisen ebenso wie soziale, gesellschaftliche und politische Krisen. Kollektive und individuelle Krisenerfahrungen werden begleitet oder auch verstärkt durch Disruptionserfahrungen, die nicht zuletzt die fortschreitende Digitalisierung auslöst und die über Jahrzehnte erfolgreiche Geschäfts- und Branchenmodelle radikal infrage stellt. Kein Kontinent und keine Gesellschaft sind davon ausgenommen. Die Covid-19-Pandemie legt zudem offen, wie fragil Stabilität, Widerstandsfähigkeit gesundheitlicher Systeme, internationale Beziehungen oder globale Wirtschaftsbeziehungen sind. Sie zeigt überdies, mit welcher Geschwindigkeit Krisenphänomene nahezu alle Gewissheiten und vermeintlich stabile Prognosen infrage stellen. Was heute gilt, kann morgen schon wert- und belanglos sein. In immer kürzerer Folge löst eine Krise die andere nicht ab, sondern überlagert sie durch eine weitere. In dialektischem Wechselverhältnis differenzieren sich über Jahrzehnte stabile politische Strukturen, fransen aus, fragmentieren, machen das notwendig schnelle Handeln schwerer, schaffen radikalisierte neue Debattenlagen, auf die sich dann wiederum ein nächster Krisenzyklus legt. Eine nur schwerlich überwundene Banken- und folgende Staatsschuldenkrise seit 2008 in der Europäischen Union, um nur ein Beispiel zu nennen, wurde 2015 von der Flüchtlingskrise überlagert, was einen Schub zumeist rechtspopulistischer Parteien nach sich gezogen hat, die u. a. in Großbritannien indirekt den Brexit erzwingen konnte, und auf der aktuell die Coronaepidemie folgte, die sich nun weltweit zur wohl größten Krise nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt. Parallel zur Coronakrise spitzen sich die Klima- und die Biodiversitätskrise zu. Mit großer Energie entworfene politische Langfriststrategien wie der Green New Deal werden in Teilen wieder infrage gestellt usw.
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Unter Mitarbeit von Dirk Meyer
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_13
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Auf nahezu kuriose Weise wird der Krisen- zum Normalmodus und erzwingt geradezu eine agil angepasste Handlungsmethodik, wie wir sie insbesondere aus der Digitalbranche kennen, eine Methode also, die sich immer wieder selbst reflektiert, ihre Ausgangshypothese hinterfragt und anpasst. Zugleich eröffnen sich autoritäre Usurpationsmöglichkeiten, die, wie in Ungarn inmitten der EU, zur finalen Durchsetzung diktatorischer Systeme führen können. In diesem Krisennormalmodus die Orientierung nicht zu verlieren, Orientierung zu behalten und vorzugeben, angemessen tagesaktuell zu handeln, ohne zugleich die langfristigen Trends und Herausforderungen außer Acht zu lassen, bestenfalls gar als nachhaltige Lösung vieler Krisen im Blick zu haben, ist für Staat und Politik eine Aufgabe geradezu herkulischen Ausmaßes. Zugleich ist es eine Chance für alle Parteien und politischen Formationen, sich nicht nur als krisenfester Orientierungsgeber zu bewähren, zu profilieren und breitere Anhängerschaft zurückzugewinnen. Es ist die Chance, über das Krisenmanagement aufzeigen zu können, warum es eine Formation gibt und vor allem für wen sie da ist. So war es, um nur ein Beispiel zu nennen, die SPD, die in letzter Minute erzwingen konnte, dass sich anders als noch während der Bankenkrise 2008 die Unternehmen der Sozialwirtschaft unter den Rettungsschirm stellen konnten. Man kann und muss dies als einen Beleg für die Existenzberechtigung der Sozialdemokratie im Parteienspektrum lesen, weil niemand sonst auf diesen Gedanken gekommen war und zugleich politisch durchsetzen konnte. Darin steckt große Bedeutungskraft. Denn die Herausforderungen des sozialen und ökologischen Umbaus im Angesicht nicht nur der umweltbezogenen Krisen zwingen alle Parteien, sich ihrer sie tragenden Wähler*innenschaft bewusst zu werden. Die bislang ungebremste Erosion der Volksparteien bei gleichzeitigem Erstarken der AfD und Wahlgewinnen von Bündnis 90/Die Grünen, die enorme Zersplitterung kommunaler und vielfach auch der Landesparlamente sind klare Indizien dafür, dass jahrzehntelange politische Stabilität (nunmehr auch) in Deutschland vorläufig verschwindet. Ob und wie das bislang erfolgreiche Handeln der beiden Volksparteien in der Pandemiekrise diesen hilft, verlorenes Vertrauen über die Krisenphasen hinweg zu gewinnen und/oder zu halten, ist bislang vollkommen offen. Die Suche nach Sinn und Mission der politischen Parteien ist in vollem Gange – und bei weitem noch lange nicht abgeschlossen. Da Parteien nicht um ihrer selbst willen existieren, sondern Interessenbündelungen auf der Grundlage sozio-ökonomischer Verhältnisse sind, Parteien mithin ihre Existenzberechtigung verlieren können, wenn sie diese nicht angemessen verstehen und/oder programmatisch-praktisch ignorieren, muss die Antwort auf das Cui bono von Politik und auch von Staat zunächst genau da ansetzen. Ohne eine Analyse der materiellen und kulturell-gesellschaftlichen Verhältnisse, ohne eine Antwort auf die Frage zu beantworten, was gerade warum passiert, laufen Parteien Gefahr, nicht nur falsche, Mehrheiten verlierende Antworten zu geben, sie gefährden mithin ihre Existenz, wie es in anderen europäischen und außereuropäischen Ländern längst geschehen ist, wo traditionsreiche Volksparteien – keineswegs nur links der Mitte -– ver-
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schwunden sind. Design- Thinking- Prozesse sind damit also nicht nur ein Muss für den agil arbeitenden Staat, sondern erst Recht für Politik und sie prägende politische Parteien. Und, um eins bereits an dieser Stelle vorwegzunehmen: Angesichts der fundamentalen sozio-ökonomischen und sozio-ökologischen Herausforderungen ist neben dem Verständnis dieser Umbrüche der Anspruch konstitutiv, diese Herausforderungen gestalten zu wollen. Auch das hört sich nur auf den ersten Blick banal und selbstverständlich an – nicht zuletzt mit Blick auf die Partei, für die wir am besten sprechen können. Betrachtet man die Haltung der Post-Godesberg-Sozialdemokratie, die die negativen Folgen sozioökonomischer Verhältnisse im Wesentlichen abfedern oder abmildern, die Auswüchse des Kapitalismus vornehmlich abfedern wollte und die Verhältnisse selbst nicht mehr infrage stellte, dann hat das Aufkommen des globalen Rechtspopulismus diese im Neoliberalismus noch stärker praktizierte Haltung der Sozialdemokratie auf paradoxe Weise herausgefordert. Denn das – zumindest propagandistische – Infragestellen des Primats der Ökonomie durch die Rechtspopulisten hat die Post-Agenda-Sozialdemokratie auf falschem Fuß erwischt: Plötzlich kapern diese Parteien und Bewegungen das Primat der Politik von rechts – und haben damit bis in die Mitgliedschaft der Gewerkschaften und das Wähler*innenpotenzial der Sozialdemokratie hinein Erfolg damit. Plötzlich wird die Systemfrage (wieder) gestellt, indes von weit rechts. Auch wenn die deutsche Sozialdemokratie diese Falle erkannt hat, fällt es ihr schwer, den Trend umzukehren, da einmal eingetretene Vertrauensverluste (nach dem Motto: „die machen eh nicht mehr Politik für die kleinen Leute“) nur sehr schwer zu korrigieren sind. Hinzu kommt, dass jede Zeit ihre eigenen Antworten braucht und eine schlichte Rückkehr etwa zur Vor-Agenda-Zeit gewiss auch keine angemessene Antwort wäre. Worum es also gehen muss, ist zum einen die analytische Durchdringung dessen, was gerade ist und wird. Dieses zum zweiten mit einer Grundhaltung zu versehen, die nicht aufs Verwalten, sondern aufs Gestalten setzt. Und zum dritten berücksichtigt, dass insbesondere die Sozialdemokratie für all jene existiert, die die großen Veränderungen unserer Zeit niemals aus eigener Kraft bewältigen können, sondern darauf angewiesen sind, dass eine Partei der linken Mitte ihre Interessen bündelt und bei der Gestaltung der Verhältnisse zu ihrem Nutzen handelt. Spätestens bei der Bewältigung der sozialen Folgen der Pandemiekrise wird Gelegenheit sein, genau hier liefern zu müssen. Etwas viertes fehlt noch: der Mut. Auch das eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Indes zeigen die letzten Jahrzehnte vielfach das Ausbleiben von Mut, einer Zeit der vorgeblichen Alternativlosigkeiten. Mut erwächst aus richtiger Analyse und Gestaltungsanspruch gleichermaßen, insofern ist er dialektischer Bestandteil bei der Antwort auf die Frage des Cui bono. Wer sich sicher ist, was passiert und was nun getan werden muss, wer unsere Zeit als Zeit des sozialen und ökologischen Umbaus begreift, wer begreift, in wessen Interesse man dabei unterwegs ist und was für Chancen in diesem Umbau liegen, wenn er richtig gestaltet wird, der tut dies mit Mut und mit der Leidenschaft dessen, für was und wen er da ist. Diese Kombination, wissen, was ist und für wen, sowie mutig gestalten wollen, ist eine Rezeptur, die die SPD in Nordrhein-Westfalen über viele Jahrzehnte zur erfolgreichen Volkspartei gemacht hat, der es gelungen ist, einen tiefgreifenden Strukturwandel zu ge199
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stalten und die darin das zentrale Kraftfeld war. Der vermutlich noch viel tiefgreifendere soziale und ökologische Umbau unserer Zeit macht neue Antworten erforderlich. Die oben genannte Kombination erschließt diese und konstituiert ihren politischen Erfolg.
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Sozialer und ökologischer Umbau – die Herausforderung in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts
Die Coronapandemie, die zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Beitrages bereits weltweit Verstorbene in fünfstelliger Höhe zählt, kann in ihren sozialen, ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Folgen kaum überschätzt werden. Da weder das Ausmaß noch die Dauer dieser Pandemie aktuell absehbar sind, sich Mutmaßungen für seriöse Beurteilungen verbieten, beschränken wir uns auf Annahmen, die als gesichert gelten können – und die die Schnittstellen zu den Herausforderungen in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts darstellen. Die Verletzlichkeit unserer hoch komplexen Gesellschaften und Ökonomien ist überdeutlich geworden. Andersherum: Die Stärkung ihrer Widerstandsfähigkeit wird zu einem herausragenden Thema der 20er-Jahre werden. Dies bezieht sich in allererster Linie auf die Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens. Jahrzehntelang und wie viele andere vormals öffentliche Bereiche dem Diktat der Effizienz unterworfen, wird nunmehr das Ziel bestmöglicher und auf Krisenszenarien ausgerichteter Gesundheitssysteme in den Blick kommen. Die Widerstandsfähigkeit aber auch der globalen Lieferketten etwa, der politischen und demokratischen Entscheidungsprozesse usw. werden ebenso im Fokus dieses sich heute klar andeutenden Paradigmenwechsels hin zu mehr Sicherheit und Gemeinwesen denn zu liberalisierten Märkten und individuellen Ansprüchen stehen. Die Digitalisierung wird einen Schub ungeahnten Ausmaßes erfahren. Das reicht von der Arbeitswelt bis hin zu staatlichen Dienstleistungen. Das „erzwungene“ Homeoffice von Millionen Arbeitnehmer*innen, aber auch die Aufrechterhaltung von Konsumbedürfnissen unter dem Regime von Ausgangsbeschränkungen, die Fortführung geordneter Bildungskarrieren, die Pflege sozialer Beziehungen, die Durchführung digitaler Konferenzen und Besprechungen etc. – all das wird, wenn auch nicht auf diesem Niveau, so doch in signifikanter Größenordnung die analoge Welt zurückdrängen. Ganze Branchen, wie etwa der stationäre Einzelhandel, dürften unter nochmals verschärften Druck geraten. Produktionsprozesse, die vollständig auf globale Lieferketten ausgerichtet sind und kritische Güter vollständig ausgelagert haben, werden zugunsten nationaler und/oder europäischer Sicherstellung infrage gestellt und gegebenenfalls auch mittels staatlicher Unternehmen künftig gewährleistet. Das Verhältnis von Marktkräften und staatlichen Eingriffen wird neu justiert werden. In diesem Zusammenhang wird sich die Frage nach dem handlungsfähigsten staatlichen Rahmen neu stellen: Gelingt es der EU, die zu Anfang der Pandemie ausgebrochene Suche nach vor allem nationalstaatlichen Krisenlösungen in ein europäisches Lösungs-
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werk aufgehen zu lassen oder geht sie geschwächt daraus hervor? Es kann als sicher gelten, dass hierüber nicht nur ökonomisch (Stichwort: Corona Bonds), sondern auch politisch gestritten werden wird. Damit zusammenhängend: Selbst neoklassischen Ökonomieschulen wird klar, dass eine erneute Austeritätsrunde im Euroraum diesen zu sprengen droht und suchen nach neuen Lösungen, die den Euro nicht gefährden. Das Dogma der „schwarzen Null“ kann erneut Drehpunkt ideologisierter Debatten mit offenem Ausgang – in Deutschland und Europa – werden. Öffentliche Daseinsvorsorge erscheint im Angesicht pandemischer Krisen nicht nur bezogen auf das Gesundheitswesen in neuem Licht. Der Konnex zur Resilienz ist evident, aber greift darüber hinaus. Die bereits vor der Krise und im Zusammenhang mit der Klimakrise begonnene Diskussion über die Grenzen von Ökonomie und Wachstum dürfte zugunsten größerer Gemeinwohlorientierung an argumentativer Kraft gewinnen. In diesem Zusammenhang könnten Berufe, die über Jahrzehnte der neoliberalen Abwertung unterworfen waren und sich während der Pandemie als „systemrelevant“ herausgestellt haben, aufgewertet werden und ihre gewerkschaftliche Machtstellung verbessern – jedenfalls bestünde hier eine historisch nie dagewesene Chance für die handelnden Arbeitnehmer*innenorganisationen. Das rechtsstaatlich über Jahrzehnte gewachsene und austarierte Verhältnis zwischen Staat und Individuum wird in der Krise zugunsten exekutiver Eingriffsmöglichkeiten infrage gestellt. In einigen Staaten nutzen autoritäre Regierungen dies schon zu dauerhafter Außerkraftsetzung legislativer Macht. In demokratischen Systemen wird die temporäre Stärkung der Exekutive Begehrlichkeiten und Widerstände hervorrufen. All diese plausibel zu erwartenden Entwicklungen überlagern Trends und Krisenphänomene, national wie international, die schon vor Ausbruch der Coronapandemie große transformatorische Lösungskonzepte gefordert haben und deren Handlungsdruck fortbesteht.
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Klimakrise
Dazu zählt in erster Linie der menschengemachte Klimawandel, hervorgerufen im Wesentlichen durch die Verbrennung fossiler Energieträger. Seit Beginn der Industrialisierung ist die weltweite Durchschnittstemperatur um etwa 1,1 Grad Celsius gestiegen. In Deutschland hat sich die Temperatur sogar um 1,6 Grad Celsius zwischen 1881 und 2019 erwärmt. Die Folgen sind schon heute gravierend. Die sogenannten „heißen Tage“ mit Temperaturen über 30 Grad Celsius stiegen seit 1951 von drei auf durchschnittlich zehn Tagen pro Jahr, 2018 waren es sogar mehr als 20 Tage. Die in den Jahren 2019/2020 einzigartigen Busch- und Flächenbrände in Australien haben einen globalen Vorgeschmack auf das Kommende gemacht, wenn nicht noch rechtzeitig gegengesteuert wird. Das Pariser Klimaschutzabkommen von 2015 hat eine Begrenzung der Erderwärmung auf maximal 2 Grad Celsius beschlossen, besser noch auf 1,5 Grad Celsius. Um das zu erreichen, muss für 201
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alle Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft das Ziel der Treibhausgasneutralität bis 2050 erreicht werden. Dieses Ziel verfolgt die Europäische Union. Im Jahr 2020 hat Deutschland seit dem Referenzjahr nahezu 40 % geschafft (jedenfalls sieht das Ziel erreichbar aus). Für ein hochentwickeltes Industrie- und Exportland ist das beachtlich, allerdings muss die Geschwindigkeit der Emissionsminderung ungefähr verdoppelt werden. Das harte politische und gesellschaftliche Ringen um das Klimaschutzgesetz 2019 in Deutschland hat gezeigt, welch eine Herausforderung dies darstellt. Zugleich ist der Weg dorthin ohne Alternative – es sei denn, wir akzeptierten, dass eine überhitzte Erde zu großen Teilen unbewohnbar würde. Die Coronakrise hat die Klimakrise für den Moment und im Angesicht unmittelbarer individueller Bedrohungen des Lebens durch den Virus aus den politischen Öffentlichkeiten verdrängt bzw. Gegner des an den Pariser Zielen orientierten Klimaschutzes ermuntert, verlorengegangene Positionen unter Verweis auf die coronabedingten Folgekosten zurückzuerobern. Da die Klimakrise allerdings eine reale Krise ist, wird sie mit Macht auf die politische Agenda zurückkehren.
2.2
Biodiversitätskrise
Auch auf einem zweiten Herausforderungsfeld zeigt sich die dramatische Überschreitung der planetaren Grenzen durch den Menschen. Der weltweite Rückgang der Biodiversität hat die Widerstandskraft unserer Ökosysteme bereits so sehr geschädigt, dass ihre Anpassungsfähigkeit an den Klimawandel eingeschränkt ist. Weltweit werden jährlich 13 Millionen Hektar Wald vernichtet, Flächen fortdauernd versiegelt. Die intensive Landwirtschaft führt dazu, dass Lebensräume für Tiere und Pflanzen durch Veränderung der Landnutzung oder durch übermäßige Nähr- und Schadstoffeinträge verloren gehen oder massiv beeinträchtigt werden. Die überfischten Weltmeere könnten schon 2050 an ihre Grenzen kommen. Zoonosen, also der Übersprung tierischer Viren auf den Menschen wie bei der Covid-19-Pandemie, scheinen mittelbare Folge dieser Naturzerstörung zu sein. Indem Menschen und Tiere mangels geschützter und getrennter Lebensräume immer enger zusammenrücken, steigt die Gefahr kommender Pandemien außerordentlich an. Der Artenschutz ist somit nicht nur ein Ziel um seiner selbst willen, sondern auch aktiver Menschenschutz. Inzwischen wird der Rückgang der biologischen Vielfalt sogar beim Weltwirtschaftsforum als eines der fünf wichtigsten weltweiten Risiken für die Weltwirtschaft eingestuft. Die Bewegung zum Schutz der Insekten im vergangenen Jahr hat gezeigt, dass größere Teile der Gesellschaft ein Bewusstsein für diese Gefahren gewonnen haben. Dies dürfte sich nach der Covid-19-Pandemie noch verstärken.
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Digitalisierung
Die dritte große Herausforderung mit kaum zu überschätzendem Transformationspotenzial ist die Digitalisierung. Mit atemberaubender Geschwindigkeit wird sie zum game changer über Jahrzehnte gewachsener Strukturen in Wirtschaft, Arbeit, Handel, Gesellschaft, Konsum, Kommunikation und Politik. Branche für Branche erodieren über lange Zeit erfolgreiche Geschäftsmodelle. Der digitalisierte Handel von Waren und Dienstleistungen zerstört mit Schumpeter’scher Wucht tradierte Strukturen und formt sie in der Plattformökonomie gänzlich neu. Die digitale Kommunikation verändert Arbeits-, Bildungs-, und Freizeitwelten, der Strukturwandel der Öffentlichkeit 4.0 ist mit all seiner Ambivalenz für politische Entscheidungswege prägend. Weltweit ringen zwei Digitalisierungsmodelle um die Vorherrschaft im 21. Jahrhundert: die libertäre Plattformökonomie aus dem Silicon Valley, deren politischer Anspruch auf Revolutionierung der bestehenden Strukturen mindestens ebenso ausgeprägt ist wie das geschäftliche Interesse, dominiert durch die großen Vier (Google, Apple, Facebook und Amazon), die für das US-amerikanische Modell stehen. Das chinesische Modell, die Melange der allumfassenden Internetplattform Alibaba und der Kommunistischen Partei Chinas, markiert den Archetypus eines digitalen Überwachungsstaates, der sich anschickt, weltumspannend zu wirken. Europa und europäische digitale Techfirmen spielen in diesem Wettbewerb um die Zukunft bislang keine ernst zu nehmende Rolle und drohen in diesem Schlüsselbereich der Ökonomie gar die Zukunft ganzer Volkswirtschaften zu verspielen.
2.4
Globalisierung
Klimakrise, Verlust der Biodiversität und Digitalisierung sind weltumspannende Treiber einer Transformation historischen Ausmaßes. Sie finden zudem global statt. Was wiederum ein viertes Herausforderungsfeld darstellt. Antworten auf immer mehr Themen und Aufgaben, immer mehr realistische Strategien zur Lösung komplexer Fragen können nur gefunden oder gestaltet werden, wenn sie global gefunden und gestaltet werden. Insbesondere die Öffnung und Liberalisierung der Märkte hat zu einem Schub in den Ökonomien und Gesellschaften geführt. Zahlreiche Länder haben es geschafft, in den Kreis der Industrienationen aufzusteigen und das Wohlstandsniveau ihrer Gesellschaften signifikant zu steigern. Indes hat genau dieses westlich orientierte und keineswegs global übertragbare Modell Lebensstile in die Welt getragen, die zu einer Verschärfung von Klimawandel und Biodiversität beigetragen haben. Zugleich steht die Globalisierung – hier auch als Multilateralismus in der Sphäre internationaler Beziehungen verstanden – seit dem ebenfalls globalen Siegeszug des Rechtspopulismus unter extremem Druck. Dort, wo sie Regierungsmacht übernehmen, entziehen sie die Nationalstaaten einer wirksamen globalen politischen Steuerung. Mit nationalistischer Rückbesinnung und dem vielfach erfolgreichen Slogan, „Kontrolle zurückgewinnen“ zu 203
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wollen, stellen sie just in dem Moment, da global wirkende Krisen wirksam nur global gelöst werden können, diese infrage, unterlaufen sie oder steigen aus Vertragswerken aus. Damit prolongieren und verschärfen sie Krisenszenarien, da Klimawandel und Biodiversität ganz sicher nur global gelöst werden können.
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Soziale Spaltung
Schließlich und vielfach in Folge der bislang praktizierten, auf maximale Kosteneffizienz orientierten Globalisierung erschwert die weltweit zu beobachtende soziale Spaltung notwendige transformatorische Schritte. Neben beeindruckenden Wohlstandsgewinnen einzelner gesellschaftlicher Schichten nicht nur in Asien hat diese real praktizierte Globalisierung nachgerade empörende soziale Verlierer erzeugt. Vielfach hat sich das Wohlstandsversprechen als Nullsummenspiel entpuppt. Eklatante Unterschiede bei der Vermögensverteilung sowie Verfestigung von Armutsstrukturen sind weltweit zum politisch relevanten Thema geworden. Weder sind die Gewinne der Rechtspopulisten ohne diese Verfestigung erklärbar, häufig mittelbar, weil wachsende und verfestigte Armut aus der Mitte der Gesellschaft heraus zu leichter radikalisierbaren Potenzialen führt, noch lassen sich tiefgreifende Transformationsprozesse politisch realisieren ohne Überwindung der sozialen Spaltung. Just transition, also fairer Wandel wurde lange ausgeblendet im Transformationsdiskurs, ist aber inzwischen konstitutiv geworden.
2.5.1
Nordrhein-Westfalens Transformation – Laborerfahrungen
Wie gravierend und einflussreich die Herausforderung der sozialen Spaltung ist, kann an Nordrhein-Westfalen als industriellem Kernland Deutschlands und mit Blick auf die vorangegangene Transformation gezeigt werden. Mit enormer Anstrengung ist der Strukturwandel in Kohle und Stahl, der bereits in den 60er-Jahren begann, politisch von den Kabinetten Johannes Raus und unter tatkräftigem Mitwirken Christoph Zöpels gestaltet worden, ist Strukturpolitik als Mittel gerechter Transformation erst entwickelt worden. Die Zielrichtung der regionalisierten Strukturpolitik war eine doppelte: Zum einen sollten die, die das vom Weltkrieg zerstörte Land mit ihrer Hände Arbeit wiederaufgebaut hatten, nicht einfach abgewickelt werden, ihre Kinder sollten neue Perspektiven erhalten und dieser Prozess nicht disruptiv, sondern kalkulierbar sozial- und arbeitsmarktpolitisch sowie städtebaulich begleitet werden. Wer das Revier heute besichtigt, sieht, wie gut das häufig gelungen ist, indes auch, wo es noch nicht gelungen ist. Zum zweiten ging es insbesondere Christoph Zöpel darum, das soziokulturelle Erbe und die Leistungen dieser Industrie- und Arbeiterfamiliengeschichte zu bewahren und zu neuen Orten der Erinnerung und der Zukunft umzugestalten. Mit der Internationalen Bauausstellung sind die Wurzeln für ein einzigartiges Projekt gelegt worden, das heute jeder auf der Route der Industriekultur nachverfolgen kann – und wer immer Vergleiche ziehen will: In der nordenglischen Bergbauregion findet sich nach der von Margret That-
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cher verursachten Disruption nach dem Bergarbeiterstreik von 1984/85 nichts, was das soziokulturelle Erbe bewahrt und in die Zukunft getragen hat. Warum ist das im Kontext der Transformation so bedeutsam? Heute, 30 Jahre nach der deutschen Einheit und den bis heute fortwirkenden Disruptionserfahrungen der ostdeutschen Transformationsgesellschaft wird klar: Langfristig gelingen diese Strukturwandelprozesse nur, wenn sie das soziale und kulturelle Herausforderungsfeld in den Blick nehmen. Es ist inzwischen unumstritten, dass etwa die Missachtung individueller Lebensleistungen Transformationsprozesse signifikant erschweren kann. So hat die implizite städtebauliche und explizite kulturelle Würdigung der Lebensleistungen von Bergarbeiterfamilien im Ruhrgebiet dazu beigetragen, die Herausforderungen aus dem Strukturwandel in dieser Region anzunehmen und zu akzeptieren. Angesichts der anstehenden Dimensionen der aktuellen, diesmal vorwiegend ökologisch getriebenen Transformationserfordernissen hin zur umfassenden Treibhausgasneutralität muss allen klar sein, wie konstitutiv ein solcher Faktor für das Gelingen der Aufgaben sein wird. Ganz sicher gelingt das nicht, wenn etwa Braunkohlekumpel oder Autobauer zu „Klimakillern“ erklärt werden oder wenn der Klimawandel zum Generationenkonflikt (v)erklärt und moralisch aufgeladen wird. Nun steigt die Komplexität der sozioökologischen Transformation noch, da sich die oben genannten Herausforderungsfelder Klimawandel, Biodiversitätsverlust, Digitalisierung, Globalisierung und soziale Spaltung vielfach miteinander verschränken und zugleich dramatisch beschleunigen.
2.5.2
Automobilindustrie im Fadenkreuz der Transformation
Das Beispiel der Automobilindustrie mag dies in besonderer Weise dokumentieren, auch, weil sie schon mit ihren Endprodukten und Alltagserfahrungen unmittelbar und konkret einleuchten. Als Sinnbild des westlichen Wohlstands- und Lebensstilmodells hat die umfassende individuelle Automobilisierung nach den Zweiten Weltkrieg begonnen, war konstitutiver Teil des noch in Kriegszeiten konzipierten New Deals. In Westdeutschland wurde die Autoindustrie zu einer Schlüsselindustrie und ist dies bis heute geblieben. Sie garantiert nicht nur Hunderttausenden Familien ihre Existenzgrundlage, tariflich durch die größte Industriegewerkschaft der Welt abgesichert, sie bindet Dienstleistungen, andere Industriebranchen, sozialräumliche und städtebauliche Planungen und Gestaltungen, sie verbindet Land und Stadt, sie dominiert soziokulturelle Muster und ist zum Vorbild für Entwicklungsmodelle weltweit geworden. Die Definition von Mobilität als automobiler Mobilität hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg durchgesetzt. Sie hat enormen Wohlstand hervorgebracht. Sie hat vermutlich die internationalen Beziehungen wegen seiner erdölbasierten Antriebstechnologie umfassender geprägt und beeinflusst als manches Vertragswerk. Mit ihrem Rohstoff- und Landhunger ist diese Mobilität zugleich ein entscheidender Treiber des Klimawandels und des Verlustes der Biodiversität. Zugleich ist mit der weltweit überaus erfolgreichen 205
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deutschen Autoindustrie ein Machtfaktor entstanden, der linke wie konservative Politik gleichermaßen geprägt hat und prägt. Daran kann nicht einmal ein grüner Ministerpräsident der süddeutschen Automobilindustrie vorbei. Aktuell nun gerät dieser auch politisch stabilisierende Wirtschaftssektor unter historisch nie dagewesenen transformativen Druck: Digitalisierung und Dekarbonisierung nehmen die Autoindustrie gewissermaßen doppelt in die Zange. Und es zeigt sich, dass sie darauf nicht wirklich vorbereitet ist. Wie in einem Brennglas wird nun deutlich, was sozioökologische Transformation bedeutet und wie groß diese gestalterische Aufgabe ist. Die Dekarbonisierung der Antriebe ist notwendig, um die Autoindustrie treibhausgasneutral werden zu lassen. Der Weg dahin ist die Elektrifizierung des Autos. Die Digitalisierung wiederum stellt die bisherigen Geschäftsmodelle auf den Kopf und verlagert die Automobilität vom Motor zur Software als entscheidenden Treiber seiner Entwicklung. Löst schon das absehbare Ende des fossil betriebenen Verbrenners Arbeitsplatzverluste insbesondere in der Zuliefererindustrie aus, eröffnet die Digitalisierung gar die Perspektive, künftig den individuellen Besitz der Fahrzeuge via geteilter und/oder gemieteter Mobilität grundsätzlich anzuzweifeln. Von beiden Seiten stellen Elektrifizierung und Elektronifizierung die Geschäftsmodelle der Automobilität infrage. Mächtiger Ausgangspunkt war China, das mit dem Shift zur Elektromobilität als größtem Wachstumsmarkt die Entwicklung bestimmt. In den Autoregionen Deutschlands geht seither die Angst vor den Folgen dieser Disruption um. Hochbezahlte Automanager hatten, wie schon ihre Kollegen in der Energiewirtschaft zuvor, den Trend der Entwicklung unterschätzt und auf die langfristige Wirkung ihrer bis dahin gewohnten politischen Macht gesetzt. Nun schwanken die Riesen. Nun investieren die Managements Milliarden in die digitale und elektrische Zukunft, tun sich zusammen, und es wird interessant zu beobachten sein, wie erfolgreich etwa der Volkswagen-Konzern sein wird, der seine Strategie umfassend verändert hat und auf vollelektrische Automobile für jeden Geldbeutel setzt. Doch damit nicht genug: Da Digitalisierung mitnichten die Elektronifizierung des Analogen meint, sondern systemisch wirkt, eröffnen sich erstmals auf vielen Politikfeldern vollkommen neue Perspektiven, die von anderer Seite aus das autozentrierte Geschehen infrage stellen. Wenn der individuelle Besitz nicht mehr entscheidend sein muss, um mobil und autonom sein können, wenn sich damit städtische Räume neu gestalten und unabhängig vom Auto aus denken und gestalten lassen, wenn die strenge Trennung von Wohnen und Arbeiten im digitalen Zeitalter sich auflöst, wenn Kopenhagen statt Los Angeles zum Stadtmodell der Zukunft wird, dann wird deutlich, welche Kraft diese Transformation darüber hinaus noch hat. Das alles lässt heute schon ein industrielles „Ökosystem“ erodieren, an dem Hunderttausende Existenzen hängen und das in seiner Breite den Strukturwandel im Ruhrgebiet in den Schatten stellt. Die innergewerkschaftlichen Diskussionen zeigen ebenso wie Radikalisierungen aus der Mitte der Gewerkschaften heraus, wie konstitutiv die soziale Dimension dieser Disruption sein wird. Und um das Maß voll zu machen: Sollten die Folgen der Coronapandemie wie schon in Folge der Finanzkrise und ihrer Umdeutung in eine Staatsschuldenkrise am Ende sozialisiert werden, dürften die aktuell eingefrorenen
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sozialen und politischen Auseinandersetzungen zu weiterer Ausfransung der Mitte führen. Damit ist jedoch auch klar, dass die Herausforderungen der Transformation eine System sprengende Kraft entwickeln können. Der Versuch, über technologiegetriebene Modifizierungen – oder noch hilfloser: über die Delegation der Problemlösungen auf individuelles Verhalten – allein die Transformation zu meistern, wird nicht gelingen. Sozioökologische Transformation wird alles verändern. Die Art, wie wir heute arbeiten und produzieren, wie wir heute wohnen und konsumieren, wie wir uns heute fortbewegen und reisen, wie wir heute kommunizieren und politische Gestaltung organisieren, wird im Jahr 2050 grundlegend anders aussehen müssen, soll die Transformation fair und wirkungsvoll gelingen. Mit der Automobilindustrie ist nur ein Sektor beschrieben. Ähnliches war und ist bereits in der Energiewirtschaft zu sehen gewesen. Aber aktuell auch im Sektor der Landwirtschaft. Auch hier zeigt sich gerade, wie die transformativen Anforderungen zu mehr Nachhaltigkeit bei steigendem ökonomischem Druck politische eskalieren, Landwirte sich von allen Seiten unter Druck geraten sehen und hergebrachte Politik- und Lobbymodelle scheitern. Es dürfte mehr als wahrscheinlich sein, dass die Coronapandemie zum Beschleuniger der Transformation auf diesen und anderen Sektoren werden wird. Offen ist indes, ob sich dies in eine utopische oder dystopische Richtung entwickeln wird. Dies zu gestalten, ist eine der Kernaufgaben der Sozialdemokratie als politischer Kraft, die Umwelt, Arbeit und Soziales seit Jahrzehnten programmatisch verbindet und für die Transformation zusammendenken kann.
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Zukunftsbilder und Kraftfelder
Wie aber lässt sich aus Krisen, Strukturwandelprozessen und nachvollziehbaren bzw. vorhersagbaren Verteilungskämpfen dieser Dimension Kraft und Gestaltungsmacht entwickeln? Und warum ist das eine Überlebensfrage nicht nur für Parteien links der Mitte? Zunächst einmal gilt es anzuerkennen, dass die transformativen Treiber existieren, egal ob man sie wahrnimmt, ablehnt oder bekämpft. Das klingt banal, ist es aber keineswegs. Die Klimakrise schreitet voran, beschleunigt sich, kann die Dominoeffekte auslösenden Kipppunkte schneller erreichen, je später wir handeln. Die Biodiversität ist ein irreversibler Prozess. Ausgestorbene Arten bleiben dauerhaft ausgestorbene Arten. Trifft es die „systemrelevanten“ Bestäuber, haben wir ein systemrelevantes Problem bei der Lebensmittelversorgung. Engen wir die natürlichen Lebensräume von Tier und Mensch weiter ein, lösen weitere Zoonosen weitere Schwierigkeiten für die Menschen bis hin zu neuen Pandemien aus. Eine Rückkehr ins analoge Zeitalter wird es nicht geben. Globalisierung wird die Antwort auf globale Fragen sein; die populistische Rückkehr zum Nationalstaat kann nur ein temporärer Rückschritt sein und die Menschheit ist im 21. Jahrhundert mehr als je zuvor zur globalen Kooperation gezwungen. Das Ignorieren der sozialen Dimension des Wandels ist ein gefährlicher Blindfleck. 207
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Kurzum, all das existiert auch ohne bekannte Parteien und politische Formationen. Erst recht dann, wenn sich diese nicht dieser Transformationen im Kern annehmen, den systemischen Charakter nicht verstehen. Andersherum: Nimmt man den Stier bei den Hörnern, kann sich daraus ein Kraftfeld entwickeln, das politische Formationen in die Position bringt, diesen Wandel gestalten zu können. Denn genau das ist die zweite relevante Erkenntnis. So sehr die Transformation auch außerhalb der politischen Formationen steht, so sehr ist sie gestaltbar. Die Klimakrise ist noch abwendbar. Das Zeitfenster wird kleiner, es ist aber immer noch offen. Der Schutz der Biodiversität ist, das zeigt die ungeheure Regenerationskraft der Natur, noch machbar. Die Digitalisierung ist gestaltbar, mächtige Digitalmonopolisten reagieren äußerst sensibel auf politisch-seismologische Veränderungen, wie etwa die EU-weite Datenschutzgrundverordnung gezeigt hat, die zum internationalen Goldstandard geworden ist. Gewerkschaften, die den Wandel annehmen und Gestaltungsoptionen entwickeln, belegen, dass dort, wo die Transformation längst angekommen ist, Kräfte der Gestaltung frei werden. Und global vernetzte regionale Klimaschutzbündnisse zeigen, dass selbst bei nationalistischen Rückschlägen globale Verantwortungsgemeinschaften bestehen bleiben, die den Nukleus für globale Lösungen nach Überwindung von Populismus bilden können. Allerdings wird nur der den Stier bei den Hörnern nehmen können, der seine Kraft vorausberechnet, ihn nicht unterschätzt, sich agil der Situation anpasst und fokussiert zum effektiven Handeln übergeht. Übersetzt heißt das: Die sozioökologische Transformation muss als zentrale Fokusaufgabe im Kopf der politischen und ökonomischen Eliten ankommen. Es muss zum archimedischen Punkt aller anderen politischen Schritte werden. Es darf nicht eines von vielen anderen Projekten werden. Die sozioökologische Transformation muss als systemisch relevante Frage angenommen werden, weil sie systemische Sprengkraft mit offenem Ausgang besitzt.
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Parteien der Arbeit – Gestalter der Transformation
Die besten Voraussetzungen, sich dieser Aufgabe anzunehmen und sich dieser auf Jahrzehnte zu verschreiben, haben die Parteien der Arbeit. Angesichts einer globalen Krise klingt dies zunächst absurd. Angesichts ihrer Hochzeiten während des New Deals, während der Zeit wachsenden Massenwohlstandes in den 60er- und 70er-Jahren und ihrer Verschränkung mit den Beschleunigungsphasen der ökologischen Systemkrisen erscheint dieser Anspruch kühn. Gemessen an der vielfachen Kapitulation der Arbeitsparteien vor neoliberalen Dogmen ökonomischer Alternativlosigkeiten in den Nullerjahren erscheint dieser Anspruch gar hoffnungslos. Indes, wer, wenn nicht gerade jene Parteien und politischen Bewegungen links der Mitte, soll es sein, da sie doch die historisch unter Beweis gestellt haben, dass und wie sie den Kapitalismus zähmen konnten? Niemand sonst verfügt über die historisch gewachsene politische Genetik, um Arbeit, Umwelt und Soziales zusammenzudenken. Wo also Liberale
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angesichts ihrer eschatologischen Marktgläubigkeit scheitern müssen, wo Konservative oft nur Instrumente der Marktkräfte sein wollen, die systemische Dimension verleugnen, und wo Grüne das Soziale häufig nur als Attitüde mit sich führen und vornehmlich die Transformationsgewinner repräsentieren, haben Parteien links der Mitte das Gesamte im Blick. Sie sollten jedenfalls besser als andere in der Lage sein, dies zu tun und den strukturellen Wandel fair zu gestalten. Ob und wie ihnen das gelingt, ist noch offen. Frans Timmermans von den niederländischen Sozialdemokraten macht gerade eindrucksvoll vor, wie das geht. Als mächtiger Vize der Europäischen Kommission und Architekt des Green New Deals hat er die Partei der Arbeit in den Niederlanden aus der Bedeutungslosigkeit zurückgeholt und verknüpft politisch die Enden von Dekarbonisierung und Digitalisierung. Der Ausgang der Pandemie wird zeigen, wie nachhaltig der Green New Deal ist; war es die taktische Idee, um eine Kommission zustande zu bringen oder war es die Programmierung Europas auf die sozioökologische Transformation ernsthafter Wille?
4.1
Fortschritt als positives Zukunftsbild
Bemerkenswert ist, wie Timmermans dieses Thema nicht nur zu einem archimedischen Punkt für die EU-Politik der nächsten Jahrzehnte zu fixieren versucht, sondern vor allem auch, wie er damit dem Fortschrittsbegriff neuen Schwung verleiht. Denn damit knüpft er an die solitäre Tradition der Arbeitsparteien an, deren Gründungsimpuls darin bestand, nicht an das Ende der Geschichte zu glauben, hätte dies doch die soziale Lage ihrer Begründer*innen auf immer fixiert. Dass Fortschrittsoptimismus in heutiger Zeit in einem anderen Kontext definiert werden muss, versteht sich von selbst. War einst der Sozialismus das Zielpanorama der Gründungsväter und -mütter, der symbolisch als Sonne auf keiner Fahne fehlen durfte, so fällt es uns heute angesichts der historischen Erfahrungen schwer, eschatologisch auf ein Ziel zuzusteuern, dessen real existierende Versuche abschreckend waren und bis heute negativ fortwirken. Interessant indes bleibt, dass die Mobilisierung großer politischer Kräfte trotz zum Teil lebensbedrohlichen obrigkeitsstaatlichen Widerstands im 19. Jahrhundert mit Zukunftsbildern verbunden war. Jeder von Partei und Gewerkschaften erkämpfte Schritt zu mehr Emanzipation und Partizipation war ein Schritt in Richtung ersehnter Zukunft. Rückschläge, Repression, taktische Seitwärtsschritte konnten so gegangen und ertragen werden, machten Mut und ließen die Zuversicht nicht sinken. Diesen Fortschrittsgeist braucht es angesichts der transformatorischen Herausforderungen erneut. Wo es heute an sozialistischen Sonnen auf Fahnen und Wimpeln fehlt, weil sie aus der Zeit gefallen sind, müssen es Zukunftsbilder sein, auf die die sozioökologische Transformation zuzusteuern ist. Und so, wie es heute keine eschatologische Gesellschaftsformation mehr sein wird, werden diese Zielbilder weniger eine geschlossene Ideologie
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Svenja Schulze
bilden als vielmehr agil herzustellende und agil zu erstreitende Puzzlestücke sein, die zu wechselnden Bildern eines besseren Lebens für alle zusammengesetzt werden müssen.
4.2
Zukunftsbild Mobilität
Um es am Beispiel der Mobilität erneut zu konkretisieren: Dass es die Mobilität der Zukunft gibt, ist höchst unwahrscheinlich. So wie sich die Energieerzeugung in den letzten 20 Jahren nach Einführung des EEG diversifiziert hat, wird sich auch eine Mobilität mit nachhaltigem Anspruch diversifizieren. Städtische Mobilität wird darin anders aussehen als ländliche. Sie wird sich stärker an der Frage orientieren, welche Wege mit welchem Ziel bewältigt werden sollen. Nicht Antriebstechnologien sind die Ausgangsfrage, sondern die diversifizierten Mobilitätsbedürfnisse. Am Anfang aber jeder (vor allem kommunalen bzw. regionalen) Entscheidung steht die Frage: Wie wollen wir Mobilität organisieren? Folgt sie den Bedürfnissen der Automobilindustrie oder den Bedürfnissen der Mobilität organisierenden IT-Konzerne? Oder folgt sie den Bedürfnissen der Stadt- und Landbewohner*innen? Tauschen wir lediglich fossile gegen elektrische Antriebe aus, denken die Zukunft also technologisch oder denken wir Mobilität von den gesellschaftlichen Zielen aus? Und wie organisieren wir die politische Entscheidungsfindung darüber? Wie kombinieren wir zum Beispiel neue digitale Arbeitsmodelle, die die Trennung zwischen Arbeitsstelle und Wohnort amorpher machen, mit neuen Mobilitätsangeboten? Wie verhält sich städtische zu ländlicher Mobilität? Das Zukunftsbild, aus dem sich diese Herangehensweise speist, geht davon aus: Alle Menschen in Deutschland und Europa verfügen in den folgenden Jahrzehnten über mehr Möglichkeiten, bequem und rund um die Uhr von A nach B zu kommen. Mobilität ist bezahlbar und barrierefrei für Jung und Alt, in der Stadt und auf dem Land, verursacht keine Emissionen und verbraucht keine zusätzlichen Flächen mehr, im Gegenteil: Flächen sind stellenweise zurückgebaut und wie in Kopenhagen zu besichtigen, für Mensch und Umwelt „wiedereröffnet“ – Mobilität und Stadtplanung gehen eine neue, nicht mehr autozentrierte Verbindung ein. Ein solches Zukunftsbild weckt Fantasien und gestalterische Kraft. Es leitet fachspezifische Spezialfragen ab, determiniert Steuerung und Anreizstrukturen, verlangt gezielte Incentives, eröffnet neue Beschäftigungsmöglichkeiten und kombiniert Dekarbonisierungs-, Digitalisierungs- und Arbeitspolitik miteinander. Es entsteht somit ein politisches Kraftfeld, auf dem sich die besten Konzepte beweisen können. Es ist nicht die eine Sonne auf der Fahne, die geradewegs zum Sozialismus führt, es sind mehrere Sonnen, die in Beziehung zueinander gesetzt werden müssen und die schlicht zu einem besseren Leben in der Stadt, zu besserer Luft, zu mehr Stadtraum oder zur besseren Anbindung ländlicher Räume an die Stadt führt. Der Fortschritt sind dann diversifizierte Fortschritte, die alle von einem konsensfähigen Zukunftsbild ausgehen, auf das es lohnt zuzusteuern und das Gestaltungskraft freisetzt, wie wir sie etwa stadtpolitisch seit vielen Jahrzehnten nicht mehr hatten.
Den sozialen und ökologischen Umbau mutig gestalten
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Damit sich dieses Kraftfeld – und hier ist nur eines genannt – tatsächlich entfalten kann, braucht es einen veränderten Instrumentenkasten beim staatlichen Handeln. Das wiederum kann (und sollte) ebenfalls als Kraftfeld neue Energien freisetzen.
4.3
Zukunftsbilder und staatliches Handeln
Staatliches Handeln, das sei im Angesicht der Pandemie vor die Klammer gezogen, zeigt seine Qualität vor allem in Krisenzeiten. Das beherzte und zugleich an den wissenschaftlichen Fakten orientierte Handeln der Bundesregierung gleich zu Beginn des Ausbruchs der Coronapandemie hat diese Qualität unter Beweis gestellt. Es zeigt sich, wie bedeutsam und erfolgreich zentral lernende Systeme im politischen und administrativen Handeln sein können; was es aktuell bedeutet, dass Finanz-, Euro- und auch Flüchtlingskrise analysiert und ausgewertet wurden sowie darauf angepasste Instrumente zur Lösung einer aktuellen Krise entwickelt wurden. Wie erfolgreich dies im Vergleich zu anderen Ländern war, wissen wir erst am Ende der Krise. Ganz sicher werden andere Fehler gemacht, indes, das hohe Vertrauen der Bürger*innen in die Handlungsfähigkeit des demokratischen (!) Staates hat gezeigt, dass seine Zeit mitnichten vorüber ist, dass lernendes Vorgehen geschätzt wird. Wenn es nach oder zur Überwindung der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie darum geht, die Weichen in Richtung sozioökologischer Transformation zu stellen, dann wird man diese Leistungs- und Lernfähigkeit verstärkt brauchen. Zugleich jedoch wird es darauf ankommen, die über eine lange Dauer zu treffenden Entscheidungen anders als in der akuten Krise und somit deutlich systemischer zu entwickeln. Das Überwinden fachlicher Silos wird Voraussetzung dafür sein, dass die Transformation tatsächlich gelingt. Einzelentscheidungen müssen sich im Kontext und Wissen um ihre beabsichtigten und unbeabsichtigten Wirkungen treffen und rechtfertigen lassen. An ihrem Anfang muss eine Zielfestlegung stehen, die den Rahmen gibt und die sich demokratisch legitimieren muss. Es braucht Mechanismen und Governancestrukturen, die Entscheidungen nicht nur messen, sondern auch agil nachsteuern lassen. Staatliches Projektmanagement muss sich stärker als bisher der aus der digitalen Start-up-Szene entspringenden Methodensets annehmen, da ein historisch einzigartiges und globales Vorhaben wie die sozioökologische Transformation nicht am Reißbrett entwickelt werden kann. So wie die Digitalisierung einer der Treiber ist, die uns vor transformatorische Herausforderungen stellen, so ist sie zugleich ein Instrument, um staatliches Handeln in der Transformation wirkungsvoll auszurichten. So wie sich alle uns bekannten Sektoren diversifizieren, von der Energieerzeugung über das Internet der Dinge bis hin zur Mobilität, so wie sich Sektoren am besten verkoppeln, um Synergien etwa zwischen Gebäuden und E-Ladestationen herzustellen, so wie verstärkt Netzwerke an die Stelle von Großstrukturen treten, so sehr muss politisches und auch staatliches Handeln dieses in seinen Methoden abbilden. Die Folgen sind gravierend: Wenn es richtig ist, dass etwa die Kommunen und ihre gemeinwirtschaftlich arbeitenden Unternehmen wie Stadtwerke, Verkehrsbetriebe etc. 211
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die wirkungsvollste Ebene staatlichen Handelns ist, dann müssen sie über mehr und andere Kompetenzen ebenso verfügen wie finanziell ausgestattet sein. Wenn vernetztes und siloüberwindendes Denken und kollaboratives Handeln Schlüsselkompetenzen in Staat und Wirtschaft sind, dann müssen sie vom Kindergarten bis zur Hochschule gelehrt und geübt werden. Wenn fehlertolerante Agilität zum Wesen guter Staatskunst gehört, muss die öffentliche Fehlerbewertung eine andere sein als heute. Wenn wissenschaftsbasierte Erkenntnisse handlungsleitend sind, dann muss die datengetriebene Organisation in der Lage sein, diese zu verarbeiten und in die Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Von all dem sind wir noch ein gutes Stück entfernt. Allerdings hat die Entscheidungsgeschwindigkeit, mit der in der Coronakrise riesige Verwaltungsapparate binnen drei Wochen von ausgeprägter Präsenzkultur auf mobiles und digitales Arbeiten gedreht wurden, gezeigt, zu welchen (Geschwindigkeits-)Leistungen der Staat fähig ist. Diese Erkenntnis gilt es zu nutzen. Diese positive Erfahrung zeigt, dass es gehen kann, die komplexen Herausforderungen von Klima- und Diversitätskrise, von digitaler Disruption und globalen Entscheidungsnotwendigkeiten zu meistern. Mit dem Green New Deal der Europäischen Kommission ist auch hier ein wegweisender Schritt gemacht: Erstmals ist darin unter einem anderen Label die sozioökologische Transformation als jetzt auf der Agenda stehendes Leitziel formuliert. Die Wochen nach der Veröffentlichung dieses ersten Entwurfes der neuen Kommission haben gezeigt, wie große Mitspieler etwa aus der Finanzindustrie begonnen haben, ihre Strategien u. a. darauf auszurichten – auch um stranded assets (vulgo: frustrierende Investitionen) zu vermeiden, Klimarisiken einzuschätzen und nachhaltig wirkende Geschäftsmodelle zu fördern. Auch wenn die Coronakrise dies zunächst einmal abzubremsen scheint, der Druck, der globalen Krisenhäufung wirksame Strategien entgegenzusetzen, ist manifest und wird sich möglicherweise verstärkt unter dem Dach resilienter Ertüchtigung wiederfinden. Um hierfür gewappnet zu sein, um die Zukunftsbilder einer nachhaltigen Mobilität, nachhaltigen Wirtschaftens in Stoffkreisläufen, stabilen erneuerbaren Energiesystemen, nachhaltiger Landwirtschaft und Ernährung, nachhaltigen Wohnens in Städten und auf dem Land Wirklichkeit werden zu lassen, braucht es staatliches Handeln, das dieses organisieren kann. Die akute Pandemie hat gezeigt, dass das gehen kann – es wird nun darauf ankommen, diese Fähigkeit auch zu prolongieren für eine Aufgabe, die noch größer und von noch längerer Dauer ist.
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Sozioökologischen Aufbruch gestalten – eine Aufgabe für Volksparteien
Die Kabinette Johannes Raus haben den Strukturwandel des Industrielandes NRW nicht nur gedacht, sondern sie haben ihn gestaltet. Sie haben u. a. mit der Internationalen Bauausstellung das historische Erbe und die Lebensleistungen der Einzelnen gewürdigt. Und sie haben zugleich den nachfolgenden Generationen Wege in eine andere Zukunft eröffnet.
Den sozialen und ökologischen Umbau mutig gestalten
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Dass Nordrhein-Westfalen heute ein Viertel der deutschen Hochschullandschaft ausmacht, ist nur ein Beleg für die Transformation dieser Zeit. Die nordrhein-westfälische Sozialdemokratie war über lange Jahre Garantin dafür, dass die Brüche des Strukturwandels nicht spalteten, sondern versöhnten. Als Volkspartei war sie in der Lage, den keineswegs einfachen Weg des Strukturwandels auszutarieren und im Konsens auszugestalten. Alle Regionen des Landes haben davon profitiert. Die gesellschaftliche Bindekraft war enorm. Wenn das Ruhrgebiet heute auch eines der digitalen Hotspots in Deutschland ist, man mit Stolz aus dieser Region kommt, Erfolgsgeschichten erzählen kann, Anziehungspunkt für Kunst und Kultur geworden ist, dann war dies auch das Ergebnis eines politisch organisierten Aufbruchs damaliger Transformation. Dieser Blick aufs Ganze, wie ihn nur Volksparteien für sich beanspruchen, kann nach erodierender Zeit eine Renaissance erleben. In der sozioökologischen Transformation geht es ums Ganze. Sie beansprucht, das Ganze im Blick zu haben. Aber sie tut es noch viel zu sehr auf apokalyptischem Weg, denn sie versucht, ihre Kraft aus Katastrophenszenarien zu beziehen. So berechtigt diese wissenschaftlich sind, so stumpfen sie mit steter Wiederholung ab und wecken keine Aufbruchsstimmung. Wo es über Jahrzehnte hinweg immer fünf vor zwölf ist, geht am Ende das Zeitgefühl verloren. Und wo aus politischem Anspruch moralische Anklage gegen individuelle Lebensstile oder gar Berufsgruppen wird, wachsen Abwehr und Unwillen. Die Krisen von Klima und Biodiversität sind real und Ausgangspunkt der Transformation. Zugleich wird Aufbruch nur dann entstehen, wenn das Zukunftsbild Konturen gewinnt, erreichbar scheint und ein gutes Leben ermöglicht. Wenn ich weiß, wie ich morgen nachhaltig mobil bin, ohne auf Komfort verzichten zu müssen, wenn ich weiß, dass meine Ernährung mich gesund hält, schmeckt und nachhaltig produziert wurde, wenn ich weiß, dass es nicht nur in Industriebetrieben gute Tariflöhne und gewerkschaftliche Interessensvertretung gibt, wenn ich weiß, dass Produkte nach ihrer Lebensdauer zerlegt und in neue Produkte übergehen, wenn ich weiß, wie mein Wohnquartier lebenswert und bezahlbar bleibt, dann bin ich bereit, mich auf diese Zukunft einzulassen. Diese politische Organisation des Ganzen können nicht Parteien leisten, die vor allem Transformationsgewinner bedienen, die sich am kurzfristigen Erfolg der Unternehmen orientieren, die den nationalstaatlichen Biedermeier als Zukunft verkaufen – das können nur politische Organisationen, die das Aushandeln der verschiedenen Interessen schon bei sich selbst leben, in die eigene Positionsfindung einbeziehen. Die sozioökologische Transformation wird so zum Kraftfeld für Volksparteien. Eine davon ist die deutsche Sozialdemokratie. Sie hat in ihrer Geschichte mehrfach gezeigt, dass und wie sie sich den Herausforderungen neuer langer Linien stellen und den Aufbruch organisieren kann. Gutes Regieren wird darin als selbstverständlich angesehen. Nur wem das zugetraut wird, der kann glaubhaft für Aufbruch stehen. Aber die beflügelnde Fantasie für diesen Aufbruch ist die Mehrheiten gewinnende Voraussetzung, um überhaupt gut regieren zu können. Wer dies in den 20er-Jahren des 21. Jahrhunderts vermitteln kann und dann auch hinbekommt, der wird diese 20er-Jahre dominieren. Ein lohnenswertes Projekt.
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Die Zukunft des Sozialstaates Norbert Lammert
„Die Zukunft war früher auch besser.“ Dieser vielzitierte Satz von Karl Valentin ist nicht ganz so witzig, wie er sich liest. Er eignet sich jedoch vorzüglich, um darüber nachzudenken, was sich von früheren Zukunftserwartungen und heutigen Gegenwartsängsten in der jüngeren Geschichte Deutschlands tatsächlich und in welche Richtung verändert hat. Unser Land befindet sich heute in einer guten Verfassung – zumindest in einer erkennbar besseren als viele unserer Nachbarländer, vom Rest der Welt gar nicht zu reden. Das hat nicht nur mit der geschriebenen Verfassung zu tun, dem Grundgesetz, das inzwischen siebzig Jahre alt ist, sondern ebenso mit der erfolgreichen Verbindung von wirtschaftlicher Prosperität, stabiler Demokratie und sozialer Sicherheit. Dazu haben staatliche Institutionen wie private Unternehmen beigetragen. Gesetzliche wie freiwillige Versicherungssysteme haben dazu ihren jeweils eigenen, aber unverzichtbaren Beitrag geleistet. Wenn es so etwas wie einen eigenen deutschen Beitrag zu unserem modernen Staatsverständnis gibt, dann ist es der Sozialstaat. Die Demokratie haben wir in Deutschland sicher nicht erfunden. Parlamente gab es auch woanders wesentlich früher als bei uns. Auch die Republik wurde andernorts früher ausgerufen. Selbst Rechtsstaaten und Bundesstaaten lassen sich anderswo in Europa und außerhalb Europas früher antreffen als auf deutschem Boden. Was in Deutschland früher, anders und nachhaltiger entstanden ist als andernorts, ist der Sozialstaat, dessen Anfänge kurz nach der Gründung des deutschen Nationalstaates in den 1880er-Jahren in der berühmten Bismarck’schen Sozialgesetzgebung wurzeln. Es sei daran erinnert, dass er damals nicht einem lauten Ruf aus der deutschen Wirtschaft gefolgt ist, sondern sich mit dieser Sozialgesetzgebung in einer erbitterten Auseinandersetzung mit dem liberalen deutschen Unternehmertum befunden hat, das diese Initiative für ebenso unnötig wie aussichtslos gehalten hat. Bismarck seinerseits hat niemals einen Zweifel daran gelassen, was seine Motivation bei dieser in jeder Beziehung historisch beispiellosen Gesetzgebung war: „Mein Gedanke war, die arbeitenden Klassen zu gewinnen oder soll ich sagen zu bestechen, den Staat als soziale Einrichtung anzusehen, die ihretwegen besteht und für ihr Wohl sorgen möchte.“1 Er hatte
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Otto von Bismarck, Die gesammelten Werke. Band 9: Gespräche, 1926, S. 195.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_14
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Norbert Lammert
damals nicht einmal ahnen können, welche Eigendynamik diese Charakterisierung weit über sein Lebenswerk hinaus gewinnen würde. Es lohnt darüber nachzudenken, in welchen Etappen und mit welcher Geschwindigkeit sich dieser deutsche Sozialstaat entwickelt hat. Zuerst muss daran erinnert werden, dass das, was damals in weniger als zehn Jahren zwischen 1883 und 1891 als staatliche Sozialversicherung gesetzlich begründet wurde – von der Unfall- und Krankenversicherung über die Invalidenversicherung bis hin zur Rentenversicherung 1891 – ganze zehn Prozent der Bevölkerung betraf. Oder andersherum formuliert: 90 Prozent der damals in Deutschland lebenden Menschen waren von diesen gesetzlichen Regelungen weder betroffen noch durch sie gesegnet. Der mit der gesetzlichen Rentenversicherung im Jahr 1891 erstmals begründete gesetzliche Versorgungsanspruch im Alter galt ab dem 71. Lebensjahr.2 Das ist mit Blick auf manche Debatten, die wir heutzutage führen, doppelt bemerkenswert. Was das im Übrigen sozialversicherungsrechtlich und finanzierungstechnisch bedeutete, erschließt sich vielleicht dann besonders gut, wenn man sich daran erinnert, dass die Lebenserwartung eines sechzigjährigen Mannes damals im Durchschnitt noch zwölf Jahre betrug. Zynisch formuliert: Er starb, bevor er den Anspruch realisieren konnte, der gerade gesetzlich begründet worden war. Die durchschnittliche Lebenserwartung für Männer, unter Berücksichtigung auch der damaligen Geburtensterblichkeit, lag damals bei 37 Jahren. 3 Die Zukunft war damals ganz sicher besser als die Vergangenheit. Im Jahr 1913, zwanzig Jahre nach der Etablierung dieses Systems und kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges, betrug die Sozialleistungsquote in Deutschland – also der Anteil aller Sozialleistungen an der gesamten Wirtschaftsleistung – überschaubare 3,1 Prozent. Im Jahr 1938, kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges, war sie auf sechs Prozent gestiegen.4 Nach dem Zweiten Weltkrieg – in der Bundesrepublik Deutschland – lag die Quote in den 1950er-Jahren zwischen 18 und 19 Prozent. Das waren die Jahre, in denen der junge deutsche Staat mit der erstaunlichen Wirtschaftskraft im Rücken, die sich viel früher, als die meisten für möglich gehalten hätten, entwickelt hatte, seinen Ehrgeiz in die Weiterentwicklung von Sozialleistungen steckte, sodass schon im Jahr 1975 ein Niveau erreicht war, das sich bis heute – mit ganz geringen Schwankungen nach oben und unten – gehalten hat, nämlich dreißig Prozent des Inlandsproduktes, das auf Sozialleistungen entfällt.5
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Deutsche Rentenversicherung Bund, 130 Jahre gesetzliche Rentenversicherung, München 2019. Abrufbar im Internet unter https://www.deutsche-rentenversicherung.de/SharedDocs/Downloads/ DE/Broschueren/broschuere-130-jahre-rentenversicherung.pdf?__blob=publicationFile&v=6, zuletzt abgerufen am 4. September 2020. Statistisches Bundesamt. Karl Teppe, Zur Sozialpolitik des Dritten Reiches am Beispiel der Sozialversicherung, in: Archiv für Sozialgeschichte 17 (1977), S. 195. Universität Duisburg Essen, Sozialpolitik aktuell, Entwicklung der Sozialleistungssysteme 1960–2012. Abrufbar im Internet unter http://www.sozialpolitik-aktuell.de/tl_files/sozialpolitik-aktuell/_Politikfelder/Finanzierung/Datensammlung/PDF-Dateien/abbII1a.pdf, zuletzt abgerufen am 4. September 2020.
Die Zukunft des Sozialstaates
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Wir haben heute in Deutschland, nach einer Übersicht des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung6, 150 verschiedene Sozialleistungen, die sich, wenn man private, berufsständische und vergleichbare Versicherungs- und Versorgungsleistungen mit einbezieht, auf die Gesamtgrößenordnung von rund einer Billion Euro belaufen. Das ist, um das in Relationen zu setzen, so viel wie das Sozialprodukt der Niederlande. Allein die jährlichen Ausgaben für Renten und Pensionen sind etwas größer als das Bruttoinlandsprodukt von Nigeria, einem Staat mit 200 Millionen Einwohnern. Mindestens so interessant wie die absoluten Größenordnungen sind die relativen Größenordnungen: Der Bundeshaushalt für das Jahr 2019 weist bei vorgesehenen Gesamtausgaben von 356,4 Milliarden Euro für den Haushalt des Ministeriums für Arbeit und Soziales stolze 145,3 Milliarden Euro aus.7 148,2 Milliarden Euro umfasst der gesamte Haushalt der Europäischen Union8 – eine bemerkenswerte Relation. Fast so bemerkenswert wie der Umstand, dass die knapp 150 Milliarden Euro, die unser Bundeshaushalt für Arbeit und Soziales vorsieht, etwas mehr ist als die Gesamtausgaben, die wir für Verteidigung, Verkehr, Infrastruktur, Bildung und Forschung, Inneres, Bauen, Wohnen, Gesundheit, Familie und Senioren zusammengenommen zur Verfügung stellen. Zumal wenn man berücksichtigt, dass über die Mittel hinaus, die im Etat des Sozialministers eingestellt sind, auch in anderen Ressorts nicht unbeachtliche Sozialausgaben – nicht nur in Form von Versorgungsleistungen – getätigt werden. Unter Berücksichtigung dieser Aspekte betrug der Anteil der Sozialausgaben am Bundeshaushalt im abgelaufenen Jahr 2019 50,4 Prozent9 und wird nach der Planung für das laufende Jahr 2020 51,3 Prozent betragen.10 Mit anderen Worten: Der Sozialstaat wächst – und er wächst mit einer erstaunlichen Kontinuität. Noch erstaunlicher ist aber, dass die öffentliche Vermutung genau gegenteilig ist. Aus meinen Erfahrungen aus zahlreichen Wahlkämpfen weiß ich verlässlich, dass kein Vorwurf regelmäßiger erhoben wird als dieser: Wann immer gekürzt werde, würde
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ifo Schnelldienst, 2019, 72, Nr. 04, Seite 36, Verlag: ifo Institut, München, 2019. Abrufbar im Internet unter http://www.cesifo-group.de/DocDL/sd-2019-04-bloemer-fuest-peichl-ifo-hartziv-vorschlag-2019-02-21.pdf, zuletzt abgerufen am 2. September 2020. 7 Bundesministerium der Finanzen. Abrufbar im Internet unter https://www.bundeshaushalt. de/#/2019/soll/ausgaben/einzelplan.html, zuletzt abgerufen am 2. September 2020. 8 Amtsblatt der Europäischen Union: Endgültiger Erlass (EU, Euratom) 2019/333 des Gesamthaushaltsplans der Europäischen Union für das Haushaltsjahr 2019, 7.3.2019. Abrufbar im Internet unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX%3A32019B0333, zuletzt abgerufen am 2. September 2020. 9 Bundesministerium der Finanzen, Sollbericht 2019: Ausgaben und Einnahmen des Bundeshaushalts, BMF-Monatsbericht Februar 2019. Abrufbar im Internet unter https://www.bundesfinanzministerium.de/Monatsberichte/2019/02/Inhalte/Kapitel-3-Analysen/3-2-sollbericht-2019. html, zuletzt abgerufen am 4. September 2020. 10 Bundesministerium der Finanzen, Sollbericht 2020: Ausgaben und Einnahmen des Bundeshaushalts, BMF-Monatsbericht Februar 2020. Abrufbar im Internet unter https://www.bundesfinanzministerium.de/Monatsberichte/2020/02/Inhalte/Kapitel-3-Analysen/3-1-sollbericht-2020. html, zuletzt abgerufen am 4. September 2020. 217
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Norbert Lammert
zuerst bei den Sozialleistungen gekürzt – aber wenn irgendetwas sicher falsch ist, dann dieser Vorwurf. Auch und gerade nach der Wiederherstellung der Deutschen Einheit ist aus zwingenden Gründen sowohl das absolute wie das relative Volumen der Ausgaben für Soziales natürlich nicht zurückgegangen, sondern gestiegen. Für die Kommunen gilt das in mindestens gleicher, an mancher Stelle in noch stärkerer Weise. Weil die Vermutung weit verbreitet ist, wir lebten in Zeiten neoliberaler Verirrungen und rücksichtsloser Kürzungen von eigentlich vordringlichen sozialen Aufgaben, sei daran erinnert, dass sich in allerjüngster Zeit der Sozialstaat wiederum quantitativ wie qualitativ weiterentwickelt hat: Kindertagesstätten, Jugendhilfe, Pflege- und Behindertenhilfe werden im Jahr 2020 und in den Folgejahren nicht niedriger, sondern deutlich höher dotiert als in der Vergangenheit. Wir haben seit jüngerer Zeit einen gesetzlichen Mindestlohn. Wir haben erweiterte Unterhaltsvorschüsse für Alleinerziehende. Das Elterngeld Plus eröffnet Eltern flexiblere Möglichkeiten zur Verbindung von Beruf und Familie. Das kann man – und muss man auch – alles für eine Errungenschaft halten. Aber wenn wir nicht gelegentlich darüber nachdenken, ob die schlichte Verlängerung einer bemerkenswerten Erfolgsgeschichte der strategische Königsweg in die Zukunft ist oder ob wir nicht vielleicht an der einen oder anderen Stelle neu justieren müssen, um zumindest die Voraussetzungen dafür aufrechtzuerhalten, dass wir uns das vorhandene System von Sozialleistungen weiter leisten können, dann ist uns nicht zu helfen. Denn: Alles hat seinen Preis. Wenn man nicht nur über absolute, sondern auch über relative Größenordnung von Budgets nachdenkt, dann bedeutet ein ständig größer werdender Sozialstaat, dass das, was an der einen Stelle zusätzlich getan wird, an einer anderen Stelle absolut oder relativ weniger geschieht. Auch hierzu sei eine Vergleichszahl genannt: Der Anteil aller Bildungsausgaben in Deutschland am Bundeshaushalt lag 2005 bei 4,4 Prozent11, 2017 bei 7,0 Prozent12, 2018 bei 6,9 Prozent13. Was auch immer die Begründung dafür sein mag, dass wir für Soziales absolut und relativ immer mehr, aber für Bildung – und die damit erreichbare Erhaltung und Weiterentwicklung der Qualifikationen in unserer Gesellschaft – immer weniger ausgeben: Dass sich das zu einem errechenbaren Zeitpunkt selbst aufhebt, ist auch mit mittelmäßiger mathematischer Begabung mühelos nachvollziehbar. Irgendwann kreuzen sich die beiden Linien und spätestens dann kollabiert das System. Es sei auf einen weiteren Aspekt aufmerksam gemacht, der den meisten vielleicht gar nicht so neu sein wird, und der passend mit genau der Ankündigung korrespondiert, die 11 Haushaltsrechnung und Vermögensrechnung des Bundes für das Haushaltsjahr 2005 (Jahresrechnung 2005). 12 Bundesministerium der Finanzen, Vorläufiger Abschluss des Bundeshaushalts 2017, Januar 2018. Im internet abrufbar unter: https://www.bundesfinanzministerium.de/Monatsberichte/2018/01/ Inhalte/Kapitel-3-Analysen/3-7-Vorlaeufiger-Haushaltsabschluss-2017.html, zuletzt abgerufen am 4. September 2020. 13 Bundesministerium der Finanzen, Vorläufiger Abschluss des Bundeshaushalts 2018, Januar 2019. Im Internet abrufbar unter https://www.bundesfinanzministerium.de/Monatsberichte/2019/01/ Inhalte/Kapitel-3-Analysen/3-4-vorlaeufiger-abschluss-bundeshaushalt-2018.html, zuletzt abgerufen am 4. September 2020.
Die Zukunft des Sozialstaates
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Otto von Bismarck bei seiner vergleichsweise bescheidenen Gesetzgebung vor 130 Jahren im Auge hatte, nämlich den Staat als soziales Sicherungssystem seiner Bürger zu etablieren. Umfragen, die es zu diesem Thema in der Vergangenheit immer wieder gegeben hat, kommen zu dem Ergebnis: Um die Altersversorgung soll sich der Staat kümmern. Diese Auffassung ist übrigens statistisch in den Umfragen umso ausgeprägter, je jünger die Befragten sind. Die Vorstellung, dass es sich bei der Absicherung von Lebensrisiken zunächst einmal um eine individuelle Verantwortung handelt, und ergänzend sicher um eine gesellschaftliche bzw. staatliche, kommt in einem sich perfektionierenden Sozialstaat immer mehr abhanden. Es liegt ja auch geradezu in der Logik des sich ständig ausdehnenden Sozialstaates, dass er die Vorstellung am Ende beinah beseitigt, dass für die eigenen Risiken zunächst einmal jeder selbst verantwortlich sei. Inzwischen haben wir die stabile gegenteilige Vorstellung, dass für die Bewältigung von Risiken zunächst der Staat zuständig sei und man allenfalls über den Teil reden könne, der dem Einzelnen in diesem Zusammenhang zugemutet werden dürfe. Das ist leider überhaupt nicht witzig, weil wir es längst mit einer Reihe von Problemlagen zu tun haben, von denen ich nur zwei, gewissermaßen exemplarisch, zur Illustration vorstellen will. Das Institut für Arbeits- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit hat 201814 auf eine Reihe von Fallen aufmerksam gemacht, in die sich der Sozialstaat selbst durch seine Organisations- und Leistungszusagen bringt. Ein Beispiel: Eine alleinerziehende Frau mit zwei Kindern arbeitet in Teilzeit, verdient rund 1.300 Euro brutto im Monat. Weil das so ist, hat sie Anspruch auf Wohngeld, Kindergeld und Kinderzuschlag. Rechnet man das eigene Nettoeinkommen aus ihrer Arbeit und die Sozialleistungen zusammen, kommt solch eine Alleinerziehende auf 2.070 Euro, über die sie im Monat tatsächlich verfügen kann. Käme sie auf die Idee, länger zu arbeiten, um deutlich mehr zu verdienen, also beispielsweise 2.500 Euro im Monat, hätte sie im Ergebnis so viel Geld zur Verfügung wie vorher. Denn weil sie jetzt Steuern und Sozialabgaben zahlen müsste und gleichzeitig weniger Wohngeld und Kinderzuschlag erhielte, hätte sie am Ende genauso viel Geld wie vorher und halb so viel Zeit für ihre Kinder. Sie verhält sich schlicht rational, wenn sie selbst von vorhandenen Beschäftigungsmöglichkeiten keinen Gebrauch macht. Zweites Beispiel: Die Bertelsmann Stiftung hat im vergangenen Jahr eine Studie bei der Ruhr-Universität Bochum in Auftrag15 gegeben mit dem Ziel, künftige Sozialbeiträge, die sich aus und in Beschäftigungsverhältnissen ergeben, unter den geltenden Bedingungen unseres Sozialstaates zu errechnen. Das Ergebnis lautet: Ein Durchschnittsverdiener, der 14 Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Erwerbstätige im unteren Einkommensbereich stärken. Ansätze zur Reform von Arbeitslosengeld II, Wohngeld und Kinderzuschlag, IAB Forschungsbericht 9/2018. Abrufbar im Internet unter http://doku.iab.de/forschungsbericht/2018/ fb0918.pdf, zuletzt abgerufen am 2. September 2020. 15 Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Martin Werding, Benjamin Läpple: Wie variabel ist der demografische Alterungsprozess? Kurzstudie, 1. Auflage 2019. Abrufbar im Internet unter https:// www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/Kurzstudie_Wie_variabel_ist_der_demografische_Alterungsprozess_2019.pdf, zuletzt abgerufen am 2. September 2020. 219
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Norbert Lammert
1970 geboren ist, muss in seinem Leben insgesamt 570.000 Euro an Sozialbeiträgen aufbringen. Gut, dass man ihm das nicht sagt, wenn er sein erstes Einkommen bezieht. Für ein heute zehn Jahre altes Kind, Jahrgang 2010, wird es deutlich teurer. Geht es später mit gleichem Lohnniveau durchs Arbeitsleben, muss es 741.000 Euro aufbringen, um ähnliche Sozialversicherungsleistungen zu erhalten wie seine Eltern. Es zahlt ein Drittel mehr als den ohnehin erstaunlichen Betrag von aktuell 570.000 Euro. Wer 1970 geboren ist, und annahmegemäß typischerweise von 1990 bis 2037 im Arbeitsleben steht, wird demnach durchschnittlich Sozialabgaben von 41,6 Prozent des Bruttolohns schultern müssen. Wer 2010 geboren ist, wird es dagegen von 2030 bis 2077 mit Sozialabgaben von durchschnittlich 54,1 Prozent zu tun haben. Mit niedriger Geburtenrate, geringer Zuwanderung und stärkerer Alterung der Gesellschaft würde der Durchschnittsbetrag der jüngeren Generation auf 56 Prozent steigen. Es ist fraglich, ob wir eine schlagartig andere Betrachtung der Zukunftsfestigkeit dieses Systems hätten, wenn den allermeisten diese Zahlen, diese Größenordnungen und diese Perspektiven bekannt wären. Jedenfalls besteht kein Zweifel daran, dass die freiwillige und unfreiwillige Ignoranz gegenüber diesen Zusammenhängen eine der scheinbar stabilen Grundlagen der Zuversicht ist, es könne alles genauso bleiben, wie es gegenwärtig ist. Das wiederum glaube ich überhaupt nicht. Ich glaube tatsächlich, dass wir längst den Punkt erreicht haben, an dem wir neu justieren müssen, und an dem wir uns jedenfalls schon gar unter den Bedingungen einer funktionierenden stabilen Demokratie, in der in regelmäßigen Abständen Mehrheiten darüber entscheiden, wie sie es denn gerne hätten, uns neu mit der Frage beschäftigen müssen, wie wir es denn gerne hätten; ob es wirklich klug ist, die Perfektionierung eines im internationalen Maßstab ohnehin beinah beispiellosen Systems zur obersten Messlatte der Politik zu machen, oder ob wir uns nicht längst lieber mehr der Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Gesellschaft und unserer Wirtschaft widmen müssten, ohne die dieses Sozialleistungssystem schon seinen Status quo nicht aufrecht erhalten kann. Populär ist das nicht – und wenn der Eindruck nicht täuscht, ist die Neigung, in eine solche Richtung neu zu justieren, auch außerordentlich übersichtlich. Das führt zu einem letzten Beispiel: dem bedingungslosen Grundeinkommen, dem neuen Kernthema der Sozialstaatsdebatte. Dahinter steht nicht nur der nicht ganz neue Gedanke, dass sichergestellt sein sollte, dass jeder in der Lage ist, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten – selbst dann, wenn er weder über verlässliche und auskömmliche Erwerbseinkommen noch über Vermögen verfügt. Dahinter steht vielmehr der erstaunliche Gedanke, es müsse einen solchen Rechtsanspruch geben, der nicht hinterfragbar sei, bei dem also die Frage, ob er im Einzelfall überhaupt gebraucht wird, nicht gestellt werden dürfe, weil nach unserem modernen Sozialstaatsverständnis bereits die Feststellung von Bedürftigkeit in die Kategorie von unzumutbaren Belastungen gehört.
Die Zukunft des Sozialstaates
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Robert Habeck, Co-Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen, hat die damit verbundenen Überlegungen in der Weise konkretisiert16, dass es ein Garantieeinkommen pro Person oberhalb der heutigen Grundsicherung geben solle, bei dem Vermögen bis zu 100.000 Euro pro Person und eine selbstbewohnte Immobilie im üblichen Umfang anrechnungsfrei sein sollten. Georg Cremer, der langjährige Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes, hat in einem lesenswerte Essay vom Frühjahr 201917 darauf hingewiesen, dass ein Paar, das ein schuldenfreies Einfamilienhaus in attraktiver Lage und knapp 200.000 Euro Finanzvermögen besitzt, das nicht angerechnet wird, sich damit im obersten Fünftel der Vermögensbesitzer in Deutschland befindet – und gleichzeitig Rechtsanspruch auf ein bedingungsloses Grundeinkommen hätte. Wir haben es erstaunlich weit gebracht, dass wir uns solche Debatten nicht nur erlauben können, sondern auch kaum jemand auf die Idee kommt, dass diese sich eigentlich für Wunschkonzerte eher eignen als für ernsthafte gesellschaftspolitische Zukunftsperspektiven. Es ist vielleicht gut, dass wir zwar beschreiben können, was wir in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten hinter uns gebracht haben, aber die Frage, was wir künftig vor uns haben, noch nicht beantworten können. Neben einer Vielzahl von Unterschieden gibt es einen ganz kategorischen Unterschied zu den Zeiten, in denen unser Sozialstaat begründet wurde, nämlich dass wir heute, jedenfalls was unser Land betrifft, über gefestigte demokratische Strukturen verfügen und selbst in der Lage, damit aber auch selbst verantwortlich sind, wie wir mit unseren eigenen Zukunftsaussichten umgehen. Was im Übrigen im Umkehrschluss bedeutet: Wir haben auch keine Ausrede. Das, was uns nicht gelingt, haben wir zu verantworten. Es sind nicht irgendwelche finsteren Mächte, die uns an dem hätten hindern können, was wir vernünftigerweise vielleicht auch anders hätten machen können, als wir es tatsächlich getan haben. Darüber nachzudenken lohnt ganz sicher, auch und gerade mit Blick auf die wiederum beachtlichen Veränderungen, mit denen wir es längst zu tun haben, den Technologiesprüngen, die unsere Arbeitsmärkte und unsere Wirtschaft beinahe in neue Aggregatzustände versetzen. Wobei auch sehr zu empfehlen ist, dies weder zu banalisieren noch zu dramatisieren. Wir haben auch eine gewisse Begabung, uns bei Herausforderungen einzureden, mit ähnlichen Aufgabenstellungen hätte noch nie eine Generation zu tun gehabt und eigentlich sei es schon eine Gemeinheit, dass ausgerechnet uns das erwische. Dies sei zum Schluss mit einem prominenten Beispiel illustriert: Die Frage, was Technologiesprünge für den Arbeitsmarkt und damit auch für den Sozialstaat bedeuten, hat in den 1920er-Jahren, also vor fast 100 Jahren, viele kluge Leute beschäftigt. Darunter den großen John Maynard Keynes. Dieser hat 1928 prognostiziert, dass die Menschen in 100 Jahren 16 Robert Habeck, Anreiz statt Sanktionen, bedarfsgerecht und bedingungslos, in: Gruene.de, 14.11.2018. Abrufbar im Internet unter https://www.gruene.de/artikel/anreiz-statt-sanktionenbedarfsgerecht-und-bedingungslos, zuletzt abgerufen am 2. September 2020. 17 Georg Cremer, Wohltätiger Staat ja, lästiger Staat nein?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.2.2019, S. 6. 221
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– also fast heute – nur noch 15 Stunden in der Woche arbeiten würden und ihr größtes Problem dann darin bestünde, die übrige Zeit sinnvoll zu nutzen.18 Nicht Karl Valentin, sondern John Maynard Keynes sah eine „technologische Arbeitslosigkeit“ voraus: „Hiermit ist die Arbeitslosigkeit gemeint, die entsteht, weil unsere Entdeckung von Mitteln zur Einsparung von Arbeit schneller voranschreitet als die Fähigkeit, neue Arbeit zu finden.“19 Das kommt uns vertraut vor, doch ganz so ist es eben nicht gekommen. Die Arbeitszeit ist deutlich reduziert worden, aber die Vorhersage nicht in Erfüllung gegangen. Die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland ist nie höher gewesen als gegenwärtig. Gleichzeitig hat sich das Arbeitsvolumen ausgeweitet auf gegenwärtig etwa sechzig Milliarden Stunden im Jahr. Das ist der höchste Stand, den es seit 25 Jahren gibt.20 Nicht trotz, sondern vielleicht auch wegen der Technologiesprünge, mit denen wir es zu tun haben. Es gibt insofern sowohl ermutigende wie besorgniserregende Aspekte. Meine Empfehlung ist: das Eine wie das Andere ernst zu nehmen und als gemeinsame Herausforderung für die Zukunft zu begreifen.
18 Joachim Voth, Wer weniger arbeitet, kann mehr konsumieren, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 20.12.2009, S. 52. 19 In einem 1928 von John Maynard Keynes als Rede in Cambridge gehaltenen Essay; im Juni 1930 erweitert zu einer Vorlesung über „Ökonomische Möglichkeiten für unsere Enkelkinder“, gehalten in Madrid; in gedruckter Form in zwei Folgen der Zeitschrift „The Nation & The Athenaeum“ am 11. und 18. Oktober 1930 erschienen. 20 Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Arbeitsvolumen lag im dritten Quartal 2017 auf dem höchsten Stand seit 25 Jahren, Presseinformation des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung vom 05.12.2017. Abrufbar im Internet unter https://www.iab.de/de/informationsservice/presse/presseinformationen/az1703.aspx, zuletzt abgerufen am 4. September 2020.
Teil 4 Staat und Politik
Nach 30 Jahren. Ein freundlicher Blick auf die Deutsche Vereinigung Wolfgang Thierse
Im vergangenen Jahr, im vergangenen Herbst haben wir den 30. Jahrestag der Friedlichen Revolution (nicht bloß einer „Wende“) begangen, in diesem Jahr 2020 ist es der 30. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung, den wir zu begehen haben. Das sind Zeiten der Erinnerungen an einen Aufbruch in die Freiheit und in die Demokratie – das war es schließlich, was Sinn und Ziel der Herbstrevolution von 1989 in der DDR und im Osten Europas gewesen ist! Erinnerungen also an großes historisches Glück! Und Anlass zur Freude und Dankbarkeit! An beidem will ich trotzig festhalten – auch 30 Jahre danach. Aber die Stimmung war in den vergangenen Monaten doch eigentümlich getrübt, ein wenig zwiespältig – wenn ich es richtig wahrgenommen habe. Warum war das so, warum ist das so? Die Bilanz ist doch schließlich wirklich nicht so schlecht, wie manche uns einreden wollen. Vergegenwärtigen wir uns: Wir Deutschen leben inzwischen länger wiedervereinigt, als wir durch die Mauer getrennt waren und in zwei gegensätzlichen, gegeneinander nicht nur ideologisch hochgerüsteten Systemen gelebt haben. Ich selbst jedenfalls habe die volle Zeit mit und ohne Mauer durchlebt. Die Zeit seit dem 9. November 1989 ist rasend schnell vergangen, in meiner Wahrnehmung so schnell, dass mir die Zeit davor in der DDR wie der pure Stillstand erscheinen will. So sehr hat sich das Land seither verändert und mein eigenes Leben auch! Die Bilanz ist gemischt, aber doch insgesamt positiv. Das Wichtigste: Unser Land ist nicht mehr der Hauptschauplatz des Kalten Krieges, einer mühseligen und gefährlichen Systemauseinandersetzung, die allzu viel an materiellen Ressourcen und an menschlichen Opfern gekostet hat. Wir erleben aber, dass auch der Frieden keine reine Idylle ist. Vieles ist gelungen, aber doch nicht alles. Die Erfolge waren und sind häufig mit Schmerzen verbunden gewesen und beide sind ungleich verteilt. Das hartnäckige Diktum aber von der „Mauer in den Köpfen“, in den vergangenen drei Jahrzehnten oft genug empört oder resignierend wiederholt, ist falsch. Umso jünger die Befragten sind, desto weniger stimmen sie übrigens dem behaupteten Befund zu. Dabei gibt es wahrlich noch unübersehbare Unterschiede zwischen Ost und West, wirtschaftlich, sozial, politisch, mental. Immer wieder flackert die innerdeutsche Debatte auf, werden Ost-West-Ungereimtheiten, Vorwürfe, Fremdheiten zum Gegenstand öffentlicher Aufregungen. Regelmäßig – zuletzt nach den Landtagswahlen im Herbst 2019 und den Erfolgen der AfD – wird die vorwurfs© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_15
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voll-beunruhigte Frage laut: „Was ist nur mit dem Osten los?“ Im Herbst erregte die Klage Aufmerksamkeit, dass Ostdeutschland von einer westdeutschen Elite beherrscht würde und Ostdeutsche in den vergangenen 30 Jahren kaum Führungschancen gehabt hätten (als hätte es nicht die Ossis Gauck, Merkel, Thierse in hervorgehobenen Verfassungsämtern gegeben). Von „kulturellem Kolonialismus“ wurde gesprochen. Vom Osten als abgehängter Region war die Rede, von Demütigungen und Missachtung. All das bestätigt meinen Ärger über die Unfähigkeit und den Unwillen vieler Ostdeutscher zu positiver Selbstwahrnehmung. Ich wage gar nicht von Stolz zu reden. Dabei haben wir Ostdeutschen doch Anlass, mit Selbstbewusstsein auf die Friedliche Revolution und die Bewältigung einer dramatischen und schmerzlichen Transformation zu blicken. Das ist doch eine große soziale und kulturelle und menschliche Leistung! Wir haben einen Erfahrungsschatz gewonnen, der für die vor uns stehenden, vermutlich nicht weniger dramatischen Veränderungsprozesse von Vorteil sein könnte, sein sollte. Daraus wünsche ich mir mehr Ermutigung und Ermunterung für uns Ostdeutsche. Jedenfalls halte ich einen selbstbewusst freundlichen Rückblick für produktiver als das ständig neu angestimmte Klagelied über Benachteiligung, Kolonisierung und Unterdrückung der Ostdeutschen. Schauen wir genauer hin und vermeiden Übertreibungen bei der Beschreibung des bisher Geleisteten und des Nichterreichten. Die Bundesregierung legt alljährlich ihren Bericht zum Stand der Deutschen Einheit vor und listet darin in gebotener Nüchternheit das Erreichte und die verbliebenen Differenzen auf. Diesem kann man entnehmen, wie weit wir im prosaischen Vereinigungsalltag der vergangenen 30 Jahre gekommen sind. Von Euphorie, von Aufbruch ist ja schon länger nichts mehr zu spüren, erklärlicherweise. Wir haben – entgegen früheren Vorstellungen und Hoffnungen – inzwischen einsehen müssen, dass die von unserer Verfassung (§ 72 des Grundgesetzes) vorgeschriebene „Herstellung gleicher Lebensverhältnisse“ in Ost und West mehr Kraft, Ausdauer und Zeit erfordert, als wir es uns erhofft oder auch eingeredet oder manche Politiker vollmundig versprochen haben. Die zu bewältigende Aufgabe war allerdings riesig, nämlich die Umwandlung einer Plan- in eine Marktwirtschaft. Konkret ging es um die Beseitigung massiver Ineffizienzen der DDR-Wirtschaft, um die Einführung einer konvertiblen Währung, um die vollständige Erneuerung des privatwirtschaftlichen Kapitalstocks und der öffentlichen Infrastruktur sowie um die Entwicklung weltmarktfähiger Produkte. Ein schmerzlicher, radikaler, ökonomischer Transformationsprozess innerhalb weniger Jahre. Nach dem Umbruch (und dem ostdeutschen Einbruch) in den 90er-Jahren sowie dem mühseligen Aufbauprozess danach liegt der Osten Deutschlands heute bei den wichtigsten ökonomischen Daten– trotz aller Fortschritte – deutlich hinter dem Westen Deutschlands zurück, teilweise um 20 bis 30 %. Das gilt für das BIP, für die gesamtwirtschaftlichen Investitionen, für die Aufwendungen bei Forschung und Entwicklung, für die Exportquote, für die Arbeitsproduktivität. Die Folgen sind eine geringere Arbeitsproduktivität, ein niedrigeres Niveau bei Löhnen, Einkommen und Vermögen, eine höhere Arbeitslosigkeit und ein größeres Armutsrisiko sowie deutlich niedrigeres Steueraufkommen. Vor allem aber: Der ökonomisch-soziale Angleichungsprozess hat sich in den letzten Jahren verlangsamt, ja er ist bei einigen Faktoren beinahe zum Erliegen gekommen.
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Angesichts der Hoffnungen und Versprechungen vor 30 Jahren mögen diese Befunde enttäuschend, ja schmerzlich erscheinen. Sie sind das durchaus ernüchternde Ergebnis erheblicher solidarischer Kraftanstrengungen, von einer gewaltigen Transferleistung. Diese wird auf über 1,5 Billionen Euro beziffert, wobei diese Zahl durchaus umstritten, mindestens interpretationsbedürftig ist, schließlich wirkte der Aufbau Ost auch als Konjunkturprogramm West. Man mag angesichts der genannten Fakten skeptisch in die Zukunft schauen oder gar vernichtend urteilen. Und der deutsche Jammerton ist ja immer noch und wieder zu hören. Die Rede aber vom „Milliardengrab Ost“ war immer beleidigend für die Bürger im Osten Deutschlands. Man muss schon blind oder böswillig sein, um die Erfolge der gemeinsamen Anstrengungen nicht zu sehen. Der bloße Blick in ostdeutsche Städte mit ihren erneuerten Häusern, Straßen und Plätzen, ihrer modernisierten Infrastruktur ist überzeugend genug, vor allem wenn man die Bilder des Verfalls von vor 1990 noch im Gedächtnis hat. Das beste Beispiel dafür ist Görlitz – eine wunderbar restaurierte Schönheit unter den deutschen Städten, die allerdings wirtschaftlich gefährdet ist, wenn Siemens für sein dort übernommenes Werk keine Zukunft sichert. Görlitz ist übrigens auch ein besonders eindrucksvoller Beleg dafür, wie ein Auftrag des Einigungsvertrages (mit privater Unterstützung) überzeugend eingelöst worden ist. Im Einigungsvertrag (Artikel 35) war ausdrücklich die Aufgabe formuliert, dass die kulturelle Substanz im Osten Deutschlands keinen Schaden nehmen dürfe. Die Milliarden haben gerade im Bereich der Kultur Wirkung gezeigt: Deren materielle Grundlagen – also Städtebau, Baudenkmäler, Theater, Museen, Konzerthallen, Gedenkstätten, Archive und Sammlungen, Schlösser und Gärten – sind weithin saniert und modernisiert. Und vor allem auch: Sie werden teilweise dauerhaft vom Bund mitfinanziert. Die kulturelle Substanz Ostdeutschlands ist zukunftsfähig gemacht worden, eine höchst respektable Leistung, von der ich mir wünsche, dass sie von den Deutschen in Ost wie West wahrgenommen und gewürdigt wird! Wie sind nun die genannten Fakten, wie ist die bisherige Wiedervereinigungsgeschichte zu bewerten hinsichtlich der Frage, wie lange das noch dauern wird mit der deutschen Vereinigung? Zunächst: Vieles schlägt auf der Habenseite zu Buche, vieles steht noch auf der Sollseite. Wir sind noch längst nicht am Ende des Weges angekommen, gesamtdeutsche Solidarität bleibt notwendig, auch über den Solidarpakt II hinaus, der bis zum Jahr 2019 gegolten hat. Aber: Der Osten Deutschlands ist nicht einfach und unterschiedslos mehr der Osten geblieben, sondern ist inzwischen ein bunter Flickenteppich von unterschiedlichen Erfolgen, unterschiedlicher Wirtschaftskraft, unterschiedlichen Strukturstärken und -schwächen, unterschiedlicher Attraktivität und Lebensqualität. Dresden, Jena, Leipzig, Berlin und Potsdam stehen nun wirklich ganz anders da als manche Regionen in Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt. Diese Unterschiedlichkeiten werden sich vielleicht noch weiter verschärfen. Es gibt ähnliche Entwicklungen auch im Gebiet der alten Bundesrepublik. Weil das so ist, brauchen wir für die kommenden Jahre – egal ob das dann Solidarpakt III heißt oder nicht – ein neues System zur Förderung strukturschwacher Regionen in ganz Deutschland, aber gewiss noch unter besonderer Berücksichtigung der schwachen ostdeutschen Regionen. 227
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In den vergangenen 30 Jahren sind ca. vier Millionen Menschen von Ost nach West gewandert – das ist ein schmerzlicher, trauriger Vorgang für die aus ostdeutscher Sicht „Zurückgebliebenen“. In der gleichen Zeit aber sind über zwei Millionen Menschen von West nach Ost umgezogen. Da entsteht eine neue deutsche Mischung (die zu uns gekommenen Flüchtlinge eingeschlossen), auf die ich setze, mit der ich Hoffnungen verbinde. Schließlich haben wir nicht die Mauer vom Osten aus zu Fall gebracht, um unter uns zu bleiben (als Ost- oder Westdeutsche), im Gegenteil. Dazu passen Ergebnisse von Umfragen, die immer mal wieder zu lesen sind: junge Menschen in Ostdeutschland bewerten die Wiedervereinigung deutlich positiver als die Bevölkerung insgesamt. In den ostdeutschen Universitätsstätten wie z. B. Leipzig, Halle oder Jena kann man diese verbesserte Stimmungslage gut beobachten. Nur Dresden ist eine eigentümlich widersprüchliche Ausnahme. Für den Prozess der Wiedervereinigung waren und sind nicht nur ökonomische und soziale Faktoren relevant, aussagekräftig und von Gewicht für die Bewertung des Erreichten. Die deutsche Vereinigung ist auch und ganz wesentlich ein kultureller Prozess, ein Prozess des Kennenlernens, der Mentalitätsveränderungen, der zivilgesellschaftlichen Wandlungen. Und dieser Teil des Prozesses erscheint mir von besonderer Unabschließbarkeit. Ralf Dahrendorf, der Soziologe und politische Denker, sagte 1990 für den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbau der postkommunistischen Länder folgenden Zeitbedarf voraus: Für die Einführung politischer Demokratie und rechtsstaatlicher Verhältnisse veranschlagte er sechs Monate, für den Übergang zur Marktwirtschaft sechs Jahre und für die Entwicklung einer Zivilgesellschaft sechzig Jahre. Nach dieser Prognose liegen wir noch im Zeitplan. Ostdeutschland hatte Dahrendorf allerdings nicht vor allem im Blick. Für uns Ostdeutsche galt eine privilegierte Sondersituation. Wir wurden sechs Monate nach den freien Wahlen zur Volkskammer politisch in die Bundesrepublik integriert. Wir absolvierten den ersten Schritt der Transformation zeitgerecht durch die Übernahme einer freiheitlichen und sozialen Rechtsordnung. Dazu kam ein relativ großes Maß an Stabilität und sozialstaatlicher Sicherheit: Die öffentlichen Aufgaben waren finanziell und die Menschen sozial abgesichert – jedenfalls kein Vergleich mit der Lage in den meisten jungen Demokratien Mittel- und Osteuropas. Was im Vergleich mit unseren mittelosteuropäischen Schicksalsnachbarn 1990 und danach ein Vorteil für die Ostdeutschen war – wirtschaftlich, finanziell, sozial, politisch – das verbarg und enthielt einen subjektiven, mentalen, sozialpsychologischen Nachteil, der bis heute weiter- und nachwirkt. Ich meine zunächst die patriarchale Prägung, die Helmut Kohl dem Einigungsprozess gegeben hat. „Ich nehme Euch an die Hand und führe Euch ins Wirtschaftswunderland“ – diese Wahlkampfintonation hat zu Helmut Kohls Wahlerfolg in der (Ex-)DDR geführt. Viele Ostdeutsche wollten in ihrer Umbruchsunsicherheit unbedingt glauben und waren – durchaus verständlich – geradezu süchtig nach Hoffnung machenden Versprechungen. Zu den auf besonders nachhaltige Weise nachwirkenden Faktoren gehört zum anderen und vor allem das durchaus unvermeidliche Grundmuster der deutschen Vereinigung. Manche kritisieren bis heute, dass die politisch-rechtlich als Beitritt vollzogene deutsche Vereinigung keine Vereinigung gleichberechtigter Partner gewesen sei. Aber gewiss: Es
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war keine Vereinigung von Gleichen. Wenn nämlich ein starkes, erfolgreiches Gemeinwesen und ein gescheitertes, zusammengebrochenes, abgelehntes System zusammenkommen, dann sind die Gewichte klar verteilt: Das Eine ist die Norm, die die Anderen zu übernehmen haben; die Einen sind die Lehrmeister, die Anderen die Lehrlinge; bei den Einen kann alles so bleiben, bei den Anderen muss sich alles ändern; die deutsche Einheit wirkte bei den Einen als Bestätigung des Status quo, bei den Anderen bewirkte sie einen radikalen Umbruch. Ich sage das ausdrücklich ohne Vorwurf! Denn warum sollte in Köln oder München jemand denken, bei ihm müsse sich etwas ändern, weil in Leipzig der Kommunismus erledigt wurde? Aber aus dieser unvermeidlichen und zugleich für die Ostdeutschen sehr schmerzlichen Grundkonstellation folgerte kein Verhältnis von Gleichrangigkeit zwischen Ost- und Westdeutschen. Folgerte die ostdeutsche Erwartung, der Westen werde alles richten, alles zum Guten wenden. Folgerte die Bereitschaft, an Wunder glauben zu wollen. Und folgerte dann die größere Enttäuschbarkeit, die wiederholte Enttäuschung vieler Ostdeutscher – sichtbar in der größeren Volatilität der ostdeutschen Wähler, bis hin zur beschämend niedrigen Wahlbeteiligung und zuletzt in Sachsen, Brandenburg und Thüringen die Bereitschaft, antidemokratisch zu wählen. Hatte man in Ostdeutschland zunächst (1990 und 1994) seine Hoffnungen und Erwartungen an die CDU adressiert und danach (1998 und 2002) an die SPD, so hat man in den folgenden Wahlen seine Enttäuschung und Wut zunächst zur Linkspartei und zuletzt zur AfD getragen. Dieses Wahlverhalten und auch vielfältige politisch-soziologische Studien belegen, dass nach fast sechs Jahrzehnten in zwei – gewiss höchst unterschiedlichen – Diktaturen und nach drei Jahrzehnten des auch schmerzlichen Einigungs- und Angleichungsprozesses das Ja zu den Mühen und Enttäuschungen der Demokratie vielen Ostdeutschen schwerer fällt als erhofft. Die in Zeiten von heftigen Umbrüchen und dramatischen Wandlungen so dringend notwendige und zugleich schwer zu erwerbende Demokratieresilienz ist sichtbar in Ostdeutschland geringer ausgebildet. Ralf Dahrendorf hatte wohl recht: Die Entwicklung einer selbstbewussten Bürgergesellschaft dauert länger und ist widersprüchlicher als erwartet, weil die Nachwirkungen jahrzehntelanger autoritärer Prägungen zäh sind und die bejahende Einübung in demokratische Selbstverantwortung schwieriger ist unter widrigen ökonomischen und sozialen Bedingungen, also angesichts von Arbeitslosigkeit, von Benachteiligungserfahrungen, von Veränderungsängsten. (Pegida ist eben nicht zufällig im Osten bzw. in Dresden entstanden.) Aber es geht doch nicht nur um eine ostdeutsche Problematik! Die von vielen Menschen als bedrohlich empfundenen Beschleunigungen und Entgrenzungen, die der Begriff Globalisierung zusammenfasst, die Migrationsschübe, die Veränderungen der Arbeitswelt durch die digitale Transformation, die ökologische Bedrohung, die zu Änderungen unserer Lebensweise zwingt, die weitere ethnische, kulturelle, religiös-weltanschauliche Pluralisierung unserer Gesellschaft, die Ängstigungen durch Terrorismus, Gewalt, kriegerische Konflikte und jetzt die globale Pandemie, insgesamt also das Erleben einer „Welt in Unordnung“ – das alles verstärkt auf offensichtlich dramatische Weise das individuelle und kollektive Bedürfnis nach neuen (und auch alten) Vergewisserungen und Verankerungen, 229
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nach Identität, nach Sicherheit, nach Beheimatung. Darauf muss die Demokratie, müssen die Demokraten Antworten finden. Vor allem auch, weil die Gefühle der Unsicherheit, der Gefährdung des Vertrauten und Gewohnten, der Infragestellung dessen, was Halt gibt und Zusammenhalt sichert, insgesamt also ökonomische Abstiegsängste, soziale Überforderungsgefühle, kulturelle Entheimatungsbefürchtungen und tiefgehende Zukunftsunsicherheiten höchst ungleich verteilt sind. So gibt es – drei Jahrzehnte nach Friedlicher Revolution und Deutscher Einheit – eine West-Ost-Ungleichheit der Sicherheiten und Gewissheiten: Nach den ostdeutschen Erfahrungen eines Systemwechsels, eines radikalen Umbruchs sowohl ökonomisch-sozialer wie moralisch-kultureller Art, nach dem vielfachen Erlebnis der Entwertung und des Entschwindens der eigenen Lebenserfahrungen und Lebensleistungen. Die Verlangsamung des innerdeutschen ökonomisch-sozialen Angleichungsprozesses, seine politischen und kulturellen Widersprüchlichkeiten, die Überlagerung durch andere Ungleichheitskonflikte und politische Themen mag immer neu ostdeutsche Unzufriedenheit erzeugen und Benachteiligungsgefühle bestätigen, mag westdeutsche Vorwürfe (gegen die ‚undankbaren‘ bzw. ‚zurückgebliebenen‘ Ossis) provozieren. Das ist gewiss unangenehm und lästig, aber muss trotzdem ausgehalten werden. Und rechtfertigt auf keinen Fall die verbreitete wütende Lust Ostdeutscher, sich als Opfer zu empfinden. Es gibt keine deutschen Wunder mehr. Das „Jahr der Wunder“ 1989/90 wird sich jedenfalls nicht wiederholen. Vermutlich ist die Deutsche Vereinigung ein ‚asymptotischer Prozess‘: Sie kommt nie an ihr Ende! (So wenig wie unsere Nazivergangenheit wird auch die DDR-Geschichte eine Vergangenheit sein, die nie ganz und endgültig vergeht.) Das ist kein Grund für Wut und Empörung, meine ich, jedenfalls dann nicht, wenn immer wieder kleinere oder hoffentlich größere Fortschritte gelingen und sichtbar werden – in Sachen Angleichung der wirtschaftlichen Leistungskraft, der Einkommen, der sozialen Sicherheit, der menschlichen Annäherung und vielleicht gar der Lebenszufriedenheit und der Anerkennung unterschiedlicher Biografien! In den vergangenen Jahren bin ich immer wieder gefragt worden, wann denn die so oft beschworene ‚innere Einheit‘ der Deutschen erreicht sei. Meine Antwort: Erstens, wenn die solidarische Unterstützung nicht mehr nach Himmelsrichtung, also von West nach Ost gewährt werden muss. Wenn also die Unterschiede zwischen Ost und West so sind wie der Unterschied z. B. zwischen Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg. Denn ökonomische, soziale und kulturelle Verschiedenheiten waren und sind deutsche Normalität. Und zweitens, wenn in der Beurteilung Ostdeutscher ihre Geschichte in der DDR weniger zählt als ihre Lebensleistung im gemeinsamen Deutschland. Wenn also West- und Ostdeutsche in gleichberechtigtem und selbstverständlich gewordenem Respekt miteinander umgehen. Könnte oder sollte das nicht allmählich erreicht sein, also 30 Jahre nach der Friedlichen Revolution und der staatlichen Vereinigung? (Zum Vergleich: In der alten Bundesrepublik war 1975, also nach 30 Jahren, die Nachkriegszeit endgültig zu Ende.) Die Geschichte der Vereinigung ist damit so wenig zu Ende wie die deutsche Geschichte überhaupt, aber es ist wieder auf ganz selbstverständliche Weise unsere gemeinsame Geschichte!
Die digitale Transformation der deutschen Verwaltung Analysen zu Marktversagen und Daseinsvorsorge in Zeiten der Covid-19-Pandemie Norbert Kersting und David Graubner
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Einleitung
Die digitale Transformation ist ein gesamtgesellschaftlicher Prozess der insbesondere in Krisenzeiten (Covid-19-Pandemie) sämtliche Bereiche des Lebens, Kommunizierens, Wirtschaftens und Denkens sowie auch die öffentlichen Verwaltungen verändert. Die Diskussion über die digitale Transformation der deutschen Verwaltung offenbart dabei zweierlei: Einerseits zeigen sich auf Fachtagungen, bei Regierungsgipfeln, in Aktionsplänen, Strategiepapieren und Koalitionsverträgen seit Jahren keine grundsätzlichen Zielkonflikte (s. z. B. die Digitale Agenda der Bundesregierung) und die formulierten Zielsetzungen sind von spürbarer Aufbruchstimmung bestimmt. Weder in Praxis noch in Forschung fehlt es an innovativen (oder auch ganz pragmatischen) Ideen zur Modernisierung der deutschen Verwaltung. Andererseits bleibt Deutschland im OECD-Vergleich bei der digitalen Infrastruktur wie auch bei der Digitalisierung der Verwaltung und Politik (E-Government und E-Democracy) konstant hinter den Erwartungen zurück. In internationalen Rankings zur Digitalisierung von Verwaltungsleistungen kann Deutschland die Rolle eines Kellerkindes nach wie vor nicht ablegen und ist zuletzt im Ranking der EU-Kommission sogar vom 19. auf den 24. Platz zurückgefallen (Nationaler Normenkontrollrat 2019). Werden gesteckte Ziele wiederholt nicht erreicht oder weichen zu stark von den anfänglichen Zielvisionen ab, geraten die handelnden Akteure verstärkt in den Fokus der Kritik – insbesondere dann, wenn durch positive Erfahrungen der Bürger*innen im Bereich der Alltagsdigitalisierung (z. B. Online-Shopping oder Videokonferenzen während der Covid-19-Pandemie) die Erwartungshaltung gegenüber einer digitalen Verwaltung zunimmt. Die Diskussion hierzu fokussierte lange Zeit auf die digitale Spaltung innerhalb der Bevölkerung und weitere soziokulturelle Faktoren als Hindernis für eine staatliche Digitalisierung. Jüngere Analysen zur Netzpolitik sowie zur Umsetzung von E-Government nehmen die Rolle der staatlichen Akteure näher in den Blick, die auf der einen Seite die digitale Transformation bremsen und blockieren und auf der anderen Seite forcieren und vorantreiben (Schünemann 2019; Gees 2019; Schmid 2019). Dabei fällt ein föderales Gefälle in der Problemwahrnehmung und Problemlösungskompetenz auf. Zwar scheinen in der Theorie auf allen föderalen Ebenen sowohl die Kenntnisse als auch grundsätzlich © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_16
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die Ressourcen, um die digitale Umstrukturierung der Verwaltung gewährleisten zu können, zu bestehen, doch fehlen insbesondere auf kommunaler Ebene und hier in den Kleinstädten erfahrenes Personal mit vertieften digitalen Kenntnissen und Erfahrungen im Projektmanagement und vielerorts die finanziellen Mittel, dieses Defizit auszugleichen. Die digitale Verwaltungstransformation und der mit ihr einhergehende Wandel der Verwaltungskultur ist noch immer nicht zu einer Selbstverständlichkeit gediehen. Doch der Status quo lässt vermuten, dass erst ein Wandel der Verwaltungskultur und das Zutun engagierter Akteure – die die digitale Innovation befürworten und sich in digitalaffinen Akteurskonstellationen (advocacy coalitions) organisieren – der digitalen Transformation zum Durchbruch verhelfen. Dabei spielen die föderalen Besonderheiten Deutschlands eine tragende Rolle. Auf allen Ebenen des Mehrebenensystems zeigen sich Aufsplitterungen von Entscheidungsrechten, spezifische Besonderheiten in der Interaktion zwischen Entscheidungsträgern, organisatorische und technische Insellösungen sowie zudem rechtliche Rahmenbedingungen, die nicht immer gerechtfertigt erscheinen und eher bremsend wirken. Im Rahmen sowohl einer starken Zentralisierung als auch Standardisierung und über gegenseitige Lernprozesse, d. h. über Spillover-Effekte, auf der lokalen Ebene könnte diesen Defiziten durch ein Lernen im Föderalismus und im interkommunalen Bereich begegnet werden. Die Übernahme geeigneter Lösungen („proud to copy“) sollte dabei kein Makel, sondern erklärtes Ziel der Verwaltungsdigitalisierung sein (Riedel 2019). Brauchen wir daher eine stärkere Zentralisierung, um die digitale Transformation voranzutreiben? Die funktionale Aufsplitterung der Verantwortlichkeiten sowie der Mangel an zentralen nationalen Ministerien kann als Hemmnis für die digitale Transformation und starkes Indiz für eine überfällige Zentralisierung angesehen werden. Dennoch sollten die unbestreitbaren Vorteile des Föderalismus nicht per se infrage gestellt werden. Es bleibt kritisch zu beleuchten, wie die Existenz eigenständiger Behörden in den Bundesländern ein „Lernen im Föderalismus“ begünstigt, „blinden Flecken“ zentralistischer Lösungsansätze entgegenwirkt und so Spillover-Effekte überhaupt erst ermöglicht. Zunächst soll aber die digitale Infrastruktur als Grundvoraussetzung für die Digitalisierung untersucht werden. Dabei richtet sich der Fokus auf (historische) Defizite und die gegenwärtige Strukturierung der Versorgung.
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Infrastruktur und Nutzung
Deutschland ist in vielen Bereichen der digitalen Transformation eher ein Nachzügler. Dies hat zum einen kulturelle Gründe. So ist zum Beispiel die Nutzung von digitalen sozialen Medien zum Teil geringer als in Ländern wie Frankreich oder den USA. Im Jahr 2016 nutzten etwa 40 Millionen Deutsche ein Smartphone, 2015 hatten 24 Millionen Bürger*innen einen Facebook-Account, während andere soziale Medien, wie zum Beispiel Twitter, nur von vier Millionen benutzt wurden – es zeigen sich aber hohe Wachstumsraten. So hat vor allem der Messengerdienst WhatsApp eine breite Reichweite: Rund 75 % der Gesamtbevöl-
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kerung in Deutschland nutzen WhatsApp mindestens wöchentlich (ARD & ZDF 2020). Aufgrund der weltweit geltenden Ausgangsbeschränkungen während der Covid-19-Krise rückten digitale Kommunikationswege ad hoc in den Vordergrund. Geschlossene Schulen und Hochschulen, aber auch Betriebe und Verwaltungen nutzten Messengerdienste und Video-Konferenzsysteme, um die Abstimmung innerhalb der Organisationen aufrechtzuerhalten. Dabei zeigten sich schnell Defizite des öffentlichen Netzausbaus, da die öffentlichen Netze (z. B. das Deutsche Forschungsnetz) an ihre Grenzen stießen und es an etablierten, originären Softwarelösungen für die digitale Kommunikation fehlte. Um den Bedarfen trotzdem entsprechen zu können, musste bei der Software und den Serverkapazitäten auf ausländische, außereuropäische Produkte zurückgegriffen werden. Da diese teilweise außerhalb des Geltungsbereichs der DSGVO betrieben werden, ist deren Nutzung gerade für staatliche Einrichtungen aus datenschutzrechtlicher Perspektive äußerst problematisch. Die infrastrukturellen Defizite in Deutschland sind nicht überraschend. So kritisiert z. B. der Nationale Normenkontrollrat regelmäßig den mangelhaften Ausbau der Infrastruktur und attestiert Deutschland strukturelle Defizite, die seit Jahren bei der Digitalisierung der Verwaltung aufgebaut wurden (Nationaler Normenkontrollrat 2017, 2018, 2019). Auch im OECD-Vergleich fällt Deutschland hinter andere Länder zurück (Kersting 2020). Eine von der Bertelsmann Stiftung beauftragte Studie des European Centre of International Political Economy (ECIPE) attestiert Deutschland die Rückständigkeit beim Handel mit digitalen Dienstleistungen (Bluth 2017). Deutschland lag bei 28 entwickelten Volkswirtschaften auf Rang 19. Dies resultierte vor allem aus einem mangelhaften Netzausbau und konnte nur begrenzt durch eine im Vergleich zu anderen OECD-Ländern etwas bessere Mobilfunkanbindung abgemildert werden (Leitner 2003; OECD 2003, 2005, 2014; Schünemann & Kneuer 2019). Die Gründe dafür scheinen vor allem in der Organisation des Netzausbaus zu liegen. Die Entwicklung der digitalen Infrastruktur fiel in eine Periode starker Privatisierung in den Achtziger- und frühen Neunzigerjahren. Nach der Privatisierung der Telekommunikation und der Auflösung des Post- und Telekommunikationsministeriums lag die Zukunft der digitalen Infrastruktur vor allem in der Hand einzelner privater Unternehmen, wie zum Beispiel der Deutschen Telekom. Diese setzte den bereits in den Achtzigerjahren von der Schmidt-Regierung favorisierten Ausbau von Glasfaserkabeln nicht fort, sondern konzentrierte sich -wie bereits die Kohl-Regierung – auf sogenannte Zwischentechnologien. Mit der Vektor-Technologie (VDSL) sollte die Versorgung der von den mit Glasfaser angebundenen Stadtteilknoten ausgehenden Haushalte verbessert werden. Im Zuge der Digitalen Agenda 2014‒2017 (BMWi 2017) lobte die damalige Bundesregierung das Ziel aus, bis zum Jahr 2018 jeden Haushalt in Deutschland mit einem 50 Mbit/s-Breitband-Zugang zu versorgen – und scheiterte. Zwar sieht die Bundesnetzagentur die Mehrzahl der Stadtteile mit Breitband versorgt und damit die Entwicklungsziele erreicht, im Wesentlichen gelang aber lediglich die Breitbandanbindung der Knotenpunkte. Insbesondere die sogenannte letzte Meile wurde über klassische und technisch limitierte Infrastrukturen realisiert. Von 32 Millionen Haushalten nutzten 2017 weiterhin 24,3 Millionen Haushalte eine Technologie, die auf der Basis von Kupferkabel realisiert wird (VDSL oder sogar lediglich DSL). Diese 233
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Technologien sind jedoch anfällig für Leistungsschwankungen. Steigt beispielsweise das Nutzungsaufkommen innerhalb der über den Knotenpunkt versorgten Haushalte, stehen die 50 Mbit/s nicht mehr für jeden Haushalt zur Verfügung.
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Verwaltungskultur, Governance-Reform und Innovationsblockaden
In der deutschen Bevölkerung existieren seit jeher starke negative Ressentiments gegenüber der Digitalisierung, die vor allem durch eine Fokussierung auf Sicherheitsprobleme und ein besonders ausgeprägtes Datenschutzbedürfnis gekennzeichnet sind. Dies zeigt sich auch in den Entwicklungsphasen der digitalen Transformation der öffentlichen Verwaltungen und den damit einhergehenden Gesetzesinitiativen (Schuppan & Reichard 2004; Heuermann et al. 2018; Reiberg 2018; Kersting 2019). Dabei sind die Digitalisierungspolitiken und die Netzpolitik im Kontext anderer Verwaltungsreformen zu betrachten (s. Tabelle 1). Die Digitalisierungspolitik seit 1985 ist zumeist nicht zukunftsorientiert, sondern bleibt strukturkonservativ, problemvermeidend und stark auf Sicherheitsstandards ausgerichtet. Die Analyse des neuen Policy-Bereichs Netzpolitik und Digitalisierung macht deutlich, dass es sich bei der sich herausbildenden Digitalpolitik auf Bundesebene nicht um einen langfristig geplanten und koordinierten Prozess handelt, sondern (insbesondere in den frühen Phasen) um oftmals kurzfristige Reaktionen auf Skandale und Krisen. Auch in den staatlichen Verwaltungen hatte ausgehend von der in den 1970er-Jahren präsenten „Verwaltungsautomation“, über die in den 1980er- und 1990er-Jahren folgenden Debatten zur „Technikunterstützten Informationsverarbeitung“ die Technisierung und Mediatisierung behördlicher Arbeit nicht im Vordergrund der organisationalen Reformvorhaben gestanden. Vielmehr waren diese – trotz einer technischen Begriffswelt – eher auf Organisations- und Partizipationsreformen ausgerichtet. Daneben richtete sich die Regulierung zum Telekommunikationsgesetz (TKG) sowie das Informations- und Kommunikationsdienste-Gesetz (IuKDG) und die damit verbundene Debatte um den Mediendienstestaatsvertrag (MDStV) auf die Konstituierung eines stark durch Privatisierung (Post, Telekom, Bahn) geprägten Wandels der Informationsgesellschaft. Im Laufe der 1990er-Jahre (erste Digitalisierungsphase) begann in den deutschen Verwaltungen vor dem Hintergrund drohender Privatisierungen in weiteren sensiblen Bereichen der Daseinsvorsorge (Energieversorgung, Müll, Wasser) eine Binnenreform, die – angetrieben durch die internationalen ‚New Public Management‘-Reformen – das Neue Steuerungsmodell hervorbrachte (Wollmann 2017). Im Gegensatz zur internationalen Entwicklung wurde diese Binnenreform aber von anderen Akteursgruppen (Verwaltung, Gewerkschaften, Wissenschaft) propagiert und folgte einer eigenen Logik. Das Neue Steuerungsmodell galt dementsprechend nicht als Umsetzung des neoliberalen Minimalstaats, sondern als eine Alternative dessen. Die von der kommunalen Familie vorangetriebene Diskussion blieb technokratisch orientiert und blockierte durch die Schwerpunktsetzung
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beispielsweise auf flache Hierarchien, Ausgabenverantwortung, Budgetierung oder wirkungsorientierte Haushaltsführung die Gefahr eines ungezügelten neoliberalen Staatsverständnisses (Kersting 2004, 2018; Kersting et al. 2009; Jann 2019; Pierre & Peters 2000). Ende der 1990er-Jahre rückten partizipative Angebote an die Zivilgesellschaft in den Fokus eines Wandels von Government zu Governance (EU 2001). Die aktive Einbindung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Akteure sowohl in die staatliche Entscheidungsfindung als auch in die Problemverarbeitung sowie die Förderung des bürgerschaftlichen Engagements standen dabei zunehmend im Mittelpunkt (Bogumil & Jann 2009; Kersting 2018; Möltgen-Sicking & Winter 2018). Die Kritik an der zunächst starken ökonomischen Ausrichtung des Neuen Steuerungsmodells wurde auch politisch aufgegriffen1, wodurch sich das Top-down-Government unter Dominanz der Verwaltung zu einem Bottom-upGovernance entwickeln konnte, das den Bürger*innen eine partizipative Rolle zusprach (Hilz 2019; Kersting 2019; Klenk et al. 2019; Kneuer 2019). Die Bereiche des Transports (Deutschen Bahn) sowie der Telekommunikation hingegen (Post und Telekom) waren in dieser ersten Digitalisierungsphase von den Auswirkungen der Privatisierungswelle betroffen. Während die staatliche Verwaltungs- und Partizipationsreform in der Mitte der Neunzigerjahre stark die Binnenreform der Verwaltung forcierte und auf die Einbindung der Bürger*innen orientiert war, standen beim Rundfunk- und Telekommunikationsbereich andere Bereiche im Fokus. Die Entwicklung der rechtlichen Rahmenbedingungen konzentrierte sich einerseits auf die Reduktion der negativen Konsequenzen für private TV-Sender im Zuge der Liberalisierung und Öffnung des Marktes. Andererseits standen die Sicherheit und der Schutz des Einzelnen in den privatisierten Bereichen im Vordergrund. Beim Ausbau der Infrastruktur favorisierte die Kohl-Regierung daher nicht – wie zu Zeiten der Vorgängerregierung unter Schmidt – den Ausbau des Glasfasernetzes, sondern unterstützte insbesondere den TV-Bereich (Kabelfernsehen, Privatfernsehen) sowie den Ausbau des Kupferkabelnetzes unter Post- und Telekommunikationsminister Schwarz-Schilling. In der zweiten Phase (1996‒2005) wurde das wachsende Sicherheitsbedürfnis auch bei der Verabschiedung des Elektronischen Geschäftsverkehr-Gesetzes (EGG) und bei der Telekommunikations-Überwachungsverordnung (TKÜV) deutlich. Auffällig war, dass die Digitalisierung und die Rolle des Internets in den Gesetzestexten zwar nur am Rande aufgegriffen, aber zunehmend die von der Digitalisierung ausgehenden Gefahren bei der interpersonellen Kommunikation hervorgehoben wurden. Wichtige Akteure, wie die deutsche Telekom und weitere Netz- und Kabelanbieter, die häufig Quasimonopole bilden, standen dem digitalen Infrastrukturausbau dabei eher im Weg, statt diesen zu fördern. Die (selten einheitlich agierenden) zivilgesellschaftlichen Gruppen, wie z. B. der Chaos Computer Club und die Gewerkschaften, traten häufig ebenfalls als Bedenkenträger auf, statt eine aktiv gestaltende Rolle einzunehmen. Auch zwischen den Ressorts traten 1
Als Beispiel seien hier das Reformmodell „Bürgerkommune“ mit einem starken Fokus auf bürgerschaftliches Engagement (Bogumil et al. 2003) oder auch die Kopplung demokratischer und administrativer Innovationen (Kersting 2004, 2018; Wollmann 2017) genannt. 235
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widersprüchliche Auffassungen über die Chancen und Risiken der Digitalisierung immer offener zu Tage. Exemplarisch sei hier an den Versuch zur Durchführung von Onlinewahlen in den frühen 2000ern erinnert, der vom Wirtschaftsministerium forciert, vom Innenministerium hingegen verschleppt wurde. In der dritten Phase (2006‒2015) stand weiterhin die Regulation zum Datenschutz im Vordergrund, wie die Diskurse und Gesetze zur Vorratsdatenspeicherung, zur Onlinedurchsuchung und zum Zugangserschwerungsgesetz („Staatstrojaner“) aufzeigen (Reiberg 2018). Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die aufgrund der Sicherheitsbedenken in ihrer Nutzerfreundlichkeit stark eingeschränkten, aber hohen Datenschutzansprüchen genügenden Techniken bei den Nutzer*innen gnadenlos durchfielen. Die Einführung des maschinenlesbaren digitalen Personalausweises mit integrierter elektronischer Signatur (eID-Funktion) offenbart die Widersprüche innerhalb der Zivilgesellschaft, aber auch in den Verwaltungen. Die von datenschutzrechtlichen Bedenken geprägten Widerstände gegenüber technischen Lösungen zur Kommunikation mit der Verwaltung gehen einher mit einer hohen Unzufriedenheit aufgrund eingeschränkter Anwendungsmöglichkeiten. Ein weiteres Beispiel zeigt sich mit der Einführung des Postfach- und Versanddienstes De-Mail ab dem Jahr 2011. Der als technisch sicheres, rechtsverbindliches und integriertes Kommunikationsinstrument entwickelte Dienst sollte sich flächendeckend als Pendant zur Briefpost etablieren, konnte sich aber (bis heute) nicht durchsetzen. Erst in der vierten Phase seit etwa 2016 zeigt sich eine stärker in die Zukunft gerichtete Planung der digitalen Transformation, die zu einer weiteren Anpassung und Öffnung der Organisations- und Umsetzungsstrukturen führte. Hier ist vor allem der neu geschaffene Digitalrat (IT-Rat) zu nennen. Das mit unabhängigen Expert*innen aus Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft besetzte Gremium soll die Planungen der Bundesregierung durch einen unbequemen Blick von außen bereichern und neuen Ideen zu einer schnelleren Umsetzung verhelfen (Deutsche Bundesregierung 2020). Zur gleichen Zeit nahm die Staatsministerin für Digitalisierung im Kanzleramt ihre Arbeit auf. Zwar wurde damit kein Digitalministerium für die Koordinierung der über alle Ministerien und Ressorts verzweigten Tätigkeiten rund um das Thema Digitalisierung geschaffen, dennoch bestätigt sich damit der politische Trend, ordnend in die zukünftige Ausgestaltung der digitalen Transformation eingreifen zu wollen. Auf der operativen Ebene zeigt sich dies in der zunehmenden Bedeutung und Akzeptanz des bereits 2010 gegründeten IT-Planungsrats als zentrale Steuerungsinstanz zur Förderung gemeinsamer IT-Strategien und IT-Architekturen. Mit der Gründung der Föderalen IT-Kooperation (FITKO) durch den IT-Planungsrat wurde die bisher auf die Bundesländer fokussierte Zusammenarbeit zudem stärker auf die Einbindung der kommunalen Familie ausgerichtet. Dennoch scheint nicht ausgemacht, ob die steuernden Eingriffe der vierten Phase die Blockaden der weiterhin extremen Verteilung von strategischen, operativen und regelsetzenden Verantwortlichkeiten auflösen können. Ein eindrückliches Schaubild aus dem aktuellen Jahresbericht des Nationalen Normenkontrollrats (2019) lässt daran zumindest leise Zweifel aufkommen (vgl. Abb. 1).
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Abb. 1
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Schaubild (nach Nationaler Normenkontrollrat 2019, S. 61).
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Zudem wurden in der vierten Phase die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Servicequalität des Verwaltungshandelns (Digital-first-Prinzip, Once-only-Prinzip, mit drei Klicks zum Ziel im Portalverbund, plattformunabhängige Nutzung von Diensten, standardisierte Schnittstellen etc.) vor allem auf nationaler Ebene mit dem E-Government-Gesetz (EGovG) sowie dem Onlinezugangsgesetz (OZG) eindeutiger als bisher definiert (Kersting 2019; Misgeld 2019). Bereits seit 2013 hatte das EGovG die rechtlichen Rahmenbedingungen für eine effiziente und kundenorientierte elektronische Verwaltung gelegt, indem es sichere elektronische Technologien (eID Funktion des neuen Personalausweises und De-Mail) für das Ersetzen der Schriftform anzuschieben versuchte. Auf nationaler Ebene sollte dabei der Fokus auf einer Vereinheitlichung der Standards bei der Identifizierung und Authentifizierung liegen und sichere verschlüsselte Kommunikationsmöglichkeiten aufgebaut werden. Da die Bundesländer durch das EGovG verpflichtet wurden, die für sie geltenden Regelungen des EGovG bei Ausführung von Bundesrecht umzusetzen, wurde die Implementation landeseigener E-Government-Gesetze begünstigt (z. B. in NRW: Kommune 21 2016). Die Landesgesetze griffen die Rahmenbedingungen des EGovG des Bundes auf und fokussierten sowohl auf die interne Behördenkommunikation (z. B. elektronische Aktenführung) als auch die elektronische Kommunikation zwischen Behörden und Bürger*innen (z. B. e-Petitionen oder elektronische Bezahlmöglichkeiten). Auch durch das Programm „Digitale Verwaltung 2020“ griff die Bundesregierung steuernd in die Ausgestaltung der landeseigenen E-Government-Gesetze ein. So wurde die an das Bundesgesetz formulierte Selbstverpflichtung, Insellösungen und redundante Projekte zu vermeiden, sowie standardisierte und interoperable Lösungen zu etablieren, aktiv auf die noch zu verabschiedenden Landesgesetze erweitert (Bundesministerium des Innern 2014). Richtet man den Blick auf den Status quo der Verwaltung im Jahr 2020 konzentrieren sich die Digitalisierungsmaßnahmen insbesondere auf die elektronische Aktenführung, ein elektronisches Beschaffungs- und Rechnungswesen sowie Onlinedienste für Unternehmen und Bürger*innen. Behördenintern zeichnet sich zudem – angetrieben durch die Covid-19-Pandemie – eine stärkere kooperative Zusammenarbeit zwischen den Ämtern über neue Infrastrukturen ab, z. B. in Form von Videokonferenzen, deren Mehrwerte die Krise höchstwahrscheinlich überdauern werden. Die elektronische Aktenführung erleichtert (krisenbedingte) dezentrale und mobile Arbeitsformen, auch im behördenübergreifenden Austausch. Mit dem bisher eher wenig beachteten Bundesprojekt „Social Intranet des Bundes“ könnte sich gerade in Krisenzeiten eine Blaupause für ämter- und ressortübergreifende agile Arbeitsformen etablieren. Die Bemühungen rund um Onlinedienste für Unternehmen und Bürger*innen versuchen einen Spagat zwischen weiterhin regelorientierten und verlässlichen Behördengängen und Dienstleistungen, die zugleich digital verfügbar sein sollen. Zentrale Kriterien sind dabei eine digitale Harmonisierung auf allen föderalen Ebenen und die oben angedeuteten Charakteristika moderner Verwaltungsleistungen: mit drei Klicks medienbruchfrei und endgeräteunabhängig zum Ziel im Portalverbund nach einer einmaligen und diensteübergreifenden Registrierung (Once-only-Prinzip). Dieser Anspruch soll es Unternehmen und Bürger*innen ermöglichen, über Servicekonten beispielsweise Gebührenabrechnungen und
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andere Leistungen elektronisch abzurufen und zu bezahlen, die durch die entsprechende Behörde zuvor ebenfalls rein elektronisch erstellt und im Portal bereitgestellt wurden. Ziel ist dabei die Anpassung von Verwaltungsprozessen aus der Nutzer*innenperspektive. Durch die Entwicklung von interoperablen und dynamischen Formularen als Voraussetzung für die medienbruchfreie Beantragung und im Idealfall antragslose Auszahlung von Leistungen, soll der digitalen Transformation der Gesellschaft Rechnung getragen werden (z. B. Projekt ELFE). Alltäglichere Leistungen, wie die Onlineterminvereinbarung, das Beantragen eines Bewohnerparkausweises oder Führerscheins, sollen sich stärker an der Lebensrealität der Bürger*innen orientieren und beispielsweise über App-Anwendungen verfügbar sein. Dabei fordert die Lebensrealität und das hohe Datenschutzbedürfnis der Bürger*innen die Verwaltungen heraus, hybride Serviceleistungen und somit Parallelstrukturen beizubehalten oder sogar neu zu schaffen, um analoge und digitale Verwaltungsakte in gleicher Qualität anbieten zu können. Welches Zwischenfazit lässt sich aus den oben genannten Beobachtungen für die digitale Transformation der Verwaltung ziehen? Wie so häufig fallen Theorie und Praxis recht weit auseinander. Zwar öffnen kommunale Ermöglichungsgesetze und teils üppige Förderkulissen, wie z. B. das Förderprogramm „Digitale Modellregionen in NRW“ mit einem Investitionsvolumen von 91 Millionen Euro, Spielraum für digitale Innovationen auf den untersten administrativen Ebenen, doch wird dabei häufig der limitierende Faktor Mensch übersehen. Gerade auf kommunaler Ebene und dort vor allem in kleinen Kommunen stehen die notwendigen personellen Ressourcen nicht zur Verfügung. Häufig obliegt es einzelnen Mitarbeiter*innen wegweisende Digitalisierungsprojekte konzeptionell voranzutreiben und ihre praktische Umsetzung zu verantworten, ohne dabei die eigenen Regeltätigkeiten zu vernachlässigen. Dass bei derartigen Doppelbelastungen selbst Expert*innen an ihre Grenzen stoßen, liegt auf der Hand. Dies geht zulasten einer geregelten Steuerung der digitalen Transformation, indem die Verwaltungsmodernisierung an die Kapazitäten der einzelnen Kommunen gekoppelt bleibt und ihre Umsetzung mehr Zufall denn Regel ist. Dies trifft insbesondere auf kleine Gemeinden und Mittelstädte zu, die sich mit wenig Personal nun auch um die Digitalisierung kümmern sollen. Damit zeigt sich eine auffällige Parallele zu den Reformbemühungen des Neuen Steuerungsmodells, dem es ironischerweise an einheitlicher und verbindlicher Steuerung mangelte. Auch damals haben viele Kommunen die Reformwelle zwar begrüßt und einzelne Bereiche erfolgreich umgesetzt (z. B. Bürgerämter und flache Hierarchien), doch glich die Umsetzung insgesamt einem Flickenteppich und die Kommunen bedienten sich – je nach ihren Möglichkeiten und Vorstellungen – eher eklektisch aus einer weit gefassten Reformhülse (Jann 2019; Bogumil 2017). Weite Bereiche des Neuen Steuerungsmodells verloren sich auch aufgrund der Detailverliebtheit deutscher Verwaltungen in der Definition von Detailindikatoren und im Berichtswesen, die den Arbeitsaufwand erhöhten und nicht erleichterten. Das Demokratieversprechen eines wirkungsorientierten Haushalts wurde vor dem Hintergrund nicht eingelöst(Kersting 2018). Auch wenn Erfolge der administrativen Reformen der 1990er-Jahre in vielen Kommunen deutlich sind (z. B. bei den Zielen Personalmanagement, Kundenorientierung), so setzte
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doch verstärkt durch einen Personal- und Ressourcenmangel eine Reformmüdigkeit ein, die sich auch negativ auf die Digitalisierung auswirkte. Ganz unabhängig von der inhaltlichen Bewertung des Neuen Steuerungsmodells scheint es daher dringend geboten, die teilweise negativen Erfahrungen bei der Umsetzung des Neuen Steuerungsmodell ernst zu nehmen und die digitale Transformation nicht zu einem weiteren Marketingschlagwort verkommen zu lassen. Denn zur Wahrheit gehört auch, wie weit das Verständnis von Digitalisierung auseinanderklafft. Während für einzelne Kommunen die Onlineterminvereinbarung ein Meilenstein der Digitalisierung darstellt, beschäftigen sich z. B. aktuelle Fachtagungen oder Expert*innengremien wie der Digitalrat und IT-Planungsrat mit künstlicher Intelligenz, Blockchain und autonomen Verwaltungsverfahren. Diese Kluft kann vor allem dann zu einem Problem werden, wenn sich (kommunale) Praktiker und Entscheidungsträger überholt oder gar nicht erst angesprochen fühlen und die Digitalisierung der Verwaltung als elitäre Mode begreifen. Hier ist und bleibt die Politik gefordert, der anhaltenden Sparpolitik auf lokaler Ebene (Haushaltssicherungskonzepte) und den damit verbundenen (Stellen-)Einsparungen zu begegnen. Denn der Kostendruck in den Verwaltungen, die hohe Altersstruktur innerhalb der Belegschaften, aber auch unflexible Ausbildungswege verstärken eine grundsätzliche Reformmüdigkeit und gefährden die Bereitschaft, Digitalisierungsstrategien zu befürworten. In der Fläche deutet sich an, dass – bis auf einige Ausnahmen – sowohl in den Kommunen als auch im gesellschaftspolitischen Umfeld die Akteure und Konstellationen (advocacy alliances) fehlen, die die Binnenmodernisierung koordiniert vorantreiben. Zwar ist der Situation heute wie damals gemein, dass die zukünftigen Entwicklungen des technischen bzw. digitalen Wandels weder verlässlich vorausgesagt noch bis ins Detail geplant werden können, doch besteht die Chance, sich die Erfahrungen der Vergangenheit zunutze zu machen. Bereits im Jahr 2005 hat Lenk für E-Government davor gewarnt, dem mangelnden Realismus weltweiter Moden zum Opfer zu fallen, indem zu wenig Lehren aus den Euphoriewellen vergangener Technikschübe gezogen und die Probleme organisatorischer Umsetzung von Neuerungen unterschätzt werden (2005, S. 107‒108). Dabei bleibt kritisch in den Blick zu nehmen, ob der Weg zur digitalen, offenen und partizipativen Verwaltung nicht letztlich zu stark im alten weberianischen Stil verhaftet bleibt (Hierarchie, Weisung, klare Zuständigkeiten) und mutigen kommunalen Akteuren ohne unmittelbare Entscheidungskompetenz zu wenig Innovationsraum geboten wird (Banner et al. 2017; Kuhlmann & Bogumil 2019).
HarmoniE-Government-Gesetz, Onlinesierung und Zugangsgesetz (OZG), Smart City Ausbereitung
Blended-Partizipation (Online und Offline) und Transparenz
Seit 2016
4
Open Data Initiativen, Open Government Partnership, Bürger*innenbudgets, Bürger*innenräte, Planungszelle
Datensicherheit
Deliberative Partizipation Bürger*innenhaushalte
2006‒2015
Zugangserschwerungsgesetz (Staatstrojaner), Online Bürger*innenhaushalte, Digitales Beschwerdemanagement
Vorratsdatenspeicherung, Onlinedurchsuchung
3
Datensicherheit
Lokale Agenda 21, Inklusion, Integration neuer Beiräte
Funktionalreform
1995‒2006
Telekommunikationsgesetz (TKG), Informations- und Kommunikationsdienstegesetz (IuKDG), Mediendienstestaatsvertrag (MDStV), Elektronisches Geschäftsverkehrsgesetz (EGG), Telekommunikationsüberwachungsverordnung (TKÜV)
2
Verbraucherschutz, Datenschutz, Datensicherheit
Neues Steuerungsmodell (Budgetierung, Kontraktmanagement, Verantwortungsdezentralisierung, interkommunale Leistungsvergleiche etc.), Direktwahl Bürgermeister, Panaschieren und Kumulieren, Dritter-Sektor-Politiken
Gesetzgebund und Inhalte
Binnenmodernisierung der Verwaltung (NSM), Partizipation (Direktdemokratische Partizipation und Wahlrechtsreform)
Ziele
90er-Jahre
Wesentliche Inhalte
Regulation
1
Reformziele
Netzpolitik
Tab. 1
Phase Reformperiode (ca.)
Administrative und demokratische Innovation
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Reformperioden und Gesetze administrativer und demokratischer Innovation und Netzpolitik in Deutschland (evtl. nur die digitalen Prozesse) (nach Kersting 2019)
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Schlussfolgerungen
Der Verwaltungsmodernisierung in Deutschland haftet seit Jahren ein Makel des Strukturkonservatismus und der Inflexibilität an, der durch vollmundige politische, Erwartungshaltung steigernde Versprechungen sogar oft noch verstärkt wird. Doch die Erfahrung zeigt auch, dass sich erst durch das Wecken (zu) großer Erwartungen eine Reformdynamik entfaltet, die kleinere Schritte überhaupt ermöglicht (Banner et al. 2017). Die Fallhöhe für die digitale Transformation der Verwaltung ist besonders hoch, da die digitale Infrastruktur in Deutschland nicht das Niveau und die Qualität anderer Infrastrukturen aufweist, beispielsweise der Straßen- und Elektrizitätsnetze oder der Wasserver- und -entsorgung. Die digitale Transformation der Verwaltungen und damit das E-Government werden durch erwartete Terminverschiebungen (OZG), ausbleibende Erfolge (Breitbandausbau) und unzureichende Lerneffekte (Pilotprojekte) defizitär wahrgenommen. Der Vergleich zur Alltagsdigitalisierung und persönliche Erfahrungen mit einer hohen digitalen Dienstleistungsqualität privater Anbieter verstärken dabei den Eindruck einer ihrer Zeit hinterherhinkenden Digitalisierung der Öffentlichen Hand und lassen begründete Argumente, wie z. B. Datenschutzbedenken, vielfach in den Hintergrund rücken. Oftmals wirkt staatliches Handeln reaktiv und nur selten proaktiv oder gar innovativ, was sich beispielsweise am kontinuierlichen organisationalen Wandel der Ministerialverwaltung nachvollziehen lässt (Hösl et al. 2019). Diese Situation ist für Staat und Verwaltung nur bedingt beherrschbar, da die Digitalisierung ein bisher unvergleichbares Anpassungs- und Änderungsvermögen voraussetzt. Denn die digitale Transformation ist ein gesamtgesellschaftliches, alle Lebensbereiche berührendes und den Öffentlichen Bereich in seiner Gesamtheit veränderndes Phänomen, in dem sich jedoch Staat und Verwaltung der aus anderen Lebensbereichen vertrauten digitalen Wandlungsdynamik weitgehend entziehen und einer ganz anderen Logik folgen, als dies digitaler Wandel z. B. im privaten oder wirtschaftlichen Kontext nahelegt. Zudem tun sich öffentliche Verwaltungen anfangs mit digitalen Verfahren schwer und können nicht auf Trends reagieren, wie es der Privatwirtschaft gemeinhin möglich ist (soziale Medien, Abomodelle, Plattformen, Streaming u. a.). Dies rückt den Fokus auf all diejenigen Faktoren, die Staat und Verwaltung aktiv und im Sinne der digitalen Transformation gestalten können.
4.1
Infrastruktur: Marktversagen und zurück zu staatlicher Daseinsvorsorge
Der in Deutschland seit den Achtzigerjahren nicht flächendeckend betriebene und privaten Akteuren überlassene Ausbau von Breitband- bzw. Glasfasertechnologien zeigt ein deutliches Marktversagen. In diesem Zusammenhang spielte die aus dem Ministerium für Post und Telekommunikation hervorgegangene Deutsche Telekom als privatisierter Akteur eine zentrale Rolle. Indem sich der Netzausbau auf die profitablen Regionen konzentrierte und auf Zwischentechnologien (Vektortechnologie) setzte, wurde zwar der
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Breitbandzugang für Stadtteile realisiert, einzelne Haushalte aber weiterhin mit veralteter und technisch limitierter Technologie (VDSL) vernetzt. Die Ursachen dafür liegen auch in einer jahrzehntelangen Fehlinterpretation zur Bedeutung digitaler Infrastruktur. Nicht zuletzt die Covid-19-Pandemie hat offenbart, dass die digitale Infrastruktur – analog zur Energieversorgung oder dem Straßenbau – einen Schlüsselbereich der öffentlichen Versorgung markiert. In Anerkennung ihrer Bedeutung sind systemrelevante Infrastrukturen, wie z. B. die Energie- und Wasserversorgung, vor allem auf lokaler Ebene verankert und werden durch effiziente und effektive lokale Verwaltungen geleistet. Dass Privatisierungstendenzen und Private Public Partnerships nicht immer der richtige Weg sind, lehren die in den Neunzigerjahren angestoßenen Privatisierungen der Stadtwerke und die sich anschließenden Rekommunalisierungswellen, die die Stadtwerke als wirtschaftlich agierende, lose angebundene Betriebe wieder der politischen Kontrolle der Kommunen unterordneten (Wollmann 2017). Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte sind daher ein starkes Argument, den Netzausbau als elementaren Teil der Daseinsvorsorge zu verankern. Dabei sollten zum einen der (über die Stadtteilknoten hinausgehende) flächendeckende Glasfaserausbau und zum anderen die Regionalisierung des Netzausbaus im Vordergrund stehen. Unterstützt durch staatliche Zuschüsse sollte dieser Glasfasernetzausbau dauerhaft in die Hand kommunaler oder regionaler Institutionen gegeben werden.
4.2
Zentralisierung und Lernen im Föderalismus
Administrativen Veränderungen oder Reformen geht i. d. R. ein wachsender Handlungsdruck voraus. Je mehr ein Defizit wahrgenommen wird, desto stärker sehen sich betroffene Akteure zum Handeln gezwungen. Die digitale Transformation der deutschen Verwaltung kämpft bei ihrer Umsetzung jedoch mit einer Besonderheit: Zwar nehmen die Appelle, das Problembewusstsein und der Steuerungswille – wie oben dargestellt – spürbar zu, doch scheinen einzelne Beobachtungen die Dringlichkeit der Maßnahmen zu unterminieren. So zeigt beispielsweise die Analyse der Verwaltungskontakte, dass Bürger*innen mit durchschnittlich lediglich 1,7 jährlichen Kontakten nur selten Verwaltungsdienstleistungen in Anspruch nehmen. Die geringe Bekanntheit des E-Governments, die geringe Nutzer*innenzufriedenheit und der vermeintlich geringe Bedarf an digitalisierten Verwaltungsdienstleistungen führt insbesondere bei kommunalen Entscheidungsträgern zu anhaltenden Vorbehalten gegenüber hohen Investitionskosten (Prognos 2019). Der investive Aufwand bei gleichzeitig ausbleibenden Nutzer*innenzuwächsen legt es nahe, für bestimmte Dienstleistungen bundesweit einheitliche Lösungen und damit einen hohen digitalen Wiedererkennungswert staatlicher Leistungen für die Bürger*innen zu bieten. Mit dem „gesetzgeberischen Paukenschlag“ und der Änderung des Grundgesetzes (Art. 91c Abs. 5 GG) als Geburtsstunde des Onlinezugangsgesetz (OZG) wurden die Weichen für eine vom Bund koordinierte Bereitstellung von Onlinedienstleistungen gelegt (Jakobi 2019; Martini & Wiesner 2019). Das OZG und der mit ihm zu etablierende Portalverbund als technischer Zusammenschluss aller föderalen Verwaltungsportale hat aufgrund der 243
244
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ambitionierten Zielsetzung, bis 2022 alle Verwaltungsdienstleistungen auf Ebene des Bundes, der Länder und der Kommunen online anzubieten, sehr hohe Erwartungen geweckt. Dabei zeigen sich 2020 eine durchaus unterschiedliche Wahrnehmung der Erfolge und altbekannte Konfliktlinien der föderalen Ebenen. Während sich der IT-Planungsrat zufrieden mit den aktuellen Fortschritten der OZG-Umsetzung zeigt, äußert sich die kommunale Familie skeptisch über ein mögliches Gelingen und sieht Bund und Länder in der Pflicht, die Kommunen bei der Umsetzung besser zu unterstützen.2 Befragungen unter Verwaltungsexperten deuten an, dass die hohe Diskrepanz beim Umsetzungsstand von OZG-Leistungen zu einer Verwaltungsdigitalisierung der zwei Geschwindigkeiten führt und die Zielsetzungen des OZG damit konterkariert (Behörden Spiegel 2020). Die Umsetzung zentraler Lösungen ist zugleich mit einer starken Vereinheitlichung der Verwaltungsakte verbunden (von Lucke 2017). Zudem geht der Anspruch des OZG, digitale Verwaltungsleistungen flächendeckend für alle Bürger*innen und Unternehmen zur Verfügung zu stellen, mit einem extrem hohen Implementierungsaufwand einher. Wie hoch der zu bewältigende Aufwand bis Ende 2022 ist, macht eine Überschlagsrechnung des Nationalen Normenkontrollrats deutlich: Basierend auf der Annahme, dass 460 landes- und kommunalbezogene Leistungen im Wesentlichen einzeln zu implementieren sind, ergibt sich allein für die 400 Kreise und kreisfreien Städte eine Gesamtzahl von rund 180.000 Implementierungen. Ausgehend vom Jahr 2019 bis zur planmäßigen OZG-Umsetzung entspräche dies ca. 60.000 Implementierungen pro Jahr bzw. 5.000 Implementierungen pro Monat – ohne, dass dabei die Implementierung für insgesamt 11.000 Kommunen vollständig berücksichtigt wäre (Nationaler Normenkontrollrat 2019). Mit der Standardisierung und flächendeckenden Bereitstellung soll daher auch ein Lernen in föderalen Strukturen zum Regelfall werden. Bisher ernüchternde Erfahrungen attestieren Deutschland allerdings ein mangelhaftes Lernen in föderalen Strukturen. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Bereits 2006 sprechen Wind und Landsberg im Hinblick auf Verwaltungsautomation, technikunterstützter Informationsverarbeitung und letztlich E-Government als einer Geschichte enttäuschter Erwartungen (Wind 2006; Landsberg 2006). Obwohl eine Vielzahl von Modellprojekten initiiert werden, bleibt der behördenübergreifende Spillover-Effekt oftmals aus und die etablierten Lösungen fristen ein Dasein als (zeitlich begrenzte) Insellösungen. Trotz einzelner Bemühungen beteiligter Akteure, Projektergebnisse beispielsweise durch freiwillige Netzwerke zugänglich zu machen (Kommune 21 2018), fehlt nach Abschluss von Modellvorhaben häufig ein strategisches Steuerungsinstrument, das erprobte Techniken tatsächlich flächendeckend als Standard implementiert. Diese Aufgabe konnte auch der IT-Planungsrat bisher nicht zufriedenstellend ausfüllen. Die Gründung des FITKO deutet jedoch darauf hin, dass das Problem erkannt und das Steuerungsdefizit im Zuge der OZG-Umsetzung behoben werden soll. Doch nicht nur die Bundesebene ist aufgefordert, dem föderalen Lernen unter die Arme zu greifen und wechselseitige Inspiration noch stärker als Teil der alltäglichen
2
Vgl. dazu die Berichterstattung der eGovernment Computing 05/2020.
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Arbeit zu begreifen. Auch die Länder und Kommunen sollten intensiver daran mitwirken, föderale und interkommunale Egoismen und Ressentiments abzubauen und sich stärker auf die Erfahrungen von Kolleg*innen verlassen, die sich identischen Herausforderungen gegenübersehen. Die Suche nach geeigneten digitalen Lösungen für eine am Nutzen für Bürger*innen orientierte Verwaltung ist bekanntlich kein Selbstzweck und sollte gerade in Zeiten knapper Haushaltskassen auf Arbeitsteilung und kooperativem Erfahrungsaustausch beruhen. Dies schließt mit ein, sich dem Vergleich im internationalen Kontext zu stellen und Bereitschaft zu zeigen, international erprobte Lösungen anzuerkennen und zu adaptieren. Denn mit dem noch immer zu häufig angeführten Verweis auf die eigene (kommunale) Einzigartigkeit gelingt das Lernen von Nachbarkommunen oder anderen Bundesländern genauso wenig wie der internationale Austausch. Viel zu häufig wird noch verkannt, dass die Herausforderungen des digitalen Wandels den kommunalen Kontext im europäischen wie auch im außereuropäischen Ausland auf ganz ähnliche Art und Weise tangieren. Unterstützt werden könnte dies durch wissenschaftlich fundierte Reifegradmodelle und praxisorientierte Best-Practice-Datenbanken im Bereich des E-Government, die über eindimensionale Benchmarks und Verkaufsabsichten von Beratungshäusern hinausgehen und neben organisatorischen auch technische Defizite in den Blick nehmen (Schenk & Schneider 2019; Schünemann & Steiger 2019). Standardisierung und Zentralisierung allein werden den Herausforderungen der digitalen Transformation nicht gerecht werden können und die Erfahrungen der Vergangenheit gebieten es einmal mehr, die Schwachstellen bei der Implementierung sich als erfolgreich erwiesener Innovationen zu identifizieren und zu beheben. Nur so kann sich die föderale Struktur als dauerhaftes Erfolgsmodell beweisen, das von der Schwarmintelligenz der Vielen profitiert und unzureichend erprobten Schreibtischlösungen vorbeugt. Eine vielversprechende Entwicklung zeigt sich mit der Ende 2019 erfolgten Gründung der bundesweiten Genossenschaft Govdigital zur Integration innovativer IT-Lösungen im öffentlichen Sektor, insbesondere der Blockchain. Die ausschließlich der öffentlichen Verwaltung und öffentlichen Unternehmen angehörenden Mitglieder haben sich dazu verpflichtet, entwickelte Lösungen gegenseitig bereitzustellen und gemeinsam zu nutzen (Govdigital 2019).
4.3
Ministerialorganisation und Akteure auf Bundes- und Länderebene
Die Entwicklung des Politikfelds Digitalisierung folgte keinem strukturellen Prozess. Vielmehr bildete es sich aus den Reaktionen auf Krisen und kurzfristige Phänomene heraus. Dabei wird deutlich, dass Bundes- und Landesregierungen auf zwei neuartige Phänomene nur inadäquat reagieren konnten: die Entwicklung des Internets in den Neunzigerjahren und die mit dem neuen Millennium einsetzende Verbreitung sozialer Medien. Als Reaktion darauf versuchte sich das Wirtschaftsministerium auf Bundesebene in den frühen 2000ern als zentraler Akteur insbesondere im Bereich der Entwicklung von Smartcards 245
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und bei der Etablierung von Onlinewahlen zu positionieren. Gleichwohl blieb der deutsche Schwerpunkt – auch unter Einfluss des Justizministeriums – vor allem auf die Gewährleistung von Datensicherheit und die Einhaltung des Datenschutzes verhaftet. Seit der Privatisierung des Post- und Telekommunikationswesens etablierten sich zudem das Verkehrsministerium im Bereich des Netzausbaus sowie das Innenministerium im Bereich des E-Governments als weitere Akteure im langsam wachsenden Beziehungsgeflecht der Digitalisierung. Die mit der Digitalisierung verbundenen Aufgaben verstreuten sich trotz der Ernennung eines Beauftragten für Informationstechnik (kurz: CIO Bund) in der Ministerialbürokratie auf verschiedene Akteure und überlappten einander, wodurch der Abstimmungs- und Koordinationsaufwand konstant zunahm. In der Folge konnte keines der Ministerien eine dominierende und damit strategisch steuernde Rolle einnehmen. Zwar sicherte sich das Wirtschaftsministerium spätestens seit 2006 mit der Gründung des Nationalen IT-Gipfels (seit 2017: Digital-Gipfel) als koordinierende Beratungsinstitution zwischen den Ministerien eine federführende aber keine durchgreifende Rolle. Die mit der beschriebenen Entwicklung einhergehende Zersplitterung findet noch heute Ausdruck in komplizierten und meist wenig evaluierten Förderkulissen oder auch langwierigen Zuständigkeitsfragen. Ein unrühmliches Beispiel sei hier mit der zähen Diskussion zur Verteilung der Themenfelder im Zuge des OZG benannt. Dennoch zeigt sich seit Ende des letzten Jahrzehnts ein Wandel hin zu mehr Steuerung und zentraler Einflussnahme. Zwar steht auf nationaler Ebene die Bildung eines Ministeriums für Digitalisierung weiter aus und die Digitalisierung ist ein Thema, das von allen Ministerien bearbeitet wird, doch ist das Bestreben nach einer aktiveren Steuerungsrolle der Bundesregierung mittlerweile klar erkennbar. Neben der Installation einer Staatsministerin für Digitalisierung im Kanzleramt wurde mit der Gründung des Kabinettsausschuss Digitalisierung (kurz: Digitalausschuss) ein zentrales Steuerungsgremium für digitalpolitische Fragen auf höchster politischer Ebene verankert. Damit wurde die Vernetzung der unterschiedlichen Ressorts zur Chefsache erklärt, was sich auch an der Gründung des Ausschuss Digitale Agenda als ständiger Ausschuss des Bundestages zeigt. Konnte die im parlamentarischen Bereich lange Zeit durch wechselnde und befristete Kommissionen geprägte Mitbestimmung ohnehin erst 2014 mit der Gründung des Ausschusses Digitale Agenda verstetigt werden, scheint die Zuordnung federführender Zuständigkeiten durch die Konzentration der Organisationsstrukturen auf die Regierungsebene nahezu in Vergessenheit geraten zu sein (Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen 2020). Auch auf Länderebene zeigen sich ähnliche Entwicklungen. Wurde das Thema Digitalisierung zunächst auf nahezu alle Ministerien verstreut, verstärkte sich im Laufe der 2010er-Jahre der Trend, mit der Einrichtung unabhängiger Chief Information Officer (CIO) die strategische Steuerung in die Verantwortung der Staatskanzleien zu verlegen, um die unterschiedlichen Initiativen in den einzelnen Ministerien besser koordinieren zu können. Ähnlich dem Bund taten sich die Länder dabei lange Zeit schwer, reine Digitalisierungsministerien zu etablieren. Am verbreitetsten ist nach wie vor die bevorzugte Stellung der Wirtschaftsministerien oder vom Ressort Wirtschaft dominierter Ministerien, wie es z. B. im Ministerium für Wirtschaft, Arbeit, Verkehr und Digitalisierung in Niedersachsen zum
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Ausdruck kommt. Erst seit den späten 2010er-Jahren zeichnet sich u. a. mit der Gründung des Staatsministeriums für Digitalisierung in Bayern (2018) oder dem Hessischen Ministerium für Digitale Strategie und Entwicklung (2019) ein allmählicher Trendwechsel ab. Dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Doppelungen und Konkurrenzen zwischen den verschiedenen, teils neu gegründeten Abteilungen in den unterschiedlichen Fachministerien, den Ministerien für Digitalisierung und den CIOs fortbestehen. Dass die Ressortzuteilung in den Ländern von ähnlichen Kompetenzkonkurrenzen wie auf Bundesebene begleitet ist, zeigt sich u. a. an der Stellung des nordrhein-westfälischen CIO: War dieser mit seiner Berufung im Jahr 2013 noch dem Ministerium für Inneres und Kommunales zugeordnet, wechselte die Position nach dem Regierungswechsel im Jahr 2017 (und eines mit ihm einhergehenden weitreichenden Kompetenzumbaus der einzelnen Ministerien) in das neu zugeschnittene Ministerium für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie. Begreift man die digitale Transformation als einen grenzüberschreitenden, egalisierenden Prozess stellt sich im Hinblick auf die unablässigen Operationen an den Organisationsund Umsetzungsstrukturen auf Bundes- und Länderebene die Frage, ob die in den letzten Jahren zunehmenden Zentralisierungsbestrebungen noch stärker über Ländergrenzen hinaus gedacht werden müssen. Zugleich erscheint es dabei sinnvoll, die Versteifung auf organisatorische Zuschnitte zu lockern und sich stärker auf themenspezifische Kooperationen zu konzentrieren. Um die Stärken des Föderalismus dabei nicht zu unterlaufen, sollte eine Zentralisierung von nationalen wie auch internationalen, themenbezogenen Dezentralisierungsmaßnahmen begleitet werden. Aktuelle Bemühungen, wie beispielsweise die Gründung der Föderalen IT-Kooperation (FITKO), die von der Geschäftsstelle Open. NRW in intensiver Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft vorangetriebene Beteiligung am 2. Nationalen Aktionsplan der Open Government Partnership, aber auch privatwirtschaftliche Forderungen nach der Gründung eines Open Data Institutes (Bitkom 2020) zeigen vielversprechende Potenziale auf und weiten den Blick auf andere relevante Akteure wie die kommunale Familie oder die Zivilgesellschaft.
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Resümee
Der digitale Wandel fordert unsere gesamte Gesellschaft heraus und beschert uns seit Jahrzehnten ein Wechselbad der Gefühle. Getrieben von einer immer komplexeren und zugleich komfortableren Alltagsdigitalisierung, steht der Staat in besonderer Weise unter Druck, die Gestaltungshoheit über das digitale Selbstverständnis der Gesellschaft zu behalten. Projekte wie die Google City schweben wie ein Damoklesschwert über unserer gewohnten Lebenswelt (Sander 2019) und fordern Staat und Verwaltung heraus, Schritt zu halten mit einer sich digitalisierenden Welt, dabei aber gleichzeitig keinen Irrlichtern nachzujagen, geschweige denn aus dem Tritt zu kommen. Der Stresstest der Covid-19-Pandemie, die Selbstisolation und Kontaktreduzierung einfordert, macht die Defizite beim Netzausbau wie auch mangelhafte öffentliche Soft247
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warelösungen deutlich. Viele Schüler und Studenten sind zum Teil von einer voll funktionstüchtigen schnellen Kommunikationsinfrastruktur ausgeschlossen. Die öffentlichen Netze sind überlastet. Zusammenbrüche von E-Mail-Servern und eine schlechte Sprachqualität bei Videokonferenzen beruhen auf infrastrukturellen Mängeln, an die man sich in Deutschland gewöhnt zu haben scheint, die aber Kommunikation behindern. Instrumente des E-Government und der E-Democracy stehen im Gegensatz zu anderen Ländern kaum zur Verfügung. In den Verwaltungen sind datenbasierte Entscheidungssysteme, KI-Anwendungen und auch Open Data bestenfalls ansatzweise vorhanden (Kersting 2019). Die digitale Transformation der Verwaltung soll die Servicequalität staatlichen Handelns erhöhen. Dies ist trotz manch engagiertem Versuch, der nicht den erhofften Erfolg brachte (neuer Personalausweis), unbestritten. Sie erfordert aber eine bessere finanzielle und personelle Ausstattung, als dies heute der Fall ist. Zahlreiche Digitalisierungsabteilungen sind noch immer personell stark unterbesetzt oder fristen ein Nischendasein in den jeweiligen Ressorts. Dies ist vor allem für die kommunale Ebene ein akutes Problem. Zwar können bestimmte Dienstleistungen über die vorgeschlagene Zentralisierung harmonisiert und kostengünstiger werden, doch zeigen mindestens die Implementationskosten, dass öffentliche und insbesondere kommunale Verwaltungen finanziell und personell besser ausgestattet werden müssen. Allerdings ist mit Geld allein der Wandel hin zu einer digitalen Verwaltung nicht getan – diese vermeintlich einfache Gewissheit sollte immer wieder als handlungsleitendes Motiv in den Vordergrund gerückt werden. Es bedarf begeisterter Akteure auf allen Ebenen, sowohl mit als auch ohne Leitungsfunktion. Denn ein Wandel von Überzeugungen funktioniert nicht als Verordnung. In weiten Teilen der Belegschaft öffentlicher Verwaltungen muss die Überzeugung und der Wille zur Reform stärker geweckt werden. Die Erfahrungen im Bereich des E-Governments sind Warnung und Lehre zugleich, die Erwartungen an die Digitalisierung nicht zu überladen. Da unerwartete Paradoxien den Prozess behindern können (Banner et al. 2017), sind bessere Partizipationsinstrumente und eine kooperative Leitbildentwicklung wichtige Bestandteile des organisationalen Wandels. Auch ein gesellschaftlicher Leitbildprozess über das Verhältnis von Staat und Digitalisierung findet bisher unzureichend statt. Das Modell des schlanken Staates, der alles dem Markt überlässt, hat sich schleichend implementiert – und in Krisensituationen versagt. Die Krisen der jüngsten Vergangenheit (Migrations- und Fluchtbewegungen, Covid-19-Pandemie) konnten vor allem durch zivilgesellschaftliche Anstrengungen überwunden werden. In der Diskussion um die Covid-19-Pandemie wird die Rolle des Staates neu diskutiert und vermeintliche Gewissheiten werden infrage gestellt. Es ist bezeichnend, wenn Bundespräsident und Bundestagspräsident offen dazu auffordern, das Verhältnis zwischen Marktwirtschaft und staatlicher Regulierung neu zu definieren (Deutscher Bundespräsident 2020; Schmitz & Lange 2020). Die Ausgestaltung der Digitalisierung wird dabei ein zentrales Thema sein müssen, wie nicht zuletzt die Corona-Datenspende-App des Robert-Koch-Instituts (Köver 2020) oder die Corona-Tracing-App der Bundesregierung zeigen (Beckedahl 2020). Um die Digitalisierung erfolgreich voranzutreiben, muss die Diskussion um eine Leitidee des Staates und der Verwaltung in den gesamtgesellschaftlichen Mittelpunkt gerückt, aber
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auch innerhalb der Verwaltungen intensiver geführt werden müssen. Was uns bei anderen Krisen nicht gelungen ist, sollten wir mindestens im Bereich des digitalen Wandels nicht vertun und die Chance nutzen, die Definition unserer digitalen Zukunft vor der Krise zu beginnen. Denn noch immer fehlt es am breiten, gesamtgesellschaftlichen Diskurs darüber, welche Rolle der digitale und smarte Staat sowie die digitale und smarte Verwaltung künftig einnehmen soll. Was soll Verwaltung sein, wo sieht sich die Gesamtgesellschaft z. B. in der Smart City? Welche Bedeutung wird Datenkontrolle und Datenschutz als zentrale Aufgaben und Rechte eingeräumt? Sollen Open-Data-Regelungen in allen Kontexten oder nur für staatliche Behörden gelten? Welche Verantwortung kommt der Wirtschaft und Zivilgesellschaft dabei zuteil? Der Staat verfügt über vielfältige Big-Data-Ressourcen. Wie soll er in Zukunft damit umgehen? Wo liegen die Grenzen und wie agieren wir in Krisensituationen und Ausnahmezuständen? China gilt dabei als abschreckendes Beispiel des möglichen Machtmissbrauchs, der Intransparenz, aber auch der Bandbreite individueller Freiheitsrechte in Krisensituationen. Die Strategiepapiere der Bundesregierung definieren den digitalen Smarten Staat bisher eher technisch. Die neue deutsche Mitgliedschaft in der Open Government Partnership und die Beiträge der Bundesländer zum 2. Nationalen Aktionsplan geben Hinweise darauf, dass weitere Ziele wie Inklusion und Transparenz allmählich den Weg in die Diskussion finden. Welchen Staat wollen wir? Der mit der Covid-19-Pandemie weltweit einhergehende Lockdown führt in allen Bereichen zu einem Moment des Innehaltens. Dieser historische Einschnitt ist auch im Hinblick auf die Digitalisierung ein Appell an Regierung, Politik und Wissenschaft, sich dieser Frage nicht nur in den eigenen Reihen, sondern im Dialog mit der breiten (organisierten und unorganisierten) Zivilgesellschaft zu stellen. Es braucht ein gesellschaftliches Konzept und eine Leitidee, auf die die Digitalisierung und ihre Möglichkeiten ausgerichtet werden kann, ungeachtet dessen, was darüber hinaus technisch möglich wäre.
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Entwicklungs- und Konfliktlinien des Bildungssektors im deutschen Föderalismus Neue Dynamik durch Digitalisierung in Zeiten des Coronavirus? Hellmut Wollmann Entwicklungslinien des Bildungssektors im deutschen Föderalismus
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Fragestellung
Die Entwicklung eines leistungs- und international wettbewerbsfähigen Bildungs- und Wissenschaftssystems ist für Deutschland – zumal als rohstoffarmes Land – eine unverzichtbare Voraussetzung, um dauerhaft die Lebensqualität seiner Bürgerinnen und Bürger, die internationale Konkurrenz- und Innovationsfähigkeit seiner Wirtschaft und somit seine Zukunftsfähigkeit insgesamt zu sichern. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, dem vorliegenden Band, der um das Thema der „Herausforderungen für Politik, Wissenschaft und Gesellschaft im 21. Jahrhundert“ kreist, einen Beitrag beizusteuern, der von der Entwicklung, dem Potenzial und den Perspektiven des Bildungssektors handelt. Im Gefolge der Coronapandemie, die seit März 2020 auch Deutschland erreicht hat, gewinnt diese Frage erhöhte Dringlichkeit. Gegenständlich geht es nachstehend im Wesentlichen um den Hochschulsektor und den Sektor der (sog. allgemeinen bzw. allgemeinbildenden) Schulen1. Analytisch wird mit dem Blick auf den Bildungssektor von einem Mehrebenensystem ausgegangen (Benz 1985, 2005), das föderal aus dem Bund und den Ländern sowie innerhalb der Letzteren aus den Kommunen besteht und das supranational um die EU und darüber hinaus um internationale Handlungsnetzwerke erweitert wird (Hooghe & Marks 2001). Im Mittelpunkt steht die Frage, ob, wie und wann sich die politischen, legislativen, finanziellen und operativen Zuständigkeiten und Einflussnahmen im Bildungssektor im föderalen (und europäischen) Mehrebenensystem im Zeitverlauf (dezentralisierend oder zentralisierend) verändert haben und welche Bestimmungsfaktoren hierbei wirksam waren. Hieraus folgt konzeptionell ein „historisches“ (longitudinales) Vorgehen, in dem, an der Ausgangssituation der Gründung der Bundesrepublik einsetzend, die Veränderungen und Einflussfaktoren im Zeitverlauf bis in die Gegenwart beobachtet werden sollen. 1
Die ‚allgemeinen bzw. allgemeinbildenden‘ Schulen umfassen die Grundschulen und den (in Hauptschulen/Realschulen und Gymnasien ‚gegliederten‘) Sekundarschulbereich sowie die Sonder- bzw. Förderschulen (Nikolai 2020). Hiervon sind die Berufsschulen als schulischer Zweig der sog. Dualen Berufsausbildung zu unterscheiden. Auf diese wird im nachstehenden Aufsatz nicht eingegangen.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_17
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Hellmut Wollmann
Dementsprechend wird in einem einleitenden Abschnitt zunächst die durch die historischen Entstehungsbedingungen des Grundgesetzes geprägte Ausgangssituation der ausschließlichen Zuständigkeit („Kulturhoheit“) der Länder (und innerhalb ihrer der Kommunen als „Schulträger“) skizziert. Sodann werden im Hauptteil des Aufsatzes die Entwicklungslinien („zwischen Dezentralisierung und Zentralisierung“) sowie deren Bestimmungsfaktoren nachgezeichnet. In einem weiteren Abschnitt wird die plurale Entwicklung der Hochschul- und Schulpolitik in den Ländern skizziert. In einem abschließenden Abschnitt werden zusammenfassende Schlussfolgerungen und Reformüberlegungen formuliert.
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Ausgangssituation
Im Unterschied zu einem verfassungsrechtlichen „Trennmodell“, in dem (beispielhaft in den USA) den (zentralen und gliedstaatlichen) Gebietskörperschaften je eigene Gesetzgebungszuständigkeiten und zugleich zum Vollzug dieser Aufgaben je eigene Verwaltungszuständigkeiten zugewiesen werden, liegt dem 1949 geschaffenen föderalen System der Bundesrepublik ein „Verbundmodell“ zugrunde, in dem – in einer vertikalen Funktionsteilung (und zugleich vertikalen Gewaltenteilung) – der Bund weitgehend für die Gesetzgebung und die Länder überwiegend für die Verwaltungsaufgaben, einschließlich des Vollzugs der Bundes- und Landesgesetze (und inzwischen auch Normsetzungen der EU) zuständig sind, wobei innerhalb der Länder der größte Teil der Verwaltungsaufgaben, mit Ausnahme vor allem von Lehrpersonal und Polizei, von den Kommunen ausgeführt werden (Kropp 2011, S. 15; Kuhlmann & Wollmann 2016, S. 110). In dieser dem deutschen föderalen System eigentümlichen vertikalen „hybriden“ Funktionsteilung und in dem dieser entsprechenden „Verbundmodell“ sind politisch und operativ die Handlungsmuster eines „kooperativen Föderalismus“ und einer „Politikverflechtung“ (Scharpf et al. 1976) der beiden föderalen Ebenen angelegt. Im Gegensatz hierzu fußte der Bildungssektor ursprünglich, den historischen Entstehungsbedingungen des Grundgesetzes geschuldet, als Ausnahme auf dem „Trennmodell“, in dem die Länder im Bildungssektor sowohl für die Gesetzgebung als auch für die Ausführung der Aufgaben zuständig sind. Diese umfassende Zuständigkeit der Länder, die insbesondere das Hochschul- und allgemeine Schulwesen umfasst und traditionell die (suggestive) Bezeichnung „Kulturhoheit“ trägt, wird allerdings im Grundgesetz nicht ausdrücklich erwähnt, sondern wird verfassungsrechtlich und -politisch aus der allgemeinen Zuständigkeitsvermutung des Art. 30 GG2 und daraus gefolgert, dass die Kataloge zur ausschließlichen und konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes (Art. 72ff. GG) keine Hinweise auf die Kultur- und Bildungspolitik enthalten (Scheller 2019a; Hepp 2006, S. 243). 2
Art. 30 GG: „Die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben ist Sache der Länder, soweit dieses Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder zulässt.“
Entwicklungslinien des Bildungssektors im deutschen Föderalismus
255
Für den hervorragenden Rang, der der „Kulturhoheit“ der Länder zugeschrieben wurde, sind mehrere historische Gründe zu erkennen (Hepp 2006, S. 242). Zum einen ist eine „pfadabhängige“ Entstehungsspur darin auszumachen, dass die Länder unter der Weimarer Verfassung eine solche ausschließliche Zuständigkeit in kulturellen Angelegenheiten besaßen und noch weiter zurück die Einzelstaaten 1871 ihre diesbezüglichen Rechte in die Bildung des „Bismarck-Reichs“ einbrachten und behielten (zu den „pfadabhängigen“ Prägungen des Grundgesetzes: Lehmbruch 2002). Zum anderen haben die Besatzungsmächte, die auf die Entstehung des Grundgesetzes bestimmenden Einfluss nahmen, auf die Verankerung einer ausschließlichen Bildungszuständigkeit der Länder gedrängt, um jedweder Wiederkehr einer zentralistischen Gleichschaltung einen Riegel vorzuschieben. Schließlich war von Bedeutung, dass sich der mit der Ausarbeitung des Grundgesetzes befasste Parlamentarische Rat aus Vertretern der Parlamente der neu gebildeten Länder zusammensetzte und diese für eine ausgeprägte Länderzuständigkeit insbesondere im Bildungssektor eintraten. Dadurch, dass die Länder am 19./20.2.1948 (also noch über ein Jahr vor Inkrafttreten des Grundgesetzes am 19.5.1949 und somit der Gründung der Bundesrepublik) eine ständige Kultusministerkonferenz (KMK) einrichteten, bekundeten die Landesregierungen sogleich ihre Absicht und ihren Willen, die Kulturpolitik in die eigenen Hände zu nehmen (Immerfall 2010, S. 198; Scharpf 2009, S. 20). Der hohe verfassungsrechtliche Stellenwert der Kulturhoheit der Länder wurde vom Bundesverfassungsgericht in einer seiner ersten Entscheidungen vom 26.3.19573 als „Kern der Eigenstaatlichkeit der Länder“ anerkannt, hervorgehoben und nachfolgend in ständiger Rechtsprechung bekräftigt.4 Auf dem Weg zum „unitarischen Bundesstaat“? In der Bewältigung der beispiellosen Zerstörungen und sozialen, durch den Zustrom von Millionen von Vertriebenen verschärften Nöte, die der von Hitler-Deutschland entfesselte Weltkrieg hinterlassen hatte, war der Bund, neben den früh einsetzenden Leistungen der Länder und Kommunen, im Verlauf der Nachkriegsjahre mit Aufgaben in einem Umfang konfrontiert, der die im Grundgesetz vorgegebene dezentrale Struktur des föderalen Systems zunehmend sprengte. So machte der Bund von der ihm im Grundgesetz zugeschriebenen konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit (Art. 72 GG), deren Gesetzgebungsmaterien zudem mehrfach erweitert wurden, ausgiebig Gebrauch. War die im Art. 72 Abs. 2 GG für die konkurrierende Gesetzgebung vorgesehene Formel von der „Erforderlichkeit der Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse im Bundesgebiet“5 ursprünglich als eine gesetzgeberische Einschränkung des Bundes gedacht (Sturm 2010, S. 184), so entwickelte sie in der politischen
3 4
5
BVerGE 6, S. 309 (354). BVerfGE 34, S. 9, wo die Kulturhoheit als „unentziehbares Hausgut“ der Länder im Bundesstaat bezeichnet wird, und ferner BVerfGE 37, S. 313 (322): „Die Kulturhoheit, besonders aber die Hoheit auf dem Gebiet des Schulwesens, das Kernstück der Eigenstaatlichkeit der Länder ist.“ Art. 72 Abs. 2 GG (a. F.): „[…] hat der Bund das Gesetzgebungsrecht, wenn und soweit die Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich 255
256
Hellmut Wollmann
Diskussion und Praxis die Dynamik eines verfassungsrechtlichen Auftrags, „einheitliche Lebensverhältnisse im Bundesgebiet“ herzustellen, wobei das Bundesverfassungsgericht das gesetzgeberische Ermessen in der Anwendung von Art. 72 für nicht „justiziabel“, also von ihm nicht überprüfbar erklärte. So entfaltete das Institut der konkurrierenden Gesetzgebung die „ihm seit je eigene Zentralisierungsdynamik“ (Lehmbruch 2002, S. 101) und vereinheitlichte („unitarisierte“) die Rechtswelt im Wege der Bundesgesetzgebung, während allfällige landesgesetzliche Regelungen marginalisiert wurden. Des weiteren wurde die im Verbundmodell des föderalen Systems angelegte Tendenz zur „Mischung“ und „Verflechtung“ von Zuständigkeiten im Verlaufe der 1950er- und insbesondere 1960er-Jahre dadurch verstärkt, dass der Bund aufgrund seiner überlegenen Finanzkraft (Stichwort: „Juliusturm“) in Handlungs- und Zuständigkeitsfeldern der Länder intervenierte. Hieraus entstand außerhalb und ohne verfassungsrechtliche Regelung ein „Wildwuchs“ von „Dotations- und Fondsverwaltung“ (Kropp 2011, S. 15; Scharpf 2009, S. 24) und „verflochtenen“ Kooperationsstrukturen, die durch „Mischfinanzierung“ (mit einem Löwenanteil des Bundes) und „Mischverwaltung“ (im Neben- und Miteinander zwischen Bundes- und Landesverwaltung) gekennzeichnet waren und die die Bund-Länder-Beziehungen in eine zentralisierende Richtung verschoben. Die im Verlauf der 1950er- und 1960er-Jahre hervortretenden unitarisierenden und zentralisierenden Entwicklungslinien wurden als die Herausbildung eines „unitarischen Bundesstaates“ (Hesse 1962) oder gar eines „verkappten Einheitsstaats“ (Abromeit 1992) beschrieben.
3
Entwicklungslinien und -phasen des Bildungssektors im föderalen System
3.1
Reformaufbruch der 1960er-Jahre im Bildungssektor
In den mittleren 1960er-Jahren wurde der Bildungssektor, bislang ausschließliches Reservat der Länder und ihrer Kulturhoheit, von einer gesamtstaatlichen und gesamtgesellschaftlichen Reformdiskussion ergriffen. Diese wurde zunächst vor allem vom publizistischen Alarmruf einer „Bildungskatastrophe“ (Picht 1964) angestoßen, der die Rückständigkeit des deutschen Bildungswesens ins öffentliche Bewusstsein rückte. Danach, im Jahr 1965, erregte ein Plädoyer „Bildung als Bürgerrecht“ (Dahrendorf 1965) publizistisches Aufsehen, dem sich 1968 das publizistische Menetekel einer „Amerikanischen Herausforderung“ (ServanSchreiber 1968) anschloss, das einen eklatanten Technologie- und Forschungsvorsprung der USA vor Europa beschwor. Zudem wurde nach 1967/68 der Hochschul- und mit ihm der gesamte Bildungssektor von der ‚Studentenrevolte‘ erschüttert und herausgefordert. macht.“ Durch eine Verfassungsänderung des Art. 72 Abs. 2 GG (n. F.) wurde 1994 die Formel in „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ verändert (und abgeschwächt).
Entwicklungslinien des Bildungssektors im deutschen Föderalismus
257
Vor diesem Hintergrund wurden bildungspolitische Reforminitiativen und -maßnahmen ergriffen, die den Bildungssektor aus der alleinigen Zuständigkeit (‚Trennmodell‘) der Länder lösten und ihn – mit vordringendem Einflusses des Bundes – der föderalen Logik des ‚Verbundmodells‘ und des ‚kooperativen Föderalismus‘ öffnete. Auch im Jahr 1965 gründeten der Bund und die Länder den Deutsche Bildungsrat, dessen 18 Mitglieder sich aus 14 Vertretern der Länder und vier des Bundes zusammensetzten und der das erste gemeinsame Gremium bildungspolitischer Kooperation war. Die in den 1960er-Jahren vordringende ‚Planungsdiskussion‘ widerspiegelnd, hatte der Bildungsrat die Aufgabe, Bedarfs- und Entwicklungspläne für das deutsche Bildungswesen zu entwerfen, Strukturvorschläge zu machen, den Finanzrahmen zu berechnen und Empfehlungen für langfristige Planungen auszusprechen. Parallel zu diesem Anstoß und Auftakt einer Bund-Länder-Kooperation im Bildungssektor intensivierte die bereits 1948 gegründete Kultusministerkonferenz (KMK) als Drehscheibe der bildungspolitischen Selbstkoordination der Länder ihre Aktivitäten. Zum einen rückten vor allem die Hochschulen in den Mittelpunkt von Reformaktivitäten. Der Ruf nach einer Steigerung der Ausbildungskapazität der Hochschulen löste in den meisten Ländern die Gründung und den Bau neuer Hochschulen aus, an deren Finanzierung sich der Bund massiv beteiligte. Zum anderen rückte die Reform des Schulwesens, zunächst vor allem die Frage der Einführung von Gesamtschulen, vorrangig auf die Politikagenda der Länder. Da diese Reformanstoße hauptsächlich in den 1970er-Jahren umgesetzt wurden, sollen sie in einem späteren Abschnitt dieses ‚historisch‘ gegliederten Aufsatzes näher beleuchtet werden.
3.2
Verfassungsreform von 1969
Die Verfassungsreform von 1969, die als einschneidendste Verfassungsänderung seit 1949 unter der aus CDU/CSU und SPD gebildeten Großen Koalition beschlossen wurde, drehte sich zum einen um eine fundamentale Neuverteilung der Steuereinnahmen zwischen Bund und Ländern, vor allem durch die Einführung eines ‚Steuerverbunds‘ zwischen ihnen (sowie – eher randständig – der Kommunen; Sturm 2015, S. 90ff.). Zum anderen zielte sie wesentlich darauf ab, die seit 1949 gleichsam wildwüchsig entstandenen institutionellen Mechanismen der finanziellen (‚Dotationsregime‘, ‚Mischfinanzierung‘) und administrativen Mitwirkung (‚Mischverwaltung‘) des Bundes an der Erfüllung von Landesaufgaben verfassungsrechtlich zu ordnen. In dieser Absicht wurde einerseits der sogenannte Konnexitätsgrundsatz als verfassungsrechtliche Regel statuiert (Art. 104a GG), sodass der Bund und die Länder für ihre jeweiligen Aufgaben gesondert die Ausgaben tragen.6 Andererseits wurden – als Ausnahmen vom Konnexitätsprinzip – sogenannte Gemeinschaftsaufgaben (Art. 91a und b GG a. F.) eingeführt, in denen der Bund in bestimmten 6 Art. 104a GG: „Der Bund und die Länder tragen gesondert die Ausgaben, die sich aus der Wahrnehmung ihrer Aufgaben ergeben, soweit dieses Grundgesetz nichts anderes bestimmt.“ 257
258
Hellmut Wollmann
Handlungsfeldern der Länder (z. B. Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur) Mitfinanzierungs- und Mitverwaltungsrechte erhielt. Ferner wurde verfassungsrechtlich anerkannt (Art. 104a Abs. 2‒4 GG a. F.), dass der Bund unter verfassungsrechtlich definierten Voraussetzungen den Ländern Finanzhilfen gewähren kann. Alles in allem wurden in der Verfassungsreform von 1969 die im Verlauf der Nachkriegsentwicklung erzielten (zentralisierenden) ‚Landgewinne‘ des Bundes im föderalen System verfassungsrechtlich anerkannt und zugleich eingegrenzt. Der wachsende finanzielle und operative Einfluss, den der Bund während der 1960erJahre verfassungspolitisch und verwaltungspraktisch auch auf die Bildungspolitik der Länder (und damit auf ihre Kulturhoheit als Kern ihrer ‚Eigenstaatlichkeit‘) gewonnen hatte, wurde in der Verfassungsreform von 1969 in mehreren Schlüsselbestimmungen verfassungsrechtlich anerkannt und festgeschrieben. Zum einen wurde eine Gemeinschaftsaufgabe „Bildungsplanung und Wissenschaftsförderung“ (Art. 91b GG a. F.) eingeführt. Bildungsplanung umfasste sämtliche Einrichtungen und Stufen des Bildungswesens, von der vorschulischen Erziehung über das Schulwesen, das Hochschulwesen bis zur Fort-, Weiter und Erwachsenenbildung (vgl. Wissenschaftliche Dienste 2009). Damit bestand erstmals verfassungsrechtlich verankert ein vom Bund und von den Ländern gemeinsam getragenes Planungsgremium für den gesamten Bildungsbereich. Durch Verwaltungsvereinbarung zwischen Bund und Ländern vom 25. Juni 1970 wurde die Bund-Länder-Kommission (BLK) für Bildungsplanung (und fünf Jahre später erweitert um „und Forschungsförderung“) eingerichtet, deren maßgeblichem Beratungs- und Beschlussgremium acht Vertreter der Bundesregierung sowie je ein Vertreter der Landesregierungen angehörten. Zum anderen wurde die Gemeinschaftsaufgabe „Neubau und Ausbau von Hochschulen“ als verfassungsrechtlicher Rahmen für die gemeinsamen Planungen und Investitionen im Hochschulbereich erfasst. Damit erhielt die finanzielle Beteiligung des Bundes an den massiven Investitionen im Hochschulneubau der Länder ihre verfassungsrechtliche Absicherung. Ferner wurde die Rahmengesetzgebungskompetenz des Bundes (Art. 75 GG) um die Materie „allgemeine Grundsätze des Hochschulwesens“ erweitert, wodurch der Bund gesetzgeberischen Einfluss auf das von den einzelnen Ländern bislang jeweils allein bestimmte Hochschulrecht erhielt. Insgesamt bestätigte die Verfassungsreform von 1969 die (zentralisierenden) Impulse, die das den Bildungssektor ursprünglich kennzeichnende, in der Kulturhoheit der Länder wurzelnde Trennmodell in Richtung des dem föderale System insgesamt eigentümlichen Verbundmodells und des kooperativen Föderalismus verschoben (Hepp 2006, S. 243). Den bildungspolitischen Bedeutungs- und Rollengewinn des Bundes bestätigend, folgte 1970 die (erstmalige) Einrichtung eines Bundesbildungsministeriums. Dieses legte im selben Jahr sogleich einen Bildungsbericht vor, der in engem Zusammenhang mit dem fast gleichzeitig veröffentlichten Strukturplan für das Bildungswesen des Deutschen Bildungsrats stand und den Anspruch auf eine gesamtstaatliche Planung und Steuerung im Bildungssektor unterstrich.
Entwicklungslinien des Bildungssektors im deutschen Föderalismus
3.3
259
Bildungspolitische Reformen in den 1970er-Jahre
Die bildungspolitische Reformwelle war in eine Politikphase eingebettet, in der seit den mittleren 1960er- bis in die mittleren 1970er-Jahre – zeitweise geradezu ‚planungseuphorisch‘ – auf gesamtstaatliche und -wirtschaftliche Planung gesetzt wurde, der die 1969 formierten sozial-liberalen Koalition unter Willy Brandt die reformpolitische Formel einer „Politik der inneren Reformen“ gab und die in der politikwissenschaftlichen Diskussion als auf Planung und Steuerung zielende „aktive Politik“ (Mayntz & Scharpf 1973) apostrophiert wurde.
3.3.1
Schulsektor
Im Schulsektor war der Reformaufbruch der späten 1960er- und der 1970er-Jahre in erster Linie auf eine Reorganisation des traditionellen Schulsystems insbesondere durch die Einrichtung von Ganztags- und Gesamtschulen gerichtet. Am 23. Februar 1968 verabschiedete die Bildungskommission des Bildungsrats Empfehlungen zur „Einrichtung von Schulversuchen mit Ganztagsschulen“. Die Kultusministerkonferenz (KMK) reagierte am 3. Juli 1969 auf diese Empfehlungen mit dem Beschluss, „ein Experimentalprogramm für Schulversuche mit Ganztagsschulen“ durchzuführen, und mit der Vereinbarung, dass „bei jedem einzelnen Versuch […] das zuständige Kultusministerium eine wissenschaftliche Untersuchung durchführen“ lasse. Damit hielten, von der Entwicklung in den USA angeregt, in Deutschland Ansätze einer „experimentellen Politik“ insbesondere im Felde der Schulpolitik der Länder Einzug (Hellstern & Wollmann 1983, S. 22ff.). Anknüpfend an diese vom Bildungsrat 1969 erhobene Forderung, Schulversuche mit Gesamtschulen durchzuführen, um auf um die anstehenden gesellschaftspolitischen Entscheidungen über die Strukturveränderungen der Schule auf wissenschaftlich begleitete und kontrollierte Versuche stützen zu können, unterzeichneten die Bundesregierung und die Landesregierungen am 7. Mai 1971 Rahmenvereinbarung zur „koordinierten Vorbereitung, Durchführung und wissenschaftlichen Begleitung von Modellvorhaben“. Die KMK sah 1972 vor, nach zehn Versuchsjahren zu entscheiden, ob die Gesamtschule das bessere Konzept sei: Im positiven Fall sollte sie als alleinige Schulform eingeführt werden. War dieses vom Bildungsrat 1969 angestoßene „experimentelle“ Vorgehen zunächst parteiübergreifend unterstürzt worden, so kam es in der Folgezeit zu einem „Schulkampf“ (über Für und Wider der Gesamtschule) zwischen SPD- und CDU-geführten Ländern. Als 1982 der Schulversuch Gesamtschule endete und deren Evaluierungen vorlagen, blieben die Bewertungen und Schlussfolgerungen strittig. Je nach parteipolitischer Ausrichtung der Regierung der einzelnen Bundesländer wurden diese Versuche als erfolgreich angesehen oder für gescheitert erklärt (Fend 1982; Hellstern & Wollmann 1983). In der Folgezeit wurden zwar in einigen Bundesländern Gesamtschulen vor allem in Bundesländern mit langjähriger sozialdemokratischer Vorherrschaft eingerichtet, jedoch auch in diesen in einem „Zwei-Wege-Modell“ unter Beibehaltung des traditionellen (in Grund-, Haupt-/ Realschulen und Gymnasien) „gegliederten“ Schulsystems (Nikolai 2020).. 259
260
Hellmut Wollmann
Auch wenn die mit der 1969 eingeführten Gemeinschaftsaufgabe intendierte Bildungsplanung auf der gesamtstaatlichen Ebene in dem Maße stecken blieb, wie die ‚Planungseuphorie‘ und der Reformimpetus erschlafften, so diente doch die Gemeinschaftsaufgabe in den 1970er-Jahren dem Bund als Aufhänger für punktuelle Interventionen auch im Schulwesen in Form finanzieller Beteiligung an Modellversuchen z. B. zu Verbesserung des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts (SINUS) oder zur Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund (FörMig; Lange 2007, S. 153).
3.3.2
Hochschulsektor
Die für die deutsche Universitätslandschaft folgenreichste Entwicklung war der massive Neu- und Ausbau von sowohl Universitäten als auch anderen Hochschulen, der seit den mittleren 1960er-Jahren im ‚para-konstitutionellen‘ mischfinanzierten Dotationsregime einleitet worden war und nunmehr im verfassungsrechtlich gesicherten Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe vorangetrieben wurde. Bis Ende der 1970er-Jahre wurde in den Bundesländern die bisherige Gesamtzahl von 29 „alten“ Universitäten um 24 neue erweitert. Hierbei weist das Land Nordrhein-Westfalen einen besonders dramatischen Anstieg neuer Universitäten auf. War das Land Nordrhein-Westfalen bis in die frühen 1960er-Jahre mit insgesamt vier Universitäten ein im Verhältnis zu seiner Einwohnerzahl von 16 Millionen ausgeprägt ‚universitätsarmes‘ Land, so rückte es mit zehn neuen Universitäten (deren erste 1965 als Ruhr-Universität Bochum gegründet wurde) zum Land mit der höchsten Hochschuldichte auf.
3.4
Internationale und transnationale bildungspolitische Einflüsse
Seit den späten 1990er-Jahren haben mehrere internationale und transnationale Entwicklungen auf die bildungspolitische Diskussion und Praxis in Deutschland zunehmend eingewirkt.
3.4.1
PISA-Studie
Zum einen ist die Veröffentlichung der unter der Ägide der OECD durchgeführte PISAStudie7 im Jahr 2001 zu nennen, deren Ergebnisse beträchtliche Mängel des deutschen Bildungssystems, zumal im internationalen Vergleich, offenlegten und eine bildungspolitische Reformdiskussion mit einer politischen und medialen Wucht auslösten, die an den Alarmruf der „Bildungskatastrophe“ der 1960er-Jahre erinnert (Hepp 2006, S. 151; Scheller 2010, S. 225). Nachdem es um die ‚experimentellen‘ Schulversuche und diversen Modellvorhaben der 1970er Jahre still geworden war, rückten vergleichende Schultests in der Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der PISA-Studie und ihres methodischen Ansatzes nunmehr in den Gesichtskreis und Mittelpunkt der bildungspolitischen Dis-
7
PISA = Programme for International Student Assessment
Entwicklungslinien des Bildungssektors im deutschen Föderalismus
261
kussion in Deutschland. Die KMK legte 2002 ein Aktionsprogramm und eine Einigung über die Einführung bundesweit gültiger Bildungsstandards und vergleichender Schulleistungstests vor (Hepp 2006, S. 251). Im Jahr 2003 wurde ein von allen Ländern getragenes Institut für Qualitätsentwicklung in Berlin gegründet.
3.4.2
Bologna-Prozess
Ferner gingen kräftige Impulse zur radikalen Umgestaltung der Studiengänge und -abschlüsse an den deutschen Hochschulen vom sogenannten Bologna-Prozess aus (Scheller 2010, S. 248). Im Mai 1998 unterzeichneten die Bildungsminister Frankreichs, Großbritanniens, Italiens und Deutschlands die Sorbonne-Erklärung mit der wechselseitigen Verpflichtung „on the harmonisation of the architecture of the European higher education system“. Ein Jahr später folgte die Bologna-Deklaration zur Schaffung eines Europäischen Hochschulraums bis 2010. Diese Erklärung wurde von 29 europäischen Staaten außerhalb des EU-Vertragsrahmens unterzeichnet (Scheller 2010, S. 248). Auch wenn in der Bologna-Erklärung ausdrücklich die „Achtung der Vielfalt der Kulturen, der Sprachen der nationalen Bildungssysteme und die Autonomie der Universitäten“ betont wurde, hat sie thematische Ausgestaltung der Studiengänge, die Lehre und die Prüfungen tiefgreifend beeinflusst, indem sich eine wachsende Zahl von Universitäten veranlasst sahen, sich am internationalen Reformdiskurs zu orientieren und Bachelor- wie MasterStudiengänge einzuführen. Mit der für die Einführung neuer Studiengänge geforderten „Zertifizierung“ wurden – im Einklang mit den Maximen eines New Public Management – externe privatwirtschaftlich konkurrierende „Akkreditierungsagenturen“ beauftragt. Im Ergebnis „stellt das Akkreditierungsverfahren einen gänzlich neuen Mechanismus zur Steuerung von vormals originär und ausschließlich hoheitlichen Aufgaben dar“ (Scheller 2010, S. 249; Wissenschaftsrat 2012).
3.4.3
Beschlussfassung der Vereinten Nationen (UN)
Des Weiteren ist auf die von den Vereinten Nationen 2006 verabschiedete Behindertenrechtskonvention zu verweisen, die im deutschen Bildungssystem dadurch Geltung gewinnt, dass ihr – etwas verzögert – im März 2009 die Bundesrepublik und mit ihr die Bundesländer beigetreten sind und sie damit als innerstaatlich verbindlich anerkannt haben (Kerbel 2015; Brügelmann 2019). In dem maßgeblichen Art. 24 der Konvention wird das Recht „Behinderter“ auf „inklusive“ Bildung, d. h. auf „ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen“ garantiert. Der Normalfall soll danach sein, dass Kinder „nicht auf Grund von Behinderung vom unentgeltlichen und obligatorischen Grundschulunterricht oder vom Besuch weiterführender Schulen ausgeschlossen werden“ (Art. 24 Abs. 2a). Das allgemeine Bildungssystem soll mithin jedem zugänglich sein. Ziel ist also der gemeinsame Schulbesuch von behinderten und nicht behinderten Kindern in einer Regelschule als ‚Normalfall‘. Angesichts dessen, dass in den Bundesländern neben dem Gros der ‚Regelschulen‘ (seien es das in Haupt-/Real und Gymnasium ‚gegliederte‘ Schulsystem oder die Gesamtschulen) 261
262
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herkömmlich davon getrennt und zusätzlich Sonder- und Förderschulen für (körperlich, geistig usw. behinderte) Schüler eingerichtet sind, stellt der deutsche Beitritt zur UNKonvention für die Schulpolitik der Bundesländer einen potenziell tiefen Einschnitt mit weitreichenden schulinfrastrukturellen, -personellen, -pädagogischen und nicht zuletzt finanziellen Folgen dar. Über die Frage, wie die Inklusion behinderter Schülerinnen und Schüler ins Werk zu setzen sei, wird in Politik, Wissenschaft und Praxis lebhaft gestritten. Hierbei werden auch parteipolitische Fronten deutlich. Während von Seiten der CDU und CSU eher für die Beibehaltung des überkommenen ‚gegliederten‘ Schulsystems und hierbei auch der Sonder- und Förderschulen argumentiert wird, treten die SPD, Die Grünen und die Linkspartei eher für die ‚inklusive‘ Regelschule ein. Inzwischen haben einige Länder (z. B. Bremen und Schleswig-Holstein) damit begonnen, Sonder- und Förderschulen aufzulösen und sie in die Regelschule zu integrieren (Kerbel 2015; Nikolai 2020).
3.5
Europäische Union
Schließlich wirkt seit den frühen 1990er-Jahren die fortschreitende europäische Integration auf die Bildungspolitik sowohl auf Bundes- als auch Länderebene ein. In den EU-Gründungsvertrag von Maastricht vom 29. Juli 1992 wurde ein Kapitel über Bildung (Art. 126) aufgenommen: „Die Gemeinschaft trägt zur Entwicklung einer qualitativ hochstehenden Bildung dadurch bei, dass sie die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten fördert und die Tätigkeit der Mitgliedstaaten […] erforderlichenfalls unterstützt“. Allerdings wurde einschränkend hinzugefügt: „unter strikter Beachtung der Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Lehrinhalte und die Gestaltung des Bildungssystems sowie der Vielfalt ihrer Kulturen und Sprachen“. Für die „als Beitrag zur Verwirklichung der Ziele dieses Artikels“ in Aussicht genommenen „Fördermaßnahmen“ wurde desgleichen ein einschränkendes sogenanntes Harmonisierungsverbot statuiert: „unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten“. Eine ähnliche Regelung findet sich für Kultur (Art. 128). Das vom Europäischen Rat in Lissabon (März 2000) proklamierte Ziel, „die Union bis zum Jahr 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen“ markierte eine neue Phase europäischer Bildungspolitik (Scheller 2010, S. 246). Der Europäische Rat von Barcelona (März 2002) verabschiedete ein detailliertes bildungspolitisches „Arbeitsprogramm Allgemeine und berufliche Bildung 2010“, das konkrete Zielsetzungen und eine Indikatorenliste zur Messung der Fortschritte bei der Umsetzung der Ziele enthielt. Als Methodik der Umsetzung der bildungspolitischen Zielsetzungen wurde die für die gesamte Lissaboner Strategie etablierte „Offene Methode der Koordinierung“ (OMK) festgeschrieben (Becker & Primova 2009, S. 12). Diese soll den EU-Mitgliedsstaaten Orientierung für ihre Politikreformen geben und auch in nationalstaatlich sensiblen Bereichen, die den Kern der Souveränität eines jeden EU-Landes berühren, Reformprozesse anstoßen. Durch solche ‚weichen‘ Strategien der „Überzeugung durch Information“ und indikativer Steuerung, die unterhalb der Schwelle verbindlicher
Entwicklungslinien des Bildungssektors im deutschen Föderalismus
263
Gesetzgebung sind und bleiben, sollen inter- und transnationale Lernprozesse stimuliert werden (Bauer & Knölll 2003).
3.6
Neufassung des 23 GG („Europa-Artikel“) von 1992
Angesichts der sich abzeichnenden (durch den Mastrichter Vertrag vom 1. Januar 1993 dann vollzogenen) Gründung der EU wurde eine Neufassung des Art. 23 n. F. beschlossen, die, am 25. Dezember 1992 in Kraft tretend, den bisherigen infolge der Deutschen Einigung obsolet gewordenen Art. 23 GG a. F. ersetzte und vielfach programmatisch als „Europa-Artikel“ figurierte. Er zielte darauf, den Befürchtungen der Länder vor Bedeutungsverlust durch die fortschreitende Europäische Integration Rechnung zu tragen. In einer gemeinsamen Stellungnahme brachten die Fraktionsvorsitzenden der Landtage ihre Besorgnis pointiert zum Ausdruck: „durch die Europäisierung werde der Föderalismus in seinem Kern bedroht“ und die Länder „zu bloßen Agenturen der Umsetzung europäischer Gesetze, Verordnungen und Richtlinien“ herabgestuft (Drexler et al. 20048; Sturm 2015, S. 102). Die Mitwirkungsrechte der Länder an europarelevanten Entscheidungen wurden verfassungsrechtlich dem Bundesrat und damit – als weiteres Beispiel des „Exekutivföderalismus“ – faktisch den Landesregierungen statt den Landesparlamenten zugewiesen. Am stärksten ist das Mitwirkungsrecht des Bundesrates, also der Landesregierungen, für den Fall ausgeprägt, dass durch Bundesgesetz ‚Hoheitsrechte‘, zu denen auch jene der Länder, insbesondere Komponenten ihrer Kulturhoheit zu rechnen sind, auf die EU übertragen werden. Hierfür ist die Zustimmung des Bundesrats erforderlich, besitzt dieser mithin ein Vetorecht. Deutlich schwächere Mitwirkungsrechte des Bundesrats sind für den Fall vorgesehen, dass anstehende EU-Entscheidungen „Länderzuständigkeiten berühren“. Hierfür schreibt Art. 23 GG n. F. vor, der Bundesrat sei „an der Willensbildung des Bundes zu beteiligen“. Die innerstaatliche Handhabung des in Art. 23 GG nur karg bezeichneten „Beteiligungsrechts“ des Bundesrats wurde in dem „Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union“ (EUZBLG) vom 12. Februar 1993 konkretisiert: Für den Fall, dass „bei einem Vorhaben im Schwerpunkt Gesetzgebungsbefugnisse der Länder betroffen sind und der Bund kein Recht zur Gesetzgebung hat“, was insbesondere für die unter die „Kulturhoheit“ fallenden bildungspolitischen Zuständigkeiten zutrifft, „ist insoweit bei Festlegung der Verhandlungsposition durch die Bundesregierung die Stellungnahme des Bundesrates maßgeblich zu berücksichtigen […]. Stimmt die Auffassung der Bundesregierung nicht mit der Stellungnahme des Bundesrates überein, ist ein Einvernehmen anzustreben […]. Kommt ein Einvernehmen nicht zustande und bestätigt der
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Es handelte sich um ein Positionspapier, das die Fraktionsvorsitzenden in die Beratungen der Föderalismuskommission (im Zusammenhang mit der Föderalismusreform I) einbrachten. 263
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Bundesrat daraufhin seine Auffassung mit einem mit zwei Dritteln seiner Stimmen gefassten Beschluss, so ist die Auffassung des Bundesrates maßgebend.“
Damit wird dem Bundesrat – auch und gerade in Fragen der Bildungspolitik – eine mit Zwei-Drittel-Mehrheit auszuübende Bestimmungsmacht eingeräumt, an welche die Bundesregierung bzw. -minister in ihren Verhandlungen in den EU-Gremien gebunden sind. Die innerstaatlich (in Grundgesetz und Ausführungsgesetz) geregelte Mitwirkung des Bundesrats in Fragen der „schulischen Bildung“ und „Kultur“ gibt dem Bundesrat zudem die bemerkenswerte Möglichkeit, sich direkt an die Organe der EU (Rat, Parlament) zu wenden, falls er sich in diesen Feldern prozedural übergangen sieht.9 Für den Fall, dass anstehende EU-Entscheidungen die Materien von „schulischer Bildung [sic!], der Kultur und des Rundfunks“ betreffen, sieht Art. 23 Abs. 5 GG (in der 2006 modifizierten Fassung) überdies die im EU-Kontext einzigartige Regelung vor, dass ein vom Bundesrat zu bestimmender Landes(!)vertreter an den einschlägigen EU-Sitzungen als stimmberechtigtes Mitglied mitwirkt (zu den Kontroversen um diese Regelung: Sturm 2010, S. 201ff.; Lange 2007, S. 143). Abschließend sei daran erinnert, dass die in Art. 23 GG n. F. dem Bundesrat eingeräumten Mitwirkungsrechte praktisch von den Landesregierungen ausgeübt werden und – als ein weiteres Beispiel für dem deutschen Föderalismus eigentümlichen „Exekutivföderalismus“ – die Landesparlamente ausgrenzen.
3.7
Förderinitiativen und Rückzug des Bundes aus dem Bildungssektor
Wie erwähnt, löste die 2001 bekannt gewordene PISA-Studie, die auf im internationalen Vergleich alarmierende Defizite im deutschen Bildungswesen hinwies, eine neue bildungspolitische Diskussions- und Reformwelle aus. Vor diesem Hintergrund strebte die 2002 wiedergewählte „rot-grüne“ Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder eine stärkere Rolle des Bundes in der Bildungspolitik an. Er stellte die Länderhoheit ausdrücklich infrage, äußerte scharfe Kritik an der KMK und forderte einen nationalen
9
Bundesrat Drucksache 193/18 (Beschluss) vom 6. Juli 2018 mit Beschluss zu: Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Eine neue europäische Agenda für Kultur COM (2018). Der Bundesrat stellt fest, dass die Vorschläge der Kommission schwerpunktmäßig in den Kernbereich der Kulturhoheit der Länder fallen. Dies folgt nicht zuletzt auch aus den Art. 30 und 70 Abs. 1 des GG, weil diejenigen Bereiche, in denen der Bund eine Gesetzgebungskompetenz für den Kulturbereich hat (Art. 73 Abs. 1 Nr. 5a & 9 des GG), hier nicht betroffen sind. Gemäß § 5 Abs. 2 S. 1 EUZBLG ist damit die Stellungnahme des Bundesrates bei der Festlegung der Verhandlungsposition durch die Bundesregierung maßgeblich zu berücksichtigen. Überdies ist nach Art. 23 Abs. 6 S. 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit § 6 Abs. 2 EUZBLG die Verhandlungsführung auf einen vom Bundesrat benannten Vertreter der Länder zu übertragen.
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Lehrplan für Kernbereiche und regelmäßige bundesweite Bildungsberichte: „Die Kultusministerkonferenz hat sich ihr Zeugnis abgeholt: Ihre Gesamtleistung ist schlecht, Versetzung ausgeschlossen. Was als ‚föderaler Wettbewerb‘ gepriesen wird, erweist sich als Länderegoismus auf dem Rücken der Schüler“ (Schröder 2002). Zunächst verfolgte die rot-grüne Bundesregierung (gegen den Widerstand der CDU/ CSU-Opposition im Bundestag) den Auf- und Ausbau von Ganztagsschulen an. Am 12. Mai 2003 unterzeichneten die Bundesregierung und die Länder eine Verwaltungsvereinbarung zum Investitionsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“, das eine Bundesförderung bis zum Jahr 2009 über insgesamt vier Milliarden Euro für den Aufund Ausbau von Ganztagsschulen zur Verfügung stellte – also eine massive Investition in die kommunale Bildungsinfrastruktur. Das Bundesbildungsministerium (BMBF) förderte zugleich – in Abstimmung mit den Ländern und unter Inanspruchnahme von Mitteln des Europäischen Sozialfonds – die länderübergreifende Begleitforschung zur Ganztagsschulentwicklung. Zum anderen wurde in der Spätphase der rot-grünen Koalition 2004 im Rahmen der BLK zwischen der Bundesregierung und den Landesregierungen eine „Exzellenzinitiative“ ausgehandelt (Hepp 2006, S. 259), die darauf gerichtet war, „den Wissenschaftsstandort Deutschland nachhaltig [zu] stärken, seine internationale Wettbewerbsfähigkeit [zu] verbessern und Spitzenforschung an deutschen Hochschulen sichtbar [zu] machen“ (BMBF 2017; Leibfried 2010; Sondermann et al. 2008). Mit der Exzellenzinitiative reagierte die Bundesregierung auf das vom Europäischen Rat in Lissabon im März 2000 proklamierte Ziel, „die Union bis zum Jahr 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen“. Am 18. Juli 2005 wurde – im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe Art. 91b Abs. 2 a. F. (Hepp 2006, S. 259; Münch 2011, 178) – eine Verwaltungsvereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Länder abgeschlossen. Obgleich beide Förderinitiativen des Bundes, in Sonderheit die Förderung der Ganztagsschulen als Investition in die kommunale Bildungsinfrastruktur, unverkennbar in Zuständigkeiten der Länder im Schulsektor eingriffen, fanden sie die Zustimmung der an der Zuweisung der umfangreichen Bundesmittel interessierten Länder.
3.7.1
Föderalismusreform I von 2006
Beide Förderprogramme wurden inauguriert während der Beratungen der vom Bundestag und Bundesrat im Oktober 2003 eingesetzten Kommission „Zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung“ (Sturm 2010, S. 203ff.; Kropp 2010, S. 209ff.; Scharpf 2009; Richter 2005). Die bereits weit fortgeschrittenen Beratungen scheiterten schließlich daran, dass es just in Fragen der Bildungspolitik, insbesondere der Hochschulpolitik, eine Einigung zwischen der Bundesregierung, die an ihrer diesbezüglichen bildungspolitischen Zuständigkeit festhalten wollte, und den Ländern scheiterte, die auf einer Wiederherstellung der vollen Länderzuständigkeiten beharrten. Während der Verhandlungen wurde die Position der Länder durch das „Juniorprofessur-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Juli 2004 gestärkt, das die Voraus265
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Hellmut Wollmann
setzungen, unter denen der Bund von seiner Rahmengesetzgebungskompetenz (Art. 75 GG a. F.) Gebrauch machen darf, in abrupter Abkehr von seiner früheren Rechtsprechung verschärft und entzog somit einer weiteren Vereinheitlichung des Hochschulrechts den verfassungsrechtlichen Boden (Lange 2007, S. 147; Lhotta 2010, S. 14). Unter der aus CDU/CSU und SPD am 18. November 2005 gebildeten („schwarz-roten“) Großen Koalition (unter Kanzlerin Merkel) wurden die Verhandlungen über die Verfassungsreform wieder aufgenommen und nunmehr zügig abgeschlossen. Die Föderalismusreform I trat am 1. September 2006 in Kraft. Während der Bund sein Interesse durchsetzte, den Umfang der die (‚vetoträchtige‘) Zustimmung des Bundesrats erfordernden Gesetzesvorhaben einzuschränken und damit die Bundesgesetzgebung zu erleichtern, erreichten die Länder ihr Ziel, ihre Zuständigkeiten und ihre Autonomie dadurch (wieder) zu stärken, dass eine Reihe der 1969 eingeführten ‚Misch‘- und ‚Verflechtungs‘-Regelungen (Gemeinschaftsaufgaben, Rahmengesetzgebung) abgeschafft und ‚entflochten‘ wurden (Scharpf 2009). Dies gilt insbesondere für die bildungspolitischen Zuständigkeiten, an deren Neuregelung die Verfassungsreform in ihrem ersten Anlauf am Ende der vorhergehenden Legislaturperiode gescheitert war und hinsichtlich derer die Länder ihre Absicht, die vom Bund 1969 erzielten bildungspolitischen „Landgewinne“ rückgängig zu machen, nunmehr weitgehend durchsetzten (Wieland & Dohmen 2011, S. 22). Damit näherte sich die Struktur des Bildungssektors wieder dem ursprünglichen „Trennmodell“ (Kropp 2011, S. 26): • Zusammen mit der Rahmengesetzgebungskompetenz des Bundes (Art. 75 GG a. F.) wurde deren Regelungskomponente für „allgemeine Grundsätze des Hochschulwesens“ aufgehoben, womit die Länder ihre 1969 verlorene uneingeschränkte gesetzgeberische Autonomie im Hochschulrecht (weitgehend)10 zurückgewannen. • Dadurch, dass die Länder infolge des Wegfalls der Rahmengesetzgebung (Art. 75 GG a. F.) auch die uneingeschränkte gesetzgeberische Zuständigkeit für „die Rechtsverhältnisse der im öffentlichen Dienste der Länder, Gemeinden und anderen Körperschaften des öffentlichen Rechtes stehenden Personen“ wiedererlangten, kann jedes Land eigenständig ebenfalls über personenrechtlichen Regelungen (Einstufung, Besoldung usw.) des Lehrpersonals an Schulen und Hochschulen entscheiden. • Gemäß der Neufassung von Art. 104b GG n. F. kann der Bund den Ländern Finanzhilfen „für besonders bedeutsame Investitionen der Länder und der Gemeinden (Gemeindeverbände) gewähren“ – mit der wichtigen Einschränkung: „soweit dieses Grundgesetz ihm Gesetzgebungsbefugnisse verleiht“. Da sich eine Zuständigkeit des Bundes für Bildung bekanntermaßen im Grundgesetz nicht findet, wurde aus dieser Klausel gefolgert, dass es dem Bund künftig untersagt sei, sich insbesondere im Schulsektor finanziell zu engagieren; hierfür wurde in der der politischen und medialen Diskussion die griffige Formel eines „Kooperationsverbots“ gebräuchlich (Seckelmann 2012).
10 Ausgenommen die Regelung der Hochschulzulassung und Hochschulabschlüsse.
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• Damit wurde zwar der 2003 unter der vorausgehenden rot-grünen Bundesregierung inaugurierten (bis 2009 laufenden) Ganztagsschulförderung (ex nunc) der verfassungsrechtliche Boden entzogen (Münch 2011, S. 175), aber es blieb den Ländern gemäß dem gleichzeitig eingeführten Art. 125c Abs. 2 GG n. F. die Bundesförderung für die ursprünglich vorgesehene Laufzeit bis 2009 erhalten. • Ferner wurde die Gemeinschaftsaufgabe ‚Bildungsplanung‘ abgeschafft. An ihre Stelle trat die Neufassung des Art. 91b Abs. 1 S. 1 GG n. F., wonach „Bund und Länder […] auf Grund von Vereinbarungen in Fällen überregionaler Bedeutung bei der Förderung von Wissenschaft und Forschung außerhalb von Hochschulen zusammenwirken“ können. Darin wurde die Forschungsförderung des Bundes zwar für Forschung „an Hochschulen“ ausgeschlossen, jedoch zugleich hinzugefügt (Art. 91b Abs. 1 S. 2 GG n. F.), dass die Bundesförderung für „Vorhaben der Wissenschaft und Forschung an Hochschulen“ „mit Zustimmung aller Länder“ zulässig sei. Die Neuregelung ist darin ein typisches Beispiel für föderale Kompromisssuche und -lösung, dass einerseits am „Kooperationsverbot“ grundsätzlich festgehalten wird und es andererseits (mit Zustimmung aller Länder) außer Kraft gesetzt werden kann. • Schließlich wurde mit der Neufassung von Art. 91b Abs. 2 GG n. F. eine neue Gemeinschaftsaufgabe geschaffen, in der der Bund und die Länder „auf Grund von Vereinbarungen zur Feststellung der Leistungsfähigkeit des Bildungswesens im internationalen Vergleich und bei diesbezüglichen Berichten und Empfehlungen zusammenwirken“. Damit wird erstmals verfassungskräftig die Bedeutung anerkannt, die „internationale Vergleiche“ für das deutsche Bildungswesen haben (Scheller 2010, S. 243). In dem Verweis auf eine gemeinsame Veranlassung und Nutzung „diesbezüglicher Berichte und Empfehlungen“ klingt der Einsatz der „weichen“ Einfluss- und Steuerungsmittel an, die, wie weiter vorn erwähnt, als „Offene Methode der Koordination“ (OMK; benchmarking, monitoring, best practice usw.) von der EU und im Rahmen des Bologna-Prozesses eingeführt worden sind (Scheller 2010, S. 244; Scharpf 2009, S. 105; Lange 2007, S. 154). • Für die Ausführung der in Art. 91b Abs. 2 GG n. F. vorgesehenen neuen Gemeinschaftsaufgabe beschlossen die Bundesregierung und die Landesregierungen am 14. Juni 2007 die Einrichtung einer Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz (GWK), die die Nachfolge der bisherigen (und aufgelösten) BLK antrat. Die GWK (2019) zielt darauf, durch die Gewinnung und Verbreitung relevanter nationaler und internationaler Daten auf die Entwicklung von Wissenschaft und Forschung einzuwirken.11 Als Ergebnis der Föderalismusreform I von 2006 lässt sich schlussfolgern, dass sich der Bund aus seiner legislativen, finanziellen und operativen Mitwirkung an der Bildungspolitik weitgehend zurückgezogen hat. Gemessen an der Emphase, mit der sich die rot-grüne Bundesregierung bis Ende 2005 bildungspolitisch engagierte und nachgerade 11 Von den regelmäßigen Publikationen der GWK seien insbesondere die jährlichen Berichte zu Hochschulpakt 2020 und Pakt für Forschung und Innovation, Monitoring genannt: https://www. gwk-bonn.de/dokumente/materialien-der-gwk/. 267
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eine bildungspolitische Leitrolle des Bundes beanspruchte, liegt es nahe, die unter der schwarz-roten Großen Koalition dann doch verabschiedete Verfassungsreform, alles in allem, als eine „Kapitulation des Bundes“ (Scharpf 2009, S. 105) im Feld der Bildungspolitik zu bezeichnen Allerdings bleibt daran zu erinnern, dass der verfassungsrechtlich signalisierte ‚Rückzug‘ des Bundes aus der Bildungspolitik gleichzeitig von der Fortsetzung umfangreicher bildungspolitischer Bundesförderprogramme (Ganztagschulförderung, Exzellenzinitiative) begleitet wurde, die diesen ‚Rückzug‘ teilweise dementierten.
3.7.2
Föderalismusreform II
Im Mittelpunkt der am 1. August 2009 in Kraft getretenen Föderalismusreform II (auf deren Einzelheiten an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden soll: Kropp 2010, S. 227ff.; Sturm 2010, S. 203ff.) standen die in Art. 107 Abs. 2 GG n. F. eingeführte sogenannte Schuldenbremse und die Verpflichtung der Länder, sich in ihrem Haushaltsgebaren von gesamtstaatlichen und europäischen Vorgaben und Erfordernissen leiten zu lassen. Zwar hält Art. 109 Abs. 2 GG („Bund und Länder sind in ihrer Haushaltswirtschaft selbständig und voneinander unabhängig“) am traditionellen Grundsatz der je eigenen ‚Budgethoheit‘ fest, jedoch werden Bund und Länder verpflichtet, ihre Haushalte „grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen“ (Art. 109 Abs. 2 GG n. F.). Damit ist den Ländern verfassungsrechtlich der Weg versperrt, sich autonome Handlungsspielräume durch Kreditaufnahme zu eröffnen. Auch wenn bildungspolitische Fragen naturgemäß nicht unmittelbar im Blickfeld der Föderalismusreform II standen, hat diese mittelbar dadurch beträchtliche Auswirkungen auf den bildungspolitischen Handlungsspielraum der Länder, dass ihnen, zumal den ‚finanzschwachen‘ Ländern, nunmehr die Möglichkeit verschlossen ist, sich die für zusätzliche Investitionen und sonstige Ausgaben im Bildungssektor erforderlichen Mittel über die Neuaufnahme von Krediten zu beschaffen. Wie die weitere (im folgenden Text zu beleuchtende) Entwicklung zeigte, erwuchsen hieraus zunehmende finanzielle Engpässe der (wiederum vor allem der ‚finanzschwachen‘) Länder (und Kommunen) und ihre Abhängigkeit von Finanzhilfen des Bundes (Sturm 2015, S. 317; Scharpf 2009, S. 127).
3.7.3
Neuregelung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs von 2017
Das am 30. Juli 2017 in Kraft getretene Paket von Verfassungsänderungen ist ob ihres umfassenden Zugriffs als eine „stille Föderalismusreform III“ (Hellermann 2018; Scheller 2019b, S. 207) bezeichnet worden. Im Mittelpunkt stand die Neuregelung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs, die durch das bevorstehende Auslaufen des geltenden Finanzausgleichsgesetzes am 31. Dezember 2019 nötig wurde. Die über die Reform geführten heftigen Auseinandersetzungen offenbarten Konfliktlinien nicht nur zwischen dem Bund und den Ländern, sondern auch und gerade zwischen den (‚reichen‘ und ‚armen‘) Ländern. In den Auseinandersetzungen über die Neufassung des Länderfinanzausgleichs
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drängten vor allem die ‚reichen‘ Länder, die in den Ausgleich einzahlten,12 darauf, ihn abzuschaffen und durch eine andere sie entlastende Regelung zu ersetzen. Nach langwierigen Verhandlungen erklärte sich der Bund bereit, die durch die Abschaffung des bisherigen Länderfinanzausgleichs entstehende Finanzlücke aus Bundesmitteln durch entsprechende Bundeszuweisungen an bedürftige Länder zu übernehmen. Die einem Akt der Selbstentmachtung gleichkommende Aufkündigung der traditionellen Solidarität der Länder und die Bereitschaft des Bundes, mit individuellen Finanzzuweisungen an einzelne Länder in die Lücke zu springen, lassen einen merklichen Schritt „auf dem Weg in den Zentralismus“ (von Altenbockum 2016) oder, um Immanuel Kant zu paraphrasieren, in ‚selbstverschuldete föderale Unmündigkeit‘ erkennen. Zu dem im Zusammenhang mit dem Länderfinanzausgleich geschnürten Themenbündel gehörte das in der deutschen Öffentlichkeit mit wachsender Schärfe und Dringlichkeit diskutierte Problem, dass sich die Schulen vielerorts in einem desolaten baulichen Zustand befänden und ihre Sanierung umfangreiche Investition erheischten. Der föderale Konfliktstoff lag darin, dass zum einen der Bau und die Sanierung der Schulen in die ausschließliche Zuständigkeit (‚Kulturhoheit‘) der Länder und innerhalb ihrer in die Verantwortung der Kommunen als ‚Schulträger‘ fielen. Zum anderen waren insbesondere die finanzschwachen Länder, zumal unter den aus der Föderalismusreform II folgenden budgetären Restriktionen („Schuldenbremse“), kaum in der Lage, diese Kosten zu schultern. Indessen schloss das aus der Verfassungsreform von 2006 gefolgerte ‚Kooperationsverbot‘ eine finanzielle Intervention des Bundes just im Schulsektor eigentlich aus. In den Verhandlungen zwischen dem Bund und den Ländern über die Finanzierung der übereinstimmend als dringend erkannten Sanierung der Schulen drängten die Länder auf eine Erhöhung ihres Anteils an der Umsatzsteuer, während der Bund auf der Gewährung von Finanzhilfen bestand. Im Ergebnis wurde eine Neufassung des Art. 104b GG n. F. verabschiedet, wonach der Bund „den Ländern Finanzhilfen für […] Investitionen der finanzschwachen Gemeinden im Bereich der kommunalen Infrastruktur“ gewähren kann. Das föderale Konfliktpotenzial, das die finanzielle Intervention des Bundes in den Schulsektor als Domäne der Länder (und Kommunen) barg, brach zwei Jahre später, wie im Folgenden ausführlich erörtert wird, in der Auseinandersetzung um den sogenannten Digitalpakt in ganzer Schärfe aus.
3.7.4
„Digitalpakt“ von 2019
Seit den frühen 2010er-Jahren wurde die Frage der stürmisch voranschreitenden Digitalisierung aller Lebensbereiche in der politischen und parlamentarischen Öffentlichkeit mit wachsender Dringlichkeit diskutiert (vgl. Kersting & Graubner in diesem Band). Am 4. März 2010 setzte der Bundestag eine Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesell12 Im Jahr 2015 zahlten nur vier Länder in den horizontalen Finanzausgleich ein (Bayern mit 5,5 Mrd. Euro, Baden-Württemberg mit 2,3 Mrd. Euro, Hessen mit 1,7 Mrd. Euro und Hamburg mit 112 Mio. Euro. Größtes Empfängerland war Berlin mit 3,6 Mrd. Euro. Die ostdeutschen Länder erhielten 2015 zusammen 3,2 Mrd. Euro, darunter Sachsen eine Mrd. Euro. 269
270
Hellmut Wollmann
schaft“ ein, die im April 2013 ihren Schlussbericht vorlegte (Deutscher Bundestag 2013). Im Februar 2014 richtete der Bundestag einen ständigen Ausschuss Digitale Agenda ein, im März 2018 wurde eine Staatsministerin für Digitalisierung im Bundeskanzleramt ernannt. Der 2008 gebildete Nationale Normenkontrollrat (NKR) thematisierte seit 2017 in seinen Jahresberichten regelmäßig die strukturellen Defiziten in der Digitalisierung der deutschen Verwaltung, die zuletzt in einem Ranking der EU-Kommission vom Platz 19 auf Platz 24 zurückgefallen war (Nationaler Kontrollrat 2019; vgl. Kersting & Graubner in diesem Band). Zugleich wurde die öffentliche Diskussion zunehmend von der alarmierten Wahrnehmung bestimmt, dass sich auch und gerade der Bildungssektor in Bezug auf die Digitalisierung in einem die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands gefährdenden Rückstand befinde. Im Oktober 2016 veröffentlichte das BMBF eine „Bildungsoffensive für die digitale Wissensgesellschaft“ (BMBF 2015), der die KMK zwei Monate später eine „Bildung in der digitalen Welt“ (KMK 2016) folgen ließ (vgl. Scheller 2019a). Vor diesem Hintergrund vereinbarte die (erneut) aus CDU/CSU und SPD gebildete Große Koalition unter Kanzlerin Merkel in ihrem Koalitionsvertrag vom 12. März 2017, eine Verfassungsänderung des Art. 104c GG anzustreben, in der die Einschränkung der Finanzhilfe auf ‚finanzschwache‘ Gemeinden zu streichen und diese mithin auf alle Gemeinden zu erstrecken sei. Damit sollte eine „Investitionsoffensive für Schulen“ zur umfassenden (insbesondere digitalen) Auf- und Ausrüstung der kommunalen Bildungsinfrastruktur, also in Sonderheit der Schulen eingeleitet werden. Das in der politischen Diskussion „Digital-Offensive“ genannte Novellierungsvorhaben löste eine heftige politische und parlamentarische Kontroverse aus. Im Konflikt zwischen der Bundesregierung und der sie stützenden Bundestagsmehrheit einerseits und den Landesregierungen im Bundesrat andererseits wurde die Regierungsvorlage erst nach zweimaliger Anrufung des Vermittlungsausschusses und einigen Veränderungen vom Bundestag und Bundesrat mit den erforderlichen Mehrheiten angenommen. Die am 28. März 2019 in Kraft getretenen Novellierung des Art. 104c GG räumt dem Bund die Befugnis ein, „den Ländern Finanzhilfen für gesamtstaatlich bedeutsame Investitionen sowie besondere, mit diesen unmittelbar verbundene, befristete Ausgaben der Länder und Gemeinden (Gemeindeverbände) zur Steigerung der Leistungsfähigkeit der kommunalen Bildungsinfrastruktur [zu] gewähren“. In der nachfolgend am 16. Mai 2019 zwischen dem Bund und den Bundesländern abgeschlossenen Verwaltungsvereinbarung (BMBF 2019) wurden weitere Einzelheiten fixiert. In der Frage, wie die Digital-Offensive zu finanzieren sei, brach der Konflikt erneut und verschärft auf, der zwischen dem Bund und den Ländern über die Finanzierung der Investitionen in „finanzschwachen Gemeinden“ ausgetragen worden war (und dem sich der Bund, wie erwähnt, mit der Einführung der Finanzhilfen nach Art. 104b GG n. V. durchgesetzt hatte). Auch hinsichtlich der Finanzierung der Digital-Offensive drängten die Länder darauf, dass, da die digitale Aufrüstung der Schulen in ihre ureigene Zuständigkeit und in die Verantwortung der Kommunen als die Schulträger falle, die Finanzierung,
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271
wie durch Art. 106 Abs. 4 GG verfassungsrechtlich nahe gelegt13, über eine Erhöhung des Anteils der Länder an der Umsatzsteuer zu erfolgen habe. Demgegenüber bestand der Bund (wie schon im Falle der Investitionen ‚in finanzschwachen Kommunen‘) auf der Modalität der Finanzhilfe an die Länder. Als gewichtiger Kritiker der von der Bundesregierung angestrebten Finanzhilfen vertrat der Bundesrechnungshof (2018) die Auffassung, „mit der Ausweitung der Finanzhilfen auf alle Kommunen und jetzt auch Maßnahmen der Länder [greife] der Bund tief in die Kernkompetenz der Länder ein. Hierfür besitzt er jedoch nach der bestehenden föderativen Aufgabenteilung keine Kompetenz [… Dies] widerspricht dem Grundsatz der Subsidiarität und Eigenverantwortlichkeit und löst die Konturen der föderativen Grundstruktur zunehmend auf.“ (Bundesrechnungshof 2018, S. 2)
Von prominenter kommunaler Seite wurde als Gefahr der Finanzhilfen des Bundes beschworen, „dass der Bund den Ländern und Kommunen dauerhaft in das Schulwesen hineinregieren kann“ (Henneke 2018). Im Ergebnis setzte sich indes der Bund mit seiner Strategie der Finanzhilfen durch. Damit war das ‚Kooperationsverbot‘, das in der Föderalismusreform I von 2006 just auf den schulischen Bereich gemünzt war, praktisch außer Kraft gesetzt. Wiederum dürfte die budgetäre Mangellage der (im Gefolge der ‚Schuldenbremse‘ finanziell zusätzlich geschwächten) ‚finanzschwachen‘ Länder diese veranlasst haben, auf das Finanzangebot des Bundes einzugehen. Zudem machte der Umstand, dass die politische Strategie der Bundesregierung von einer breiten Bundestagsmehrheit gestützt wurde, die alternative Lösung einer Erhöhung des Umsatzsteuerteils politisch schwerlich erreichbar. Besonders umkämpft war sodann auch die Frage, ob und in welchem Umfang die Länder eine Kofinanzierung zu tragen haben. Die im Gesetzgebungsverfahren zunächst vorgesehene Erweiterung des Art. 104b GG um den Zusatz, dass die Länder die Bundeshilfe „mindestens in gleicher Höhe mitfinanzieren“ sollten, stieß auf den einhelligen Widerstand der Länder. Zum einen wurde in der Novellierung des Art. 104b GG der Versuch gesehen, zusammen mit der Regelung der aktuellen Digitalpakt-Finanzhilfe gewissermaßen im „Huckepack“ mit Art. 104b GG eine Vorschrift einzuführen, die künftig für alle Finanzhilfen eine „mindestens 50-prozentige Mitfinanzierung“ vorschreibt. Zum anderen wurde die Anwendung der „Mindestens 50 Prozent“-Regel auf die Digitalförderung vor allem von ‚finanzschwachen‘ Ländern strikt abgelehnt. Nachdem dieser Novellierungsvorschlag im Bundesrat einstimmig abgelehnt und der Vermittlungsausschuss angerufen worden war, fand als Kompromiss eine entschärfte Neufassung von Art. 104b GG n. F. Zustimmung, wonach „die Mittel des Bundes zusätzlich zu eigenen Mitteln der Länder bereitgestellt werden“ (Scheller 2019a). Für die aktuelle Digitalpakt-Förderung wurde zudem am 16. Mai 2019 zwischen dem Bund und den Länder eine Verwaltungsvereinbarung abgeschlossen, in der – den Interessen der ‚finanzschwachen‘ Ländern Rechnung tragend – vorgesehen 13 Art. 106 Abs. 4 GG: „Die Anteile von Bund und Ländern an der Umsatzsteuer sind neu festzusetzen, wenn sich das Verhältnis zwischen Ausgaben des Bundes und der Länder wesentlich anders entwickelt.“ 271
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ist, dass „der Bund sich mit einer Förderquote von höchstens 90 Prozent [und] die Länder einschließlich der Kommunen […] sich mit mindestens 10 Prozent am Gesamtvolumen des öffentlichen Finanzierungsanteils der förderfähigen Kosten der Investitionen eines Landes [beteiligen].“ Auch die Abgrenzung des Umfangs der Bundesförderung spiegelt die föderale Gratwanderung wider, auf der sich Bund und Länder bewegten, indem der Bund daran interessiert war, der Förderung auf die Erstinvestition zu begrenzen und Folgekosten auszuschließen, während die Länder danach trachteten, jedenfalls ihre und die Personalhoheit der Kommunen gegen die Bundesintervention abzuschirmen. So wurde in der Verwaltungsvereinbarung vom 16. Mai 2019 festgelegt, dass außer den eigentlichen investiven Ausgaben für die digitale Ausstattung der Schulen „investive Begleitmaßnahmen“ nur gefördert werden, wenn sie mit Letzteren in „einem unmittelbaren und notwendigen Zusammenhang“ stehen und dass „laufende Kosten der Verwaltung (Personalkosten, Sachkosten) sowie Kosten für Betrieb, Wartung und IT-Support der geförderten Infrastrukturen […] nicht förderfähig“ sind. Damit wurde klargestellt, dass die Bundesmittel zwar immerhin für die vorübergehende projektbezogene Heranziehung ‚externer‘ Dienstleister verwendet werden, nicht aber in die laufenden Personalausgaben der Länder (für Lehrpersonal) oder der Schulträger (für technisches Personal) fließen sollen. Gleichzeitig wurde festgelegt, dass es sich bei der Bundesförderung um eine zeitlich befristete „Anschubfinanzierung“ handelt und die Folgekosten (Betriebs-, Personalkosten, aber auch Erneuerung der Geräte usw.) vom Land bzw. von den betreffenden Schulträgern, in der Regel also den Gemeinden oder Landkreisen, zu schultern sind (Wissenschaftliche Dienste 2018, S. 5). Einen weiteren Konfliktstoff bargen die Aufsichts- und Kontrollrechte, die dem Bund bereits im Rahmen der Reform von 2017 gemäß Art. 104b Abs. 2 GG eingeräumt worden waren und die auch auf die „Digital-Förderung“ nach Art. 104c GG n. F. anzuwenden sind: „Zur Gewährleistung der zweckentsprechenden Mittelverwendung kann die Bundesregierung Bericht und Vorlage der Akten verlangen und Erhebungen bei allen Behörden durchführen.“ In der Verwaltungsvereinbarung vom 16. Mai 2019 wurde hierzu erläutert: „Der Bund überprüft die Einhaltung der Bestimmungen dieser Verwaltungsvereinbarung und kontrolliert […] die zweckentsprechende Mittelverwendung. Dazu lässt sich der Bund von Stellen, die mit der Bewirtschaftung der Bundesmittel befasst sind, regelmäßig über die zweckentsprechende Verwendung berichten. Bei konkreten Anhaltspunkten über eine nicht zweckentsprechende Verwendung kann der Bund sich Akten von Stellen vorlegen lassen, die mit der Bewirtschaftung der Bundesmittel befasst sind.“
Darin, dass dem Bund das Recht eingeräumt wird, „Erhebungen“ bei allen „befassten“ Dienststellen der Landes- und Kommunalverwaltungen durchzuführen, ist ihm ein unmittelbarer administrativer Zugang und Zugriff eröffnet, der beispiellos in der bisherigen föderalen Verwaltungspraxis ist. Dringt doch der Bund damit in die (und die kommunale Ebene umfassende) ‚Verwaltungshoheit‘ der Länder ein. Pointiert wurde dieses Kontrollrecht des Bundes denn vom baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann kritisiert:
Entwicklungslinien des Bildungssektors im deutschen Föderalismus
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„Die Länder (aber auch die Kommunen) werden damit faktisch der Fachaufsicht des Bundes unterworfen und zu bloßen Kostgängern des Bundes. Da wird einfach eine rote Linie überschritten. Hier wird die Verzwergung der Länder betrieben und ein Frontalangriff auf die verfassungsrechtlich garantierte kommunale Selbstverwaltung gestartet.“ (Kretschmann 2018)
3.7.5
Umsetzung des „Digitalpakts“ und Weiterungen
Die Umsetzung des am 19. März 2019 geschlossenen Digitalpakts, in dem für eine Laufzeit von 2019 bis 2024 Bundesmittel in Höhe von 5 Mrd. Euro vorgesehen sind und der auf die digitale Modernisierung von rund 40.000 Schulen zielt, ist zunächst (Stand Frühjahr 202014) eher schleppend in Gang gekommen (Drammeh 2020; Warnecke & Schröder 2020). Einerseits legt der anfänglich zögerliche Einstieg in die Umsetzung der DigitalpaktFörderung einige gravierende prozedurale und inhaltliche Schwierigkeiten offen. Zunächst waren einige Länder im Verzug, die Ausschreibungstexte für die Mittelbeantragung bekanntzugeben. Sodann fiel es den Kommunen, insbesondere den kleineren Gemeinden, teilweise in Ermangelung digital versierten Personals, schwer, die für die Antragstellung erforderlichen Anwendungskonzepte kurzfristig vorzulegen. Zudem erwies sich die Konkretisierung der angestrebten Digitalisierungsmaßnahmen dadurch als schwierig, weil die auf die einzelnen Schulen entfallende Fördersumme oft nicht ausreicht, auch nur eine (etwa die digitale Umrüstung der Schulen oder die Erstausstattung mit PCs, Tablets usw.), geschweige denn mehrere der gebotenen Maßnahmen zu finanzieren. Überdies schreckten manche Kommunen vor einer Antragstellung zurück, weil sie sich, zumal unter dem seit der Föderalismusreform II von 2009 verschärften Spardruck, außerstande sehen, die von der Förderung des Bundes ausdrücklich ausgeschlossenen (und die ‚Anschubfinanzierung‘ leicht um ein Mehrfaches übersteigenden) Folgekosten (laufende Sachkosten für Betrieb, Wartung und IT-Support, laufende unmittelbare Personalkosten) selbst zu schultern. Als gravierendes strukturelles Hemmnis eines raschen Einstiegs in die Digitalisierung erweist sich zudem der Rückstand, in dem sich Deutschland im Ausbau der digitalen Infrastruktur (Breitbandanschlüsse usw.) – insbesondere in den Landesteilen außerhalb der Großstädte – befindet (vgl. Kersting & Graubner in diesem Band). Anstöße für eine beschleunigte Umsetzung des Digitalpakts (und für dessen absehbare Weiterungen) sind von der Zusammenarbeit zu erwarten, die sich in den letzten Jahren zwischen den Ländern und den Kommunen im Schulsektor, die überkommene Aufgabentrennung in „innere“ und „äußere Schulangelegenheiten“ überbrückend, entwickelt und verstärkt hat. Hierbei kommt dem Konzept und der Praxis der sogenannten „erweiterten Schulträgerschaft“ ein besonderes Gewicht zu, wonach sich die Kommunen über ihre überkommene Zuständigkeit für die „äußeren Schulangelegenheiten“ (Schulentwicklungsplanung, Bau und Unterhaltung der Gebäude, sächliche Ausstattung der Schulen, Schultransport usw.) hinaus auch in Fragen der schulischen Bildungsziele, Lehrpläne usw. engagieren, die als „innere Schulangelegenheiten“ traditionell in die alleinige
14 Auf Basis einer Umfrage, die der Deutsche Städte- und Gemeindebund im November/Dezember 2019 bei 326 Schulträgern aus allen Bundesländern mit insgesamt 1.570 Schulen durchführte. 273
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Zuständigkeit der Länder fallen. Dieses Konzept einer „gemeinsamen bildungspolitischen Verantwortung“ haben die Länder und Kommunen seit den späten 2000er-Jahren in mehreren Schritten verfolgt. Als erstes Land hat Nordrhein-Westfalen 2008 im Verein mit den kommunalen Spitzenverbänden „regionale Bildungsnetzwerke“ mit dem Ziel initiiert, „beste Bildung in Nordrhein-Westfalen gemeinsam [zu] gestalten“ (Bildungsportal NRW 2019; für eine Übersicht und Diskussion ähnlicher regionaler Bildungsnetze anderer Bundesländer: Sendzik 2020, S. 9, Fn. 10). Gleichzeitig sind die (größeren) Städte und Landkreise als Schulträger dazu übergegangen, in den zuständigen Fachbereichen ihrer Verwaltung „kommunale Bildungsbüros“ einzurichten, die (querschnittsorientiert und politikübergreifend) im bildungspolitischen Aufgabenspektrum der Kommunen (z. B. kommunale Bildungsberichte, Bildungsmonitoring, aber auch Digitalisierung) tätig sind. Beispielhaft sei hier auf die NRW-Städte Essen, Gelsenkirchen, Herne, Recklinghausen und Köln15 verwiesen. Inzwischen (Stand Frühjahr 2020) haben die Hälfte aller kreisfreien Städte und Landkreise in den Ländern mindestens eine Organisationseinheit in ihrer Verwaltung zur Koordination von Bildungsaktivitäten und -projekten (Sendzik 2020, S. 9). Angesichts dessen, dass, wie die bisherigen Erfahrungen mit der Digitalisierung der Verwaltung nahelegen, die Digitalisierung der Verwaltungshandelns in der kommunalen Praxis nicht selten noch immer auf mentale Hürden und Vorbehalte stößt (vgl. Kersting & Graubner in diesem Band), könnten sich die „kommunalen Bildungsbüros“ auch und gerade als Verfechter und Promotoren eines digitalen Wandels in der Verwaltungskultur und -praxis der Kommunen – einschließlich ihrer Rolle als Schulträger – erweisen. Zudem zeigt sich, dass die erhöhte Dringlichkeit, die die Digitalisierung der Schulen unter der Wucht der Coronapandemie gewonnen hat, eine anschwellende Diskussion um grundsätzlich neue Formen des schulischen Lehrens und Lernens befeuert (hierzu eindringlich Pellert in Füller 2020; vgl. Hasel 2020 in diesem Band). Zwar wird der von der Coronapandemie ausgelöste weltweite Wirtschaftseinbruch auch in Deutschland einen drastischen Rückgang der Steuereinnahmen nach sich ziehen und den finanziellen Handlungsspielraum der öffentlichen Haushalte kurz- und mittelfristig einschnüren, jedoch sollte dies die durch die Coronakrise geschärfte Erkenntnis, welche zukunftssichernde Bedeutung eine umfassende Digitalisierung des Bildungssektors hat, unabweisbar machen, die hierfür erforderlichen finanziellen Mittel gleichwohl vorrangig bereitzustellen.
15 Vgl. die Internetauftritte dieser Städte jeweils unter dem Stichwort „kommunales Bildungsbüro“. Im Fall von Köln ist das Regionale Bildungsbüro (RBB) eine gemeinsame Einrichtung des Landes NRW und der Stadt.
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Föderale Pluralität und Diversität
Während, wie oben dargestellt, der Bildungssektor im Zeitverlauf im nationalen und europäischen Mehrebenensystem einerseits eine „Zentralisierung“ und „Europäisierung“ von Entscheidungs- und Einflussebenen sowie hierbei „vereinheitlichende“ („unitarisierende“) Tendenzen zeigt, bleibt er andererseits in einer gewissermaßen dialektischen „Gleichzeitigkeit“ von Zentralisierung und Dezentralisierung (Scheller 2010, S. 226) davon bestimmt, dass die Länder aufgrund ihrer traditionellen ‚Kulturhoheit‘ weiterhin relevante Entscheidungsrechte und Handlungsspielräume besitzen und ausüben, die sich in ‚pluralen‘ und ‚diversifizierten‘ Entwicklungsmustern ausprägen. Die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Pluralisierung und Diversifizierung der Länderpolitiken wurden durch die Föderalismusreform I von 2006 erweitert, in der die Länder ihr Interesse durchsetzten, ihre gesetzgeberischen und politischen Handlungsspielräume zu vergrößern. Zwar tragen einige der von den Ländern beschlossenen Regelungen und verfolgten Politiken durchaus „vereinheitlichende“ („unitarisierende“) Züge. Diese ergeben sich aber vielfach daraus, dass sich die Länder in der Praxis der ‚kooperativen Föderalismus‘ in zahlreichen länderübergreifenden Gremien der sogenannten Dritten Ebene – darunter als einflussreichstes die „Länderministerpräsidentenkonferenz“ – koordinieren. Zum anderen spiegelt sich darin ein politikkulturell weithin geteiltes „Homogenitäts“-Postulat wider, das in der Verfassungsformel von „gleichwertigen (bzw. einheitlichen) Lebensverhältnissen im Bundesgebiet“ Ausdruck gefunden hat (Art. 72 Abs. 2 GG n F.). Jedoch bestehen andererseits, wie empirische Untersuchungen zur Landesgesetzgebung und zu Länderpraxis in Politikfeldern zeigen, „vielfältige Unterschiede zwischen den Ländern“ (Reus & Vogel 2008, S. 623). Hierbei hat die Föderalismusreform I von 2006 „zu einer substanziellen Policy-Vielfalt in der Landesgesetzgebung“ (Reus & Vogel 2008, S. 625) geführt. Darüber hinaus haben die Länder im Gefolge der Wiedervereinigung eine wachsende Bereitschaft gezeigt, eigene Wege zu gehen, was – in Anklang an Frank Sinatras berühmten Schlager „I’ll do it my way“ – launig als „Sinatra doctrine“ umschrieben wurde (Jeffery 1999, p. 339). Diese Pluralisierung und Diversifizierung von Regelungen und institutionellen Lösungen tritt ausgeprägt auch und gerade im Bildungssektor zutage. Im Hochschulbereich hat die Verfassungsreform von 2006, in der Rahmengesetzgebungskompetenz des Bundes abgeschafft und die umfassende eigene Zuständigkeit der einzelnen Länder wiederhergestellt wurde, in den meisten Ländern je ländereigene Novellierung ausgelöst (Reus & Vogel 2018, S. 629). Hinzu kommt, dass in allen Ländern durch Landesgesetzgebung die Selbstverwaltungsrechte der Hochschulen erweitert worden sind, was nicht nur deren interne Organisation, sondern auch die Regelung der Studiengänge, Prüfungsordnungen usw. betrifft. Dies gilt auch für die Umsetzung des Bologna-Prozesses (Einrichtung von Bachelor- und Magister-Studiengängen, Prüfungsordnungen usw.), die durch die Landesgesetzgebung weitgehend den einzelnen Hochschulen überlassen worden ist (Scheller 2010, S. 248). Binnen weniger Jahre hat der Bologna-Prozess eine Vielfalt an Bachelor- und Masterstudiengängen hervorgebracht. Diese Mannigfaltigkeit wird noch dadurch erhöht, 275
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dass zusätzlich noch traditionelle Diplom- und Staatsexamen-orientierte Studiengänge weiterbestehen. Auch die Schulgesetzgebung der Länder bietet „ein höchst uneinheitliches Bild“ (Hepp 2006, S. 246). Die Länder gelten in ihrer Schulpolitik als „schwerfällig und wenig reformfreudig“ (Nikolai 2020). In den meisten Bundesländern wurden in Fortführung der traditionellen „Mehrgliedrigkeit“ zweigliedrige Sekundarschulsysteme etabliert und hierin auch eigenständige Gymnasien weitergeführt. In einigen Bundesländern wurden (in Anknüpfung an die Gesamtschulversuche der 1970er-Jahre) ergänzend Gesamtschulen eingeführt. Die Sonder- und Förderschulen wurden bislang erst vereinzelt abgeschafft und in die Regelschulen „inkludiert“. Überdies hat neuerdings „ein Paradigmenwechsel in der Organisations- und Steuerungsphilosophie“ (Nikolai 2020) im Schulsektor darin stattgefunden, dass gewisse Entscheidungskompetenzen (etwa in Fragen der innerschulischen Curricula) auf die Ebene der einzelnen Schulen übertragen (dezentralisiert) wurden. Die verbreitete Kritik am „Bildungsföderalismus“, in der dieser der „Kleinstaaterei“ und der „Bildungsmisere“ (Renzsch 2018) geziehen wird, gilt vor allem dieser zwischen den Ländern bestehenden Varianz und geringen Vergleichbarkeit der Curricula und Schulabschlüsse, die die Mobilität von Land zu Land, insbesondere der Eltern bei beruflichem Ortswechsel, erschwert. Diese „Defizite“ werden nicht zuletzt der KMK angelastet, die 1948 mit der Aufgabe gegründet wurde, als Organ der Selbstkoordination der Länder für eine zweckdienliche Abstimmung zwischen diesen zu sorgen, und der vielfach vorgeworfen wird, in dieser Aufgabe weitgehend versagt zu haben („[…] lähmendes Geleitzugdenken der KMK“, Lange 2009, S. 159; Koordination „wenn auch oft auf einem kleinsten gemeinsamen Nenner“, Nicolai 2020; Schröder 2002).
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Schlussfolgerungen und Reformüberlegungen
Die in diesem Aufsatz unternommene Verlaufsstudie zusammenfassend können das („zentralisierende“) Vordringen des Bundes im Bildungssektor und die Einwirkungen der EU sowie anderer supranationaler Netzwerke als ein Prozess interpretiert werden, im Verlauf dessen die der Entstehungssituation des Grundgesetzes geschuldete, explizit dezentrale Struktur des Bildungssektors den gesamtstaatlichen und internationalen Handlungsbedingungen und -anforderungen angepasst (‚adjustiert‘) wurde. So können Politikinitiativen des Bundes (beispielhaft die Exzellenzinitiative im Hochschulbereich oder die Digitalisierungs-Offensive im Schulbereich) als Schritte gesehen werden, die der Bund in gesamtstaatlichem Interesse ergriff, um (über-)fällige, von den Ländern und den Kommunen bislang vernachlässigte Aufgaben anzustoßen und zu unterstützen. Der Digitalpakt 2019 reiht sich in eine wachsende Zahl weiterer Förderprogramme des Bundes im Bildungsbereich ein (z. B. das am 1. Januar 2019 in Kraft getretene „Gute-Kita-Gesetz“ mit einem Fördervolumen des Bundes von 5.5 Mrd. Euro bis 2022; Scheller 2019a, 2019b, S. 208). Unter diesem Blickwinkel können die ‚Gleichzeitigkeit‘ und die Überlagerung von
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dezentralisierenden und zentralisierenden Entwicklungslinien und -impulsen (Scheller 2010, S. 226) als Ausdruck und Beleg einer „Flexibilität und Anpassungsfähigkeit“ des föderalen Systems (Benz 2005) gesehen werden. In ähnlicher Weise können supranationale Einwirkungen (insbesondere der EU, der PISA-Studien, des Bologna-Prozesses und der UN-Behindertenrechtskonvention) als Impulse zur Anpassung des (subnationalen) Bildungssektors an supranationale Handlungserfordernisse gedeutet werden. Jedoch entfalten die verfassungsrechtlichen ‚Landgewinne‘ des Bundes (durch die Föderalismusreform II von 2009 und die Finanzausgleichsreform von 2015) sowie die expandierende Abfolge von bildungspolitischen (und anderen) Förderprogrammen (mit ihren ‚goldenen Zügeln‘) in ihrer Summe inzwischen eine verfassungsrechtliche und -politische Wucht, durch die Entscheidungsautonomie der Länder – zumal deren finanziell-budgetäre Selbstbestimmung – untergraben sowie ihre Handlungs- und Innovationsfähigkeit gelähmt zu werden droht. Die Zunahme von zwischen Bundesregierung und Landesregierungen beschlossenen Verwaltungsvereinbarungen zur Regelung der Förderprogramme bewirkt überdies eine weitere Stärkung der dem Exekutivföderalismus eigentümlichen Machtachse, die Marginalisierung der Länderparlamente und darüber hinaus der landespolitischen Arena insgesamt. So mehren sich denn die kritischen Analysen und Kassandrarufe, dass der Föderalismus „nur noch ein Schatten“ sei (so Sturm 2017) und die Länder eine „Verzwergung“ erlebten (so bilderkräftig der baden-württembergische Ministerpräsident Kretschmann 2018). Ferner wird mit Blick auf die fortschreitende „Europäisierung“ gewarnt, „die Länder dürfen nicht zu bloßen Agenturen der Umsetzung europäischer Gesetze, Verordnungen und Richtlinien werden. Damit würde der Kern ihrer Eigenstaatlichkeit ausgehöhlt“ (so Drexler et al. 2004). Indessen sei an dieser Stelle (auch als „Kontrastfolie“) an die Leistungskraft und Innovationsfähigkeit erinnert, die die Länder (und Kommunen) als dezentrale Strukturen des deutschen föderalen Systems in der Vergangenheit – nicht zuletzt in Extrem- und Krisensituationen – bewiesen haben (Wollmann 2016). Dies zeigte sich eklatant in den unmittelbaren Nachkriegsjahren, als die neu gebildeten (westdeutschen) Länder und die Kommunen, noch bevor funktionsfähige politische und administrative Strukturen des Bundes aufgebaut wurden, entschlossene Schritte zur Bewältigung der beispiellosen Kriegsfolgen setzten, einschließlich des Zustroms von weit über zehn Millionen Vertriebene und Flüchtlinge aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten. Dies manifestierte sich desgleichen eindringlich im Zuge der Wiedervereinigung, als in Ostdeutschland in den neugebildeten Ländern und in den Kommunen frappierend rasch leistungsfähige politische und administrative Handlungsstrukturen entstanden und gleichzeitig die westdeutschen Länder und Kommunen durch umfangreiche solidarische Hilfestellungen wesentlich zum Gelingen dieser säkularen Transformation beitrugen (Wollmann 2020a, 2020b). Auch jüngst in der ‚Flüchtlingskrise‘ von 2015/16, als über eine Million Migranten und Asylsuchende in die Bundesrepublik strömten, bewiesen die Länder und Kommunen ihre Fähigkeit zu raschem und wirksamem Handeln (Bogumil et al. 2018). Die Anerkennung, wenn nicht Bewunderung, die der deutsche Föderalismus vielfach in 277
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den unitarischen Nachbarländern findet, gilt wesentlich der Rolle, die die subnationalen Handlungsebenen der Länder und Kommunen spielen. Vor diesem Hintergrund sei abschließend gedrängt und gefordert, die Länder und Kommunen politisch, finanziell und operativ in den Stand zu setzen, die bildungspolitischen Aufgaben, die ihnen aufgrund ihrer „Kulturhoheit“ bzw. als „Schulträger“ vorrangig zufallen, in eigener Bestimmung und Verantwortung und mit eigenen Ressourcen zu meistern. Dies sollte in föderaler Kooperation und Abstimmung mit der Bundesebene ebenso wie mit der europäischen Ebene erfolgen. Unter diesem Blickwinkel seien hier drei ‚Reformhebel‘ angedeutet. Zum einen ist es unerlässlich, die Länder (ebenso wie die Kommunen) mit eigenen finanziellen Mitteln auszustatten, die es ihnen ermöglichen und sie anspornen, die anstehenden Aufgaben in eigener Gestaltungsmacht, Verantwortung und Kreativität zu bewältigen. Der ‚Königsweg‘ zur gebotenen Mittelausstattung sollte grundsätzlich über eigene Steuereinnahmen führen. Hierfür hat Art. 106 Abs. 4 GG eine verbindliche verfassungsrechtliche Spur gelegt, wonach „die Anteile von Bund und Ländern an der Umsatzsteuer neu festzusetzen [sind], wenn sich das Verhältnis zwischen den Einnahmen und Ausgaben des Bundes und der Länder wesentlich anders entwickelt“. Finanzhilfen des Bundes, auch und gerade über vom ihn mitfinanzierte Förderprogramme, sollten demnach die rare Ausnahme sein (hierzu eindringlich: Bundesrechnungshof 2018). Zur Korrektur verbleibender finanzieller Unwucht zwischen den Ländern sollten diese zum horizontalen Länderfinanzausgleich als Kernstück eines „solidarischen Föderalismus“ zurückkehren, von dem sie sich 2017 in einem Akt der kollektiven Selbstentmachtung losgesagt hatten. Ungeachtet der finanziellen Engpässe, die die öffentlichen Haushalte als Folge der Coronapandemie und der fallenden Steuereinnahmen bei gleichzeitig steigenden Ausgaben kurz- und mittelfristig ausgesetzt sind, sollte die Finanzierung des Bildungssektors – einschließlich seiner umfassenden Digitalisierung – als Schlüssel für die Zukunftssicherung des Landes vorrangige Berücksichtigung finden. Die Herstellung finanzieller Ebenbürtigkeit zwischen den Ländern könnte zudem das dem „Wettbewerbsföderalismus“ innewohnende Risiko eines „föderalen Darwinismus“ (Wollmann 2017, S. 383) vermindern, in dem sich die finanziell stärkeren (‚fitteren‘) Länder (etwa durch bessere sächliche Ausstattung ihrer Universitäten und Schulen sowie eine höhere Besoldung ihres Lehrpersonals) Standort- und Attraktivitätsvorteile gegenüber finanzschwächeren Ländern verschaffen und hierdurch die zwischen ihnen ohnedies bestehende strukturelle Asymmetrie noch verschärfen (Renzsch 2018). Die politischen Arenen der Länder und insbesondere die Landesparlamente sollten jene politische Vitalität und Resonanz (zurück-)gewinnen, von der die politische und funktionale (Über-)Lebensfähigkeit der Länder im föderalen Mehrebenensystem abhängt. Die durch die Föderalismusreform I von 2006 eingeführte Erweiterung der Gesetzgebungszuständigkeiten der Länder eröffnete hierfür einen aussichtsreichen Einstieg. Zudem sollten die vielfältigen institutionellen Mechanismen des „Exekutivföderalismus“ abgebaut werden, die als Machtachsen der Regierungen unter Umgehung und Marginalisierung der Parlamente die Entscheidungsprozesse im föderalen System und darüber hinaus in
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der EU prägen (Drexler et al. 2004). Ein wichtiger Schritt hierzu ist darin zu sehen, statt der Vielzahl von Verwaltungsvereinbarungen, die im binnenexekutiven „Arkanbereich“ (Scharpf 2009, S. 155) zwischen Bundesregierung und Landesregierungen ausgehandelt werden, Staatsverträge abzuschließen, die vom Bundestag und von den Landtagen öffentlich zu diskutieren und zu beschließen wären. Schließlich sollten die Länder und die Kommunen das Lernpotenzial, das die horizontal und vertikal vernetzte föderale Politikwelt birgt, kreativ und gezielt nutzen (vgl. Kersting & Graubner in diesem Band). Die noch vielfach beobachtbare Neigung, isolierte ‚Insellösungen‘ zu praktizieren, sollte dadurch überwunden werden, dass wissens- und erfahrungsbasierte Praxisvergleiche (Benchmarking, Best Practice) zwischen Ländern und Kommunen unternommen werden – entsprechend dem „offenen Koordinationsverfahren“ (OMC), die als Ansätze wechselseitigen Lernens in der internationalen Diskussion und Praxis zunehmend im Schwange sind. In der Gestaltung und Umsetzung der Digitalisierung der Schulen und von Formen ‚neuen Lehrens und Lernens‘ sollten gezielt die einschlägigen Erfahrungen anderer insoweit vorbildlicher Länder genutzt werden (für das Beispiel Neuseelands: Hasel 2019, 2020 in diesem Band). Ferner sollten Ansätze von ‚experimenteller‘ Politik und von Modellvorhaben mit projektbegleitender Evaluierung verfolgt (Hellstern & Wollmann 1983) und hierbei die Pluralität der Länder gewissermaßen als „Laborsituation“ (Kropp et al. 2008, S. 727) genutzt werden. Dies könnte auch dazu dienen, den im Laufe der Jahre in und zwischen den Ländern entstandenen verwirrende Vielfalt von Schulsystemen auf der Basis gesicherter Erkenntnisse zu ‚entwirren‘.
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Innovatives Lehren und Lernen in Zeiten des Coronavirus Erfahrungen in und aus den Schulen Neuseelands1 Verena Friederike Hasel
An einem Montagmorgen sitzt Leo am Laptop und singt das Lied seiner Schule – zusammen mit dem Direktor, den er auf dem Bildschirm sieht. Der Direktor zeigt Akkorde auf der Gitarre, er holt seine Hündin Daisy herbei, er spricht, erklärt und ermuntert. Wie jeden Morgen, seitdem das Coronavirus Neuseeland erreicht hat und die Kinder nicht mehr zur Schule gehen können. „Gerade in dieser schwierigen Zeit ist es meine Aufgabe, mit den Schülern in Kontakt zu bleiben“, sagt der Direktor. „Und deshalb halte ich diese Onlineansprachen.“ Welcher Schulleiter in Deutschland hat in den vergangenen Monaten ähnliches getan?
„Changing Times“. Mehr als ein Unterrichtsthema In Neuseeland, wo ich mit meiner Familie derzeit lebe, sind die Unterrichtsthemen an Schulen oft jahrgangsübergreifend. Damit will man den Zusammenhalt zwischen den verschiedenen Klassenstufen fördern. In den Wochen vor Corona ging es an der Schule meiner drei Töchter um Changing Times. Auf Deutsch: Wie sich die Zeiten ändern. Meine Kinder lernten Spiele kennen, die früher beliebt waren, eine Klasse von Ehemaligen grub eine Zeitkapsel auf dem Grundstück der Schule aus, die sie im Jahr 1995 verbuddelt hatte, und alle Kinder unternahmen eine Exkursion in ein historisches Dorf, wo sie einen Schultag wie im 19. Jahrhundert erlebten. Dann brachte ein Reisender den ersten Covid-19-Fall nach Neuseeland, und der Inselstaat ging in einen der strengsten Lockdowns weltweit. Seitdem erleben meine Kinder eine überraschende Fortsetzung des Unterrichtsthemas Changing Times: Binnen Tagen wurden sie weit in die Zukunft katapultiert – mitten hinein in eine Zeit, in der schon die Kleinsten mithilfe von digitalen Mitteln lernen.
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Dieser Beitrag beruht auf einem Artikel, der am 5. Mai 2020 auf ZEIT online erschienen ist (Hasel 2020).
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_18
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Ich bin Psychologin, Journalistin und Autorin. In meinem Buch Der Tanzende Direktor, das gerade in die dritte Auflage gegangen ist, schildere ich meine Vision für ein besseres Schulsystem (Hasel 2019). Dabei greife ich auf meine Beobachtungen und Erkenntnisse aus Neuseeland zurück, dessen Bildungssystem in internationalen Rankings stets weit vorne liegt. In den vielen Wochen meiner Buchrecherche erlebte ich Erstklässler, die das erste Experiment ihres Lebens mit Schokolade machten und danach sehr genau wussten, wie viel Spaß Wissenschaft machen kann. Oder Grundschüler, die vor Schulbeginn zusammen mit ihrem Lehrer den Sonnenaufgang beobachteten, später ein Gedicht über dieses Erlebnis schrieben und dabei die Regeln der Metrik erlernten. Oder Gymnasiasten, die erst eine Mountainbike-Tour mit dem Lehrer machten und danach die Newtonschen Gesetze durchnahmen, weil diese erklären, warum es mehr Kraft erfordert, loszufahren als bei gleicher Geschwindigkeit weiterzufahren. Ich bin über Schulkorridore gegangen, an denen Bilder von Menschen wie Albert Einstein und John Lennon hängen, die trotz Legasthenie großen Erfolg im Leben hatten, und habe Lehrer getroffen, welche die Entwicklung von Ambiguitätstoleranz, Empathie und Kreativität genauso wichtig nehmen wie das Erlernen der Grundrechenarten. Aber vor allem habe ich festgestellt, welche Kraft Bildungspolitik entfalten kann, wenn sie systematisch, planvoll und wissenschaftlich fundiert ist. Dafür nur ein Beispiel: In Neuseeland müssen Lehrer alle drei Jahre ihre Lizenz erneuern, um weiter zu unterrichten, aber das dürfen sie nur, wenn sie Fortbildungen besucht haben. Die Fortbildner wiederum werden vom Bildungsministerium zertifiziert und stets mit den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen über sinnvolle Unterrichtsmethoden versorgt, die sie dann an die Lehrer weitergeben. „Das neuseeländische System ist beeindruckend“, sagt auch John Hattie, den die britische Times den einflussreichsten Bildungsforscher der heutigen Zeit genannt hat. Und so überrascht es nicht, dass Neuseeland im Worldwide Educating for the Future Index, der die Zukunftstauglichkeit von Bildungssystemen in der ganzen Welt misst, im Jahr 2017 den ersten Platz belegte (Think New 2017). Wie sehr Neuseelands Schulen im 21. Jahrhundert angekommen sind, begreife ich aber erst in Zeiten von Corona. Doch bevor ich darauf näher eingehe, erst einmal ein Blick in meine deutsche Heimat.
Eine Maschine, deren Zahnräder nicht ineinandergreifen Berlin. Seit den Schulschließungen sind ein paar Wochen vergangen, und endlich ist es der Lehrerin gelungen, sich mit den verschiedenen Videokonferenzprogrammen vertraut zu machen. Ein mühsames Unterfangen, denn sie war völlig auf sich allein gestellt. Gerade als sie glaubt, einen passenden Anbieter gefunden zu haben, erhebt die Schulleiterin mit einem Verweis auf ein Schreiben mit dem Titel Checkliste für Videokonferenzen Einwände. Darin hatte die Datenschutzschutzbeauftragte der Berliner Schulen so hohe Anforderungen an die zu nutzenden Programme formuliert, dass keiner der bekannten Anbieter infrage
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kommt (Schulkrise 2020). Also telefoniert die Lehrerin ihre Schüler und Schülerinnen in den folgenden Tagen stattdessen einzeln ab. Eine Videokonferenz und damit das Wiedersehen der ganzen Klasse kann nur stattfinden, weil ein Vater die Organisation übernimmt. Ein Fall, der wie unter einem Brennglas zeigt, wie schlecht es um die Digitalisierung in Deutschland bestellt ist. Mitte März wurden die Schulen in Deutschland geschlossen, und wie eine Forsa-Umfrage im Auftrag der Robert Bosch Stiftung GmbH in Kooperation mit der ZEIT ergab, hatten drei Wochen später nicht einmal die Hälfte aller Lehrer Aufgaben auf einer Lernplattform geteilt, nur 14 Prozent hatten Videokonferenzen mit ihren Schülern abgehalten, und obwohl 43 Prozent der Befragten angaben, weniger Arbeitsaufwand als sonst zu haben, setzte die überwiegende Mehrheit von ihnen weiterhin auf Aufgabenblätter, anstatt neue und innovativere Unterrichtsformen zu erproben (Robert Bosch Stiftung 2020). Doch wie das oben genannte Beispiel deutlich macht, darf man die Schuld nicht bei den einzelnen Lehrern suchen. Angesichts der aktuellen Herausforderungen erscheint die deutsche Schulpolitik wie eine Maschine, deren Zahnräder einfach nicht ineinandergreifen und die sich zeitweise sogar gegenseitig blockieren. Aufgrund der Tatsache, dass kaum Unterricht stattfindet, sehen sich viele Eltern dazu gezwungen, in die Rolle von Ersatzlehrern zu schlüpfen. Nun ist der schulische Erfolg in Deutschland ohnehin in starkem Maße vom Elternhaus abhängig (olb 2019), und diese Tendenz wird sich, wenn es so weitergeht wie bisher, gefährlich verstärken: Nicht jeder hat die Zeit und das Wissen, schriftliche Division oder englische Grammatik kindgerecht zu erklären (Hurrelmann & Dohmen 2020). Dass Eltern derzeit oft keine andere Wahl bleibt, als pädagogische Aufgaben zu übernehmen, für die sie nicht ausgebildet sind, ist umso ärgerlicher, da in Deutschland eigentlich Schulpflicht für Kinder besteht. Doch die Unterrichtspflicht, die daraus für Schulen folgt, wird derzeit massiv vernachlässigt. Warum lassen wir das zu? Wieso ist Onlineunterricht nicht obligatorisch, wenn Präsenzunterricht unmöglich ist? Denn wie gut dieser funktionieren kann, erlebe ich in Neuseeland Tag für Tag.
Willkommen im digitalen Klassenzimmer Wir haben unser Mittagessen gerade beendet, da klappt meine zehnjährige Tochter ihr Notebook auf. Auf ihrem Stundenplan steht eine Englischstunde, und meine Tochter betritt einen virtuellen Konferenzraum, wo sie ihre Lehrerin und Mitschüler trifft. Die Regeln für diese Zusammenkünfte wurden gleich zu Beginn der Schulschließungen verschickt, da auch digitale Unterrichtsstunden im Chaos enden, wenn jeder macht, was er will. Also muss jedes Kind das Mikrofon ausgeschaltet haben, bis die Lehrerin die Erlaubnis erteilt, dass man spricht. Nachdem die Englischstunde vorbei ist, beginnt meine Tochter sofort die Buchrezension, die sie verfassen muss. Meine Hilfe braucht sie dabei nicht, die Lehrerin hat schon alles erklärt. Meine Tochter erstellt eine PowerPoint-Präsentation, in denen sie die Handlung, das Setting und die einzelnen Figuren vorstellt und schildert, was ihr am Buch gefällt und 287
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für wen es geeignet ist. In den folgenden Tagen teilen und besprechen die Schüler sämtliche Rezensionen im digitalen Klassenzimmer, einer Lernplattform, auf der sie Dateien, Fotos, Videos hochladen und miteinander kommunizieren können. Meine Tochter geht in Neuseeland in die sechste Klasse. Schon vor dem Lockdown hat sie in der Schule regelmäßig am Notebook gearbeitet. Sie weiß nicht nur, wie man PowerPoint-Präsentationen erstellt, sondern kann auch Textbausteine kopieren und im Internet recherchieren. Den digitalen Klassenraum haben die Kinder ebenfalls schon vorher benutzt, und diese Erfahrung kommt ihnen in Zeiten des Fernunterrichts zugute. In Deutschland dagegen sind die Computerkenntnisse von Schülern miserabel. Einer Studie zufolge, die das Bundesbildungsministerium und die Kultusministerkonferenz im Herbst 2019 vorstellten, haben die meisten Achtklässler nur rudimentäre Computerkenntnisse und können gerade mal den Anhang einer E-Mail öffnen. Auch hier hängen die Fähigkeiten eng mit dem Elternhaus zusammen, und ganz offensichtlich versagen die Schulen, wenn es um die Chancengleichheit aller Kinder angesichts einer digitalen Zukunft geht (Eickelmann et al. 2019). Die Lehrer, die in der Forsa-Umfrage zu Wort kamen, sahen aber noch einen anderen Umstand als großes Hindernis für das Gelingen von digitalem Unterricht: 28 Prozent von ihnen wiesen darauf hin, dass Schülern die nötigen Geräte fehlten. Dabei könnte die Lösung so einfach sein.
Ein Notebook für alle Die letzte Person, die ich traf, bevor Neuseeland in einen siebenwöchigen Lockdown ging, war der Schuldirektor meiner Kinder. Die Schule hatte schon geschlossen, da kam er noch einmal in sein Büro, um mir zwei Notebooks zu geben. Eins für meine zehnjährige, eins für meine siebenjährige Tochter und beide so eingestellt, dass nur lernrelevante Seiten abrufbar sind. Diese Leihgabe war keine persönliche Nettigkeit. In den Wochen zuvor hatte das Bildungsministerium sämtliche Schulen kontaktiert, um herauszufinden, wie viele Kinder landesweit ohne Laptop waren. An einer Schule kaufte ein Direktor mit staatlichem Geld kurzerhand 100 Chromebooks. „Einen Tag vor dem Lockdown, die Kontaktbeschränkungen galten schon, stand ich mit einigen Lehrern auf dem Parkplatz der Schule“, erzählt er mir. „Die Eltern, die kein eigenes Notebook für ihr Kind zu Hause hatten, fuhren vor, und wir reichten die Geräte durch die heruntergekurbelten Autofenster.“ In den Osterferien versorgten Mitarbeiter des Ministeriums Tausende weitere Familien mit Notebooks und Internetzugang. Lizenzen für digitale Anwendungen hatte das Bildungsministerium ohnehin schon lange zuvor an Schulen ausgegeben, und gleich zu Beginn des Lockdowns konnte jede Schule die Empfehlungen zu Videokonferenzsystemen auf der Webseite des Ministeriums einsehen. In Deutschland ist bis Mitte Mai 2020 nichts Vergleichbares passiert. Zumindest wurde den Schulen von der Bundesregierung inzwischen Geld in Aussicht gestellt, mit dem sie
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Notebooks für benachteiligte Schüler und Schülerinnen anschaffen können (Bundesregierung 2020). Bis diese Geräte den Kindern wirklich zur Verfügung stehen, wird aber noch Zeit ins Land gehen. Nun mag man einwenden, dass Neuseeland lediglich fünf Millionen und Deutschland hingegen 83 Millionen Einwohner hat und flächendeckende Maßnahmen in einem bevölkerungsreichen Land viel schwerer umzusetzen sind. Doch wozu gibt es in Deutschland den Bildungsföderalismus? Grundsätzlich halte ich es für einen Fehler, dass Bildung Ländersache ist. Durch die föderalistischen Strukturen fehlen die gemeinsame Vision und klar umrissenen Strategien, die wir bräuchten, um unsere Schulen nachhaltig zu verbessern. Die Institution, die eigentlich dafür zuständig wäre, eine Marschrichtung vorzugeben, ist die Kultusministerkonferenz. Doch ihre Mitglieder wechseln extrem oft, manche Minister waren in der Vergangenheit weniger als zwei Jahre im Amt. Wie soll da etwas von Dauer entstehen? Jetzt zu Zeiten von Corona könnte der Bildungsföderalismus endlich zeigen, dass er auch Vorteile bietet. Im Prinzip könnte jedes Bundesland ein Neuseeland sein: wendig, flexibel und effizient. Die Realität sieht leider anders aus, doch stellen wir uns einmal vor, die Bundesländer hätten sich aus ihrer digitalen Trägheit befreit. Alle Schüler besäßen ein Notebook, sämtliche Schulen hätten W-LAN, und jeder Lehrer wäre aufgefordert, digitale Wege der Wissensvermittlung einzuschlagen. Genau in diesem Moment, der aus jetziger Perspektive wie ein glücklicher Endzustand erscheint, würde die Arbeit erst losgehen. Mit der technischen Grundausstattung ist es nämlich nicht getan, es braucht im 21. Jahrhundert auch die entsprechende Didaktik. Seit der industriellen Revolution hat Schule nach dem Fließbandmodell funktioniert. Stück für Stück werden Kinder mit Wissen ausgestattet, alles baut aufeinander auf, kein Schritt kann ausgelassen werden. Das 21. Jahrhundert zeichnet sich jedoch dadurch aus, dass jeder mit einem Internetzugang unbegrenzten Zugriff auf Wissen hat. Unterricht muss also fundamental anders ablaufen als jemals zuvor. Es ist nicht mehr sinnvoll, Kinder mit Wissen vollzustopfen, eher müssen sie lernen, das Wissen, das sie umgibt, zu bewerten und einzuordnen, zu verknüpfen und schließlich auch zu nutzen. Schule als Institution wird sich daran messen müssen, ob sie Kindern geistige Beweglichkeit, interdisziplinäres Denken und Anwendungsorientierung beibringt. Und digitale Medien können da gute Dienste leisten, wie ich im Folgenden anhand einiger Beispiele zeigen will.
Von Zeitkapseln, Meditations-Apps und einem Million-Dollar-Projekt Stephen Baker unterrichtet an einer Dorfschule auf der Nordinsel Neuseelands, die nächste große Stadt ist weit entfernt, wie so oft in dem dünn besiedelten Land. Um Kinder für Literatur begeistern und sie wenigstens virtuell zusammenbringen, hatte Baker den Einfall, Schüler überall im Land dasselbe Buch lesen und anschließend darüber diskutieren zu lassen. Dafür rief er im Jahr 2016 eine Twitter-Gruppe ins Leben, die er Chapter Chat 289
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nannte. Über eine der vielen Facebook-Gruppen, in denen neuseeländische Lehrer miteinander vernetzt sind, verbreitete Stephen Baker seinen Vorschlag. Am vereinbarten Tag loggte er sich ein. Ein bisschen besorgt. Würde er der einzige sein? Die Angst war unbegründet. Gleich beim ersten Mal machten 100 Klassen mit. Inzwischen wurden weit mehr als ein Dutzend Bücher gelesen, und Stephen Baker hat den Ablauf verfeinert. Lehrer aus dem gesamten Land schlagen Bücher vor, er wählt eines aus und formuliert Aufgaben zu den einzelnen Kapiteln. Als Unsere kleine Farm dran war, das im 19. Jahrhundert spielt und von der Familie Ingalls handelt, die im Mittleren Westen der USA lebt, sollten die Kinder einen Grundriss des Ingalls-Hauses zeichnen oder aufschreiben, was sie in ihrer Freizeit machen würden, wenn sie eins der Ingalls-Kinder wären. Bei Mitten im Dschungel, einem Abenteuerroman, in dem vier Kinder über dem Amazonas abstürzen, sollten sie ein Flugzeugmodell bauen, herausfinden, welche Voraussetzungen man erfüllen muss, um Pilot zu werden, oder eine Vorschau für eine Verfilmung des Buchs machen. Jeden Freitagmorgen um 10 Uhr melden sich die Klassen dann bei Twitter an und Kinder im Norden Neuseelands sehen, wie Kinder im tiefen Süden die Aufgaben gelöst haben. Bislang haben schon mehr als 1000 Klassen mitgemacht. Twitter kann also die Liebe zu Büchern entfachen. Und Stars können Kinder für Mathematik begeistern: Während des Lockdowns baten einige neuseeländische Lehrer bekannte Sportler darum, Kindern in kleinen Filmclips mathematische Fragen zu stellen. Auch dieses Format wurde begeistert genutzt. Sind Neuseelands Lehrer einfallsreicher? Nein, sie sind den Einsatz von digitalen Medien gewöhnt und erfahren viel Unterstützung. Schon lange vor dem Lockdown hat das Bildungsministerium Fortbildner für digitalen Unterricht an Schulen entsandt. Während der Schulschließungen hat es seine Bemühungen intensiviert und hat Lehrer mit Ideen für passende Aufgaben versorgt. Und so stellen viele Schulen gerade digitale Bücher aus den liebsten Lockdown-Rezepten von Kindern her, und Schüler in verschiedenen Teilen des Landes basteln Zeitkapseln, die Tagebucheinträge, Artikel und Supermarktrechnungen enthalten und später an diese außergewöhnliche Zeit erinnern sollen. Als meine Tochter den Inhalt für ihre Zeitkapsel zusammenstellte, bat sie ihre Schwestern um Briefe, die davon handeln sollten, was sie während des Lockdowns besonders mit ihr genossen hätten. Diese Briefe sind kleine Liebeserklärungen geworden – und zugleich waren sie gute Rechtsschreibübungen. Auf einer Webseite, die viele neuseeländische Kinder nutzen, wird jeden Tag ein neues Bild eingestellt, das ihnen als Anregung für eine selbst geschriebene Geschichte dienen soll, auf einer anderen findet man montags immer den Anfang einer Geschichte und soll diese weiterschreiben, und auf einer dritten kann man ein virtuelles Unternehmen gründen. Meine Kinder sind begeisterte Restaurantmanagerinnen geworden. Und während sie Lebensmittel einkaufen, Mengen kalkulieren, ihre Einnahmen überprüfen, die Ausgaben abziehen und überlegen, ob sie es sich leisten können, einen neuen Kellner einzustellen, rechnen sie viel konzentrierter, als sie es über abfotografierten Aufgabenblättern würden. Außerdem haben sie eine App, mit der sie jeden Tag meditieren können. Eingeführt haben die Lehrer dieses Instrument schon vor dem Lockdown, und sicherlich ist es für
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viele Kinder, welche die Anspannung ihrer Eltern in diesen unsicheren Zeiten spüren, ein wichtiges Hilfsmittel geworden. Aber in Deutschland, dem Land von Holzspielzeug und Waldorfschulen, ist man Technik gegenüber skeptisch, wenn es um Kinder geht. Und so wertvoll und unverzichtbar das freie Spiel in der Natur auch ist, sollte man digitale Medien nicht verteufeln. Setzt man sie richtig ein, trainieren sie Fähigkeiten, die im 21. Jahrhundert wichtiger denn je sind. Und nicht zuletzt kann man mit ihrer Hilfe Entfernung und die damit einhergehende Entfremdung überwinden. In Deutschland, wo die meisten Lehrer während des Lockdowns auf Videokonferenzen verzichteten, hatten 37 Prozent von ihnen mit weniger als der Hälfte ihrer Schüler regelmäßig Kontakt (Robert Bosch Stiftung 2020). An Leos Schule in Neuseeland gibt es 380 Kinder. Seitdem die Schule schloss, hat der Direktor jeden Morgen nachgeschaut, wer von ihnen Geburtstag hat. Und dann hat er ihnen in seiner morgendlichen Onlineansprache gratuliert. Ich freue mich auf den Tag, an dem ich so etwas aus Deutschland höre.
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Smart City und der ‚European Way of life‘ Jürgen Rüttgers
Als die Berliner Mauer im Jahre 1989 fiel, war das deutsche Volk glücklich. Als Deutschland und Europa 1990 wiedervereinigt wurden, endete der Kalte Krieg. Jahrhunderte des Kampfes um die Hegemonie in Europa und die Vorherrschaft des Westens in der Welt fanden ein Ende. Die Völker Europas hatten ihre Fesseln in einem 10-jährigen Kampf um die Freiheit abgeworfen. Die Freiheit hatte gesiegt. Die Zukunft war offen. Die ‚Große Europäische Freiheitsrevolution‘ von 1989/90 war ein historisches Ereignis der besonderen Art. Revolutionen sind disruptive Veränderungen. Sie schaffen Neues und zerstören Altes. Diese Revolution war eine friedliche Revolution. Ihr Ziel war neben der Überwindung der Teilung des Kontinents die Abschaffung der Diktaturen und der Versuch, Friede, Demokratie, Menschenrechte und Wohlstand für alle zu schaffen. Auch friedliche Revolutionen führen zu „post-revolutionären Folgekonflikten“ (Rüttgers 2017a, S. 27). Die Weltfinanzkrise, die Staatsschuldenkrise, die Eurokrise, die Migrationskrise, der Balkan-Krieg, der Ukraine-Krieg, der Brexit, die Trump-Krisen u. a. m. waren solche Kriege und Krisen. Die Folge sind Handelskriege, neue Wertschöpfungsmodelle, die Auswirkungen der Veränderung des Weltklimas, die Digitalisierung unseres Lebens und die Technisierung unseres Lebens. All das erfordert ein neues Denken und eine neue Politik. Sigmar Gabriel weist darauf hin, dass diese Veränderungen einen „perfekten Sturm“ zur Folge habe. Jedenfalls verschoben sich die Machtachsen vom Atlantik in den Pazifik. „Wir Europäer – die EU und die Briten gemeinsam – stehen“, nach Auffassung des ehemaligen Außenministers, „in Wahrheit vor der Frage, ob und wie wir unsere Souveränität zwischen den neuen Machtachsen erhalten.“ Und er fügt hinzu: „Wie schaffen wir Europäer es, dass wir so leben können, wie wir wollen und nicht nur leben müssen, wie es andere für uns [für] angemessen halten?“ (Gabriel 2019, S. 5ff.). Die neue Weltordnung, die jetzt entsteht, wird neue Strukturmerkmale haben, ob wir Deutschen das wollen oder nicht. Nicht der Produzent, sondern der Konsument ist in Zukunft wichtig. Das Volk kann sich jederzeit schnell organisieren, weil die Individuen vernetzt sind. Nicht die Information ist wichtig, sondern die Zustimmung zur Information. Innovationen entstehen nicht nur in „Einsamkeit und Freiheit“ (Wilhelm von
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_19
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Humboldt), sondern durch das Wissen vieler. Die Entgrenzung des Wissens erfordert neue Antworten, um die Unübersichtlichkeit zu überwinden. Solche fundamentalen Veränderungen führen zu neuen Risiken. Wir leben zukünftig in Räumen organisatorischer Unverantwortlichkeit. Die unauflösliche Beziehung von Handlung und Haftung ist zumindest teilweise vorbei: Die Kausalität wird durch die Korrelation abgelöst. Die Privatsphäre wird zerstört. Es gibt kein Recht auf Vergessen mehr. Verträge gelten nicht mehr als heilig (pacta sunt servanda). Rechtsstaat und Demokratie geraten unter Druck. Sie entwickeln sich zu Gegensätzen. Die Wahrheit wird relativ. Alternative Fakten zerstören die Glaubwürdigkeit, nicht nur der Politik, sondern auch der Eliten. Zusammengefasst: Die Globalisierung, die Digitalisierung und der Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft sind Teil eines großen Prozesses, der zur Entgrenzung unserer Welt führt. Es gibt zudem eine Entgrenzung unserer Wahrnehmung. Wir stellen fest, dass wir in derselben Welt leben, aber nicht mehr in derselben Zeit (Karl Lamers). Der Raum, in dem wir leben, ist ohne Grenzen. Dies zeigen die Millionen Menschen, die als Flüchtlinge ihre Heimat verlassen müssen. Die Zeit ist für jedermann relativ. Denn jeder ist jederzeit online. Der weltweite Terror richtet sich nicht gegen Wenige, sondern findet überall statt und potenziell gegen jeden. Nicht nur die Eliten sind gefährdet, sondern auch das Volk. Jeder wird durch dauernde Veränderungen an die Grenzen seiner Belastbarkeit geführt. Auch die Politik ist grenzenlos. Die Finanzmärkte, Hunger und Elend, der Klimawandel sind epochale Herausforderungen, die das Leben jedes Einzelnen verändern. Weil Politik nicht mehr national, sondern global ist, fehlt es oft an Zielen, Werten und Führung. Auch die Wirtschaft profitiert von und leidet unter der Entgrenzung der Märkte. Seit dem Beginn dieses Jahrhunderts gab es in Europa eine signifikante Deindustrialisierung (Europäische Kommission 2018, S. 13).1 Die Folgen dieser Deindustrialisierung waren eine Rezession, geringes Wirtschaftswachstum, hohe Arbeitslosigkeit – insbesondere Jugendarbeitslosigkeit ‒, bei gleichzeitigem rasantem technischem Fortschritt. Die Folge war eine Spaltung der Gesellschaft in vielen europäischen Ländern in Alte und Junge, Einheimische und Zugewanderte, Volk und Elite, Rechte und Linke, Zentrum und Peripherie sowie zwischen ‚somewheres‘ und ‚anywheres‘. Europa braucht deshalb mehr Wachstum, und zwar ein Wachstum, das „smart, nachhaltig und inklusiv“ ist, weil 80 Prozent des Wirtschaftswachstums der Europäischen Union auf Produktivitätssteigerungen beruhen (Europäische Kommission 2018, S. 5, Fn. 3). Die Spaltung der Zivilgesellschaft ist trotz einer guten wirtschaftlichen Lage nicht überwunden. Der
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Trotzdem ist Europa immer noch ein Weltmarktführer in grüner und effizienter Energie, bei neuen und sicheren Jobs trotz des Einsatzes vieler Roboter, bei innovativen und maßgeschneiderten Gütern und Dienstleistungen. Der Anteil der Industrie ist seit 2009 um 6 % gestiegen. 1,5 Millionen neue Arbeitsplätze sind seit 2013 in der Industrie neu entstanden. Die Arbeitsproduktivität ist seit 2009 rund 2,7 % pro Jahr gestiegen und liegt vor den USA und Korea (0,7 % und 2,3 %) (Europäische Kommission 2018).
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Grund dafür ist, dass viele Menschen Angst haben: vor der Zukunft, dem Verlust der Arbeit, zu viel Neuem und Fremdem. Die Volksparteien in den europäischen Demokratien, die nach dem 2. Weltkrieg den Wiederaufbau, die Europäische Einigung, den Rechtsstaat und die Gewaltenteilung mitaufgebaut haben, stehen unter massivem Druck. Populisten, Rechtsradikale und Antisemiten bekämpfen die Demokratie und die Soziale Marktwirtschaft. Sie glauben, nur der Nationalstaat könne neue Grenzen aufbauen sowie Sicherheit und Fortschritt garantieren. Die Mehrheit der Bürger in Großbritannien will die EU verlassen, weil die Kontrolle über Staat, Wirtschaft und Gesellschaft zurückerlangt werden soll. Die Bewegung des Präsidenten ‚La République en Marche‘ in Frankreich hat das alte Parteiensystem zerschlagen. In Spanien gibt es keine regierungsfähige Mehrheit. Katalonien will Spanien verlassen. Die Spaltung zwischen Ost und West in Deutschland wird immer tiefer. In Italien gab es neofaschistische Minister. Die restlichen linken Parteien wollen mehr Schulden machen und zurück zur Staatswirtschaft. Die Mitte-Rechts-Parteien haben wenig Kraft, die Freiheit und die Soziale Marktwirtschaft zu verteidigen. Die Politik ist unfähig, die großen Herausforderungen unserer Zeit, die Globalisierung, die drohende Klimakatastrophe und die Digitalisierung zu lösen. Aber wenn die Gräben in einer Gesellschaft zu groß werden, ist die Demokratie gefährdet: „Die Abgehängten rebellieren gegen die Angeschlossenen.“ Überall in den ländlichen Räumen Europas gibt es eine signifikante Landflucht. Die jungen Menschen ziehen fort, um in den urbanen Räumen Arbeitsplätze zu finden. Die Dörfer sterben einen langsamen Tod. Geschäfte schließen, Schulen werden zusammengelegt, die Infrastruktur veraltet. Aber die Flucht aus den ländlichen Gegenden verschärft nicht nur die soziale Lage in den peripheren Räumen, sondern auch in den Metropolen. Zwei Drittel der französischen Haushalte unter der Armutsgrenze leben in „urbanen und semiurbanen Zonen“. Dort sind zwar „die Durchschnittseinkommen in der Regel höher, aber die Kaufkraft niedriger und öffentliche Dienstleistungen teuer.“ Die überall für die Groß- und prosperierenden Mittelstädte geforderte Verdichtungsstrategie mit dem Ziel, immer mehr Wohnungen zu bauen, spaltet ebenfalls die Gesellschaft. Das gilt nicht nur für verwahrloste Vorstädte. Zum einen führt die Debatte um Verdichtungen der Innenstädte sowie der äußeren Stadtteile zu heftigen politischen Auseinandersetzungen. „Das urbanistische Stresssymptom der Gegenwart heißt Netzverdichtung und Stadterweiterung“ (Matzig 2019). Die Trennung von Wohnen und Arbeiten in Stadt und Land muss deshalb überwunden werden. Die digitale Welt macht dies wieder möglich, nachdem die industrielle Welt durch Umweltverschmutzung und Verkehr beides getrennt hatte. Wer „Einheit in Vielfalt“ will, der darf weder Einheitsarchitektur noch einen Einheitsbrei von Metropolen und l’Europe profonde zulassen (Wagner 2017).2 2
Reint E. Gropp spricht sich gegen eine „zentral gesteuerte Gesamtstrategie für ländliche Räume“ aus. Im Rahmen eines Wettbewerbs sollten die Gemeinden die Frage beantworten: „Wo wollt ihr 295
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Die Forscher des Leibnitz-Instituts für Länderkunde haben festgestellt, dass „die herrschende EU-Maxime von Wachstum durch Innovation, die in jeder europäischen Hauptstadt bereitwillig nacherzählt und mit viel Geld gefördert werde, nicht für jede Region geeignet sei. Es gebe keine Musterlösung. Jede Region habe ihre eigenen Stärken, die sie für ihre Entwicklung nutzen müsse.“ Und: „In Europa lasse sich nicht nur eine Entkopplung von Metropolen und Provinz sowie von erfolgreichen und erfolglosen Regionen beobachten, sondern auch eine Entkopplung von Wachstum und Zufriedenheit der Menschen. Das Wirtschaftswachstum komme in den Regionen nicht als Wohlstandswachstum an […]. Wenn die Leuchttürme und die neoliberale Politik der EU daran nichts ändern, müsse man die Region nach eigenen Lichtquellen absuchen und nicht nur über die Finsternis klagen.“ (Wagner 2017).
In vielen Definitionen und Reflexionen über die ‚Zukunft der Stadt‘ werden immer wieder folgende Problembereiche erwähnt, in denen fundamentale Veränderungen notwendig seien: • • • • • • • •
Mobilität Wohnen offene Verwaltung öffentliche Einrichtungen der Daseinsvorsorge Energieversorgung Entsorgungswirtschaft Wissensgesellschaft (Universitäten, Schulen, Forschungseinrichtung etc.) öffentliche Sicherheit
Die dazu gehörigen zentralen und gewinnträchtigen Bereiche sollen, so ist überall zu lesen, privatisiert werden. Anders die Kritiker einer Fremdbestimmung durch Daten: „In smarten Städten regieren Politiker ihre Bürger mit Datensätzen und richten ihre Entscheidungen nach Ranglisten und Werten […]. Dass mit der Installation eines kybernetischen Regelkreislaufs Programmierer Sollgrößen implementieren und der Souverän entmachtet wird, ist die Kehrseite der Medaille. Regieren droht zur Prozesssteuerung zu verkommen.“ (Lobe 2019a)
in 10 Jahren stehen?“ Neue Studien weisen darauf hin, dass „in Deutschland vor allem der Osten und ländliche Gegenden in Gefahr sind, den Anschluss zu verlieren“ (2018). Notwendig seien „Investitionen in die Infrastruktur von Mobilität und Digitalisierung […] Auch bürgerschaftliches Engagement solle gestärkt werden […]. Dabei sei es ‚politisch, gesellschaftlich und ökonomisch fatal, Regionen aufzugeben‘, so Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft“ (Balser 2019).
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Hinter dem Konzept von Smart City steckt also in der ‚Silicon-Valley-Welt‘ der Versuch, kommunale Dienste zu digitalisieren und dann zu privatisieren. Der Weg dahin führt über die Nutzung der öffentlichen und privaten Daten, um „profitable Allianzen mit den anderen mächtigen Strippenziehern in den Städten zu schmieden, also den Immobilienentwicklern oder institutionellen Investoren“ (Morozov 2017, S. 11). Für die Kommunen bleiben die unrentablen Aufgaben übrig. Eine solche Stadt wäre vielleicht smart; sie ist aber keinesfalls nachhaltig und inklusiv. Es wird also Zeit, mit der gesellschaftspolitischen Diskussion zu beginnen, wie wir in Zukunft leben wollen. Konkret: Wer nicht sagen kann, welche Arbeitsplätze wegfallen und welche neuen entstehen werden, wer nicht erklären kann, wie die Resilienz, d. h. die Widerstandsfähigkeit unserer Gesellschaft gestärkt werden kann, wie die Funktionsfähigkeit der zum Leben notwendigen Daseinsvorsorgeeinrichtungen (Energie- und Wasserversorgung, Entsorgung, Feuerwehr, Krankenversorgung, Verkehr etc.) sichergestellt werden kann, der darf sich nicht auf die Werbesprüche der Silicon-Valley-Industrie einlassen. Kein System, das nicht resilient ist, ist nachhaltig. Wer alles digitalisiert, muss auch erklären, mit welchen nachhaltigen Lösungen er das Klima rettet. Er muss auch erklären, wie die digitale Daseinsvorsorge funktioniert, wie der Energiebedarf der eingesetzten Computer sichergestellt wird und was geschieht, wenn die Superrechner bei Stromausfällen ausfallen3 (Welzer 2019, S. 6; Rüttgers 2019). „The landscape of cities shows there are 18 EU cities of over one million inhabitants, with strong impacts on their hinterlands. Increasingly they are metroregions. An additional 43 cities have [more than] 500 000 inhabitants, with 85 between 250 000 and 500 000 inhabitants. Significantly, nearly 700 cities have [fewer than] 250 000 and (more than] 500 000 inhabitants. This makes the EU a place of smaller cities within which a few cities dominate as transactional hubs that contribute to shaping the strategic global economic, political and cultural agendas. They are intensely connected into the global system.“ (Europäische Kommission 2019, pp. 21‒22)
Wenn wir den „European way of life“ auch im 21. Jahrhundert erhalten wollen, wenn wir in einer menschlichen Gesellschaft leben wollen, in der es gerecht zugeht, in der Freiheit das oberste Gut ist, in der „Einheit in Vielfalt“ ohne Fremdleistung durch Maschinen, durch Echokammern, durch politische, ökonomische Manipulationen in Staat, Gesellschaft und Zivilgesellschaft möglich ist, dann dürfen wir uns unsere Gesellschaft nicht von anonymen Daten, undurchschaubaren Algorithmen, anonymen Machtzentren à la Silicon Valley abhängig machen (Ramakrishnan 2019). Viele Städte in Europa haben Stadtteile und Vorstädte, die vom Verfall und sozialer Segregation geprägt sind. Auch im ländlichen Raum gibt es Orte, die unter Leerstand
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Adrian Lobe verweist darauf, dass es einen Zielkonflikt zwischen „Wissensproduktion und Ökologie“ gibt: „Internetaktivitäten hinterlassen einen gewaltigen ökologischen Fußabdruck.“ Er fragt: „Sind Superrechner womöglich die viel größeren Dreckschleudern als SUVs? Ist KI der ultimative Klimakiller?“ (Lobe 2019a). 297
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leiden. Sie haben ihr Gesicht verloren: eingeschlagene Scheiben, mit Brettern vernagelte Fenster. Stadtteilzentren werden geschlossen, Läden des täglichen Bedarfs ebenfalls. Sie werden durch Spielhöllen ersetzt. Die Bevölkerung wird kleiner. Wir werden weniger, eine Erfahrung, die die Menschen nicht kennen. Wohnungen fehlen und gleichzeitig verfallen Wohnungen. Die Zahl der Haushalte steigt, weil die Wohnungen größer werden. Städte und Orte werden hässlicher. Dabei gibt es erstmalig in der Geschichte der Neuzeit die Möglichkeit, Stadtplanung nicht allein nach funktionalen Vorgaben zu betreiben, sondern sich auch an ästhetischen Leitbildern zu orientieren. Die ‚schöne‘ Stadt ist eine attraktive Stadt. Die Stadt und das Dorf müssen neu gebaut werden und nicht nur Häuser als Solitäre. Hochhäuser sind auch keine Antwort. Städte und Dörfer sind Orte der Vielfalt. Vielfalt erfordert schöne Lebensräume, die auf die Bedürfnisse der Menschen Rücksicht nehmen. Vielfalt verbietet Einheitsplanungen. Wir haben zuerst versucht, die autogerechte Stadt zu bauen. Jetzt wollen wir die autofreie Stadt planen. Auch dies wird scheitern. Wir haben das Stadtumland immer größer gemacht, ohne die Bedürfnisse der Menschen zu berücksichtigen. Jetzt wundern wir uns über kilometerlange Staus und dies zweimal am Tag. Wir haben Wohnen und Arbeiten getrennt. Und jetzt wundern wir uns über hässliche Gewerbegebiete, eine Explosion des Lkw-Verkehrs und der Distributionszentren. Gleichzeitig wohnen immer weniger Menschen in den Innenstädten. Die Mieten steigen und die Zahl der Kinder sinkt. Wir haben viele Chancen, schönere Städte zu bauen und die Verödung des ländlichen Raumes rückgängig zu machen. Ein weiteres Problem ist, dass die ökologischen Folgen der Neubauten „mindestens so viele Treibhausgase produziert wie der weltweite Flugverkehr“ (Rauterberg 2019, S. 41). In den letzten 10 Jahren sind rund 2,2 Millionen Wohnungen neu gebaut worden. Sie haben den Boden versiegelt. Jedes weitere Haus muss beheizt und beleuchtet werden. Der Energiebedarf steigt. Besonders hoch ist er in den Wohnhochhäusern. Dort müssen die Räume klimatisiert werden. Die Aufzüge sind Tag und Nacht in Betrieb. Zur Wasserversorgung sind Pumpen erforderlich. All das erfordert Energie und belastet das Klima. Die heutige Hochhausarchitektur baut Glasfassaden, die energetisch besonders problematisch sind (Rauterberg 2019). Außerdem wird die Digitalisierung den Energieverbrauch massiv steigern.4 Um die Energiewende zu vollenden und den Energiebedarf der digitalen Wirtschaft in Produktion und bei Dienstleistungen (Smart Home, Smart City, Autonomes Fahren, Cyber Security u. a.) zu befriedigen, wird nach Angaben des Deutschlandfunk der Bau von weiteren 40.000 Windrädern notwendig sein (Rüttgers 2019). Hinzu kommt, dass die heutige Architektur jeden Gestaltungsanspruch verloren hat. In den Metropolen entsteht eine Einheitsarchitektur: „Das Hässliche vieler Neubauten ist nicht deshalb hässlich, weil Architekten oder Stadtplaner es nicht besser wüssten […]. Es ist hässlich, weil die Verhältnisse es sind […]. Je teurer
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Nach Berechnung des MIT setzt „das Training eines Deep-Learning-Programms so viel CO2 frei wie fünf Autos in ihrer gesamten Lebensdauer“ (Eichhorn 2019).
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nämlich die Wohnhäuser werden, desto billiger sehen sie aus. Je exaltierter der Preis, desto einfältiger die Erscheinung […] Es geht allein um den Profit, und entsprechend plump sehen die Bauten aus. Gigantische Summen fließen in Grund und Boden, Stahl und Glas und in die Kassen der Spekulanten – während die Häuser immer verhärmter aussehen. Es ist ein Reichtum, der viele arm macht: Ärmer werden die, die mehr Miete zahlen denn je […]. Und so zwängt sich die ‚Gesellschaft der Singularitäten‘ […] ins Ghetto der Tristesse.“ (Reckwitz 2018)
Jörn Köppler, Architekt und Lehrbeauftragter an mehreren europäischen Hochschulen, fragt deshalb: „Wo bleibt denn hier das Schöne?“ und antwortet: „Es ist, als hätten die Verhältnisse uns und, was noch schlimmer ist, auch unsere Werke dressiert zu einer rigide-stummen Konformität, welche den Ausdruck von neueren Stadtarchitekturen wie dem Potsdamer Platz in Berlin bis hin zu der Hafencity in Hamburg bestimmt“ (Köppler 2019). Europas Alternative ist die „europäische – auch das Politische und das Wirtschaftliche einschließende – Kultur, nicht als museales oder touristisches Ereignis […]. Europas Stern ist seine Kultur und die gelebte Klarheit über die kulturelle Form und das kulturelle Wesen der modernen Welt“ (Mittelstraß 2016, S. 48; Rüttgers 2017b, S. 149ff.). Notwendig ist also eine Alternative für die europäische Stadt, die nicht durch Computer, Monopolfirmen und Bürokratien total überwacht und dann fremdbestimmt wird. Jeder Teil unseres Lebens darf nicht wie in den USA diskutiert, datenbasiert und „von einer neoliberalen Seite der Optimierung gedacht“ werden. „Die Stadt macht [dort] einen mathematischen Wert zum Maßstab der Politik“ (Lobe 2019b). Sie darf auch nicht Objekt einer Totalüberwachung der Bürger wie etwa durch die Parteidiktatur in China werden. Die Prognose der UN über die Wachstumsraten der Erdbevölkerung nimmt keine Rücksichten auf die in tausenden Jahren entstandene Struktur und Kultur des ‚European way of life‘. Sie ist eine Prognose von Technokraten. Europa will, Europa braucht keine Einheitsstädte. Es braucht keine Metropolregionen. Es braucht neue Ideen, Mut zur Zukunft, Forschung und Technologie, Wissen und Innovation sowie Städte und ländliche Regionen, in denen man gerne lebt. Eine Stadt braucht wie auch der ländliche Raum im Zeitalter der Digitalisierung • eine demokratische Legitimation durch die Bürgerinnen und Bürger, • eine offene Verwaltung, deren Entscheidungsgrundlagen transparent sind, • eine Energieversorgung, die nicht nur klimaneutral ist, sondern die Klimafrage nicht von der sozialen Frage abkoppelt, • eine Entsorgungswirtschaft, die nachhaltig ist und die Gesellschaft nicht entmündigt, • eine Gesellschaft, die souverän sein kann, weil sie gebildet, ausgebildet und innovativ ist, • einen Raum, in denen Menschen sicher leben können, • die Möglichkeit, jedem Arbeit und Einkommen im Rahmen seiner Fähigkeiten und Fertigkeiten zu geben und denjenigen, die Hilfe brauchen, nicht verwehrt (Cremer 2016, S. 10).
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Eine solche Stadt ist auch in Zukunft ein Raum der Freiheit, in der jeder weiß, dass die Stadtgesellschaft „kein Objekt ist, das man ‚instrumentell‘ verordnen kann, sondern das nach einer eigenen Logik funktioniert, die man mit den eigenen Waffen schlagen muss: politisch, ökonomisch, wissenschaftlich und im Hinblick auf die Bedingungen von Verhaltensänderungen, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts als soziale Frage bezeichnet wird“ (Nassehi 2019). Auch für den ländlichen Raum bietet die digitale Welt, zu der die vielen Dörfer, Gemeinden und mittleren Städte bereits heute gehören, viele neue Chancen. Aber auch hier gibt es keine Patentlösungen. Jede Gemeinde und jedes Dorf müssen ihren eigenen Weg finden, nicht gegen die Städte, sondern mit den Bürgern. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.5 Europa braucht wieder mehr Mut zur Entwicklung der europäischen Städte und der ländlichen Räume.
Literatur Balser, M. (2019). Abgehängte Regionen – Rostgürtel an der Ruhr. 08. August 2019. Süddeutsche Zeitung. https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/abgehaengte-regionen-rostguertel-an-derruhr-1.4557221. Zugegriffen: 07. September 2020. Cremer, G. (2016). Armut in Deutschland. Bonn: bpb. Cremer, G. (2018). Deutschland ist gerechter als wir meinen. Eine Bestandsaufnahme. Bonn: bpb. Eichhorn, Ch. von (2019). Weg in die Winzigkeit. 13./14. Juli 2019. Süddeutsche Zeitung, S. 34‒35. Europäische Kommission (2018). Re-Finding Industry – Defining Innovation, Report from the Independent High-Level Group on Industrial Technologies. Februar 2018. Brüssel. https://ec.europa. eu/research/industrial_technologies/pdf/re_finding_industry_022018.pdf. Zugegriffen: 07. September 2020. Europäische Kommission (2019). ‘The human-centred city: Opportunities for citizens through research and innovation’ – Report from the High-Level Expert Group on Innovating Cities. Brüssel. Gabriel, S. (2019). Europas Souveränität. Oder: Was uns Europa wert ist (Geleitwort). In J. Rüttgers (Verf.), Guten Morgen, Europa! (S. 5‒12). Baden-Baden: Tectum. Gropp, R. E. (2018). Miese Luft bei bester Oper. 26. November 2018. Frankfurter Allgemeine Zeitung, S. 16. Köppler, J. (2019). Wo bleibt denn bitte hier das Schöne? 16. Januar 2019. Frankfurter Allgemeine Zeitung, S. 12. Lobe, A. (2019a). Cyberfossiler Kapitalismus. 07. Oktober 2019. Süddeutsche Zeitung, S. 11. Lobe, A. (2019b). Von Maschinen lernen – Wie Technologiekonzerne die Stadt optimieren wollen. 08. Januar 2019. Süddeutsche Zeitung, S. 11. https://www.sueddeutsche.de/digital/smart-citiesalgorithmen-daten-stadtplanung-1.4277905. Zugegriffen: 07. September 2020.
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Für Georg Cremer (2018) kann dies mit einer Mischung aus staatlicher Sorge für ein Mindestmaß an Daseinsvorsorge und persönlichem Engagement der Menschen, die weiterhin dort leben wollen, ebenso in Initiativen für einen Dorfladen, Nachbarschaftshilfe und Fahrgemeinschaften sowie anderen innovativen Ideen das öffentliche Leben wieder attraktiver machen.
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Matzig, G. (2019). Wer drin ist. Süddeutsche Zeitung. 15. Februar 2019. https://www.sueddeutsche. de/kultur/architektur-wer-drin-ist-1.4331722?reduced=true. Zugegriffen: 07. September 2020. Mittelstraß, J. (2016). Europa? – Europa! Conturen 2016, 48. Morozov, E. (2017). Demokratische Kontrolle? Übernehmen wir auch gerne! 25. Oktober 2017. Süddeutsche Zeitung, S. 11. Nassehi, A. (2019). Denkfaule Demokratieverächter. 02. August 2019. Süddeutsche Zeitung,, S. 9. https://www.sueddeutsche.de/kultur/klimawandel-gesellschaft-nassehi-1.4548621?reduced=true. Zugegriffen: 07. September 2020. Ramakrishnan, V. (2019). Künstliche Intelligenz, Werden Computer unsere Oberherren sein. 17. Juli 2019. Süddeutsche Zeitung, S. 11. https://www.sueddeutsche.de/kultur/ki-kuenstliche-intelligenz-computer-1.4526721?reduced=true. Zugegriffen: 07. September 2020. Rauterberg, H. (2019). Die Heimsuchung. 23. Mai 2019. Die Zeit, S. 41‒42. https://www.zeit. de/2019/22/wohnungsbau-architektur-haeuser-baugeschichte-aussehen. Zugegriffen: 07. September 2020. Reckwitz, A. (2018). Die Gesellschaft der Singularitäten. Berlin: Suhrkamp. Rüttgers, J. (2017a). Geschichte und Zukunft des Vereinten Europas. In J. Rüttgers & F. Decker (Hrsg.), Europas Ende, Europas Anfang, Neue Perspektiven für die Europäische Union (S. 17‒30). Frankfurt am Main: Campus. Rüttgers, J. (2017b). Mehr Demokratie in Deutschland. Berlin: B&S Siebenhaar. Rüttgers, J. (2019). Die Interventionswut des Staates lähmt die Wirtschaft. 18. Februar 2019. Die Welt. https://www.welt.de/print/die_welt/debatte/article188965681/Gastkommentar-Die-Interventionswut-des-Staates-laehmt-die-Wirtschaft.html. Zugegriffen: 07. September 2020. Wagner, G. (2017). Stadt, Land, Kluft. 04. Oktober 2017. Frankfurter Allgemeine Zeitung, S. N4. Welzer, H. (2019). Fröhliche Unbedarftheit in Sachen Wirklichkeit. 15. August 2019. Die Zeit, S. 6. https://www.zeit.de/2019/34/digitalisierung-kuenstliche-intelligenz-algorithmen-denkendummheit. Zugegriffen: 07. September 2020.
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Die Sehnsucht nach Zukunftspolitik im Zeitalter der Politikverdrossenheit Karsten Rudolph Die Sehnsucht nach Zukunftspolitik
„Die Erziehung zur Demokratie vollzieht sich in der Ausübung der demokratischen Praxis selbst.“ (Norberto Bobbio)
Die Schönheit der Politik Der Bürgermeister Roms, Walter Veltroni, machte 2006 mit einem Vortrag in Italien Furore. Im Vorfeld schon wegen des eigenwilligen Titels: „Die Schönheit der Politik“. Spektakulär war, dass der Vortrag die Veranstaltungssäle mit Eintritt zahlenden Bürgerinnen und Bürger füllte (Veltroni 1995, 2006; La Repubblica 2006).1 Dies in einem Land, in dem das Parteisystem des Kalten Krieges implodiert war, gerade ein rechtspopulistischer Medienzar nach der Macht strebte, und in dem die Politikverdrossenheit ein festes Zuhause hatte. Indem Veltroni unvergessliche Reden, Bilder und Auftritte von Politikern zeigte, brachte er das Publikum zum Staunen. Und damit beginnt bekanntlich jede Schönheit. Dabei zeigte sich einmal mehr: Politikverdrossenheit hängt eng zusammen mit einer ungestillten Sehnsucht nach Politik – genauer: nach einer neuen Politik, einem anderen Stil und unverbrauchten Führungsfiguren. Eben dies ließ sich bei den US-Präsidentschaftswahlen drei Jahre später beobachten. Die überwiegende Mehrheit der Amerikaner war der ‚imperialen Präsidentschaft‘ George W. Bushs überdrüssig geworden. Dennoch glaubten alle professionellen politischen Beobachtern, es käme wieder zu einem der üblichen Personalwechsel innerhalb des politischen Establishments. In einem solchen Szenario wären Mitt Romney oder John McCain der Demokratin Hillary Clinton gegenübergestanden. Es kam bekanntlich ganz anders. In den Vorwahlen der Demokraten lehnten sich vor allem die jüngeren Parteiaktivisten gegen ein Weiter-So auf und mobilisierten in einer Graswurzelbewegung erfolgreich für einen jugendlichen Senator aus Chicago. Das „Yes, we can“ Barack Obamas setzte sich überraschend gegen die gut geölte Wahlkampfmaschine der früheren First Lady durch.
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In den folgenden Betrachtungen greife ich das Thema eines Vortrags auf, den ich vor der Evangelischen Akademie Loccum unter anderen Aspekten fortgeführt habe (Rudolph 2010).
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_20
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Die Republikaner reagierten ebenfalls auf die Krise des von George W. Bush gepflegten und in weiten Teilen der Wählerschaft obsolet gewordenen Regierungsstils. Der Sieger der Vorwahlen, John McCain, der als hemdsärmelig und pragmatisch galt, trat bezeichnenderweise mit einer Außenseiterin als Running Mate an, der Gouverneurin des kleinen und von Washington nicht räumlich weit entfernt gelegenen Bundesstaates Alaska. Doch die Jungkonservative stellte sich schon bald nach der verlorenen Wahl gegen ihn. Sarah Palin wurde zum Gesicht der rechtspopulistischen Tea-Party-Bewegung, die den innerparteilichen Boden für Donald Trump in der Grand Old Party bereiten sollte. Die wachsende Verdrossenheit der US-amerikanischen Wähler über eine überdehnte Politik, die die Vereinigten Staaten als alleinigen Hüter der Weltordnung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts einsetzte und dabei die Bewältigung drängender innenpolitischer Herausforderungen aufschob, ging Hand in Hand mit einer wachsenden Sehnsucht nach einer anderen Politik in einem umfassenden Sinn. Während kundige Beobachter der amerikanischen Politik über viele Jahre kaum einen substanziellen Unterschied zwischen den beiden Parteien ausmachen konnten, ja noch nicht einmal über Parteien im eigentlichen modernen Sinn sprechen wollten, kam es zu einer gleichsam nachholenden Parteibildung und raschen Polarisierung, die die Form einer regelrechten Blockbildung mit stabilen Milieubindungen annahm. Die Wahlen wurden nicht mehr über die Mitte, sondern über die Flügel gewonnen. In Veltronis Vortrag über die besonderen Momente der Politik kam auch Barack Obamas Convention-Rede vor. Hätte er seine Vortragsreihe fortgesetzt, dann wäre darin vielleicht stattdessen seine erste Inauguration-Rede untergekommen. Denn auch sie hätte einen Beweis dafür geliefert, wie betörend schön Momente der Politik manchmal sein können. In seiner Antrittsrede hatte der neu ins Amt gelangte afroamerikanische Präsident an die berühmte Gettysburg-Rede Abraham Lincolns angeknüpft, um „A New Birth of Freedom“ anzukündigen. Auch Barack Obama war klar, dass es um nichts weniger als um einen Neuanfang in der amerikanischen Politik gehen müsse, um deren Widersprüche und Blindstellen aufzufangen. Deswegen bot er anderen Nationen eine neue Partnerschaft an, betonte damit den multilateralen Ansatz seiner Außenpolitik und führte Themen wie eine stärkere Rolle des Staates in der Wirtschaft ein, unterstrich die Bedeutung der USStaatsbürgerschaft und kündigte eine große Gesundheitsreform an. Vor allem aber stand das mobilisierende Credo, die konventionelle repräsentative Politik von unten bewegen, verändern und verbessern zu können. Was immer daraus in den acht Jahren seiner Präsidentschaft im Einzelnen wurde: die Rechtspopulisten setzten dem unverzüglich ihr „I want my country back“ entgegen (Levitsky & Ziblatt 2018, S. 184ff.), und im Nachhinein erscheint der knappe Wahlsieg Trumps nicht mehr ganz so zufällig, wie er noch bei der Wahlauszählung gewirkt hatte. Er war nicht weniger als ein Doppelsieg aus dem Lehrbuch des Populismus – zunächst gegen das Establishment der eigenen Partei, dann gegen das Establishment der politischen Klasse in Washington. Obama und Trump – so scheint es – verdanken ihren überraschenden politischen Aufstieg einigen strukturellen Gemeinsamkeiten und ähnlichen Konstellationen. Dennoch unterscheiden sie sich beide sehr: im Auftreten, in Charakter und Stil sowie (selbstredend)
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in den Inhalten ihrer Politik. Der linke Hoffnungsträger trat bescheiden und integrativ, der rechte Hoffnungsträger martialisch und konfrontativ auf. Der eine sprach im Komparativ, der andere im Superlativ. Beide bemühten die Geschichte.
Die Macht der historischen Erzählung Informierte Politik weiß um die tagespolitische Deutungsmacht historischer Erzählungen. In den Inaugurationsreden der US-Präsidenten ging und geht es stets auch um die Berufung auf historische Traditionslinien, die historische Einordnung der anbrechenden Präsidentschaft und um den Rang des Amtsinhabers in der Reihe seiner Vorgänger. Die Antrittsrede Donald Trumps war die Rede eines Wahlkämpfers. Aber sie war noch mehr. Es war die Rede eines Rächers. In bester rechtspopulistischer Manier versprach er eine Regierung des bislang unterdrückten Volkes gegen die herrschende politische Klasse, in der er sich als der entschiedene und unerschrockene Vollstrecker des unverfälschten Volkswillens vorstellte: „Das Establishment schützte sich selbst, aber nicht die Bürger unseres Landes. Ihre Siege waren nicht eure Siege, ihre Triumphe waren nicht eure Triumphe. Und während sie in der Hauptstadt unseres Landes feierten, gab es für Familien am Existenzminimum in unserem ganzen Land wenig zu feiern“ (Trump 2017; anregende Gedanken zum Thema Populismus: Müller 2016). Aber nicht nur das. Dieses Establishment habe die Grenzen ferner Länder verteidigt, nicht jedoch die Grenzen des eigenen Landes. Und es habe zugelassen, dass fremde Industrien das Land ausgenommen hätten. Trump zeichnete ein mehr als düsteres Bild der Gegenwart. Dagegen setzte er den Schlachtruf seiner Wahlkampagne: „America First!“ Nur, welche bessere Zukunft bot er seinen Landsleuten konkret an? „Wir werden unsere Arbeitsplätze zurückbringen. Wir werden unsere Grenzen zurückholen. Wir werden unseren Wohlstand zurückbringen. Und wir werden unsere Träume zurückbringen.“ Trump bot ein großes „Zurück“ an. Ein Zurück in eine – um mit Benedict Anderson zu sprechen – imaginierte Gesellschaft der Vergangenheit (Anderson 1991). Darin lag das Versprechen seiner Erlösungsrede: die vermeintlich glorreiche Vergangenheit zurück in die Zukunft zu holen. Das zog. Mindestens unter seinen Anhängern. Es zog, weil depravierte, verunsicherte oder enttäuschte Wähler sich eher mit einer Traumwelt des Gestern anfreunden können als mit einem ungewissen Morgen. Dies ist an sich nicht erstaunlich. Erstaunlich und erklärungsbedürftig ist vielmehr, warum so viele Menschen in einem Land, das sich gern als ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten ansprechen lässt, eher in einer scheinbar vertrauten Vergangenheit aufgehoben sehen als in der offenen Zukunft. Diese Frage stellt sich keineswegs allein für die USA. Im Grunde stellt sie sich für sämtliche hochentwickelten Gesellschaften, die als liberale Demokratien verfasst sind. Denn nahezu überall haben sich die Hoffnungen auf eine bessere Zukunft nicht wie gewünscht erfüllt (Judt 2010). Die dystopische Disposition, die man den Deutschen als besonderes Erkennungsmerkmal über Jahrzehnte gerne nachsagte, scheint zu einem internationalen Phänomen, einem Signum 305
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der Epoche, geworden zu sein – „German Angst“ als sozusagen erfolgreichster Exportschlager. Was richtet ein pessimistisches Zukunftsbild – so ist weiter zu fragen – mit demokratischer Politik in liberalen Gesellschaften an, die beansprucht, in der Zukunft Instabilitäten überwinden, Ungerechtigkeiten beseitigen und eine Wende zum Besseren schaffen zu können? Also für eine Politik, die die Zukunft für offen und Gestaltungsmöglichkeiten hält? Obama hatte in seiner ersten Inaugurationsrede genau einen solchen Ansatz gewählt. Zwar malte auch er die Gegenwart in dunklen Farben („Dass wir mitten in einer Krise stecken, wird nun überall verstanden“, Obama 2009), und auch er ging tief zurück in die Geschichte. Doch deutete er sie anders. Er unterschied sich von Trump dadurch, dass er Vorbilder beschwor, die sich zu ihrer Zeit an der Zukunft orientiert hatten, um das Land in Richtung mehr Freiheit und Gerechtigkeit voran zu bewegen: „Sie haben Amerika als etwas Größeres angesehen als die Summe unserer einzelnen Begierden; größer als alle Unterschiede von Geburt, Wohlstand oder Partei. Diese Reise setzen wir heute fort. […] Es ist an der Zeit, unseren ausdauernden Geist zu bekräftigen; unsere bessere Geschichte zu wählen; unser wertvolles Geschenk weiterzugeben, diese erhabene Vorstellung, übermittelt von Generation zu Generation: Das von Gott gegebene Versprechen, dass alle gleich sind, alle frei sind und alle eine Chance verdienen, ihr volles Maß an Glück anzustreben.“
Obama stellte sich in die Tradition von Abraham Lincoln und ließ dessen Gettysburgh Address anklingen, in der 1863 das demokratische Credo der amerikanischen Nation formuliert wurde, nämlich für eine „Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk“ einzutreten. Und er zitierte aus Thomas Paines (Foner 1976) Schrift The Crisis (allerdings ohne dies kenntlich zu machen): „Lasst es der zukünftigen Welt gesagt sein, dass mitten im Winter, als nur Hoffnung und Tugend überleben konnten, Stadt und Land, beunruhigt durch eine gemeinsame Gefahr, zusammenfanden, um ihr zu begegnen.“ Ganz anders Trump. Der kannte in seiner Rede keine wahren Vorgänger und stilisierte sich selbst als den neuen Messias der Nation. Der einzige, an den er sich wenige Monate nach dem Amtsantritt erinnerte, war US-Präsident Andrew Jackson, ein Sklavenhalter und Indianerhasser, dessen Amtszeit er leider nicht datieren konnte (sil 2017). Nun liegt es in der Natur des rechtspopulistischen Anführers, der sich selbst als ein „stabiles Genie“ betrachtet, keine Götter neben sich zuzulassen, und dies betrifft offenbar auch mögliche historische Vorbilder (Leonnig & Rucker 2020). Somit klang bereits in der Antrittsrede an, was sich später als bittere Wahrheit herausstellte, nämlich dass ein Präsident Trump und dessen Gefolgschaft meinen, der Amtsinhaber stünde über den Gesetzen, die für jedermann gelten. Das verfassungsgemäße Impeachment-Verfahren wurde als Insubordination gegenüber dem in der Präsidentschaftswahl ausgedrückten Volkswillen betrachtet (jedenfalls solange der richtige gewählt wurde – bei der Wahl Barack Obamas verhielt es sich anders; Feldman 2020). Obama reihte sich dagegen in die Linie der großen Reformer ein. Er stellte sich auf die Schultern dieser Riesen der nationalen Geschichte und beschwor mit ihrer Autorität den Zauber eines Neuanfangs. Trump appellierte an den Zauber des Vergangenen, der niemals vergehen dürfe. Der eine sprach wie ein Aufklärer, der andere wie ein Aufwiegler. Beide
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nutzten die Deutungsmacht geschichtlicher Narrative, freilich auf jeweils ganz unterschiedliche Art und Weise.
Vor der Zukunft steht die Gegenwart In jüngster Zeit hat der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder zwei Formen ahistorischer Zeitwahrnehmungen kritisiert. Bei der einen gibt es „keine Zeitlinie mehr, die in die Zukunft führt, sondern einen Kreis, der endlos dieselben Bedrohungen der Vergangenheit wiederholt“ (Snyder 2019, S. 14ff.). Sie verbinde sich mit einer „Politik der Ewigkeit“, die zum Beispiel in Russland von Putin mit ideologischem Rückgriff auf den faschistischen Philosophen Iwan Iljin betrieben werde. Ein solches Zeitverständnis ließe sich auch in anderen autoritären Regimen nachweisen, und es lässt sich ebenso auf Trump beziehen, denn: Bei „Ewigkeitspolitikern“ – so Snyder (2019, S. 14ff.) – versinke die Zukunft in der Gegenwart. Der Schlachtruf „Make America great again“, den Trump nach zwei Jahren kurzerhand in „Keep America great“ verwandelte, erscheint auf den ersten Blick wie ein billiger Taschenspielertrick, doch bei genauerer Betrachtung spiegelt sich darin das Dilemma eines Rechtspopulisten an der Macht. Dort angelangt, kann die Gegenwart (und die Amtszeit des Amtsinhabers) nicht mehr enden, eben weil sie permanent durch die gleichen Bedrohungen gefährdet wird – durch Migranten aus dem Süden, die Drogenkriminalität, die chinesische Wirtschaft, die deutsche Automobilbauindustrie, die Demokraten etc. Für Snyder stellt diese „Politik der Ewigkeit“ eine Reaktion auf die „Politik der Unausweichlichkeit“ dar, der der Westen seit 1989 gehuldigt habe, bis sie nach zwanzig Jahren zusammenbrach. Hierbei lief die Gegenwart ständig in die Zukunft über. Sie bestand in der dauernden „Mehrung des Gegenwärtigen“. Es gab – und bedurfte! – keiner Alternativen, denn der Fortschritt entstand gleichsam naturwüchsig aus dem Vorhandenen. Auch hier versinkt die Zukunft in der Gegenwart und brachte Snyder zufolge eine ebenso geschichtsvergessene wie zukunftsblinde Generation im Westen hervor (2019, S. 14ff.). Für die Europäer bestand die lang herrschende politisch-historische Erzählung darin, dass die Geschichte die Nation hervorgebracht habe, diese sich dann, geläutert durch den Krieg, für Integration und Wohlstand entschieden habe. Der amerikanischen Variante dieser Erzählweise zufolge brachte die Natur den Markt, dieser die Demokratie und die wiederum das persönliche Glück eines jeden Bürgers hervor (Hobsbawm & Ranger 1992). Die „Politik der Unausweichlichkeit“ scheiterte in beiden Varianten. Die eine in der Dauerkrise der Europäischen Union, die andere in der Weltwirtschafts- und Finanzkrise 2008. Folgen wir hierin Snyder, dann erscheint die Antrittsrede Obamas als eine direkte Reaktion auf die fatalistische Erzählweise des Westens (2019, S. 14ff.). Obama präsentierte eben keine „Politik der Unausweichlichkeit“, er kämpfte für einen Ausbruch aus dem Gefängnis der Gegenwart und beschrieb die Krise als Chance auf eine bessere Zukunft. Damit brachte er Geschichte in Bewegung. Seinen Fortschrittsoptimismus begründete er mit den erfolgreichen Reformanstrengungen in der amerikanischen Geschichte, verband 307
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dies mit dem Appell an seine Landsleute, sich selbst zu engagieren und setzte die „Audacity of Hope“ gegen die Angst, die Skepsis, den Pessimismus. Denn dies muss jede progressive Politik tun, die mobilisieren will: auch in dunkelsten Momenten Angst zu nehmen und Hoffnung zu wecken, Skepsis in Zuversicht verwandeln, nicht Sündenpessimismus predigen, sondern Fortschrittsoptimismus versprühen. Darin liegt ein Elixier liberaler Demokratien. In seinem Vortrag erinnerte Walter Veltroni mit gutem Grund an die berühmte Rede Martin Luther Kings aus dem Jahr 1963 – „I Have a Dream“. Diese Rede war an eine bessere Zukunft adressiert. Die vier kleinen Kinder sollten eines Tages den Traum des Vaters, den Traum der Freiheit leben können. In dieser visionären Rede spiegelt sich nach Veltroni der Kern der Politik und ihre Schönheit. Progressive und regressive Redeweisen unterscheiden sich also durchaus in Geschichtsverständnis, Gegenwartsdeutung und in der Haltung zur Zukunft.2
„Ein Stück Machtwechsel“ Deutschland kennt keine Präsidentenreden. Jedenfalls keine Antrittsreden vor großem Publikum mit scharfer Richtungsbestimmung. Es kennt natürlich Grundsatzreden, in denen der Bundespräsident politische Orientierung gibt. Zumeist sind sie einordnend und integrativ angelegt, in jedem Fall überparteilich und bezeichnen insofern nicht das Programm einer bestimmten politischen Strömung. Weil das Amt machtarm ist, kommt es umso mehr auf das gesprochene Wort des Amtsinhabers an. Da es aber bei vielen Anlässen eingesetzt wird, bleiben nur wenige Reden im öffentlichen Gedächtnis haften. Am ehesten unvergessen ist die Ansprache Richard von Weizsäcker, gehalten am 8. Mai 1985 anlässlich des Kriegsendes vor 40 Jahren in einer Gedenkstunde im Deutschen Bundestag. Sie erregte im In- und Ausland enormes Aufsehen, weil das deutsche Staatsoberhaupt im Ende des Krieges nicht eine Niederlage der Deutschen sah, sondern deren Befreiung vom Nationalsozialismus (Weizsäcker 1985). In Erinnerung geblieben ist danach noch die Berliner „Ruck-Rede“ Roman Herzogs, gehalten im Berliner Hotel Adlon 1997, in der der Präsident allen gesellschaftlichen Gruppen Veränderungen abverlangte, um eine neue Dynamik zu entwickeln, mit der die Bundesrepublik an den Fortschrittsglauben, den er in den USA auszumachen glaubte,
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Der deutsche Historiker Jörn Rüsen (1990, S. 153‒230) unterscheidet mehrere Typen historischen Erzählens. Sie können uns helfen zu verstehen, wo die Unterschiede zwischen einer regressiven und einer progressiven Erzählung, zwischen einem der Vergangenheit und einem der Zukunft zugewandten Politikverständnis liegen. Danach ähnelt die Erzählung Trumps einem vormodernen, „traditionalen Erzähltypus“, bei dem die Zukunft als bloße Verlängerung der Vergangenheit begriffen wird. Die Redeweise Obamas gebleicht dem Idealtypus des „genetischen Erzählens“, die nicht mit der Vergangenheit bricht und Fortschritt für möglich hält.
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anknüpfen sollte. Bei beiden politischen Reden handelte es sich allerdings nicht um Amtsantrittsreden (Herzog 1997). Und doch lässt sich eine Aufsehen erregende Antrittsrede eines deutschen Bundespräsidenten finden, die einen politischen und gesellschaftlichen Aufbruch markierte und somit in der Linie einer progressiven Redeweise stand. Gehalten wurde sie von Gustav Heinemann, dem dritten Bundespräsidenten in der Bundesrepublik, einem liberalen Sozialdemokraten. Im Dritten Reich hatte er sich in der Bekennenden Kirche betätigt, nach dem Krieg gegen die Wiederaufrüstung ausgesprochen und in der Friedensbewegung engagiert. Der Ernstfall war für ihn nicht der Krieg, sondern der Friede und die Verweigerung des Kriegsdienstes ein Bürgerrecht. Als Justizminister setzte er sich für die Liberalisierung des Strafrechts ein und bekundete Verständnis für die Außerparlamentarische Opposition, ohne sich mit ihr gemein zu machen. Gustav Heinemann kam als Kandidat für das Bundespräsidentenamt überraschend ins Spiel. Ursprünglich suchte man in der Großen Koalition einen Kandidaten, der zwar aus der SPD kommen, aber von der Union akzeptiert werden sollte. Dem beliebten katholischen Gewerkschafter Georg Leber wurden die größten Chancen auf das Amt eingeräumt. Leber war Verkehrsminister der Großen Koalition und wurde vom mächtigen Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, Herbert Wehner, protegiert. Doch nachdem sich die CDU angesichts überraschender Erfolge bei Landtagswahlen wieder im Aufwind sah, begann sie in den eigenen Reihen nach einem geeigneten Kandidaten zu suchen. Jetzt kam Heinemann ins Spiel, der – so schreibt Edgar Wolfrum – „in der SPD mittlerweile ebenso beliebt, wie er in der Union seit jeher verhasst war“ (2006, S. 365), hatte dieser doch mit Adenauer gebrochen, die CDU verlassen und mit der GVP eine eigene Partei gegründet, die sich mangels Erfolg bald wieder aufgelöst hatte. Heinemann war daraufhin mit Dieter Posser, Johannes Rau, Erhard Eppler und anderen in die SPD gegangen. In die Bundesversammlung waren mittlerweile auch Vertreter der NPD eingezogen. Bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg waren die Rechtsextremen im April 1968 auf fast zehn Prozent der Stimmen gekommen (Tagesschau o. J.). So konnte sie bei der Wahl des Bundespräsidenten das Zünglein an der Waage bilden, also in eine Schiedsrichterrolle geraten, die ihr die demokratischen Parteien keineswegs zuerkennen wollten. Letzten Endes konnte dies nur vermieden werden, wenn sich die FDP entweder geschlossen für den Kandidaten der Union oder den Kandidaten der SPD entschied. In der Nacht des 5. März 1969 schwenkte die FDP endlich geschlossen auf Heinemann über, nachdem ihr zuvor von Wehner versprochen worden war, dass die SPD eine Wahlrechtsreform, die den Liberalen massiv geschadet hätte, vom Tisch nehmen würde. So gelangte Heinemann im 3. Wahlgang mit 512 gegen 506 Stimmen ins Amt (Bundesarchiv 2019) und kündigte wenige Tage später in einem Interview „ein Stück Machtwechsel“ an (Spiegel 1969). Worin dieser Machtwechsel bestehen sollte, legte er in einer Aufsehen erregenden, weil für ein bundesdeutsches Staatsoberhaupt ungewohnt politischen Antrittsrede dar. In ihr erteilte Heinemann dem Obrigkeitsstaat, der in das Verhängnis des Dritten Reiches geführt habe, nicht nur eine Absage. Er versprach, ihn endlich abzutragen, um dem „mündigen Bürger“ Gehör zu verschaffen. Wörtlich sagte er: 309
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„Wir stehen erst am Anfang der ersten wirklich freiheitlichen Periode unserer Geschichte. Freiheitliche Demokratie muss endlich das Lebenselement unserer Gesellschaft werden […] Nicht weniger, sondern mehr Demokratie – das ist die Forderung, das ist das große Ziel, dem wir uns alle und zumal die Jugend verschrieben haben. […] Es gibt schwierige Vaterländer. Eines davon ist Deutschland. Aber es ist unser Vaterland.“ (Heinemann 1975, S. 16‒17)
Diese Rede bildete das Fanal für den Aufbruch in eine neue Ära. Sie brach mit der Adenauer-Zeit und eröffnete die Perspektive auf eine moderne Bundesrepublik. Von einer „Umgründung der Republik“ sprechen Historiker im Nachhinein (Görtemaker 1999, S. 475ff.). Heinemann, der „Bürgerpräsident“ und nicht „Staatsoberhaupt“ sein wollte, belegte mit seiner konzisen Rede, dass es so etwas wie Schönheit in der Politik gibt. Politik ist – so spürten es seine Anhänger wie Gegner – kann manchmal mehr sein als das, was möglich erscheint. Für die republikanische Vordenkerin Hannah Arendt, auf die Veltroni in seinem Vortrag Bezug nahm, hieß Politik stets auch, Neues zu wagen (Arendt 1993, S. 35). Heinemann wagte etwas Neues – und es war dies, was sich viele Bürger in diesem Moment von der Politik wünschten. Die für westdeutsche Verhältnisse ungewöhnliche Rede Heinemanns löste lauten Widerspruch aus konservativen Kreisen aus. Überlagert wurde sie dann durch die Regierungserklärung Willy Brandts vom 28. Oktober 1969, die wesentliche Punkte der Antrittsrede Heinemanns aufgriff – bis hin zu der berühmten Formel „wir wollen mehr Demokratie wagen“ (Brandt 1969). Alle drei Präsidentenreden bezogen einen Teil ihrer Wirkung daraus, dass sie einen Kontrast zum Auftreten des jeweiligen Bundeskanzlers bildeten. So sprach Heinemann gegen Kurt Georg Kiesinger, der 1933 in die NSDAP eingetreten war und die zwanzig Regierungsjahre der Union um weitere vier Jahre verlängern wollte. Von Weizsäcker und Herzog sprachen gegen Helmut Kohl. Der eine gegen dessen verunglückte Geschichtspolitik in den Anfangsjahren seiner Kanzlerschaft, der andere gegen dessen Aussitzen von Problemen in der Schlussphase seiner Amtszeit. Einen unmittelbaren politischen Umschwung – einen „Machtwechsel“ – bewirkte nur Heinemann. Folgerichtig griff Bundeskanzler Willy Brandt in seiner Regierungserklärung nach der Bildung der sozialliberalen Koalition Worte und Ton des Bundespräsidenten auf. Wie dieser wandte er sich entscheiden gegen eine – wie Timothy Snyder nennt – „Politik der Unausweichlichkeit“, für die nur sein kann, was bereits ist.
Der Sinn von Politik Hannah Arendt hat gemeint: „Der Sinn von Politik ist Freiheit“ (1993, S. 28, 77ff., 123ff.). Allein im politischen Handeln sei die Freiheit des Menschen möglich. Es entstehe im öffentlichen Austausch unterschiedlicher, aber gleicher und freier Menschen. In totalitären Systemen ist danach Politik unmöglich, weil es keine Freiheit gibt. Aber auch Rechtspopulisten – so wäre anzufügen – arbeiten an der Zerstörung der Politik und somit der Freiheit, indem sie ein Handeln behindern, mit dem eine gemeinsame Zukunft überhaupt gewonnen
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werden kann. Wenn Populisten an ein vermeintlich homogenes Volk appellieren, unterminieren sie den politischen Diskurs, der eben Pluralität und das gewaltfreie Austragen von Konflikten voraussetzt (Müller 2016, S. 115). Politik im Sinne Arendts ist immer auch ein Versprechen auf die Zukunft. Nun zeigt sich, dass die Antrittsrede Barack Obamas, die „A New Birth of Freedom“ ankündigte, in der Denktradition Arendts steht. Obama redete über die Zukunft. Der Rechtspopulist Trump dagegen sprach über die Gegenwart der Vergangenheit. Dies unterschied ihn von Obama. Der US-Präsident konnte sich auf freiheitliche Traditionen seines Landes berufen, die in den Schulen vermittelt wurden. Für den bundesdeutschen Präsidenten galt dies 1969 mitnichten. Heinemann sah in der deutschen Revolutionsbewegung von 1848/49 den Ausgangspunkt einer freiheitlichen Tradition, die es für die historische Forschung und politische Bildung erst noch zu erschließen gelte. Insofern hing der durch einen Machtwechsel ermöglichte Neubeginn der zweiten deutschen Demokratie mit der nachträglichen Entdeckung eigener demokratischer Traditionen zusammen. Kehren wir noch einmal zum Vortrag Veltronis zurück. Veltroni argumentiert in ihm vom Anfang bis zum Ende gegen die Selbstverzwergung der Politik – gegen eine Politik, die Macht zum Zweck erhebt und nicht als Mittel für Ziele ansieht. Veltroni plädiert für den Wiedereinzug von Ideen und Idealen, Werten und Leidenschaften, Überzeugungen und Plänen in die konkrete Politik. Nicht Holz hacken, sondern Bäume pflanzen – das sei die Aufgabe einer überzeugenden Politik. Nicht, dass Veltroni die praktische Politik geringschätzt. Nur: Kleine Politik mache die Gesellschaft kompliziert, große Politik mache sie einfach. Diesen Widerspruch löst Veltroni mit dem französischen Historiker und Politiker Alexis Tocqueville auf und betont, gute Politik speise sich stets aus zwei Quellen gleichermaßen: aus Überzeugungskraft und aus Handwerkskunst. Vermutlich ist es das, was wir in der deutschen Politik so sehr vermissen, wenn wir in diesen Tagen an unsere Zukunft denken.
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Das Vermächtnis der Arbeiterbewegung und die Zukunft der Demokratie Thomas Meyer
Das Vermächtnis der Arbeiterbewegung
Nach mehr als einem Jahrhundert der Kämpfe mit stets unsicherem Ausgang, oft der Niederlagen und vieler Opfer, aber auch vieler Siege, hat die demokratische Arbeiterbewegung fast überall in Europa, jedenfalls in Deutschland, politische, soziale und wirtschaftsdemokratische Institutionen errungen, in denen ihre Vertreter Sitz und Stimme haben und täglich Erhebliches im Interesse der arbeitenden Mehrheit der Gesellschaft voranbringen können. Geschaffen wurde ein gutes Stück wirtschaftsdemokratischer, sozialpolitischer und politischer Infrastruktur für die Interessenvertretung der abhängig Beschäftigten und damit die entscheidende Erweiterung und Ergänzung der liberalen zur sozialen Demokratie. Die moderne rechtstaatliche, soziale und partizipative Demokratie – man könnte auch sagen: die Demokratie europäischen Typs – wäre ohne die europäische Arbeiterbewegung, vor allem das Zusammenwirken einer sozialdemokratischen Partei mit demokratisch-reformerischen Gewerkschaften, nicht denkbar. Das zeigt schon der oberflächliche Vergleich mit der libertären Demokratie in den USA, auf deren Entwicklung keine starke Arbeiterbewegung einwirken konnte. Diese Institutionen und die politische Kultur, die sie trägt, sind zu einem fundierenden Bestandteil der europäischen Demokratie geworden, normativ auf ganzer Linie bis hin zum deklarierten Selbstverständnis der Europäischen Union, real immerhin in wirksamem Umfang. In der Bundesrepublik Deutschland gehören sie zum unrevidierbaren Kern der verfassungsmäßigen Ordnung, im Lissaboner Grundlagenvertrag der EU von 2007 immerhin zu den wesentlichen Zielen der gesamten Union. Sie sind der Kern und eine große Teillieferung für das, was wir seit Karl Marx, Ferdinand Lassalle und Eduard Bernstein in der Sache als Soziale Demokratie verstehen und seit Hermann Heller im demokratietheoretischen und verfassungsrechtlichen Sinn auch sehr bewusst so nennen und begründen (1971). Diejenigen Historiker haben ohne Zweifel recht, die sagen: der rechtlich gesicherte Sozialstaat ist neben dem demokratischen Rechtsstaat der bedeutendste Zivilisationsfortschritt der Neuzeit. Es kann keinen Zweifel geben, dass es auf direktem und indirektem Wege nicht das liberale Bürgertum, sondern die demokratische Arbeiterbewegung Europas war, der wir diesen historischen Fortschritt vor allem verdanken. In Europa findet dieser Zivilisationsfortschritt im Begriff der „soziale Bürgerschaft“ als „Inbegriff der sozialen und wirtschaftlichen Grundrechte“, seinen angemessenen Ausdruck (Marshall 1950). Er markiert den gravierenden Unterschied zur Demokratie © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_21
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angelsächsischen Typs, in der freie Wahlen, der formale Rechtsstaat und der freie Markt als zureichende Bedingungen für eine Verfassung der Freiheit gelten. In der sozialen Demokratie hingegen ist dasjenige Verständnis von Freiheit verkörpert, das die Arbeiterbewegung begründet, verfochten und als Grundrecht in Europa und einigen anderen Ländern institutionell durchgesetzt hat. Was den USA stets fehlte, um über einzelne Ansätze zur sozialen Fundierung ihrer Demokratie hinaus, wie dem New Deal in den 1930er-Jahren und der Great Society in den 1960er-Jahren hinaus, soziale Rechte und wirtschaftsdemokratische Strukturen dauerhaft zu institutionalisieren, das war der langwirkende, zielgerichtete Druck eben einer starken und konstruktiven Arbeiterbewegung. Die erst jüngst vergangenen Jahrzehnte neoliberaler Hegemonie und Politik in Europa ebenso wie die ihr gefolgte rechtspopulistische Welle werfen aus aktuellem Anlass die Frage auf, welches Schicksal diese Errungenschaften der sozialen Demokratie und damit der Demokratie selbst erwarten, wenn die ohnehin bereits geminderte Macht der großen Organisationen der historischen Arbeiterbewegung, der reformerischen Gewerkschaften und der sozialdemokratischen Partei weiterhin geschwächt wird? Soziale Demokratie heißt positive Freiheit für alle In den Programmen und Forderungen der Arbeiterbewegung ist in vielen Varianten zum Ausdruck gebracht worden, dass Freiheit im eigentlichen Sinn erst möglich wird, wenn zur negativen Freiheit der Abwehr von Willkür, die dem Liberalismus genügte, die positive Freiheit der gesicherten Verfügung über die elementaren Lebensgüter hinzukommt. Und wenn beide zu anerkannten Grundrechten werden, bei denen zur juristischen Nominalgeltung in wachsendem Maße die politisch durchgesetzte Realgeltung hinzukommt. Diese einfache und klare Norm, die sich aus der Summe der Erfahrungen des Lebens der Arbeiter in klassischen Kapitalismus ergab, ist von Ferdinand Lassalle die „sittliche Idee des Arbeiterstandes“ genannt worden (1970, S. 138). Sie ist zum generativen Kern fast aller Forderungen und Kämpfe der Arbeiterbewegung geworden, denn schon ihr ‚Gründungszweck‘ war ja das Verlangen nach gleicher Freiheit, nicht nur rechtlich (das natürlich auch), sondern auch materiell. Sie wurde auf diese Weise zur Erbin des revolutionären Bürgertums als treibende Energie der Demokratisierung auf dem alten Kontinent. In der sittlichen Idee der Freiheit, wie sie aus der Erfahrungswirklichkeit des „Arbeiterstandes“ hervorging, waren zwei Elemente fest verankert, die den Liberalen fremd waren und blieben: Die materielle Dimension der Ermöglichung eines selbstbestimmten Lebens und die Gleichheit, verstanden als das gleiche Recht aller auf diese ganze Freiheit. Für diese sittliche Idee hat der französische ‚Postmarxist‘ Étienne Balibar die schöne Formel der „Gleichfreiheit“ (Égaliberté) geprägt (2012). Es war das große historische Ziel der Arbeiterbewegung, mit der Forderung einer solchen inneren Verbindung von Freiheit und Gleichheit im ganzen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben nicht nur einzelne sozialpolitische und arbeitsrechtliche Konzessionen zu erkämpfen, sondern aus ihr ein sicher verbrieftes Recht werden zu lassen, das berühmte „des Menschen Rechte“ aus dem alten Kampflied. Es ist leider ein sogar in den Gewerkschaften und linken Parteien nicht sonderlich verbreitetes Wissen, dass die verbindliche Etablierung eines solchen umfassenden Menschen-
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rechts ein Jahrhundert nach der Entstehung der Arbeiterbewegung tatsächlich gelungen ist. Freilich erst, nachdem die Weltwirtschaftskrise der 1920er-Jahre mit ihren Folgen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs drastisch und unleugbar demonstriert hatte, dass der sozial nicht gebändigte Kapitalismus ohne wirksame soziale Grundrechte am Ende nicht nur sich selbst, sondern die ganze Gesellschaft zerstören kann – so wie es die führenden Köpfe der Arbeiterbewegung immer vorausgesagt hatten. Der historische Durchbruch gelang in einer Zeit, als diese kapitalismuskritische Erkenntnis überall in Europa – Ost und West – die Geister bis weit hinein ins aufgeklärte Bürgertum einen historischen Augenblick lang beherrschte. In Deutschland erklärte selbst die CDU in ihren „Frankfurter Leitsätzen“ 1946 bündig: „Die abendländische Idee der Freiheit verlangt den Sozialismus“. Mehr hatten auch die demokratischen Sozialisten nie verlangt. Das war die kurze Zeit, in der fast überall in Europa der historische ‚sozialdemokratische Kompromiss‘ gelang: der Verzicht auf flächendeckende Sozialisierung und Marktregulierung im Tausch gegen die soziale Einbettung des Produktionsmitteleigentums, einen umfassenden Sozialstaat und die qualifizierte Mitbestimmung im Unternehmen, also die Grundlagen der Wirtschaftsdemokratie. Ein Kompromiss, der in Deutschland bis vor Kurzem kulturprägend und verhaltensbestimmend auf beiden Seiten des Kapital-Arbeit-Konflikts war und bleibende Institutionen ausgebildet hat. Er hat jedoch jüngst unter dem Druck der Agitation und der Praxis der neoliberalen Globalisierungspolitik folgenreich gelitten. Der demokratisch sozialistische Moment der Nachkriegszeit hatte in seiner Hochzeit die Erklärung der Menschenrechte von 1948 beeinflusst, die erstmals soziale Freiheitsrechte enthielt, wenn auch nur in groben Zügen und rein deklarativ. Seine eigentliche historische Wirkung entfaltete dieser Moment wegen der langen Debatten und dem intensivem Ringen erst 1966, als die 1948 begonnene Arbeit an einem vollständigen Katalog universeller Grundrechten zu einem ebenso erstaunlichen wie unterschätzten Dokument führte, den Covenants on Basic Rights (UN 1966). In ihnen sind in größerem Detail und größerer Vollständigkeit als in allen sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Programmen bisher die sozialen und wirtschaftlichen Grundrechte entfaltet. Sie stehen dort gleichrangig neben den bürgerlichen und politischen Grundrechten und vor allem: sie haben völkerrechtliche Gesetzeskraft erlangt. Die komplette Auflistung dieser Grundrechte liest sich wie die Entfaltung einer sehr konkreten Utopie der Sozialen Demokratie. Sie verlangen die materiell umfassend abgesicherte Gleichheit der materiellen Lebenschancen durch einen inklusiven universalistischen Sozialstaat, eine sozial geschützte und mitbestimmte Arbeitswelt, und im Ansatz sogar eine demokratisch regulierte Wirtschaft mit dem Recht auf Arbeit. Wenn es stimmt, was der Historiker Samuel Moyn (2010) konstatiert, dass die universalistischen Grundrechte die letzte mögliche große Utopie sind, konkret, tiefgreifend, prinzipiell einlösbar, erfahrungsoffen und zugleich in ihrem Versprechen von sozialer Freiheit und Gleichheit normativ unüberbietbar, dann hat die Arbeiterbewegung damit im Hinblick auf den Geltungsanspruch ihrer Ziele einen beispiellosen historischen Sieg errungen. Mit Blick auf die Zunahme der autoritär-rechtspopulistischen Kräfte diesseits und jenseits des Atlantik, die mit erstaunlichem Erfolg den Anspruch erheben, für die alten und neuen sozialen Fragen angesichts 315
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der Auswirkungen einer kaum regulierten Globalisierung über bessere Antworten zu verfügen als die Sozialdemokraten, regen sich Zweifel, ob dieser Sieg von Dauer sein wird. Es liegt auf der Hand, dass der normative Erfolg der Arbeiterbewegung gleich zwei Pferdefüße hat, denn zum einen entsprechen diese Rechtsnormen bisher nur in wenigen Ländern zumindest im Ansatz der Lebenswirklichkeit, und zum anderen erweisen sich in jüngerer Zeit die sozialen und demokratischen Fortschritte auch dort, wo sie durch eine starke Arbeiterbewegung weit vorangekommen sind, wie in einigen zentral- und nordeuropäischen Ländern, nirgends als faktisch unantastbar. Das ist eine der Schlüsselerfahrungen der Gegenwart.
Der Blick zurück: die Zähmung des Kapitalismus Es ist diese Erfahrung, welche die aktuelle Lehre aus der Geschichte der Arbeiterbewegung enthüllt. Sie gibt Anlass, den hoffnungsfreudigen reformistischen Deutungsrahmen eines immerwährenden Fortschritts der sozialen Demokratie, wie ihn die alte Arbeiterbewegung so lange hegte, durch ein an Karl Polanyi orientiertes Verständnis seiner ständigen Gefährdung zu ersetzen, ohne zu resignieren (1978). Polanyis Paradigma zog aus der Weltwirtschaftskrise und ihren sozialen Ursachen und Folgen erste Schlussfolgerungen für die Bedeutung des stets wandelbaren Kräfteverhältnisses zwischen den Verfechtern der „Logik des Kapitalismus“ und den Verfechtern der Gegenlogik seiner „sozialen Zähmung“, also den Akteuren und Erben der Arbeiterbewegung (Polanyi 1978, S. xx). Nun zeigt sich, dass eine solche Gefährdung auch ohne den Zivilisationsbruch, wie ihn der Nationalsozialismus darstellte, inmitten der Demokratie akut werden kann. Es gibt im Kampf der Vertreter der sozialen Rechte gegen die Vertreter der reinen kapitalistischen Marktlogik keinen dauerhaften Sieg, entscheidend für den Erhalt oder Verlust aller sozialen Errungenschaften ist immer das tatsächliche Kräfteverhältnis ihrer Verfechter und ihre aktuelle Fähigkeit zur Mobilisierung. Die Illusion, der Kapitalismus könnte eines Tages durch eine komplette Alternative, sozusagen einem ‚System-Switch‘ aus einem Guss ersetzt werden, hat weder eine Stütze in der Realität noch in der Praxis der demokratischen Arbeiterbewegung. Es ist wenig bekannt, dass auch Karl Marx in seiner Rolle als Politiker, als Funktionsträger der Internationalen Arbeiterassoziation der ideelle Initiator des in der wirklichen Arbeiterbewegung immer befolgten Paradigmas der schrittweisen Durchsetzung der sozialen gegen die kapitalistische Logik war, also der schrittweisen Geländegewinne der Arbeiterbewegung im Reich der sozialen Sicherung und der politischen Ökonomie. Im Kommunistischen Manifest von 1848 ist er der Auffassung, die Arbeiter müssten zunächst die Demokratie erkämpfen und in deren Rahmen dann nach und nach die „gesellschaftliche“ Kontrolle des Eigentums an Produktionsmitteln organisieren. Im Jahr 1868 erklärte er zum Acht-Stunden-Tag: „Die Beschränkung des Arbeitstages [ist] eine Vorbedingung, ohne welche alle anderen Bestrebungen nach Verbesserung und Emanzipation scheitern müssen“ (Marx xxxx, S.
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xx). Worauf es ankomme, sei die Brechung der Gesetze der „politischen Ökonomie des Kapitalismus“ durch Reformen zur Durchsetzung der „politischen Ökonomie der Arbeiterklasse“. Deren Prinzip ist nicht die schrankenlose Kapitalverwertung, sondern die „soziale Ein- und Vorsicht“ im Interesse der Arbeitenden (Marx xxxx, S. xx). Damit und an mehreren anderen vergleichbaren Stellen in dieser Zeit skizziert er die Prinzipien einer Reformstrategie zur sozialen Einbettung von Privateigentum an Produktionsmitteln und Märkten in politisch-soziale Gegenstrukturen, die den Einfluss gesellschaftlicher Interessen sichern. Das ist die allmähliche Umwandlung des rohen Kapitalismus in eine sozial und politisch gezügelte politische Ökonomie durch ihre voranschreitende „Vergesellschaftung“, verstanden als Demokratisierung. Markt und Eigentum geraten aus der Rolle von Herren der Gesellschaft allmählich in die von Dienern. Dieses Modell des Ringens zweier entgegengesetzter Logiken um Dominanz innerhalb eines sozial ökonomischen Gesamtsystems erwies sich als die wirkmächtigste Orientierung in der Praxis der Arbeiterbewegung. Ein am Paradigma Polanyis orientiertes Handeln gewinnt heute zusätzliche Aktualität. Dieses Modell ist von anderen Sozialwissenschaftlern nach Marx, besonders von, Eduard Heimann (1929) und Gunnar Adler-Karlsson (1973), systematischer ausgearbeitet und begründet worden. Es war immer die wirkliche Handlungsanleitung der demokratischen Arbeiterbewegung und es bleibt als zentrales Paradigma für die soziale Bändigung des Kapitalismus ohne Alternative. Mit ihm wurden in den drei goldenen Jahrzehnten der Sozialdemokratie nach dem Zweiten Weltkrieg große Erfolge errungen. Zu große, wie schon bald Stimmen aus dem liberalen Gegenlager fanden. Im Jahr 1983 stellte Ralf Dahrendorf dieser Politik seine berühmte Diagnose: Das sozialdemokratische Jahrhundert sei zu Ende, denn die Ziele der Arbeiterbewegung seien fast alle erreicht. Damit hätten sich die sozialdemokratischen Parteien historisch überflüssig gemacht. Die liberale Korrektur am sozialdemokratischen Übermaß sei nun historisch fällig (Dahrendorf 1983). Heute, nach den drei Jahrzehnten neoliberaler Dominanz, die tatsächlich folgten, zeigt sich die Schwäche dieser interessegeleiteten Diagnose. Zu vieles in den Schlüsselbereichen der sozialen Sicherheit, der Einbettung der Märkte, der Parität der Tarifparteien, der sozialen Mobilität, der Chancengleichheit, des Aufstiegsversprechens für alle hat sich seither in die Gegenrichtung zurückentwickelt. Die neoliberale Ära ermöglichte eine „stille Revolution“ unterhalb der Wahrnehmungsschwelle der medialen Öffentlichkeit, die vieles vom ehemals sozialdemokratischen Bild der Wirklichkeit unkenntlich gemacht hat (Streeck 2009). Die Klassengesellschaft und die Dominanz der Märkte sind in vielen Bereichen zurückgekehrt, die soziale Marktwirtschaft ist zu einem neuartigen „Feudalkapitalismus“ (Neckel xxxx) mutiert. Das Leistungsprinzip und das Aufstiegsversprechen, fundamentale Legitimationsnormen unserer Gesellschaft, werden weithin dementiert. Unsere Gesellschaft ist in der neoliberalen Ära zur „Abstiegsgesellschaft“ (Nachtwey 2016), genauer zur „Paternostergesellschaft“ (Reckwitz 2019) geworden. Die einen, die Verlierer der Globalisierung (Neue Arbeiterklasse und die untere Hälfte der Alten Mittelklasse) steigen sozial und kulturell ab, die Gewinner der Globalisierung, die Neue Mittelklasse, steigen sozial und kulturell auf. Die Ungleichheit in einem umfassenden Sinne wächst und mit ihr die soziale und kulturelle 317
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Spaltung. Die einst prägnanten Züge der sozialen Demokratie in der Gegenwartsgesellschaft, die historischen Errungenschaften der Arbeiterbewegung, sind merklich verblasst. Das wirft die Frage auf: Hat sich die demokratische Arbeiterbewegung damit als ein Sisyphus entpuppt? Eine ehrliche Antwort verlangt genaue Differenzierung: ein wenig schon – aber keineswegs nur. Der große Stein des sozialen Fortschritts ist zwar deutlich zurückgerollt, aber keineswegs bis zur Talsohle. Und außerdem: Auch ein sozialer Sisyphus wäre, wie eine realistische Analyse zeigt, im demokratischen Kapitalismus auf seine Art durchaus ein echter Held. Das erklärt Polanyis Paradigma plausibel. Die politische Dialektik zwischen Perioden der sozialen Eindämmung des Kapitalismus und Perioden, in denen dieser einen Teil des an die Gesellschaft verlorenen Terrains durch erneute Expansion der Kapitallogik zurückgewinnt, bis dann die soziale Schmerzgrenze erreicht ist, welche die gesellschaftlichen Energien seiner Eindämmung aufs Neue mobilisieren – sie findet nie ein definitives Ende. Aber es macht den entscheidenden Unterschied, auf welchem Niveau der Rückschritte die soziale Gegenmobilisierung wirksam werden und zu welchen neuen Höhen sie dann führen kann. Heute ist das Pendel viel zu weit ins Unsoziale zurückgeschwungen und die Sozialdemokratie selbst hat ihm das mitunter erleichtert (Finanzmarktliberalisierung, Sozialkürzungen), aber punktuell durchaus auch erschwert (Mindestlohn, Mindestrente). Die Zeit ist also reif für ein „Neues Jahrhundert Sozialer Demokratie“ (Schwan et al. 2018). Objektiv steht nach dem Ende der neoliberalen Episode und dem sozialen Schaden, den sie angerichtet hat, nun ein sozialdemokratischer Moment auf der Tagesordnung. Ideen, Programme, Konzepte dafür gibt es, sie können sich im Wesentlichen auf die Modernisierung und Erweiterung des klassischen Modells der sozialen Demokratie stützen. Aber, die entscheidende und im Kern unbeantwortete Frage lautet: Wo sind heute die mobilisierenden Kräfte, die den Druck für ihre Umsetzung schaffen und dafür auch Mehrheiten an die Wahlurnen und gegebenenfalls auch wieder auf der Straße bewegen? Wo ist eine Gegenmacht wie die einstige Arbeiterbewegung? Was kann heute und morgen an ihre Stelle treten? Denn eine der historischen Lehren der Arbeiterbewegung bleibt ja aktuell: ohne Gegenmacht und Mobilisierung ist sozialer Fortschritt wenig wahrscheinlich und stets fragil.
Neue Konflikte und unklare Begriffe Aber außer dem neoliberalen Rückschritt und der kulturellen, wirtschaftlichen, medialen, wissenschaftlichen und politischen Macht, die ihn treibt, wächst gegenwärtig eine neue Bedrohung heran. Es sind sie weltweit wirksamen Kräfte, Ideen und Verlockungen des autoritären Rechtspopulismus und ihr Eindringen in die Reviere der Arbeiterklasse. Der Historiker Philipp Ther hat plausibel erklärt, wie diese neue Bedrohung gerade aus den Erfolgen des Neoliberalismus hervorgeht (2019). Unsere Gesellschaft, wie von Andreas Reckwitz (2017) fundiert beschrieben, durch die Finanzialisierung, Digitalisierung, Kulturalisierung und Globalisierung wieder schärfere und neu konturierte Konturen einer Klas-
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sengesellschaft zurückgewonnen hat. Die Globalisierung hat, zusätzlich zum fortwirkenden „sozialökonomischen“ einen neuen „sozial-kulturellen Grundkonflikt“ hervorgebracht. Er konfrontiert die eher „kosmopolitisch“ orientierten Globalisierungsgewinner der Neuen Mittelklasse und die eher „kommunitaristisch“ orientierten Globalisierungsverlierer aus Alter Mittelklasse und Neuer Arbeiterklasse (xxxx). Die Merkmale dieser neuen Klassengesellschaft sind durch eine eigentümliche Kombination aus alten Verteilungskonflikten und neuartigen Konflikten um soziale und kulturelle Anerkennung gekennzeichnet. Die Prozesse einer weitgehend unbeherrschten ökonomischen Globalisierung treiben diesen neuen gesellschaftlichen Grundkonflikt hervor mit breit ausstrahlenden sozialen, kulturellen und politischen Wirkungen, die miteinander verschränkt sind. Über die Neubelebung der klassischen Auseinandersetzung über Verteilung, soziale Sicherheit, Teilhabe und Anerkennung hinaus geht es dabei vor allem auch um die Haltung zur Globalisierung und zur Frage der Durchlässigkeit staatlichen Grenzen. Die neuen Konflikte ergänzen die beiden bislang maßgeblichen Gegensätze zwischen Kapital und Arbeit sowie Industrialismus und Ökologie massiv und formen sie mit einer Tendenz zur Verschärfung und ideologischen Aufladung folgenreich um. Auch die neuen Konflikte führen nicht zu einer lückenlosen Polarisierung der ganzen Gesellschaft, aber sie bringen scharf konturierte Pole mit weit gespannten Einflusssphären hervor und beeinflussen damit in wechselnder Eindeutigkeit und Stärke die politische Mentalität des größten Teils der Gesellschaft. Den einen Pol bildet ein unter anderem auf offene Grenzen und ungesteuerte Migration gerichteter „Kosmopolitismus“ (in der sperrigen, in diesem Falle auch problematischen Sprache der Sozialwissenschaften, siehe unten), wie er vor allem in der Neuen Mittelklasse der Globalisierungsgewinner gepflegt wird, den anderen ein auf geschlossene Grenzen und restriktive Einwanderungskontrolle gerichteter „Kommunitarismus“ (vgl. die Klammer oben) als Mentalität der Globalisierungsverlierer. Die einen suchen umfassende Öffnung, weil sie mit ihren beruflichen Fähigkeiten und kulturellen Gewohnheiten davon überall profitieren können, die anderen suchen Schutz für ihre Arbeitsplätze und Anerkennung in der lebenskulturellen Gemeinschaft mit ihresgleichen. Die Gegensätze sind allerdings nur in Nähe der Pole stark und schwächen sich in Richtung Mitte der Gesellschaft immer mehr ab, wo dann Kombinationen aus Elementen beider Mentalitäten häufiger werden. Die Migrationsstudie der Friedrich-Ebert-Stiftung vom April 2019 rundet die bisher erhobene Befunde ab (sie verwendet die Begriffe „Weltoffene“ (WO) und „National Orientierte“ (NO) für die beiden genannten Pole): An den Rändern befinden sich auf der einen Seite 11 % (NO) und der anderen 7 % (WO) der Menschen. Abgeschwächt stehen unter deren Einfluss weitere etwa 14 % (NO) bzw. 19 % (WO), also ca. 25 % der Gesellschaft auf jeder Seite. Die andere Hälfte der Gesellschaft bildet die im Hinblick auf die Streitfragen „bewegliche Mitte“. Angesichts der schwindenden Wahlunterstützung für die „Volksparteien“ (SPD ca. 15 %, CDU/CSU ca. 28 %) sprechen diese Zahlen dafür, dass dem neuen politisch-kulturellen Grundkonflikt um die Gestaltung der Globalisierung und ihrer Folgen für das gesellschaftliche Klima, das Parteiensystem und die Wahlchancen der Parteien ein sehr großes, im Zweifel ausschlaggebendes Gewicht zukommt. Den „kosmopolitischen“ 319
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Pol der Grenzöffner besetzen hierzulande in Reinform Bündnis 90/Die Grünen und die Linkspartei, den „kommunitaristischen“ Pol der Grenzschließer nur die AfD, die anderen Parteien navigieren in diesem Spannungsfeld mit mühsam ausgehandelten Kompromissen und oftmals undeutlichem Kurs. Die eigentliche Wählerschaft der SPD sowie ein großer Teil ihrer Mitgliedschaft erscheint in der Mitte gespalten mit der Tendenz, in die ein oder andere Richtung zu verlieren. Sowohl Sprecher des Rechtspopulismus als auch manche seiner sozialwissenschaftlichen Analytiker haben das unverkennbare Anwachsen der rechtspopulistischen Parteien auf Kosten der schrumpfenden Sozialdemokratie überall in Europa zum Anlass, Erstere mit dem Namen „neue Arbeiterparteien“ zu schmücken. Träfe das zu, so drohte der europäischen Arbeiterbewegung mit einer zynisch-kontradiktorischen Volte ein unerwartetes Ende. Das kann mit Sicherheit vermieden werden, denn auch dieser Konflikt lässt sich produktiv handhaben, freilich nur dann, wenn er zunächst in seinen Ursachen und in seiner Ausprägung vorurteilslos verstanden wird. Der aktuelle Zwischenbefund kann nur lauten: 5. Es gibt in beiden beschriebenen ‚Lagern‘ nur kleine entschiedene Kerngruppen, aber einen weiten Kreis von bloßen Sympathisanten. 6. Die moderate Mitte ist auf beiden Seiten davon nur schwach beeinflusst, aber deswegen keineswegs an der eigentlichen Streitfrage uninteressiert, sondern für differenzierende, ‚gute‘ Kompromisse offen. 7. Es wäre ein folgenreicher Fehlgriff, Personen, die einige Positionen des „Kommunitarismus“ in gemäßigter Form teilen, umstandslos dem „Rechtspopulismus“ zuzurechnen und die „gemäßigt Weltoffenen“ mit den entschiedenen Grenzöffnern gleichzusetzen. 8. Die Gruppe der radikalen Rechtspopulisten ist klein und das Feld für Brückenschläge zwischen den ‚Lagern‘ sehr groß. Ein neuer sozialdemokratischer Kompromiss ist auch für diesen Konflikt möglich – und vor allem notwendig. Nun erweisen sich aber die plakativen Begriffe „Kosmopolitismus“ und „Kommunitarismus“ als überaus hinderlich, wenn es darum geht, das ganze Bild der neuen Konflikte zu verstehen und mehr noch bei der Suche nach tragfähigen politischen Kompromissen zwischen den gemäßigten Mehrheiten der beiden Seiten. Es geht auch nicht um Grenzen allein. Vielmehr führt die ökonomische Globalisierung zu einer Paternostergesellschaft (Reckwitz 2019), in der das obere Drittel, nämlich die Angehörigen der von ihr profitierenden Berufe des Digital-, Finanz-, Beratungs- und Kulturbereichs finanziell und sozial steil aufsteigen und zunehmend auch die lebenskulturellen Standards für die ganze Gesellschaft bestimmen, während die beiden anderen Drittel, die Alte Mittelklasse der kleinen Selbstständigen plus Facharbeiter und die Neue Arbeiterklasse der gering qualifizierten Dienstleistungsberufe nicht nur finanziell stagnieren oder absteigen, sondern zudem eine kränkende Abwertung ihrer Lebensstile und Alltagskulturen hinnehmen müssen. Wer durch seine Ausbildung und kulturellen Möglichkeiten von der Globalisierung profitiert, neigt in der Regel zu einem weltoffenen Habitus in allen Belangen, wirtschaftlich, kulturell und sozial, im persönlichen Lebensstil, Partnerschaft, Freizeit, Kunstgeschmack, Erziehung, politischer Kultur und
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Zuwanderung. Wo hingegen die Globalisierungsfolgen als Bedrohung und Verlust von Einkommen, Sicherheit und Wertschätzung real erfahren werden, prägen Abschließung und Abwehr des Wandels, das Festhalten an der gewohnten Lebenskultur, das Verlangen nach Schutz und die Skepsis gegenüber offenen Grenzen den ganzen Habitus. Das kann nur zu wechselseitiger Fremdheit bis hin zur Verachtung führen. Mit dem hergebrachten ökonomischen Verteilungskampf verbinden sich auf diese Weise nun neue Kämpfe um soziale und kulturelle Anerkennung und um die Frage der Migration, bei denen allerdings die Eliten aufgrund ihrer Einflusspositionen in allen gesellschaftlichen Bereichen, besonders den Massenmedien, der Kultur und dem Bildungssystem die Normen setzen und die Spielregeln bestimmen. Die beidseitigen Ressentiments laden die Konflikte emotional auf und blockieren die Verständigung. Diese neue Lage hatte sich schon seit den 1990er-Jahren schrittweise herausgebildet, ehe dann rund um das Jahr 2015 die stark anwachsende Migration von beiden Seiten zum Sinnbild des beschriebenen Konfliktes gemacht wurde und dessen vielfältige andere Dimensionen verdeckte. Das Symptom der großen Migration mit ihren realen und befürchteten Folgen erschien nun als Ursache der gesamten neuen Konfliktlage. Eine sehr verkürzte Deutung der Lage, die dem Rechtspopulismus direkt in die Hände spielt. In dieser Situation werden die Chancen für Reformen der deformierten Gesellschaft und der politischen Verständigung darüber eher verringert, wenn die äußerst erläuterungsbedürftigen Begriffe „Kosmopolitismus“ und „Kommunitarismus“ zur Kennzeichnung der beiden ‚Lager‘ kommentarlos in die öffentliche Debatte hineingetragen werden. Das Problem dieser Begriffe besteht nicht nur darin, dass sie den skizzierten realen Gegensatz überspitzen, sondern auch darin, dass sie falsche Fährten legen. Die Debatte wird durch sie zu sehr auf die Symbolfrage der Migration verkürzt und so zugleich der eigentliche Konflikt grob verzeichnet. Der Begriff „Kosmopolitismus“ legt, so wie er gegenwärtig verwendet wird, die radikale Abkehr von lokaler Verbundenheit, von den sozialen Gemeinschaften und der nationalstaatlichen Loyalität nahe, obgleich das in der historischen Entwicklung seiner Verwendung und der tatsächlichen Mentalität der gegenwärtig damit beschriebenen Gruppen keineswegs festgeschrieben ist. Und am Begriff „Kommunitarismus“ haftet die Suggestion, die damit Gemeinten seien letztlich allesamt Anhänger einer ethnischen oder religiösen Identitätspolitik, also genau genommen eindeutige Rechtspopulisten, was ausweislich der Umfragedaten und erst recht der Geschichte des Begriffs eben gerade nicht der Fall ist. Diese schiefen Suggestionen vernebeln die politische Landschaft und können zu Exzessen führen, wenn schon Haltungen, die nicht umstandslos auf offene Grenzen und den Verzicht auf strikte Überprüfungen von Asylbegehren hinauslaufen, dem eigentlichen Rechtspopulismus zugerechnet werden – sehr zum Beifall von dessen härtesten Verfechtern. Der politische Begriff des „Kosmopolitismus“ wurde in der beginnenden Moderne maßgeblich von Immanuel Kant geprägt und zwar für die Vision von Bürgerschaft in einer weltweiten „Föderation freier Staaten“, die alle als Republiken national verfasst bleiben sollten, mit dem zugehörigen Regime strikter Grenzkontrollen. Fremde haben in dieser Weltföderation ein weltbürgerliches „Besuchsrecht“ und die Bürger jeder Republik behalten das Recht, sie zum Bleiben einzuladen oder zur Rückkehr aufzufordern – außer 321
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in den Fällen, wo dies „ihren Untergang“ bedeuten könnte. Das genau ist gemeint, wenn von „republikanischem Kosmopolitismus“ die Rede ist (Kant xxxx; Nida-Rümelin 2017). Die Republiken sind national verfasst und bestehen aus Bürgern, die durch ihre auf das Allgemeininteresse gerichteten Tugenden ihr Gemeinwesen gegen alle partikulären Interessen mit demokratischem Geist erfüllen. In diesem Sinne trifft die Bezeichnung „Kosmopoliten“ auf die unbedingten Grenzöffner gerade nicht zu. Er sollte auch für die Verfechter weltweiter Kooperation, prinzipieller Weltoffenheit und globaler Weltbürgerrechte reserviert bleiben. Noch unglücklicher ist die Wahl des Begriffs „Kommunitaristen“ für die Migrationsskeptiker auf der Gegenseite. In seiner philosophischen Verwendung (Walzer xxxx, S. xx) bezeichnet er die Relativität der Geltungsansprüche des „Gerechten“ und „Guten“ auf die jeweilige kulturelle Gemeinschaft, die ihn trägt. Freilich schließt das auch weiträumige Überlappungen im Verständnis grundlegender Werte zwischen sehr verschiedenen kulturellen Gemeinschaften nicht aus, wie etwa in Walzers Vorstellung einer kulturellen Gemeinschaft des politischen Liberalismus. Der politische Kommunitarismus aber, um den es im vorliegenden Zusammenhang geht, bezieht den Gemeinschaftsanspruch ausschließlich auf die liberal-demokratische politische Kultur und betont, dass diese selbstverständlich von ethnisch und religiös höchst divergenten Bürgern geteilt werden kann – und soll (Etzioni xxxx). Darauf kann sich keine wie immer geartete Identitätspolitik berufen. Beide Konzepte, „Kosmopolitismus“ und der „Kommunitarismus“, sind vielmehr begriffsgeschichtlich auf die Bezeichnung von politischen Mentalitäten angelegt, in denen sich Republikanismus, d. h. die politische Gemeinschaftsbildung der Demokraten, und transkulturelle Kooperation verbinden. In dem mehr als unglücklichen und politisch irreführenden Gebrauch der Begriffe, der sich in Politikwissenschaft, Politik und Publizistik seit Kurzem eingebürgert hat, sollen sie das aber gerade ausschließen. Es liegt auf der Hand, dass das in der Sache treffend Beschriebene neue Konfliktlinien der neuen Wirklichkeit mit diesen beiden Schlagwörtern nur auf eine sehr ungefähre und teilweise irreführende Art erfasst.
Ein guter Kompromiss ist möglich Vollends hinderlich werden beide Begriffe beim Versuch, angesichts der gegenwärtigen Krise der Globalisierung und der westlichen Demokratien den dringend gebotenen historischen Kompromiss zwischen den gemäßigten Kräften der beiden ‚Lager‘ zu schmieden. In der Sache geht es dabei um eine humane Migrationspolitik, die auf der Basis einer funktionierenden Kontrolle der Grenzen Asylsuchende und Kriegsflüchtlinge während der Dauer ihrer Gefährdung zuverlässig schützt und für arbeitssuchende Migranten offenbleibt, aber nur wenn ihre Beschäftigung gesichert werden kann. Und wenn dabei im Kantischen Sinne die politisch-kulturelle Integrität der Republik und die autonome Entscheidungsfähigkeit der Gemeinschaft ihrer Bürger gewahrt bleibt. Darüber hinaus muss garantiert werden, dass die ökonomischen, sozialen und kulturellen Kosten der gesellschaftlichen
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Integration einer großen Zahl bleibeberechtigter Migranten je nach Tragfähigkeit fair auf die verschieden sozialen Gruppen verteilt wird, mit zusätzlichen Hilfen für die prekäre Klasse der Aufnahmegesellschaft. Der politische Leitbegriff, wenn es denn eines solchen bedarf, für einen solchen Kompromiss kann nur, wie Julian Nida-Rümelin vorschlägt, nur der „Republikanische Kosmopolitismus“ im erläuterten Sinne sein – falls sich keine handlichere Wendung für die damit gemeinte Sache finden lässt (2017). Was dann freilich noch fehlt, sind überzeugende Antworten zur Überwindung der Ungleichheit der materiellen Lebenschancen zwischen den neuen Klassen, zur glaubwürdigen Gewährleistung sozialer Sicherheit für alle prekär Beschäftigen und vom sozialen Abstieg Bedrohten sowie zur wechselseitigen Anerkennung der auseinanderstrebenden kulturellen Lebensformen. Kein kleines, aber ein lebensnotwendiges und im Prinzip auch machbares Projekt für eine Soziale Demokratie im neuen Jahrhundert der Globalisierung. Dass die Mobilisierung, die der neue Konflikt auf Seiten der Modernisierungsverlierer hervorbringt, in vielen mittel- und nordeuropäischen Ländern, aber auch in Süd- und Nordamerika fürs Erste zu erheblichen Teilen rechtspopulistisch geprägt wird, ist keinesfalls gottgegeben. Die Frage ist offen, ob die Erben der alten Arbeiterbewegung eine Art Mosaik-Linke organisieren können, der es gelingt die eigentlichen Bedürfnisse der neuen Arbeiterklasse und des abhängig beschäftigen Teils der alten Mittelklasse (Facharbeiter) aufzugreifen und die Interessen der unterschiedlichen Teilmilieus der Gewerkschaften, der sozialen Netzwerke, der verbliebenen Rinnsale der neuen sozialen und ökologischen Bewegungen sowie der aktiven Zivilgesellschaft wirksam zur Geltung zu bringen. Die Lösung der neuen Konflikte haben alle mit der sozialen Re-Regulierung des Kapitalismus unserer Zeit zu tun – national, regional und global. Es geht daher aktuell vor allem um den Ausbau der Wirtschaftsdemokratie (Stakeholder-Prinzip, paritätische Unternehmensmitbestimmung Tarifpartnerschaft, Regulierung), um eine effektive Finanzmarktkontrolle sowie eine symbolisch und real wirkungsvolle Grenze für die sozialstaatsverträgliche Relation von Durchschnitts- und Höchsteinkommen (durch Gesetz und/oder Steuern). Ins Zentrum substanzieller Reformen müssen sodann die Wurzeln einer „Dreiklassengesellschaft“ der verfestigten Ungleichheiten in den Fundamentalbereichen des menschlichen Lebens treten (Gesundheitszustand, Lebenserwartung, Bildung, Medizin, Pflege und Renten). Das Gegenbild zum neuen Kapitalismus hat einen Doppelnamen: Soziale Demokratie und Gute Gesellschaft. Der Grundriss für beide braucht nicht neu erfunden zu werden, aber seine Koordinaten bedürfen der Aktualisierung. Das ist in den letzten Jahren in unterschiedlichen Arbeitszusammenhängen weitgehend geschehen. Die digitale Revolution hat die Gesellschaft schon tief verändert mit empfindlichen Folgen für Arbeit, Freiheit und Privatheit. Zum Guten gewendet und sozial beherrscht wird ihre weitere Entwicklung nur, wenn ihre Baupläne nicht länger von den machtversessenen libertären Utopisten des Silicon Valley entworfen und exekutiert werden, die meinen, etwas so „Engstirniges und Gestriges“ wie soziale Grenzen und demokratische Regeln in Namen eines von ihnen selbst definierten „Fortschritts“ ignorieren zu dürfen. Die allen Hervorbringungen dieser hemdsärmelig gemanagten Zukunftswerkstätten innewohnende 323
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Zwiespältigkeit muss durch entschieden gestaltende Politik in soziale Bahnen gelenkt werden, die der ganzen Gesellschaft und dem Freiheitsverlangen all ihrer Bürger gerecht werden. Das Internet ist ein öffentlicher Raum mit tiefen Eingriffen in die Privatsphäre und muss als solcher mit den Mitteln demokratischer Politik human reguliert werden. Die digitale Umgestaltung der Arbeitswelt bedarf eines erneuerten Zusammenwirkens von Unternehmen, Gewerkschaften und Staat. Die demokratische und soziale Zähmung des digitalen Kapitalismus gleicht im Kern, wenn auch nicht in den Details und in den Organisationsformen der Zähmung des Kapitalismus, den wir kennen. Immer geht es um die Umwandlung unkontrollierter privater Verfügungsmacht in gesellschaftliche Mitwirkung aller Betroffenen als Voraussetzung für eine für Menschen und Gesellschaft verträgliche Gestaltung. Globale Gerechtigkeit ist nach dem Urteil vor allem intellektueller und zivilgesellschaftlicher Kritiker das Hauptdefizit der Sozialdemokratie. Das trifft für ihre öffentliche Kommunikation wohl zu, aber sehr viel weniger für ihre in diesem Feld tatsächlich schon geleistete Programmarbeit. Letztere hat längste weitreichende und aktuelle Wegweisungen zu diesem Thema hervorgebracht. Als einzelnes Land könnte die Bundesrepublik, wenn sie wenigsten den selbstgesetzten Vorgaben folgte, mit ihrer Entwicklungspolitik (das Ziel sind 0,7 % des BSP) vor allem bei kluger Schwerpunktsetzung viel mehr bewirken, aber der Hauptfaktor für eine gerechtere Welt besteht in einer koordinierten Politik der reichen Länder zur Erreichung der Millenniumsziele der UN (2015), die im Wesentlichen auf eine Durchsetzung der sozialen und wirtschaftlichen Grundrechte der UN-Charta setzen, wozu sich diese Länder ja gemeinsam verpflichtet haben. Dazu gehört eine faire Handelspolitik, die den eigenen Spielraum der ärmeren Länder für Entwicklung nicht länger verengt. Die korrupten Eliten und räuberischen Clans, die vielerorts ihre Länder ausrauben, können, sofern sie nicht flagrante Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen, von außen oft nur indirekt bekämpft werden, wenn an der richtigen Stelle angesetzt wird. Deutliches Staatsversagen, Armut, Not, Repression, Lebensgefahr und dann Massenflucht, also globale Ungleichheit in ihrer schlimmsten Form, sind häufig die Folge von innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen um Macht, Anerkennung und Chancen. Aber erst eine Außenwelt, die teils aus Desinteresse, teils aus Eigennutz nicht alles unternimmt, um Aggressoren den Zugang zu Waffen und Finanzen zu verwehren, sondern oft das Gegenteil bewirkt, verschärft solche fatalen Krisen und lässt sie zum Dauerzustand werden. Globale Gleichheitspolitik der SPD verlangt daher die Einwirkung auf die eigene Regierung, damit diese in ihrer Entwicklungspolitik sowie beim Waffenhandel diese Zusammenhänge strikt beherzigt sowie in allen internationalen Institutionen und Organisationen massiv in diese Richtung wirkt. Die Grundvoraussetzung für den Erfolg einer solchen Politik ist das unbeirrte Festhalten am Multilateralismus seitens der Bundesrepublik und der Europäischen Union. Dass das alles direkt auch in unserem eigenen Interesse ist, hat die Brandt-Kommission schon 1979 demonstriert, die Flüchtlingsströme der Gegenwart, vor der sie damals eindringlich gewarnt hat, machen es nun auf dramatische Weise augenfällig.
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Wohl am schwersten zu meistern ist für Sozialdemokraten die in ganz Europa heraufziehende Drohung einer neuen identitätspolitischen Konfliktlinie quer durch die Gesellschaft, verbunden mit einer neuen Form autoritärer Herrschaft. Ihre an die Wurzel gehende Entschärfung dürfte für eine längere Zeit über die Stellung und Größenordnung der sozialdemokratischen Parteien in Europa mitentscheiden. Es geht dabei nicht nur um den Rechtsradikalismus, den hart zu bekämpfen immer schon sozialdemokratische Herzenssache war. Aber die Fähigkeit der neuen populistischen Identitätsunternehmer von Orban bis Trump zur emotionalen und politischen Mobilisierung steht dem Kampf der Ideologien des 20. Jahrhunderts kaum nach. Sie können – fürs Erste – auch auf die Unterstützung vieler demokratischer Protestwähler hoffen, die keineswegs teilen, was in ihren Programmen steht. Sie experimentieren mit einem ideologisch zugerüsteten völkischen Fundamentalismus, der stellvertretend für andere, eigentlich soziale und politische Konflikte steht, diese aber kulturalistisch verdreht und auflädt. Nur solange die sozialen Konflikte ungelöst bleiben, die ihr Kulturalismus zu überwinden bloß vorgibt, können sie als breite Protestbewegung Erfolg haben. Ungleichheit, Abstiegsangst und Unsicherheit spielen ihnen in die Hände. Die Sozialdemokratie als Traditionspartei der kleinen Leute wäre schlecht beraten, überließe sie jenes Drittel der Gesellschaft den Populisten, das schon durch die eingefahrene Ungerechtigkeit und Unsicherheit entfremdet ist und nun einen in ihren Konturen und Zielen undeutliche Flüchtlings- und Integrationspolitik leicht in Panik versetzt werden kann. Der demokratische cordon sanitaire darf nicht zwischen diesen Menschen und der selbsternannt ‚anständigen‘ Gesellschaft der gehobene Sektoren errichtet werden, sondern zwischen den nur Verunsicherten und den harten Aktivisten des organisierten Rechtspopulismus. Wolfgang Thierse hat diese Grenzlinie treffend markiert: „Wir ahnen, dass die deutsche Gesellschaft sich durch Migration stark verändern wird […]. Individuelle und kollektive Identitäten werden infrage gestellt – durch das Fremde und die Fremden, die uns nahegerückt sind – durch die Globalisierung, die offenen Grenzen, die Zuwanderer, die Flüchtlinge. Die Folgen sind Entheimatungsängste, die sich in der Mobilisierung von Vorurteilen, in Wut und aggressivem Protest ausdrücken.“ (Thierse 2019)
Die wachsenden Ängste um Arbeitsplätze, soziale Sicherheit, gesellschaftlichen Zusammenhalt und die vertraute Lebenswelt, die ja nicht gänzlich irreal sind, müssen ernst genommen und zum Ausgangspunkt für eine sozialdemokratische Alternative gemacht werden, die der Identitätspolitik der Populisten mit überzeugenden sozialen Taten das Wasser abgräbt. Die meisten derer, die „Heimat“ und eine intakte Lebenswelt wollen, wenden sich keineswegs prinzipiell gegen eine durch transnationale Kooperation geregelte Migration. Zur sozialen Demokratie gehört heute ein doppelter Integrationspakt, der die zum dauerhaften Aufenthalt berechtigten Migranten und die an den Rändern unserer Gesellschaft Ausgeschlossenen gleichermaßen und fair in Schule, Ausbildung, Wohnen, Sprache und vor allem sozialer Sicherheit gleichberechtigt am Leben und am Wohlstand der Gesellschaft beteiligt. 325
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Die Lehren der Arbeiterbewegung betreffen, wie schon skizziert, aber nicht allein die inhaltlichen Fragen einer zeitgemäß erneuerten sozialen, ökologischen und demokratischen Zukunftspolitik. Sie beziehen vor allem die Bereitschaft und Fähigkeit zu einem historischen Kompromiss in dem oben beschriebenen neuen großen Konflikt ein, die ihre Kerninteressen betrifft. Vor allem aber unterstreichen sie die Rolle der gesellschaftlichen Bewegungen für die Erreichung weit gespannter Ziele. Sie drängen zur Kooperation mit allen in ihren Grundwerten nahestehenden sozialen Bewegungen, die den öffentlichen Druck und die Zivilgesellschaft für die gemeinsamen Ziele mobilisieren. Nicht nur die Notwendigkeit, auch die Chance besteht, dass das erfolgreiche Werk der klassischen Arbeiterbewegung des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts im einundzwanzigsten mit einem erneuerten Projekt weitergeführt werden kann.
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Die Bedeutung der Zivilgesellschaft für die Zukunftsfähigkeit von Gesellschaften wird oft unterschätzt. Staat und Wirtschaft sind in der Regel die Hauptadressaten, wenn es um die Umsetzung von wissenschaftlich als notwendig erachteten Transformationsprozessen geht. Am Beispiel der Energiewende, des Klimawandels, der Willkommenskultur für Geflüchtete und der Beteiligungspolitik des Landes Baden-Württemberg wird gezeigt, dass zivilgesellschaftliche Akteure mehr Aufmerksamkeit in Nachhaltigkeitsdebatten verdienen. Auch wenn von ihnen progressive wie blockierende Impulse ausgehen, steigern sie das demokratische Potenzial und damit die gesellschaftliche Lern- und Handlungsfähigkeit in einer Situation, in der – ironisch gesprochen – die Zukunft auch nicht mehr ist, was sie einmal war.
Energiewende, Klimawandel, Willkommenskultur, vielfältige Demokratie, Lokalisierung von unten Zukunftsfähigkeit und Zivilgesellschaft – eine Annäherung Die Frage nach der Zukunftsfähigkeit ist gesellschaftspolitisch ambivalent. Einerseits wird sie in Gesellschaften zum Thema, die sich ihrer Zukunft nicht mehr sicher sind und wachsende Zweifel an ihrem Fortbestand haben; andererseits setzt die Frage trotzig auf eigene Fähigkeiten, zumindest auf die Möglichkeit, sie zu entwickeln. Katastrophen sind nicht ausgeschlossen, werden aber als Anlass und Motor gesehen, um die gesellschaftliche Handlungsfähigkeit zu steigern. Typisch modern ist an der Frage nach der Zukunftsfähigkeit die Vorstellung des Machbaren, der Selbstgestaltung der Gesellschaft, die mit dem Konzept der Fähigkeit verbunden ist. Zukunftsfähigkeit verknüpft diagnostische und prognostische Potenziale. Unterstellt wird, über brauchbare Gesellschaftsdiagnosen und über halbwegs verlässliche Vorstellung von aktuellen und zukünftigen Entwicklungen zu verfügen, also wesentliche Krisen und Herausforderungen zu erkennen, die uns erwarten. In der Regel geschieht dies in Form von alternativen Szenarien. Zukunftsfähig sind Gesellschaften dann, wenn sie © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_22
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in der Lage sind, angemessene Antworten auf erwartbare Krisen und sich abzeichnende Herausforderungen zu geben. Im Begriff Zukunftsfähigkeit schwingt immer die Sorge mit, für aktuelle und künftige Entwicklungen nicht angemessen ausgestattet, d. h. gerade nicht zukunftsfähig zu sein und somit womöglich die Zukunft zu verspielen. Es ist deshalb sicherlich kein Zufall, dass viele einschlägige Buch- und Zeitschriftentitel zum Thema mit einem Fragezeichen versehen sind. Von Fähigkeiten sprechen wir auf individueller Ebene in der Regel mit Blick auf zu lösende Aufgaben. Das Bildungssystem z. B. versorgt uns, so eine verbreitete Hoffnung, mit den nötigen Fähigkeiten, um angemessen auf biografische Herausforderungen und Entwicklungsaufgaben in einem sich verändernden Umfeld reagieren zu können. Auf gesellschaftlicher Ebene unterstellt die Idee der Zukunftsfähigkeit, dass ganze Gesellschaften in der Lage sind, ihre eigene Zukunft zu gestalten – mehr noch, dass sie auf Krisen und Katastrophen so zu reagieren vermögen, dass ihr Bestand nicht gefährdet ist und wünschbare Zukünfte eine Orientierung für das Krisenmanagement geben können. In einem ersten Schritt setzt die Idee der Zukunftsfähigkeit darauf, dass wir in der Lage sind, aktuelle und absehbare Herausforderungen treffsicher zu identifizieren, und in einem zweiten Schritt über die notwendigen Ressourcen und Handlungspotenziale zu verfügen, um auf bekannte Herausforderungen zu reagieren. Zusätzlich ist es ratsam, auch für noch unbekannte Problemlagen gerüstet zu sein und über entsprechende Reserven zu verfügen. Mit Blick auf ihre Zukunftsfähigkeit können Gesellschaften deshalb dreifach scheitern: Erstens wenn es an der nötigen Diagnosefähigkeit fehlt, zweitens wenn die erforderliche Handlungsfähigkeit nicht entwickelt wurde, und drittens wenn sie sich nicht darauf eingerichtet haben, auf unerwartete Ereignisse, Krisen und Katastrophen reagieren zu können. Angesichts notwendig begrenzter Diagnosefähigkeiten und Ressourcen ist gerade mit der dritten Quelle des Scheiterns stets zu rechnen. Auf individueller Ebene sprechen wir schon lange von Resilienz. Das Konzept wird inzwischen produktiv auf systemischer Ebene eingesetzt, wie das aktuelle Handbook of Climate Change Resilience zeigt (Leal Filho 2020). Der Umgang mit der sich seit Anfang 2020 ausbreitenden Covid-19-Pandemie ist ein solcher Stresstest auf gesellschaftlicher Ebene. Auch wenn sich in den letzten Jahrzehnten die Zahl der Herausforderungen vervielfältigt hat, die ins Spiel gebracht werden, wenn es um die gesellschaftliche Zukunftsfähigkeit geht, so stehen doch seit der Veröffentlichung der Grenzen des Wachstums des Club of Rome (Meadows et al. 1972) die verschiedenen Dimensionen ökologischer Nachhaltigkeit im globalen Kontext im Zentrum der Debatte. Zukunftsfähigkeit wird heute meist und mit einigem Recht mit Nachhaltigkeit bzw. sustainability gleichgesetzt. Wenn aktuell Zweifel an der Nachhaltigkeit ökonomischer Globalisierungsprozesse, der demografischen Entwicklung, des privaten Konsums oder der liberalen Demokratie die Rede ist, sind meist mehr oder weniger deutliche ökologische Elemente zu entdecken. Das gilt nicht zuletzt für die Krisen, die mit den wachsenden globalen Migrationsbewegungen verbunden sind. Stets geht es um die Herausforderungen für ein zunächst ungewöhnlich erfolgreiches Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell des Westens nach dem Zweiten Weltkrieg, das sich seither in vielen Dimensionen als nicht nachhaltig erwiesen hat und keine belastbare globale
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Perspektive anzubieten vermag. „Das Raumschiff Erde hat keinen Notausgang“, so lautet heute eine weit verbreitete Überzeugung oder „There is no Planet B“, um ein populäres Motto der weltweiten Proteste von Fridays For Future aufzugreifen. Im Unterschied zum bloßen Überleben sind mit der Idee der Zukunftsfähigkeit in der Regel normative Erwartungen verknüpft, d. h., es geht meist um wünschbare Zukünfte. Die wissenschaftliche Debatte über Zukunftsfähigkeit hat in den letzten Jahrzehnten erheblich an Fahrt aufgenommen, sich thematisch wie räumlich erweitert und vertieft (Heinrichs et al. 2011; Schüttemeyer 2011; Grunwald & Kopfmüller 2012). Sie wird heute interdisziplinär geführt und verknüpft zunehmend ökonomische, soziale und ökologische Dimensionen in einem Drei-Säulen-Modell (Zimmermann 2016; Kropp 2019). Der Begriff der Nachhaltigkeit ist in diesem Zusammenhang aber auch inflationiert und banalisiert worden. Zukunftsfähigkeit wird inzwischen von allem und jedem proklamiert. Gleichzeitig gewinnt eine strategisch orientierte und Transformations- und Transitionsforschung an szientifischer Tiefenschärfe (Köhler et al. 2019). Die von der UN-Generalversammlung im September 2015 verabschiedete Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung mit 17 Nachhaltigkeitszielen (Sustainable Development Goals, kurz: SDGs; über die Konzepte und Umsetzungspraxis für jedes der Ziele: Leal Filho 2019/2020) hat einen weltweiten politischen Rahmen für eine neue Runde von Zukunftsdebatten abgesteckt, der die Entwicklungsperspektiven des globalen Südens mit denen des reichen Nordens verknüpft. Zukunftsfähigkeit muss sich heute weitgehend am gesellschaftlichen Beitrag zur Erreichung der UN-Nachhaltigkeitsziele ausweisen (zu den Umsetzungsperspektiven: Leal Filho 2019). Das gilt bis hin zur lokalen Ebene.1 Zukunftsfähigkeit setzt auf strategisch handelnde Akteure. Regierung, Politik und Verwaltung sind dabei ebenso zentral wie die großen Wirtschaftsunternehmen. Beide Akteursgruppen sind in der Lage, individuelles Handeln wirksam in Richtung Zukunftsfähigkeit zu beeinflussen, sei es durch staatliche Anreize und Verbote oder durch Unternehmen, die ihre Dienstleistungen, Produkte, Produktionsabläufe, Beschäftigungsverhältnisse und Lieferketten an Nachhaltigkeitszielen orientieren. Auch die Ebene individuellen Verhaltens ist schon früh in der Zukunftsfähigkeitsdebatte angesprochen worden. Hier geht es vor allem um Konsummuster und Lebensstile, den individuellen CO2-Abdruck und den politischen Protest mit dem Einkaufswagen. Ohne die Bedeutung all dieser Akteure für die Zukunftsfähigkeit von Gesellschaften geringzuschätzen, wird nachfolgend der Fokus auf die Rolle der Zivilgesellschaft und ihrer vielfältigen Akteure gerichtet. Zivilgesellschaft ist ein Begriff, der auf ehrwürdige philosophische Traditionen zurückblicken kann und in den letzten Jahrzehnten weltweit zu einem prominenten politischen Konzept geworden ist, mit dem vielfältige positive Konnotationen verbunden worden sind und noch immer werden. Zunächst überraschten die weltweit erfolgreichen Mobilisierungen aus der Zivilgesellschaft gegen autoritäre Regime und Diktaturen in den 1970er- und 1
Inzwischen gibt es in Deutschland ein von zahlreichen Organisationen und Verbänden entwickeltes Portal im SDG-Indikatoren, das es Kommunen ermöglicht, ihren Stand auf dem Weg zu den internationalen Nachhaltigkeitszielen zu ermitteln (https://sdg-portal.de/). 331
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1980er-Jahren. Die Stärkung der Zivilgesellschaft avancierte in der Folge zur entwicklungspolitischen Strategie, wenn es darum ging, demokratische Transformationen auf den Weg zu bringen. Auch in der OECD-Welt ist Zivilgesellschaft zum Hoffnungsträger geworden, wenn es um die Stärkung von Demokratie, sozialem Zusammenhalt und gesellschaftlichen Innovationen geht (Klein 2001). Kräfte der Zivilgesellschaft sind gefragt, wenn es um die Korrektur von Markt- und Staatsversagen geht. Aber auch ihre Fähigkeit zur Selbstkorrektur schlagen zu Buche, wenn es zu Fehlentwicklungen (z. B. Rassismus und Rechtsextremismus) innerhalb nationaler Zivilgesellschaften kommt. Schließlich wurden Ansätze einer sich entwickelnden globalen Zivilgesellschaft beobachtet, die beispielsweise als menschenrechtliches Korrektiv für die verstärkten ökonomischen Globalisierungsprozesse ins Spiel gebracht wurde (Keane 2003). Ähnlich der Debatte über Zukunftsfähigkeit sind auch die wissenschaftlichen Beiträge zum Thema Zivilgesellschaft kaum mehr zu überblicken (Edwards 2011, 2014). Drei akademische Perspektiven auf Zivilgesellschaft lassen sich grundsätzlich unterscheiden: (1) In einem Sektorenmodell ist Zivilgesellschaft ein eigener Bereich jenseits von Staat und Ökonomie. Zur Zivilgesellschaft gehört demnach alles, was nicht Staat oder Wirtschaft ist. Dieses Drei-Sektoren-Modell wird gelegentlich um einen vierten Bereich erweitert: um primäre Gemeinschaften (Familien etc.). Auch wenn sich die einzelnen Sektoren überlappen, geht es doch jeweils um sehr unterschiedliche Orientierungen. Zivilgesellschaftliches Handeln beruht demnach auf Freiwilligkeit und enthält Elemente von Solidarität und Gemeinwohlorientierung, d. h., es ist nicht primär macht- oder erwerbsorientiert oder durch emotionale Zugehörigkeiten geprägt. (2) Eine zweite Perspektive stellt ein normatives Ideal in den Mittelpunkt. Zivilgesellschaftliches Handeln orientiert sich an „Zivilität“, d. h., es ist gewaltfrei und verständigungsorientiert, es beruht auf der Anerkennung der Mitmenschen als Träger gleicher Rechte, d. h., es akzeptiert und beachtet Vielfalt. Zivilität ist eine Norm, die in der Zivilgesellschaft als dominante Orientierung erwartet wird, aber auch in anderen Sektoren der Gesellschaft, z. B. in Unternehmen oder öffentlichen Verwaltungen geltend gemacht werden kann. (3) Zivilgesellschaft bezeichnet eine Sphäre vielfältiger Vereinigungen und Organisationen, die zentral auf freiwillige Mitgliedschaften und Engagement setzen, aber auch über hauptamtliches Personal verfügen können. Hierzu gehören zum Beispiel Vereine und Stiftungen, aber auch soziale Initiativen und Protestgruppen. Für alle drei Perspektiven auf Zivilgesellschaft lassen sich gute Argumente finden. Überschneidungen sind offensichtlich. Letztlich kommt der Begriff auch in seinen organisationsbezogenen oder sektoralen Definitionen ohne eine normative Grundierung nicht aus. Dies wird deutlich in den Merkmalen und Funktionszuweisungen, aus denen sich das gegenwärtige Interesse an Zivilgesellschaft speist: • Zivilgesellschaften erzeugen ‚soziales Kapital‘, d. h., die selbstgewählten Vereine und Initiativen (vom Kegelclub bis zum Trachtenverein) sind Orte der Geselligkeit, die jenseits ihrer primären Ziele (etwa Sport zu treiben) zur wechselseitigen Unterstützung und sozialen Integration ins Gemeinwesen beitragen.
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• Organisationsformen der Zivilgesellschaft beruhen mehr oder weniger stark auf freiwilligem Engagement und aktiven Mitgliedschaften, wobei demokratisch verfasste Strukturen (wie Vereine oder lockere Zusammenschlüsse) bevorzugt werden. Selbst große Wohlfahrtsverbände mit mehreren hunderttausend Beschäftigten verweisen stets auf eine aktive Mitgliedschaften und eine wesentlich größere Zahl von freiwillig Engagierten. • Die zivilgesellschaftliche Sphäre ist durch eine beachtliche organisatorische Vielfalt und Interessenpluralität gekennzeichnet. Dies gilt bis zu einem gewissen Grad bereits innerhalb der einzelnen Zusammenschlüsse, aber noch viel mehr für das gesamte zivilgesellschaftliche Organisationsgefüge. Wer sich in der Zivilgesellschaft bewegt, trifft auf heterogene Interesse und Gruppen. Er oder sie bewegt sich in einem pluralen Gefüge, das zur Anerkennung anderer Interessen und Orientierungen beiträgt und damit eine demokratiefördernde Grunderfahrung vermittelt. • Es gibt vermutlich keinen Lebensbereich, in dem es nicht auch wirksame zivilgesellschaftliche Akteure und Gruppen gibt. Sie tragen mit ihrem Engagement zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben bei, wie dies beispielsweise bei der freiwilligen Feuerwehr, bei Wohlfahrtsverbänden oder Hilfsorganisationen wie dem Technischen Hilfswerk offensichtlich ist. Selbsthilfegruppen und Hospizinitiativen haben den Gesundheitsbereich verändert. Initiativen gegen geschlechtsspezifische Gewaltverhältnisse und Frauenhäuser haben Einfluss auf das Familienleben genommen. Unternehmen sind immer häufiger mit zivilgesellschaftlichen Initiativen konfrontiert, die ihre gesellschaftliche Verantwortung einfordern. Corporate Citizenship und Corporate Social Responsibility gehören inzwischen zu festen Bestandteilen von Unternehmensberichten. • Zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen sind anwaltlich aktiv. Sie machen auf Umweltbelange aufmerksam, engagieren sich für benachteiligte Bevölkerungsgruppen oder setzen vernachlässigte Themen auf die Agenda. Das Engagement von Amnesty International für politische Inhaftierte hatte bereits in den 1960er-Jahren stilbildend gewirkt und eine Welle von NGO-Gründungen ausgelöst. In den 1990er-Jahren inszenierte Greenpeace seine Umweltproteste eine Weile so effektiv und medienwirksam (erinnert sei an die Brent-Spar-Kampagne gegen die Versenkung einer Shell-Ölplattform in der Nordsee), dass die Organisation als Vorbild für Regierungshandeln und Unternehmen empfohlen wurde. Als Themenanwälte unterscheiden sie sich deutlich von Lobbygruppen, die vor allem dem Eigeninteresse verpflichtet sind. • Im politischen Raum erfüllen sie mit Protest und Widerspruch eine demokratisch wichtige Kritikfunktion. Sie bringen nicht nur Minderheitenmeinungen zum Ausdruck, für die es in Parlamenten (noch) keine Stimmen gibt, sondern übernehmen auch wichtige Kontrollfunktionen gegenüber der Parlaments- und Regierungstätigkeit. Indem neuere zivilgesellschaftliche Vereinigungen wie Transparency International, Lobbycontrol, Abgeordnetenwatch oder das Whistleblower-Netzwerk das Handeln der politischen Entscheidungsträger kritisch begleiten, tragen sie zu verstärkter Verantwortlichkeit des Regierungshandelns bei. Wissenschaftliche Beobachter sehen darin eine neue Qualität
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in der demokratischen Entwicklung, die im Konzept der „monitory democracy“ zusammengefasst wird (Keane 2009: Part III). Schon diese Auswahl an zentralen Funktionsbeschreibungen macht verständlich, weshalb dem bürgerschaftlichen Engagement und den zivilgesellschaftlichen Organisationen im öffentlichen Raum vor allem zwei zentrale Leistungen bescheinigt werden. Erstens tragen sie zum sozialen Zusammenhalt bei und zweitens schaffen sie einen alltäglichen Erfahrungsraum für eine demokratische politische Kultur. Mit diesen Zuschreibungen ist nicht die Erwartung verbunden, dass jeder Verein und jede Initiative diese Erwartungen stets und immer erfüllt. Beispiele von Gruppierungen, die eher zur sozialen Spaltung und zu antidemokratischen Haltungen beitragen, gibt es reichlich. Die „dunklen Seiten“ der Zivilgesellschaft verdienen Aufmerksamkeit (Roth 2004). Aber es lässt sich auch beobachten, dass Zivilgesellschaften selbst in Zeiten autoritärer Regime und rechtspopulistischer Formierungen Kräfte hervorbringen, die zur Selbstkorrektur im Sinne zivilgesellschaftlicher Normen beitragen (Alexander 1998; Alexander et al. 2020). Exemplarische Handlungs- und Konfliktfelder Der Beitrag zivilgesellschaftlicher Akteure zur Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft hat bisher wenig Beachtung gefunden. Regierungen, Unternehmen und wissenschaftliche Experten haben meist das Sagen, wenn es um zukunftsträchtige gesellschaftliche, technologische und ökologische Entwicklungen geht. Zivilgesellschaftliche Stimmen scheinen eher Störgeräusche, bestenfalls Impulse für die Weiterverarbeitung in Politik und Wissenschaft zu sein. Anhand von vier allgemein als zukunftsrelevant anerkannten Handlungsfeldern soll der Beitrag der Zivilgesellschaft näher betrachtet werden. Dabei sollen einige grobe Linien genügen. Anti-Atom-Proteste und die Energiewende Die deutsche Energiewende ist international zum Inbegriff von Zukunftsfähigkeit geworden und galt einige Zeit als Vorbild für die Nachhaltigkeitspolitik anderer Länder. Im Juni 2011 beschloss die damalige Bundesregierung mit breiter Parlamentsmehrheit die Energiewende. Es ist sicherlich nicht übertrieben, diesen Politikwechsel als Generationen- bzw. als Jahrhundertaufgabe zu betrachten, die unsere Gesellschaft, unsere Art zu leben und zu arbeiten umkrempeln wird bzw. dies zum Teil bereits getan hat. Vordergründig ging es in erster Linie um die Substitution des Atomstroms. Bis 2022 sollen die noch laufenden Kernkraftwerke stufenweise abgeschaltet werden. Dazu war ein neuer Energiemix nötig, in dem regenerative Energien – nach dem Willen der Bundesregierung flankiert von neuen fossilen Kraftwerken – eine zentrale Rolle spielen. Hinzu kamen Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz und zur Senkung des Energieverbrauchs – so sollte z. B. der Stromverbrauch innerhalb eines Jahrzehnts um 10 % gesenkt werden. Längerfristig verlangen Klimawandel sowie knapper und teurer werdende fossile Energieträger (Kohle, Erdöl etc.), so die damalige Sicht, eine Dekarbonisierung, d. h. einen Abschied vom Fossilismus, der
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die industrielle Entwicklung, aber auch die Lebensweise in den OECD-Ländern vor allem seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts geprägt hat. Dass dem Beschluss von 2011 bereits ein im Jahr 2000 unter Rot-Grün vereinbarter Atomausstieg vorherging, der durch eine 2010 vereinbarte Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke revidiert wurde, gehört zu seiner wechselhaften Vorgeschichte auf parlamentarischer Ebene. Ohne eine aktive Zivilgesellschaft wäre der Regierungsbeschluss zur Energiewende nicht zustande gekommen. Nicht zuletzt war er das Ergebnis eines rund vierzigjährigen bürgerschaftlichen Aufbegehrens, das durch die Reaktorkatastrophe von Fukushima am 11. März 2011 einen zusätzlichen Schub erhalten hatte. In keinem anderen Land, auch nicht in Japan selbst, gab es eine solch breite Protestbewegung nach dem japanischen Super-GAU (zum Fukushima Effekt international: Hindmarsh & Priestley 2016). Diese Mobilisierungen waren kein Ergebnis der oft beschworenen „German angst“ oder tief sitzender romantischer Technikfeindlichkeit, sondern Resultat einer bunten Oppositionsbewegung, die bereits in den 1970er-Jahren die Energiepolitik maßgeblich beeinflusste. Der aus einer großen Bandbreite von Akteuren und Motiven gespeisten AntiAtomkraft-Bewegung gelang es, „gegen eine fast geschlossene Front von Politik, Industrie, wissenschaftlichen und technischen Experten“ (Rucht 2008, S. 265) die umfangreichen Kernenergieprogramme weitgehend zu blockieren. Die Verhinderung von Atomanlagen in Wyhl, Wackersdorf und Kalkar führte dazu, dass der Anteil des Atomstroms an der Energieversorgung etwa im Unterschied zu Frankreich nicht dominierte. Zivilgesellschaftlicher Protest schuf den Raum und die Notwendigkeit für die intensive Suche nach Energiealternativen. Das Protestmotto „Keine AKW in Wyhl und auch nicht anderswo!“ ließ nicht nur überregionale Bewegungsnetzwerke entstehen, sondern beförderte das Interesse an ‚angepassten‘, ‚sanften‘ bzw. ‚nachhaltigen‘ technischen Lösungen für die Energieversorgung.2 In diesem Umfeld kamen Öko-Institute, Ingenieurbüros und Start-up-Unternehmen auf, die sich mit der technischen Erschließung regenerativer Energiequellen befassten. In Deutschland entstand schließlich ein besonders fruchtbarer Resonanzboden für die weltweiten Initiativen zur Nutzung erneuerbarer Energien. Noch vor den wechselvollen Ausstiegsbeschlüssen gab es einschlägige staatliche Förderprogramme, und das Stromeinspeisungsgesetz von 1990 beschleunigte deren Ausbau und verschaffte den Erneuerbaren einen nennenswerten Marktanteil. Mit dem Kernenergiekonflikt, der auch in vielen anderen Ländern mit unterschiedlichen Resultaten ausgetragen wurde, verbreitete sich zudem die Einsicht, dass Techniken gewählt und gestaltet werden können – und die Technikwahl nicht den Entwicklungsabteilungen von Großunternehmen überlassen werden sollte. Mit dem Schreckbild eines „Atomstaats“ hatte Robert Jungk (1977) den Sicherheitsfragen rund um die Kernenergienutzung eine wichtige demokratiepolitische Dimension hinzugefügt. Eine zukunftsfähige Energieversorgung sollte nicht nur ökologische, gesundheitliche und soziale Risiken für die Bevölkerung möglichst gering halten, sondern auch demokratieverträglich sein, d. h. sowohl 2
In diesem Zusammenhang wurde auch der Begriff „Energie-Wende“ in Deutschland erstmals populär (Krause 1980). 335
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im Normalbetrieb wie bei stets möglichen Unfällen ohne erhebliche Einschränkungen bürgerlicher Freiheiten auskommen. Im Rückblick lassen sich einige Beiträge zivilgesellschaftlicher Akteure für die Zukunftsfähigkeit im Bereich der Energiewende festhalten: 1. Protest, Widerspruch und Blockaden, wie er von den Bürgerinitiativen gegen Atomanlagen immer wieder praktiziert wurde, können den Weg für zukunftsfähige Alternativen freimachen und offenhalten. Es ist deshalb töricht, Bürgerinitiativen und Proteste eilfertig und unbesehen mit St.-Florians- oder NIMBY-Verdacht ins gesellschaftliche Abseits zu drängen. Die Opposition gegen die Kernenergie begann als marginaler Minderheitenprotest gegen einen breiten gesellschaftlichen Konsens. Diese Erfahrung rät zu einem reflektierten und lernbereiten Umgang mit Protest, der keineswegs immer die bessere Zukunftsperspektive auf seiner Seite haben muss. 2. Wer protestiert und blockiert, übernimmt Verantwortung. Zur Produktivität des Neinsagens gehört auch der Zwang, nach Alternativen suchen zu müssen, zumindest dafür offen zu sein. Experimentierbaustellen können entstehen. Die starke Ausbreitung erneuerbarer Energien, der gesellschaftliche Konsens in der Energiewende und die vergleichsweise breite Akzeptanz dürften nicht zuletzt mit einer Protestgeschichte zusammenhängen, die solche gesellschaftlichen Lernprozesse befördert hat. 3. Mit dem Kernenergiekonflikt sind Technologien erstmals für größere Teile der Bevölkerung zu einer Frage von politischen Optionen geworden. Technologien können und müssen auf ihre gesellschaftliche Zukunftsfähigkeit hin überprüft werden. Dies gilt nicht zuletzt für ihre Demokratieverträglichkeit. 4. Ohne breite Partizipation und eigene Gestaltungsmöglichkeiten der Bürgerschaft dürfte das Großprojekt Energiewende nicht zu stemmen sein. Dass es dabei immer wieder zu Konflikten kommt, scheint unvermeidlich. Eine gesellschaftlich weithin akzeptierte Rückkehr zum technologischen Imperativ des „one best way“ ist unwahrscheinlich, wie die zahlreichen Konflikte um den Ausbau der Erneuerbaren Energien zeigen. Sie sind im Sinne der Zukunftsfähigkeit auch nicht wünschbar. 5. Für ein natur- und technikwissenschaftlich verkürztes Verständnis von Zukunftsfähigkeit mag eine vielstimmige und zuweilen protestierende Zivilgesellschaft ein Ärgernis sein. Dennoch haben die Trendanalysen und Szenarien nur eine Chance auf entsprechende gesellschaftliche Transformationen, wenn sie auf die Zustimmung, Unterstützung und Zuarbeit aus der Zivilgesellschaft zählen können. Oft schaffen die zivilgesellschaftlichen „Pioniere des Wandels“ erst den Resonanzboden für wirkungsvolles staatliches und wirtschaftliches Umsteuern (Holstenkamp & Radtke 2018; Radtke & Renn 2019). 6. Die Energiewende wird nur als Demokratieprojekt gelingen. Es gibt gute Gründe, nicht allein auf monetäre Anreize und Marktpreise oder/und auf staatliche Sanktionen und Subventionen zu setzen. Ihre Steuerungswirkungen sind begrenzt und häufig sozial unausgewogen, von den vielfältigen Widerständen und Exit-Optionen ganz zu schweigen.
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Es braucht eine verantwortliche Bürgerschaft (ecological citizenship), die gerade die Energiewende auch zu ihrer eigenen Sache macht.3 Gefordert ist jede/r Einzelne in ihrem/ seinem Alltagsverhalten. Nur durch wechselseitige Unterstützung und Bekräftigung in der Bürgerschaft sind jene Verhaltens- und Einstellungsveränderungen zu erwarten, die mit dem Projekt „Energiewende“ verbunden sind. Per ordre de mufti wird sie auf Dauer nicht durchzusetzen sein. Gefragt ist vielmehr die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger auf allen Ebenen und in allen Handlungsfeldern. Nur wer gefragt und beteiligt wird, übernimmt auch Verantwortung. Ob die von Unternehmen und Behörden verstärkt angebotene Beteiligung von den Bürgerinnen und Bürgern nur als Symbolpolitik und Akzeptanzmanagement erlebt wird, entscheidet sich nicht zuletzt an der Qualität der Beteiligungsprozesse selbst. Zentrale Qualitätsstandards sind bekannt: frühzeitig, transparent, öffentlich, alternativenreich, ergebnisoffen, fair, verbindlich, wirksam. Werden sie nicht eingehalten, drohen negative Lernprozesse, aus Enttäuschungen entstehen „Wutbürger“. An geeigneten Methoden und Verfahren herrscht kein Mangel, aber wirksame Beteiligung muss von Politik und Wirtschaft gewollt werden. Fridays For Future und lokale Klimapolitik Es gibt wohl keine weltweite Protestbewegung der letzten Jahre, die so starke mediale Aufmerksamkeit erfahren hat wie Fridays For Future (FFF). Die Anfänge waren bescheiden. Nach den Sommerferien weigerte sich im August 2018 eine 15-jährige schwedische Schülerin zur Schule zurückzukehren und protestierte stattdessen vor dem Stockholmer Parlament mit einem Schild „Schulstreik für das Klima“. Es ist nicht zuletzt dem Eigensinn und der Beharrlichkeit von Greta Thunberg zu verdanken, dass ihr Hashtag #FridaysforFuture zum Synonym für eine neue Generation von Klimaprotesten geworden ist, die stark von Schülerinnen und Schülern sowie jungen Menschen in Studium und Ausbildung geprägt sind. Die Kombination einer begrenzten Regelverletzung (Verweigerung des Schulbesuchs) mit einer generationsspezifischen Zuspitzung des Klimathemas erwies sich als besonders mobilisierend. Einen ersten Höhepunkt erreichten die kontinuierlichen Proteste zum dritten Global Climate Strike am 20. September 2019, an dem sich bei 6000 Einzelprotesten in 185 Ländern weltweit rund 7,6 Millionen Menschen beteiligten.4 Mit rund einer Million Teilnehmerinnen und Teilnehmern war der deutsche Beitrag besonders groß. Erst die Covid-19-Krise mit ihren Ausgangsbeschränkungen und Schulschließungen sorgte dafür, dass dieser jugendgeprägte Protest aus der Öffentlichkeit (vorübergehend?) verschwand. Nun ist es keineswegs ungewöhnlich, dass sich Protestbewegungen in die öffentliche Meinungsbildung einmischen. Das Beispiel der Anti-Atom-Bewegung wurde bereits vorge3 4
So mobilisierte z. B. die Klima-Allianz Deutschland für ihren Aktionstag am 22. September 2012 mit der Parole „Klimaschutz geht uns alle an – Wir sind Energiewende!“. Verlässliche Einblicke in die Motive, Ziele und das Profil von FFF bieten zwei umfangreiche internationale Demonstrationsbefragungen im Frühjahr (Wahlström et al. 2019) und Herbst 2019 (de Moor et al. 2020). 337
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stellt. Seit den 1970er-Jahren sind viele westliche Demokratien zu Bewegungsgesellschaften geworden, d. h., die Beteiligung an Demonstrationen und anderen Formen des Protests sind zu einem festen Bestandteil des politischen Handlungsrepertoires vieler Bürgerinnen und Bürger geworden. Längst gehören soziale Bewegungen und Proteste auch in Gesellschaften mit eingeschränkten politischen Rechten weltweit zum Alltag. Aus zivilgesellschaftlicher Perspektive sind solche Mobilisierungen in mehreren Dimensionen bedeutsam: 1. Im Vergleich zu anderen Formen des freiwilligen Engagements zeichnet sie aus, dass sie zentral auf öffentliche Sichtbarkeit durch Protest setzen. Sie bilden damit den spektakulärsten, medial besonders affinen Sektor der Zivilgesellschaft. Sie setzen mit ihren Aktionen oft verdrängte und vernachlässigte Themen auf die politische Agenda oder unterstreichen deren Dringlichkeit. Protestaktionen enthalten in der Regel nicht nur einfache Botschaften, sondern bieten zugleich einen Deutungsrahmen an. Im Falle von FFF werden Klimawandel und die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft so verknüpft, dass die Zukunft des Planeten mit der durch den Klimawandel eingetrübten Lebensperspektive der jungen Generation zusammenkommen. 2. Sichtbare Proteste benötigen mobilisierende Netzwerke, zu denen meist auch zivilgesellschaftliche Organisationen und Initiativen gehören, die nicht zentral oder ausschließlich auf Protest setzen. Solche ‚Mikromobilisierungskontexte‘ lassen sich bereits mit einem Blick auf die öffentliche Unterstützer und Unterzeichner von Aufrufen identifizieren. Aber zu ihnen können auch je nach Thema Kirchengemeinden, Sportvereine, Jugendclubs oder Gewerkschaftsgruppen gehören. Nicht zuletzt dieses lokal geprägte zivilgesellschaftliche Organisationsgefüge und dessen aktive Vernetzungen entscheiden über die Resonanz von Protesten.5 3. Gut erforscht ist auch, was die Ereignisgeschichte und der Blick auf Bewegungsikonen in der Regel verdeckt. Erfolgreiche Protestbewegungen kommen oft ohne einen längeren, oft unspektakulären Vorlauf nicht in Schwung. Ihre Themen müssen anschlussfähig sein. Dies ist besonders angesichts der Mobilisierungserfolge von FFF unübersehbar. Sie sind „auch Ergebnis der jahrzehntelangen Kärrnerarbeit von umwelt- und klimapolitischen Organisationen, darunter die großen Umweltverbände und spezialisierte Gruppierungen wie Climate Justice Now! und die offensiv gegen die Braunkohleförderung agierende Gruppe Ende Gelände“ (Rucht 2019, S. 7). 4. FFF hat das Thema Klimawandel nicht entdeckt, sondern kann auf den Stand wissenschaftlicher Forschung, auf nationale Programme und internationale Abkommen verweisen, die gemeinsam auf die Dringlichkeit dieser Zukunftsaufgabe verweisen. Im Unterschied zum Anti-AKW-Protest der 1970er-Jahre agiert FFF im Konsens mit dem klimawissenschaftlichen Mainstream, wie vor allem das breite Unterstützungsnetzwerk Scientists For Future verdeutlicht hat (Hagedorn et al. 2019). Auch die Forderungen dieser Protestbewegung sind – trotz der drängenden Tonlage – eigentümlich moderat, 5
Mario Diani spricht in einer vergleichenden Lokalstudie vom „Cement of Civil Society“ (2015), der über die Resonanz von Protestinitiativen entscheidet.
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geht es doch weitgehend um die Umsetzung der Beschlüsse der Pariser Klimakonferenz vom Dezember 2015. 5. In nur wenigen Monaten ist es den protestierenden Jugendlichen 2019 gelungen, in der Bundesrepublik ein lokal verankertes Netzwerk aufzubauen. Damit wurde nicht nur die eigene Mobilisierungskraft gestärkt, sondern auch eine handlungsorientierte Lokalisierung des Klimathemas vorangebracht. Angeregt und mit Unterstützung von FFF-Gruppen hatten bis zum Frühjahr 2020 bereits mehr als 100 Orte in Deutschland – von Konstanz bis Berlin – den Klimanotstand ausgerufen (zum aktuellen Stand: Klimabündnis Hamm 2019ff.). Weitere Städte und Regionen Europas sind in diesem Sinne aktiv. Im Kern geht es um lokale Klimaschutzpläne und -maßnahmen, die ein breites Themenspektrum aufgreifen. Dazu gehören nicht nur Maßnahmen der Kommunalverwaltungen, sondern auch konkrete zivilgesellschaftliche Handlungsmöglichkeiten, nicht zuletzt der Jugendlichen selbst (Reis 2020). Auch in der lokalen Umsetzung des Klimathemas kann FFF an die Tradition des „Bottom-Up Urbanism“ (Arefi & Kickert 2019; Danenberg & Haas 2019) anknüpfen, der gerade im Handlungsfeld Klima seit der Lokalen Agenda 21 (angestoßen vom Rio-Gipfel 1992), in lokalen Klimabündnissen und Projekten (Böschen et al. 2014) den Klimawandel „nicht nur ‚lokalisiert‘, sondern sinnhaft mit lokaler Relevanz aufgeladen“ hat (Heinelt & Lamping 2014, S. 87).6 6. FFF hat das Klimathema, wie schon die Namensgebung verdeutlicht, in Richtung Zukunftsfähigkeit zugespitzt. Es geht dabei einerseits um die Artikulation von wissenschaftlich begründeten, aber auch angstbesetzten Risiken. Andererseits gibt es in diesen Ängsten ein Vertrauen auf mögliche Lösungen, die protestierend eingeklagt werden. Diese brisante Mischung spiegelt sich in der Stimmungslage der Protestierenden wider: „When expressing their emotions concerning climate change and global warming, the majority of protesters felt worried, frustrated and angered, as well as anxious about the future, although they did not often express a feeling of hopelessness. Therefore, despite a general tendency of decreasing hopefulness that important environmental issues can be addressed through policies, FFF participants show that their action is driven by feelings, awareness of the issues and a willingness to engage in finding solutions.“ (de Moor et al. 2020, p. 4)
Für die Stärkung der Zukunftsfähigkeit durch FFF ist die Bereitschaft der Protestierenden entscheidend, sich an der Suche nach Lösungen aktiv zu beteiligen.
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Die Initiative Scientists For Future hat eine aktuelle Übersicht zu einer beachtlichen Zahl von lokalen Klimainitiativen („Graswurzelprojekte“) angelegt (nachzufragen bei [email protected]). 339
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Menschen auf der Flucht, bürgerschaftliches Engagement und kommunale Integrationspolitik „Die Globalisierung klopft an unsere Tür“ ‒ dieses Bild wurde im zweiten Halbjahr 2015 oft bemüht, als Hunderttausende von fliehenden Menschen aus ferneren Weltregionen nach Deutschland kamen. Regionale Kriege, Unterentwicklung, eine ungerechte Weltordnung, wachsende ökonomische Ungleichheiten, eine Häufung der von Menschen gemachten ökologischen Desaster sind wesentliche Ursachen für die weltweit verstärkten Fluchtbewegungen, die bereits 2012 einsetzten. Bis 2018 hatte sich die Zahl der Flüchtlinge im Bereich des UNHCR von 10,5 auf 20,4 Millionen Menschen fast verdoppelt. Im Jahr 2015 lebten mit 243 Millionen Menschen rund 3,3 Prozent der Weltbevölkerung außerhalb ihres Geburtslandes, zwanzig Jahre zuvor waren es noch 2,3 Prozent. Migration und Flucht werden, so die OECD-Prognose, das kommunale Geschehen auch in Zukunft prägen, wobei nur 15 Prozent der Geflüchteten Länder mit hohem Einkommen erreichen (OECD 2016, p. 161). Da mit Migration und Fluchtbewegungen auch weiterhin zu rechnen sei, rät die OECD zu einer solidarischen Praxis der reichen Länder, die nicht nur ihre humanitäre Verantwortung wahrnimmt, sondern längerfristige Entwicklungsperspektiven in den Vordergrund rückt. Dazu könne eine „kohärente“ Integrationspolitik beitragen, die Zuwanderung als lokale Entwicklungschance begreift. Auch ein Ende der kriegerischen Auseinandersetzung zeichne sich gerade in den Konfliktregionen nicht ab, aus denen die Mehrzahl der Geflüchteten kommt. Dass die aktuell eher bescheidenen Anstrengungen der deutschen Regierung oder im Rahmen der Europäischen Union zu einer Eindämmung der Fluchtursachen zu schnellen Erfolgen führen, scheint unwahrscheinlich. Auch wenn Flucht und Migration nicht explizit in den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen benannt werden, ist unstrittig, dass sie massiven Einfluss auf die deren Umsetzung haben ‒ erinnert sei nur an die wachsende Zahl von Klimaflüchtlingen (so schon Pro Asyl et al. 2013). Die überraschend große Zahl von Flüchtlingen, die im Sommer und Herbst 2015 vorübergehend die Chance hatte, nach Deutschland zu kommen, löste eine Welle von Hilfsbereitschaft aus. Auch wenn die empirischen Befunde uneinheitlich sind, ist davon auszugehen, dass sich nach einer mittleren Schätzung mehr als 40 Prozent der Bevölkerung in der einen oder anderen Form in diesen Jahren für Geflüchtete engagiert hat. Im Umfeld von Sammelunterkünften war der Anteil noch deutlich größer. Der Beitrag der Zivilgesellschaft zur Flüchtlingsaufnahme und bei der Integration vor Ort war in den Kommunen schon früh unstrittig: „Ein großer Teil der Arbeit wurde und wird von engagierten, ehrenamtlich tätigen Bürgerinnen und Bürgern geleistet. Ohne dieses Engagement wäre nicht nur vieles in der ersten Phase der Aufnahme der Menschen nicht machbar gewesen, sondern dieses Engagement wird auch in der vor uns liegenden Zeit für eine zügige und gelingende Integration gebraucht.“ (Deutscher Städtetag 2016, S. 5)
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Die überragende Bedeutung des bürgerschaftlichen Engagements in der Flüchtlingszuwanderung wird auch in weiteren Studien bestätigt (Mayer 2020). Was als „Stunde des bürgerschaftlichen Engagements“ begann, entwickelte einige Prägekraft. Flüchtlingshilfe wurde zu einem neuen Engagementfeld der Zivilgesellschaft (Zajak & Gottschalk 2018). Die „Flüchtlingskrise“ löste nicht nur eine breite Nothilfe in der Bevölkerung im Sinne von Erstversorgung, Essen und Unterkunft aus, sondern es waren vor allem zivilgesellschaftliche Akteure, die innovative Impulse für eine integrative Flüchtlingsarbeit gegeben und in den letzten Jahren weiterentwickelt haben (Schiffauer et al. 2017, 2018; Difu 2018). Fünf Jahre nach der großen Flüchtlingszuwanderung wird Deutschland von vielen Seiten bescheinigt auf einem guten Weg in der Integration der Geflüchteten zu sein. Zivilgesellschaftliche Akteure haben dazu auf mehreren Ebenen beigetragen, die gesellschaftliche Zukunftsfähigkeit zu stärken: 1. Mit den Willkommensinitiativen hat sich eine lokal sehr vielfältige und mehr oder weniger dauerhafte Projekteszene mit Ansätzen von Selbstorganisation und Empowerment von Geflüchteten ausgebildet, die Einfluss auf die lokale Flüchtlings- und Asylpolitik ausübt. Gleiche Augenhöhe, interkulturelle Begegnung, Partizipation und Engagement sind zu verbreiteten Leitbildern geworden, die ihren zivilgesellschaftlichen Ursprung nicht verleugnen können – unabhängig davon, wie weit sie praktisch umgesetzt werden (Stiftung Mitarbeit 2019). 2. Das zivilgesellschaftliche Engagement konnte mit lokal sehr unterschiedlich ausgeprägten Netzwerken Einfluss auf die kommunalpolitische Praxis in diesem Feld gewinnen. Das Profil, die Stabilität und die Wirksamkeit dieser zivilgesellschaftlichen Netzwerke variiert erheblich. Oft bestimmen nach einiger Zeit die institutionellen und professionellen Akteure im Verbund mit der etablierten Kommunalpolitik die Agenda einer Mehrzahl der Netzwerke. An anderen Orten konnten sich kooperative Netzwerke mit einer starken zivilgesellschaftlichen Stimme unter Einschluss von Migrantenorganisationen und Geflüchteten etablieren (Hamann et al. 2016). 3. Engagierte und Willkommensinitiativen haben die Praxis der klassischen integrationspolitischen Dienstleister, allen voran die der Wohlfahrtsverbände und deren Einrichtungen, mitprägen können – sei es durch eine große Zahl von Menschen, die sich für die Geflüchteten engagieren wollten und den Weg zu den Wohlfahrtsverbänden gefunden haben, sei es durch die Übernahme und Professionalisierung von Unterstützungsformaten, die aus dem bürgerschaftlichen Engagement entwickelt worden sind oder durch Praxisformen in der Sozialen Arbeit und Gesundheitsförderung, die für freiwilliges Engagement offen sind. Oft wirken alle drei Faktoren zusammen und prägen ein sich neu professionalisierendes, auf Fluchtmigration spezialisiertes kommunales Handlungsfeld. 4. Kommunen, Länder und der Bund haben früh damit begonnen, das ehrenamtliche Engagement für Geflüchtete überwiegend durch vielfältige Projektmittel zu unterstützen. Ein Überblick über die dabei geflossenen Mittel ist nur schwer möglich, da auch viele Organisationen und Vereine gefördert wurden, deren Bezug zum freiwilligen Engagement unbestimmt bleibt. Immerhin weist die Bundesregierung in einer Antwort auf eine kleine 341
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Anfrage (Drucksache 19/3784) einen Betrag von mehr als 100 Millionen Euro allein für das Jahr 2017 aus. Einige Bundesländer ‒ wie Baden-Württemberg ‒ haben bereits 2015 Programme zur Förderung kommunaler Vernetzungsstrukturen in der Flüchtlingshilfe aufgelegt. Die Förderung von Patenschaften bildet einen weiteren Schwerpunkt in der staatlichen Engagementförderung, wobei besonders Begegnungs- und Dialogformate gestärkt worden sind. Die Geschichte der Transformation der Flüchtlingsarbeit vom vorwiegend freiwilligen Engagement hin zur Berufstätigkeit, von der selbstorganisierten Spontanhilfe hin zur Einbindung in die kommunale Flüchtlingspolitik, von unabhängigen Initiativen zu Teilen des Dienstleistungsangebots von privaten oder freigemeinnützigen Trägern ist weder zu Ende noch im Detail beschrieben (Mayer 2020). 5. Die zahlreichen Initiativen und Projekte haben vor Ort eine ermutigende Offenheit und Integrationsbereitschaft praktisch sichtbar gemacht und gefördert, die der Resonanz des parallel von zahlreichen politischen Akteuren geführten Überforderungs- und Abwehrdiskurs Grenzen gesetzt hat. Auch wenn diese Offenheit sicherlich Grenzen hat, dürfte das bürgerschaftliche Engagement für Geflüchtete diese Grenzen zugunsten einer menschenrechtlich orientierten Asyl- und Flüchtlingspolitik verschoben und damit das Meinungsklima zu dieser Frage beeinflusst haben. In den Jahren seit 2015 ist praktisch sichtbar geworden, was diverse Einstellungsstudien bereits für die Jahre davor konstatiert hatten. Im Vergleich zu anderen OECD-Staaten hat sich in der politischen Kultur Deutschlands der letzten Dekaden eine große Offenheit für Zuwanderung und Vielfalt ausgebildet (More in Common 2017), die auch unter Stress in beachtlichem Umfang erhalten geblieben ist. Auch im Sommer 2018 ist die Unterstützung von Geflüchteten und die Akzeptanz von Vielfalt und der sozialen Zusammenhalt groß (Gesemann et al. 2018). Es sind noch immer Mehrheiten, teilweise große Mehrheiten, die diese Offenheit unterstützen. Gleichzeitig fühlen sich Minderheiten zwischen 5 und 25 % der lokalen Bevölkerung bedroht und reagieren befremdet und abwehrend – besonders stark auf vermeintliche oder reale Muslime. Dem entspricht auch eine anhaltend hohe Zahl von Gewalttaten gegen Geflüchtete und Anschlägen auf Unterkünfte. Diese „dunkle Seite“ der Zivilgesellschaft gehört ebenfalls zu den Erfahrungen mit der jüngsten Flüchtlingszuwanderung. In einigen Regionen und sozial schwächeren Stadtquartieren vollzieht sich eine Ethnisierung der sozialen Frage, werden Gefühle des sozialräumlichen, infrastrukturellen und individuellen Abgehängtseins auf die neuen Sündenböcke projiziert. Die Herausforderungen der Flüchtlingszuwanderung haben besonders dort zu einem Aufschwung rechtsradikaler und fremdenfeindlicher Haltungen beigetragen, wo sich solche Orientierungen bereits zuvor lokal verankern konnten. Der parlamentarische Aufstieg der AfD ist ein sichtbarer Ausdruck politischer Polarisierungstendenzen. Trotz dieser widerstreitenden Reaktionen und des beunruhigenden „unzivilen Engagements“ überwiegt der positive Befund. Sowohl in ihrem Umfang wie in der dominanten normativen Orientierung hat die engagierte Bürgerschaft ihre Reifeprüfung bestanden und zur demokratischen Selbstkorrektur der Zivilgesellschaft beigetragen, indem sie der „Selbstvergiftung der Zivilgesellschaft“ durch Anti-Flüchtlings-Initiativen mit Gegenmobilisierungen Grenzen gesetzt hat (Heins & Unrau 2020).
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6. Was in Zeiten geringer Zuwanderung begonnen hatte, ist aktueller denn je. Kommunen sind integrationspolitisch immer dann am erfolgreichsten, wenn sie die neu Zugewanderten nicht als Problem, sondern als Teil der Lösung sehen können. Bereits in den letzten zwei Jahrzehnten war kommunal ein Rückgang der Problem- und Defizitsicht auf Migrantinnen und Migranten zugunsten einer Ressourcenorientierung zu beobachten. Dieser Trend war selbst unter den erschwerten Bedingungen verstärkter Fluchtmigration zu beobachten. Zahlreiche Kommunen binden aktuell ihre Integrationsarbeit in längerfristige Perspektiven der Stadt- und Dorfentwicklung ein und sehen – besonders im ländlichen Raum – Zuwanderung als demografische Chance. Leitbilder wie Solidary City, Welcoming Community und Refugee City erfreuen sich einiger Resonanz und verdeutlichen, dass eine engagierte lokale Zivilgesellschaft die Chancen zu einer zukunftsfähigen Kommunalisierung der Immigrationspolitik fördert (Gesemann & Roth 2018; Nuissl et al. 2019).
Der Konflikt um Stuttgart 21 und die Beteiligungspolitik in Baden-Württemberg Mit den Landtagswahlen vom 27. März 2011 vollzog sich in Baden-Württemberg ein „historischer Machtwechsel“ (Wagschal et al. 2013). Nachdem 58 Jahre lang die CDU den Ministerpräsidenten stellen konnte, übernahm mit Winfried Kretschmann erstmals ein Politiker der Grünen dieses Amt und stand einer grün-roten Landesregierung vor. Fünf Jahre später wurde er eindrucksvoll im Amt bestätigt, die Grünen wurden stärkste Partei und er konnte mit einer grün-schwarzen Regierung weiterarbeiten. Der jahrelange Großkonflikt um das Bahnhofsprojekt „Stuttgart 21“ (Brettschneider & Schuster 2013) und die Reaktorkatastrophe von Fukushima zwei Wochen vor den Landtagswahlen beförderten diesen Regierungswechsel (Roth 2013) und prägten auch das Regierungsprogramm. Dabei ging es nicht nur um die Umsetzung der klassischen „grünen“ Themen, sondern um eine partizipative Erweiterung und Stärkung der Demokratie. Eine neue Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung wurde eingesetzt und die Amtsinhaberin Gisela Erler prägte eine Dekade, in der Baden-Württemberg zu einem Reallabor für demokratische Erneuerung wurde. Die beiden Ereignisse waren, so die Staatsrätin im Rückblick „auch eine Schocktherapie für die Erneuerung der Demokratie in ganz Deutschland. Überall fragten sich Bürgermeister und Verwaltungen, aber auch Landesregierungen und sogar die Bundesregierung: Was können wir tun, um in Zukunft solche politischen Erschütterungen bei Infrastrukturvorhaben zu verhindern? Stand doch der Bau neuer Stromtrassen und Windräder, der durch die Energiewende nötig wurde, im Raum, gefolgt von der Notwendigkeit, Städte im Innern zu verdichten oder neue Gewerbeflächen auszuweisen.“ (Erler 2019, S. 1)
Die erste grün-rote Regierungskoalition auf Landesebene machte sich daran, Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie als wichtige demokratische Pfeiler auszubauen und in 343
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allen Politikfeldern zur Geltung zu bringen – dem eigenen Selbstverständnis nach nicht als Alternative, sondern als „behutsame Ergänzung“ (Kretschmann 2014) der repräsentativen Demokratie. Im Profil zeigt sich, dass der Ansatz Baden-Württembergs stark deliberativ und pragmatisch ausgerichtet ist. Er verspricht eine „Politik des Gehörtwerdens“ und eine „Politik auf Augenhöhe“. Dazu passt, dass auch die Demokratiepolitik selbst im Dialog mit der Bürgerschaft entwickelt werden soll. Dabei werden auch Anregungen aus den Nachbarländern, wie die „Bürgerräte“ in Vorarlberg oder die Schweizer Ausgestaltung der direkten Demokratie, aufgegriffen. Zudem soll das Verwaltungshandeln langfristig bürgerfreundlicher werden. Bürgerdemokratie kommt in Baden-Württemberg nicht als großer Wurf im Rahmen eines detaillierten Gesamtkonzepts oder Masterplans daher und nicht als systematische Reflexion aller Möglichkeiten, sondern in pragmatischen Einzelschritten, die durch eine gemeinsame Philosophie verknüpft sind. Es geht um das „Brückenbauen für mehr Beteiligung“. Die zuständige Staatsrätin spricht von einem Konzept, „das nicht statisch einmal festgeschrieben wird, sondern sich dauernd beteiligend und dynamisch, gemeinsam mit den Akteuren aus Bürgerschaft, Politik und Verwaltung weiterentwickelt“. Regelmäßige Evaluationen sollen Lernprozesse ermöglichen. Im Zentrum der Beteiligungspolitik stehen die Gemeinden: „Bürgerbeteiligung erfolgt in erster Linie in den Gemeinden, Städten und Landkreisen. Diese sind uns deshalb wichtige Partner auf dem Weg zu mehr und systematischer Beteiligung im Land.“7 Zahlreiche kommunale Initiativen, wie die Leitlinien für mitgestaltende Bürgerbeteiligung in Heidelberg oder Filderstadt, unterstützen diesen Weg, der sich zudem auf eine im ‚Ländle‘ weit entwickelte Förderung des bürgerschaftlichen Engagements beziehen kann. Wesentliche Einzelschritte der „Politik des Gehörtwerdens“ waren auf Landesebene • die Gründung einer von verschiedenen Stiftungen getragenen „Allianz für Beteiligung“ als „von unten wachsendes Netzwerk“ aus allen gesellschaftlichen Bereichen und Wirtschaftsvertretern auf einem Impulskongress im Mai 2012. Die Allianz soll eine breite Grundlage für beteiligungspolitische Initiativen schaffen, die nicht per ordre de mufti umgesetzt werden können, sondern aus der Zivilgesellschaft selbst kommen müssen. Eines der zahlreichen Ergebnisse der Allianz ist ein regelmäßiges „Demokratie-Monitoring“ für Baden-Württemberg, gefördert durch die Baden-Württemberg Stiftung (2015, 2019); • eine „Verwaltungsvorschrift zur Intensivierung der Öffentlichkeitsbeteiligung in Planungs- und Zulassungsverfahren“, die 2013 und 2014 nach einem aufwändigen Beteiligungsverfahren zusammen mit einem Leitfaden für eine neue Planungskultur in Kraft getreten ist (Erler & Arndt 2014). Das Land geht damit bei eigenen Infrastrukturvorhaben mit gutem Beispiel voran, wie die Bürgerschaft so früh wie möglich in die Planung von Vorhaben einbezogen werden soll (z. B. beim Verkehrswegebau, bei Stromtrassen, landesweiten Einrichtungen). In mehreren hundert Planungsprozessen des Landes wurden seither Erfahrungen mit der Verknüpfung von formellen Planungs7
Die Zitate stammen aus einer Presseerklärung von Gisela Erler, veröffentlicht vom Staatsministerium am 21. September 2012.
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verfahren und informeller Bürgerbeteiligung gesammelt. Es gelang zudem, wichtige Unternehmens- und Berufsverbände für ähnliche Standards bei Planungsvorhaben in Kommunen oder im Auftrag des Bundes zu gewinnen. So legte der VDI parallel seine Richtlinie 7000 zur „frühen Öffentlichkeitsbeteiligung bei Industrie- und Infrastrukturprojekten“ vor (zu den Herausforderungen, die es nach wie vor für Bürgerbeteiligung bei Bau- und Infrastrukturprojekten gibt: Brettschneider 2020); • Impulse für eine beteiligungsfreundliche Verwaltung, ohne die partizipative Planungsprozesse keine Chance haben. Seit Oktober 2012 bietet z. B. die Führungsakademie des Landes regelmäßig Studiengänge und Weiterbildungen zur Bürgerbeteiligung mit dem Ziel angeboten, die Kultur der Bürgerbeteiligung durch gut geschulte Verwaltungsmitarbeiter zu verankern (zu den Umsetzungsdefiziten: Brunold 2018); • dialogische Beteiligungsangebote bei kontroversen Projekten, wie der Standortsuche für eine Justizvollzugsanstalt, bei der Lösung kommunaler Herausforderungen („Nachbarschaftsgespräche“ in Brennpunktvierteln etc.) oder in der Stärkung lokaler Netzwerke bei der Aufnahme von Geflüchteten; • die Verankerung einer partizipativen Gesetzgebung. Auf dem Beteiligungsportal des Landes (www.beteiligungsportal-baden-wuerttemberg.de) werden Gesetzentwürfe den Bürgern per Internet zur Kommentierung unterbreitet (zur Resonanz und zu den Wirkungen: Brettschneider 2019). Außerdem werden bei zentralen Vorhaben der Landesregierung, wie dem Klimaschutzkonzept des Landes Bürgerinnen und Bürger durch Konsultationen in die Ideenfindung und Konzeptentwicklung einbezogen, wobei Formen der Zufallsauswahl („Bürgerräte“, „mini-publics“ etc.) besondere Aufmerksamkeit erfahren (Erler 2019, S. 5‒6). Die Summe dieser Reformschritte hat Baden-Württemberg sicherlich nicht zum „Musterland“ in Sachen Bürgerbeteiligung gemacht. In einigen Politikfeldern und in der Ausgestaltung direkter Demokratie sind Wünsche offengeblieben (Hörisch & Wurster 2017; Fatke 2017). Gleichwohl machte bereits die Halbzeitbilanz deutlich, dass Baden-Württemberg eine anspruchsvolle demokratiepolitische Agenda entwickelt hat, die vielfältige Impulse aus der Zivilgesellschaft im Sinne eines demokratischen Experimentalismus aufgreift und als Chance für politische Zukunftsfähigkeit ansieht.
Eine Zwischenbilanz Die ausgewählten Beispiele dürften gezeigt haben, dass zivilgesellschaftliche Akteure auf vielfältige Weise zur gesellschaftlichen Zukunftsfähigkeit beitragen können. Das Spektrum reicht vom Protest, der Gestaltungsoptionen offen hält, über soziale und politische Innovationen aus der Zivilgesellschaft, das kritische Monitoring staatlicher Politik, die Unterstützung bei besonderen Herausforderung wie der Fluchtzuwanderung bis zur systematischen
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Bürgerbeteiligung, die Umrisse einer vielfältigen Demokratie sichtbar werden lässt und Abschied von einer staatsfixierten Lesart der Politik- und Zukunftsgestaltung nimmt. Die exemplarischen Skizzen dieses Beitrags sind in mehrfacher Hinsicht selektiv: • Es handelt sich um ‚gute‘ Beispiele im Sinne des Anliegens, Zivilgesellschaft als Quelle von Nachhaltigkeit ins Spiel zu bringen und zu stärken. Zivilgesellschaftliche Akteure können das chronische Akteursdefizit der Nachhaltigkeitsdebatten verringern helfen – sei es, indem sie protestierend auf Fehlentwicklungen aufmerksam machen oder selbst gestaltend tätig werden. • Die Darstellung ist bewusst einseitig, weil der proaktive Einfluss anderer Akteursgruppen (Wissenschaft, politische Parteien, transnationale Impulse etc.) weitgehend ausgeblendet wird, um den Fokus auf die Zivilgesellschaft zu verstärken. • Vernachlässigt werden auch zivilgesellschaftliche Gegenbewegungen, die es gerade entlang der Themen Energie, Klima und Fluchtzuwanderung in großer Zahl gibt.8 Damit wird nicht unterstellt, dass zivilgesellschaftliche Akteure per se zukunftsorientiert agieren. In der Regel handelt es sich eher um ein vielstimmiges Terrain. • Es wird zudem auf Wirkungsfragen verzichtet. Wer die Bilanzen von Bewegungsinitiativen liest, wird oft auf skeptische Töne treffen: „viel bewegt, wenig erreicht!“9 Oft handelt es sich um Wellenbewegungen, wie das Beispiel der Energiewende zeigt. Ob die Anstrengungen Baden-Württembergs, zum partizipativen Musterland zu werden, auch bei der Bürgerschaft insgesamt angekommen sind oder nur eine kleine Gruppe von Aktiven erreichen konnten, ist ungeklärt. • Selektiv ist die Auswahl auch deshalb, weil die wohl überwiegend zu beobachtenden Blockaden zwischen Zivilgesellschaft, Politik und Verwaltung vernachlässigt wurden. Das gilt besonders für soziale Bewegungen (Roth & Rucht 2008). • Auch die Vorgeschichte aktueller Initiativen wird ausgeblendet. Bei aller Begeisterung für FFF sollte z. B. nicht übersehen werden, dass die lokale Klima- und Nachhaltigkeitspolitik in Zeiten der Lokalen Agenda 21 (also zwei, drei Jahrzehnte zuvor) schon einmal wesentlich lebendiger und institutionell verankerter war als heute. Dennoch lassen sich einige Impulse aus der Zivilgesellschaft festhalten, die sich positiv auf die gesellschaftliche Zukunftsfähigkeit auswirken können: Erstens können zivilgesellschaftliche Organisationen und Initiativen dabei helfen, das chronische Akteursdefizit der inzwischen stark natur- und technikwissenschaftlich geprägten Zukunftsdebatten zu verringern. Zwar gibt es immer wieder Verweise auf notwendige Bildungsprozesse sowie Verhaltens- und Lebensstiländerungen, aber insgesamt wird doch stark auf naturwissenschaftlich begründete Grenzwerte und Szenarien gesetzt, die vor allem mächtige Gruppen 8 9
Zum Beispiel werden auf einer Karte von Bürgerinitiativen gegen Windkraftanlagen Ende März 2020 insgesamt 1.120 Initiativen und Verbänden verzeichnet (Windwahn 2020). Trotz breiter öffentlicher Anerkennung gilt für FFF: „Die Beschlüsse des ‚Klimakabinetts‘ vom September 2019 blieben weit hinter den Erwartungen zurück“ (Rucht 2019, S. 8).
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– allen voran staatliche Akteure – zum Handeln bewegen sollen. Wenn es um Akteure der Transformation oder „change agents“ geht, geraten meist nur einige Pioniere in den Blick, während die Breite und Vielfalt realer Zivilgesellschaften ausgeblendet wird.10 Während die Lokale Agenda 21 noch stark auf kommunale Beteiligungslandschaften aufbaute, dominierte schon ein Jahrzehnt später eine Stakeholder-Perspektive, die auf den Beitrag starker Akteure und Interessenverbände setzte (Meadowcroft 2004). Die begeisterte Aufnahme der Mobilisierung von jungen Menschen in Fridays For Future lässt sich auch vor diesem Hintergrund verstehen. Der Klimadebatte wächst damit ein neuer Akteur mit eigener Handlungsmacht zu (Huth 2020). Zweitens können Bürgerinitiativen, soziale Bewegungen und Proteste durch Blockaden dabei helfen, Zeit zu gewinnen und so Handlungsspielräume für künftige Entwicklungen offen halten. Im historischen Rückblick verdient dieser Widerspruch mehr Anerkennung für den Umgang mit ökologischen Herausforderungen (so mit philosophischer Begründung schon Claus Offe im Jahr 1989). Proaktiv können zivilgesellschaftliche Akteure vor allem dann wirken, wenn es gelingt, institutionelle Brücken und kollaborative Netzwerke zu Politik und Verwaltung zu etablieren, ohne den zivilgesellschaftlichen Eigensinn zu verlieren. Drittens ist die Zivilgesellschaft eine wichtige Quelle für die Weiterentwicklung hin zu einer zukunftssensiblen Demokratie. Wie das Beispiel Baden-Württemberg zeigt, kann die Zukunftsfähigkeit repräsentativer Demokratien durch erweiterte Formen der Bürgerbeteiligung gesteigert werden. ‚Vielfältige Demokratie‘ erweitert den Chor der unterschiedlichen Stimmen und kann gezielt ‚schwachen‘ Bevölkerungsgruppen Gehör verschaffen. Die Machtteilung in demokratischen „Reallaboren“ erhöht die politische Lernfähigkeit und verspricht positive Antworten auf die immer wieder gestellte Frage: „Ist die Demokratie zukunftsfähig?“ (Höffe 2009; Gesang 2014; Stein 2014; Loske 2015). Viertens stärkt eine lebendige und einflussreiche Zivilgesellschaft, wie das Beispiel der Flüchtlingszuwanderung zeigt, die gesellschaftliche Resilienz. Aus systematischen Gründen, vor allem wegen der Zunahme von unbekannten Ungewissheiten, von „unknown unknowns“ (Urry 2016), können wir uns weniger denn je auf Trendaussagen verlassen, die bekannte Entwicklungen in die Zukunft verlängern. Ein prominentes Beispiel ist das WBGU-Gutachten von 2011, das noch von einem ungebrochenen Megatrend in Richtung weltweiter Demokratisierung ausging (S. 53ff.). Dass zivilgesellschaftliche Akteure in der Lage sind, auf unvorhergesehene Entwicklungen zu reagieren, zeigen nicht nur die Mobilisierungen gegen einen stärker werdenden Rechtspopulismus (Siim et al. 2019). Für die Resilienz der Zivilgesellschaft spricht auch das Engagement im Umgang mit Covid-19 im Jahr 2020.
10 Positive Ansätze bietet u. a. ein Hauptgutachten des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU 2011, S. 255ff.) oder Renn et al. (2012). 347
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Zukunftsfähigkeit: Impulse der Zivilgesellschaft
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Whistleblower (un)erwünscht? Annegret Falter
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Whistleblower-Schutz in Deutschland vor der gesetzlichen Regelung „Aber wie schlimm es dann wirklich kommt, kann man sich kaum vorstellen.“ (Martin Porwoll)
Die letzte Verhandlung im Rechtsstreit zwischen der Vivantes Netzwerk für Gesundheit GmbH und der Altenpflegerin Brigitte Heinisch findet am 24. Mai 2012 im Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg statt und dauert fünf Stunden (LAG Berlin-Brandenburg 25 Sa 2138/11). Der Tag ist heiß und die Nerven liegen blank. Der Vorsitzende rät von Anfang an zum Vergleich, aber Brigitte Heinisch hat nicht sieben Jahre für ihr Recht gekämpft, um sich in letzter Minute den Schneid abkaufen zu lassen. Sie hat gelernt, Druck auszuhalten. Sie hat ein Urteil vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)1 erstritten, das die Situation für Whistleblower in Deutschland hätte grundlegend verbessern können. Allerdings hat sich die herrschende Meinung in der Folge nur in Nuancen geändert. Die Restitutionsklage von Brigitte Heinisch vor dem LAG endet schließlich doch mit einem Vergleich (Falter 2012, S. 78). Der Vergleich sieht u. a. vor, dass Vivantes an Heinisch
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Der EGMR verurteilte die Bundesrepublik Deutschland am 21. Juli 2011 zu einer Schadensersatzzahlung von 15.000 Euro, weil ihre Gerichte das Recht der Klägerin auf freie Meinungsäußerung missachtet und damit gegen Artikel 10 der Europäischen Menschrechtskonvention (EMRK) verstoßen hätten (EGMR 28274/08). Der Straßburger Gerichtshof hat das Recht des Arbeitsgebers Vivantes Netzwerk für Gesundheit GmbH auf Loyalität seiner Angestellten und Schutz seines guten Rufs gegen das Grundrecht der Klägerin Heinisch auf Freiheit der Meinungsäußerung abgewogen. Ein zentrales Kriterium war dabei das öffentliche Interesse. Er gelangt zu dem Ergebnis, dass die deutschen Gerichte keinen fairen Ausgleich herbeigeführt hätten. Es liege eine Verletzung von Art. 10 EMRK vor. Nach diesem Urteil trat Vivantes mit einem Vergleichsangebot an Brigitte Heinisch heran. Sie lehnte ab. Stattdessen erhob ihr Anwalt Benedict Hopmann eine durch das Urteil des EGMR möglich gewordene Restitutionsklage nach § 580 Nr. 8 ZPO vor dem LAG Berlin-Brandenburg, aufgrund derer Heinischs Kündigungsschutzklage aus 2005 neu verhandelt wurde und mit einem Vergleich endete.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_23
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eine Abfindung von 90.000 Euro gemäß §§ 9‒10 Kündigungsschutzgesetz zahlt und ihr ein wohlwollendes Zeugnis ausstellt, dass damit alle Ansprüche der streitenden Parteien erledigt sind und die Kosten des Restitutionsverfahrens gegeneinander aufgehoben werden. 90.000 Euro für siebeneinhalb Lebensjahre voller Existenzangst, Zweifeln und Verzweiflung, Depression und Wut. Der Großkonzern hatte die 50-jährige Altenpflegerin mit mehreren Kündigungen abgestraft, nachdem sie auf den Personalmangel und die damit verbundenen untragbaren Zustände an ihrem Arbeitsplatz aufmerksam gemacht hatte. Erst intern, dann mit dem Notbehelf einer Strafanzeige,2 schließlich öffentlich. Der EGMR urteilte, dass sie ihr Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit zugunsten der hilflosen Heimbewohner im öffentlichen Interesse wahrgenommen habe. Vor dem Hintergrund der politischen Krokodilstränen über den aktuellen „Pflegenotstand“3 mutet der Rechtsstreit surreal an. Heinisch hatte den Finger in die Wunde gelegt. Sie war im Recht. Der EGMR hat es ihr bestätigt. Ein deutscher Arbeitsrichter legte dennoch einen Vergleich nahe. Die Kündigungsschutzklage von Martin Porwoll wird im Mai 2018 in zweiter Instanz vor dem Landesarbeitsgericht in Hamm verhandelt. Martin Porwoll zieht es nach seinen Erfahrungen mit der ersten Instanz ebenfalls vor, einem Vergleich zuzustimmen. Andernfalls würden auch ihm weitere jahrelange gerichtliche Auseinandersetzungen mit einem mächtigen Gegner drohen. Porwoll war kaufmännischer Leiter einer Bottroper Apotheke, in der Krebsmedikamente nach individueller ärztlicher Verordnung hergestellt wurden. Als er aufgrund konkreter Verdachtsmomente zu der Überzeugung gelangte, dass die Dosierung der Wirkstoffe vom Inhaber der Apotheke, Peter S., in betrügerischer Absicht skrupellos manipuliert wurden und so das Leben vieler Patient*innen in Gefahr war, erstattete er Strafanzeige. Sein Arbeitgeber kündigte ihm fristlos, unmittelbar nachdem er in Untersuchungshaft über das Akteneinsichtsrecht seines Anwalts den Namen des Whistleblowers erfahren hatte. Er ließ monatelang Kündigungsgründe nachschieben. Einer davon, der nichts mit dem Whistleblowing zu tun hatte, reichte schließlich zur Abweisung von Porwolls Kündigungsschutzklage in der ersten Instanz. Gegen den Apotheker S. wurde wegen Abrechnungsbetrugs in Höhe von 50 Millionen Euro Anklage erhoben. Körperverletzung (mit Todesfolgen) ließen sich – auch aufgrund von Versäumnissen der Ermittler – nicht in konkreten Fällen auf gepanschte Krebsmittel zurückführen. Verurteilt wurde S. schließlich zu 12 Jahren Haft und einer Geldstrafe von 17 Millionen Euro. Rückblickend schreibt Martin Porwoll: „In dem Moment, in dem mir klar wurde, dass ich zum ‚Whistleblower‘ werden würde, schienen mir alle Konsequenzen bewusst. Ich kann nicht behaupten, dass ich nicht geahnt hätte, was auf mich zukommt, was das alles für meine Familie bedeuten würde. Verlust des Arbeitsplatzes, der Ruf ein Verräter zu sein, keinen neuen Arbeitsplatz zu finden. Ich wuss2 3
Die fristlose Kündigung wegen Erstattung einer Strafanzeige war Gegenstand der Klage vor dem EGMR. „Die Uni Bremen ist erst kürzlich in einer Studie zu dem Ergebnis gekommen, dass in Altenheimen und Senioreneinrichtungen mindestens 150.000 Pflegekräfte fehlen. Das kommt jetzt im Rahmen der Pandemie besonders zum Tragen“ (Kieselbach 2020).
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te, dass Whistleblower in Deutschland kaum geschützt sind. Die Konsequenzen waren Teil meiner bewussten Entscheidung. Wie schlimm es dann wirklich kommt, kann man sich kaum vorstellen.“ (Falter et al. 2018)
Wie vielen Krebskranken hat Martin Porwoll wohl das Leben gerettet? Wie viel Leid und Elend hat er verhindert? Man sollte meinen, so ein Fall hätte ein Urteil verdient. Das hätte das herrschende Richterrecht auf diesem Rechtsgebiet vielleicht ein Stück weit zurechtgerückt. Das im Vergleich erstrittene Geld hat Porwoll übrigens bis heute (Stand Juni 2020) nicht erhalten. Sein ehemaliger Arbeitgeber hatte die Apotheke, die er selbst nicht mehr betreiben durfte, zwischenzeitlich seiner alten Mutter überschrieben. Durch weitere finanzielle Kunstgriffe und die Geldstrafe, zu der er im vorausgegangen Strafprozess verurteilt worden war, wurde er zahlungsunfähig. Die rechtmäßigen Ansprüche des Whistleblowers wurden im Insolvenzverfahren hintangestellt. Martin Porwoll muss wohl oder übel weiter streiten und kämpfen, nur der Kriegsschauplatz hat gewechselt. Zur Ruhe sind er und seine Familie nicht gekommen. Die Fälle Heinisch und Porwoll lassen das Kräfteungleichgewicht erkennen, das die meisten Whistleblower-Fälle kennzeichnet. Die schiere Übermacht der finanziellen Ressourcen eines Unternehmens im Vergleich zu den Gehältern der meisten Beschäftigten lässt viele Whistleblower vor einer möglichen gerichtlichen Auseinandersetzung mit ihrem Arbeitgeber zurückschrecken. Gegen eine Kündigung kann ein Whistleblower sich nur mit einer Kündigungsschutzklage wehren. In der langen Zeit, die der Weg durch die Instanzen dauern kann, erhält er kein Gehalt. Eine Weile mögen Ersparnisse zum Unterhalt der Familie und zur Bezahlung von Anwälten herhalten. Aber ein potenzieller Whistleblower braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie lange er das durchhalten kann. Wenn schon in einem scheinbar klaren Fall des Betrugs, wenn nicht gar Verbrechen, wie im Fall des Apothekers S., ein vorgeschobener Kündigungsgrund als Rechtens erkannt wird – wie viel Mut braucht es dann, sich mit einem übermächtigen Gegner wie Vivantes anzulegen, wo kein konkreter Rechtsverstoß nachweisbar ist? Ohne Mut (emotio) nützt nach Kant der eigene Verstand (ratio) wenig. Der Verstand sei nie „an sich selbst“ allein gegeben (Kant 2016). Dass Menschen den Mut aufbringen, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen, um Rechtsverstöße und andere Missstände als solche zu erkennen und im öffentlichen Interesse aufzudecken, ist aber nicht voraussetzungslos. Die Gesellschaft muss neben rechtlichen und institutionellen Bedingungen auch das soziale Umfeld dafür schaffen und pflegen. Trägt unsere Gesellschaft, trägt unser Rechtssystem zu einer entsprechenden ‚Ermutigung‘ bei?
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Das soziale Umfeld der Whistleblower „Auch das gesellschaftliche Umfeld des ‚Whistleblowers‘ ist gewöhnlich nicht auf seiner Seite. Sein Verhalten wird als Verrat eingestuft, gilt als illoyal. Ein tief verwurzeltes Ethos der Gefolgschaftstreue überlagert die Grundsätze einer aufgeklärten Ethik, die sein Verhalten gutheißt. Zustimmung erfährt er, wenn überhaupt, gewöhnlich von weither. Von Freunden gemieden, vom Recht verfolgt – das ist das gewöhnliche Schicksal dessen, der sich im Interesse von Frieden, Umwelt oder anderen höchstrangigen Rechtsgütern zum Bruch der Verschwiegenheit entschließt.“ (Dr. Jürgen Kühling, Richter am Bundesverfassungsgericht a. D., 1999; zit. in Deiseroth & Falter 2009, S. 7)
Bevor der spätere Bundesverwaltungsrichter Dr. Dieter Deiseroth sich der Thematik in seinem Buch Berufsethische Verantwortung in der Forschung (1997) annahm, gab es nur einen öffentlichkeitswirksamen Whistleblower-Fall in Deutschland: Den Fall Werner Pätsch in den 60er-Jahren4 (Falter 2006). Allerdings wäre wohl niemand auf die Idee gekommen, den Mitarbeiter des Verfassungsschutzes (BfV), Regierungsinspektor Werner Pätsch, einen „Whistleblower“ zu nennen. Noch im Jahr 2003 machte sich Daniel Ellsberg5 bei der Verleihung des Whistleblower-Preises darüber lustig, dass die Deutschen kein Wort für „Whistleblower“ hätten: „Ist es nicht wunderbar in einem Land zu sein, das keine Whistleblower braucht. Ja, nicht einmal einen Begriff dafür!“ Eine angemessene, positiv konnotierte Übersetzung gibt es bis heute nicht. So hat sich der Anglizismus in Deutschland eingebürgert. Deiseroth war der erste und lange Zeit der einzige deutsche Jurist, der die Bedeutung des Whistleblowing für das Gemeinwohl demokratischer Gesellschaften sowie die arbeitsund dienstrechtliche Schutzlücke auf diesem Gebiet erkannte. Schon 1999 ergriff er mit anderen die Initiative zur Verleihung eines Whistleblower-Preises, der in der Folge in zweijährigem Rhythmus zehn Mal von der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) und der deutschen Sektion der International Association of Lawyers Against Nuclear Arms (IALANA) verliehen wurde. Mit dem Preis sollten Persönlichkeiten geehrt werden, die in ihrem Arbeitsumfeld gravierende Missstände und Risiken für Mensch, Gesellschaft und Umwelt aufgedeckt hatten. Die Reden der Preisverleihungen, die Sachverhalte und die Schicksale der Preisträger*innen wurden sorgfältig dokumentiert und erschienen in der Schriftenreihe Wissenschaft in der Verantwortung, der die oben zitierten Worte des ehemaligen Verfassungsrichters Jürgen Kühling vorangestellt waren.
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Pätsch arbeitete in der Spionageabwehr des BfV und informierte die Öffentlichkeit über die dortigen Praktiken illegaler Post- und Fernmeldeüberwachung sowie die Rolle von Mitarbeitern mit NS-Vergangenheit. Der BGH urteilte 1965, dass Bürger das Recht hätten, die Öffentlichkeit über Amts- und Staatsgeheimnisse zu informieren, wenn diese einen schweren Verstoß gegen die verfassungsmäßige Ordnung darstellten. Dies wurde für den vorliegenden Fall verneint. Die Verfassungsbeschwerde von Pätsch wurde 1970 abgewiesen. Daniel Ellsberg war 1971 in den USA wegen Veröffentlichung der Pentagon Papers über die politische Geschichte des Vietnamkriegs nach dem Espionage Act von 1917 angeklagt worden.
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Anhand konkreter Fälle wurde die Bedeutung des Whistleblowing für das Gemeinwohl aufgezeigt. Es sollte sichtbar gemacht werden, dass viele gesellschaftliche Missstände nur mithilfe von Insider-Wissen ans Licht gebracht und beseitigt werden konnten. Die Öffentlichkeit sollte ein Gespür für die Ungerechtigkeit bekommen und nachvollziehen können, in welchem Ausmaß die Gesellschaft als Ganze davon profitiert, dass Einzelne bereit sind, für sie den Kopf hinzuhalten. Die Fälle machten den Spruch anschaulich, dass der Bote für das Überbringen der schlechten Nachricht bestraft wird. Damit sollte ein Einstellungswandel in der Bevölkerung und letztlich in Politik und Judikatur erreicht werden. Der Erfolg lässt sich schwer messen. Das Ergebnis scheint ambivalent. Es sind nach wie vor viele Widerstände und Vorurteile Whistleblowern gegenüber zu verzeichnen. Trotz der Bekanntheit und relativen Beliebtheit von Edward Snowden aufgrund seiner Enthüllungen zu illegalen Abhörmethoden westlicher Geheimdienste lässt sich eine allgemeine Akzeptanz von Whistleblowing nicht feststellen. Gerade in Deutschland scheinen noch immer Aversionen zu überwiegen, die mit der Rolle von Gestapo-Spitzeln im Dritten Reich und den Informellen Mitarbeitern der Staatssicherheit in der DDR zusammenhängen. So nannte der CDU-Fraktionsvorsitzende Wolfgang Kauder Whistleblower noch im Januar 2011 bei einer Bundestagsdebatte „Blockwarte“ (Whistblower-Netzwerk 2011). Seit 2008 sind sechs Gesetzentwürfe zum Whistleblower-Schutz am Widerstand von Christdemokraten und Liberalen gescheitert. In den Expertenanhörungen zu den Gesetzentwürfen haben sich auch die Vertreter von Arbeitgeber- und Juristenverbänden überwiegend gegen ein Whistleblower-Schutzgesetz ausgesprochen. Die Interessenkonflikte scheinen schwer überwindbar. Ein kürzlich aus dem Wirtschaftsministerium an die Öffentlichkeit gelangtes Papier lässt befürchten, dass die herrschende Politik immer noch nicht erkannt hat, dass Whistleblowing in einer globalisierten, von Konkurrenz getriebenen Welt voller undurchschaubarer politischer, technologischer und wirtschaftlicher Entwicklungen im öffentlichen Interesse demokratischer Gesellschaften liegt. Bei der Zivilgesellschaft scheint die Nachricht hingegen angekommen zu sein. Dort ist sie sozusagen auf fruchtbaren Boden gefallen. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg und vor allem nach 1968 ist es zu einer Ausweitung demokratischer Ansprüche auf Partizipation und Kontrolle in allen Lebensbereichen gekommen, von der Familie und der Erwerbsarbeit über die Hochschulen bis hin zu den Unternehmen. Lebensbereiche, die zuvor von demokratischen Ansprüchen frei waren. Mit dieser Demokratisierung wurde auch das Konzept der Zivilgesellschaft aufgewertet. Der demokratische Anspruch transformiert auf Dauer selbst das Wesen der Menschen: „Their habits of heart have to change. People need to become democracies within themselves“ (Keane 2009). Dieser Prozess ist laut John Keane mit der Entfaltung neuer Monitoring-Institutionen verbunden, die die Einhaltung demokratischer Regeln beobachten, Machtmissbrauch in Politik und Wirtschaft zur Sprache bringen und ermöglichen, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. An dieser Stelle reiht sich Whistleblower-Netzwerk e. V. ein, ein 2006 gegründeter gemeinnütziger Verein, der sich rechtspolitisch und durch Beratung von Whistleblowern und Organisationen für effektiven Whistleblowerschutz einsetzt.
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Bezeichnend für die geschilderte Entwicklung ist die Schnelligkeit, mit der zivilgesellschaftliche Gruppierungen aus ganz Europa auf die Coronakrise reagiert haben. Die mit dem Lockdown und einhergehenden Gesetzen und Verwaltungsvorschriften verbundenen exekutivischen Ermächtigungen wurden sofort mit einem Monitoring-Netz überzogen (Whistleblower-Netzwerk 2020b, 2020c).
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Die rechtlichen Bedingungen des Whistleblowing „Das Recht schützt – auch bei uns – die dunklen Geheimnisse der Mächtigen. Wer rechtswidrige oder gemeinschädliche Handlungen staatlicher Stellen oder seines Arbeitgebers offen legt, verletzt regelmäßig Verschwiegenheitspflichten und setzt sich Maßregelungen aus. Der beamtenrechtliche Ausnahmetatbestand ist eng gefasst. […] Der strafrechtliche Schutz von Staats-, Amts- und Geschäftsgeheimnissen reicht weit und kennt ebenfalls keine generelle Ausnahme für rechtswidrige oder gemeinschädliche Tatsachen.“ (Dr. Jürgen Kühling, Richter am Bundesverfassungsgericht a. D., 1999; zit. in Deiseroth & Falter 2009, S. 7)
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Die gegenwärtige Rechtslage für Whistleblower in Deutschland
Ein Whistleblower6 ist eine Person, die im beruflichen Zusammenhang Insiderkenntnisse über Rechtsbrüche, Missstände oder Risiken erlangt hat und diese aufdeckt. Das kann intern gegenüber dem Vorgesetzten oder über dafür vorgesehene Hinweisgeberkanäle geschehen, extern gegenüber den Strafverfolgungs- oder Aufsichtsbehörden oder öffentlich gegenüber den Medien. Ziel ist die Beseitigung des Missstands. Die deutsche Rechtsprechung geht dabei von der Annahme aus, dass die Verantwortlichen innerhalb einer Organisation aufgrund ihrer ökonomischen und strukturellen Macht und ihrer Nähe zum Geschehen am ehesten in der Lage sind, Abhilfe zu schaffen. a) Internes Whistleblowing Nach herrschender Meinung gilt eine sogenannte Stufenregelung, die besagt, dass ein Whistleblower sich im Regelfall zuerst an seinen Arbeitgeber wenden muss, wenn er oder sie einen Rechtsverstoß oder Missstand im Arbeitsumfeld aufdecken will. Diese interne Meldung muss einer externen Anzeige bei den Strafverfolgungs- oder Aufsichtsbehörden sowie einem öffentlichen Whistleblowing vorangehen, will der Arbeitnehmer nicht Sanktionen bis hin zur Kündigung in Kauf nehmen.7 Die Rechtsprechung orientiert sich am Gebot der Verhältnismäßigkeit. Der Vorrang der internen Abhilfe wird außerdem mit der Treue- und der Verschwiegenheitspflicht des Arbeitnehmers begründet. Diese sind als 6 7
„Whistleblowing“ wörtlich: „die Pfeife blasen“, sinngemäß „Alarm schlagen“; alternativ wird das Wort „Hinweisgeber*in“ benutzt. Vgl. die Leitentscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 3. Juli 2003, 2 AZR 235/02.
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arbeitsvertragliche Nebenpflichten in die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung eingegangen und können die Meinungsäußerungsfreiheit des Arbeitnehmers einschränken. Der Treuepflicht des Arbeitnehmers entspricht auf Seiten des Arbeitgebers die Fürsorgepflicht. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht stellt sich hier allerdings die Frage, inwieweit sich solche überkommenen8 Vorstellungen mit den konkreten Gegebenheiten des Arbeitslebens im Jahr 2020 vereinbaren lassen. An die Stelle des imaginierten fürsorglichen Chefs ist häufig eine anonyme Leitungsebene getreten, die Aussicht auf lebenslange Beschäftigung ist gering, prekäre Arbeitsverhältnisse, Leiharbeit und Teilzeitjobs bestimmen einen Gutteil der Arbeitsbeziehungen. Ob es unter diesen völlig veränderten Umständen und aktuellen Machtverhältnissen noch ein Gebot der Verhältnismäßigkeit ist, einen Missstand intern namentlich zu offenbaren und damit erfahrungsgemäß Repressalien in Kauf zu nehmen, ist eine Frage, der sich die Rechtsprechung schon länger hätte stellen sollen. Die Stufenregelung hat über Jahrzehnte dem Arbeitgeber den Erstzugriff auf die Informationen von Hinweisgebern gesichert. Sie wurde und wird weiterhin angewandt, obwohl ein Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) schon vor 20 Jahren einem Arbeitnehmer das Recht eingeräumt hat, einen Rechtsverstoß im Unternehmen den Strafverfolgungsbehörden anzuzeigen. Das BVerfG hat am 2. Juli 2001 Whistleblower unter den Schutz von Art. 2 Abs. 1 GG (Handlungsfreiheit) in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG (Rechtsstaatsprinzip) gestellt.9 Die Beharrlichkeit, mit der von Arbeitgeberseite auf ihrem exklusiven Erstzugriffsrecht bestanden wird, weist u. a. auf ein tief verwurzeltes und in der Sache schwer begründbares Misstrauen gegenüber der Arbeitnehmerschaft hin. Kritische Hinweise eines Arbeitnehmers auf Missstände werden mit Nestbeschmutzung und Verrat verwechselt, lautere Motive werden angezweifelt und Schädigungsabsicht unterstellt. Für eine verbreitete Schädigungsabsicht gibt es aber keine empirische Evidenz. Die Annahme ist zudem nicht logisch. Warum sollte denn ein Mitarbeiter eben der Organisation Schaden zufügen wollen, die ihn und seine Familie ernährt, wo er Kollegen und Freunde gefunden hat, wo er sich mit seiner Arbeitskraft und psychischem Engagement einbringt? Tatsächlich ist in Deutschland bisher kein Fall eines Unternehmens bekannt, das durch einen Whistleblower in den Ruin getrieben worden wäre.10 Es ist im Gegenteil gerade die Loyalität dem eigenen Arbeitgeber oder Unternehmen gegenüber, die potenzielle Whistleblower davon abhält, die Behörden oder die Öffentlichkeit von einem Missstand in Kenntnis zu setzen. Oft überwiegt diese Loyalität eher die Loyalität gegenüber ethischen Werten und hochrangigen Rechtsgütern wie Menschenrechten. Der potenzielle Whistleblower befindet sich dann in einem Zwiespalt, in einem Zustand „gespaltener Loyalität“ (Düsel 2008). 8
„Der Führer des Betriebes […] hat für das Wohl der Gefolgschaft zu sorgen. Diese hat ihm die in der Betriebsgemeinschaft begründete Treue zu halten.“ Gesetz zur Ordnung der Nationalen Arbeit (AOG) v.20.1.1934, § 2; zit. nach Colneric 1987. 9 BVerfG-1 BvR 2049/00. Zu den Besonderheiten dieses Falls: Deiseroth 2002. 10 Sollte einer*m Leser*in ein solcher Fall bekannt sein, bittet die Autorin um Hinweise. 359
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Die wenigen empirischen Studien und Interviews, die es in Deutschland über Whistleblower und ihre Motive gibt11 (Herold 2017, S. 87‒88, 201ff.), kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Whistleblower wollen sich mit ihren Bedenken ganz von sich aus zuerst an das eigene Unternehmen wenden. Sie sind davon überzeugt, dem Unternehmen zu nützen, indem sie es vor drohendem Schaden bewahren, etwa vor Strafen, Schadensersatzklagen oder Reputationsverlust. Am Fall VW lässt sich sehr gut aufzeigen, was dem Unternehmen und den Steuerzahlern erspart geblieben wäre, wenn den internen Whistleblowern, von denen es mehrere gegeben haben soll, mehr Beachtung geschenkt worden wäre. Das Beispiel VW legt noch einen weiteren Schluss nahe: eine interne Meldung etwa mithilfe eines internen Hinweisgebersystems oder gegenüber der Compliance-Abteilung eröffnet einem Unternehmen die Möglichkeit, den Vorgang möglichst lange zu vertuschen, Ursachen und Zusammenhänge zu verschleiern und die individuelle Zurechenbarkeit von Fehlverhalten zu erschweren. Internes Whistleblowing zieht keine „offiziellen“ Sanktionen nach sich. Gleichwohl erfahren viele Whistleblower Repressalien sowohl von Seiten der Vorgesetzten als auch durch die Kollegen. Es kommt häufig früher oder später zu Kündigungen unter vorgeschobenen Kündigungsgründen, ähnlich dem oben geschilderten Fall Porwoll. Distanzierung, Ausgrenzung und Mobbing sind an der Tagesordnung. Untersuchungen in den USA kommen zu dem Ergebnis, dass viele (interne) Whistleblower ihre Organisation später verlassen (Gerdemann 2018, S. 132ff.). b) Externes Whistleblowing Wie die erwähnten Untersuchungen ergeben haben, liegt die Hemmschwelle, den eignen Arbeitgeber anzuzeigen, recht hoch. Hinzu kommen rechtliche Hürden und Fallstricke. Unter bestimmten Bedingungen, etwa wenn die interne Meldung nicht „zumutbar“ ist, steht eine Anzeige bei der Staatsanwaltschaft oder einer zuständigen Aufsichtsbehörde unter arbeitsrechtlichem Schutz. Ein Whistleblower kann davon ausgehen, dass dort die Kompetenz und der Wille vorhanden sind, einen Missstand mit rechtsstaatlich gebotenen Mitteln zu beseitigen. Dafür muss allerdings ein Rechtsverstoß vorliegen und die Zuständigkeit geklärt sein. Die Ermittlungsbehörden müssen einen Anfangsverdacht bejahen, die Ermittlungen trotz notorischer Ressourcenknappheit zügig betreiben und den Namen des Whistleblowers vertraulich behandeln, solange dies rechtlich möglich ist. All diese Voraussetzungen sind von einem Whistleblower im Vorfeld einer Anzeige zu klären. Darüber hinaus droht ihm vor allem (aber nicht nur) über den Vorwurf einer wider besseren Wissens oder auch nur grob fahrlässig falsch erstatteten Anzeige selbst Strafverfolgung, z. B. wegen falscher Verdächtigung (§ 164 StGB); übler Nachrede, Verleumdung (§§ 186, 187 StGB); Verletzung von Privatgeheimnissen (§ 203 StGB) oder Verletzung von Dienstgeheimnissen (§ 353b StGB).
11 Deren Befunde werden von angelsächsischen Untersuchungen gestützt: Gerdemann 2018, S. 132ff.
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Aber selbst wenn es sich bei dem gemeldeten Sachverhalt um einen Rechtsverstoß handelt, können noch weitere straf- oder zivilrechtliche Konsequenzen drohen: Es könnte sich nämlich um ein Geschäftsgeheimnis handeln. Gemäß § 23 Geschäftsgeheimnisgesetz (GeschGehG) wird Geheimnisverrat mit einer Geldstrafe oder einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft. Nach nahezu einhelliger Meinung unter Juristen können sogar „illegale Geschäftsgeheimnisse“ Geheimnisschutz genießen. Daran hat die lange und kontroverse Diskussion über das GeschGehG, das ebenfalls auf eine europäische Richtlinie zurückgeht,12 anscheinend wenig geändert.13 Dies alles muss ein potenzieller Whistleblower also wissen und bedenken. Hohe Ansprüche an einen Rechtslaien. Anders sieht es in den Fällen aus, in denen Behörden selbst Hotlines oder anonyme Meldesysteme zur Verfügung stellen, über die sich jeder mit Hinweisen melden kann, ja soll. Zum Beispiel im Finanzbereich, bei der Lebensmittelsicherheit oder bei Korruptionstatbeständen sind solche Meldungen erwünscht.14 Auch das Bundeskriminalamt sowie einige Landeskriminalämter und Aufsichtsbehörden unterhalten Meldesysteme.15 Die Signale, die der Staat an Whistleblower sendet, sind demnach alles andere als deutlich. In einigen Bereichen wird Whistleblowing zur Rechtsdurchsetzung instrumentalisiert, in anderen sanktioniert. Zuverlässig geschützt und sicher vor Repressalien sind Whistleblower bei aktueller Rechtlage in Deutschland nie. c) Öffentliches Whistleblowing Die Offenlegung von Fehlverhalten gegenüber den Medien oder in anderer öffentlich zugänglicher Form kann als letztes Mittel, als sogenannte „Flucht an die Öffentlichkeit“ im Einzelfall zulässig sein. Das ist aber bisher weder gesetzlich noch höchstrichterlich geregelt. Aufsehen erregte der Fall Margrit Herbst. Die Amtstierärztin Dr. Margrit Herbst wurde wegen Verstoßes gegen ihre Verschwiegenheitspflicht fristlos entlassen, nachdem sie 1994 in der Presse ihren begründeten Verdacht auf BSE-Befall deutscher Rinder offenbart hatte. Seit 1990 waren ihr im Rahmen von Schlachttier-Untersuchungen BSE-Symptome bei Rindern aufgefallen, aber ihre wiederholten internen Meldungen waren erfolglos geblieben und das Fleisch war weiter für den Verzehr verarbeitet worden. Ihre Kündigungsschutzklagen blieben in zwei Instanzen erfolglos. Daraufhin verklagte sie der Schlachthof auf Schadensersatz; ebenfalls in zwei Instanzen und glücklicherweise ebenfalls erfolglos.
12 Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/943 zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen vor rechtswidrigem Erwerb sowie rechtswidriger Nutzung und Offenlegung vom 18. April 2019 (BGBl. I S. 466). 13 Vgl. Anm. 39. Ein höchstrichterliches Urteil steht noch aus. 14 Siehe bspw. § 4d FinDAG, Art. 140 Verordnung (EU) 2017/625 sowie § 67 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 BBG. 15 So zum Beispiel die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin; https://www. bafin.de/DE/Aufsicht/Uebergreifend/Hinweisgeberstelle/hinweisgeberstelle_node.html) und das Bundeskartellamt (BKartA; https://www.bundeskartellamt.de/DE/Kartellverbot/Anonyme_Hinweise/anonymehinweise_artikel.html). 361
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Margrit Herbst erhielt nie wieder eine Anstellung und wurde frühverrentet. Jahre später sah sich die Schleswig-Holsteinische Landesregierung außer Stande, der Anregung empörter Bürger*innen zu folgen und Frau Herbst für den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland vorzuschlagen (Deiseroth & Falter 2002). Als letzte Eskalationsstufe ist Offenlegung im oben erwähnten Fall Heinisch gegen Deutschland vom EGMR gebilligt worden – allerdings eng bezogen auf den damaligen besonderen Sachverhalt (Vernachlässigung hilfloser Insassen eines Altenheims). Der Ausgang bei einer anderen Konstellation könnte sehr wohl ein anderer sein.
3.2
Whistleblower am Scheideweg
Alle Wege des Whistleblowing sind gefährlich. Die Risiken sind jeweils andere, der Ausgang für den Whistleblower nicht vorhersehbar. Es gibt nur einige gesetzliche Bereichsvorschriften, wie schon oben erwähnt, außerdem höchstrichterliche Urteile. Die von Gegnern eines Schutzgesetzes gern als „ausreichend“ angeführte Vorschrift ist die Generalklausel in § 612a BGB, das sogenannte Maßregelungsverbot: Demnach darf der Arbeitgeber einen Arbeitnehmer bei einer Vereinbarung oder einer Maßnahme nicht benachteiligen, weil der Arbeitnehmer „in zulässiger Weise“ seine Rechte ausübt. Dazu müsste man zuvörderst wissen, welche diese Rechte im Einzelfall sind und welches Verhalten ein Gericht im „Abwägungsprozess“ für zulässig hält. Diese Formulierung ist eine Zumutung für jeden Rechtslaien. Im allgemeinen Kündigungsschutzrecht existieren zudem einige mehr oder weniger den Whistleblower schützende Einzelfallentscheidungen. Als wichtigste Entscheidungen können gelten: Bundesarbeitsgericht (BAG) vom 3. Juli 2003 – 2 AZR 235/02; BVerfG vom 2. Juli 2001 – 1 BvR 2049/00; Heinisch-Entscheidung des EGMR vom 21. Juli 2011 – 28274/08. Einen praktikablen, kohärenten Rechtsschutz gibt es in Deutschland bisher nicht. Man kann keinem abhängig Beschäftigten zum Whistleblowing raten. Es dominiert Richterrecht und die Rechtsunsicherheit ist gewaltig. Der Reformbedarf ist demnach augenfällig.
Whistleblower (un)erwünscht?
3.3
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Zur künftigen Rechtslage nach Inkrafttreten der EU-Richtlinie zum Whistleblowerschutz am 16. Dezember 2019
Eine neue Europäischen Richtlinie trägt dem Reformbedarf ein Stück weit Rechnung. Am 23. Oktober 2019 wurde die Richtlinie zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden – EU 2019/1937 (Whistleblowerschutz-Richtlinie) – verabschiedet, die überwiegend bis Ende 2021 von den Mitgliedsstaaten in nationales Recht umgesetzt werden muss. Dabei darf das Schutzniveau der Richtlinie nicht unterschritten werden. Sie schreibt einen weitgehenden Schutz vor Repressalien als Reaktion auf Whistleblowing fest und gilt ausdrücklich auch für den öffentlichen Dienst: • Vergeltungsmaßnahmen und Schikanen von Whistleblowern sind verboten und können sanktioniert werden. Die Beweislast, dass eine Benachteiligung nicht als Reaktion auf das Whistleblowing erfolgt ist, trägt der Arbeitgeber („Beweislastumkehr“). • Die Motivation des Whistleblowers soll weder direkt noch indirekt eine Rolle spielen. Dadurch wird der Wert der Information in den Vordergrund gerückt. • Personen, die Whistleblower unterstützen, sollen generell den gleichen Schutz wie Whistleblower genießen. In diesem Kontext werden die Schutzwürdigkeit von Journalisten und ihre Bedeutung für den Bestand der Meinungsfreiheit hervorgehoben. • Der Vorrang der internen Abhilfe ist hinfällig. Es bleibt allein der Situationseinschätzung und dem Beurteilungsvermögen des Arbeitnehmers vor Ort überlassen, auf welchem
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Annegret Falter
Wege er sich mehr Erfolg auf Abhilfe von seiner Meldung bzw. weniger Nachteile für sich selbst verspricht.16 • Organisationen, Unternehmen und Behörden mit 50 oder mehr Mitarbeitern müssen Hinweisgebersysteme zur Verfügung stellen.17 Ob anonymen Meldungen nachgegangen werden muss, bleibt dem nationalen Gesetzgeber überlassen. • Auch das öffentliche Whistleblowing („Offenlegung“) wird – wiewohl unzureichend – gesetzlich geregelt. Es ist gemäß der Richtlinie nach wie vor nur unter engen Ausnahmebedingungen als letzte Eskalationsstufe zulässig. Außerdem enthält die Richtlinie einen Appendix, der seitenlang europäische Rechtsakte u. a. aus den Bereichen öffentliches Auftragswesen, Finanzmarktregulierung, Verbraucherschutz, Produktsicherheit, Umweltschutz, öffentliche Gesundheit und Datenschutz auflistet. Ein Whistleblower ist dann – und nur dann – geschützt, wenn er Verstöße gegen die dort aufgeführten Vorschriften bzw. ihre nationalen Umsetzungsnormen18 meldet. In allen Rechtsbereichen, in denen die EU keine Regelungskompetenz hat,19 wie z. B. in einem so relevanten Bereich wie dem allgemeinen Strafrecht – und in Bereichen, auf deren Einbeziehung verzichtet wurde (wie Arbeitnehmerrecht oder -schutz) bleibt der Whistleblowerschutz dem deutschen Gesetzgeber überlassen. Die Frage, wie effektiv dieser in Deutschland künftig gestaltet sein wird, hängt also in erster Linie von der Umsetzung der Richtlinie in deutsches Recht ab.
3.4
Anforderungen an die Ausgestaltung eines deutschen Whistleblower-Schutzgesetzes
Das Ergebnis der Umsetzung muss ein kohärentes, umfassendes deutsches Whistleblower-Schutzgesetz (Gerdemann 2019) sein, in das die europarechtlichen und die schon bestehenden deutschen Vorschriften integriert sind. Gesetzliche Vorschriften gibt es in Deutschland bereits überall dort, wo Aufsichts- und Strafverfolgungsbehörden ohne Insider-Hinweise gar nicht oder sehr viel teurer und aufwändiger an die zur Aufgabenerfüllung notwendigen Informationen gelangen würden, so zum Beispiel im Bereich der 16 Gegen diese Regelung hatten sich Arbeitgeber- und Juristenverbände mit Unterstützung der deutschen Regierung bis zuletzt gewehrt und sich dabei auf die EGMR-Rechtsprechung bezogen. Zu Unrecht, wie die ehemalige Richterin am EuGH, Ninon Colneric, feststellt (2018, S. 232ff.). 17 „Hinweisgebersystem“ bedeutet: Hinweise können an eine interne oder formal externe Stelle erfolgen, entweder schriftlich in Papierform oder auf elektronischem Wege (häufig mit Rückkanal für Fragen), telefonisch oder mündlich gegenüber einer zuständigen Person (z. B. Ombudsmann oder Compliance-Officer). 18 Z. B. Gesetz über die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Finanzdienstleistungsaufsichtsgesetz, kurz: FinDAG) oder Geschäftsgeheimnisschutzgesetz (GeschgehG). 19 Z. B. Außenpolitik, Beamtenrecht, Bildung, Hochschulrecht, Kultur, Migration, Nationale Sicherheit, Pflege (vgl. Fall Heinisch), Sport, allg. Strafrecht, Urheberrecht, Zivil-/Katastrophenschutz.
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Korruption, der Lebensmittelsicherheit oder der Finanzdienstleistungsaufsicht. Andere Bereiche sind bisher ausgespart worden. Die Richtlinie sieht keinen Whistleblower-Schutz für den weiten Bereich der nationalen Sicherheit oder für Informationen vor, die aus Verschlusssachen gewonnen wurden. Entsprechende Regelungen bleiben den nationalen Regierungen überlassen. Dazu gibt es bereits Vorgaben aus dem federführenden Justizministerium (BMJV) und dem Wirtschaftsministerium (BMWi). Schutzregelungen sind im Umsetzungsgesetz demnach auch nicht vorgesehen. Dabei wissen wir nicht erst seit Edward Snowdens Whistleblowing, sondern schon durch die Enthüllungen von Werner Pätsch, dem Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), dass im Bereich der Sicherheitspolitik Machtmissbrauch und Grenzüberschreitungen notorisch zu befürchten sind.20 Vor der Aussparung dieser Bereiche ist zu warnen. Gerade in diesen Tagen hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) einen Teil der Überwachungs- und Datensammelpraktiken des Bundesnachrichtendienstes (BND) als verfassungswidrig zurückgewiesen und effektivere Kontrolle gefordert. Der Gesetzgeber wäre gut beraten, Whistleblower-Schutz in die fällige Gesetzesänderung einzubeziehen. Denn das beste Gesetz hinkt z. B. der rasanten technologischen Entwicklung im Geheimdienstbereich alsbald hinterher. a) Rechtsicherheit Ohne uns hier rechtsphilosophisch übernehmen zu wollen, möchten wir v. a. einen Prüfstein an das künftige Gesetz anlegen: den der Rechtssicherheit. Hierin herrscht Einigkeit von Gustav Radbruch (2002), der die Rechtssicherheit als den Zweck von Gesetzen versteht, bis zu Creifelds: „Die Aufstellung von Rechtsnormen […] soll in besonderem Maße auch den Rechtsgenossen das Gefühl der Rechtssicherheit vermitteln“ (2007, S. 947). Eine 1:1-Umsetzung der EU-Vorgaben würde diesen Zweck jedenfalls nicht ansatzhaft erfüllen, denn der Anwendungsbereich läge für die potenziellen Whistleblower im Dunkeln.
20 „Geheimdienstskandale pflastern den Weg der Bundesrepublik. Die Hälfte der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern haben sich mit den Geheimdiensten befasst – um im Nachhinein aufzuklären, was gute Kontrolle von vorneherein hätte verhindern können oder müssen. Es gab eine Rekrutenvereidigung, bei der V-Männer als Steinewerfer erkannt wurden. Es gab Mordfälle, bei denen der Inlandsgeheimdienst die Aufklärung vertuschte und die Bestrafung der Täter vereitelt hat. Es gab Waffenlieferungen in Krisengebiete, die der Auslandsgeheimdienst organisierte. Es gab das Celler Loch: Der Landesgeheimdienst sprengte nach Absprache mit dem Ministerpräsidenten ein Loch in die Mauer des Gefängnisses von Celle, auf dass man sich beim Wähler als effektiver Terroristenverfolger empfehlen konnte. Opfer wurden Unschuldige, aber auch die Polizei, die an terroristische Aktionen glaubte; Parlament und die Öffentlichkeit wurden zum Narren gehalten. Es gab immer neue Skandale, aber nie eine grundlegende Reform, nie eine Neuordnung bei den Geheimdiensten, nie den umfassenden und erfolgreichen Versuch, die Kontrolle dieser Dienste effektiv zu verbessern – auch nicht nach dem NSU-Skandal“ (Prantl 2020). 365
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b) Umfassender sachlicher Anwendungsbereich Eine 1:1-Umsetzung der Richtlinie, deren sachlicher Anwendungsbereich sich auf die o. g. europäischen Rechtsakte sowie deren nationale Umsetzungsnormen beschränkt, wäre geradezu kontraproduktiv und liefe Gefahr, selbst das erklärte Ziel der Verhinderung von Verstößen gegen eben diese Vorschriften nicht zu erreichen!
3.5
Ausweitung auf nationale Regelungssachverhalte
Die Notwendigkeit für potenzielle Whistleblower, sich vor der Meldung eines vermeintlichen Rechtsverstoßes erst rechtskundig zu machen, ob eine Meldung erwünscht und geschützt oder im Gegenteil unerwünscht und ungeschützt ist, würde sie überfordern und einschüchtern. Im Übrigen wäre nicht nur der Rechtslaie verunsichert, sondern vermutlich auch die verantwortlichen Whistleblowing-Stellen. Auch sie müssten jeweils recherchieren, ob ein Rechtsverstoß bestimmte europarechtliche Vorschriften betrifft oder nicht. Eine 1:1-Umsetzung würde in unvertretbarer Weise zu Rechtsunsicherheit und Ungleichbehandlung führen. Der Whistleblower würde sich sozusagen in einem Hochrisikobereich bewegen.
3.6
Ausweitung auf „Misstände“ oder „Sonstiges Fehlverhalten“
Wenn der sachliche Anwendungsbereich des künftigen Gesetzes außer „Rechtsverstößen“ nicht auch „Missstände“ bzw. „Sonstiges Fehlverhalten“ umfasst, wäre Whistleblowing in vielen gravierenden Fällen weiterhin ungeschützt bzw. fände gar nicht erst statt. Man kann von einem Whistleblower nicht verlangen, selbst einzuschätzen, ob ein Sachverhalt, den er als schlimmen Missstand wahrnimmt, tatsächlich ein Rechtsverstoß ist. • Zum Beispiel: „CumEx-Files“: War diese Form der ‚Steuervermeidung‘ ein Rechtsverstoß? Ja, war sie. Aber darüber mussten selbst die Richter lange nachdenken. • Beispiel Fleischindustrie: Der Skandal der Arbeits- und Lebensbedingungen der häufig ausländischen Beschäftigten in der Fleischindustrie beunruhigt Politik und Gesellschaft jetzt zum widerholten Mal im Kontext der Pandemiepolitik. Dieses Mal soll sich tatsächlich etwas ändern – vor allem wegen der hohen Infektionsraten mit Sars-CoV-2, die auch die Gesellschaft außerhalb der Baracken betrifft. Rechtsverstöße liegen aber häufig nicht vor, sofern die Mindestlohnvorschriften – formal – eingehalten wurden. • Beispiel Pflegemangel: Ist es ein ‚Verstoß‘, wenn alten Menschen zu wenig zu trinken gereicht wird (wenn ja, gegen welche Rechtsnorm)? Wenn man sie zu selten säubert? Nicht oft genug im Bett wendet, sodass sie sich wundliegen? Worin genau läge der Rechtsverstoß und wie könnte eine Altenpflegerin den Nachweis führen? Brigitte Heinisch und ihr Anwalt haben das mit der Konstruktion einer Strafanzeige wegen Betrugs versucht. Aber die Staatsanwaltschaft hat die Ermittlungen wiederholt eingestellt.
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• Der EGMR hat im Fall Heinisch entschieden, dass ihre Strafanzeige, die solche Fälle betraf, gerechtfertigt war, weil das Whistleblowing im öffentlichen Interesse lag. Das deutsche LAG Berlin-Brandenburg, das BAG und sogar das BVerfG hatten das anders gesehen. Wie sehen wir, wie sieht die Gesellschaft das? Lassen wir zu, dass Misshandlungen, die nachweislich Körperverletzung – schlimmstenfalls mit Todesfolge – darstellen, beliebig fortgesetzt und unter den Teppich gekehrt werden können? Oder wollen wir, dass so etwas ans Tageslicht kommt und abgestellt wird? Dann müssen wir die Whistleblower in den Altenheimen schützen, d. h. den Anwendungsbereich des Gesetzes auf Missstände und sonstiges Fehlverhalten ausdehnen. Auch wenn das wiederum den Abwägungsspielraum der Gerichte erweitert und insoweit unvermeidbare Unsicherheiten mit sich bringt. • Beispiel Risiken und Gefahren: Gefahren sind auch keine Rechtsverstöße. Wollen wir um die Gefahren, die z. B. mit technologischen Innovationen – in schneller Abfolge und von außen immer undurchschaubarer – verbunden sind, wirklich nichts wissen? Es war ein deutscher Whistleblower, der die Risiken und die Störanfälligkeit eines Versuchsreaktors (AVM) des „inhärent sicheren“ Typs Hochtemperaturreaktor (HTR) an der früheren Kernforschungsanlage in Jülich aufgedeckt hat – um den Preis seiner Karriere (Deiseroth & Falter 2017). Der Versuchsreaktor wurde in der Folge abgeschaltet. Vor vielen der großen Unglücke der jüngeren Vergangenheit hat es Warnungen von Insidern gegeben, denen nicht nachgegangen wurde: vor dem Zugunglück von Enschede, vor dem Absturz der Concorde in Paris, vor dem GAU von Fukushima. Ach, hätte man die internen Hinweise doch beachtet. a) Schutz nur von schutzwürdigen Geheimnissen „In einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat [kann] etwas Rechtswidriges [nicht nur: Verfassungswidriges] niemals schutzwürdig und deshalb auch keinesfalls geheimhaltungsbedürftig sein“ (Adolf Arndt 1966; zit. nach Deiseroth & Falter 2014, S. 17). Dem ist unserer Ansicht nach nichts hinzuzufügen – denn so stellt sich der Rechtslaie den Rechtsstaat vor. Wenn maßgebliche Rechtsauffassungen das anders sehen und dem Inhaber illegaler Geschäftsgeheimnisse ein berechtigtes Interesse an deren Geheimhaltung zubilligen,21 so werten wir das aus sozialwissenschaftlicher Perspektive als weiteren Beleg für die Tendenz zur Funktionalisierung des Whistleblowings: Je nach Bedarf wird es zur „Rechtsdurchsetzung“ (Kreis 2017) herangezogen, praktisch erschwert oder verboten. 21 Vgl. dagegen Fuhlrott & Hiéramente 2020, GeschGehG § 2 Rn. 72‒78a. Arbeitsrechtlicher Handlungsbedarf durch das Geschäftsgeheimnisgesetz – Überblick zu den Eckpunkten des Gesetzes und mögliche arbeitsrechtliche Implikationen: „Nach vorzugswürdiger Auffassung unterfallen derartige Geheimnisse ebenfalls der Definition des Geschäftsgeheimnisses“, Ullrich 2019, S. 67; Reinbacher 2018, S. 119; Nöbel & Veljovic 2020, S. 37; kritisch: Schreiber 2019, S. 335; Hauck 2019, S. 224; Böning & Heidfeld 2018, S. 556; Brost & Wolsing 2019, S. 899; Köhler et al. Rn. 78 mwN; Preis & Seiwerth 2019, S. 353‒354. Dafür spricht insbesondere das systematische Argument, dass § 5 Nr. 2 explizit eine Ausnahmeregelung trifft, Dann & Markgraf 2019, S. 1776; Joecks & Miebach § 23 Rn. 41; Hohmann & Schreiner 2019, S. 443. 367
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b) Schutz des öffentlichen Whistleblowings („Offenlegung“) Gemäß der Richtlinie Art. 15 Abs. 1 zur „Offenlegung“ darf ein Whistleblower nur unter folgenden Bedingungen an die Öffentlichkeit gehen: a. Er hat zunächst intern und extern oder auf direktem Weg extern Meldung erstattet, aber zu seiner Meldung wurden [innerhalb eines Zeitrahmens von 3‒6 Monaten] keine geeigneten Maßnahmen ergriffen; oder b. er hat hinreichenden Grund zu der Annahme, dass bb der Verstoß eine unmittelbare oder offenkundige Gefährdung des öffentlichen Interesses darstellen kann, so z. B. in einer Notsituation oder bei Gefahr eines irreversiblen Schadens; oder bc im Fall einer externen Meldung Repressalien zu befürchten sind oder aufgrund der besonderen Umstände des Falls geringe Aussichten bestehen, dass wirksam gegen den Verstoß vorgegangen wird, beispielsweise weil Beweismittel unterdrückt oder vernichtet werden könnten oder wenn zwischen einer Behörde und dem Urheber des Verstoßes Absprachen bestehen könnten oder die Behörde an dem Verstoß beteiligt sein könnte. Entspricht diese Vorschrift dem Informationsanspruch der „monitory democracy“, wie wir sie oben skizziert haben? Das soll hier an zwei Beispielen kursorisch geprüft und gezeigt werden, warum die Vorgaben der EU dem demokratischen Anspruch gerade nicht genügen und darum bei der Umsetzung in deutsches Recht entsprechend erweitert werden müssen.
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Meinungsäußerungsfreiheit – intern, extern und öffentlich
Es geht um das Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit und das damit einhergehende Recht, auf den demokratischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess auch mit internen Informationen aus dem Arbeitsumfeld Einfluss zu nehmen, wenn hochrangige Rechtsgüter betroffen sind. Denn nur, wenn die entsprechenden Informationen vorliegen, kann die Einhaltung demokratischer Regeln ein Stück weit gewährleistet und Machtmissbrauch zur Sprache gebracht werden. Nur dann kann sich durch die öffentliche Debatte und den öffentlichen Druck auch strukturell etwas ändern. Es werden bewusst keine spektakulären Beispiele aus dem Bereich der Sicherheitspolitik herangezogen, wie die Fälle Ellsberg (Pentagon-Papers) oder Snowden (verdachtsunabhängige Massenüberwachung). So hoch sollte die Messlatte für Missstände von grundlegender Bedeutung für die Demokratie nicht gelegt werden. Außerdem sind an die Offenlegung von streng vertraulichen Dienst- oder Staatsgeheimnissen noch einmal andere Kriterien anzulegen als an leider alltägliche, schwerwiegende Missstände, deren Offenlegung im öffentlichen Interesse das Interesse an ihrer Geheimhaltung erheblich überwiegt (Gesetzenturf
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Bündnis 90/Die Grünen, BT-Drucksache 19/4558, v. 26. September 2018). Man denke nur an die oben herausgegriffenen Beispiele der Steuervermeidung, der Arbeitsausbeutung in der Fleischindustrie oder der Pflegemissstände. In solchen Fällen müsste das Grundrecht auf Meinungs- und Informationsfreiheit auch für abhängig Beschäftigte jedenfalls seine volle Wirkung entfalten dürfen. Deiseroth hat hierfür eine ‚Vermutungsregel‘ aufgestellt: „Bei allen Äußerungen von Beschäftigten, die nicht leichtfertig und nicht wider besseres Wissen erfolgen sowie eine das öffentliche Interesse wesentlich berührende Frage betreffen, spricht eine gesetzliche Vermutung für den Vorrang der Meinungsäußerungsfreiheit vor anderen rechtlich geschützten Interessen“ (Deiseroth 2012, S. 71). Er bezieht sich dabei auf den „Mindeststandard“ des Art. 10 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) sowie die „Judikatur des BVerfG zur Meinungsäußerungsfreiheit und ihre konstitutiven Bedeutung für eine demokratische Gesellschaft“. Unabhängig davon, welche rechtliche Gestalt ein deutsches Whistleblower-Schutzgesetz annimmt, ist demnach zu fordern, „dass das Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit für alle Beschäftigten in Betrieben, Unternehmen und Dienststellen wirksamer und verlässlicher als bisher gewährleistet werden [muss]“ (Deiseroth 2012, S. 71). Das wurde in Deutschland schon einmal in einer Verfassung festgeschrieben, die allerdings den politischen und wirtschaftlichen Veränderungen nicht lange standhielt. In der Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 heißt es in Art. 118: „(1) Jeder Deutsche hat das Recht, innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äußern. An diesem Rechte darf ihn kein Arbeits- oder Anstellungsverhältnis hindern, und niemand darf ihn benachteiligen, wenn er von diesem Rechte Gebrauch macht.“22
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Öffentliches Whistleblowing als Kraft der Veränderung
An den folgenden beiden Fällen lässt sich beispielhaft zeigen, was nur die Information der Öffentlichkeit an notwendigen Reformen bewirken konnte und was daraus für Schlussfolgerungen für die deutsche Gesetzgebung zum öffentlichen Whistleblowing zu ziehen sind: Exkurs 1: Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt an einem humanistischen Elitegymnasium in Berlin. Seit 1982 bekannt, seit 2010 öffentlich. Weltweite Skandalisierungen und Reformbestrebungen dauern seit 2010 an.
22 Nicht von ungefähr wird dieser Verfassungsartikel von Brigitte Heinischs Anwalt Benedikt Hopmann vor dem EGMR in seinem Plädoyer für öffentliches Whistleblowing ins Feld geführt (Whistleblower Netzwerk 2020a). Ohne Heinischs Informationen aus der Blackbox der Altenpflege wäre diese wohl noch lange Zeit kein öffentliches Thema geworden. 369
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Im Jahr 2010 deckt der Jesuitenpater Rektor Klaus Mertes eine Serie sexualisierter Gewalttaten (Schläge und Missbrauch) am Berliner Canisius-Kolleg auf. Interne Hinweise hatte es seit 1981 gegeben, also seit fast 30 Jahre. Ehemalige Schüler hatten sich mit einem Schreiben an den damaligen Rektor Pater Karl-Heinz Fischer gewandt. Mertes: „Ich verstehe nicht, warum dieser Brief nichts bewirkt hat, […]. Da haben Schüler mit großem Mut Missstände angesprochen. Da muss man doch sofort nachfragen. Ich schäme mich dafür, dass nichts getan wurde“ (zit. nach Heine & Keller 2010). Pater Fischer (Rektor von 1981‒1989) erklärte dazu, er habe während seiner Amtszeit weder von dem Brief noch von Missbrauchsvorwürfen erfahren. „‚Das Gesamtbild‘ habe damals aber ergeben, dass der beschuldigte Pater R. für die Jugendarbeit ungeeignet gewesen ist“ (zit. nach Heine & Keller 2010). Rektor Pater Fischer habe seinen damaligen Vorgesetzten, den Jesuitenchef für Norddeutschland und Ex-Rektor, Pater Rolf Dieter Pfahl, benachrichtigt. Dieser habe die Versetzung angeordnet (Heine & Keller 2010). Schulleitung und Ordensleitung waren also durch einen internen Hinweis informiert worden. Daraufhin mussten zwei Täter die Schule wechseln bzw. gingen ins Ausland: Sie wurden „weitergereicht“ und wurden andernorts wieder einschlägig auffällig. Nachdem der Fall 2010 durch Pater Mertes öffentlich gemacht worden war, wurden immer neue Missbrauchstatbestände, -zahlen und -strukturen aufgedeckt. Bis heute. Die Aufdeckung und die öffentliche Diskussion hatten die Entschädigung der Opfer sowie weitreichende strukturelle Konsequenzen innerhalb der katholischen Kirche zur Folge. Sie wird bis heute immer wieder von neu aufgedeckten Skandalen erschüttert. Worum ging es dem Whistleblower Pater Mertes? Es stand auf gegen Machtmissbrauch in der Kirche und der Gesellschaft. Er kritisiert öffentlich, dass in der Schulpolitik nur „über Leistung, Digitalisierung oder die Zahl der Schuljahre“ geredet würde. „Über Macht und Gewalt redet von alleine niemand – nicht im Verhältnis von Lehrern zu Schülern, von Schülern untereinander, von Eltern zu Kindern“ (xxx). Die Bildungsziele müssten sich ändern; es gehe schon in der schulischen Ausbildung um Sensibilisierung für und Verhinderung von Machtmissbrauch. Mertes ist inzwischen Leiter des Jesuiten-Gymnasiums St. Blasien im Schwarzwald und hat dort ein Präventionskonzept entwickelt. Exkurs 2: Oxfam oder sexueller Kolonialismus im Rahmen der humanitären Hilfe. Seit 2006 bekannt, seit 2018 öffentlich. Reformbestrebungen dauern an. Die vom britischen Staat geförderte Organisation Oxfam (5.000 Angestellte weltweit) muss sich seit 2018 öffentlich mit schweren Missständen innerhalb der Organisation auseinandersetzen, nachdem ein Whistleblower im Februar 2018 einen bis dahin unter Verschluss gehaltenen Untersuchungsbericht an die London Times gegeben hatte. Der „Haiti Investigation Report“ durchleuchtete schwerstes Fehlverhalten beim Hilfseinsatz der Organisation in Haiti nach dem Erdbeben 2010, bei dem 220.000 Menschen ums Leben kamen. Bei den Missständen handelt es sich um Prostitution, sexuelle Übergriffen, Einschüchterung, Mobbing, Vergewaltigungen, Betrug und Nepotismus. Im Jahr 2011 wurden vier Mitarbeiter entlassen, zwei weiteren gab man die Gelegenheit zur Kündigung. Einer der beiden war der Leiter von Oxfam Haiti, Landesdirektor Roland van H. Die
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Vorfälle auf Haiti waren der Führungsebene und den Geberinstitutionen intern bekannt und Teil der Untersuchung (Oxfam 2011). Die Vorfälle waren bis 2018 intern geblieben. Auf öffentlichen Druck hin kamen in den folgenden Tagen und Wochen scheibchenweise immer mehr Details ans Licht. Das Fehlverhalten von Mitarbeitern war intern nach ähnlichen Vorfällen im Tschad bereits seit 2006 bekannt gewesen. Roland van H. habe, auch dort in leitender Verantwortung, bereits damals Vorfälle eingestanden. Die Geschäftsführerin lässt durch ihren Pressesprecher am 27. Februar 2018 erklären, die internen Informationen nicht erhalten zu haben. In der Folge stellte Oxfam einen Aktionsplan zur Bekämpfung sexuellen Missbrauchs auf. Weiter wurde eine Untersuchungskommission zu den Vorfällen eingerichtet, deren Aufgabe es u. a. war, Oxfams Organisationskultur und -prozesse genau unter die Lupe zu nehmen sowie verbindliche Empfehlungen zum Schutz vor Belästigung, Ausbeutung und sexuellem Missbrauch zu erarbeiten. Nach kontinuierlichen „Fortschrittsberichten“ veröffentlichte die Untersuchungskommission am 12. Juli 2019 ihren Abschlussbericht zu weitgehenden strukturellen Änderungen (Oxfam 2019). Diese herausgegriffenen Fälle stehen hier für unzählige andere, in denen eine interne Meldung fast nichts außer Vertuschung bewirkt hat23 – in denen vielmehr wichtige, ja überfällige Reformen erst nach Information der Öffentlichkeit und auf anschließenden öffentlichen Druck hin stattfanden. Das Fazit des Pater Mertes lautete 2018: „Die Wucht der Öffentlichkeit ist nötig, um die Institutionen durchzuschütteln“ (xxx 2018). Die Öffentlichkeit aber blieb in beiden Fällen lange, zu lange ausgeschlossen. Und sie wird auch in anderen Fällen weiterhin ausgeschlossen bleiben, wenn es nach den oben zitierten Vorgaben der EU-Richtlinie geht. Gemäß dieser Vorgaben hätten die beiden Whistleblower am Canisius-Kolleg und bei Oxfam keine Berechtigung zur unmittelbaren „Offenlegung“ der Missstände, also z. B. zur Information der Medien gehabt. Whistleblower hätten in solchen Fällen auch künftig lediglich die Wahl zwischen internem Whistleblowing und der Anzeige bei einer zuständigen Behörde. Die Ausnahmetatbestände für öffentliches Whistleblowing lägen nämlich nicht vor. Internes Whistleblowing mag in konkreten Fällen punktuell zu Verbesserungen führen. Dass eine Anzeige bei den Strafverfolgungs- oder Aufsichtsbehörden nachhaltige Änderungen bewirkt, ist immerhin denkbar24 und es ist insofern ein Fortschritt, dass sie gemäß der Richtlinie künftig ohne Wenn und Aber geschützt ist. Beide Beispiele machen aber deutlich, wie notwendig die öffentliche Meldung in den Fällen Canisius-Kolleg und Oxfam von Anfang an gewesen wäre und was erst die Öffentlichkeit später tatsächlich bewirken konnte. Die öffentliche Aufmerksamkeit zwang dazu, die verfestigten Machtstrukturen aufzudecken und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. 23 Zur Frage, was innerhalb von Organisationen aufgrund von internem Whistleblowing je an Abhilfe erreicht wurde, liegen keine Forschungen oder repräsentativen Umfragen vor. 24 Im Fall der Altenpflegerin Brigitte Heinisch wurden die Ermittlungen allerdings wiederholt eingestellt, s. o. 371
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Die Vorgänge bei Oxfam und in der katholischen Kirche sind repräsentativ für ein Muster, das sich in vielen ähnlich gelagerten Konstellationen und auch bei staatlichen Institutionen wiederfindet: Ein Missstand wird intern aufgedeckt. Dem wird ein Stück weit nachgegangen. Die Angelegenheit wird vertraulich behandelt oder unter Geheimnisschutz gestellt. Von substanzieller ‚Abhilfe‘ kann keine Rede sein. Die Täter werden nicht entlassen, sondern werden versetzt, weggelobt oder erhalten ein unauffälliges Zeugnis und die Gelegenheit ‚von sich aus‘ zu kündigen. Oft treiben sie ihr Unwesen an anderer Stelle weiter. Die Führungsebene leugnet die Kenntnis der Vorgänge oder lehnt die Verantwortung aus anderen Gründen ab. Die Opfer – Kinder, Kranke, Abhängige, Untergebene – werden eingeschüchtert und haben die Beweislast. Sie haben keine Stimme, weil sie machtlos sind. Oder tot. Tot wie die unterversorgten Bewohner eines Altenheims, für die ein Untersuchungsbericht des Medizinischen Dienstes, Monate nach ersten internen Meldungen, zu spät kommt. Tot wie die über 100 Opfer des Krankenpflegers von Delmenhorst, der zuvor vom Klinikum Oldenburg weggelobt worden war.25 Tot wie die Opfer von Stickoxiden, die aufgrund von Abgasmanipulationen in Autos ganze Straßenzüge verpesten.26 Tot wie die Zivilisten im Irakkrieg, die von US-Soldaten aus einem Hubschrauber heraus unter Beifallsbekundungen erschossen wurden. Dieser Vorfall wurde bekannt unter dem Namen „Collateral Murder“, nachdem das Videomaterial der Bordkamera auf der Internetplattform WikiLeaks 2010 endlich veröffentlicht wurde (Falter 2020). Missstände und Fehlverhalten auf der einen Seite führen immer zu Opfern auf der anderen. Auch im Namen dieser Opfer ist es wichtig, dass mit dem künftigen deutschen Gesetz weitere Ausnahmetatbestände erfasst werden, die öffentliches Whistleblowing ermöglichen. Oder anders formuliert: Warum sollten der Gesellschaft weiterhin Informationen gesetzlich vorenthalten werden, die die Voraussetzungen dafür sind, dass die Opfer entschädigt und künftige Opfer verhindert werden? Hier soll nicht behauptet werden, dass Missstände wie die oben geschilderten nicht unter den Teppich gekehrt worden wären, wenn die Whistleblower rechtlich geschützt an die Öffentlichkeit hätten gehen können. Sie hätten es womöglich trotzdem nicht getan. Denn natürlich spielen viele gesellschaftliche und innerorganisatorische Strukturen sowie
25 „Besonders ist an dem Prozess nicht nur die Zahl der Fälle, sondern auch der lange Zeitraum, in dem der Pfleger offenbar unbemerkt seine Taten verüben konnte. Die Fälle im Prozess beziehen sich auf die Jahre 2000 bis 2005, als Högel in Oldenburg und Delmenhorst als Pfleger tätig war. […] Es geht auch um die Frage, ob seine Arbeitgeber und die Ermittler fahrlässig gehandelt haben. Es gibt Hinweise, dass die Kliniken, in denen Högel beschäftigt war, zumindest wussten, dass etwas nicht stimmte. Bei vier Mitarbeitern wurden die Vorwürfe konkret: Gegen sie wurde Anklage erhoben wegen Totschlags durch Unterlassen. Högels Arbeitszeugnis, ausgestellt vom Klinikum Oldenburg: „Er arbeitete umsichtig, gewissenhaft und selbstständig. In kritischen Situationen handelte er überlegt und sachlich richtig“ (Süddeutsche Zeitung 2018). 26 „Sie kosten jedes Jahr weltweit 38.000 Menschen früher das Leben – 11.400 davon in Europa“ (MDR Wissen 2019).
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psychologische Faktoren eine Rolle. Als der Skandal um die jahrelangen rechtsradikalen Umtriebe an der Kaserne von Illkirchen 2017 eher zufällig bekannt wurde, weil der deutsche Offizier Franco A. sich bei einer Ausländerbehörde – längere Zeit unentdeckt – als Asylant hatte registrieren lassen, analysierte die damalige Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen die Situation so: „Viele“ hätten es „über lange Zeit“ gewusst, aber sie hätten „weggeschaut“, hätten es „schöngeredet“ und gedeckt. Auch das „völkische, dumpfe“ Gedankengut des rechtsextremen Offiziers Franco A. sei auf der „Disziplinar-Vorgesetzten Ebene“ zwar „aufgefallen“, aber „schöngeredet“ und aus der Personalakte herausgehalten worden – aus „falsch verstandenem Korpsgeist“. Es habe „frühzeitige Hinweise“ gegeben, aber: „Da wird weggeschaut“. Die Verteidigungsministerin habe noch „tiefer gegraben“. Sie beklagte, dass „Strukturen“ und „Mechanismen“ fehlten, damit frühzeitig „gemeldet“ und „aufgeklärt“ werden könne und forderte eine „breitere, offene Debatte“ bei der Bundeswehr (Von der Leyen 2017). Die darauffolgende öffentliche Diskussion der Vorfälle hatte in der Tat eine Reihe einschlägiger Veränderung zur Folge. Wegschauen und Schweigen hat natürlich auch mit Anpassungsdruck zu tun. Mit der Erwartungshaltung der Organisation. Mit autoritärer Erziehung und Ausbildung. Mit fehlender Zivilcourage. Mit Bequemlichkeit. Aber trotzdem: Würde öffentliches Whistleblowing den erklärten, eindeutigen Schutz des Rechtsstaates genießen – ohne verwirrende Voraussetzungen, ohne subtile Sanktionsdrohungen ‒, so würde ein klar wahrnehmbares Signal in die Gesellschaft und ihre Institutionen hinein blinken. Wie ein Leuchtturm als Orientierung für Whistleblower. Wie eine rote Ampel für die Täter. Wie ein Licht am Ende des Tunnels für die Opfer. Stattdessen soll die Nachricht aus dem Inneren der Organisation keinesfalls an die Öffentlichkeit dringen dürfen. Der Frankfurter Rechtsprofessor und ehemalige Bundesdatenschutzbeauftragte Spiros Simitis befand anlässlich der Verleihung des Whistleblower-Preises an Brigitte Heinisch im Jahr 2005: „Nichts kennzeichnet die Geschichte des Whistleblowing mehr als die anhaltenden Versuche, die Öffentlichkeit auszusperren“ (Simitis 2007). Warum? Wie Unternehmen ihre Missstände wollen Regierungen ihre Herrschaftsgeheimnisse möglichst unter Verschluss halten. Ob es dafür einen berechtigten Grund gibt, bliebe der Einzelfallprüfung überlassen. Aber dazu soll es ja eben nicht kommen. Die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung in Deutschland kann bei ihren Abwägungsentscheidungen die Treuepflicht des Arbeitnehmers sowie die Rechte des Arbeitgebers auf Wahrung seines guten Rufs und/oder auf freie Berufsausübung (Art. 12 GG) über das Grundrecht des Arbeitnehmers auf Meinungsäußerungsfreiheit (Art. 5 GG) stellen und hat das in der Regel auch getan. Daher muss es einer demokratischen Öffentlichkeit darum gehen, dass „die bisher nahezu unwidersprochen hingenommene Reflexionsabfolge umgekehrt“ wird: „Statt also die Offenlegung ganz nach dem Vorbild der Arbeitsgerichte gleich mit einer Vielzahl von der Arbeitsbeziehung scheinbar zwingend diktierter Einwendungen zu konfrontieren und damit jede weitere Überlegung negativ zu präjudizieren, gilt es, sich zunächst 373
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und vor allem auf die je spezifische Bedeutung der konkret ‚veröffentlichten‘ Angaben zu konzentrieren.“ (Simitis 2007)
Wenn mit dieser Absicht an die Formulierung eines deutschen Whistleblowerschutzgesetzes herangegangen würde, müsste die zitierte „Vermutungsregel“ für den Vorrang der Meinungs- und Informationsfreiheit vor anderen rechtlich geschützten Interessen dort Eingang finden und so das Recht zum öffentlichen Whistleblowing stärken. Wir haben eingangs die Frage gestellt, ob das Recht in Deutschland einen Beitrag zur „Ermutigung“ von Whistleblowern leistet. Die Antwort lautet: Solange Bürgerinnen und Bürger nicht auch mit Informationen aus ihrem Arbeitsumfeld einen Beitrag zum freien demokratischen Diskurs leisten können, tut es das nicht. Ganz im Gegenteil.
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Whistleblower (un)erwünscht?
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Open Government als Zukunftsvision für Kommunen? Zu Ergebnissen eines Modellprojekts Göttrik Wewer
Ist die Kommune von morgen vor allem offen? Wenn über die Zukunft von Staat, Demokratie und Politik nachgedacht wird, wie das Christoph Zöpel regelmäßig gemacht hat, um über den Zwängen des Alltags nicht die großen Linien aus den Augen zu verlieren (Hesse & Zöpel 1987; Hesse et al. 1989), dann fällt heute über kurz oder lang das Schlagwort Open Government (Krabina 2019; zur älteren Diskussion: McDonald & Terill 1998; Robertson 1999). Mario Martini sieht in Transparenz, Partizipation und Kollaboration die „Leitbilder einer digitalen Zeitenwende“ (2014, S. 11ff.), Joachim Beck und Jürgen Stember betrachten Open Government als ein „neues Paradigma für Staat und Verwaltung“ (2019, S. 11ff.) und Jörn von Lucke versteht ein offeneres Regieren und Verwalten sogar als die universelle „Staatsdoktrin für das 21. Jahrhundert“ (2010, S. 402). In einem Faltblatt des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat (BMI) heißt es: Open Government begründe „einen umfassenden Reformanspruch, der alle Aspekte des politischen und administrativen Handelns berührt“, nicht etwa nur auf Bundes- oder Landesebene, sondern auch für „eine Neugestaltung des Verhältnisses von lokaler Politik, Verwaltung und Gesellschaft“ (Neutzner 2018, S. 2). In diesem Sinne soll hier der Frage nachgespürt werden, ob Open Government als eine sinnvolle Zukunftsvision für Kommunen in Deutschland angesehen werden kann. Für den Bund liegen bereits einschlägige Analysen vor (Wewer & Wewer 2019; Wewer 2019, 2020a); von den Ländern hat sich bisher nur Nordrhein-Westfalen offiziell zu diesem Leitbild bekannt (Wewer 2020c). Für die Gemeinden, Städte und Kreise hat das BMI zwischen 2017 und 2019 einen Wettbewerb „Modellkommune Open Government“ durchgeführt, dessen Ergebnisse nunmehr ausgewertet werden können. Von den rund 11.500 Kommunen und Kommunalverbänden hierzulande hatten sich 26 mit Projektideen um eine Förderung beworben, von denen schließlich neun für das Modellvorhaben ausgewählt wurden: die vier Großstädte Köln, Bonn, Oldenburg und Moers, drei kleinere Städte und Gemeinden (Merzenich, Brandis und Tengen) sowie zwei Landkreise bzw. Kreise, nämlich Marburg-Biedenkopf und der Saalekreis. Von der Größe her reichte die Bandbreite also von ca. 4.600 Einwohnern (Tengen) bis ca. 1,1 Millionen Einwohner (Köln). „Auswahlkriterien waren die Überzeugungskraft der Konzeptidee, die © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_24
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Breitenwirkung und Nachhaltigkeit der Maßnahmen und ein breites Spektrum von OpenGovernment-Maßnahmen, das die Aspekte von Transparenz des Verwaltungshandelns, Partizipation und Kooperation mit der Zivilgesellschaft umfasst“ (Beck & Stember 2019, S. 11). Die Ergebnisse des Modellvorhabens liegen seit August 2019 in zwei Broschüren vor, die andere Kommunen ermuntern sollen, sich ebenfalls für Open Government zu entscheiden: eine Dokumentation des Projektverlaufs (Beck & Stember 2019), die im nächsten Abschnitt ausgewertet werden soll, und eine daraus abgeleitete „Gebrauchsanleitung für eine Utopie“ aus der Feder des vom Ministerium angeheuerten Projektbegleiters (Neutzner 2019), die danach betrachtet werden soll. Diese Vision einer ‚offenen‘ Kommune von morgen, die zwar nicht von den beteiligten Kreisen, Städten und Gemeinden formuliert, aber immerhin vom Bundesministerium des Innern herausgegeben worden ist, soll anschließend daraufhin überprüft werden, ob es sich um eine sinnvolle Zukunftsvision handelt, die von den anderen Kommunen in Deutschland möglichst zügig übernommen werden sollte. Zum Abschluss folgen einige Gedanken, ob in absehbarer Zeit mit einer Evaluation des Modellvorhabens bzw. seiner Wirkungen zu rechnen ist, die auch die hier vorgetragenen Argumente auf den Prüfstand stellen würde. Zu den Pflichten, welche die Modellkommunen übernommen haben, zählte auch eine Art Zwischenbericht, der sich „insbesondere auf die Wirkungen der Einzelprojekte anhand messbarer Indikatoren“ beziehen und zugleich „die Wirkungen von Open Government über die Einzelprojekte hinaus im Verwaltungshandeln“ beschreiben sollte (Beck & Stember 2019, S. 13). Diesen systematischen Anspruch löst die Dokumentation des Projektverlaufs nirgendwo ein: Die Selbsteinschätzungen der Modellkommunen geben zwar einen „direkten Einblick in die Gemütslage und Probleme“ vor Ort (Beck & Stember 2019, S. 22), können aber eine professionelle Analyse von Output, Outcome und Impact der Einzelprojekte und des Gesamtprojekts nicht ersetzen. Sie wäre im „laufenden Betrieb“ kaum möglich gewesen und wohl auch zu früh gekommen. Dass der angekündigte Zwischenbericht trotz mehrfacher Nachfrage beim Projektbegleiter und beim Ministerium nicht zugänglich gemacht wurde, sei nur deshalb erwähnt, weil diese Anekdote erneut ein schönes Schlaglicht auf Projekte wirft, die sich einem offeneren, transparenten Regieren und Verwalten verschrieben haben. Joachim Beck (Hochschule Kehl) und Jürgen Stember (Hochschule Harz) stellen denn auch fest, „dass die Erfahrungen der Modellkommunen innerhalb des gemeinsamen Vorhabens noch nicht ausreichen, die mit Open Government verbundenen Wirkungserwartungen in der Breite und mit der nötigen Sicherheit nachzuweisen“ (2019, S. 19). Das wirft die Frage auf, an welchen Kriterien überhaupt Erfolg oder Misserfolg des ganzen Vorhabens abgelesen werden können. Mitglieder der Open Government Partnership, einer globalen Plattform, auf der rund siebzig nationale Regierungen sowie rund zwanzig Länder (wie Schottland), Provinzen (wie Ontario) und Metropolen (wie São Paulo), aber auch einige kleinere Kommunen mitarbeiten, die aber fast alle deutlich größer sind als die deutschen Modellkommunen, müssen alle zwei Jahre einen Aktionsplan vorlegen, wie sie ein offeneres Regieren und Verwalten weiter voranbringen wollen. Unabhängige Gutachter bewerten dann im Rahmen eines Independent Reporting Mechanism (IRM), wie ambitioniert diese Reformprogramme
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erscheinen. Sofern bestimmte Maßnahmen zumindest ein transformatives Potenzial besitzen, also das Regieren und Verwalten tatsächlich verändern könnten, und weitestgehend umgesetzt sind, können die Gutachter sie mit einem Stern auszeichnen (was für etwa fünf Prozent aller Vorhaben in sämtlichen Aktionsplänen weltweit gilt, für 95 Prozent aber nicht). Einen umfassenderen Aktionsplan, sich in den nächsten Jahren immer weiter zu öffnen, der über das einzelne Projekt hinausginge, hat keine einzige der genannten Kommunen vorgelegt. Und kein einziges Projekt vermittelt den Eindruck, es könnte wegen seines transformativen Potenzials nach den OGP-Kriterien einen Stern verdient haben. Das weckt schon erste Zweifel, diese Projekte würden die Art und Weise, wie in der Kommune gearbeitet wird, grundsätzlich verändern (OGP 2018a, 2018b, 2019a, 2019b, 2019c). Die IRM-Gutachter sollen seit einigen Jahren auch ganz konkret die Frage beantworten: „Did it open government?“ Da sie bisher für sämtliche OGP-Mitglieder in der Regel verneint wurde, wirft das die Frage auf, was dieser Reformansatz eigentlich bringt (Wewer 2019, 2020a, 2020b). Alles, was das Regieren und Verwalten nicht wirklich ‚öffnet‘, mag für sich ein sinnvolles Projekt sein, ändert aber nichts an der Art und Weise, wie regiert und verwaltet wird. Was in den meisten IRM-Berichten nahezu allen OGP-Mitgliedern abgesprochen wird, dürfte nach den dort verwendeten Kriterien auch keiner Modellkommune zugesprochen werden. Das verstärkt die Zweifel, dass es sich hier um einen tauglichen Reformansatz handelt. Die Open Government Global Solutions Group der Weltbank arbeitet, ähnlich wie die OECD, mit einem analytischen Schema, in dem zwischen Outputs, Short-Term Outcomes, Medium-Term Outcomes und Impact eines offeneren Regierens und Verwaltens unterschieden wird (Wewer 2019, S. 268). Entsprechende Reformen sollten letztlich das Leben der Menschen spürbar verbessern, heißt es dort. Dementsprechend laute die Prüffrage: „Did the intervention lead to improved social, economic or environmental conditions?“Alles, was unterhalb dieser Schwelle bleibt, mag wiederum ein sinnvolles Vorhaben sein, kommt im Alltag der Bürger aber praktisch nicht an. Diese Messlatten, die den Stand der Diskussion abbilden, müssten eigentlich auch an die Kommunen angelegt werden, die sich am Modellprojekt des Innenministeriums beteiligt haben (wobei dieses nicht von den Abteilungen begleitet wurde, die sich mit der Modernisierung der Verwaltung beschäftigen, sondern von einem Referat aus der Heimatabteilung betreut wurde): Gibt es in diesen Kommunen jeweils eine klare Strategie, wie man ‚offener‘ zu werden gedenkt, und einen konkreten Maßnahmenplan, der daraus abgeleitet ist, und wie viel davon konnte in der Laufzeit des Modellprojekts bereits umgesetzt werden? Sind die einzelnen Projekte jeweils so ambitioniert, dass sie ein IRM-Gutachter mit einem Stern auszeichnen würde? Kann man davon sprechen, dass sie die Verwaltung insgesamt ‚geöffnet‘ haben, oder handelt es sich um Einzelprojekte, die an der Art und Weise, wie in der Kommune gearbeitet wird, überhaupt nichts ändern? Und zielen diese Vorhaben darauf ab, das Leben der Bürger spürbar zu verbessern, oder sind sie so angelegt, dass die meisten davon gar nichts gemerkt haben dürften? Eine solche systematische Evaluation, die das, was in den neun deutschen Kommunen gelaufen ist, in die internationale Forschungsdiskussion einbetten würde, ist hier unmöglich, 379
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erscheint aber auch unnötig: Weil es hier nur um die Frage geht, ob die „Utopie“ der offenen Kommune von morgen eine sinnvolle Zukunftsvision für die deutschen Gemeinden, Städte und Kreise darstellt, und weil sich diese Frage schon jenseits einer derartigen Evaluation hinreichend beantworten lässt. Das soll in den nächsten Abschnitten versucht werden.
Die Dokumentation des Projektverlaufs Als wissenschaftliche Begleitung des Modellprojekts beschränken sich Joachim Beck und Jürgen Stember weitgehend darauf, den Projektverlauf zu dokumentieren. Ihr Projektbericht umfasst in der gedruckten Fassung rund 80 DIN-A4-Seiten und besteht – abgesehen von einer kurzen Einführung und einem noch kürzeren Ausblick – aus fünf Kapiteln: Kapitel 2 beschreibt den Projektverlauf und insbesondere die gemeinsamen Workshops aller Teilnehmer, auf denen bestimmte Ergebnisse erarbeitet wurden; Kapitel 3 beschreibt die einzelnen Vorhaben, die von den beteiligten Kommunen in das Gesamtprojekt eingebracht wurden; Kapitel 4 beschreibt zentrale Handlungsfelder, die bearbeitet werden müssen, wenn Kommunen sich ‚öffnen‘ wollten; Kapitel 5 präsentiert die Ergebnisse einer Befragung, wie in den deutschen Kommunen das Thema Open Government gesehen und behandelt wird; Kapitel 6 benennt „Erfolgsfaktoren und Handlungsempfehlungen“ für alle, die sich jetzt auf den Weg machen wollen: „Kommunales Open Government wird als bewusste und systematische Öffnung von Lokalpolitik und Kommunalverwaltung für die Interessen, Anforderungen und Fähigkeiten der vielfältigen, mobilen, digitalen und zunehmend globalisierten Gesellschaft in den Gemeinden, Städten und Kreisen verstanden“ (Beck & Stember 2019, S. 9). Es würde sich lohnen, aber den Umfang dieses Beitrages sprengen, sich die einzelnen Projekte vorzunehmen, die von den neun Modellkommunen betrieben worden sind. Das gilt auch für die Ergebnisse der Befragung, zu denen sich manches sagen ließe. Stattdessen liegt das Augenmerk hier lediglich auf den oben formulierten Prüffragen und darauf, ob diese Kriterien von der wissenschaftlichen Begleitung reflektiert worden sind. Soweit ersichtlich, verfügt keine der neun Modellkommunen über eine ausformulierte Strategie, wie Kommunalpolitik und -verwaltung in den kommenden Jahren systematisch und nachhaltig ‚geöffnet‘ werden sollen. Über das einzelne Vorhaben hinaus gibt es nirgendwo eine Planung, die auch nur ansatzweise mit den nationalen Aktionsplänen vergleichbar wäre, obwohl selbst diese meist keine strategische Komponente enthalten. Inzwischen würden zwar viele Kommunen Projekte betreiben, die man unter Open Government subsumieren könnte, schreiben auch Beck und Stember (2019, S. 13), sie würden das aber noch „kaum als strategisches Ziel der Verwaltungsentwicklung“ tun. Kein einziges der Projekte, die in diesem Verbund betrieben worden sind, hätte eine Chance, von einem IRM-Gutachter einen Stern als besonders ambitioniertes Reformvorhaben verliehen zu bekommen. Nach den Maßstäben, die dabei angelegt werden sollen, müssen entsprechende Vorhaben: (a) spezifisch genug sein, damit der Gutachter eine potenzielle
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Wirkung tatsächlich beurteilen kann; (b) eindeutig relevant für das Thema Open Government, also für die Öffnung von Regierung und Verwaltung sein; (c) besonders ambitioniert in dem Sinne sein, dass sie ein „transformatives Potential“ versprechen für den Fall, dass sie vollständig umgesetzt werden; (d) im vorgesehenen Zeitrahmen tatsächlich weitgehend implementiert worden sein („substantial“ oder „complete“; Wewer 2020a, S. 267). Erst recht dürfte die harte Frage, ob das Vorhaben das Regieren und Verwalten in der Kommune insgesamt spürbar verändert hat („Did it open government?“), von unabhängigen Gutachtern mit einem klaren „Nein“ beantwortet werden. Dafür ist die Hebelwirkung der Einzelprojekte überall viel zu gering. Die Verpflichtung der Modellkommunen, die „Wirkungen von Open Government über die Einzelprojekte hinaus im Verwaltungshandeln“ zu beschreiben (Beck & Stember 2019, S. 13), hat nicht zu einer nachvollziehbaren Wirkungsanalyse geführt. Da sie im Modellprojekt nicht darüber befragt worden sind, ob sie eine Idee haben, was sich hinter dem Schlagwort Open Government verbergen könnte, ob sie das in der Kommune betriebene Vorhaben kennen und ob dieses ihnen schon eine spürbare Erleichterung ihres Alltags gebracht hat, wissen wir nicht, was die Bürger darüber denken. Dass diese Projekte die sozialen, wirtschaftlichen oder ökologischen Bedingungen in der Kommune merklich verbessert hätten, war allerdings von vornherein nicht zu erwarten. Anders gesagt: Open Government kommt beim Bürger, dem das Ganze eigentlich dienen soll, im Grunde nicht an. Zugespitzt formuliert: Es handelt sich um eine Spielwiese für eine kleine Minderheit, die aber mit diesem Thema große Erwartungen verbindet. In Kommunalpolitik und -verwaltung müsse auch bei diesem Thema gegen grundlegende Vorbehalte angekämpft werden, heißt es in dem Bericht. Das würden nicht nur Antworten aus der Befragung zeigen, sondern auch Einschätzungen von Beteiligten. Zudem zeige sich, dass Angebote zur Information und Beteiligung auf lediglich geringe oder eine rasch nachlassende Resonanz bei den Bürgern stoßen (Beck & Stember 2019, S. 79). Dass Open Government kein Selbstläufer ist, sondern gemanagt werden muss, unterscheidet es freilich nicht von anderen Reformansätzen (Veit et al. 2019; Klenk et al. 2020). Das häufige „Muss“ bei den Erfolgsfaktoren und Handlungsempfehlungen macht das deutlich. „Open Government und seine Prinzipien müssen praktisch gelebt und umgesetzt werden.“ Oder: „Man muss innerhalb einer öffentlichen Verwaltung Open Government und Digitalisierung als Chance begreifen“ (Beck & Stember 2019, S. 77). Und was ist, wenn die meisten in den kommunalen Ämtern das anders sehen? Gewisse Zweifel, ob Open Government wirklich der Stein der Weisen sei, um die „Krise der Demokratie“, die immer wieder gern beschworen wird, und das Desinteresse an Kommunalpolitik, das sich an vielen Daten festmachen lässt, aufzulösen, klingen auch bei Joachim Beck und Jürgen Stember an: Wie weit die „offenen Entwicklungen und Aktivitäten“ tatsächlich innerhalb der Kommunen die reale Praxis im politisch-administrativen Prozess verändert hätten, sei sicherlich nicht einheitlich zu beurteilen, schreiben sie (2019, S. 9). In der kommunalen Diskussion bewege sich Open Government in auffälliger Weise immer zwischen den Polen „nice-to-have“ und einer grundrechtlichen Verpflichtung, quasi als konstituierendes Menschenrecht. Im Spannungsfeld zwischen Demokratieförderung 381
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einerseits und Effizienzüberlegungen andererseits gebe es sowohl Argumente für ein ‚offeneres‘ Regieren und Verwalten als auch dagegen. Dass die ausgewählten Kommunen sehr von dem Reformeifer profitierten, den das Modellprojekt ausgelöst habe, und viele Dinge konstruktiv infrage gestellt worden seien, könne in vielen Bereichen nachgewiesen und als Erfolg gewertet werden: „Ob das Konzept allerdings ohne weitere Förderung massenhaft und in der Fläche der kommunalen Landschaft Einzug findet, ist auf der anderen Seite sicherlich angesichts der bisherigen Diffusion von Reformideen zu bezweifeln“ (Beck & Stember 2019, S. 10). Wo Chancen seien, dort seien auch Risiken – und diese würden die Kommunen ganz konkret nach Beendigung des Modellprojekts in der auslaufenden Förderung sehen. Da manche Einzelprojekte noch keine nachhaltige Fortsetzung gefunden hätten, drohten diese zu versanden. Es sei immer wieder betont worden, dass diese „ersten Versuche und Aktivitäten keine Selbstläufer geworden“ seien, notierten Joachim Beck und Jürgen Stember in ihrem Bericht (2019, S. 73). Open Government gebe es nicht zum Nulltarif. Dieser Befund wirft allerdings die Frage auf, warum die Kommunen nicht selbst investieren, wenn es sich hier um einen wichtigen Reformansatz handeln sollte, der Mehrwert erzeugt, statt auf eine Förderung von außen zu hoffen und die eigenen Aktivitäten einzustellen, wenn keine Gelder fließen. Offenbar ist der Mehrwert von Open Government aus der Sicht der Kommunalpolitik nicht so groß, dass sich entsprechende Investitionen lohnen würden. Es hat eher den Anschein, als hätten bei den Projektanträgen der Kommunen auch Mitnahmeeffekte eine Rolle gespielt. Aber das sind Fragen, denen hier nicht weiter nachgegangen werden kann.
Die Kommune als Utopia Der vom Innenministerium beauftragte Projektbegleiter, der schon für das Vorgängerprojekt ein Kochbuch für Praktiker vorgelegt hat, Wie kommunales E-Government dennoch gelingt (Neutzner 2016), geht in der zweiten Broschüre, die 143 Seiten umfasst, über eine bloße Dokumentation des Projektverlaufs hinaus, indem er einen „ersten Versuch“ unternimmt, „das Konzept eines kommunalen Open Government für die Praxis in den Gemeinden, Städten und Kreisen zu erschließen“ (Neutzner 2019, S. 10). Die von ihm formulierte Utopie, die nicht ein Ergebnis der Diskussionen unter den Modellkommunen darstellt, sondern eigene Ideen enthält, konkretisiere sich „allein im gemeinsamen, grenzüberschreitenden, also offenen Nachdenken und Verändern“ (Neutzner 2019, S. 11). Abgesehen von einigen Anmerkungen „Zu dieser Publikation“ (Neutzner 2019, S. 9‒11), einem kurzen Ausblick (S. 135) und der Erläuterung zentraler Begriffe im Anhang (S. 137ff.) enthält seine „Gebrauchsanleitung“ vier Kapitel: In Kapitel 2 (S. 13ff.) beschreibt er seine Vision der „Kommune von morgen“, in der unter anderem „Transparenz als Selbstverständlichkeit“ herrsche und „smarte Innovationen als Verantwortung“, diese demokratisch, sozial gerecht und nachhaltig zu gestalten. Kapitel 3 (S. 23ff.) handelt „von Offenheit, Utopien
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und Gebrauchsanleitungen“: „Utopia ist eine Kommune“ (Neutzner 2019, S. 29). Kapitel 4 (S. 33ff.) thematisiert „Öffnung: Perspektiven und Handlungsfelder“. Zu den „Perspektiven der Offenheit“ gehörten unter anderem Transparenz als Leitlinie, dialogorientierte Bürgerbeteiligung, Coproduktion und Cokreation sowie „Offenheit als Organisationskultur“; zu den „Handlungsfeldern der Öffnung“ zählten Kommunalpolitik und Kommunalverwaltung, Führung und Steuerung oder Verwaltungskultur und Veränderungsmanagement. Kapitel 5 (S. 49ff.), das mehr als die Hälfte der Broschüre umfasst, trägt den Titel: „Kommunales Open Government: Eine Gebrauchsanleitung“. Hier werden Hintergründe, Checklisten, Ablaufpläne und Instrumente angeboten, die auf dem Weg zur offenen Kommune von morgen nützlich sein könnten. Diese Kommune von morgen verstehe und lebe „Offenheit als Kultur“ und entwickle sie als einen Weg, die lokale Demokratie zu stärken, heißt es im zweiten Kapitel (Neutzner 2019, S. 13ff.). Sie sei offen für das Informationsbedürfnis der Gesellschaft und nutze in ihrer politischen und administrativen Arbeit die Erfahrungen, die Urteile und die Fähigkeiten der Zivilgesellschaft. Die Kommune von morgen arbeite „selbstverständlich und umfassend digital“ und sei offen für technische und soziale Innovation. In der Kommune von morgen gehöre Veränderung zum Selbstverständnis. Im dritten Kapitel zeichnet Matthias Neutzner die „Biografie“ des Begriffs Open Government nach und wie dieser in den Kommunen verarbeitet wurde (2019, S. 23ff.). Dieser Ansatz fokussiere auf Transparenz und staatliche Rechenschaft und damit auf eine Festigung von Bürgerrechten, gehe aber gleichzeitig davon aus, „die Zivilgesellschaft systematisch in die politisch-administrative Arbeit einzubeziehen – von demokratischer Meinungsbildung und politischer Entscheidung bis zur administrativen Leistungserbringung“ (Neutzner 2019, S. 26). Seine Definition: „Kommunales Open Government bezeichnet die bewusste und systematische Öffnung von Lokalpolitik und Kommunalverwaltung für die Interessen, Anforderungen und Fähigkeiten der vielfältigen, mobilen, digitalen und zunehmend globalisierten Gesellschaft in den Gemeinden, Städten und Kreisen“ (2019, S. 27). Im Mittelpunkt dieser Definition stehe nicht das Ziel, sondern der Prozess: „Öffnung wird hier als dauernde Aufgabe verstanden, in deren Verlauf Offenheit immer wieder neu reflektiert, aktualisiert und im praktischen Tun ausgestaltet werden muss“ (2019, S. 28). Utopien müssten zuallererst als kritische Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Gegenwart verstanden werden. Und in seinem ganzheitlichen Anspruch sei auch Open Government zuerst „Gedanke, Konzept und Experiment.“ Gerade ein Zukunftsentwurf, der auf eine Kultur der Offenheit ziele, könne nur gelingen, wenn er nicht schematisch abgearbeitet, sondern kreativ weitergedacht, experimentell erprobt und selbstkritisch reflektiert werde (Neutzner 2019, S. 30). Zum „bestimmungsgemäßen Gebrauch“ dieser Publikation gehöre der Hinweis, dass Open Government darin „nicht akademisch ausgeleuchtet“, sondern im Sinne einer anregend provozierenden Utopie behandelt werde. Die in der Broschüre enthaltenen Anregungen seien keine Beschreibung der endgültig offenen Kommune: „Kommunales Open Government ist nicht als idealer Zustand, sondern als andauernder Prozess der Öffnung zu verstehen, der immer wieder (Selbst-)Reflexion, Eingehen auf veränderte gesellschaft383
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liche Befunde und Neuausrichtung von Aktivitäten – also seinerseits Offenheit – erfordert“ (Neutzner 2019, S. 31). In Kapitel 4 werden für eine kontinuierliche „Öffnung“ der Kommune „Perspektiven und Handlungsfelder“ benannt: Zu den sieben „Perspektiven der Offenheit“ zählen Transparenz, eine „offene Themensetzung“, eine dialogorientierte Bürgerbeteiligung, „Co-Produktion und Co-Kreation“ sowie „Offenheit als Organisationskultur“ (Kreutzner 2019, S. 34ff.). Offenheit werde dabei als Tätigkeit verstanden und könne je nach Kontext mit Verben wie wahrnehmen, anerkennen, aufgreifen, berücksichtigen oder gestalten übersetzt werden. Diese würden in ihrer Gesamtheit „eine Kultur der Orientierung von Politik und Verwaltung auf die lokale Zivilgesellschaft als demokratischen Souverän und Auftraggeber administrativer Leistungen“ beschreiben (Kreutzner 2019, S. 34). Als die sechs „Handlungsfelder der Öffnung“ werden genannt: „Kommunalpolitik und Kommunalverwaltung, Führung und Steuerung, Verwaltungskultur und Veränderungsmanagement, Personalmanagement, Organisationsentwicklung sowie Informationstechnik und Datenmanagement“. Offenheit müsse „kontextbezogen ermutigt, praktisch erlebt, anlassbezogen reflektiert und belohnt werden“ (S. 45). Die umfangreiche „Gebrauchsanleitung“ für kommunales Open Government in Kapitel 5 enthält, abgesehen von der thematischen Einführung, vier inhaltliche Schwerpunkte: Bürgerschaft, Politik und Verwaltung; „vom Labor in den Alltag“; Strukturen, Abläufe und Informationen; „offene Informationstechnik“. Open Government stelle „kein eindeutig definiertes, in sich geschlossenes Regelwerk“ dar, sondern werde am besten als „anregende Utopie“ verstanden, heißt es da (Kreutzner 2019, S. 50). Seine Ziele seien einerseits „eine starke, lebendige und vielfältige Demokratie“, andererseits sollten aber auch „Lokalpolitik und Kommunalverwaltung gestärkt“ werden. Was eine solche Demokratie von der derzeitigen Praxis unterscheidet, wird ebenso wenig diskutiert wie die Frage, ob sich beide Ziele womöglich beißen könnten. Zwar seien Hinweise gegeben worden, wie man mit dieser Anleitung umgehen solle, das praktische Ergebnis bei der Anwendung der Vorschläge, Hinweise und Checklisten werde jedoch in jeder Kommune anders aussehen, heißt es in dem knappen Ausblick (Kreutzner 2019, S. 135). Ein eindeutiges Reformmodell sei gar nicht das Ziel des Modellprojekts gewesen. Aber: „Das Konzept der Öffnung für die Interessen, Anliegen und Fähigkeiten der Zivilgesellschaft vor Ort birgt Chancen, die Kommunen unseres Landes demokratischer und leistungsfähiger zu machen.“ Eines sei jedenfalls gewiss: „Eine sich im Sinne von Open Government entwickelnde, offene Kommune wird leistungsfähiger, veränderungsbereiter und besser in der Lage sein, die Herausforderungen der Zukunft zu meistern – auch wenn wir das heute nur punktuell mit konkreten Befunden und Indikatoren beweisen konnten“ (Kreutzner 2019, S. 135).
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Schwächen der Utopie: kontextlos und wissensfern Dass Modellprojekte nicht zu konkreten Ergebnissen führen, die von anderen Kommunen relativ einfach übernommen werden könnten, sondern zu Utopien von einer Kommune von morgen, die offenbar ziemlich weit weg ist von der Realität vor Ort, ist ungewöhnlich. Zudem vermittelt diese Utopie den Eindruck, bei unseren Gemeinden, Städten und Kreisen handele es sich um geschlossene Systeme, die sich gegenüber den Interessen, Anliegen und Fähigkeiten ihrer Bürger abschotten würden. Dem würden die Praktiker in den Kommunen wohl entschieden widersprechen. Die Utopie hat zwei gravierende Schwächen: sie baut weder auf dem wissenschaftlichen Diskussionsstand zu Open Government (oder zum Regieren und Verwalten) auf noch kennt sie die kommunale Realität. Das bestreitet Matthias Neutzner auch gar nicht: Seine Vision der Kommune von morgen sei „weder als wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Konzept Open Government noch als ‚Kochbuch‘ für Open-Government-Praktiker angelegt“ (2019, S. 51). Wissenschaft und Kommunalpraxis zu ignorieren, wirft allerdings die Frage auf, wie sinnvoll und tragfähig seine „ausgewählten Anregungen und Hinweise“ dann sein können (Kornberger et al. 2017). Die alte Debatte, ob in Kommunen überhaupt ‚regiert‘ werde oder schon der Begriff Government für die kommunale Selbstverwaltung auf einen Holzweg führe, soll hier nicht erneut aufgewärmt werden. Das gilt auch für andere Fragen, die sich bei der Lektüre diese Utopie sofort aufdrängen. Bei den kommunalen Aufgaben wird weder zwischen Pflicht und Kür unterschieden noch berücksichtigt, dass die meisten Kommunen überschuldet sind und kaum ‚Spielgeld‘ für freiwillige Aufgaben oder anspruchsvolle Reformkonzepte wie Open Government haben (Wewer 1998). Hinreichende personelle, organisatorische und finanzielle Ressourcen für den Prozess der ‚Öffnung‘ sind zwar in den meisten Kommunen kaum vorhanden, müssen aber einfach da sein. Der konkrete Mehrwert, sich auf diesen Prozess mit ungewissem Ausgang einzulassen, wird auch nicht so überzeugend präsentiert, dass jeder Kämmerer und Stadtrat sofort zustimmen würde. Kurz und gut: Die Utopie wird praktisch im luftleeren Raum entfaltet und nicht in den Kontext des kommunalen Alltags eingebettet (Wewer 1989). Vollkommen ignoriert wird auch die in Wissenschaft und Forschung intensiv diskutierte Frage, ob Open Government überall funktioniert oder ob bestimmte Bedingungen gegeben sein müssen, wenn das Konzept aufgehen soll. Dass es eines „Ökosystems“ vor Ort bedarf, ohne das erst gar nicht versucht werden sollte, sich auf diesen Weg zu machen, darüber ist man sich dort weitgehend einig (siehe nur Harrison et al. 2012; Janssen et al. 2012; Welle Donker & Loenen 2017). Aber schon bei der Konzeption des Wettbewerbs hat der Aspekt, ob Städte mit knapp 5.000 oder sogar 10.000 Einwohnern überhaupt genügend ‚kritische Masse‘ aus IT-Kompetenz, einschlägigen Unternehmen, Hochschulen und einer aktiven Netzgemeinde aufwiesen, um das Thema dauerhaft zu tragen, keine Rolle gespielt. Jedenfalls hat offenbar niemand darüber nachgedacht, welche Bedingungen womöglich gegeben sein müssten, damit Open Government mit seinem umfassenden Reformanspruch funktionieren kann. 385
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Diese und andere Fragen, die sich bei der Lektüre dieser Utopie förmlich aufdrängen, können hier nicht alle diskutiert werden. Aus der Sicht der Verwaltungs- und Regierungslehre soll lediglich auf einige Aspekte im Verhältnis von Kommunalpolitik, Bürgermeister, Kommunalverwaltung und Zivilgesellschaft hingewiesen werden. Adressat von kommunalem Open Government sei die Zivilgesellschaft, heißt es einerseits in dieser Utopie, andererseits nehme sie insbesondere die Perspektive der Kommunalverwaltungen ein, betrachte aber auch wesentliche Schnittstellen zu den politischen Organen der kommunalen Selbstverwaltung. Dagegen sei die zivilgesellschaftliche Perspektive auf kommunale Politik und Administration zunächst nur implizit enthalten. Die „Gebrauchsanleitung“ richtet sich also „vor allem an die Verantwortlichen und Beschäftigten der Kommunalverwaltungen sowie an kommunalpolitische Mandatsträger“ (Neutzner 2019, S. 10). Diese sollen ihre Einstellung und ihr Verhalten ändern: „Kommunales Open Government bedeutet Offenheit dafür, die Erfahrungen, Kompetenzen und Ressourcen der Zivilgesellschaft in die Gestaltung und Umsetzung kommunaler Leistungen, Aufgaben und Entwicklungen einzubeziehen“ (Neutzner 2019, S. 38). Die Frage, wie weit die Kommune sich ‚öffnen‘ solle, ist eine politische Grundsatzfrage und keine, die in den kommunalen Ämtern entschieden werden kann – wenn man dort überhaupt über genügend Ressourcen verfügen würde, sich solchen Themen zu widmen. Die Parteien, Wählergruppen und Bürgermeister, die sich zur Wahl stellen, treten mit unterschiedlichen Wahlprogrammen an, wie sie die Zukunft der Gemeinde gestalten wollen. Die Bürgerinnen und Bürger entscheiden dann darüber, wer den Auftrag bekommt, sein Programm umzusetzen. Wenn sich keine klare Mehrheit ergibt, müssen Bündnisse geschmiedet und Kompromisse eingegangen werden. Jedenfalls ist der Gemeinderat, der Stadtrat oder der Kreistag das zentrale Organ, in dem wesentliche Zukunftsfragen der Kommune zu entscheiden sind. Niemand ist daran gehindert, seine Ideen, Anregungen oder Forderungen dort einzubringen; aber natürlich garantiert das nicht, dass für alles eine Mehrheit gefunden wird. Mehrheiten bekommt man nicht geschenkt – die muss man sich erarbeiten. Nach der hier vorgestellten Utopie soll um die kommunale Selbstverwaltung, wie sie bei uns in Verfassungen, Gesetzen und Gemeindeordnungen festgeschrieben ist, offenbar eine Art Bypass gelegt werden: Die gewählten Mandats- und Amtsträger sollen sich danach für die Interessen, Anforderungen und Fähigkeiten der sogenannten Zivilgesellschaft ‚öffnen‘, ohne dass deren Vertreter selbst zu Wahlen antreten oder sich um Mehrheiten bemühen müssten: „Wann immer öffentliche Aufgaben gelöst werden müssen“, seien in der Kommune von morgen „die Betroffenen systematisch, verbindlich und frühzeitig einbezogen“ (Neutzner 2019, S. 17). Wozu braucht man dann eigentlich noch einen Gemeinderat? Und wer sollte Zeit aufbringen, für solche Gremien zu kandidieren oder darin mitzuarbeiten, wenn die wichtigen Fragen ganz woanders entschieden werden? Kluge Kommunalpolitiker werden kluge Ideen dankbar aufgreifen, egal, woher sie kommen, aber ihre Aufgabe besteht auch darin, gerade nicht allen Interessen und Forderungen aus der sogenannten Zivilgesellschaft nachzugeben. Nicht der Gemeinderat muss sich für alles ‚öffnen‘, was da kommen mag, sondern alle, die ein bestimmtes Anliegen haben, sollten sich an diese
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Clearingstelle der örtlichen Politik wenden, damit ihre speziellen Wünsche dort aus übergeordneter Perspektive bewertet werden können. Wer diese Funktion des Gemeinderates untergräbt, stärkt die lokale Demokratie nicht, sondern schwächt sie. Ohnehin fällt auf, dass in der ganzen Utopie nicht von den Bürgerinnen und Bürgern der Gemeinde die Rede ist, sondern von der sogenannten Zivilgesellschaft, der gegenüber sich die Kommunalpolitik unbedingt ‚öffnen‘ solle. Die aktive Zivilgesellschaft stellt aber nicht die gesamte Bürgerschaft dar, was immer die Frage aufwerfen würde, wie repräsentativ Forderungen sind, die von dort kommen, und ob nicht unter dem Deckmantel des Gemeinwohls spezifische Eigeninteressen vertreten werden. Alle Studien zeigen, dass die Beteiligungsangebote und -verfahren, die einen höheren Aufwand erfordern, als Kreuze auf einem Wahlzettel zu setzen, sozial schwächere Schichten überfordern und jene begünstigen, die ihre Interessen ohnehin besser zu artikulieren verstehen. Die zitierte Utopie bietet keinerlei Ansätze, wie dieser Bias, die soziale Schieflage bei Open Government, vermieden werden könnte, sondern scheint das Problem nicht einmal erkannt zu haben. Weitere Fragezeichen ließen sich auf nahezu jeder Seite dieser Broschüre anfügen, deren Ratschläge nicht selten auf unbewiesenen Behauptungen beruhen. Dass „eine Mehrheit der Bürgerschaft eine größere Vielfalt der Demokratie, vor allem mehr Mitsprache und Mitbestimmung wünscht“ (Neutzner 2019, S. 71) und bereit sei, sich selbst zu engagieren, wird zum Beispiel öfter behauptet, aber selten bewiesen. Und dass eine Öffnung für die Interessen, Anliegen und Fähigkeiten der Zivilgesellschaft vor Ort die Kommunen „demokratischer und leistungsfähiger“ mache (NEutzner 2019, S. 135), ist zunächst auch nicht mehr als ein frommer Wunsch. Die Idee, kein konkretes Reformmodell vorzugeben, wie die ‚offen‘ Kommune von morgen aussehen solle, sondern eine Zukunftsvision zu entwerfen, die dazu animieren soll, sich einfach auf den Weg zu machen, hat durchaus einen gewissen Charme. Allerdings enthalten alle politischen Utopien, die es in der Geschichte der Menschheit seit dem von Platon in der Politeia skizzierten Idealstaat gegeben hat, zumindest implizit ein bestimmtes Modell von Gesellschaft, Wirtschaft und Staat, über das man sich mehrheitlich verständigen müsste (Waschkuhn 2003; Guérot 2016). Für die politischen Utopien der Neuzeit – von Thomas Morus’ Utopia über Tommaso Campanellas Sonnenstaat bis hin zu Francis Bacons Nova Atlantis (Höffe 2016) – gilt das erst recht (Saage 1991; Neusüss 1986). Evgeny Morozovs Texte sind auch deshalb ein Lesevergnügen, weil man auf jeder Seite seine intime Kenntnis der Ideengeschichte und politischen Philosophie genießen kann. Wenn er zum Beispiel mit Smarte neue Welt (2013) die politischen Visionen des Silicon Valley aufspießt, dann spielt er schon mit dem Titel seines Buches auf die 1932 erstmals erschienene Brave New World von Aldous Huxley an, einer politischen Dystopie, die eine kastenartige Gesellschaft im Jahre 2540 n. Chr. beschreibt, in der durch frühe physische Manipulationen und eine mentale Indoktrinierung schon der Kleinkinder Stabilität, Frieden und Freiheit für alle gewährleistet erscheinen. Anders jedoch hier: Alles das, was eine gute Utopie ausmacht, fehlt in dem Entwurf für das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat und für die vielen Kommunen, die wir in Deutschland haben.
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Zur Wahrheit gehört auch, dass praktisch alle politischen Utopien, die bisher entworfen wurden, letztlich nicht realisiert worden sind. Positive Utopien gelten deshalb als meist zwar nette, aber unrealisierbare Zukunftsvision. Für die ‚offene‘ Kommune von morgen ist das kein gutes Omen. Vielleicht hätte man den Mund einfach nicht so voll nehmen sollen.
Fazit: Ein Modellprojekt ohne Modellcharakter Das zweijährige Modellprojekt des Innenministeriums sollte Erkenntnisse bringen, die es den übrigen Kommunen erleichtern würden, sich ebenfalls stärker gegenüber den Interessen, Anregungen und Forderungen der sogenannten Zivilgesellschaft zu ‚öffnen‘. Dass sie dazu die Checklisten gebraucht hätten, die in der zweiten Broschüre abgedruckt sind, darf bezweifelt werden. Unklar bleibt hingegen, ab wann von einer geschlossenen, einer halbwegs offenen, einer hinreichend offenen oder einer vollständig offenen Kommune gesprochen werden kann: „Noch existiert kein erprobter Indikatorensatz, keine allseits akzeptierte Bewertungsmethode, um die Offenheit von Organisationen im Allgemeinen und von Kommunen im Besonderen zu bestimmen“ (Neutzner 2019, S. 75). Dass nach zwei Jahren und danach regelmäßig überprüft wird, wie viele der vielen anderen Kommunen sich inzwischen auf diesen Weg gemacht haben, ist nicht zu erwarten. Diese Modellvorhaben werden in jeder Legislaturperiode vom Innenministerium als „Kommunalministerium“ mit den Kommunalen Spitzenverbänden abgestimmt zu Themen, die für ihre Mitglieder noch relativ neu sind und zu denen die Verbände selbst nicht genug Expertise anbieten können. Auch beim Wettbewerb „Kommunales E-Government“, der in zwei Wellen von 2012 bis 2014 bzw. von 2014 bis 2016 gefördert wurde, ist nicht evaluiert worden, wie weit dessen Ergebnisse in die Fläche gewirkt haben (Stember et al. 2019; Furchert & Wandersleb 2019). Beim Folgeprojekt „Modellkommune Open Government“ ist übrigens das Logo beibehalten und nur der Schriftzug ausgetauscht worden. E-Government in Deutschland finde praktisch nicht statt, hieß es seinerzeit in einem Gutachten für den Nationalen Normenkontrollrat, von den untersuchten Kommunen würde die Hälfte nicht mehr als zwei Onlinedienste anbieten und nur wenige mehr als zehn (Fromm et al. 2015). Der Normenkontrollrat legte zwar rasch ein Arbeitsprogramm vor, „wie der Aufstieg gelingen kann“ (CSC & Capgemini 2016), aber noch 2019 belegte die Bundesrepublik Deutschland unter den 28 EU-Mitgliedern im Digital Economy and Society Index (DESI) der Europäischen Kommission nur einen Platz im Mittelfeld und bei den öffentlichen Dienstleistungen sogar nur Rang 24 (nach Platz 20 im Jahre 2018 und Platz 18 im Jahre 2017; European Commission 2019a, 2019b). Da die meisten Bürgerdienste von den Kommunen angeboten werden, dürfte es auch an ihnen liegen, dass wir beim Electronic Government zurückgefallen sind, weil andere aufgeholt haben (Opiela et al. 2019a, 2019b). Dass sich Open Government schneller ausbreitet, ist aus diversen Gründen nicht zu erwarten. Aber auch nicht, dass das viele bekümmern wird, die in Bund, Ländern und
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Gemeinden politische Verantwortung tragen. Die meisten Bürger dürften ebenfalls nichts vermissen, wenn diese Utopie, die sie gar nicht kennen, bloße Utopie bliebe. Die Regionalen Open-Government-Labore, die jetzt an das Modellvorhaben anknüpfen, sind ein innovativer Ansatz, um gemeinsam mit Betroffenen und der Netzszene möglichst intuitive technische Lösungen für öffentliche elektronische Dienstleistungen zu finden, aber sicher kein Instrument, die Verbreitung der hier skizzierten Utopie zu fördern. Das muss kein Schaden sein: Gewählte Regierungen in funktionierenden Demokratien, das wird bisweilen vergessen, sind offen, nämlich offen für Kontrolle und für Kritik, offen für Kompromisse und für Korrekturen, offen gegenüber Einsprüchen und gegenüber Protest, offen für Wettbewerb und für eine Abwahl. Das gilt im Prinzip auch für die Kommunalpolitik und die gewählten Amtsträger, aber gerade nicht für autoritäre Herrscher in mehr oder minder geschlossenen Regierungssystemen. In freiheitlichen Demokratien mit wechselseitiger Machtkontrolle liegt es nicht allein im Ermessen und im Gutdünken der Regierung oder derjenigen, die sich in der kommunalen Selbstverwaltung engagieren, was sie sich erlauben dürfen und was sie zu unterlassen haben, sondern das ist rechtlich geregelt und von Gerichten entschieden. Anders gesagt: In funktionierenden Demokratien haben diejenigen, die öffentliche Ämter und Mandate innehaben, offen zu sein, also das Parlament, die Medien und die Öffentlichkeit über ihre Arbeit zu informieren und sich einer kritischen Diskussion zu stellen, ob ihnen das gefällt oder nicht (Wewer & Wewer 2019, S. 11). Welchen Mehrwert in dieser Konstellation ein noch offeneres Regieren und Verwalten bringen könnte, ist bisher noch nicht theoretisch und empirisch überzeugend nachgewiesen worden. Christoph Zöpel ist jemand, der das Regieren und Verwalten nicht nur aus Zeitungen und Büchern, sondern aus eigener Anschauung in Bund, Ländern und Gemeinden kennt. Er ist nicht nur Mitglied des Landtages von Nordrhein-Westfalen und des Deutschen Bundestages gewesen, sondern war auch einige Jahre Ratsherr der Stadt Bochum. Auch zwölf Jahre als Landesminister und rund vier Jahre als Staatsminister im Auswärtigen Amt sprechen dafür, dass er ziemlich schnell einschätzen kann, was ein praktikabler Reformansatz ist und was eine bloße Utopie bleiben dürfte (hierzu auch Laak 2008, 2010; Seifert 2010). Das alles lässt vermuten, wie weit er sich trotz seines beständigen Interesses an Zukunftskonzepten auf Open Government eingelassen hätte.
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Wissenschaftliche Politikberatung – von strategischen Visionen zur Analyse der Innovationsblockaden Rolf G. Heinze
Wissenschaftliche Politikberatung Zum Wandel der Politikberatung Politikberatung hat in den letzten Jahrzehnten eine erfolgreiche Karriere gemacht. Schaut man sich in Onlinesuchmaschinen die Häufigkeit der Verwendung dieses Begriffs in Datenbanken an, wird eine markante Steigerung seit Ende der 1990er-Jahre deutlich. In manchen sozialwissenschaftlichen Diskursen wird schon von einer Beratungsgesellschaft gesprochen, um den Boom insbesondere in der Organisationsberatung in den letzten Jahrzehnten nachzuvollziehen (Schützeichel & Brüsemeister 2004).1 Medien rufen insbesondere vor dem Hintergrund des immensen Wachstums der Unternehmensberatungen durch öffentliche Auftraggeber schon die „Berater-Republik“ aus (Becker et al. 2019). Angesichts des dynamischen Wachstums der Consultingbranche bestehe die Gefahr, dass staatliche Institutionen Kompetenzen an nicht demokratisch kontrollierte Beraterfirmen abgeben. Andererseits fördert das oft intransparente Beratungsgeschäft wiederum politische Gegenkräfte wie bspw. Lobbycontrol, die auf Offenlegung pochen und den Einfluss lobbyistischer Kreise auf politische Entscheidungen eindämmen wollen. In einzelnen Fällen zeigte sich, dass angeblich neutrale wissenschaftliche Forschung und Beratung letztlich im Auftrag von Unternehmen stattfand (bspw. nachgewiesen für den Chemiekonzern Monsanto: vgl. Balser & Ritzer 2019). Ein dynamisches Wachstum zeigt sich auch in der wissenschaftlichen Politikberatung, die aufgrund der Ausweitung der Staatsfunktionen stark expandierte: „Eine tiefere Ursache der Expansion der wissenschaftlichen Politikberatung, die inzwischen als eine eigenständige institutionelle Ebene zwischen Politik und Wissenschaft gesehen
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In der Soziologie wird der aktuelle Beratungsboom vornehmlich im Kontext der Debatte um eine Subjektivierung der Arbeit und des Trends zum „unternehmerischen Selbst“ bzw. des „Arbeitskraftunternehmers“ diskutiert (Mönkeberg 2019). Da in immer mehr Lebensbereichen klassische Sicherheiten verschwinden, besteht allerdings die Gefahr, dass Beratung „zu einem Fass ohne Boden“ wird, was auch daran ersichtlich ist, dass es in Deutschland neben 10.000 professionellen Beratern 35.000 bis 75.000 Berater (Coachs) ohne weitere Qualifizierung gibt. Mehr als jeder dritte Bundesbürger war inzwischen bei irgendeinem Coaching (Linnartz 2019).
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_25
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werden kann, liegt in der Ausweitung der Staatsfunktionen, die seit dem 19. Jahrhundert andauert und ihren bisherigen Höhepunkt zunächst in einer immer weiter ausgreifenden Sozialgesetzgebung sowie zuletzt in einem umfassenden Umweltschutz und einer im Prinzip uneingeschränkten Risikoregulierung findet. Wissenschaftliche Themen werden aufgrund der Vorsorgepflicht des Staates zu wichtigen Themen auf der politischen Agenda.“ (Weingart 2019, S. 68; Weingart & Lentsch 2008; Falk et al. 2019).
Aber nicht nur die Ausweitung der staatlichen Eingriffe implizierte die Expansion der Beratungsszene, vielmehr sind auch gesellschaftliche Wandlungsprozesse, wie der Trend zur Selbstoptimierung, zentral mitverantwortlich. Die Ausbreitung der ‚Entscheidungsgesellschaft‘ hat eine Erhöhung der Rationalitätsansprüche bewirkt und dies bei steigender Komplexität der Entscheidungssituationen: „Je größer die Entscheidungskomplexität ist, desto größer ist erstens die Unsicherheit des Akteurs, wie er sich entscheiden soll; und desto größer ist zweitens sein Risiko, eine Fehlentscheidung zu treffen, die er dann zu verantworten hat“ (Schimank 2005, S. 173). Gerade in sozioökonomischen Umbruchphasen mit neuen globalen Herausforderungen werden Unsicherheitszonen systematisch erzeugt, die für die Politik zu einer wachsenden ‚Qual der Wahl‘ führen. Wissenschaftliche Beratung beschränkt sich dabei nicht nur auf die anerkannten Wissenschaftsinstitutionen wie Universitäten und Forschungsinstitute, sondern wird immer mehr auch von Unternehmensberatungen und Think Tanks, aber auch verschiedenen Stiftungen angeboten. Der Übergang von wissenschaftlich seriösen Anbietern zu Lobbyingagenturen ist dabei fließend. Manche Politikbeobachter bezeichnen den Lobbyismus inzwischen als „fünfte Gewalt“ (Leif & Speth 2006), Publikationen mit reißerischen Titeln wie bspw. Der gekaufte Staat (Adamek & Otto 2008) werden in den Medien breit diskutiert. In letzter Zeit wurden insbesondere millionenschwere Großaufträge für Beratungsunternehmen bspw. aus dem Bundesverteidigungsministerium problematisiert, die auch vom Bundesrechnungshof gerügt wurden. Im Spiegel-Bericht zur „Berater-Republik“ (Becker et al. 2019) werden die Beraterverträge der staatlichen Institutionen allein im Jahr 2017 auf fast drei Milliarden Euro geschätzt. Nicht umsonst spricht deshalb Resch (2005) von einem „Berater-Kapitalismus“, der zu einer Entpolitisierung der Politik geführt habe, in dem die Berater nicht mehr wie früher auf der „Hinterbühne“ agierten, sondern zu Akteuren auf der „Vorderbühne“ würden. Dieser Trend zeige sich ausgeprägt in der „Berliner Republik“, während er in den USA oder auch auf EU-Ebene schon seit Längerem bestehe. Dort betrieben Akteure wie Rechtsanwaltskanzleien, Unternehmensberatungen und Agenturen für Public Affairs explizit Politikberatung und stellten sich zunehmend auch international auf, was nun auch in Berlin zu beobachten sei. In manchen dieser Agenturen oder Rechtsanwaltskanzleien wirkten ehemalige Politiker als „Türöffner“ mit. Zudem gehörte zum neuen Lobbyismus, dass „Großkorporationen und transnationale Konzerne die Vertretung ihrer Interessen immer mehr in die eigene Hand nehmen und sich nicht mehr allein durch Verbände repräsentieren lassen“ (Lösche 2007, S. 64; Heinze 2009; Wagschal 2019). Insofern haben wir es mit einer neuen Unübersichtlichkeit der Politikberatung zu tun. Der Hinweis auf die Intransparenz ist unbestreitbar und hieran hat auch die offizielle
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„Lobbyliste“ des Deutschen Bundestages nichts geändert, die an sich den Einfluss der Verbände auf die Gesetzgebung transparenter machen wollte. Allerdings sollte nicht geglaubt werden, dass eine größtmögliche Transparenz von Beratungsprozessen einfach zu erreichen sei und zudem automatisch die Qualität bspw. der wissenschaftlichen Beratung so gesichert werden könne: „Die Transparenz des Beratungsprozesses verhindert eher eine wirkliche Beratung und die Abwägung von inhaltlichen Alternativen, da diese immer sofort machtpolitisch oder öffentlichkeitswirksam ausgenutzt würden. Wichtig ist zudem, dass man zumindest versucht, sich in die Logik der Entscheidungsträger und ihrer Zwänge einzudenken, um keine Vorschläge zu entwickeln, die völlig irrelevant, weil nicht durchsetzbar oder unfinanzierbar sind. Sinnvoll ist es, solche politischen Handlungsrestriktionen in Gutachten offen zu benennen, damit keine Missverständnisse entstehen. Zu guter Letzt ist es wichtig, Vorschläge so zu formulieren, dass sie verstanden werden und auch Nichtfachleuten in kurzer Zeit erklärbar sind. Dies erfordert eine gewisse Kürze und zwingt mitunter zur Vereinfachung, aber Entscheidungen werden in der Regel unter Reduzierung von Komplexität gefällt oder sie werden gar nicht gefällt.“ (Bogumil 2017, S. 442)
Insgesamt ist es zu einem Wandel des Politischen gekommen; traditionelle Abgrenzungen verschwimmen, externe Experten – seien es wissenschaftliche Berater oder Verbandsvertreter – bekommen scheinbar immer stärker Einfluss auf Politik und Verwaltung. Zugleich wird das Politikmanagement durch die Informationsüberflutung immer komplexer und es breiten sich Informalisierungsprozesse aus: „Alternative Entscheidungsstrukturen sind in der unmittelbaren Nähe der Spitzenakteure durch Personen mit Maklermacht geschaffen worden. Eine Akzentverlagerung von den formalisierten in die informalisierten Strukturen lässt sich feststellen. Die Fähigkeiten der Spitzenakteure im Umgang mit diesem Mixausformalisierten und informalisierten Informationswegen sind für die Machtsicherung elementar und demokratietheoretisch zwingend.“ (Korte 2019, S. 141)
Der schleichende Kompetenzverlust des Staates ist zwar kein neues Phänomen, allerdings haben sich in den letzten 25 Jahren eine Vielzahl von nebenparlamentarischen Gremien und Expertenkommissionen ausgebreitet, die über die traditionelle korporatistischen Verflechtungen hinausgehen, sodass die Etikettierung „Berliner Räterepublik“ (Heinze 2002) schon vor einiger Zeit die Runde machte. Manche politikwissenschaftlichen Beobachter sprechen schon von einer „Kommissionitis“: „Es handelt sich um einen Modus der Konsensformation in regierungsfreundlichen Gipfel- und Expertenrunden. Der Ansatz entwickelte sich zum neuen Standard außerparlamentarischer Konsensmobilisierung“ (Czada 2019, S. 405). Früher verstand man unter Politikberatung das „Einflüstern in die Ohren der Mächtigen durch Höflinge, Einzelberater, Hofnarren und Stabsmitarbeiter“ (Falk et al. 2006, S. 13), in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (in Deutschland vor allem seit Ende der 1960er-Jahre) ging es primär um die institutionalisierte Aufbereitung wissenschaft395
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licher Informationen an Regierungen und Parlamente (sei es durch Sachverständigenräte, Kommissionen, wissenschaftliche Beiräte, Gutachten). In den 1980er-Jahren wurde dann die wissenschaftliche Politikberatung erweitert und pluralisiert. In diesem Kontext hat der Verfasser auch den damaligen Minister für Stadtentwicklung, Wohnen und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen (NRW), Christoph Zöpel, sowie weitere Mitarbeiter des Ministeriums kennengelernt. Dort wurde damals u. a. die Veranstaltungs- und Publikationsreihe Forum Zukunft etabliert, in der systematisch verschiedene Zukunftsfragen und die Rolle des Staates bei der Zukunftsgestaltung erörtert wurden. Wissenschaftliche Experten, Politiker und Verwaltungsangehörige kamen zusammen und diskutierten nicht nur Fachwissen (wie es zumeist die klassische Politikberatung tat), sondern es ging um eine plurale Strukturierung der Wissensbestände in zentralen Zukunftsfragen und die Vermittlung von Orientierungswissen, oft sogar von strategischen Zukunftsvisionen. Primär war dabei nicht das Aufzeigen des ‚wahren‘ Weges als vielmehr eine fachliche Unterstützung von Politik und Verwaltung bei zentralen zukunftsgerichteten Entscheidungen einerseits (etwa wie der Umbruch einer altindustriellen Region oder die Neuorganisation von Zeit bewerkstelligt werden kann) sowie bei der Abschätzung ihrer jeweiligen politisch-sozialen Folgen andererseits. Dies war (und ist) in der Geschichte der wissenschaftlichen Politikberatung in Deutschland nicht immer so. Früher dominierten hierarchisch aufgebaute Politikberatungsmodelle, die jeweils von strikten Rollenteilungen zwischen wissenschaftlichem Sachverstand und Politik ausgingen, und denen im Kern eine politische Willens- und Meinungsbildung durch dialogischen Austausch zwischen beiden fremd war. Erinnert sei an das „technokratische“ Beratungskonzept, das Politiker lediglich als passive Anwender von wissenschaftlich abgeleitetem Expertenwissen definierte. In diesem Modell gibt es nur einen wissenschaftlich begründeten „best way“, d. h., Politik unterwirft sich kritiklos der Herrschaft der Logik von (scheinbar) wissenschaftlich bestätigten Sachzwängen. Wissenschaftlicher Sachverstand gilt im Grundsatz als unfehlbar, Politik wird auf die alleinige Funktion der Umsetzung reduziert. Ein solches Vorgehen fand (und findet) man häufig bei naturwissenschaftlichen Themen. Genau entgegengesetzt dazu ist die Rollenteilung im dezisionistischen Modell der Politikberatung. Hier hat ausschließlich die Politik das Sagen; schon bei der Zielformulierung und nicht selten sogar bei den (politisch vorgegeben) Empfehlungen, denen sich der Wissenschaftler zu ‚unterwerfen‘ hat. Solche Beratungsmodelle sind auch heute noch typisch für politische ‚Gefälligkeitsgutachten‘ und dürften insbesondere in der kommerziellen Beratungslandschaft anzutreffen sein. Gleichsam als Gegenkonzept zu den beiden zuerst genannten Beratungsmodellen kann das ursprünglich von Jürgen Habermas und Gerhard Weisser Ende der 1960er-Jahre entwickelte pragmatische Politikberatungskonzept gelten, das sich als demokratisch legitimierter Prozess verstand, der auf ein kritisches, dialogisches Austausch- und Wechselverhältnis von Wissenschaft und Politik zielt. In gewisser Nähe dazu ist auch das in der wissenschaftlichen Beratungsliteratur präferierte „dialogorientierte“, „reflexive“ Beratungsmodell angesiedelt (Heinze 2009). Hier ist die klassische Rollentrennung etwa zwischen Experten und Laien so nicht mehr vorhanden, und auch das klassische Verhältnis zwischen Öffent-
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lichkeit, Wissenschaft und Politik löst sich tendenziell auf: „Das starre Dreieck zwischen Wissenschaft, Politik und Experten zerfließt, Rollen werden gewechselt, im Fokus stehen nunmehr Interaktionen und Schnittflächen, aus denen sich variable Beratungsöffentlichkeiten ergeben“ (Leggewie 2007, S. 8; Novy et al. 2008). Konsensgenerierende Expertenrunden Christoph Zöpel kannte die Grenzen klassischer wissenschaftlicher Politikberatung und installierte neue, dialogorientierte Formen der Beratung, die insbesondere zukunftsorientierte Politikentwürfe präferierten und strategische Visionen diskutieren sollten. In seiner Zeit als Minister wurde bereits die Ressortforschung zu Zukunftsthemen wie Technikentwicklung, Bildungsperspektiven oder die Zukunft der Städte intensiviert und es wurden verschiedene gemischt besetzte Diskussionsrunden und Beratungsgremien zwischen Wissenschaft und Politik installiert. Daraus sind auch verschiedene Publikationen hervorgegangen, in denen diese Diskussionen transparent und einer breiteren Öffentlichkeit publik gemacht wurden (Ganser et al. 1991; Hesse et al. 1988; Hesse et al. 1989). Mit diesen offenen Beratungsformen gehörte Christoph Zöpel zu den Vorreitern einer Governance-Strategie des modernen Regierens, die explizit auf den institutionellen Einbezug nicht-staatlicher Akteure wie bspw. Wissenschaftler setzte. Diese ‚kooperative‘ Regierungsstrategie wurde später auch auf Bundesebene implementiert und kann gut am Bündnis für Arbeit exemplifiziert werden. Über den Funktionswandel vom hierarchischen zum moderierenden „Verhandlungsstaat“ sollten neue Ressourcen und Problemlösungspotenziale erschlossen werden (Heinze 2002). Die Formen der Beratungs- und Verhandlungsprozesse wurden dafür weiter ausdifferenziert: Neben dem schon als klassisch zu bezeichnenden Sachverständigenmodell, wie es etwa in der Wirtschafts- und Gesundheitspolitik seit Jahrzehnten favorisiert wird und dem Beiratsmodell (das ebenfalls in vielen Ministerien und Behörden seit längerer Zeit besteht) treten neue, zeitlich befristete Bündnismodelle mit wissenschaftlicher Beratungskapazität oder auch Expertenkommissionen. Nachdem sich das Bündnis für Arbeit als schwer zu steuerndes Unterfangen erwies und aus Sicht der Regierung – jedenfalls nicht kurzfristig – nicht hilfreich für die Regierungspolitik war, wurden plural zusammengesetzte Kommissionen als ein Ausweg aus unaufgelösten Politikblockaden inszeniert (etwa die „Hartz“- oder „Rürup“-Kommission), aber auch vermehrt Enquete-Kommissionen, die vom Deutschen Bundestag oder auch Landtagen einberufen werden (Siefken 2006). Die in Expertenkommissionen oder ähnliche Formen der Konsensbildung gesetzten Hoffnungen auf strategische Politiksteuerung haben sich aus heutiger Sicht nur teilweise erfüllt (Czada 2019), was für die Regierungspolitik jedoch nicht bedeutet, sich deshalb von diesen Beratungsformaten ganz zu verabschieden. Sie sind aber kein Hoffnungsträger mehr für grundlegende politische Erneuerungen. Dies gilt auch für die vielfältig inszenierten „Runden Tische“ auf den verschiedenen Ebenen des politischen Systems und in ausgewählten Politikfragen, in denen neben der Politik und Verwaltung die zentralen gesellschaftlichen Interessenorganisationen sowie wissenschaftliche Experten sitzen. Die liberalisierte Wett397
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bewerbsgesellschaft hat nicht nur klassische politische Lager und ‚sozialpartnerschaftliche‘ Integrationsmuster der bundesdeutschen Konsensgesellschaft aufgelöst, sondern auch das Verhältnis zwischen Politik und Wissenschaft neu austariert. Alle westlichen Demokratien sind in den vergangenen Jahren politisch-institutionell komplexer geworden und insbesondere die traditionellen Wege der Politikproduktion durch Parteien, Verbände und parlamentarische Gremien haben an Bedeutung verloren. Diese institutionellen Steuerungsverluste haben Beratungs- und Informalisierungsprozessen sicherlich Auftrieb gegeben und insgesamt das Politikmanagement verkompliziert: „Die institutionelle Struktur bleibt nicht erhalten, Demokratie wandelt sich auch nicht vorrangig zur Fassade einer Postdemokratie, vielmehr greifen institutionelle Reformen und Veränderungen im Vermittlungssystem so ineinander, dass eine Dezentrierung der Demokratie stattfindet. Statt der Konzentration der politischen Vorgänge auf Ministerialbürokratie, Parlament, Parteien und Verbände, die in enger Abstimmung das politische Geschäft unter sich ausmachen – und das bei enger Anbindung der Bürger über Mitgliedschaftsbeziehungen, Ideologie und Parteiidentifikation an diese Kernakteure, findet sich heute eine fragmentiertere politische Landschaft: Es gibt mehr Arenen der Auseinandersetzung und die Akteure sind miteinander weniger verbunden.“ (Nullmeier 2013, S. 39)
In diesem Transformationsprozess moderner Demokratien dürfte sich der Einfluss der wissenschaftlichen Politikberatung insgesamt erhöht haben, allerdings zeigt sich im Wunsch vieler Politiker nach wissenschaftlicher Politikberatung oft ein sozialtechnologisches Leitbild: „Politiker stellen sich die Gesellschaft gerne als Maschine mit Stellschrauben vor: Man dreht an der richtigen Schraube, und die Welt funktioniert nach Wunsch. Aufgabe der Wissenschaft soll es sein, die Stellschrauben lesbar zu beschriften“ (Streeck 2010, S. 13; Frohn 2017; Gabriel 2017; Hombach 2017). Dennoch sind die Erfahrungen mit evidenzbasierter Politikberatung seitens der politischen Akteure nicht durchgängig negativ zu bewerten. Trotz gewisser Sprachprobleme und unterschiedlicher Argumentationslogiken gibt es aus Sicht der politisch Handelnden erfolgreich arbeitende Kommissionen; so wird etwa die „Rürup-Kommission“ von Insidern des Regierungsapparates (bspw. einem Staatssekretär) als „sehr erfolgreich“ bewertet: „Sie hat das Problembewusstsein in der Öffentlichkeit geschärft, das Agenda-Setting maßgeblich beeinflusst und eine solide Basis für die Berechnung der Finanzierungsgrundlagen der Sozialversicherungen erarbeitet. Sie hat die reformpolitische Diskussion klar strukturiert und Vorschläge erarbeitet, von denen viele später in den Gesetzgebungsprozess eingeflossen sind und noch einfließen werden.“ (Tiemann 2005, S. 279)
In diesen Worten spiegelt sich ziemlich genau, was Spitzenpolitiker bzw. Spitzenbeamte von einer wissenschaftlichen Politikberatung erwarten. Sie muss die komplexen Problemlagen definieren und ‚vermessen‘ und somit für den öffentlichen Diskurs klar strukturieren sowie zudem Handlungsmöglichkeiten ausloten, die dann im politischen Raum weiterbearbeitet werden können. Insofern wird über wissenschaftliche Beratung auch Agendasetting betrieben und wissenschaftliche Erkenntnisse dienen auch der Beeinflussung der medialen
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Landschaft: „Dabei verläuft die Grenze zwischen der Informierung der Öffentlichkeit, der aufklärenden Darstellung und Erklärung komplexer Sachverhalte einerseits und andererseits der Funktion für die Politik als Minenhund und Überbringer schlechter Nachrichten zu fungieren, fließend“ (Schmid 2011, S. 132). Wenn auch wissenschaftliche Politikberatung keine eindeutigen Prognosen liefern kann, so kann sie dennoch das Wissen der Politik und der öffentlichen Verwaltungen erweitern. Kritisch anzumerken bleibt, dass sich allerdings gerade das neu entstandene Beratungsgeschäft (dem es nicht primär um Wissensbeschaffung oder die Beobachtung und Analyse von langfristigen Trends geht, wie es in der evidenzbasierten Politikberatung angestrebt wird) durch Intransparenzen auszeichnet und (oft bewusst) Grenzen zur wissenschaftlich fundierten Beratung verwischt werden. Wissenschaftliche Politikberatung im engeren Sinne ist deshalb davon abzugrenzen; sie muss durch Qualität und Offenlegung der Methoden der Wissensbeschaffung überzeugen, wenngleich auch hier in den letzten Jahren parallel mit dem Trend zur Verwissenschaftlichung der Politik eine Politisierung der Wissenschaft verbunden ist. Besser wäre es deshalb, den Habitus eines auf die Begrenztheit von Wissen hinweisenden Wissenschaftlers zu kultivieren, wie es im pragmatischen Politikberatungsmodell auch geschieht. Dann wäre wissenschaftliche Politikberatung auch besser gewappnet gegenüber einer Vereinnahmung und Instrumentalisierung durch politische Entscheidungsträger, die wissenschaftliche Expertise in gewissen Situationen („Zeitfenstern“) aus Gründen der Legitimation benutzen. Trotz der vielfältigen Expansion der wissenschaftlichen und gewerblichen Politikberatung ist zudem vor allzu großem Optimismus hinsichtlich der realen Steuerung politischer Prozesse zu warnen. Wissenschaftliche Expertise spielt zwar gerade aus Sicht vieler Wissenschaftler im politischen Entscheidungsprozess seit Jahren eine bedeutsame Rolle, dennoch sollten Wissenschaftler realistischerweise eine abgeklärte Haltung einnehmen und nicht glauben, dass wissenschaftliche Politikberatung immer ‚Licht ins Dunkel bringen‘ kann: „Einerseits werden in der sich verkomplizierenden Gemengelage wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklungen auch wissenschaftliche Analysen und Aussagen über kausale Wirkungszusammenhänge immer schwieriger (so es diese überhaupt gibt). Andererseits kann nicht davon ausgegangen werden, dass die von Seiten der Wissenschaft formulierten Empfehlungen tatsächlich Entscheidungen der Politik beeinflussen. Zwar wird die scheinbare Objektivität wissenschaftlicher Expertise von Politikern gern zur äußeren Legitimation verwendet; unklar bleibt in der ‚blackbox‘ der tatsächlichen Entscheidungsfindung jedoch oft, ob die von der Wissenschaft präsentierte Faktenlage hier Eingang fand oder ob z. B. allein der Umstand, zu einem Themengebiet ein Gutachten in Auftrag gegeben zu haben, als Legitimation genügt.“ (Beckmann et al. 2017, S. 22)
Sozialwissenschaftliche Beratung muss die komplexe Eigenlogik der Politikproduktion sowie die unterschiedlichen Handlungsrationalitäten der Akteure im Blick haben. Aussagen zur Reichweite von wissenschaftlicher Politikberatung müssen deshalb wissens- und organisationssoziologisch fundiert werden – zumal in vielen Politikberatungsmodellen ein relativ naiver Begriff des Wissens und der Rationalität von Organisationsstrukturen unter399
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stellt wird. Dies würde dann ein weitaus komplexeres Bild der Politikberatung ergeben und könnte auch die Diskrepanzen zwischen den Selbstbeschreibungen der politischen Akteure und den realen Ungereimtheiten und ‚Rationalitätslücken‘ in den politischen Organisationen erklären. Generell ist nicht davon auszugehen, dass sich noch so gut begründete wissenschaftliche Beratungsergebnisse deckungsgleich in politischen Entscheidungsprozessen abbilden. Insofern ist das Rationalitätspotenzial wissenschaftlicher Politikberatung systematisch begrenzt und auch durch Leitlinien und ethische Appelle nicht grundsätzlich auszuräumen (Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften 2008). Gerade in Umbruchzeiten müssen sich politische Organisationen und auch Politiker mit strategischen Neuorientierungsfragen beschäftigen und da der ‚Politikberatungsmarkt‘ unübersichtlich geworden ist, versuchen manche politischen Akteure, vertrauliche und diskursartig organisierte Beratungsrunden zwischen Politikern und wissenschaftlichen Experten aufzubauen, die Orientierungswissen produzieren und auch Leitbildveränderungen mit unterstützen können. Gemeinsam ist den Beratungsformen durch Dialoge oder Diskurse, dass sie jenseits des ‚normalen‘ politischen Regierens angesiedelt sind. Sie reichen von regelmäßigen Zusammenkünften zwischen Politikern und Wissenschaftlern, bei denen einzelne Themen in vertraulicher Atmosphäre behandelt werden, über Diskussionsrunden in Stiftungen oder Akademien bis hin zu vertraulichen Gesprächen zwischen Führungskräften aus der Ministerialverwaltung oder anderen politischen Organisationen mit ausgewählten Experten. Beratung durch Dialog tritt als Format nicht primär bei Detailentscheidungen in einzelnen Politikfeldern auf, sondern fokussiert sich auf grundlegende Richtungsentscheidungen bzw. einen Wandel von Leitbildern und ist von daher eher in politischen Umbruchphasen zu beobachten, wenn sich ein Fenster für strategische Weichenstellungen öffnet und Orientierungswissen (auch im internationalen Vergleich) gefragt ist. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass sich Vertraulichkeit und Transparenz in der wissenschaftlichen Politikberatung nur selten in Einklang bringen lassen: „Beratung, die helfen soll, die Qualität politischer Entscheidungen zu verbessern und wissenschaftliches Wissen politisch nutzbar zu machen, muss nichtöffentlich und am besten geheim stattfinden. Der Berater darf nicht sagen, wen er berät und worüber; verlangt wird vollständige Abwesenheit von Eitelkeit und Geldgier. Der Beratene seinerseits darf niemanden wissen lassen, wer ihn berät oder beraten hat, selbst wenn ihm dies helfen würde, seinen Entscheidungen und sich selber Legitimität zu verschaffen. Wirksame Beratung kann nur, wie Journalisten sagen, ‚unter drei‘ stattfinden: schon dass sie überhaupt stattfindet, muss vertraulich bleiben. In der politischen Praxis ist das nur schwer realisierbar; irgendjemand petzt (fast) immer, aus Geltungssucht oder zwecks Sabotage.“ (Streeck 2017, S. 503)
Eigenlogiken und Ausdifferenzierungen als Hemmnisse für wissenschaftliche Politikberatung Die zentralen Leitbilder auch der wissenschaftlichen Politikberatung leiden oft darunter, dass sie die institutionellen Eigensinnigkeiten des „Policy-Making-Systems“ nicht hinreichend erkennen. Dies gilt generell für die (ohnehin ‚überholten‘) dezisionistischen und
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technokratischen Politikberatungsmodelle. Aber auch die pragmatischen Modelle mit einem höheren Realitätsgehalt lassen oft das Gespür für die institutionellen Feinheiten des politisch-administrativen Systems vermissen: „Kompetente wissenschaftliche Politikberatung erfordert nun aber einmal detaillierte institutionelle Kenntnisse. Institutionelle Kenntnisse ohne eine gute theoretische und empirische Ausbildung sind für die wissenschaftliche Beratung (jedoch) wertlos. Aber ebenso sind die besten Referenzen auf den Gebieten der Theorie und quantitativen Wirtschaftsforschung kein Ersatz für fehlende Kenntnisse über zum Beispiel das geltende Recht oder die Institutionen und Funktionsabläufe in der Altersvorsorge oder im Gesundheitswesen.“ (Rürup 2009, S. 9)
Hinzukommen sollten Kenntnisse über die Verlaufsmuster von politischen Entscheidungen. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass Politikentscheidungen oftmals ganz anders ablaufen, als dies klassische Theorien meinen – etwa die „Garbage Can Theory“ von Cohen et al. (1972), die auf die Komplexität, Störanfälligkeit und auch Zufälligkeit politischer Entscheidungsprozesse verweist, oder die organisationssoziologischen Überlegungen von Weick (1995), der die in Organisationen inhärente „Unordnung“ und „Unvorhersehbarkeit“ betont. Und auch der „Multiple-Streams-Ansatz“ geht davon aus, dass es keine systematische Verknüpfung zwischen einem Problem (etwa aus der Demografie dem Pflegeproblem) und einer bestimmten politischen Entscheidung (etwa dem Pflegegesetz) geben muss. Politik ist deshalb weitaus weniger rational programmiert und liefert auch nicht unbedingt problemlösende Entscheidungen. Es sind verschiedene ‚Ströme‘ (multiple streams) zu unterscheiden, wobei diese relativ autonom agieren und ihre eigene Dynamik und Antriebskräfte haben (Kingdon 2003; Rüb 2009). Folgende zentrale Ströme sind zu unterscheiden: • der Problemstrom mit speziellen focussing events (etwa der Klimawandel, Zuwanderungsströme oder der demografische Wandel); • der Policystrom (oder Optionsstrom), in dem Ideen getestet und mit Interessenorganisationen und Experten diskutiert werden; • der Politics-Strom (political stream), bei dem der „Zeitgeist“ hinzukommt, mediale Aufbereitung, „Erregungskulturen“, Bargainingprozesse zwischen den organisierten Interessen. Insgesamt ergibt sich das Bild einer tendenziell überforderten Politik, die von verschiedenen Ereignissen getrieben wird und nicht rational und möglichst autonom Probleme löst. Zufälligkeiten (etwa der richtige Zeitpunkt: die windows of opportunity oder bestimmte politische Entrepreneure) spielen in politischen Entscheidungsprozessen eine große Rolle: „Entscheidend ist nicht die sachliche Erfordernis der Problemlösung, sondern der Kontext des Entscheidungsprozesses, also welche und wie viele Entscheidungsgelegenheiten sich bieten, mit welchen Problemen es die Organisation gerade zu tun hat, welche Lösungen sich gerade anbieten, wie die Teilnehmer ihre Aufmerksamkeit und ihre Zeit auf verschiedene 401
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Entscheidungen verteilen und wie viel Zeit zur Verfügung steht. Die Koppelung der Elemente des Entscheidungsprozesses kann damit eher als zufälliges Zusammenfließen relativ unabhängiger Ströme beschrieben werden.“ (Schmid 2011, S. 329)
Vor diesem Hintergrund wird jede Form von Politikberatung ein schwieriges Unterfangen und neben den systematischen Unübersichtlichkeiten muss anerkannt werden, dass der meiste Rat, den Politiker bekommen, unwissenschaftlich ist und viele Politiker ihre Politik nicht unbeträchtlich ‚aus dem Bauch‘ heraus strukturieren (Bogumil 2017). Diese strategischen Defizite werden auch über die klassischen Wege der Bereitstellung von politisch relevanten Informationen nicht aufgehoben, vielmehr werden die Politiker durch eine Vielzahl von Publikationen eher ‚überflutet‘. Schon von daher kann die Beratung der Politiker durch wissenschaftliche Expertise auch als ‚rettender Strohhalm‘ verstanden werden, um die komplexen Aufgaben annäherungsweise zu bewältigen. Vor diesem Hintergrund wird aber auch deutlich, wie groß die ‚Einfallschneise‘ für alle Formen darüber hinausgehender Beratung ist. Dies impliziert auch eine neue Verortung für die wissenschaftliche Beraterszene: „Beratung durch Wissenschaft [darf] eben nicht nur im Elfenbeinturm verhaftet bleiben, sondern sie muss die Zwänge des praktischen Politikbetriebs mit ins Kalkül einbeziehen, da ansonsten aus runden Tischen mit Experten schnell lange Bänke zu werden drohen, auf die Entscheidungen in Unsicherheitszonen gerne vertagt werden.“ (Beckmann et al. 2017, S. 24)
Hat man diese Handlungskontingenzen vor Augen, dann sind positive (weil evidenzbasierte) Resultate der wissenschaftlichen Politikberatung in der Regierungspolitik eher eine Ausnahme als die Regel. Sie können zumeist nur gelingen, wenn ein window of opportunity zur Verfügung steht und die Entscheidungen von den verantwortlichen Akteuren klug vorbereitet und umgesetzt wurden. Wenngleich sich die Dynamiken und Restriktionen für politische Steuerung in den letzten Jahren durch die Globalisierungs- und Digitalisierungsprozesse intensiviert haben, sind sie nicht neu, sondern haben wissenschaftlich interessierte und an Zukunftshemen orientierte Politiker wie etwa Christoph Zöpel schon vor gut 30 Jahren beschäftigt. Eine allerdings nur von wenigen Politikern genutzte Antwort auf die schon damals sich klar abzeichnenden Herausforderungen und die Optionen für eine politische Gesellschaftssteuerung war der Dialog mit wissenschaftlichen Experten in ausgewählten Politikfeldern, was von dem von Christoph Zöpel geführten NRW-Ministerium aktiv organsiert wurde. In diesem Kontext begegneten sich auch der Verfasser dieses Beitrages zusammen mit Claus Offe (damals Professor für Soziologie und Politikwissenschaft an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld). Wir hatten 1986 einen viel beachteten Beitrag zur Zukunft der Arbeitsgesellschaft in der Zeitschrift Eviathan publiziert (Offe & Heinze 1986), der die Diskurse um die „Krise der Arbeitsgesellschaft“ nicht nur soziologisch aufbereitete, sondern auch ein Modell zur möglichen Krisenlösung präsentierte: organsierte Eigenarbeit oder „Das Modell Kooperationsring“. Zunächst wurden diese strategischen Visionen beim Zukunftsforum 1987 diskutiert, dann in einem Sammelband von Hesse und Zöpel veröffentlicht
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(Heinze & Offe 1987). Anschließend wurde ein Projekt zur organisierten Eigenarbeit von den beiden wissenschaftlichen Autoren für das Ministerium durchgeführt. Im Folgenden sollen einige Grundgedanken der damaligen Debatte zur Zukunft der Arbeit und einer Neuorganisation der Zeit präsentiert werden, die noch heute politisch ungelöst sind, und dann geschaut werden, warum diese strategischen Visionen nicht bzw. nur inselartig umgesetzt wurden. Ein Beispiel für strategische Zukunftsgestaltung: Kooperationsringe und informelle Wohlfahrtsproduktion als Auswege aus der Krise der Arbeitsgesellschaft In dem erwähnten Aufsatz hatten wir argumentiert, „dass krisenhafte Entwicklungen von Arbeitsmarkt und Beschäftigung sowie Engpässe und Versorgungslücken des Wohlfahrtstaates einen strukturellen Bedarf an der Erschließung neuer Quellen der Wohlfahrtsproduktion erzeugen; dass dieser Bedarf durch ‚spontane‘ Strukturbildungen und kompensatorische Arrangements nur in höchst unzulänglichem Maße gedeckt wird; und dass schließlich auch im Lichte der ordnungstheoretischen Analyse ein schlichtes Umsteuern der lückenhaft werdenden Markt- und Staatsversorgung auf vermehrte haushaltliche Selbstversorgung sich als eine Lösung darstellt, die mit gravierenden Einbußen an Freiheit und Gleichheit – letztere immer auch im temporalen Sinne, als Stabilität und Verlässlichkeit, verstanden – einhergeht.“ (Offe & Heinze 2018 [1986], S. 204)
Als Ausweg aus diesen bis heute bestehenden Versorgungslücken und dem theoretischen und praktischen Interesse an einem Neuzuschnitt des Verteilungsmusters zwischen formeller Erwerbsarbeit und informeller, d. h. nicht durch Marktmechanismen zugewiesener und entgoltener Tätigkeit haben wir ein institutionelles Sozialmodell entwickelt, das als Kooperationsring bezeichnet wurde. Die überhaushaltliche Kollektivierung von Selbstversorgungseinrichtungen soll dabei weder gemeinschaftlich noch administrativ, sondern marktförmig organisiert werden, „allerdings mit den beiden Besonderheiten, dass (a) der Leistungsaustausch nicht über das allgemeine Medium des Geldes, sondern über Leistungsgutscheine als eine Parallelwährung läuft, welche nur im Kreis der Teilnehmer und nur für den Zweck des Leistungsverkehrs zwischen einer lokal abgegrenzten Zahl von Haushalten Geltung haben, und dass (b) das Zustandekommen und der Bestand eines derartigen, durch eine nicht-konvertible Eigenwährung ausgegrenzten Marktes öffentlich subventioniert wird, und zwar ebenfalls nicht monetär, sondern durch die Bereitstellung von Räumen, Geräten, Sachleistungen und Humankapital. Dies hätte den Vorteil, derartige überhaushaltliche Arrangements von der Voraussetzung begrenzt wirksamer und immer anfälliger Solidaritäts- und Reziprozitätsbeziehungen abzukoppeln, aber andererseits auch den Ausweg einer schematisierenden und standardisierenden Kollektivversorgung mit ihren qualitativen Mängeln zu vermeiden.“ (Offe & Heinze 2018, S. 208)
Bei den Tauschringen ging es also nicht um den Versuch des Entwurfs einer ganz und gar anderen Wirtschaftsordnung, sondern vielmehr um begrenzte Ergänzungen und 403
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Kompensationsmechanismen, die deutlich im Rahmen der reformpolitischen Spielräume liegen, die der staatlichen Politik zur Verfügung stehen. Bislang sind unter den sozial- und wirtschaftsstrukturellen Bedingungen, wie sie in der Bundesrepublik und anderen vergleichbaren Ländern vorliegen, die Möglichkeiten einer ‚produktiven‘ Zeitnutzung am Geldmedium vorbei stark eingeschränkt, wenn sie auch nicht völlig fehlen. Diese Beschränkungen führen einerseits zu der ökonomisch irrationalen, zumindest suboptimalen Brachlegung von Faktoren gesellschaftlicher Wohlfahrt und mithin zu einem geringeren Versorgungsniveau. Sie führen andererseits zu dem unter politisch-moralischen Gesichtspunkten kaum akzeptablen Befund, dass gerade diejenigen Bevölkerungsgruppen, bei denen ungenutzte, Zeitressourcen verfügbar sind und die aufgrund ihrer allgemeinen Versorgungslage am dringlichsten darauf angewiesen wären, diese verfügbare Zeit auch in ‚Gebrauchswerte‘ umzusetzen, dazu am wenigsten in der Lage sind (z. B. Arbeitslose). Ein funktionsfähiges Institutionensystem der nicht-monetären gesellschaftlichen Zeitnutzung könnte deshalb neben den Vorschlägen zur monetären Umverteilung von Einkommen eine Perspektive auf eine gerechtere Verteilungsstruktur der Lebenschancen eröffnen. Solche sozialökonomischen Institutionen würden als neue ‚soziale Technologien‘ durch die Einsparung von Umwandlungsschritten und durch neue Weisen der Verwertung verfügbarer Ressourcen die Nutzung brachliegender Tätigkeitspotenziale und damit die qualitative und quantitative Verbesserung von Versorgungslagen erlauben, und zwar außerhalb der fiskalischen Ebene einerseits und oberhalb der Ebene des engen haushaltlichen bzw. familialen Leistungsaustausches andererseits. Zur Lösung dieses gesellschaftspolitischen Problems ist es also erforderlich, Institutionen zu erfinden und zu inszenieren, welche eine gewisse Vergesellschaftung über das Zeitmedium erlauben. Zeit müsste wie Geld behandelt, ohne dennoch gegen Geld gehandelt zu werden. Die ‚lokale‘ Logik der Zeit müsste quasi großräumig und flächendeckend zur Geltung gebracht werden. Die Lösung für dieses Problem, die seit dem frühen 19. Jahrhundert immer wieder vorgeschlagen und in vielen, oft utopisch und naiv anmutenden praktischen Versuchen erprobt worden ist, besteht in der Einführung einer Zeitwährung oder eines ‚Stundengeldes‘, das allein in ihrem zeitlichen Aufwand gemessene Leistungen miteinander austauschbar und so die Zeit zirkulationsfähig machen sollte. Auf diese Weise könnte es möglich werden, Leistungen zwar nicht zu ihrem marktbestimmten Geldwert, aber doch zwischen einander ‚fremden‘ Personen, zwischen verschiedenen sachlichen Kategorien von Waren und zwischen verschiedenen Zeitpunkten zu übertragen. Wir haben deshalb das Modell „Kooperationsring“ als einen Innovationsvorschlag konzipiert (Offe & Heinze 1990, S. 86ff.; Heinze et al. 1988, S. 221ff.; Heinze & Offe 1990). Es hat sicherlich nicht den Charme großer gesellschaftstheoretischer Entwürfe, allerdings kann man sich bei dieser sozialen Innovation auf die Überzeugungskraft kleiner Schritte verlassen, die von verschiedenen Wertpositionen aus unterstützt oder zumindest toleriert und in einem graduellen Reformprozess realisiert werden könnten. Das Modell „Kooperationsring“ kann auch noch unterwegs zum angestrebten Ziel revidiert und umgesteuert werden und sollte deshalb im Rahmen der Diskussion um eine experimentelle Politik auf lokaler Ebene eine größere Rolle spielen. Aus heutiger Sicht erscheint es als pragmatischer
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Versuch jenseits nostalgischer Rückblicke auf ‚heile‘ Gemeinschaften oder umfassende sozialstaatliche Planungen. Insofern passt er durchaus in eine heterogene, singularisierte Gesellschaft: „Die spätmoderne Gesellschaft ist keine Gemeinschaft, kein homogenes Kollektiv und wird es auch niemals sein. Sie ist in Lebensstilen pluralisiert, in Klassen stratifiziert und multiethnisch. Die Herausforderung liegt vielmehr in der Konstitution eines gesellschaftlichen Allgemeinen, das sich inmitten der sozialen Unterschiede und kulturellen Heterogenitäten zu behaupten vermag. lm Unterschied zur ‚Gemeinschaft‘ gibt es in der spätmodernen ‚Gesellschaft‘ keine verbindliche und von allen geteilte Lebensform, und die Individuen sind je irreduzibel besonders – trotzdem oder gerade deshalb ist sie auf Regeln und deren Durchsetzung angewiesen und bedarf Anerkennungsformen, welche die Einzelnen in ihrer, ab er auch trotz ihrer Unterschiedlichkeit tragen.“ (Reckwitz 2019, S. 290)
Kooperations- oder Tauschringe dienen dem überhaushaltlichen Austausch von Leistungen und entsprechen den sozialstrukturellen sowie soziokulturellen Verhältnissen, die in städtischen Wohngebieten unterschiedlicher sozialer Zusammensetzung typischerweise angetroffen werden. Damit sind Verhältnisse mit einer gewissen Anonymität und Mobilität, aber auch gemeinsamen Problemen des Haushalts-, Zeit- und Konsummanagements gemeint. Da die Beteiligung an einem Kooperationsring und jede einzelne Transaktion in ihm auf freiwilliger Entscheidung beruht, handelt es sich um moralisch relativ ‚anspruchslose‘ Interaktionsbeziehungen, die unter solchen Bedingungen gerade deswegen als adäquat erscheinen, weil unter stark individualisierten Lebens- und Gesellschaftsverhältnissen mit traditionellen Formen der Gemeinschaftsbildung und Pflichtbindung kaum noch zuverlässig zu rechnen ist. Es ist allerdings nicht zu erwarten, dass sich derartige Tauschringe auf breiter Basis spontan bilden und erhalten, und zwar vor allem in den Bevölkerungsgruppen nicht, wo ein erheblicher wohlfahrtssteigernder und egalitärer Effekt von solchen nichtmonetären haushaltsnahen Tauschsystemen erwartet werden könnte. Daraus folgt, dass Kooperationsringe sich nur als Ergebnis stützender, fördernder politischer Initiativen entwickeln und ausbreiten können – sie müssen inszeniert werden! Als wir dieses Modell Ende der 80er-Jahre konzipierten und auch die Erfahrungen mit Tauschringen im Ausland analysierten, gab es neben den wissenschaftlichen Reaktionen durchaus vereinzelt Interesse bei politischen Akteuren, solch konzeptionelle Vorschläge zur Zukunft der Arbeit einmal experimentell zu überprüfen. Durch die Wiedervereinigung und den damit verbundenen Stress bei allen politischen und gesellschaftlichen Institutionen gerieten solchermaßen alternative Optionen aber aus dem Blickfeld bzw. bildeten sich auf lokaler Ebene nur vereinzelt aus. Die Übernahme der traditionellen Politik-, Verbände- und Verwaltungsstrukturen in den neuen Bundesländern verhinderte eine intensivere Debatte über alternative Muster gesellschaftlicher Entwicklung, die zentral auf Steuerungsleistungen jenseits von Markt und Staat setzen. Sowohl in der alten Bundesrepublik als auch in den neuen Bundesländern, die besonders stark von der Beschäftigungskrise betroffen waren und die sozialen Folgeprobleme und Pathologien des rapiden gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses eindringlich 405
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gespürt haben, haben sich allerdings solche Tauschringe nur begrenzt spontan gebildet. Es gibt zwar in den letzten Jahrzehnten in verschiedenen Kommunen (vorwiegend im städtisch-alternativen Bereich) Vorstöße für die Gründung solcher Tauschsysteme, allerdings demonstriert die bundesrepublikanische Gesellschaft auch in der Erfindung derartig experimenteller sozialer Arrangements, für die es ja genügend historische und internationale Erfahrung gibt, wenig Fantasie. Dies mag auch daran liegen, dass im Zuge des umfassenden Modernisierungsprozesses und der „Kolonialisierung der Lebenswelt“ (Habermas 1981) die soziokulturellen Kompetenzen verlorengegangen sind, die für die Inszenierung von Formen solidarischer Selbsthilfe und des Aufbaus informeller Netze notwendig sind. Der noch immer relativ hohe Lebensstandard für breite Bevölkerungsgruppen und die eingeschliffenen (wenn nicht bereits verkrusteten) politisch-institutionellen Verfahrenswege bei der Bearbeitung gesellschaftlicher Problemlagen tun ihr übriges, um die potenziell vorhandene Kreativität weitgehend lahmzulegen. Eine derartig fragmentierte Gesellschaftsstruktur mag zwar äußerlich durchaus stabil erscheinen, hinter der Fassade verbirgt sich aber ein nicht unbeträchtliches Potenzial individueller und sozialer Sprengkraft. Erst seit Kurzem wird dieser Diskurs auch von Ökonomen und Sozialwissenschaftlern wieder aufgenommen. Collier spricht von einem moralischen Pragmatismus, „der einen politischen Kurswechsel inspirieren konnte: weg von polarisiertem Versagen hin zu kooperativen Bemühungen, die Spaltungen in unseren Gesellschaften zu überwinden“ (2019, S. 291). In den letzten 25 Jahren haben sich auch an verschiedenen Orten in Deutschland, vorwiegend im städtischen Milieu, Tauschringinitiativen gebildet. Zwar ist die Zahl gegenüber den lokalen Tauschsystemen in Großbritannien und auch in Nordamerika noch relativ niedrig (derzeit dürften einige Hundert Tauschringe in Deutschland bestehen), dennoch scheint diese Idee zunehmend auch aktive Befürworter zu finden (zum Stand der aktuellen Debatte: Seidl & Zahrnt 2019). Solange aber nicht eine größer angelegte politische Offensive die Entstehung solch sozialer, gemeinnütziger Netze gezielt fördert, dürften die schon diskutierten sozialstrukturellen und kulturellen Selbstorganisationsdefizite zu groß sein, um eine breite Gründungswelle zu generieren. Bislang entstehen die Tauschringe primär in einem bestimmten soziokulturellen Umfeld und können kaum als alternative Option zur Partizipation am Arbeitsmarkt gedeutet werden. Der auch bereits angesprochene Rückzug vieler Individuen aus kollektiven Zusammenhängen (sei es aus dem Parteiensystem, den Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden und Kirchen sowie Vereinen) erschwert auch das Aufblühen eines umfassenden Systems von Kooperations- und Tauschringen. Die ‚zarte Pflanze‘ der entstandenen Netzwerke muss ‚fleißig gegossen‘, d. h. letztendlich politisch gefördert werden. Ein Dilemma bezüglich der Entgrenzung von Erwerbsarbeit und nichterwerbsbezogenen, gesellschaftlich sinnvollen Tätigkeiten darf nicht vergessen werden. Es liegt darin, dass diese Entgrenzung unter den gegebenen Rahmenbedingungen eine attraktive Perspektive vor allem für die Haushalte bietet, die sich qualifizierte Erwerbspersonen ‚leisten‘ können. Große Teile der Erwerbsbevölkerung haben aber nicht die ökonomischen Spielräume, um auf einen Teil der Erwerbsarbeit und damit auf Einkommen verzichten zu können. Empirische Untersuchungen haben das Problem bereits in den 80er-Jahren
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deutlich gemacht: Eine erweiterte informelle Arbeit ist zumeist für diejenigen attraktiv, die regelmäßige Einkünfte aus der Normalbeschäftigung beziehen und in die berufs- und betriebsbezogenen Netzwerke eingebunden sind. Bei Verlust des Arbeitsplatzes sinken auch Niveau und Umfang informeller Tätigkeiten (Heinze & Offe 1990). Hinzu kommt ein weiteres Problem. Während bei großen Gruppen von Beschäftigten flexible Arbeitszeiten und Teilzeitarbeit attraktiver werden, gewinnt an den beiden Polen der Arbeitsnachfrage die Vollzeiterwerbsarbeit eher wieder an Bedeutung: sowohl bei hochqualifizierten und anspruchsvollen Aufgaben als auch aus der Not, vor allem bei denen, die ohnehin auch im besten Fall nur ein geringes Einkommen erzielen können. Nach wie vor ist eben Realität, dass die Erwerbsarbeit die Andockstelle an ein System ist, das Sicherheit und Aufrechterhaltung des Lebensstandards verheißt. Die Arbeitsgesellschaft setzt mit diesem Mechanismus kontraproduktiv Prämien und Status auf die Lebensform des Arbeitnehmers aus und erzeugt dadurch ständig ein Überangebot an nach Erwerbsarbeit drängender Arbeitskraft. Aber nicht alle nützlichen Tätigkeiten, derer der Mensch fähig ist, müssen durch das Nadelöhr der Erwerbsarbeit gefädelt werden. Eine weniger radikale arbeitsmarkt- und sozialpolitische Innovation zur Förderung freiwilligen sozialen Engagements, die zugleich auch ein Einstieg in die Option von alternativen Tauschsystemen sein könnte, sind Sozialversicherungsgutscheine (Gretschmann et al. 1989, S. 206ff.). Kurz gesagt, geht es darum, Bürgern die Option zu eröffnen, Anwartschaften in den Sozialversicherungen (vor allem bei der Alterssicherung) nicht nur durch monetäre Beiträge, sondern auch durch aktive Mitwirkungen in den sozialen Diensten aufzubauen. Praktikable und konsensfähige Gestaltungsvorschläge stecken allerdings noch immer in den Kinderschuhen. Grob gesagt, lassen sich derzeit folgende Konturen ausmachen: Für sozial als nützlich definierte Tätigkeiten, die, soweit sie nicht Erwerbsarbeit darstellen, durch die herkömmlichen sozialen Sicherungswerke nicht abgedeckt sind, könnten Sozialversicherungsgutscheine eingeführt werden, die den zeitlichen Einsatz etwa auf Wochenoder Monatsbasis ebenso berücksichtigen wie den Nützlichkeitswert. Für den letzteren Zweck werden bestimmte Tätigkeiten als mehr individuell oder mehr gesellschaftlich nützlich bestimmt und mit einem Nützlichkeitsindex versehen, der Zuschläge für wenig attraktive, aber gesellschaftlich besonders nützliche Tätigkeiten und Abschläge für das Gegenteil markiert. Damit könnte in einem ersten Schritt die soziale Sicherungslücke für die informell Aktiven geschlossen werden (Vorbild hierfür wären die Erziehungszeiten in der Rentenversicherung). Politisch-pragmatisch dürfte das Konzept der Sozialversicherungsgutscheine allerdings derzeit auf den lebhaften Widerstand aller Finanzpolitiker stoßen, ähnlich wie bislang die steuerfinanzierten Grundsicherungsmodelle.2 Auch in den aktuellen internationalen
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Die Debatte um eine soziale Grundsicherung bzw. ein bedingungsloses Grund- oder Basiseinkommen läuft nicht nur in Deutschland bereits seit den 1980er-Jahren, ohne dass sich allerdings die Politik in dieser Frage konstruktiv (bspw. durch breit angelegte Experimente in ausgewählten Kommunen) bewegt hätte. Wir haben uns im Kontext des Forschungsprojekts für das Städtebauministerium unter Christoph Zöpel sowie in einem Forschungsprojekt zum Thema „Neue 407
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politischen Debatten spielen alternative Modelle zur Förderung ‚gemeinnütziger‘ Dienste eine wichtige Rolle. Ein diskussionswürdiger Ansatz im Kontext der neuen Herausforderungen, aber auch Gestaltungsoptionen durch die Künstliche Intelligenz seien zitiert. Der chinesische Autor Kai-Fu Lee, einer der führenden Köpfe in der Internetwirtschaft, setzt sich mit den Forderungen nach einem bedingungslosen Grundeinkommen sowie alternativ dazu mit einem Sozialinvestitionsgehalt auseinander und plädiert für eine Förderung sozial produktiver Tätigkeiten. Bei dem Sozialinvestitionsgehalt „handelte es sich um eine ordentliche staatliche Vergütung, die jene erhielten, die ihre Zeit und Energie in solche Aktivitäten investierten, die den Aufbau einer liebenswerten, mitfühlenden und kreativen Gesellschaft fordern. Diese Aktivitäten würden drei grob definierte Bereiche umfassen: Pflegearbeit, gemeinnützige Arbeit und Fortbildung. Sie würden die Grundpfeiler eines neuen Gesellschaftsvertrags bilden, der sozial nützliche Aktivitäten in gleicher Weise belohnte, wie wir heute wirtschaftlich produktive Tätigkeiten belohnen. Die Vergütung wäre kein Ersatz für das soziale Sicherungsnetz, das mit Sozial- oder Arbeitslosenhilfe sowie staatlicher Gesundheitsfürsorge die Grundbedürfnisse abdeckt, sondern würde jenen, die sich an diesen sozial produktiven Aktivitäten beteiligen, ein respektables Einkommen sichern.“ (Lee 2019, S. 284‒285)
Auch wenn gegenüber Gesellschaftsentwürfen aus der Internetwirtschaft Vorsicht geboten ist, zumal sie nicht auf Basis ausgebauter wohlfahrtsstaatlicher Sicherungssysteme wie in Deutschland formuliert werden, wird man in den nächsten Jahren nicht umhin kommen, den Einstieg in die Förderung und Unterstützung von selbstorgansierten Tätigkeiten und die Entwicklung neuer sozialer Sicherungselemente als Ergänzung zum traditionellen wohlfahrtsstaatlichen System in Angriff zu nehmen. In diese Richtung zielen auch strategische Überlegungen zur Erneuerung der Ökonomie des Alltagslebens bzw. einer neuen Infrastrukturpolitik. Benötigt werden dazu „Hybridorganisationen und fundamentalökonomische Bündnisse, in denen entweder lokale/regionale Verwaltungen oder intermediäre Institutionen die Führung übernehmen, um die Politik zu einer Erneuerung der Fundamentalökonomie zu bewegen“ (Foundational Economy Collective 2019, S. 233; Streeck 2019).
Reformen in Deutschland: Wandel wider Willen Investitionen in die oft vergessene informelle Seite der Wohlfahrtssysteme könnten sich langfristig bezahlt machen. Angesichts der vielfach beklagten Effektivitätsprobleme bürokratisierter sozialer Dienste dürften in der Vernetzung des professionalisierten und des freiwilligen Bereichs des Helfens wichtige Ansatzpunkte für eine Qualitätsverbesserung liegen. Technologien und soziale Sicherung“ für das Arbeits- und Gesundheitsministerium in NRW mit dieser Thematik ebenfalls bereits beschäftigt (Gretschmann et al. 1989; Heinze et al. 1988). Im Herbst 2019 ist dazu ein informativer Sammelband mit den wesentlichen Beiträgen erschienen: Kovce & Priddat 2019; zur aktuellen Debatte: Bach & Schupp 2018; Ketterer 2019).
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Im Hinblick auf die Arbeitsmarktpolitik scheint es opportun, öffentlich subventionierte Beschäftigung nicht nur als Ersatzarbeitsmarkt zu betrachten, sondern darüber hinaus für das experimentelle Öffnen neuer sozialpolitischer und gesellschaftlicher Perspektiven zu nutzen, was sich derzeit (2019/2020) auch an den Bemühungen um einen „sozialen Arbeitsmarkt“ zeigt (Beckmann & Heinze 2020). Warum es bislang – analog zur Arbeitsmarktpolitik – auch im Bereich der wohlfahrtsstaatlichen Politik (speziell im Bereich sozialer Dienste) nicht zu Innovationen und einer experimentellen Politik gekommen ist, obwohl auch hier das System unter erheblichem Druck steht, kann neben dem Hinweis auf das nach wie vor vorhandene hohe Niveau sozialer Sicherheit (jedenfalls für die meisten Gruppen) mit den ‚natürlichen‘ Verharrungstendenzen erfolgreicher wohlfahrtsstaatlicher Modelle erklärt werden. Ähnliche Verzögerungen und Erstarrungstendenzen zeigen sich in der Politik auch hinsichtlich der Gestaltung des demografischen Wandels. Inzwischen hat die Politik zwar das Gestaltungsfeld Demografie entdeckt, allerdings bleibt die Frage offen, inwieweit es sich primär um symbolische Politik handelt oder ob es schon zu einem grundlegenden Politikwandel gekommen ist. Die Folgewirkungen der Alterung der Gesellschaft waren bereits spätestens seit Mitte der 1970er-Jahre bekannt, dennoch leiteten die politischen Akteure keine strategische Neuausrichtung ein. Kaufmann (2002) spricht mit Blick auf das Sozialleistungssystem in Deutschland von „Demografischer Blindheit“. Dies ist allerdings kein allein bundesdeutsches Spezifikum. Walker (2009) hat für die gesamte EU einen „structural lag“ zwischen der demografischen Entwicklung und den gesellschaftlichen Institutionen, d. h. ihren gesellschaftspolitischen Reaktionen und Vorkehrungen für die Herausforderungen des kollektiven Alterns der Bevölkerung konstatiert. Vorschläge etwa für eine Demografiepolitik (Hüther & Naegele 2013) sind weiterhin mit dem Umsetzungsproblem konfrontiert und stoßen zwar vielfach auf großes Interesse in der Politik, bleiben aber in der Umsetzung oft weit hinter dem zurück, was aus wissenschaftlicher Sicht gefordert wäre. Dies ist insofern problematisch, als bereits ein Blick in frühere wissenschaftliche Abhandlungen zum Thema sozial(-politik-)wissenschaftliche Politikberatung zeigt, dass es nicht Ziel war, lediglich reines Faktenwissen zu vermitteln, sondern ebenso die Umgestaltung der Architektur der Sozialpolitik mitgedacht wurde. Auf wissenschaftlicher Grundlage sollten zunächst entsprechend relevante Informationen aufbereitet, dann Wissensbestände strukturiert sowie darauf basierend Orientierungswissen vermittelt werden, um letztlich politische Steuerung zu forcieren. Wissenschaftlicher Politikberatung ging (und geht es immer noch) nicht primär um das Aufzeigen des ‚wahren‘ oder ‚richtigen‘ Weges, als vielmehr um fachliche Unterstützung von Politik und Verwaltung bei bestimmten Entscheidungen einerseits sowie bei der Abschätzung ihrer jeweiligen politischen Folgen andererseits. Woran liegt es nun, dass die von regierungspolitischer Seite angestoßenen strategischen Visionen sich kaum in der Praxis umsetzten? Im Folgenden sollen einige Begründungsstränge hinsichtlich politischer Blockaden aufgelistet und diskutiert werden. Blockaden gegenüber einer auf institutionelle Neuordnungen ausgelegten Reformpolitik wurden bereits Mitte/Ende der 1990er-Jahre diskutiert (Heinze 1998), allerdings verbunden mit der Hoffnung, über eine veränderte Regierungspolitik neue Handlungschancen zu erhalten. 409
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Und auch der Verfasser dieses Beitrages war zu Beginn der rot-grünen Regierungspolitik 1998 aktiv als Politikberater an solch einem Aufbruch beteiligt.3 Auf sozialwissenschaftlicher Ebene ist hinsichtlich der Reichweite wissenschaftlicher Politikberatung und politischer Gesellschaftssteuerung in den letzten Jahren eher Skepsis eingekehrt: „In dem Maße, wie die Politik sich unter dem Druck der Wirtschaft zunehmend in den Dienst der Liberalisierung stellte, hörte die Sozialwissenschaft denn auch auf, von ‚Steuerung‘ zu sprechen, und benannte das, was sie ursprünglich für eins ihrer wichtigsten Themen gehalten hatte, in ‚governance‘ um. Aber der Versuch, so Anschluss an den post-etatistischen Diskurs zu finden, war nicht mehr als ein Rückzugsgefecht. Für dieses hatte das neue Konzept allerdings den Vorteil, dass niemand genau sagen konnte, was es bedeuten sollte, außer vielleicht jede Art von lokaler oder globaler Ordnungsbildung mit oder ohne Staat, unter Beteiligung eines ‚Netzwerks‘ aller irgendwie Beteiligten, ohne Zentrum und ohne Ziel.“ (Streeck 2015, S. 74; Streeck 2017; Blätte 2019)
Als ein wesentlicher Grund für diesen Rückzug von einer aktiven und steuernden Politik wird in diesem Kontext die Ökonomisierung zunehmend aller Gesellschaftsbereiche genannt, d. h. der „Bedeutungszuwachs ökonomischer Kosten- und Gewinn-Gesichtspunkte für gesellschaftliches Handeln“ (Schimank & Volkmann 2017, S. 10). Diese gesellschaftlich stark prägenden Strukturmerkmale haben sich in den letzten gut 30 Jahren ausgedehnt und immer mehr Bereiche des Nicht-Ökonomischen erfasst, so auch die sozialen Dienste, die wir mit unserem Modell „Kooperationsring“ und anderen Formen organisierter Eigenarbeit institutionell modernisieren und zukunftsfähig machen wollten. Dies betrifft die Politik auch generell: Steuerungsversuche werden vor dem Hintergrund einer „Gesellschaft der Singularitäten“ (Reckwitz 2017) sogar von vielen als naiv und nostalgisch bewertet. Reckwitz sieht in seiner neuesten Publikation in allen politischen Strömungen nostalgische Momente, die von populistischen Strömungen gern aufgegriffen werden: „Die rechte Nostalgie in den USA, in Frankreich oder in Deutschland verherrlicht das damals noch gültige traditionelle Familien- und Geschlechtermodell, die konservative Moral und die vermeintliche kulturelle Homogenität. Die linke Nostalgie sehnt sich nach der größeren sozialen Gleichheit, der starken Industriearbeiterschaft und dem Wohlfahrtsstaat der alten Industriegesellschaft. Die Nostalgie aus der Mitte schließlich blickt wehmütig zurück auf eine Ära der Volksparteien und integrierenden Verbände, des breiten Mittelstandes und des vermeintlich gemächlicheren Lebenstempos.“ (Reckwitz 2019, S. 14‒15)
Die Attraktivität kooperativer Sozialmodelle wie den Tausch- oder Kooperationsringen scheint durch diese gewachsenen sozialen Zersplitterungen und Brüche also generell be3
In der Öffentlichkeit wurde vor allem der im Spiegel publizierte Beitrag „An Arbeit fehlt es nicht“ (Streeck & Heinze 1999) bekannt. Dahinter stand die wissenschaftliche Beratung des Bundeskanzleramtes in der „Benchmarkinggruppe“ (Eichhorst et al. 2001; Heinze & Streeck 2000, 2003). Die politisch-strategischen Wandlungsprozesse wurden in Die Berliner Räterepublik (Heinze 2002) aus sozialwissenschaftlicher Perspektive aufgearbeitet.
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grenzt zu sein. Neuerdings wird in soziologischen Diskursen in diesem Kontext der Begriff der gesellschaftlichen Frakturen verwendet. Sie sind „als Brüche des gesellschaftlichen Zusammenhangs [zu] verstehen, die zu Fehlstellungen führen können. Anders als bei Knochen ist [die] Wahrscheinlichkeit für eine – noch ein Medizinerwort – vollständige ‚Reposition‘ oder Ausheilung gesellschaftlicher Brüche sogar unwahrscheinlich“ (Mau 2019, S. 13).
Auch wenn diese Gesellschaftsdiagnose primär auf Ostdeutschland bezogen ist, sind Tendenzen zur frakturierten Gesellschaft unübersehbar. Mit Blick auf eine neue Politik des sozialen Zusammenhalts ergeben sich hieraus erhöhte Blockaden. Eher wachsen in der ‚Risikogesellschaft‘ die subjektiven Verunsicherungen und man zieht sich aus assoziativen Zusammenhängen zurück. Eine aktuelle repräsentative Befragung konstatiert den Rückzug vieler Menschen in kleine Kokons („Vermächtnis-Studie“; Weber 2019): „Sie haben oft wenige Verbindungen zu Menschen aus anderen Schichten, keine Netzwerke mit ihnen, da ist kein Austausch über feste Familien- und Freundeskreise hinaus. Insbesondere Menschen mit einer niedrigen Bildung sind oft nur in diesen Kokons unterwegs“ (Allmendinger 2019).
Gemeinwohlorientierte Netzwerke auf lokaler Ebene Trotz dieser Brüche oder Fragmentierungen ist es in den letzten Jahren vor dem Hintergrund grundlegender sozioökonomischer und kultureller Wandlungsprozesse zu einer Debatte um die Neujustierung des Verhältnisses zwischen der Bürger- oder Zivilgesellschaft, der Wirtschaft und dem Staat gekommen. Aktuell zeigt sich das u. a. in der Ausbreitung von sozialinnovativen Netzwerken auf lokaler Ebene, die neue Formen integrierter sozialer Versorgung aufbauen wollen, z. B. in Form von Sozial-, Energie- und Seniorengenossenschaften, aber auch in Initiativen zur ‚Gemeinwohlökonomie‘, die sich in letzter Zeit ausbreiten. Diese Initiativen verstehen sich als Gegenmodell zu den etablierten Routinen der traditionellen politischen Organisationen, denen vorgeworfen wird, inhaltlich und organisatorisch in vielen gesellschaftlichen Themenfeldern ‚ausgehöhlt‘ zu sein; manche Beobachter sehen schon den ‚Herbst‘ der Volksparteien. Kritik an der traditionellen Politik kommt aber auch von anderer Seite. Derzeit wird am Beispiel des Rechtspopulismus in allen westlichen Ländern ein erhebliches Misstrauensvotum gegenüber dem politischen System deutlich. Diese verminderte Ausstrahlungskraft der Parteienpolitik ist nicht nur über die Erosion der soziokulturellen Milieus zu erklären, sondern auch auf die Entstandardisierung und Prekarisierung von beruflichen Lebensläufen zurückzuführen. Immer mehr Individuen (gerade jüngere Erwerbspersonengruppen) – auch aus der gesellschaftlichen Mitte – stehen unter dem permanenten Zwang, Ökonomisierungslogiken gerecht zu werden. Erwartungssicherheiten und Optionen für eine Beteiligung an politischen Organisationen gehen zurück, während durch die Globali411
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sierung und Flexibilisierung der Arbeit neue Anforderungen an das Selbstmanagement und die Kontrollfähigkeit wachsen. Wenn es zur Aufgabe der Individuen gehört, sich selbst zu managen, geht das Vertrauen in die traditionelle Politik zurück. Demgegenüber wächst das Engagement in überschaubaren, lokalen Gruppen. Inhaltlich lehnen sich die lokalen Initiativen an Konzepte zur sozialen Innovation an und zielen auf eine Neukonfiguration sozialer Praktiken in bestimmten Handlungsfeldern, mit dem Wunsch, soziale und sozialpolitische Probleme oder Bedürfnisse besser zu lösen bzw. zu befriedigen als dies auf der Grundlage etablierter Praktiken möglich ist. Trotz aller politischen Beteuerungen, wie wichtig das Bürgerengagement sei (was in Zeiten knapper öffentlicher Kassen leicht nachvollziehbar ist) und empirischer Daten, die von einer relativ hohen Bereitschaft zum Engagement ausgehen, stellt sich allerdings nach wie vor die bereits Mitte der 1980er-Jahre diskutierte Frage, ob die zweifellos vorhandenen Zeitpotenziale auf lokaler Ebene real wirklich genutzt werden und wenn, in welchen Feldern. Vieles spricht dafür, dass trotz aller Debatten um neue Zeitverwendungsmuster in der Zivilgesellschaft die Möglichkeiten einer am Gemeinsinn orientierten bürgerschaftlichen Zeitnutzung weiterhin nur begrenzt aufgegriffen werden. Gerade diejenigen Bevölkerungsgruppen, bei denen ungenutzte, aber nutzbare Zeitressourcen verfügbar und die aufgrund ihrer allgemeinen Versorgungslage am dringlichsten darauf angewiesen wären, diese verfügbare Zeit in „Gebrauchswerte“ umzusetzen, scheinen dazu kaum in der Lage zu sein (aus empirischer Sicht: Heinze et al. 2019). Die „Bürgergesellschaft“ kann also die sozialen Ungleichheiten nicht kompensieren, obgleich die Handlungsspielräume für eigeninitiiertes Handeln gewachsen sind und viele Aufgaben weder vom Staat noch dem Markt adäquat erfüllt werden. Auch hier setzen die neuen Initiativen auf Quartiersebene an und versuchen, selbstorganisierte Formen sozialer Integration aufzubauen. Das soziale Engagement bewegt sich hierbei häufig im Spannungsfeld von einerseits gewünschter und notwendiger Unterstützung in zahlreichen gesellschaftlichen Teilbereichen und der Gefahr einer Instrumentalisierung (etwa durch die Politik) andererseits. Insgesamt ist die Engagementlandschaft einerseits bunter und vielfältiger geworden, andererseits gibt es gleichzeitig z. T. Nachwuchs- und Rekrutierungsprobleme bei ‚etablierten‘ Großorganisationen wie Wohlfahrtsverbänden, politischen Parteien oder Gewerkschaften. Die Fokussierung auf Eigenverantwortung und Selbstorganisation im Rahmen eines Wohlfahrtsmix sollte jedoch gerade nicht als Aufforderung zur Privatisierung und Rückzug des Staates verstanden werden, vielmehr geht es um die Mobilisierung und Stärkung sozialen Engagements sowie die Modernisierung verkrusteter Organisationsstrukturen. Dazu werden jedoch innovative Gestaltungsakzente benötigt, die bislang hierzulande nur in einzelnen lokalen Projekten sichtbar sind. Aber auch die Fokussierung auf neue kooperative, netzwerkförmige Governance-Formen besitzt ihre Risiken. Entgegen manchen Mythenbildungen sind auch solche Steuerungskonzepte erstens oft schwer zu inszenieren, zweitens hinsichtlich einer effizienten Steuerung schwierig zu ‚managen‘ und besitzen zudem erhebliche Konfliktpotenziale. Sie können also schwerlich als ‚Allzweckwaffe‘ zur Lösung jeglicher gesellschaftlicher Probleme genutzt werden. Die Übernahme von Verantwortung
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durch private Akteure und Netzwerke ist ohne die Daseinsvorsorge durch die Kommune bzw. den Staat nicht denkbar. Aber auch wenn es eine Reihe von Gründen gibt, warum Strukturreformen gerade in einem ‚semisouveränen‘ Land wie Deutschland eine Reihe von Hindernissen im Wege stehen, sollte nicht der defätistischen These gefolgt werden, dass dieses Land reformunfähig sei. Klar herausgestellt werden sollte, dass es nicht mehr allein der Staat sein kann, der verantwortliche und zukunftsfähige Steuerung gewährleistet. Antworten sind deshalb weder im ‚Marktradikalismus‘ noch in einer sozialstaatlichen ‚Orthodoxie‘ zu suchen. Angesagt sind vielmehr balancierte Verknüpfungen zwischen den Handlungslogiken von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft sowie richtungweisende Reformen für den institutionellen Umbau des deutschen wohlfahrtsstaatlichen Systems. Das Gelingen von sozialen Innovationen basiert auf institutionellen Voraussetzungen und dem Willen zur Kooperation, was allerdings in einem hoch fragmentierten System wie in Deutschland schwer zu realisieren ist. Innovationen zeigen sich oft in hybriden Organisationskonzepten und sind experimentell ausgerichtet. Wenn daraus auch noch nicht ein neues Leitbild innovativer Politik (analog zur Reformpolitik der 1970er-Jahre) entstanden ist, entwickeln sich dennoch ‚im Stillen‘ zukunftsweisende kreative Netzwerke, die den Weg auf die politische Tagesordnung finden werden. Neben der Aufbereitung und Vernetzung der Projekterfahrungen muss aber noch am Drehbuch für die „Betätigungsdemokratie“ (Rosanvallon 2016) oder an einer „neuen Politik des Zusammenhalts“ (Collier 2019) gearbeitet werden.
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Am Wendepunkt angekommen? Kommunale Haushaltskonsolidierung zwischen Hebesatzanpassung und Vergeblichkeitsfalle Lars Holtkamp und Benjamin Garske
Einleitung Das in Art. 28 Abs. 2 GG verankerte Selbstverwaltungsrecht garantiert den Kommunen Eigenverantwortlichkeit und Handlungsfähigkeit von Verfassungsrang. Es unterstreicht ihre herausgehobene Stellung innerhalb des Föderalstaates. Kommunen sind als Träger der öffentlichen Daseinsvorsorge von hoher Bedeutung. Mit ihrer verhältnismäßig hohen Investitionstätigkeit nehmen sie Einfluss auf Konjunktur und Wirtschaft, können aber ebenso davon betroffen sein. Das kommunale Handeln hängt stark von einer möglichst auskömmlichen Finanzausstattung ab, will man zukünftig ein „bedarfsgerechtes, leistungsfähiges und regional ausgewogenes Angebot an öffentlicher Infrastruktur“ (Kunz 1998, S. 161) gewährleisten ohne Handlungsspielräume zu weit einzuengen. Die nötigen Finanzmittel werden in der Hauptsache über (Real-)Steuereinnahmen generiert. Das Gros dieser Einnahmeart kann eine Kommune als Ausdruck der Eigenverantwortlichkeit über Hebesatzanpassungen beeinflussen und dem lokalen Ressourcenbedarf anpassen. Neben kleineren Verbrauchs- und Aufwandsteuern zählt vor allem der Einkommenssteueranteil zu den primären Einnahmenarten. Ihre Konjunkturabhängigkeit ist zugleich allerdings auch der neuralgische Punkt der Kommunalfinanzen. Von ihm geht eine hohe Volatilität aus, die die Städte mit hohem (ökonomischen und strukturellen) Problemdruck unvermittelt treffen können. Vor allem die Kommunen des Landes Nordrhein-Westfalen sind in Teilen hoch verschuldet; fast schon traditionell die Städte und Gemeinden der Metropolregion Ruhr. Vielerorts gehen hohe Verbindlichkeiten dort mit der merklichen Anpassung der Realsteuerhebesätze einher. In ihrer Not bedienen diese Kommunen also zuvorderst die Stellschrauben dieser Einnahmeart, was zugleich die Standortqualität negativ beeinflussen kann. Konträr dazu können optimistische Töne vernommen werden, die die Kommunen gerade des Ruhrgebiets in ihrer Finanznot an einem Wendepunkt wähnen (Roters et al. 2019, S. 64). Inwieweit dies berechtigt ist, und welche Rolle Realsteuerhebesätze in der gegenwärtigen Finanzsituation der Kommunen tatsächlich spielen, wird hier noch zu diskutieren sein. Wir gehen der These nach, dass sich die Städte insbesondere des Ruhrgebietes ihre Mit© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_26
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gliedschaft im Stärkungspakt Stadtfinanzen mit merklichen Hebesatzanpassungen teuer erkaufen, ohne dass sie ihre Schulden im starken Maße abbauen können.
Kontextfaktoren und finanzpolitischer Ordnungsrahmen Neben der Art und Weise der Aufgabenerfüllung und der Leistungsstandards kommunaler Aufgaben zeigt insbesondere die kommunale Finanzwirtschaft eine hohe Regulierungsdichte. Kommunales Handeln ist vor allem von zwei zentralen, aber simplen Aspekten bestimmt: Welche Aufgaben und Standards sind zu erfüllen, und wie sind die Einnahmemöglichkeiten gestaltet? Eine entscheidende Variable des kommunalen Handelns ist der Ordnungsrahmen, genauer gesagt die Ausgestaltung der kommunalen Einnahmemöglichkeiten und die Regulierung der kommunalen Leistungserbringung (Boettcher 2013, S. 32). Der Ordnungsrahmen ist besonders stark von rechtlichen Vorgaben und staatlicher Weisung gezeichnet. Zugleich hängt die Finanzausstattung von einer Vielzahl sozioökonomischer, institutioneller oder akteursbezogener Faktoren ab (Bogumil & Holtkamp 2013, S. 65). Auch deswegen ist die Haushaltssituation zwischen den Kommunen bundesweit äußerst heterogen (vertiefend Kapitel 4). Kontextfaktoren kommunalen Handelns Die Vielzahl an (Kontext-)Faktoren lässt sich leicht aus diversen, zentralen Veröffentlichungen zur kommunalen Haushaltsverschuldung ableiten (Holtkamp 2000, 2010; Boettcher 2012, 2013; Bogumil & Holtkamp 2013; Bogumil et al. 2014). Zu den prägendsten sozioökonomischen (Kontext-)Faktoren gehören – exemplarisch hier angeführt – laut Bogumil und Holtkamp (2013, S. 65) insbesondere die Wirtschaftsstruktur und Wirtschaftskraft (konjunkturelle Entwicklung, Zinsentwicklung etc.), die durchaus tiefgreifend auf die Einnahme- und Ausgabeseite einwirkt (Bertelsmann Stiftung 2019, S. 7). Die (ökonomische) Leistungsfähigkeit der Kommune bzw. ihrer Akteure (Unternehmen etc.) ist – neben der Sozialstruktur (bspw. Anteil der Transferleistungsempfänger) – ein weiterer zentraler Indikator der lokalen Finanzsituation. Faktoren wie der Anteil der Transferleistungsempfänger treiben die Kosten der kommunalen Leistungserbringung hoch und engen die lokalen Handlungsspielräume ebenso stark ein, wie eine kaum ad hoc änderbare örtliche Siedlungsstruktur (Einwohner*innenzahl, Verdichtungs- und Zentralitätsgrad) oder höhere (Infrastruktur-)Ausgaben insbesondere in hoch verdichteten Metropol- und Wirtschaftsregionen (Boettcher 2012, S. 68). Die Folge sind mithin steigende Pro-Kopf-Ausgaben zur Erhaltung der Leistungsstandards, vor allem bei stetigem Bevölkerungsschwund auf dem Land. Als ‚Sonderling‘ unter den Flächenbundesländern gilt sicherlich Nordrhein-Westfalen mit seinen insgesamt knapp 18 Millionen Einwohner*innen in 396 Städten und Gemeinden. Einer im Vergleich zu allen übrigen Flächenbundesländern 6,5-fachen Ortsgröße
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(über 45.000 Einwohner*innen; BRD: 6.900 Einwohner*innen). Einer im Mittel mit 525 Einwohner*innen je km2 vergleichsweise deutlich höheren Bevölkerungsdichte (BRD: 216 Einwohner*innen je km2). Mit der höchsten Zahl an kreisfreien Städten je Flächenbundesland sowie der mit knapp 10 Millionen Einwohner*innen zu den 30 bevölkerungsreichsten Regionen zählenden Metropolregion Rhein-Ruhr, die mithin in besonderer Weise vom Strukturwandel geprägt und betroffen ist (Stichtag 31. Dezember 2017, IT.NRW; zu den Vergleichszahlen: Bertelsmann Stiftung 2019; Bogumil & Holtkamp 2013, S. 28). Institutionelle Faktoren sind bspw. in der Finanzausstattung der Kommunen zu suchen, die sich bundesweit in unterschiedlicher Lastenverteilung der kommunalen Aufgaben zwischen Land und Kommune, und somit einhergehend ein voneinander abweichender Katalog an Leistungen durch die öffentliche Hand sowie der hohe Regulierungsdichte (Selbstverwaltungsangelegenheiten vs. Auftragsangelegenheiten) ausdrückt (Boettcher 2013, S. 35). Die rechtliche Ausgestaltung der Haushaltsnotlagenregime oder der Kommunalverfassung (Kompetenzzuweisung, Vetospieler etc.) werden ebenso den institutionellen Faktoren zugerechnet. Anders akteursbezogene Faktoren: Diese sind bspw. im lokalen Demokratietypus (konkordanz- und konkurrenzdemokratische Muster), der Handhabung der Haushaltsnotlagenregime durch die Kommunalaufsicht oder dem lokalen Parteiensystem zu sehen. Lange wurde den institutionellen Arrangements der Kommunalverfassung höhere Bedeutung beigemessen. In Teilen ist dies zwar auch heute noch unstrittig, allerdings „entfalten sich die handlungsprägenden Eigenschaften von Institutionen nicht auf direktem Weg, sondern vermittelt“ (Bogumil & Holtkamp 2013, S. 148).1 Weit mehr sind lokale Entscheidungs- und Willensbildungsprozesse durch eine Vielzahl weiterer Faktoren geprägt, sei es die Kommunalverfassung, das Zusammenspiel zwischen Hauptverwaltungsbeamten, Verwaltung(-elite) und Kommunalvertretung auf der einen, Bürger und Vermittlungsinstanzen wie bspw. Verbände auf der anderen Seite, oder das Vorhandensein von Vetopositionen (Bogumil 2001; Bogumil & Holtkamp 2013, S. 148). In der Konsequenz löst sich die Konzeption von den klassischen Termini der vergleichenden Regierungslehre (etwa Präsidentialismus) ab. So ist die „kommunale Konkordanzdemokratie […] von einer geringen Parteipolitisierung von Rat und Bürgermeistern in der Nominierungs-, Wahlkampf-, Wahl- und Regierungsphase bei gleichzeitig starker Dominanz des Bürgermeisters geprägt“ (Holtkamp 2008, S. 7). Konkordante Konfliktregelungsmuster sind hingegen stärker von „gütlichem Einvernehmen“ (Lehmbruch 1991, S. 311) gekennzeichnet. Anders die Konkurrenzdemokratie: Alle Phasen zeichnet eine hohe Parteipolitisierung aus. Der (Ober-)Bürgermeister ist weniger dominant. An der Tagesordnung sind Ausein-
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Vermittelt, da „die einzelnen Regelungen, beispielsweise der Wahlmodus und die Kompetenzen des Verwaltungschefs, das Wahlsystem (Kumulieren, Panaschieren, Sperrklausel) oder Regelungen zu kommunalen Referenden, die Eigenschaft von Entscheidungsprozessen beeinflussen“ (Bogumil & Holtkamp 2013, S. 148). 419
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andersetzungen entlang der Trennlinie zwischen den parlamentarischen Mehrheits- und Oppositionsparteien (zur Parteipolitisierungsthese: Holtmann 1992, 1998). Trotz weitreichender Kommunalverfassungsreformen „koexistieren mit der Konkordanzund Konkurrenzdemokratie weiterhin zwei unterschiedliche ‚demokratische Welten‘ in der deutschen Kommunalpolitik“ (Bogumil 2010, S. 42). Die Verteilung der lokalen Demokratietypen ist somit von Varianz gezeichnet; idealtypisch mit Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen an den jeweiligen Enden der Skala (Bogumil & Holtkamp 2013, S. 166). Haushalt und Finanzen Die Vergleichbarkeit der Finanzstatistik ist einerseits insbesondere im Längsschnitt wegen Veränderungen in der Verbuchung der Finanzdaten erschwert, andererseits ist der kommunale Haushalt (in der Fläche) hochgradig fragmentiert (Auslagerungen in Extrahaushalte bzw. in öffentliche Fonds, Einrichtungen und Unternehmen [FEU] etc.; Bogumil et al. 2014, S. 616‒617). Die kommunale Finanzsituation ist mithin also heterogener, als es die anschließende Zusammenschau der Finanzdaten vermittelt. Nichtsdestotrotz soll vorab kursorisch die Finanzsituation der Kommunen im Vergleich dargestellt werden, sodass es besser gelingt, die Lage der Kommunen in Nordrhein-Westfalen adäquat einzuordnen. Kommunale Einnahmen und Ausgaben Die Zusammensetzung der kommunalen Finanzen der Flächenbundesländer kann zunächst nach den bedeutendsten Einnahme- und Ausgabearten unterschieden werden. Auf der Einnahmeseite der Kommunen stehen Steuern als bedeutsamste kommunale Einnahmeart (37,5 Prozent), weswegen ihnen im nächsten Abschnitt besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Grob kann zunächst festgehalten werden, dass die Kommunen im Süd(-west-)en Deutschlands, genauer in Hessen, Bayern und Baden-Württemberg im Mittel höhere Steuereinnahmen als anderswo generieren. Erwartungsgemäß korrespondiert die Verteilung mit Faktoren wie Wirtschaftskraft (Bruttoinlandsprodukt, SGB-II-Quote etc.), Einwohner*innenzahl (auch Altersstruktur etc.) oder neueren Entwicklungen bspw. die Verstädterung, steigende Kinder- und Altersarmut oder die internationale Migration. Anzumerken ist, dass bundesweit in allen Kommunen die Steuereinahmen (wie auch allgemeinen und zweckgebundenen Zuweisungen und sonstige Einnahmen) gestiegen sind. Nordrhein-Westfalen gehört hinter Hessen, Bayern und Baden-Württemberg dabei noch zur Spitzengruppe auf der Einnahmeseite (Bertelsmann Stiftung 2019). Ostdeutsche Flächenbundesländer erhalten zum Ausgleich fehlender Steuereinnahmen wiederum höhere Zuweisungen vom Land. Knapp mehr als ein Drittel aller Einnahmen werden bundessweit durch die sogenannten laufenden Zuweisungen generiert. In Fragen der Zuweisungen kann die Systematik des kommunalen Finanzausgleichs mit der durchaus unterschiedlichen Handhabe in einzelnen Ländern aber nicht komplett ausgeklammert werden, da Landesregierungen eigenverantwortlich Entscheidungen darüber treffen, inwieweit und zu welchem Anteil die
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Finanzausgleichsmittel über Zuweisungen unter den Kommunen verteilt werden (bspw. Lastenausgleiche, Bedarfszuweisungen oder Schlüsselzuweisungen; Lenk et al. 2013, S. 15). Zu den zweckgebundenen Zuweisungen werden u. a. Transferzahlungen – entweder gebunden an Objekt oder Bereich – wie bspw. Investitionszuweisungen, Investitionsfördermaßnahmen, Zuweisungen und Zuschüsse für laufende Zwecke, Erstattungen, Ersatz von sozialen Leistungen und Leistungsbeteiligung für Unterkunft und Heizung (SGB II) gezählt. Sie sind in der Analyse aber ebenso zu vernachlässigen wie Einnahmen aus den Verwaltungsgebühren und Beiträgen (bspw. für Elternbeiträge und Kinderbetreuungseinrichtungen), die lediglich zur Finanzierung derjenigen Leistung verwendet werden, aufgrund derer sie erhoben wurden (sog. Kostendeckungsprinzip). Weitere sonstige Einnahmen machen einen Anteil von 12,2 Prozent aus (vgl. Tabelle 1). Die Ausgabeseite zeigt sich im Ländervergleich ähnlich divergent wie die Einnahmeseite. Hauptverantwortlich sind hierfür einerseits externe Faktoren wie die lokale Wirtschaftsstruktur und -kraft (regionales Pro-Kopf-BIP), die Bevölkerungsstruktur und -entwicklung, Altersstruktur der Bevölkerung (Nachfrage nach bestimmten Leistungen und Infrastruktureinrichtungen), die (Siedlungs-)Struktur der Kommunen eines Landes (Zentrum vs. Peripherie, Verdichtungs- vs. Zentralisierungsgrad), die wirtschaftliche Lage der Bevölkerung (SGB-II-Quote, Kinderarmut etc.), andererseits institutionelle Faktoren wie der Kommunaltypus (Einwohner*innenzahl, kreisfreie Stadt, kreisangehörige Stadt etc.) oder die Aufteilung der Aufgabenwahrnehmung zwischen Land und Kommune in den einzelnen Flächenbundesländern (Finanz- und Aufgabenausstattung). Alle Flächenbundesländer zeigen zunächst eine Zunahme der Ausgaben. Für die vorherrschende Divergenz zwischen den Flächenbundesländern werden insbesondere unterschiedliche Leistungskataloge der einzelnen Kommunen in Abhängigkeit bspw. ihrer Einwohner*innenzahl verantwortlich gemacht. Ein in Ostdeutschland geringeres Ausgabenniveau scheint hingegen in einer mit der Ausgestaltung der Aufgabenwahrnehmung und der Infrastrukturausstattung vor Ort einhergehenden geringeren Höhe des laufenden Sachaufwandes wie bspw. Verwaltungsausgaben (Unterhalt der Grundstücke und baulichen Anlagen, Unterhalt sonstiges unbewegliches Vermögen etc.) sowie einer unterschiedlichen Investitionsausgaben (bspw. Infrastrukturmaßnahmen, Erwerb von bebauten und unbebauten Grundstücken oder beweglichem Anlagevermögen) begründet zu sein. Auf der Ausgabenseite stechen bundesweit aber vor allem die Ausgaben für das Personal (26,6 Prozent) hervor, doch ist durchaus damit zu rechnen, dass der Anteil der sozialen Leistungen (aktuell 22,9 Prozent) den Anteil der Personalkosten langfristig übersteigen wird. Zum Leistungsspektrum der sozialen Leistungen zählen alle Leistungen nach Sozialgesetzbuch II (Kosten der Unterkunft, Heizung), VIII (Jugendhilfe; hier: Kindertagesbetreuung, Inobhutnahme, Förderung der Familie, Hilfen zur Erziehung etc.) und XII (Sozialhilfe; hier: Lebensunterhalt, Hilfe in besonderen Lebenslagen etc.) sowie das Asylbewerberleistungsgesetz (Bertelsmann Stiftung 2019). Die Erfüllung dieser Aufgaben ist den Kommunen vorgeschrieben. Kommunen mit schwacher Wirtschaftskraft vor Ort (negative konjunkturelle Entwicklung etc.) und hohen sozioökonomischen Herausforde421
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rungen (Transferempfängerquote, Kinderarmut etc.) bei zugleich hoher Verschuldung trifft dies ungleich härter, was wiederum eine Abwärtsspirale in Gang setzt, die oft nur begrenzt steuerbar ist (Bogumil & Holtkamp 2013, S. 65‒66). Ebenso bedeutsam für die Ausgabenseite ist außerdem der laufende Sachaufwand mit 22,8 Prozent, gefolgt von den Sachinvestitionen (11,6 Prozent) sowie den Zinsausgaben (1,2 Prozent). Sonstige Ausgaben machen einen Anteil von 15,1 Prozent aus (vgl. Tabelle 1).
Tab. 1
Kommunale Einnahmen und Ausgaben nach Art
Einnahmen**
Ausgaben**
Insgesamt Steuern Laufende Zuweisungen Sonstige Einnahmen Verwaltungs- und Benutzungsgebühren Zuweisungen für Investitionen vom Land Insgesamt Personal Soziale Leistungen Laufender Sachaufwand Sonstige Ausgaben Sachinvestitionen Zinsen
in Mrd. Euro 269,96 101,21 95,10 33,61 31,67 8,32 260,13 69,09 59,48 59,19 39,27 30,10 3,00
in Prozent 37,5 35,2 12,5 11,7 3,1 26,6 22,9 22,8 15,1 11,6 1,2
Quelle: Destatis (2019a); Stichtag 31.12.2018, ohne Stadtstaaten. ** Ohne besondere Finanzierungsvorgänge (insb. Schuldenaufnahmen und Schuldentilgungen, Rücklagenentnahmen und Rücknahmezuführungen, Deckung von Fehlbeträgen aus Vorjahren), ohne kommunale Krankenhäuser.
Kommunale (Real-)Steuern Die Steuerhoheit der Kommunen ist Zeichen und wesentlicher Teil der Autonomie. Kommunen haben nach Art. 106 GG Abs. 6, S. 1 das Recht, die Hebesätze der sogenannten Realsteuern Grund- (GrdSt) und Gewerbesteuer (GewSt) eigenmächtig festzusetzen. Steuergegenstand der GrdSt A sind land- und forstwirtschaftlich genutzte Grundstücke, die der GrdSt B alle bebauten oder bebaubaren Grundstücke (Grundsteuergesetz GrStG § 2). Steuergegenstand der Gewerbesteuer ist hingegen ein Unternehmen (Gewerbebetrieb) und dessen objektive Ertragskraft. Der Hebesatz der GewSt beträgt mindestens 200 Prozent, wenn nicht anders von der Kommune bestimmt (GewStG § 16 Abs. 4 S. 2). Anzumerken ist, dass die Steuerbemessungsgrundlage und damit die Einnahme aus der GewSt dynamisch an die Konjunktur gekoppelt ist, und in Wachstumszeiten eine Hebesatzanpassung mithin nachrangig erscheinen lässt.
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Abb. 1
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Hebesatz Grundsteuer B und Gewerbesteuer 2016
Quelle: Eigene Darstellung; Daten entnommen aus IT.NRW: Landesdatenbank, Stand 31.12.2016; Karte: Verwaltungsgebiete 1:250 000 (Ebenen), Stand 01.01. (VG250 01.01.); © GeoBasis-DE/Bundesamt für Kartographie und Geodäsie BKG (Jahr des Datenbezugs: 2020) 423
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An die Steuerhoheit knüpft die verfassungsrechtlich garantierte Beteiligung der Kommunen an weiteren Steuereinnahmen an. Neben der Zuordnung der Realsteuern und der örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern (Art. 106 Abs. 6 GG) zählt hierzu insbesondere die kommunale Beteiligung an der Einkommen- und Umsatzsteuer, die im Zeitverlauf zweifelsfrei an Bedeutung gewonnen hat (Art. 106 Abs. 5 bzw. 5a GG). Die (Real-)Steuereinnahmen zählen mit 37,5 Prozent zu den bedeutendsten Einnahmequellen, deren Höhe – anders als der Anteil an der Einkommen- und Umsatzsteuer – in Teilen per Festsetzung der Hebesätze gemäß der grundgesetzlich garantierten Eigenverantwortlichkeit (Art. 28 Abs. 2 S. 3 GG) beeinflusst und an den lokalen Ressourcenbedarf angepasst werden kann. Hiervon haben die Kommunen mithin rege Gebrauch gemacht. Die wichtigsten, in Summe GrdSt B und GewSt, sollen nun vergleichend kurz dargestellt werden (vgl. oben Abbildung 1). Hinsichtlich GrdSt B beziffert sich der Unterschied zwischen dem Flächenbundesland mit dem durchschnittlich niedrigsten Hebesatz Schleswig-Holstein (381 v. H.) und mit dem höchsten Hebesatz Nordrhein-Westfalen (557 v. H.) auf 176 von Hundert. Insgesamt kann in Fragen der Hebesätze grob ein Ost-West- und West-Süd-Gefälle ausgemacht werden, wobei Bayern (391 v. H.) und Baden-Württemberg (391 v. H.) den Ländern Hessen (456 v. H.) und Nordrhein-Westfalen gegenüberstehen. Einzige Ausnahme ist Sachsen mit einem GrdSt B-Hebesatz von 494 v. H. (BRD: 429 v. H.; vgl. Abbildung 1). Letztgenannte Gruppe findet sich – neben dem Saarland (434 v. H.) – zugleich auch in der Spitzengruppe der GewSt-Hebesätze. Nordrhein-Westfalen (452 v. H.), Sachsen (421 v. H.) und Hessen (409 v. H.) stehen den Flächenbundesländern Brandenburg (316 v. H.), Sachsen-Anhalt (323 v. H.) oder Baden-Württemberg (366 v. H.) gegenüber, wobei die Steuerart insgesamt eine im Zeitverlauf geringere Dynamik aufweist als die der GrdSt B und daher im Folgenden in der Detailbetrachtung zunächst zurückgestellt werden kann (GewSt BRD: 388 v. H.; Destatis 2019d). In Nordrhein-Westfalen zeigt sich die Dynamik der Hebesätze nach GrdSt B (unter Einbezug neuerer Daten) nun besonders deutlich (vgl. Abbildung 2). Betrug der Hebesatz der GrdSt B 2011 415,8 v. H., stieg er im Zeitverlauf um ca. 124 Punkte auf durchschnittlich 539,5 v. H. in 2018, wobei in 2018 die kreisangehörigen Städte Verl (je 230 v. H.; Kreis Gütersloh) und Monheim am Rhein (250 v. H.; Kreis Mettmann) den geringsten GrdSt B-Hebesatz aufwiesen und Bergneustadt mit 959 v. H. den deutlich höchsten GrdSt B-Hebesatz hatte. Die kreisfreien Städte Nordrhein-Westfalens haben insgesamt ein Hebesatzniveau von durchschnittlich 640,1 v.H ., die kreisangehörigen Städte und Gemeinden von lediglich 533,6 v. H. (2011: 518,4 zu 409,7 v. H.). Augenscheinlich aber zeigt sich die Konzentration in der regionalen Verteilung. Hier kann vor allem die Region Regionalverband Ruhr (RVR) hervorgehoben werden. Die Städte und Gemeinden der sogenannten Metropolregion Ruhr haben in 2018 durchschnittlich einen GrdSt B-Hebesatz von 685,1 v. H. und damit durchschnittlich immerhin 223,8 v. H. mehr als in 2011 (461,3 v. H.) sowie 168,1 v. H. mehr als die Kommunen außerhalb des RVRs (2018: 517,0 v. H.; 2011: 408,7 v. H.).
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Abb. 2
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Grundsteuer B in Nordrhein-Westfalen 2011 und 2018
Quelle: Eigene Darstellung; Daten entnommen aus IT.NRW: Landesdatenbank, Stand 31.12.2011 und 31.12.2018; Karte: Verwaltungsgebiete 1:250 000 (Ebenen), Stand 01.01. (VG250 01.01.); © GeoBasis-DE/Bundesamt für Kartographie und Geodäsie BKG (Jahr des Datenbezugs: 2020) 425
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Abb. 3
Lars Holtkamp und Benjamin Garske
Gewerbesteuer in Nordrhein-Westfalen 2011 und 2018
Quelle: Eigene Darstellung; Daten entnommen aus IT.NRW: Landesdatenbank, Stand 31.12.2011 und 31.12.2018; Karte: Verwaltungsgebiete 1:250 000 (Ebenen), Stand 01.01. (VG250 01.01.); © GeoBasis-DE/Bundesamt für Kartographie und Geodäsie BKG (Jahr des Datenbezugs: 2020)
Am Wendepunkt angekommen?
427
Im gleichen Zeitraum stieg der durchschnittliche GewSt-Hebesatz um 26,4 Punkte landesweit von 423,8 v. H. auf 450,2 v. H. (vgl. Abbildung 3). Insgesamt ist der GewSt-Hebesatz weniger volatil. Gleichwohl lassen sich auch hier – analog zur GrdSt B – die zuvor genannte Disparitäten beobachten. So haben die kreisfreien Städte Nordrhein-Westfalens ein Hebesatzniveau von durchschnittlich 491,4 v. H., die kreisangehörigen Städte und Gemeinden von lediglich 447,8 v. H. (2011: 566,5 zu 421,3 v. H.). Erneut sticht der RVR heraus. Die Städte und Gemeinden des RVR haben in 2018 ein durchschnittliches Hebesatzniveau von 484,9 v. H. (2011: 455,8 v. H.) und damit knapp 40 Prozentpunkte mehr als die Kommunen außerhalb der Metropolregion Ruhr. Nordrhein-Westfalen zeigt zwar eine insgesamt hohe Dynamik und die (mit Abstand) höchsten Realsteuerhebesätze bundesweit, hat aber zugleich auch das höchste Steueraufkommen, noch vor Baden-Württemberg oder Bayern. Das reale Steueraufkommen erweist sich letztlich als ebenso heterogen. Grob kann festgestellt werden, dass vor allem die Kommunen im Süd(-west-)en Deutschlands, genauer in Hessen, Bayern und BadenWürttemberg im Mittel deutlich höhere Steuereinnahmen generieren als andere. Diese Entwicklung kann mithin auf die GewSt zurückgeführt werden. Erwartungsgemäß korrespondiert nämlich die Verteilung mit Faktoren wie Wirtschaftskraft (Bruttoinlandsprodukt, SGB-II-Quote etc.), Einwohner*innenzahl (auch Altersstruktur etc.), neueren Entwicklungen wie Verstädterung, steigender Kinder- und Altersarmut oder die internationale Migration, die sich von Flächenbundesland zu Flächenbundesland mitunter stark unterscheiden. Ebenso kann ein Ost-West-Gefälle beobachtet werden. 39 der stärksten 40 Kommunen liegen in Westdeutschland, 36 der schwächsten 40 Kommunen hingegen in Ostdeutschland. Einzige Ausnahme sind die Kommunen des Landes Brandenburg, die sich im Zeitverlauf den Kommunen der westdeutschen Flächenbundesländer angenähert haben (Bertelsmann Stiftung 2019, Teil B, S. 4). Bundesweit ist das Steueraufkommen seit 2008 um ca. 55 Prozent gestiegen, größtenteils getragen von den Einnahmen nach GrdSt B und GewSt (Bertelsmann Stiftung 2019, Teil B). Der Vergleich der Steuereinnahmen GrdSt A und B, GewSt sowie der Anteil an Einkommens- und Umsatzsteuer veranschaulicht dies gut. In den Kommunen der Flächenbundesländer wurden 2018 insgesamt 99,5 Milliarden Euro eingenommen. Die Steuereinnahmen nach GewSt machen davon 42,4 Prozent (42,4 Mrd. Euro) aus, wobei allein die 103 kreisfreien Städte (ohne Stadtstaaten) von den 99,5 Milliarden Euro insgesamt 43,2 Milliarden Euro (43,6 Prozent) einnehmen – davon allein 20,6 Milliarden Euro nach GewSt (48,6 Prozent an der gesamten GewSt-Einnahme). Die Einnahmen aus dem Anteil an der Einkommenssteuer (37,8 Mrd. Euro), nach GrdSt A und B (12,7 Mrd. Euro) und dem Anteil an der Umsatzsteuer (6,8 Mrd. Euro) fallen hingegen etwas geringer aus (vgl. Abbildung 4). Die kreisfreien Städte Deutschlands generieren durchschnittlich etwas geringere Einnahmen aus dem Einkommenssteueranteil (35,9 Prozent). Zwar ist der Anteil der GrdSt A bundesweit mit 0,4 Milliarden Euro eher marginal, allerdings wird dieser in der Hauptsache von den vielen kreisangehörigen Kommunen des ländlichen Raums eingenommen. 427
428
Lars Holtkamp und Benjamin Garske
120 100 80 2,8 60
20 0
Abb. 4
3,2
3,5 3,2
3,3
23,8
23,0
2,6
3,6
3,7
4,3
32,4
33,5
5,5
6,8
36,3
37,8
26,7
28,6
30,4
24,7
35
24,8
32,8
33,2
42,2
32,3
40,1
30,6
38,2
26,8
9,6
9,7
10,0
10,4
10,7
11,0
11,3
11,8
12,2
12,5
12,7
2008
2009
2010
2011
2012
2013
2014
2015
2016
2017
2018
23,0
25,7
23,3
28,3
30,1
31,5
9,1
9,3
9,5
2005
2006
2007
20,2 40
2,9
3,5
4,4
18,5
Grundsteuer (A und B)
Gewerbesteuer (abzgl. Gewerbesteuerumlage)
Einkommenssteueranteil
Umsatzsteueranteil
Kommunale Steuereinnahmen 2005‒2018
Quelle: Destatis 2019d; eigene Darstellung (nur Flächenländer); in Mrd. Euro.
In langfristiger Perspektive zeigt sich indes die andere Seite der Medaille: die hohe Abhängigkeit der Einnahmeart zur Konjunktur. Zwar erhöhten sich die jährlichen Einnahmen aus allen vier Steuerarten im Zeitverlauf seit 2008 um 38,1 Milliarden Euro (62 Prozent) auf insgesamt 99,5 Milliarden Euro deutlich, was sicherlich zur Stabilisierung der Kommunalfinanzen beitrug, doch steht dies auf dem Fundament der aktuellen konjunkturellen Dynamik, in der zu Beginn die Finanzkrise klar eine Zäsur darstellte. Rückblickend kann der Einbruch der (Real-)Steuereinnahmen in 2008/09 von 31,5 auf 24,8 Milliarden Euro daher vor allem den Einnahmeverlusten nach GewSt zugerechnet werden. Hinzu kommt, dass die Einnahmen nach Einkommenssteueranteil nicht minder auf eine gute konjunkturelle Entwicklung zurückgeführt werden können. Kritik an der Einnahmeart zielt daher vornehmlich auf die Konjunkturanfälligkeit (Bertelsmann Stiftung 2019, Teil B). Zum Zeitpunkt der Texterstellung ist bspw. noch nicht abzusehen, inwieweit die seit März 2020 weltweit grassierende Coronakrise die Haushaltssituation der Kommunen durch einen zu befürchtenden Konjunktureinbruch nachhaltig einengen wird. Es scheint sich abzuzeichnen, dass die Entwicklung die Erträge der einzelnen Steuerarten stark reduzieren kann. Kommunale Haushaltsverschuldung Der Analyse der Kommunalverschuldung wird zunächst die Analyse des Finanzierungssaldos vorangestellt, bevor die tiefgreifende Kassenkreditproblematik der Kommunen Nordrhein-Westfalens vor dem Hintergrund der Teilnahme am sogenannten Stärkungspakt Stadtfinanzen abschließend beleuchtet wird.
Am Wendepunkt angekommen?
429
Kommunaler Finanzierungssaldo In allen Finanzstatistiken taucht zunächst der (kommunale) Finanzierungssaldo als Indikator zur Beurteilung der Finanzsituation auf. Er stellt die Differenz aus (bereinigten) Einnahmen und Ausgaben dar. Ist der Finanzierungssaldo positiv, sind die Einnahmen höher als die Ausgaben (sog. Finanzierungsüberschuss) und andersherum (Finanzierungsdefizit). Zugleich zeigt der Finanzierungssaldo die mögliche Deckungslücke, die es bspw. per Kreditaufnahme zu schließen gilt. In langfristiger Perspektive markiert zunächst die globale Banken- und Finanzkrise 2008 einen Wendepunkt. Konnte in den Folgejahren der Finanzkrise 2009 bis 2011 noch ein Fehlbetrag von insgesamt 15,3 Milliarden Euro (zu einstmals 8,4 Mrd. Überschuss in 2008) beobachtet werden, zeigt sich ab 2012 ein kontinuierlich, stark steigender Finanzierungsüberschuss von insgesamt 30,8 Milliarden Euro in den Jahren 2012 bis 2018 (im Kernhaushalt); mit der Einschränkung, dass sich dieser zuletzt um 1,05 Milliarden Euro leicht reduzierte. Die kommunale Finanzsituation hat sich bundesweit also durchaus positiv entwickelt (vgl. Abbildung 5).
15 10,70 10
9,78
8,35 5,38
5
2,57
0
-0,97
-5
-2,88
9,73
8,68
3,51 1,49
4,72
1,29 3,15
0,91
1,32 -0,56
-7,47 -6,88
-10 2008
2009
2010
2011
2012
2013
Finanzierungssaldo (Kernhaushalte)
Abb. 5
2014
2015
2016
2017
2018
Finanzierungssaldo (Kern- und Extrahaushalte)
Finanzierungssaldo Gemeinden und Gv.
Quellen: K: Bertelsmann Stiftung 2019, S. 18; KuE: Destatis (2019a); 2013 und 2014 revidierte Ergebnisse entnommen der Folgeveröffentlichung. Anm.: Bereinigte Einnahmen und Ausgaben; einschließlich Saldo der haushaltstechnischen Verrechnungen; Kern- und Extrahaushalte; ohne Stadtstaaten; in Mrd. Euro.
Hinzu kommt, dass der Finanzierungssaldo mittlerweile in allen Flächenbundesländern positiv ist; mit dem aktuell geringsten Finanzierungsüberschuss im Saarland (15,4 Euro 429
430
Lars Holtkamp und Benjamin Garske
je Einwohner*in) und dem höchsten in Sachsen-Anhalt (217,3 Euro je Einwohner*in), gefolgt von Thüringen (169,7 Euro je Einwohner*in), Baden-Württemberg (161 Euro je Einwohner*in) und Nordrhein-Westfalen (159,6 Euro je Einwohner*in). Der mittlere Finanzierungssaldo der Kommunen Nordrhein-Westfalens zeigt einen ähnlichen Verlauf wie der bundesweite. Im gesamten Zeitverlauf ist auch hier nach einem zunächst negativen Finanzierungssaldo (2011: -125,5 Euro je Einwohner*in; Flächenbundesländer: -34,8 Euro) ein nahezu stetig steigender Finanzüberschuss zu verzeichnen – nach kleineren Einbruch in 2014 (-86,4 Euro; Flächenbundesländer: -7,9 Euro). Im Zeitverlauf konnte ein Finanzierungsüberschuss von insgesamt 168,5 Euro je Einwohner*in im Jahr 2017 (Flächenbundesländer: 129,2 Euro) erreicht werden, ehe auch in Nordrhein-Westfalen ein leichter Rückgang einsetzte, dessen Ursache es sicherlich an anderer Stelle noch näher zu untersuchen gilt (Destatis 2019a). Kommunale Pro-Kopf-Verschuldung Bundesweit hatten die Kommunen zum Stichtag 31. Dezember 2018 Verbindlichkeiten in Höhe von insgesamt 129,7 Milliarden Euro beim nicht-öffentlichen Bereich (Kern- und Extrahaushalte). Das entspricht einem Verschuldungsniveau von 1.692 Euro je Einwohner*in (2011: 1.735 Euro), im Verhältnis 70 Prozent Kreditmarktschulden (zur Finanzierung investiver Zwecke) zu 30 Prozent Kassenkrediten (zur Überbrückung von Liquiditätsengpässen). Insgesamt konnten – nach stetiger Zunahme aller kommunalen Verbindlichkeiten (2011: 1.735 Euro je Einwohner*in; 2016: 1.904 Euro) – zum Stichtag 31. Dezember 2018 insgesamt 35,2 Milliarden Euro (465 Euro je Einwohner*in) nur an Kassenkrediten beim nicht-öffentlichen Bereich nachgewiesen werden. Die Verbindlichkeiten allein an Kassenkrediten haben sich gegenüber 2017 damit zuletzt um ganze 16,7 Prozent (7,1 Mrd. Euro) verringert.2 Die Verringerung der gesamten Schulden aller Kommunen kann im Jahr 2018 somit vor allem auf die Tilgung der Kassenkredite zurückgeführt werden, und hier vor allem auf die Tilgung bzw. Ablöse der meisten Kassenkredite hessischer Kommunen durch das Sondervermögen der Wirtschafts- und Infrastrukturbank, der sogenannten Hessenkasse in Höhe von 4,9 Milliarden Euro (HessenkasseG vom 25. April 2018), was den bundesweiten Vergleich mithin etwas verzerrt (Bertelsmann Stiftung 2019). Auch in der Verschuldungsfrage ist eine hohe regionale Disparität zu beobachten – mit einem eindeutigen Ost-West-Gefälle der Kassenkredite. Betrug im Jahr 2018 die Höhe der Kassenkredite in Westdeutschland 517 Euro je Einwohner*in (28 Prozent an der kommunalen Gesamtverschuldung), waren es in Ostdeutschland lediglich 193 Euro je Einwohner*in
2
Inwieweit Kredite zur Liquiditätssicherung (Kassenkredite) noch als hinreichender Schuldenindikator gelten, ist durchaus umstritten. Einerseits sind kommunale Entschuldungsprogramme zu nennen. Die Entwicklung der Kredite zur Liquiditätssicherung ist seither durch Effekte der Entschuldungsund Stabilisierungsprogramme verzerrt. Andererseits darf die Vermutung geäußert werden, dass insbesondere in Zeiten des Niedrigzinsniveaus die Attraktivität eines solchen Finanzierungsinstruments merklich steigt (Bertelsmann Stiftung 2015). Wegen der hohen Vergleichbarkeit wird auch hier das Gros der Verschuldung mittels Kassenkreditverschuldung nachgezeichnet.
Am Wendepunkt angekommen?
431
und somit nur knapp ein Drittel des Verschuldungsniveaus Westdeutschlands. Der Anteil der Kassenkredite an allen Schulden auf kommunaler Ebene betrug insgesamt 21 Prozent (Bertelsmann Stiftung 2019). Das kommunale Haushaltsrecht kannte schon immer eine Schuldenbremse für laufende Ausgaben, die nicht durch die laufenden Ausgaben gedeckt werden. Derartige Lücken dürfen aber nur kurzfristig durch die sogenannten Kassenkredite bzw. Kredite zur Liquiditätssicherung überbrückt werden. Bei strenger Auslegung sind dauerhafte Defizite also unrechtmäßig (Heinemann et al. 2009). Nichtsdestotrotz rufen die Kommunen die Kassenkredite stark unterschiedlich ab. 85 Prozent aller Kassenkredite aller Kommunen entfallen dabei auf die Länder Nordrhein-Westfalen (22,6 Mrd. Euro), gefolgt von Rheinland-Pfalz (5,3 Mrd. Euro) und dem Saarland (1,9 Mrd. Euro). Hinsichtlich der Pro-Kopf-Kassenkreditverschuldung zeigt vor allem das Saarland die deutlich höchste Verschuldung (1.883 Euro je Einwohner*in), gefolgt von Rheinland-Pfalz (1.302 Euro) und Nordrhein-Westfalen (1.263 Euro). Die Flächenbundesländer mit der geringsten Pro-Kopf-Kassenkreditverschuldung sind traditionell Bayern (13 Euro), Baden-Württemberg (22 Euro) und Sachsen (23 Euro; Destatis 2019c). Nordrhein-Westfalen zählt zu den Flächenbundesländern mit hohem Problemdruck. Im Ergebnis war jede*r Einwohner*in des Landes Nordrhein-Westfalen mit insgesamt 3.402 Euro verschuldet. Die mittlere Pro-Kopf-Verschuldung sank zuletzt um 1,3 Prozent (2017: 3.446 Euro). Allein die Verbindlichkeiten der kommunalen Kernhaushalte betrugen im Jahr 2018 48 Milliarden Euro, davon 23 Milliarden Euro Kassenkredite, 23 Milliarden Euro mittel- und langfristige Kredite sowie 1,9 Milliarden Euro Wertpapierschulden. Letztlich reduzierte sich aber im Vergleich zu 2017 auch in Nordrhein-Westfalen die Höhe der Kassenkredite um 3,6 Prozent (vgl. Tabelle 2), wobei es allerdings im Vergleich zu 2011 keine Senkung der Kassenkredite zu verzeichnen gibt.
Tab. 2
Kommunale Kassenkredite beim nicht-öffentlichen Bereich
Bundesweit** NRW
2011
2012
2013
2014
2015
2016
2017
2018
590
635
634
640
631
612
558
465
1.231
1.337
1.428
1.479
1.474
1.473
1.321
1.263
Quelle: Destatis 2019b; je Einwohner*in in Euro; **nur Flächenländer
Die Verteilung innerhalb des Landes weicht allerdings unterschiedlich stark voneinander ab. Eklatant erscheint hier vor allem die Lage der Mitgliedstädte der Stufe 1 (verpflichtende Teilnahme) oder der Stufe 2 (freiwillige Teilnahme) des Stärkungspakts Stadtfinanzen (vgl. nächsten Abschnitt). Die Höhe der kommunalen Kassenkredite in Nordrhein-Westfalen beträgt in 2018 1.263 Euro je Einwohner*in (zu 464 Euro je Einwohner*in bundesweit); im gesamten Zeitverlauf
431
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Lars Holtkamp und Benjamin Garske
konstant weit mehr als doppelt so hohe Verbindlichkeiten an Kassenkrediten wie der Durchschnitt aller Flächenbundesländer (2011: 1.231 zu 590 Euro je Einwohner*in; vgl. Tabelle 2). Abbildung 6 zeigt die Verschuldung innerhalb des Flächenbundeslandes NordrheinWestfalen im Detail. Allein in den kreisfreien Städten, in denen immerhin ca. 40 Prozent der gesamten Bevölkerung Nordrhein-Westfalens leben (7,1 Mio. Einwohner*innen), beträgt die Höhe der Kassenkreditverschuldung durchschnittlich 2.086 Euro je Einwohner*in (2011: 2.131 Euro je Einwohner*in). Die Pro-Kopf-Kassenkreditverschuldung der kreisangehörigen Städte Nordrhein-Westfalens ist im Mittel niedriger als die der kreisfreien Städte. Die Höhe der Kassenkredite beträgt hier vergleichsweise geringe 734 Euro je Einwohner*in (2011: 612 Euro je Einwohner*in). Die fünf Städte mit der höchsten Pro-Kopf-Kassenkreditverschuldung in 2018 sind Oberhausen (7.491 Euro je Einwohner*in), Mühlheim an der Ruhr (6.682), Hagen (4.809), Herten (4.517) und die mit weniger als 5.000 Einwohner*innen zweitkleinste Gemeinde Heimbach (4.439). Die kreisfreien Städte Oberhausen und Hagen sind zugleich pflichtige Mitgliedskommunen der Stufe 1 des Stärkungspaktes Stadtfinanzen, Herten der Stufe 2 und Mühlheim an der Ruhr der Stufe 3 (vgl. nächsten Abschnitt). Vier der fünf Städte sind zentraler Teil der ehemaligen Montanregion und Mitglied des Regionalverbandes Ruhr. Bemerkenswert ist, dass 92,5 Prozent (N = 49) aller Städte und Gemeinden des Regionalverbandes Ruhr (RVR) Kassenkredite zur Liquiditätssicherung in Anspruch genommen haben. Der RVR ist als höherer Kommunalverband die regionale Kammer für insgesamt elf kreisfreie Städte, vier Kreise und knapp 5,1 Mio. Einwohner*innen in der Metropole Ruhr im Zentrum Nordrhein-Westfalens. Als Regionalplanungsbehörde ist der RVR den Bezirksregierungen des Landes Nordrhein-Westfalen gleichgestellt und mitunter für die Regionalplanung zuständig. Außerhalb des Regionalverbandes haben hingegen nur 72 Prozent (N = 247) aller Städte und Gemeinden Kassenkredite zur Liquiditätssicherung in Anspruch genommen. Kumuliert haben die Städte und Gemeinden des RVR im Jahr 2018 Kassenkredite in Höhe von 12,97 Milliarden Euro angehäuft (2.539 Euro je Einwohner*in), die übrigen Städte und Gemeinden hingegen in Höhe von nur 9,86 Milliarden Euro (770 Euro), was einem Anteil von 56,8 Prozent der Ruhrgebietsstädte am gesamten Kassenkreditaufkommen Nordrhein-Westfalens entspricht. Auch dieses Verhältnis hat sich im Zeitverlauf nur geringfügig verändert (vgl. Abschnitt „Fazit und Ausblick“). Erwartbar sind knapp mehr als 50 Prozent der Städte des RVR (N = 27) Mitgliedskommunen des sogenannten Stärkungspaktes Stadtfinanzen. Knapp ein Viertel dieser Kommunen ist es gelungen, ihre Kassenkredite leicht abzubauen. Nur drei Kommunen im RVR konnten wiederum außerhalb des Stärkungspaktes ihre Kassenkredite im Zeitverlauf abbauen. Insgesamt gelang es in Nordrhein-Westfalen 112 Kommunen (28,3 Prozent), Kassenkredite zwischen den Jahren 2011 und 2018 zu reduzieren; 21 davon sogar auf null. Drei Viertel aller Kommunen Nordrhein-Westfalens mussten in 2018 Kassenkredite zur Liquiditätssicherung in Anspruch nehmen, darunter mit Ausnahme der Landeshauptstadt Düsseldorf alle kreisfreien Städte – also nur ein Viertel aller Kommunen keine. Im Zeitverlauf hat sich dieses Verhältnis nicht verändert (vgl. Abbildung 6).
Am Wendepunkt angekommen?
Abb. 6
433
Kommunale Kassenkredite in NRW 2011 und 2018
Quelle: Eigene Darstellung; Daten entnommen aus IT.NRW: Landesdatenbank, Stand 31.12.2011 und 31.12.2018; Karte: Verwaltungsgebiete 1:250 000 (Ebenen), Stand 01.01. (VG250 01.01.); © GeoBasis-DE/Bundesamt für Kartographie und Geodäsie BKG (Jahr des Datenbezugs: 2020) 433
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Stärkungspakt Stadtfinanzen Ausgehend von der skizzierten Entwicklung der in Teilen ungebremsten Kommunalverschuldung in NRW stellt das Land Nordrhein-Westfalen zwischen 2011 und 2022 in drei Stufen 64 Kommunen mit besonders prekärer Haushaltslage Konsolidierungshilfen in Höhe von insgesamt 5,3 Milliarden Euro zur Verfügung (Stärkungspaktgesetz § 1, S. 1), um ihnen den Haushaltsausgleich nachhaltig wieder zu ermöglichen. Die Zahlungsvoraussetzung ist die strikte Einhaltung des Haushaltssanierungsplans bzw. des Sanierungskurses, teils unter Mithilfe der Gemeindeprüfungsanstalt (GPA NRW). Empfängerkommunen müssen also einen klaren Sanierungskurs einschlagen. Nur in NRW wurde aber der sogenannte
Abb. 7
Mitgliedskommunen Stärkungspakt Stadtfinanzen
Quelle: Eigene Darstellung; Karte: Verwaltungsgebiete 1:250 000 (Ebenen), Stand 01.01. (VG250 01.01.); © GeoBasis-DE/Bundesamt für Kartographie und Geodäsie BKG (Jahr des Datenbezugs: 2020)
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435
Staatskommissar direkt in das Landeshilfsprogramm mit aufgenommen und mit ihm mithin weitreichende Einschnitte in die kommunale Selbstverwaltung.3 In der ersten Stufe wurden sodann 34 Kommunen mit besonders dringlicher Haushaltsnotlage verpflichtend berücksichtigt. Weitere 27 Kommunen fanden mit der zweiten Stufe, als freiwillige Teilnahme, Berücksichtigung. Drei weitere Kommunen in 2017 wiederum mit der dritten Stufe des Konsolidierungspaktes. In beinahe allen Fällen handelt es sich um Kommunen, die nicht mehr in der Lage waren, der Aufsichtsbehörde genehmigungsfähige Haushaltssicherungskonzepte vorzulegen. Wie oben skizziert, sind mehr als 50 Prozent der Städte des RVR (N = 27) Mitgliedskommunen des Stärkungspaktes Stadtfinanzen. Mit anderen Worten: Von den 64 berücksichtigten Kommunen sind 42 Prozent der Kommunen aus der Metropolregion Ruhrgebiet, darunter 13 kreisfreie Städte (RVR-Gebiet: 8; vgl. Abbildung 7). Analyse Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses steht die These, ob die Mitgliedschaft im Stärkungspakt Stadtfinanzen vor allem für die Kommunen der Metropolregion Ruhr über die Anpassung der Realsteuerhebesätze eventuell teuer erkauft wurde. Zur Veranschaulichung wird daher zunächst die mittlere Höhe der Kassenkredite je Einwohner*in einer Stadt in Abhängigkeit zur Mitgliedschaft im Stärkungspakt Stadtfinanzen gegenübergestellt. Hier zeigt sich wenig überraschend, dass bei gegebener Mitgliedschaft die Höhe der Kassenkredite je Einwohner*in im Jahr 2018 mit 2.707,8 Euro (2011: 2.824,1 Euro) sehr deutlich, also um das Vierfache über denen der übrigen Kommunen des Landes Nordrhein-Westfalen liegt (2018: 661,6 Euro; 2011: 526,6 Euro). Zugleich ist zu beobachten, dass in der Kassenkreditverschuldung die Schere zwischen den Kommunen im Stärkungspakt Stadtfinanzen und allen übrigen Kommunen des Landes sich etwas schloss. Während sich die Höhe der Kassenkredite der Mitgliedskommunen reduzierte, erhöhte sie sich bei allen übrigen Kommunen aber leicht (vgl. Tabelle 3).
Tab. 3
Kassenkredite in NRW (Mittelwert)
Mitglied Stärkungspakt Stadtfinanzen? Ja Nein
Kassenkredite 2011** (in Euro je Einwohner*in) 2.824,1 525,6
Kassenkredite 2018** (in Euro je Einwohner*in) 2.707,8 661,6
Quelle: Eigene Erhebung, Mittelwert ** Differenz der Mittelwerte ist auf dem Niveau (p < .05) hoch signifikant. Mittelwertvergleich kann somit gegen den Zufall abgesichert werden.
3
Eingesetzt wurde der Staatskommissar letztlich in vier der 34 Kommunen der Stufe 1 (verpflichtende Teilnahme): Stadt Nideggen, Stadt Altena, Stadt Haltern und Stadt Herten. In den meisten Fällen wurde – wie es zu erwarten war – eine zeitlich gestaffelte Erhöhung der GrdSt B durchgesetzt (Holtkamp 2012). 435
436
Lars Holtkamp und Benjamin Garske
Als zweiter Aspekt der Analyse wird nun die mittlere Höhe der GrdSt B- und GewStHebesätze in Abhängigkeit zur Mitgliedschaft im Stärkungspakt Stadtfinanzen gegenübergestellt. In beiden Fällen – sowohl GrdSt B als auch GewSt – kann zwar unabhängig der Mitgliedschaft ein Anstieg im Zeitverlauf beobachtet werden, allerdings zeigt sich auch, dass bei gegebener Mitgliedschaft die Erhöhung der Steuerhebesätze, insbesondere der GrdSt B wesentlich sprunghafter vonstatten ging, als es bei den übrigen Kommunen der Fall war (vgl. Tabelle 4).
Tab. 4
Hebesätze in NRW (Mittelwert)
Mitglied Stärkungspakt Stadtfinanzen? Ja Nein
GewSt 2011** (in Euro je Einwohner*in) 447,2 419,3
GewSt 2018** (in Euro je Einwohner*in) 486,0 443,3
GrdSt B 2011** (in Euro je Einwohner*in) 455,8 408,1
GrdSt B 2018** (in Euro je Einwohner*in) 700,7 508,5
Quelle: Eigene Erhebung, Mittelwert ** Differenz der Mittelwerte ist auf dem Niveau (p < .05) hoch signifikant. Mittelwertvergleich kann somit gegen den Zufall abgesichert werden.
Insgesamt kann also beobachtet werden, dass im Zuge der schlechten Kassenkreditlage einzelne Kommunen insbesondere im Ruhrgebiet eine Erhöhung der Realsteuerhebesätze zum Ausgleich des negativen Finanzierungssaldos vollzogen haben. Es lässt sich ebenso gut beobachten, dass die Kassenkreditverschuldung und die Höhe der Realsteuerhebesätze miteinander korrespondieren (Korrelationskoeffizient .58). 82 Prozent der 396 Kommunen in Nordrhein-Westfalen erhöhten seit 2013 mindestens einmal ihre Hebesätze (Flächenbundesländer: 58 Prozent). Nur in jeder hundertsten Kommune in Deutschland wurde bspw. der Hebesatz herabgesetzt. Insbesondere in Nordrhein-Westfalen kann also durchaus bevorzugt eine Anpassung der Realsteuerhebesätze im Lichte höherer Verbindlichkeiten verzeichnet werden. Es erscheint sehr plausibel, dass hoch verschuldete Kommunen in ihrer Not zuvorderst die Stellschrauben der Einnahmeseite bedienen, bzw. die Kommunen des Stärkungspaktes Stadtfinanzen primär zur (teils merklichen) Erhöhung ihrer Hebesätze bewogen wurden. Der positive Zusammenhang zwischen Mitgliedsstatus Stärkungspakt Stadtfinanzen (1 = ja; 0 = nein) und Hebesatzhöhe GrdSt B einerseits (Korrelationskoeffizient: .563**) und Pro-Kopf-Kassenkreditverschuldung andererseits (Korrelationskoeffizient: .557**) ist jeweils statistisch signifikant.
Am Wendepunkt angekommen?
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Fazit und Ausblick Die Haushaltsverschuldung vieler Kommunen Nordrhein-Westfalens übersteigt die Verschuldung anderer Kommunen anderer Länder um ein Vielfaches. Insbesondere den 64 Kommunen des Stärkungspaktes Stadtfinanzen ist gemein, dass sie nicht in der Lage waren, der Aufsichtsbehörde wiederholt ein genehmigungsfähiges Haushaltssicherungskonzept vorzulegen. Angesichts der hohen Verbindlichkeiten sank vielerorts die Motivation, unvermeidliche und harte Einschnitte vollziehen zu wollen (sog. Vergeblichkeitsfalle). Einerseits glaubten Akteure nicht mehr an einen Haushaltsausgleich aus eigener Kraft, selbst wenn das Zahlenwerk eigentlich eine andere Sprache gesprochen hätte (sog. psychologische Vergeblichkeitsfalle). Andererseits kann eine erdrückend hohe Zinslast auch ganz real dazu führen, dass jede Anstrengung ins Leere läuft, da die Handlungsspielräume bereits in eklatanter Weise eingeengt sind (Stichwort Erblast), der Haushaltsausgleich insgesamt nicht mehr möglich ist und selbst eklatante Einschnitte wirkungslos verpuffen (sog. technische Vergeblichkeitsfalle). Die Haushaltsnotlage aktiviert letztlich die Kommunalaufsicht, und die wiederum erhöht den Konsolidierungsdruck derart stark, dass lokale Akteure mitunter resignieren. Die Anwendung probater Methoden in Haushaltskonsolidierungsprozessen in unterschiedlichen Kommunen („best practice“) gestaltet sich per se als besonders schwierig. Zu unterschiedlich sind die einzelnen Kommunen, ihre (Infrastruktur-)Ausstattung, Kontextfaktoren, Altschuldenstand, Leistungserbringung oder Struktur, als dass ein und dasselbe Mittel (bspw. Hebesatzanpassung) in unterschiedlichen Kommunen zu unterschiedlichen Zeitpunkten funktionieren kann. Empirisch geht die (verpflichtende) Mitgliedschaft im Stärkungspakt Stadtfinanzen aber auch nicht immer mit einer ausgewogenen Haushaltskonsolidierung einher. Weit mehr dürfte die aktuelle Höhe der Kassenkreditverschuldung insbesondere der Kommunen des Regionalverbandes Ruhr Zweifel säen, ob der sogenannte Wendepunkt im Jahr 2017 tatsächlich konstatiert werden kann oder letztlich doch nur etwas Zeit gewonnen wurde (Rappen 2017). Vielerorts gehen hohe Verbindlichkeiten mit einer merklichen Hebesatzanpassung einher. Vor allem die Mitgliedskommunen des Stärkungspaktes Stadtfinanzen bedienen zuvorderst die Stellschrauben dieser Einnahmeart, bzw. wurden primär zur Erhöhung der Hebesätze bewogen, ohne Eigenkapital aufzubauen, geschweige denn die Altschuldenproblematik anzutasten. Starke Hebesatzanpassungen prägen dann wiederum den Standortwettbewerb und dieser die zukünftigen Einnahmen (Büttner 2000). Insofern kann auch die These, eine Kommune erkaufe sich die Mitgliedschaft im Stärkungspakt Stadtfinanzen teuer, nicht vollständig zurückgewiesen werden. Zu fragil erscheint der gewählte Konsolidierungspfad; zu anfällig ist er für externe Schocks (bspw. Konjunktureinbruch, steigendes Zinsniveau). Die zuletzt etwas geringere Kassenkreditverschuldung der Kommunen im Stärkungspakt Stadtfinanzen sollte also nicht gleich als Indiz missverstanden werden, der Haushaltskonsolidierungspfad müsse top-down beschritten werden – insbesondere nicht, wenn allein die Hebesatzanpassung vollzogen wird. Weil zudem die Altschuldenproblematik 437
438
Lars Holtkamp und Benjamin Garske
in Nordrhein-Westfalen noch vollkommen ungelöst ist, schwirren Faktoren wie Zinsänderungsrisiko und Konjunkturabhängigkeit ungebrochen durch die kommunale Welt. Eventuell hat sich das günstige Zeitfenster (positive konjunkturelle Entwicklung, häufige Thematisierung der Kassenkreditproblematik auf Landes- und Bundesebene etc.) für Hilfen zum Abbau der über Jahrzehnte aufgelaufenen Kassenkredite bereits geschlossen, zumal das Thema, wie bspw. durch die weltweit grassierende Coronakrise, akut in den Hintergrund treten könnte und Finanzmittel zur Übernahme der kommunalen Altschulden als weniger wichtig angesehen werden könnten, als Schutzschirme für aktuelle drängende Defizite von Unternehmen, Vereinen und Kommunen zu finanzieren.
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Am Wendepunkt angekommen?
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Teil 5 Stadt
1970 bis 2020: Ein unvollständiger Bilderbogen verpasster Chancen sozialer Wohnungspolitik Klaus Bussfeld 1970 bis 2020: Verpasste Chancen sozialer Wohnungspolitik
Viel einfacher lassen sich Essentials für politisches Handeln kaum finden. Denn fragt man ganz banal, worauf ein Mensch überhaupt nicht verzichten könne, kommt ein jeder ohne übertriebene intellektuelle Kraftanstrengung zum richtigen Ergebnis: auf Essen, Trinken und Schlaf. Und mit dieser Antwort definiert sich ein wohl unstrittiger Auftrag der Politik. Denn mehr Grundbedürfnis geht kaum. Wenn wir Essen und Trinken vertrauensvoll anderen Politikbereichen als Kernbereich politischer Daseinsvorsorge überlassen und feststellen, dass der Mensch schnell gelernt hat, ein Dach über seine in den Boden gekratzte Schlafmulde zu bauen, um bei Regen nicht so nass zu werden, und, nur ein wenig später, Wände zu bauen, um sich und seine Angehörigen gegen Tiere und andere Eindringlinge zu schützen, dann wird aus dem Grundbedürfnis Schlafen das Grundbedürfnis Wohnen. Man sollte also meinen, dass es zu den Selbstverständlichkeiten eines jeden entwickelten Gemeinwesens gehört, mit geeigneten Maßnahmen und Instrumenten seinen Mitgliedern Wohnen zu angemessenen Bedingungen zu ermöglichen. Politik für die Menschen wäre also immer und sehr prioritär auch Wohnungspolitik. Betrachten wir die letzten fünfzig Jahre bundesrepublikanischer und nordrhein-westfälischer Politik, dann stellen wir jedoch erstaunt und ernüchtert fest: Dem ist nicht so! Wieso scheuen Politiker aller Parteien nachhaltiges Engagement in diesem Politikfeld? Und das, obwohl erfolgreiches wohnungspolitisches Agieren große Anerkennung finden und durchaus karrierefördernd sein konnte. Nur ein Beispiel dafür sei hier genannt: Andreas Urschlechter, ein eigenwilliger und recht selbstbewusster Kommunalpolitiker aus Nürnberg, tat sich zunächst als stellvertretender Leiter des Wiederaufbaureferats in seiner stark kriegszerstörten Stadt hervor, wurde 1957 vor allem deshalb mit 38 Jahren Oberbürgermeister von Nürnberg und damit jüngstes Stadtoberhaupt in der Bundesrepublik. Und als er 1987 mit 68 Jahren aus dem Amt schied, war er mit einer Amtszeit von 30 Jahren der am längsten amtierende Oberbürgermeister Deutschlands. Ausschlaggebend für diese beispiellose Karriere waren Urschlechters herausragende Leistungen beim Wiederaufbau der Stadt nach dem Krieg sowie seine systematische und engagierte Förderung des sozialen Wohnungsbaus.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_27
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Wo also liegen die Ursachen dafür, dass mit Ausnahme der Wiederaufbaujahre nach dem zweiten Weltkrieg eine langfristig angelegte, mit überprüfbaren Zielvorgaben geplante rationale Wohnungspolitik in der Bundesrepublik keine Chance hatte? Ließe sich diese Frage einigermaßen plausibel beantworten, läge darin ja auch zugleich der Ansatz für eine Revision des bisherigen wohnungspolitischen Agierens. Einfache Erklärungsmuster zu finden, ist angesichts der Komplexität dieses weitgefächerten Politikfelds nicht möglich. Deshalb sollen im Folgenden einige wohnungspolitische Fehlentscheidungen schlaglichtartig beleuchtet und Motive und Gründe dafür aufgezeigt werden.
1976: Bodenrechtsreform gescheitert – Novelliertes Bundesbaugesetzes ohne Planungswertausgleich Das sicherlich herausragende Alleinstellungsmerkmal von Wohnungs- und Städtebaupolitik ist die Endlichkeit der vorhandenen Flächen. Boden lässt sich nicht produzieren. Boden ist nicht vermehrbar. Neuer Baugrund entsteht nur durch Umwandlung zuvor anders genutzter Flächen oder durch Abriss im Bestand. Nutzungskonflikte zwischen Wohnen einerseits und Industrie, Landwirtschaft, Umwelt, Infrastruktur andererseits sind unvermeidbar. Das nicht reproduzierbare Produkt Boden dem unkontrollierten Verwertungsprozess des Marktes zu entziehen und einer öffentlich verantworteten Regulierung zu unterwerfen, war deshalb Ziel des Referentenentwurfs des damaligen Bundesbauministers Jochen Vogel zur Novellierung des Bundesbaugesetzes. Er folgte damit einem bereits 1967 vom Bundesverfassungsgericht grammatikalisch etwas holperig, aber substanziell unmissverständlich formulierten Auftrag, indem es feststellt: „Die Tatsache, dass der Grund und Boden unvermehrbar und unentbehrlich ist, verbietet es, seine Nutzung dem unübersehbaren Spiel der freien Kräfte und dem Belieben des einzelnen vollständig zu überlassen; eine gerechte Rechts- und Gesellschaftsordnung zwingt vielmehr dazu, die Interessen der Allgemeinheit beim Boden in weit stärkerem Maße zur Geltung zu bringen als bei anderen Vermögensgütern.“ (Bundestag 2019)
Obwohl das Bundesverfassungsgericht keineswegs umstürzlerischer Tendenzen verdächtigt werden konnte, hatte sich die deutsche Politik dem von den Verfassungsrichtern postulierten Handlungsauftrag bisher äußerst erfolgreich verweigert. Überproportional steigende Boden- sowie in der Folge Kauf- und Mietpreise für Wohnungen und Häuser in der ganzen Republik und geradezu explodierende Preise in den prosperierenden Ballungsräumen waren die Folge. Im Jahr 1972 legte der damalige Bundesbauminister Jochen Vogel mit dem Entwurf für eine Novelle zum Bundesbaugesetz ein schlüssiges Gesamtkonzept für eine Bodenrechtsreform vor, die unter anderem mit Elementen wie Planungswertausgleich, Baugebot und Vorkaufsrecht vor allem den Kommunen helfen sollte, die Vorgabe des Verfassungsgerichts umzusetzen, zu einer „gerechten Rechts- und Gesellschaftsordnung“ zu kommen. Schon
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in den mühseligen Ressortabstimmungen mit dem Koalitionspartner FDP wurde Vogels Entwurf deutlich zurückgestutzt. Die schließlich 1976 vom Bundesrat verabschiedete Fassung verzichtete vollständig auf Druck der Mehrheit der unionsregierten Länder auf den Planungswertausgleich und viele andere wesentliche Elemente der von Vogel ursprünglich gewollten „Bodenrechtsreform“. Sucht man nach Erklärungen für das Scheitern der Reform, fällt das langwierige zähe Verfahren auf, das der Referentenentwurf durchlief. Vom Beginn der Ressortabstimmung 1972 bis zur Gesetzesverabschiedung 1976 vergingen vier Jahre, in denen in einer Art permanentem Kleinkrieg auf der Zeitachse von den unterschiedlichsten Akteuren Stück für Stück aus dem Gesamtkonzept herausgebrochen und seine Durchschlagskraft damit entscheidend geschwächt wurde. Trotz einer durchaus unterstützenden Beschlusslage in der Union, etwa auf dem CSU-Parteitag von 1973, auf dem ebenfalls der Planungswertausgleich gefordert wurde, entzog sich der Stoff wegen seiner Fachlichkeit weitgehend dem öffentlichkeitswirksamen politischen Diskurs und fand stattdessen als Auseinandersetzung von Verbänden, Juristen, Steuerspezialisten und Lobbyisten jenseits der großen Schlagzeilen statt. Zweifelsohne verbietet es sich, Prognosen über die zukünftige Entwicklung nicht stattgefundener Ereignisse anzustellen. Dennoch sei hier die Frage erlaubt, wo wir heute ständen, wenn seinerzeit die Chance nicht verpasst worden wäre, Deutschland eine gerechte Bodenordnung zu geben. Vor diesem Hintergrund hört es sich etwas seltsam an, wenn man die aktuellen, auch von eher konservativen Kreisen lautstark erhobenen Forderungen des Jahres 2020 nach einem Stopp der Boden- und Mietpreise verfolgt.
1982–1987: Skandal Neue Heimat – Fast 400.000 Wohnungen stehen zum Verkauf Anders als das seit Jahren diskutierte Thema einer Bodenrechtsreform entwickelte sich der Skandal der gewerkschaftseigenen „Neuen Heimat“ ohne jede Vorankündigung gleichsam über Nacht. Im Jahr 1982 deckte das Nachrichtenmagazin Spiegel auf, dass sich Vorstände der Neuen Heimat, seinerzeit der größte Wohnungskonzern Europas mit über 400.000 Wohnungen, über Strohmänner und Scheingesellschaften auf Kosten der Mieter persönlich bereichert hatten und dass sich der überschuldete Gesamtkonzern in einer existenzbedrohenden dramatischen ökonomischen Krise befand (1982a, 1982b). Nach Entlassung des Vorstands sollte die Sanierung des Unternehmens über massenhafte Wohnungsverkäufe erfolgen. Mit einem Schlag drohten hunderttausende Sozialwohnungen an freie Investoren auf dem Markt verramscht zu werden und aus der Mietpreisbindung herauszufallen. In dieser Situation verabredeten sich Bund und Länder, eine gemeinsame Lösung zu erarbeiten. Dabei ging es weniger darum, die Neue Heimat zu retten. Wichtiger war den Beteiligten, die Mieter vor Vertreibung zu schützen und zugleich die Sozialwohnungen der Neuen Heimat dauerhaft in das Eigentum von gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften 445
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der Länder und Kommunen zu überführen. Angesichts der bundesweit zurückgehenden Zahl der Wohnungen mit Mietpreisbindung sollte der Wohnungsbestand der Neuen Heimat als korrigierendes Regulativ dem Wohnungsmarkt erhalten bleiben. Der damalige Bundesbauminister Schneider übernahm es, auf der Basis dieser grundlegenden Verständigung ein von Bund und Ländern gemeinsam getragenes Lösungskonzept zu erarbeiten. Doch bereits wenige Tage nach dem ersten Zusammentreffen einer hierfür gebildeten Arbeitsgruppe wurde deutlich, dass die Parteizentralen von CDU/CSU und FDP der Versuchung nicht widerstehen konnten, das Thema Neue Heimat als scharfe Waffe im Wahlkampf gegen SPD und Gewerkschaften einzusetzen. Bundesbauminister Schneider, eigentlich von einer gemeinsam getragenen Auffanglösung überzeugt, wurde zurückgepfiffen. Die Bundesregierung Kohl beließ es bei Erklärungen wie, die Neue Heimat sei allein ein Problem der Gewerkschaften und ein eklatantes Beispiel für die verfehlte sozialdemokratische Wohnungspolitik. Um die Lösung der Probleme sollten sich andere kümmern. Die Möglichkeiten, den Bestand an Sozialwohnungen zu sichern und sie zugleich mietpreispolitisch als Korrektiv im Markt einzusetzen, wurden vielleicht erkannt, aber aus parteipolitischen Erwägungen nicht genutzt. In Nordrhein-Westfalen gelang es schließlich im Dezember 1987, nach einem mühseligen und zähen mehrjährigen Verhandlungsmarathon mit der Neuen Heimat und mehr als hundert beteiligten Banken – unterbrochen durch den ominösen, später wieder rückabgewickelten Verkauf der Neuen Heimat an den Berliner Bäcker Schiesser –, gut 38.000 Wohnungen zum symbolischen Kaufpreis von 1,00 DM und mit einem Überbrückungsdarlehen von 285 Million DM durch die Landesentwicklungsgesellschaft NRW erwerben zu lassen. Bereits ein Jahr nach dem Erwerb schaffte das zuvor defizitäre Unternehmen den „Break Even“. Als LEG Wohnen wurde die ehemalige Neue Heimat NRW, von der nordrhein-westfälischen CDU- und FDP-Opposition als „Milliardengrab“ bezeichnet, wieder zu einem profitablen und erfolgreichen Akteur im Wohnungsmarkt. Einzelerfolge rationalen politischen Handelns, ertrotzt gegen wüste Polemik und erbitterten Widerstand aus dem konservativen Lager, konnten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Grundkonsens von CDU/CSU und SPD über die Notwendigkeit einer kontinuierlichen Förderung des sozialen Wohnungsbaus zerbrochen war.
1988/1989: Freisetzung von Fördermitteln für den sozialen Wohnungsbau durch Abbau von Steuersubventionen scheitert im SPD-Parteivorstand In den achtziger Jahren reichte ein kurzer Blick in die Zahlen der Statistikämter, um zu erkennen, dass die Zahl der Sozialwohnungen mit Mietpreisbindung in den Folgejahren dramatisch zurückgehen würde. Lag der Bestand an öffentlich geförderten Wohnungen in der Bundesrepublik 1985 noch bei über vier Millionen, beträgt er heute im größeren wiedervereinigten Deutschland nur noch eine Million. Dass diese Verknappung preiswerten
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Wohnraums die Mieten weiter nach oben treiben würde, lag auf der Hand. Auf Anregung des nordrhein-westfälischen Bauministers Christoph Zöpel koordinierte deshalb der wohnungspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Franz Müntefering, eine Arbeitsgruppe, die Möglichkeiten für eine Verdoppelung des damaligen Finanzierungsvolumens um rund fünf Milliarden DM auf zehn Milliarden DM für den Bau von Sozialwohnungen durch Streichung indirekter steuerlicher Förderung im Wohnungssektor aufzeigen sollte. Die Arbeit der Expertengruppe kam zu durchaus überraschenden Ergebnissen: Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte hatte sich die indirekte steuerliche Förderung, weitgehend unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit, kontinuierlich zu Steuerausfällen von geschätzt 35 Milliarden DM im Jahr hochgeschaukelt. Die Steuersystematik brachte es zudem mit sich, dass die Steuerentlastung progressiv verlief, dass also die Besserverdienenden mit hohen Steuerzahlungen am meisten von diesen Steuervergünstigungen profitierten. Die Arbeitsgruppe setzte sich zum Ziel, aus dem Dickicht der verschiedenen Subventionen diejenigen herauszufinden, die kaum oder wenig initiale Wirkungen, sondern hauptsächlich Mitnahmeeffekte erzielten und deren Streichung nicht zu negativen Folgen wie zu einem Rückgang der Investitionsbereitschaft oder zu sozialen Verwerfungen führen würden. Im Ergebnis hielt die Arbeitsgruppe es für möglich, zielgenau einige Subventionen abzuschaffen, wie zum Beispiel die steuerliche Förderung beim Eigentumserwerb im Bestand, die Abschreibungsmöglichkeiten für Werbungskosten bei Modernisierung oder die steuerliche Förderung der Finanzierungskosten beim Eigenheimbau, um Steuermehreinnahmen von rund fünf Milliarden DM zu erzielen, die für eine Verdoppelung der Förderung des sozialen Wohnungsbaus zur Verfügung stünden. Selbst wenn die sorgfältig geprüften Streichungsvorschläge wider Erwarten doch zu einem Rückgang der Bautätigkeit in den betroffenen Bereichen führen würde, wäre dies nach Auffassung der Arbeitsgruppe durchaus zu verkraften gewesen, weil die fünf Milliarden zusätzlicher Steuereinnahmen der Bau- und Wohnungswirtschaft ja in Form des Baus zusätzlicher Sozialwohnungen erhalten geblieben wären. Die Ergebnisse der Arbeitsgruppe wurden nicht veröffentlicht, weil sie zunächst als Grundsatzbeschluss vom SPD-Parteivorstand verabschiedet und erst anschließend als Forderungskatalog der SPD für eine neue Wohnungspolitik der Öffentlichkeit vorgestellt werden sollten. Für die Beteiligten durchaus überraschend, kam es dazu dann jedoch nicht! Darüber, ob und in welcher Form sich der SPD-Parteivorstand mit den Vorschlägen der Arbeitsgruppe befasst hatte, wurden die Mitglieder der Arbeitsgruppe im Unklaren gelassen. Sie durften sich eigene Erklärungen für das geheimnisvolle Verschwinden der Expertise suchen. War es vielleicht fachliche Unzulänglichkeit der Ausarbeitung? Konnte es sein, dass die SPD die Auseinandersetzung mit der ausgesprochen artikulationsfähigen und lautstarken Lobby der bisher steuerlich Begünstigten scheute? Oder trafen unter der Hand kolportierte Gerüchte zu, dass auch im SPD-Parteivorstand etliche Mitglieder waren, die bei der Realisierung der vorgeschlagenen Reformen finanzielle Einbußen erlitten hätten und deshalb mit einer Nichtbefassung des Vorschlags gut leben konnten?
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1990: Ende des Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetzes – 1.800 Wohnungsunternehmen verlieren die Gemeinnützigkeit Der Skandal um die Neue Heimat und in seiner Folge zahlreiche parlamentarische Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern befeuerten die seit Beginn der achtziger Jahre aufkommende Diskussion um Subventionsabbau, Abbau von Steuerbegünstigungen und vorgeblichen Wettbewerbsvorteilen der rund 1.800 gemeinnützigen Wohnungsunternehmen in der Bundesrepublik, die aufgrund des Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetzes von der Körperschafts-, Gewerbe- und Vermögenssteuer befreit waren. Daher verwundert es nicht, dass die Diskussion über die Abschaffung der Gemeinnützigkeit in der Wohnungswirtschaft fast ausschließlich bestimmt war von der Argumentation gegen angeblich wettbewerbsverzerrende Steuervorteile gemeinnütziger Wohnungsunternehmen. Kaum erwähnt hingegen wurden die zahlreichen gesetzlichen Beschränkungen, denen gemeinnützige Wohnungsunternehmen unterlagen, wie unter anderem die Begrenzung der Gewinnausschüttung auf 4 % und die Einschränkung des Geschäftskreises auf Errichtung, Verwaltung und Bewirtschaftung von Wohnungen. Mit dem Steuerreformgesetz 1990 wurde das Wohnungsgemeinnützigkeitsrecht im August 1988 mit Wirkung zum 31. Dezember 1989 aufgehoben. Man mag darüber streiten, ob das Ende der Wohnungsgemeinnützigkeit mehr war als der überfällige Abschied von einem recht komplizierten, inzwischen aus der Zeit gefallenen Regelwerk. Es reiht sich jedoch ein in eine Kette von Entscheidungen, die wohnungspolitische Untätigkeit und einen sich beschleunigenden Ausstieg des Bundes aus der Verantwortung für den sozialen Wohnungsbau belegen.
1992: Die Westdeutsche Landesbank übernimmt die Wohnungsbauförderungsanstalt Um, wie von der Europäischen Union gefordert, die Eigenkapitalquote der Westdeutschen Landesbank zu erhöhen, übertrug die NRW-Landesregierung 1992 die Wohnungsbauförderungsanstalt, aufgrund ihres Wohnungsbauvermögens mit rund 25 Milliarden DM bewertet, auf die WestLB. Auf die langjährigen Auseinandersetzungen des Landes NRW und der WestLB mit der Europäischen Union und später der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht über Eignung, Umfang und Bewertung dieser Maßnahme soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden, wohl aber auf die wohnungspolitische Bedeutung dieser Entscheidung: Denn obwohl die Zweckbindung des Wohnungsbauvermögens zunächst erhalten blieb, war die Instrumentalisierung des Vermögensstocks der Wohnungsbauförderungsanstalt als Eigenkapitalersatz für eine Bank mit mehreren Anteilseignern zugleich der Abschied von einem Kernelement der Förderung des sozialen Wohnungsbaus in der Nachkriegszeit.
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Ursprünglich aus Mitteln des German Marshall Fund gespeist, hatte sich das Landeswohnungsbauvermögen, verwaltet von der landeseigenen Wohnungsbauförderungsanstalt, zu einem revolvierenden Fonds entwickelt, der, jährlich aufgestockt durch Zuwendungen aus dem Landeshaushalt, mit seinen Darlehen den Bau von fast 800.000 Sozialwohnungen ermöglicht hatte. Unabhängig von der jeweiligen finanzpolitischen Situation im Landeshaushalt blieb das Landeswohnungsbauvermögen unangetastet und konnte selbst bei geringeren oder ausbleibenden Landeszuschüssen ein Minimum an Wohnungsbauförderung sicherstellen. Im Jahr 2009, als die Landesregierung nach dem Ende der WestLB per Gesetz die Wohnungsbauförderungsanstalt auflöste, die Zweckbindung des Landeswohnungsbauvermögens beendete und den Vermögensstock als Eigenkapital in die landeseigene NRW Bank einbrachte, belief sich dieser auf immerhin 18 Milliarden Euro. Dieser sorglose Umgang mit vermögenssichernden Elementen im Finanzierungssystem der Wohnungspolitik korrespondierte direkt mit den neoliberalen Strömungen der neunziger Jahre, die den weitgehend eingriffsfreien Markt als bestmögliches Modell auch für die Versorgung der Bevölkerung mit Wohnraum propagierten. Auch nach 1992 wurde die Förderung staatlicher Wohnungsbauförderung im Bund und in den Ländern nicht beendet. Ihr Umfang entwickelte sich jedoch in der gesamten Bundesrepublik von Jahr zu Jahr kontinuierlich nach unten. Hinzu kam das Auslaufen der Mietpreisbindung bei Sozialwohnungen nach durchschnittlich 30 Jahren. Der Anteil der Wohnungen mit Mietpreisbindung sank 2015 auf unter 6 % des Gesamtbestands an Mietwohnungen. Dieser Rückgang kam nicht überraschend. Er war präzise vorherseh- und berechenbar. Es hat auch nicht an Analysen, Warnungen, Appellen gefehlt, diese Entwicklung umzukehren. Ernsthafte Reaktionen, geschweige denn substanzielles politisches Gegensteuern hat es jedoch weder bei CDU/CSU, SPD noch den Grünen gegeben.
2008: Landesregierung NRW verkauft die LEG mit rund 100.000 Wohnungen an Whitehall Real Estate Funds Seit etwa dem Jahr 2000 verstärkte sich das Interesse angloamerikanischer Investmentfonds an deutschen Wohnimmobilien. Gestützt auf Vergleiche in entwickelten Industriegesellschaften stellten sie fest, dass der Anteil der Wohnkosten am Gesamteinkommen in Deutschland relativ niedrig war und deutliches Potenzial für eine Steigerung bot. In den nächsten Jahren wurden Betriebs- und Werkswohnungen privater Unternehmen mit niedrigen Mieten zu Hunderttausenden verkauft, weil ihre verlässliche stabile Rendite von vier bis fünf Prozent mit den zweistelligen Gewinnvorgaben der Shareholder-ValueForderungen nicht mithalten konnte. Öffentliche Einrichtungen folgten dem Trend und verkauften ihre Wohnungsbestände, um ihre klammen Kassen zu füllen: Bundesbahn und Bundespost, öffentliche Verkehrsbetriebe, kommunale Wohnungsbaugesellschaften. Weil es zur damals modischen Philosophie „Privat vor Staat“ passte, beschleunigten sich die massenhaften Verkäufe von Wohnimmobilien mit preiswerten Mieten. Allein 2004 449
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erwarben ausländische Fonds nach einer Studie der Deutschen Bank deutsche Wohnimmobilien im Wert von 13,5 Milliarden Euro. Weil die Aufkäufer mit einem hohen Anteil an Fremdfinanzierungsmitteln arbeiteten, die sie übrigens, wenn eben möglich, von den aufgekauften Unternehmen übernehmen ließen, mussten sie, um ihre Kapitalkosten bedienen zu können, erworbene Gesellschaften und Wohnungen schnellstmöglich und mit Gewinn weiterverkaufen, entweder an private Wohnungsgesellschaften oder an die Mieter selbst durch Umwandlung der Miet- in Eigentumswohnungen. Denn allein mit den selbst bei rigidem Mietpreismanagement um vielleicht höchstens zehn Prozent steigerbaren Mieten ließen sich die von den Fondszeichnern erwarteten Ausschüttungen nicht finanzieren. Auch als die Geschäftsmethoden der kaufenden internationalen Private-Equity-Fonds immer deutlicher wurden, hörten die Verkäufe nicht auf. Erst nach 2005 flachte die Kauf- und Verkaufswelle von Wohnimmobilien langsam ab, hauptsächlich allerdings, weil der aus Sicht ausländischer Investoren besonders attraktive Wohnungsbestand inzwischen abverkauft war. Im Jahr 2006, also eher etwas verspätet, kündigte die Landesregierung von NordrheinWestfalen an, die Landesentwicklungsgesellschaft Wohnen NRW mit ihren rund 100.000 Wohnungen zu verkaufen, darunter auch die 1987 für 1,00 DM erworbenen rund 38.000 Wohnungen der ehemaligen Neuen Heimat. Unabhängige Schätzungen bewerteten die LEG Wohnen damals mit rund 3,5 Milliarden Euro. Trotz Protesten von Mieterorganisationen, Opposition, Gewerkschaften und einer knapp am Quorum gescheiterten Volksinitiative kam es 2008 zum Verkauf an Whitehall Real Estate Funds, einer von Goldman Sachs initiierten Fondskonstruktion. Nach Abzug der Schulden verblieb beim Land ein offiziell mit 787 Millionen Euro bezifferter Erlös, der nach Insiderangaben allerdings noch um die Beraterhonorare in mindestens zweistelliger Millionenhöhe und um beträchtliche Steuerausfälle gekürzt werden muss, die durch von der Landesregierung akzeptierte gesellschaftsrechtliche Konstruktionen zur Vermeidung von Grunderwerbssteuer entstanden. Selbst wenn man unterstellt, dass ein Nettoerlös im niedrigen dreistelligen Millionenbereich beim Land verblieb, hat Nordrhein-Westfalen mehr als 100.000 mietpreisgünstige Wohnungen pro Stück zum indiskutablen Preis von zwei- bis dreitausend Euro verkauft. Als sich 2006 abzeichnete, dass die Landesregierung die LEG Wohnen und ihren Wohnungsbestand auf den Markt bringen wollte, prüften einige kommunale Wohnungsbaugesellschaft des Ruhrgebiets in Zusammenarbeit mit den örtlichen Sparkassen, die LEG Wohnen als Alternative zu den von der Landesregierung adressierten Fondsgesellschaften durch eine neu zu gründende regionale Auffanggesellschaft erwerben zu lassen. Die Finanzierung des Kaufpreises durch die Sparkassen erschien realistisch, weil durch Synergien mit den vorhandenen Kapazitäten der beteiligten Wohnungsbaugesellschaften eine dauerhafte Rendite von vier bis fünf Prozent erzielt werden konnte. Inoffiziell wurde beim von Peer Steinbrück geführten Bundesfinanzministerium nachgefragt, ob eine solche Initiative mit politischer Unterstützung aus Berlin rechnen könne. Die Antwort war klar und ernüchternd: Nein! Eine Rekommunalisierung passe nicht in die Zeit. Damit hatte sich das Alternativmodell erledigt, weil die Sparkassen nun nicht länger bereit waren, die Finanzierung zu übernehmen.
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2020: Ein Résumé Der unvollständige Bilderbogen vom Tun und Unterlassen soll und kann nicht die vollständige soziale Wohnungspolitik nach 1970 wiedergeben. Eigenheim- und Modernisierungsförderung, Wohngeld, steuerliche Instrumente und einiges andere mehr sind bewusst ausgeklammert. Dennoch belegen die dargestellten Ereignisse, wie sich soziale Wohnungspolitik bis heute in einem beständigen Rückwärtsgang bewegt und sich vermehrt von ihrer gesellschaftspolitischen und ökonomischen Verantwortung verabschiedet. Dafür gibt es die eine oder andere Erklärung, nicht aber Entschuldigung für politisch falsches oder Nichthandeln. Zuzugeben ist, dass soziale Wohnungspolitik ein schwieriges Aktionsfeld ist und sich mit etlichen Besonderheiten auseinanderzusetzen hat: So fehlt ihr der Charme schneller Realisierbarkeit. Zwischen politischem Tun und sichtbarem Erfolg vergehen etliche Jahre. Soziale Wohnungspolitik braucht Planung und Finanzierung, Boden muss erschlossen und erworben werden. Dann erst kann die Baumaßnahme starten. Bis zum Einzug dankbarer Mieter sind komplizierte und zeitaufwendige Planungs-, Finanzierungs- und Beteiligungsprozesse zu bewältigen. Ergebnisse von Wohnungspolitik lassen sich also bestenfalls mittelfristig, in der Regel nur langfristig vorzeigen. Wenn dann auch noch strapaziöse, medial erfahrene Projektgegner ein gut gemeintes Bauvorhaben begleiten, entsteht ein Politikfeld von eher abschreckender Wirkung, das so gar nicht mit der üblichen politischen Praxis vereinbar scheint, die auf kurzfristigen Erfolg setzt und Risiken welcher Art auch immer scheut. Wohnungen sind zudem, anders als schnell wirkende Transferzahlungen, Investitionsgüter mit einer unüblichen Langlebigkeit von im Schnitt rund achtzig Jahren. Wer Wohnungen baut, sollte deshalb besondere Qualitäten bei Architektur, städtebaulicher Integration und Umweltverträglichkeit realisieren. Denn das, was am Ende neu aus dem Boden gewachsen ist, ist faktisch irreversibel. Es kann nicht einfach abgerissen werden. Es prägt für Jahrzehnte Umgebung und Stadtquartier. Eitle Modernismen, Gigantismen und Geschmacksverirrungen, Planungs- und Baufehler rächen sich zuallererst an den Bewohnern, aber auch an der Gesellschaft, wie es z. B. die Pariser Banlieues belegen. Wer also gute Wohnungspolitik machen will, muss zugleich Ökologie und Soziales, Architektur und Städtebau im Blick haben. Ein weiteres Spezifikum der Wohnungswirtschaft ist ihre logische Verknüpfung mit der Bauwirtschaft, die ganz erhebliche Investitionsvolumina in einem breiten Korridor privater und öffentlicher Interessen und Zuständigkeiten bewegt und deshalb eine besondere Anfälligkeit für Korruption aufweist. Schon Tacitus berichtet über Bestechung beim Bau der Villa Jovis des Kaisers Tiberius auf Capri. Bauskandale und Kostenexplosionen tauchen deshalb in schöner Regelmäßigkeit in der Geschichte des Bauwesens auf. Mag sein, dass auch hier ein Grund dafür liegt, dass viele Politiker einen Bogen um dieses Politikfeld gemacht haben. Schließlich wird soziale Wohnungsbaupolitik nicht dadurch erleichtert, dass die Fördergelder vom Bund und von den Ländern aufgebracht werden, die Ergebnisse der Förderung 451
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aber in den Städten und Gemeinden ankommen, womit ein weiteres Feld der Vernachlässigung kommunaler Interessen durch Bund und Länder benannt ist. Das alles mag einiges erklären, kann aber das Versagen von Politik nicht rechtfertigen. Gefordert ist einmal mehr rationales, langfristig angelegtes zielorientiertes Handeln, um Wohnungen wieder bezahlbar sowie Grund und Boden für die öffentlichen Hände wieder verfügbar zu machen. Zwar haben es exorbitante Mietensteigerungen und die Explosion der Grundstückspreise seit 2019 als Folgen nicht stattgefundener oder verfehlter sozialer Wohnungspolitik wieder in den Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit geschafft. Lösungen in diesem hochkomplexen Politikbereich werden jedoch nicht mit sympathischen Korrekturarbeiten wie Mietpreisbremse oder Mietenstopp erreicht werden. Dazu bedarf es mehr – viel mehr.
Literatur Bundestag (2019). Sachstand: Verfassungsrechtliche Rechtsprechung zur Eigentumsgarantie in Bezug auf das Grundeigentum. 13. März 2019. https://www.bundestag.de/resource/blob/645732/78d7b 348968c1fb84c157b6bd60267a0/WD-3-061-19-pdf-data.pdf. Zugegriffen: 13. September 2020. Spiegel (1982a). Affäre Neue Heimat. Spiegel, 7, 15. Februar 1982. https://www.spiegel.de/spiegel/ print/d-21113608.html. Zugegriffen: 13. September 2020. Spiegel (1982b). Neue Heimat – Helle Aufregung. Spiegel, 9, 01. März 1982. https://www.spiegel.de/ spiegel/print/d-14347685.html. Zugegriffen: 13. September 2020.
Die Stadt – Mikrokosmos der Demokratie und des gesellschaftlichen Zusammenhalts Edda Müller Die Stadt – Mikrokosmos der Demokratie
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Lernen von Christoph Zöpel und seiner Politikergeneration?
Christoph Zöpel und die Politiker und Politikerinnen seiner Generation haben den Umbau des Ruhrgebiets vorangetrieben. Zu bewältigen waren nicht nur die wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Herausforderungen. Es ging auch um die Schaffung eines Gemeinschaftsgefühls, das an die Stelle der alten „Ruhrpott-Mentalität“ treten konnte. Sie hatte dem Stolz der Kumpel, Stahlarbeiter und ihrer Familien auf ihre wirtschaftliche Leistung für das ganze Land Ausdruck verliehen. Es waren Menschen, von denen viele erst nach dem 2. Weltkrieg im Ruhrgebiet eine Heimat gefunden hatten. Christoph Zöpel hatte dies vermutlich auch im Sinn, wenn er die Vision von der Weltstadt Ruhr beschrieb. Es soll ein Stadtverbund werden: „Global handeln, in Wissenschaft und technisch-ökonomischen Innovationen sowie in Kultur Weltgeltung erlangen, für die ökologische Revitalisierung von Ballungsräumen weltweit Vorbild sein“ (2005, Klappentext). Es wäre verlockend den Prozess des Umbaus der Ruhrregion im Lichte der Identitätsstiftung, Akzeptanz und Zufriedenheit der Bevölkerung zu beschreiben. Leider fehlen mir dazu empirische Befunde. Ich werde mich stattdessen in diesem Beitrag generell mit dem Reformbedarf der lokalen Demokratie auseinandersetzen. Die Parallelen zum Transformationsprozess in der Ruhrregion sehe ich in den Herausforderungen, die im Zusammenhang mit dem Klimawandel auf die Städte, die Stadtbevölkerung und die Verantwortlichen für Stadtentwicklung zukommen. Mein Thema „Die Stadt als Mikrokosmos der Demokratie und des gesellschaftlichen Zusammenhalts“ benennt das anzustrebende Ziel. Ziel muss es sein, nicht nur die Mehrheit der Stadtgesellschaft zufriedenzustellen, sondern für den gesellschaftlichen Zusammenhalt der Stadtbevölkerung insgesamt zu sorgen. Es geht im Mikrokosmos der lokalen Demokratie sowohl um Instrumente als auch um Inhalte der Stadtentwicklung, mit denen dieses Ziel verwirklicht werden kann. Die Politikwissenschaft unterscheidet zwei Dimensionen von Demokratie: die input- und die outputorientierte Legitimation (Scharpf 1999, S. 16ff.). Die inputorientierte Legitimation schaut auf den Grad von Partizipation und Konsens im Sinne von ‚government by the people‘. Dabei wird angenommen, dass es möglich ist, im Wege einer breiten Partizipation © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_28
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sowie durch umfassende Dialoge einen Konsens über politisches Handeln zu erzielen, der alle Betroffenen zufriedenstellt. Die outputorientierte Legitimation fragt nach der Fähigkeit zur Problemlösung im Sinne von ‚government for the people‘. Im Vordergrund stehen dabei die Leistungen des Gemeinwesens für die Gemeinschaft. Beide Dimensionen lokaler Demokratie werde ich im Folgenden behandeln.1
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Die Stadt – Mikrokosmos der Demokratie im Lichte verwaltungspolitischer Leitbilder
Die Stadt als Mikrokosmos unseres demokratischen und sozialen Bundesstaats ist der Ort, in dem die Menschen die Leistungsfähigkeit und Wirkung politisch-administrativen Handelns unmittelbar erfahren und hinsichtlich der Auswirkungen auf ihr eigenes Leben bewerten können. Sie ist zugleich Schauplatz und Betroffene einer gesellschaftlichen Stimmung und politischen Entwicklung, die das Verhältnis von Staat und Gesellschaft generell prägen. Während meines Berufslebens habe ich verschiedene verwaltungspolitische Leitbilder zum Verständnis der Rolle des Staates bei der Bearbeitung von Problemen durchlebt. Leitbilder der Reformen der 1970er-Jahre waren der „aktive Staat“ und die Fähigkeit zu „aktiver Politik“ (Maynth & Scharpf 1973, S. 115‒145). Probleme sollten frühzeitig erkannt und ganzheitlich bearbeitet werden. Dies sollte vor allem durch eine Verbesserung der Leistungsfähigkeit der Strukturen und Instrumente von Regierung und Verwaltung geschehen (Müller 1978, S. 49‒78). Im Bereich der kommunalen Selbstverwaltung wurden die moderne Stadtplanung professionalisiert und hierfür neue Stellen geschaffen. Die Universitäten richteten entsprechende Lehrstühle ein. Erstmalig wurde auch im Rahmen des Städtebauförderungsgesetzes von 1971 die Bürgerbeteiligung institutionalisiert. Die Anfänge und Konzepte des Ruhrgebietumbaus waren von dieser Phase aktiver Politik geprägt. Abgelöst wurde diese Phase Ende der 1970er-Jahre vom Leitbild des ‚schlanken Staates‘. Bürokratieabbau verbunden mit Personalabbau waren die Devise. Bis in die 1990er-Jahre hinein beeinflusste dann die Politik der Europäischen Gemeinschaft den Umgang mit dem Paradigma vom ‚schlanken Staat‘. Das ‚Primat der Politik‘ für eine umfassende Zukunftsvorsorge wurde angesichts der Ausrichtung der Römischen Verträge auf die Herstellung des Europäischen Binnenmarktes zunehmend – auch vorangetrieben von der Rechtsprechung des EuGH – vom „Primat der Ökonomie“ verdrängt (Scharpf 2010, S. 211‒250). Fortgesetzt wurde dies mit der ‚Liberalisierung von Märkten der Daseinsvorsorge‘ – leitungsgebundene Energien, Post und Telekommunikation, öffentlicher Verkehr, Gesundheitswesen – und die Einführung von Wettbewerb und Privatisierung. Der Abbau von Personal in den kommunalen Verwaltungen sowie der Rückzug der Kommunen aus der Wohnungswirtschaft, der Gesundheits- und Energieversorgung waren die Folgen dieser 1
Der Beitrag ist die ergänzte und aktualisierte Fassung eines Vortrages auf dem Verbandstag des Bundesverbands für Wohnen und Stadtentwicklung, vhw, am 21. November 2019 in Berlin.
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Entwicklung. Aus der Hand gaben die Städte und Gemeinden damit Aufgabenbereiche, die für die Wahrnehmung ihrer Fürsorgepflicht für die sozial benachteiligten Bewohner und Bewohnerinnen besonders wichtig sind. Ab Ende des 20. Jahrhunderts haben wir nun den ‚kooperierenden, moderierende Staat‘. Die Devise lautet: Governance statt Government. Das Leitbild ist verbunden mit der Erwartung, „dass in Kooperation –wenn nicht Ko-Produktion – von Staat/Verwaltung und nicht staatlichen Akteuren eine Steuerung der Gesellschaft möglich ist“ (Wegrich 2017, S. 2). Als Beobachterin der wissenschaftlichen Arbeiten und der kommunalen Aktivitäten habe ich den Eindruck, dass das Leitbild vom kooperierenden, moderierenden Staat derzeit das Geschehen zum Thema Stärkung der lokalen Demokratie und die Wahl der Instrumente bestimmt. Verlorenes Vertrauen soll durch die Schaffung von mehr Transparenz, eine stärkere Einbindung der Bürgerinnen und Bürger in die Stadtpolitik durch Formen der Bürgerbeteiligung und plebiszitäre Elemente sowie eine vermehrte Kontrolle von Verwaltung und Politik zurückgeholt werden. Drei Annahmen liegen dieser Strategie zugrunde, die ich in diesem Beitrag hinterfragen werde. Bei der ersten Annahme geht es um Vertrauen als demokratisches Paradigma. Unsere demokratischen Institutionen beruhen auf dem Wettbewerb verschiedener politischer Ziele, Programme, Parteien und Personen. In ihnen spiegelt sich die Pluralität der in der Gesellschaft vorhandenen Interessen. Der Glaube an ein vorgegebenes, über den individuellen und Gruppeninteressen stehendes Gemeinwohl gehört nicht dazu. Ebenso wenig wie ein blindes Vertrauen in den politischen Prozess. Vielmehr gehört der Streit um den richtigen Weg zum Wesen der Demokratie. Er wird durch Wahlen entschieden. Nach Art. 56 GG verpflichten sich die auf Zeit gewählten Amtsträger „ihre Kraft dem Wohle des deutschen Volkes zu widmen“. Dies beinhaltet die Pflicht zur Herstellung von Chancengleichheit und einen möglichst gerechten Ausgleich der Interessen. Die beobachtete geringe Wahlbeteiligung und abnehmende Bereitschaft zur Übernahme kommunaler Wahlämter wird als Indiz für den Legitimitäts- und Vertrauensverlust der repräsentativen lokalen Demokratie, von Parteien und Verwaltungen gewertet. Heute zeigen allerdings der Anstieg der Wahlbeteiligung und die Wahlerfolge der AfD auch im Kommunalbereich, dass von einer generellen Wahlmüdigkeit und politischen Abstinenz nicht die Rede sein kann. Aus meiner Sicht hat der Legitimitäts- und Vertrauensverlust der repräsentativen lokalen Demokratie vor allem seine Ursache in unzureichenden Problemlösungen und der als ungerecht empfundenen Interessenberücksichtigung und Entscheidungsfindung. Fraglich ist, ob und wie Vertrauen allein durch institutionelle Faktoren – durch mehr Transparenz, mehr Beteiligung und mehr Kontrolle – zurückgeholt werden kann. Die zweite Annahme geht davon aus, dass es eine hohe Bereitschaft der Bürger und Bürgerinnen gibt, sich über lokale Belange zu informieren und aktiv in die lokale Politik einzubringen. Ob dies tatsächlich so ist, welche Gruppen der Stadtgesellschaft hiervon profitieren und welche nicht, auch das wird im Folgenden hinterfragt.
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Die dritte Annahme betrifft den Grad der Zufriedenheit der Bürger und Bürgerinnen mit ihrer Lebensqualität. Die mir hierzu bekannten Daten signalisieren eine hohe Zufriedenheit der Mehrheit der Stadtbevölkerung mit ihrer Lebenssituation. Anhand der Befragungen für einen Städtevergleich von 21 deutschen Städten des Verbands Deutscher Städtestatistiker (Schönfeld et al. 2018) ist es zwar möglich, Stärken und Schwächen der beteiligten Städte hinsichtlich einzelner Komponenten von Lebensqualität zu erkennen, wie zum Beispiel das Arbeitsplatz- und Wohnungsangebot, die Gesundheitsversorgung und die Sicherheit. Eine systematische Analyse, die Auskunft über die Einschätzung einzelner Bevölkerungsgruppen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt in einer Stadt geben könnte, ist anhand dieser Daten jedoch unmöglich. Mein Eindruck ist, dass die zumeist im Tenor positiven Ergebnisse von Meinungsumfragen zur individuellen Lebensqualität die Lebenssituation nicht weniger Menschen und die tatsächliche Lage und Stimmung in unseren Städten nicht ausreichend wiedergeben. Franz Walter vom Institut für Demokratieforschung an der Universität Göttingen spricht von den „Hinterhöfen der Gesellschaft“, die in unser derzeit dominierenden gesellschaftlichen und politischen Kultur drohen abgehängt zu werden (2011, S. 63). Ich denke, er hat recht.
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„Government by the people“ durch mehr Transparenz und Partizipation
Was hat sich in deutschen Städten hinsichtlich der institutionellen Binnenstrukturen in den letzten Jahren verändert? Welchen Beitrag leisten Instrumente für Transparenz und Beteiligung für die lokale Demokratie und inwieweit stärken sie den gesellschaftlichen Zusammenhalt?
3.1
Transparenz
In zahlreichen deutschen Städten können wir heute einen Wandel von der traditionellen Arkanpraxis der Verwaltungen hin zu einer neuen transparenten Verwaltungskultur erkennen. Eingeleitet wurde dies nach der Jahrhundertwende mit den Informationspflichten von Kommunalbehörden2 im Rahmen der Informationsfreiheitsgesetze (IFG), die in der überwiegenden Mehrheit der Bundesländer3 gelten. Noch sind die meisten dieser Regelungen als ‚Holschuld‘ der Bürgerinnen und Bürger ausgestaltet und Informationen werden auf Anfrage erteilt.
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Auf die Informationspflichten der Kommunen nach dem Umweltinformations- und dem Verbraucherinformationsgesetz wird hier nicht eingegangen Sie gibt es in allen Bundesländer mit Ausnahme von Bayern, Sachsen und Niedersachsen. In Bayern ist dies in kommunalen Informationsfreiheitssatzungen geregelt.
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Umfassende Auskunftsrechte zu „bei öffentlichen Stellen vorhandenen Informationen“ (§ 1 IFG NRW) vermittelt beispielsweise das Informationsfreiheitsgesetz Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 2002 (Müller 2019, S. 296; LDI o. J.). Als Zweck des Gesetzes werden im § 1 IFG NRW „Mitwirkung und Kontrolle“ genannt. Durch die Informationsrechte der Bürgerinnen und Bürger werde „nachvollziehbares Handeln der öffentlichen Stellen“ gefördert und die „Argumentationsgrundlage für Mitsprache“ der Bürgerinnen und Bürger bei öffentlichen Angelegenheiten verbessert. Auskunftspflichtig sind Behörden der Kommunen, deren Verbände und kommunale Unternehmen, sofern sie von Körperschaften des öffentlichen Rechts kontrolliert werden (§ 2 Abs. 4 IFG NRW). Informationspflichtig sind auch Gemeinderäte hinsichtlich verabschiedeter Satzungen. Informationen aus dem Prozess der Willensbildung innerhalb von und zwischen öffentlichen Stellen sind ausgenommen (§ 7, Abs. 2 IFG NRW). Nach Abschluss des Entscheidungsverfahrens sind diese jedoch ebenso zugänglich zu machen. Eine Evaluierung des Gesetzes nach zwei Jahren ergab, dass der Großteil der Anfragen Kommunalaufgaben betrifft. Insgesamt waren das für den Zeitraum Anfang 2002 bis Ende 2003 1.590 von insgesamt 2.177 Anfragen, die alle öffentlichen Landesstellen erhalten hatten. In der Antwort auf eine Kleine Anfrage berichtet die Landesregierung 2011, dass sich die Anfragen schwerpunktmäßig auf das Bau- und Planungsrecht, auf Denkmalschutzakten, auf luftfahrtrechtliche Genehmigungsakten, auf Braunkohlenplanungen, auf Entwässerungssatzungen, den Verkehr und die Verkehrssicherheit sowie den Tierschutz bezogen. Die Daten für das Jahr 2009 ergaben ein ähnliches Bild. Von insgesamt 1.847 Anfragen betrafen 1.324 die Kreise, Städte und Gemeinden von NRW (Landtag 2011, S. 6). Der Fragenumfang sowie der die Kommunalebene betreffende Anteil sollen sich – so eine mündliche Auskunft aus dem Innenministerium NRW – bis heute nicht wesentlich geändert haben. Die Landesregierung NRW scheint angesichts der für ein großes Flächenland relativ geringen Anfragezahlen mit der Resonanz der Bevölkerung auf das Informationsfreiheitsgesetz nicht zufrieden zu sein. Sie verweist in der Antwort auf die Kleine Anfrage auf erste Erfolge ihrer Open-Government-Strategie. Mittels der Potenziale des Internets und sozialer Netzwerke sollen die Möglichkeit der Bürgerinnen und Bürger, an Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen teilzuhaben, verbessert werden (Landtag 2011, S. 7). Die ‚Holschuld‘ der Bürgerinnen und Bürger wird in den letzten Jahren zunehmend durch eine ‚Bringschuld‘ ergänzt – Vorreiter ist der Stadtstaat Hamburg.4 Dieser verabschiedete 2012 – angeschoben von einem Netzwerk zivilgesellschaftlicher Organisationen – ein Transparenzgesetz. Die Auskunftsrechte der Bürgerinnen und Bürger werden über ein Online-Transparenzportal mit den Informationsangeboten von insgesamt 70 öffentlichen Stellen ergänzt. Darunter sind auch kommunale Unternehmen zum Beispiel hinsichtlich der Offenlegung der Gehälter des Führungspersonals (Müller 2019, S. 296‒297).
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Transparenzgesetze gibt es derzeit auch in Bremen und Rheinland-Pfalz. Im Flächenland Rheinland-Pfalz sind die Kommunen allerdings nur partiell in das automatische Informationsangebot einbezogen. 457
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Das allgemein zugängliche Transparenzportal hat eine breitere Nutzung möglich gemacht. Die öffentlich zugängliche Nutzungsstatistik kann aufgrund des anonymen und kostenlosen Zugangs allerdings keine genauen Angaben zur Anzahl und Herkunft der Nutzerinnen und Nutzer machen. Festgehalten werden jedoch monatlich die Anzahl der Seitenansichten sowie die häufigsten Suchbegriffe (Transparenzportal 2014ff.). Das Transparenzportal wurde 2014 online gestellt. Es verzeichnete in den Jahren 2014 und 2015 mit bis zu 2,5 Millionen die größten Zugriffszahlen. Dabei dominierten die Themen Elbphilharmonie, die Olympiabewerbung Hamburgs sowie Geodaten zur Grundstücks- und Flächennutzung. Ab Juni 2016 rückt bis April 2017 das Thema Flüchtlingsunterkünfte an die erste Stelle des Interesses. Ab 2017 steht das Interesse an Verkehrsdaten im Vordergrund. Diese umfassen den Verkehrsvertrag S-Bahn ebenso wie Geschwindigkeitsbeschränkungen, Straßenumbenennungen sowie den Radverkehr. Ab Mitte 2018 sind die Zugriffe zum Transparenzportal auf unter eine Million zurückgegangen. Die Hamburger Bürgerschaft hat Ende 2019 eine Reihe von Änderungen des Transparenzgesetzes beschlossen, ob dadurch die Nutzungszahlen erhöht werden können, ist derzeit noch nicht abzusehen. In erster Linie geht es bei der Novelle um die Einbeziehung der mittelbaren Staatsverwaltung wie die Kammern und öffentlichen Hochschulen in die Veröffentlichungspflicht (Transparenzportal o. J.). Zur Vorbereitung der Novelle wurde das Hamburger Transparenzgesetz evaluiert. Insgesamt erbrachte die Evaluierung eine positive Bewertung des Portals (Transparenzportal 2017).5 Es leiste einen positiven Beitrag zum Aufbau des Vertrauens in Politik und Verwaltung. Anscheinend ist es auch hilfreich für die Zusammenarbeit der verschiedenen Ämter in Hamburg. Festgestellt wurde, dass 28 % der Online-Zugriffe aus den Behörden selbst kommen. Die erhoffte Arbeitsentlastung ließe sich nach Aussagen einer Mitarbeiterin des Transparenzportals allerdings nicht feststellen. Die Anzahl der individuellen schriftlichen Anfragen scheint nicht zurückgegangen zu sein. Außerdem bedeute die Einstellung von Verträgen in die öffentliche Akte in der Regel einen zusätzlichen Aufwand, da die Dokumente auf Stellen überprüft werden, die aus Datenschutzgründen sowie dem Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen geschwärzt werden Hinsichtlich der erhofften Intensivierung der bürgerschaftlichen Kontrolle des Verwaltungshandelns durch die Informations- und Transparenzinstrumente ist eine Bewertung schwierig. Ich gehe trotz der relativ geringen Nutzung dieser Instrumente aber von einer gewissen präventiven Wirkung aus. Die mit den Informationsfreiheits- und Transparenzgesetzen eingeleitete neue Verwaltungskultur wird derzeit im Rahmen der bundesweiten „Open Government und Open Data-Initiative“ von immer mehr Städten vorangetrieben. Treiber dieser Entwicklung ist das Datenportal für Deutschland (BMI 2013). Aufgebaut wird ein bundesweiter Datenverbund, dem heute bereits einige Städteportale angehören. Voraussetzung für die Ausweitung dieser Aktivitäten sind Fortschritte bei der Digitalisierung der kommunalen Verwaltungen.
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Befragt wurden Verwaltungsmitarbeiter, 400 Bürger per Online-Befragung, Mitglieder des Beirats: Vertreter der Wirtschaft und Zivilgesellschaft.
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Weniger positiv waren dagegen die Ergebnisse einer Evaluierung des vom Bund geförderten Projekts Modellkommune Open Government, an dem neun Städte und Gemeinden teilhaben. Der Abschlussbericht (Beck & Stember 2019) vom Sommer 2019 stellt fest, dass positive Wirkungen von mehr Transparenz und Beiträge zur Partizipation durch Open Government nicht ohne weiteres eintreten. Nötig sei eine begleitende zielgruppenadäquate Ansprache der Bürgerinnen und Bürger (Beck & Stember 2019, S. 78).
3.2
Partizipation
Verfahren einer verstärkten Bürgerbeteiligung im Vorfeld kommunaler Entscheidungen werden in Städten und Gemeinden seit Jahren genutzt. Nicht zuletzt die empirische Erprobung der Bürgerbeteiligung durch den Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung im Rahmen des Städtenetzwerks zur „Stärkung der lokalen Demokratie“ (Rohland & Juder 2011) machte deutlich, dass die vermutete hohe Bereitschaft der städtischen Bürgergesellschaft, sich aktiv in die Gestaltung der lokalen Politik einzubringen, nicht ohne Weiteres zu erreichen sei. So berichtet Thomas Kuder, dass sich manche Milieus trotz aufwändiger und niedrigschwelliger Ansprache kaum für eine persönliche Beteiligung an öffentlichen Foren motivieren ließen. In einem 10-Punkte-Katalog macht er Vorschläge, mit denen die bisherigen Verfahren inklusiver gestaltet werden sollen (Kuder 2016, S. 8‒9). Vorgeschlagen wird u. a. eine Steuerungsgruppe für die Bürgerbeteiligung. Sie soll aus Vertretern von Politik, Verwaltung und Bürgern bestehen und „Hüter des Prozesses und seiner Qualität“ (Kuder 2016, S. 7) sein. Plausibel erscheinen mir auch Überlegungen von Volker Steude, wonach mit besseren Beteiligungsformen allein die Beteiligung der Stadtbevölkerung an kommunalen Angelegenheiten nicht stimuliert werden kann. Vielmehr sei das geringe Interesse auch auf eine unzureichende Qualität der Stadtplanung und einen mangelnden politischen Gestaltungswillen zurückzuführen. Dies führe bei der Bevölkerung zu dem Eindruck, „dass Politik und Verwaltung gar nicht in der Lage sind die Entwicklung der Stadt und die Stadtviertel positiv zu beeinflussen“. Steude schlägt vor, dass eine Beteiligung von Bürgern und Bürgerinnen nicht nur projektbezogen organisiert werden sollte. Er empfiehlt stattdessen regelmäßige Bürgerbeteiligungsformate, in denen Politik und Verwaltung sich der Diskussion mit den Bürgern und Bürgerinnen zum Stand von Planungen sowie die Behandlung und der Vorschläge aus der Bevölkerung stellten. Eine wichtige Rolle spielt im Rahmen der Beteiligungsprozesse die lokale Zivilgesellschaft. Es stellt sich daher die Frage, welchen Beitrag die Zivilgesellschaft für den gesellschaftlichen Zusammenhalt leistet und damit den Menschen mit einem besonderen Inklusionsbedarf eine Stimme gibt (Steude 2018). Es gibt immer mehr Menschen, die sich in Organisationen der Zivilgesellschaft engagieren. Akteure der Zivilgesellschaft setzen sich für diverse politische Ziele ein. Es sind häufig Ziele, die im politischen Prozess zu wenig unterstützt werden. Wer sind aber die Akteure der Zivilgesellschaft? Können wir sie als Vermittler und Sprecher der Menschen ansehen, die nicht in der Lage sind, ihre Interessen Gehör zu verschaffen? Skepsis ist angebracht. 459
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Eine genauere Betrachtung der zivilgesellschaftlichen Organisationen zeigt, dass diese sich zumeist aus gut gebildeten und relativ einkommensstarken Bevölkerungsschichten rekrutieren, deren Interessen sich in der Regel erheblich von denen ärmerer Schichten unterscheiden (Bödeker 2014). In der Literatur gibt es daher Stimmen, die im Zusammenhang mit der Ausweitung von Beteiligungsrechten vor einem Zielkonflikt zwischen mehr Demokratie und politischer Gleichheit warnen. Für Armin Schäfer vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung und Harald Schoen von der Universität Bamberg ist „die Ausweitung demokratischer Beteiligungsrechte […] kein politisches Allheilmittel, sondern gleicht eher einem Medikament mit gravierenden politischen Nebenwirkungen“. Es sei zu befürchten, „dass unter den Bürgern die Einflusschancen weiter zugunsten der ohnehin aktiven und durchsetzungsfähigen Gruppen verschoben werden“ (Schäfer & Schoen 2013, S. 115). In ihre Warnung schließen die Wissenschaftler plebiszitäre Instrumente wie Bürgerbegehren und Bürgerentscheide ein.
3.3
Zwischenergebnis: Transparenz und Partizipation kein Allheilmittel zur Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts
Legitimations- und Vertrauensverluste der Institutionen der repräsentativen lokalen Demokratie haben aus meiner Sicht ihre Ursache in einer zunehmenden sozialen Ungleichheit und einer als einseitig und ungerecht empfundenen Interessenberücksichtigung und Entscheidungsfindung der politischen Akteure und der Prioritäten der Mehrheitsgesellschaft. Das Angebot von mehr Transparenz und mehr Möglichkeiten der Beteiligung kann keine Abhilfe schaffen, solange die Interessen der Benachteiligten bei kommunalpolitischen Entscheidungen nicht adäquat berücksichtigt werden. In Städten mit sozialen Brennpunkten und Wohnungsnot fühlen sich heute Teile der Stadtgesellschaft ignoriert und abgehängt. Die Berliner Politik bietet hierfür Anschauungsmaterial. Ich erinnere an den Volksentscheid zum Tempelhofer Feld. Der Bau von Wohnungen im Randbereich des Feldes wurde von einer Mehrheit zugunsten der vollständigen Nutzung als Freizeitgelände für die Nachbarschaft abgelehnt (weitere Beispiele: Schäfer & Schoen 2013, S. 108ff.). Die Unzufriedenheit eines Teils der Stadtgesellschaft mit den Prioritäten der Stadtpolitik bedeutet meines Erachtens nicht die Ablehnung der formellen Regeln und Institutionen der Demokratie. Der Zulauf zu populistischen Strömungen, die zunehmende Intoleranz gegenüber den Meinungen Andersdenkender, die Verrohung der Sitten im öffentlichen Leben und die Verbreitung von Diffamierungen und Gewaltandrohungen gegenüber gewählten Repräsentanten über die sozialen Medien zeigen jedoch, dass der gesellschaftliche Frieden und die Demokratie auch in Deutschland in Gefahr sind. Eine gefährliche Spirale wurde in Gang gesetzt. Sie kann nicht unmittelbar durch eine Anwendung von Instrumenten der Transparenz und Bürgerbeteiligung gestoppt werden. Nötig ist eine bessere Problemlösungskompetenz der lokalen Politik und Verwaltung: Es kommt auf deren Leistungen an. Instrumente der Transparenz und Partizipation können hierbei hilfreich sein, sofern sie genutzt werden, um den dargestellten schichtenspezifischen Bias zu korrigieren.
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„Government for the people“ – zur Leistungsfähigkeit der lokalen Demokratie für den gesellschaftlichen Zusammenhalt
Sozial benachteiligte Gruppen sind auf eine leistungsfähige Verwaltung und Kommunalpolitik angewiesen. Dies gilt für den Zugang zu sozialen Leistungen ebenso wie für die Berücksichtigung ihrer Belange im Rahmen der Stadtentwicklung und Planung der Infrastruktur des städtischen Zusammenlebens. Hier ist nicht der Ort, die brennenden Probleme der Städte – von der Wohnungspolitik, dem Klimaschutz und der Verkehrswende bis hin zur Gesundheitsversorgung und zu Fragen von Sicherheit und Ordnung – zu behandeln. Ich möchte nur ein Querschnittsthema herausgreifen, das zu einer massiven Veränderung der Arbeitsprozesse in den Kommunen führen wird: die Digitalisierung. Sie bietet die Chance zu generellen Leistungsverbesserungen, insbesondere aber auch zu einer gezielten Fürsorge für sozial benachteiligte Bevölkerungsschichten. Das 2017 verabschiedete Onlinezugangsgesetz (OZG; BMJV 2017) verpflichtet die Verwaltungen von Bund, Ländern und Gemeinden, ihre Verwaltungsleistungen bis Ende 2022 online bereitzustellen. Von den 575 identifizierten OZG-Leistungen betreffen allein 460 die Kommunen. Beispiele für solche Verwaltungsleistungen sind die Beantragung von Wohngeld, Leistungen der Einwohnermeldeämter, Anträge auf Gewerbezulassungen sowie Ausschreibungen und öffentliche Aufträge (Stocksmeier & Hunnius 2018). Die Digitalisierung erleichtert damit den Bürgerinnen und Bürgern den Zugang zu öffentlichen Leistungen sowie Melde- und Zulassungspflichten. Sie bewirkt Rationalisierungen und Effizienzsteigerungen der Arbeitsprozesse innerhalb der Behörden. Sie scheint auch – wie das Hamburger Beispiel zeigt – positive Wirkungen für die Kommunikation und Kooperation zwischen den Behörden zu haben. Im Ergebnis dürfte all dies zu einer Verbesserung der kommunalen Leistungen führen. Voraussetzung ist allerdings, dass die Bürgerinnen und Bürger mit dem digitalen Service nicht allein gelassen werden. Vielmehr sollten die Möglichkeiten der Digitalisierung genutzt werden, um hilfsbedürftige Menschen regelmäßig analog direkt anzusprechen, ihren Bedarf an Beratung und Hilfe zu erfragen und sie über ihre Rechte aufzuklären. Beispiele aus der Privatwirtschaft zeigen wie der Online-Service nicht ausgestaltet werden sollte. Lange Wartezeiten beim Zugang zu Callcentern sowie fehlende konkrete Hilfe bei Unklarheiten und Streitfällen sind insbesondere für sozial benachteiligte Bevölkerungskreise hohe Hürden, um zu ihrem Recht zu kommen. Auch auf die Sprache kommt es an: Wenn sich der Beauftragte für IT und Digitalisierung in der Hamburger Senatskanzlei der Öffentlichkeit als „Chief Digital Officer“ (Senatskanzlei 2018) vorstellt, dann fragt man sich, für wen er sich verantwortlich fühlt. Bei Projekten der Stadtentwicklung und Stadtplanung eröffnet die Digitalisierung der Datenbestände gezielte Möglichkeiten, mit Menschen aus Problemgebieten ins Gespräch zu kommen. Dies müsste allerdings auf direktem Weg und nicht allein über eine OnlineBefragung geschehen. Im Rahmen der konzeptionellen Ausgestaltung von Projekten sollte den Menschen in Problemgebieten eine Stimme gegeben werden. Anbieten würde es sich, hierfür eine Ansprechperson einzusetzen, die als Anwalt oder Anwältin benachteiligter 461
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Interessen im Prozess der Bürgerbeteiligung wirken kann. Bei großen Konflikten zwischen den Interessen der Mehrheit und denen der Minderheit wäre eine Befassung der politischen Kommunalgremien in öffentlicher Sitzung anzuraten. Positive Effekte kann ein mehr an Transparenz mithilfe der Digitalisierung für die Kontrolle der Verwaltungsvorgänge haben. Dies gilt in besonderer Weise für das kommunale Beschaffungswesen. Mehr als die Hälfte der öffentlichen Auftragsvergabe, deren Finanzvolumen auf über 300 Milliarden Euro jährlich geschätzt wird, wird durch die Kommunen getätigt (Vergabeblog 2011). Die Korruptionsgefahr ist im Bereich der Auftragsvergabe relativ groß, wie das Bundeslagebild Korruption des Bundeskriminalamtes regelmäßig belegt (2019, S. 12, 21). Die sogenannte E-Vergabe, die ab 2020 auch für alle national durchgeführten Auftragsvergaben verpflichtend ist, kann einen großen Beitrag zur Korruptionsvermeidung leisten. Bauaufträge sind hiervon noch ausgenommen. Anscheinend haben die Vertreter der Auftragnehmer öffentlicher Bauvorhaben und die öffentlichen Auftraggeber, die im Deutschen Vergabe- und Vertragsausschuss für Bauleistungen (DVA) versammelt sind, unterstützt vom BMI hier erfolgreich ihre Interessen verteidigt (Vergabeblog 2019). Ein hohes Maß an Transparenz ist ein wichtiges Mittel zur Korruptionsprävention. Auf kommunaler Ebene sind die handelnden Akteure oft persönlich eng verbunden. Beispiele von Vetternwirtschaft und Korruption beschädigen das Vertrauen in die Integrität von Kommunalpolitik und Verwaltung. Nach Angaben des Bundeskriminalamtes sind hier vor allem Amtsträger in Leitungsfunktionen involviert (2018: 71 Prozent; BKA 2019, S. 16). Korruption führt zu überhöhten Preisen oder zu verminderter Qualität der Leistungen und schadet letztlich allen Bürgerinnen und Bürgern vor Ort. Sie ist Gift für die lokale Demokratie. Die Digitalisierung kommunaler Leistungen allein wird allerdings nicht ausreichen, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt der Städte zu verbessern. Nötig sind umfassende stadtpolitische Konzepte, die im Stil ‚aktiver Politik‘ die Probleme sozial benachteiligter Gruppen der Stadtbevölkerung und ihrer Quartiere angehen. Dies erfordert nicht zuletzt eine Rückbesinnung auf die zentrale Funktion der Städte und Gemeinden für Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge sowie mehr personelle und finanzielle Ressourcen in Verwaltungsbereichen, die sich mit den Problemen der sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen befassen. Notwendig scheint mir auch eine Veränderung der Prioritätensetzung und Rhetorik des politischen Führungspersonals zu sein: Kommunalpolitische Führung sollte sich nicht als permanenter Wahlkampf um die Stimmen der eigenen parteipolitischen Klientel erweisen, auch wenn dies für die eigene Wiederwahl nützlich sein mag. Die Verpflichtungen des Amtseids nach Art. 56 GG gelten auch für die Inhaber kommunaler Wahlämter.
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Zusammenfassung
• Hauptaufgabe der lokalen Demokratie muss es sein, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zur Richtschnur der Kommunalpolitik und des Verwaltungshandelns zu machen. • Instrumente zur Transparenz und direkten Bürgerbeteiligung sind kein Patentrezept zur Stärkung der lokalen Demokratie. Es muss noch einiges mehr hinzukommen. Angesichts der sozialen Ungleichgewichte in der Stadtgesellschaft; bei den unterschiedlichen Möglichkeiten und Fähigkeiten zur Partizipation muss die Stärkung der Problemlösungsfähigkeit im Vordergrund stehen. • Transparenz und Digitalisierung von Verwaltungsvorgängen bewirken Veränderungsprozesse innerhalb der Kommunalverwaltung. Sie stärken damit potenziell die Leistungsfähigkeit der Kommunen. Die Kontrollfunktion von Transparenz wirkt vorbeugend und kann zur Verhinderung gemeinwohlschädlichen Verhaltens beitragen. • Zur Sicherung und Stärkung sowohl der lokalen Demokratie als auch des gesellschaftlichen Zusammenhalts sind stadtpolitische Konzepte nötig, die im Stil einer ‚aktiven Politik‘ die Probleme der sozial benachteiligten Stadtbevölkerung adressieren. • Mehr Vertrauen in das Handeln der lokalen Akteure wird nur erreicht werden können, wenn es gelingt, den Eindruck von einer einseitig, die Interessen der Wohlhabenden berücksichtigenden Stadtpolitik durch eine sozial ausgewogene Politik zu korrigieren.
Literatur Bödeker, S. (2014). Die ungleiche Bürgergesellschaft – Warum soziale Ungleichheit zum Problem der Demokratie wird. 13. August 2014. Bundeszentrale für politische Bildung. https://www.bpb. de/gesellschaft/bildung/zukunft-%20bildung/189941/die-ungleiche-buergergesellschaft?p=all. Zugegriffen: 23. März 2019. Beck, J., & Stember, J. (2019). Modellkommune Open Government – Projektbericht. Hrsg. v. Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat. August 2019. Berlin. https://www.bmi.bund. de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/themen/moderne-verwaltung/projektbericht-modellkommune-open-government.pdf;jsessionid=7632E8C3BD4DD4BFC776BF95546 6CD00.2_cid373?__blob=publicationFile&v=1. Zugegriffen: 22. September 2019. Bundeskriminalamt [BKA] (Hrsg.). (2019). Korruption Bundeslagebild 2018. https://www.bka.de/ SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/JahresberichteUndLagebilder/Korruption/korruptionBundeslagebild2018.html. Zugegriffen: 13. September 2020. Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat [BMI] (2013). Pressemitteilung: Start von „GovData – Das Datenportal für Deutschland“. 19. Februar 2013. https://www.bmi.bund.de/ SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2013/02/gov-data.html. Zugegriffen: 22. September 2019. Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz [BMJV] (2017). Gesetz zur Verbesserung des Onlinezugangs zu Verwaltungsleistungen (Onlinezugangsgesetz – OZG). 14. August 2017. https:// www.gesetze-im-internet.de/ozg/OZG.pdf. Zugegriffen: 13. September 2020. Kuder, Th. (2016). Starke Lokale Demokratie: Leitlinien für eine hochwertige, inklusive Bürgerbeteiligung. vhw werkStadt, 8. 463
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Die Stadt – Mikrokosmos der Demokratie
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„Ohne die Stadtgesellschaft geht es nicht“ Dortmunds Oberbürgermeister Ullrich Sierau im Gespräch mit Klaus Selle Ullrich Sierau und Klaus Selle
Anlass des Gesprächs zwischen Ullrich Sierau und Klaus Selle waren Recherchen im Rahmen des multikom-Projektes1 zum Programm „nordwärts“, mit dem von 2015 bis 2025 in der nördlichen Stadthälfte Dortmunds Strukturimpulse gesetzt werden sollen.2 Dieser Ansatz nimmt in seiner Offenheit und Projektorientierung Elemente des Planungsverständnisses der IBA Emscher Park auf und unterscheidet sich auch in anderer Hinsicht von gängigen Stadtentwicklungskonzepten. Das machte neugierig und führte zu diesem Gespräch – das dann aber nicht allein um „nordwärts“ kreiste, sondern auch damit zusammenhängende allgemeinere Fragen aufwarf: von der Bewältigung des Strukturwandels bis zur Bedeutung der Stadtgesellschaft in Prozessen der Stadtentwicklung. Im Folgenden werden Ausschnitte aus dem fast dreistündigen Gespräch wiedergegeben. „Der Norden drohte abgehängt zu werden.“ […] Klaus Selle [KS]: Wie kam es zu „nordwärts“? Wie entsteht die Idee zu so einem Projekt? Und wie entwickelt sie sich weiter? Ullrich Sierau [US]: Als Hintergrund muss man die Strukturkrise und die damit verbundenen gewaltigen Herausforderungen sehen: Mit dem Strukturwandel hat Dortmund rechnerisch über 80.000 Arbeitsplätze in den Bereichen Kohle, Stahl, Bier u. a. verloren. Das ging damals von 320.000 auf 240.000 herunter. Heute stehen wir wieder bei 330.000.
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„Multilaterale Kommunikation in Prozessen der Stadtentwicklung“, ein von der DFG gefördertes Projekt, in dem von 2015 bis 2018 rund 50 verschiedene Stadtentwicklungsprozesse (vom Umbau öffentlicher Räume bis zu gesamtstädtischen integrierten Konzepten) untersucht werden: https://www.pt.rwth-aachen.de/cms/PT/Forschung/Publikationen/~shzr/Details/?file=719569. Vgl. ausführlicher zum „nordwärts“-Ansatz auch Bonan, M., & Ellwein, H. (2017): „Das Halbe für das Ganze“ – Tägliche Praxis multilateraler Kommunikation und Governance im Projekt „nordwärts“ in Dortmund. pnd|online II/2017 sowie https://www.dortmund.de/de/leben_in_ dortmund/nodwaerts/start_nordwaerts/index.html.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_29
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Tendenz weiter steigend. 5.000 sollen in jedem Jahr dazu kommen. Noch immer ist die Arbeitslosigkeit zu hoch, aber wir tun alles, um unter die 10 % zu kommen. Vieles ist vor allem im Süden der Stadt geschehen: Die Entwicklung der Technischen Universität ist da in erster Linie zu nennen. Heute haben wir über 50.000 Studierende in der Stadt und konnten gerade die 7. Hochschule – eine private – begrüßen. Dann natürlich der Technologiepark mit inzwischen über 11.000 Arbeitsplätzen. Und selbstverständlich auch die Entwicklung der Phoenix-Standorte in Hörde – Phoenix-West und Phoenix-Ost. Das hat dann irgendwann auch Stimmen aufkommen lassen wie: „Im Süden passiert ganz viel – bei uns nicht“ oder „Ihr vergesst den Norden“. Das hat sich insbesondere an den Phoenix-Projekten festgemacht. Dabei wurde gern vergessen, dass diese Ungleichheit von Norden und Süden bereits mit der Nordwanderung des Bergbaus begann. Im Süden steht sie hoch an, im Norden taucht die Kohle ab. Und als der Süden ausgekohlt war, konnte dort der Strukturwandel bereits beginnen. Im Nordteil der Stadt fielen in großem Umfang Arbeitsplätze weg. Dazu kam ein Verlust an Kaufkraft, der wiederum mit Segregation einherging. Der Norden drohte abgehängt zu werden. Und das darf nicht sein. Ein integriertes Projekt musste her. Als wir unseren Aktionsplan zur Sozialen Stadt machten, war das klar ablesbar: 11 der 13 Schwerpunkte lagen im Norden. Aber es war irgendwie auch klar: Es braucht mehr als einzelne Soziale-Stadt-Gebiete. Ein integriertes Konzept muss her. Nachdem für den Süden die wichtigsten Strukturimpulse gesetzt waren und sich die Entwicklung dort selbst trägt, musste nun der Norden in den Mittelpunkt rücken. KS: Soweit die Sachlage. Aber wie wird aus solchen Erkenntnissen ein Projekt, ein Programm? US: Ich war und bin viel in der Stadt unterwegs. Und irgendwann wurde deutlich: Der Norden ist dabei, sich aus dem politischen Prozess zu verabschieden. Bei der damaligen Stichwahl 2014 [Oberbürgermeister] war zum Beispiel die Wahlbeteiligung erbärmlich niedrig. Ich weiß noch wie heute, dass ich damals mit einem Bezirksbürgermeister aus dem Norden telefoniert habe und ihm sagte: „Hör mal, wir müssen als Gesamtstadt etwas für den Norden machen“. Ich habe das dann zunächst mit Leuten meines Vertrauens in der Verwaltung besprochen und die konnten der Idee etwas abgewinnen. Danach habe ich verschiedene öffentliche Veranstaltungen genutzt, um das etwas deutlicher werden zu lassen. Auch das wurde erstmal freundlich bewertet. Die Reaktionen waren durchaus positiv, manchmal etwas verhalten – so nach dem Motto: ‚mal abwarten, was das werden soll‘ – aber positiv. So entstand die Idee eines besonderen Programms für den Norden. Das heißt: für fast die Hälfte des gesamten Stadtgebietes. Da haben uns natürlich alle erstmal für verrückt erklärt. KS: Vom Phoenixsee war schon die Rede und ich würde gern noch einmal auf ihn zurückkommen, bevor wir weiter über „nordwärts“ reden. Auf den ersten Blick sind das ja zwei gänzlich verschiedene Projekte. Aber auf den zweiten Blick stehen beide für Strukturwandel, für kommunalen Gestaltungswillen. Und beide heben sich auch vom sonst in der hiesigen Stadtentwicklungspolitik Üblichen ab. Wenn also dieser kleine Umweg gestattet ist: Wie war das damals mit Phoenix-Ost?
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US: Den Plan für den See hatten wir schon eine ganze Weile. Aber das war erstmal intern. Denn wir konnten mit einer solchen Diskussion zu der Zeit [1999/2000] noch nicht nach draußen gehen, weil es dann geheißen hätte: Ihr gefährdet die Arbeitsplätze, die da noch sind. Wir mussten abwarten, bis Thyssen sagt: „Wir stellen die Produktion ein.“ Als das gesagt war, gab es zudem einen Anstoß durch die Entwicklungsabsichten für PhoenixWest. Es war klar, dass dort Boden benötigt wurde – für die Modellierung des Geländes, um dort ein Plateau zu machen. Und den konnten wir durch den Aushub in Phoenix-Ost [wo der See entstehen sollte] ganz aus der Nähe bekommen. Als wir nun den Wettbewerb im Jahr 2001 für Phoenix-West starten wollten, musste dann aber auch – für die Politik, die Wettbewerbsteilnehmer und die Öffentlichkeit – klar sein, dass wir vorhaben, für die Ostfläche einen See zu machen. Da haben uns natürlich alle erstmal für verrückt erklärt. Und gesagt: „Wieder ein Plan, der nicht gebaut wird.“ Aber wir wussten nach Machbarkeitsstudien und dem Planfeststellungsverfahren, dass das gehen könnte. Die bauliche Umsetzung verlief dann trotz der sehr aufwändigen Entfernung von Fundamenten und Stollen zügig, sodass der See 2010 geflutet werden konnte. Die Geschwindigkeit der Vermarktung war atemberaubend. Was wir aber gar nicht erwartet hatten, war wie rasant die Vermarktung der Flächen danach verlief. Das hatte Gründe: Wir erlebten den Beginn der Reurbanisierung und das Abflachen der Abwanderung aus den urbanen Zentren. Und wir hatten jetzt ein sehr attraktives Angebot. Direkt an einem See kann man dann erst wieder in Essen wohnen. Wohnen am Wasser ist eben eine tolle Adresse – sowohl zum Wohnen wie auch zum Arbeiten. Es gab daher schon frühe rege Nachfrage auch aus der Region. Es gab viele, die uns sagten: Wo sind denn die besonderen, die besseren Wohngebiete? Wenn ihr mir so etwas nicht anbieten könnt, gehe ich nach Herdecke. Diese Ansage ‚sonst gehe ich nach Herdecke‘ war immer so etwas wie die Höchststrafe. Da waren ja nun auch schon genug unserer Fußballer hingezogen. Also war auch klar: Wir müssen etwas anbieten können, damit die Leute nicht nach Herdecke ziehen. Sondern vielleicht sogar von dort nach Dortmund. Obwohl wir also schon solche Hinweise hatten, war die Geschwindigkeit der Vermarktung doch überraschend und atemberaubend. Das hat dazu geführt, dass die, die früher kritisch waren – „das rechnet sich nicht“, „das wird nie was“ – nun alle Eltern des Projektes sind. Also: Der Erfolg hat viele Väter, der Misserfolg nur Stiefmütter. Heute ist das ein Projekt, das europaweit Aufmerksamkeit gefunden hat – wohl auch, weil es so etwas wie die Verwandlung eines Stahlstandortes in einen See und dazu Wohnen, Gewerbe, Freizeit und Tourismus – aber auch die Hochöfen auf Phoenix-West – nicht noch einmal gibt. Und die, die damals sagten „Privat vor Staat! Das darf nicht die Stadt machen, das muss ein privater Investor machen“ irrten sich. Denn es war weit und breit kein belastbarer privater Investor zu finden, der damals in das Risiko einsteigen wollte. Das zeigt auch: „Privat vor Staat“ hat sich gerade auch an diesem Projekt als ordnungspolitische Fiktion erwiesen. Wir als Stadt haben jetzt sozusagen die Infrastruktur für das folgende Engagement der Privaten geschaffen. Man muss das so managen, dass auch der Markt darüber fröhlich ist.
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KS: Das Engagement Privater spielt doch auch eine wichtige Rolle im „nordwärts“-Prozess, wenn ich das richtig sehe. Wie gewinnt man Marktakteure als Kooperationspartner? US: Es soll ja Verwaltungen geben, die sagen, wir tragen unserem Rat mal vor, was zu tun ist, und dann beschließt der das und dann warten wir mal so lange, bis das eintritt. So ist das bei uns nicht. Für uns ist nicht erst seit „nordwärts“ klar, dass wir Partner finden, die das wollen, die ihr Interesse in diesem Prozess erkennen, die sich in der Lage sehen, mitzumachen ohne überfordert zu sein, die das als Chance verstehen und nicht als Risiko, und die ihren Claim haben, den sie bearbeiten. Aber im Vertrauen darauf, dass nebenan auch noch jemand arbeitet, der auch Gold findet. Das meint jetzt nicht nur Unternehmen, Investoren, Entwickler – aber die eben auch. Das Stichwort Vertrauen ist schon gefallen. Das ist elementar: Man muss sich darauf verlassen, dass die Stadt auch Worten Taten folgen lässt, dass sie Projekte gut und zügig managen kann. Und da war die Phoenix-Entwicklung sehr wertvoll. Sie hat auch dazu geführt, dass das Vertrauen in unsere Leistungsfähigkeit und in die Aussagen der Verwaltung deutlich gestiegen ist. Das hat insgesamt die Verhältnisse auch zwischen Politik und Verwaltung verbessert und uns danach auch manche Diskussionen um des Kaisers Bart erspart. Private Investoren möchten gerne wissen, in welchem Rahmen sie investieren. Sie wollen auch wissen, ob es Qualitätsstandards gibt, die anderen auch abverlangt werden. Damit sie nicht ein teures, schönes Gebäude bauen und links und rechts minderwertige Architektur entsteht. Da geht’s auch um Vertrauensschutz. Und um nachhaltige Werthaltigkeitsgarantien. Das haben wir auch mit unseren teilräumlichen Entwicklungskonzepten und den Masterplänen geliefert. Das hat in der Summe dazu geführt, dass wir nicht nur im Süden, sondern auch in der City richtig viel bewegt haben. Man muss das so managen, dass auch der Markt darüber fröhlich ist. Projekte suchen sich Mehrheiten. KS: Womit wir wieder bei „nordwärts“ wären. Wir haben jetzt schon über die Entwicklung der Idee und auch über Vorerfahrungen gesprochen. Nun stellt sich die Frage, wie wird aus einer Idee ein Dekadenprojekt? Was braucht man dazu? US: Was braucht man für ein solches Vorhaben? Man braucht • verlässliche Leute, • verlässliche Strukturen, • einen belastbaren Instrumentenkasten, • eine integrierte Perspektive, die richtige Ausrichtung und Projekte, die für die inhaltliche Ausrichtung stehen, • aber vor allem, das ist das Zentrale, Kooperationspartner außerhalb der Verwaltung, mit denen man das alles machen kann. Es war also die Aufgabe, das zu sondieren und auszuloten. Dazu musste erst einmal die Koordinierungsstelle mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus der Verwaltung besetzt werden. Dann musste mit dem Kämmerer geklärt werden, dass es ein Budget für die Arbeit dieser Koordinierungsstelle gibt. Vor allem aber auch, dass ein finanzieller Rahmen zur Komplementärfinanzierung von Projekten da ist. Im Vordergrund stand zwar die Absicht, private Investitionen und Fördermittel einzuwerben, aber wenn sich einer ansiedeln will
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und dazu noch einen Straßenanschluss braucht, dann muss ich ja auch in der Lage sein, den zu bauen – jetzt sehr vereinfacht und holzschnittartig gesagt. KS: … und wie ist das mit dem Verhältnis von Verwaltung und Politik? US: Wir haben wechselnde Mehrheiten, also keine Regierungsmehrheit und Oppositionsminderheit. So haben wir dann nur potenzielle Sieger im Rat sitzen. Denn wer will, kann Projekte optimieren und Projekten zustimmen. Wir haben keine Schützengräben. Und das ist gut so. Denn so entstehen sachbezogene Diskussionen. Dazu trägt auch bei, dass sich im Verwaltungsvorstand – nach süddeutschem Vorbild – die Mehrheitsverhältnisse im Rat abbilden. Wechselnde Mehrheiten sind aber auch die Stunde der Verwaltung, zumindest hier bei uns. Nicht: Die Mehrheit macht Projekte. Sondern: Die Projekte suchen sich Mehrheiten. Dann war der Punkt erreicht, dass wir Leute von draußen brauchten. Ohne die Stadtgesellschaft in ihrer ganzen Breite, von den Unternehmen, von der Wissenschaft bis zu den Vereinen, den Initiativen und vielen Einzelpersonen, geht es nicht. Ich kannte ja schon eine ganze Reihe aus den früheren Planungsprozessen [Integrierte Entwicklungskonzepte für Stadtbezirke, thematische Masterpläne] – aus der Wirtschaft, der Wohnungswirtschaft, aus dem Bildungsbereich, aus der Zivilgesellschaft und unterschiedliche Bürgerinitiativzusammenhängen, aus der Wissenschaft, aus dem Sport, aus der Kultur. Und es war klar, wir brauchen jetzt Menschen, die für eine räumliche Verankerung des Projektes stehen, für eine gewisse Kompetenz und vor allem für eine gewisse Ambition. Gesucht waren also Personen, die dort wohnen, die viel wissen und die etwas [bewegen] wollen. Natürlich wohnen nicht alle im Norden, denn auch der Süden soll mitbekommen, was dort geschieht. Und auch ein paar Externe sind dabei – für den Blick von außen. Solche Menschen haben wir schon früher bei unseren integrierten Stadtbezirksentwicklungsplänen und den thematischen Masterplänen [z. B. zu Mobilität, Einzelhandel etc.] eingebunden – oft für viele Sitzungen in enger Taktung. Auch die Politik war in diesen Gremien immer dabei und bekam so mit, was wie diskutiert wurde. Und bekam auch mit, dass sich die Zivilgesellschaft trotz ganz unterschiedlicher Ansätze zusammenraufen kann. Auch konflikthafte Themen – wie die Mobilität – konnten so gut bearbeitet werden. Man verständigte sich so auf fachliche Konzepte, die man an die Verwaltung weitergab mit der Empfehlung, das dann auch an die Politik heranzutragen. Auch für „nordwärts“ ist nun mit dem Kuratorium eine solche Struktur geschaffen. Es war klar, dass das Kuratorium keine Verwaltungsveranstaltung werden kann, sondern dass es einen Vorstand gibt, der temporär Schwerpunkte und Arbeitsgruppen bildet und sich nach dem Prinzip der „Westfälischen Schwarmintelligenz“, wie ich das gerne nenne, selbst den jeweils adäquaten Schwarm sucht. Das hat bisher auch gut geklappt. Und wir haben immer die richtigen Leute zusammenbekommen. Teilweise war es sogar so, dass sich manche hier erst kennengelernt haben. Zwei Unternehmerinnen im Kuratorium, die sich bislang nicht kannten, stellen fest, dass die eine in ihrem Unternehmen ein [IT-] Problem hat, das die andere mit ihrem [IT-]Unternehmen möglicherweise lösen könnte. Es entstehen also auch neue Kontakte und Netze. 471
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Darüber hinaus kann sich das Kuratorium auch personell verändern: Einige werden gehen, andere, die etwas bewirken wollen, kommen dazu. Inzwischen ist es so, dass viele auch den Eindruck haben, dass es eine Ehre ist, im Kuratorium dabei zu sein. Denn „nordwärts“ ist schon jetzt eine Erfolgsgeschichte. Wir haben wahnsinnig viele Projekte. Wir müssen sogar aufpassen, dass wir uns nicht verzetteln. Wir müssen auch darauf achten, dass alle Teilbereiche des Nordens dabei sind. Und wir müssen auch auf ‚quick wins‘ achten. Wir können also nicht nur mit den komplexen Projekten anfangen und sagen, in fünf Jahren habt ihr das dann. Sondern ich muss auch Projekte haben, wo man im halben Jahr Ergebnisse sieht. Inzwischen haben wir ja auch schon erste Projekte eingeweiht und konnten deutlich machen: „nordwärts“ lebt. KS: In der ersten Projektgeneration waren ja auch schon einige dabei, die schon angeschoben waren. Das war vermutlich auch ein Beitrag zu diesen ersten, kurzfristigen Erfolgen … UB: Ja, das war einer der wichtigen Punkte. Insofern ist das eine weitere Nähe zur IBA. Da waren zu Anfang ja auch schon Projekte dabei, die es schon gab, die dann das IBA-Label bekommen haben. Und die Leute haben jetzt auch akzeptiert, dass das ein Dekadenprojekt ist. Dass man nicht einmal mit dem Finger schnippen kann und morgen ist alles gut und fertig. Alle wissen, dass das Zeit braucht, Geld, Kraft und Anstrengung braucht. Und auch: dass es Rückschläge geben kann. Das mit den „blühenden Landschaften“, für die man nichts tun muss – das glaubt ja kein Mensch. Und der westfälische Bauer ist auch da hilfreich. Der sagt nämlich: Schnell wachsendes Holz bricht schnell. Und – um im Bild zu bleiben – hier soll so etwas wie eine westfälische Eiche entstehen. Es geht hier eben auch um Nachhaltigkeit – und wir haben nicht umsonst 2014 den Deutschen Preis für nachhaltige Großstädte bekommen. Wir schießen hier nicht aus der Hüfte. Es soll erfolgreich werden und Bestand haben. Diese Haltung hat – glaube ich – vielen gefallen. KS: Die IBA Emscher Park ist ja schon angesprochen worden. Es gibt da in der Tat einige Parallelen, die offensichtlich nicht zufällig sind. Eine fällt ins Auge: Auch hier gibt es keinen Gesamtplan, kein räumliches Gesamtkonzept, in das sich die Einzelmaßnahmen einfügen. Auch Absicht? UB: Wenn ich in einer solchen Situation eine Art Zielplan vorgeben würde, dann hätte das etwas Utopisches und zugleich Absolutistisches. Aber das ist ja in einer demokratisch verfassten, zivilgesellschaftlich aktiven Situation abwegig. Hier ist der Weg zum Ziel auch Teil des Ziels. Wenn ich die Potenziale einer Gesellschaft, auch ihre Empathie, ihr Wissen, nutzen will, dann muss ich die Gesellschaft mitnehmen. Außerdem ist es die Gesellschaft – ob es nun Einzelpersonen sind oder kollektive Schwarmintelligenz –, die mit ihrem Sachverstand Projekte qualifiziert. Außerdem bekommen alle, die in einem solchen Prozess mitmachen, auch einen Eindruck davon, dass das ein unheimlich komplizierter und komplexer Prozess ist, wo sehr viele Faktoren und Interessen unter einen Hut gebracht und gut abgewogen entschieden werden müssen. Und wenn sie mit 100 % Wünschen in solche Prozesse hineingehen, dann merken sie, dass diese 100 % angesichts der Komplexität des Projektes gar nicht zu erreichen
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sind … Und dann verstehen sie auch, dass schon 40 % ein Erfolg sein können … Außerdem identifizieren sie sich mit einem solchen Projekt. Sind stolz. Und erzählen das weiter … KS: „Nordwärts“ verfolgt also wie die IBA das Prinzip des offenen Prozesses und baut auf die identitätsstiftende Wirkung von Projekten. Anders als damals spielt hier aber die Öffentlichkeit eine große Rolle. Außerhalb Dortmunds sind aber auch skeptische Stimmen zu hören, wenn es um Beteiligung geht: Das könne zur Spaltung der Stadtgesellschaft führen und mit der Akzeptanzförderung sei es auch nicht weit her … US: … das stimmt nicht … KS: … Liegt das daran, dass hier bei „nordwärts“ ganz anders vorgegangen wird als bei vielen der üblichen Beteiligungsprozesse? Einerseits geht es hier nicht nur um die ‚Öffentlichkeit‘, sondern um das ganze Spektrum von Akteuren außerhalb von Politik und Verwaltung. Und andererseits verwickelt ihr die, die dabei sind, in langanhaltende Prozesse – also ganz das Gegenteil des ‚schnellen votings‘, das heute so en vogue ist … US: Da ist was dran. Die Diskussionen um problematische Beteiligungsprozesse wurden um Olympiabewerbungen, aber auch um BuGas, Tempelhofer Feld oder oder … geführt. Das sind alles viel zu kurz gesprungene Aktionen. Da wurden Konzepte und Projekte abgestimmt, die von akademisch-administrativen Eliten geschaffen wurden. Das waren Laborprodukte. Da hat vorher niemand daran gedacht, mit den Menschen darüber zu reden. Fachlich waren das, wenn ich etwa an Hamburgs Olympiabewerbung denke, tolle Konzepte. Nicht umsonst haben sie aus verschiedenen Fachwelten Beifall bekommen. Aber weder in St. Georg noch in Pöseldorf oder auch in Blankenese hat jemand an diesen Prozessen mitgemacht. Die, die dann nachher darüber abstimmen sollten, haben das nicht als ihre Sache angesehen, sondern als abstraktes Elitenprojekt betrachtet, an dem sie im Vorhinein nicht beteiligt waren. Und wenn ich das dann zur Abstimmung stelle, dann bekomme ich die Quittung. Das war beim Tempelhofer Feld oder der BuGa in Mannheim auch so. Ganz anders hier bei uns: Ich stelle hier gar nichts zur Abstimmung. Sondern wir bitten die Menschen, etwas zu entwickeln, etwas, das ihr Ding ist, etwas, das sie nachher mögen. Wichtig ist, dass Menschen sagen können: Das ist unsers. KS: Ist das so etwas wie ein Gegenbild zum Phoenixsee? Sind das zwei verschiedene Typen von Stadtentwicklungsprojekten? US: Beim Phoenixsee muss man die Zusammenhänge sehen. Der Strukturwandel war noch nicht weit fortgeschritten. Wir hatten andere Rahmenbedingungen – auch in der politischen Steuerung, auch im ‚Reifegrad‘ der Stadtgesellschaft. Das war schon noch die Zeit, wo man Projekte eher aus dem Hut gezaubert hat. Und es gab das Grundverständnis: Entschieden wird das im Rat. Und zwar vom Fraktionsvorstand, möglichst montagmorgens. Aber durch die veränderte Gemeindeordnung, durch den Verlust der absoluten Mehrheit veränderten sich auch da die Stellgrößen. Das führte u. a. dazu, dass dann eher am Dienstagmorgen im Verwaltungsvorstand entschieden und dem Rat dann vorgestellt wurde.
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Und wenn man wie ich bürgerinitiativ geprägt ist und damit auch ein etwas anderes Bild von Demokratie in einer Stadt hat, dann setzt man auch stärker auf die Einbindung der Stadtgesellschaft. Denn das ist gut für die Projekte. Und da entstehen auch tolle Ideen – etwa die Nordsee, das Konzept einer dezentralen Wasserlandschaft im Norden als Gegenstück zum Phoenixsee. KS: Man redet doch in unserer Zunft gern von Leuchtturmprojekten. Das Phoenix-Projekt mit See und Hochöfen ist sicher so etwas. Braucht das auch der Norden? US: Damals ging es um einige hundert Hektar. Jetzt geht es um die Hälfte des Stadtgebietes. Da kann man nicht mal eben Leuchttürme definieren. Da ist die Körnigkeit auch eine andere. Und: Da geht es auch um anderes. Eben nicht um See und Hochöfen, sondern z. B. um einige tausend Arbeitsplätze. Aber ich will nicht ausschließen, dass noch Projekte entstehen, die wieder so etwas wie Leuchttürme werden. Ich denke da zum Beispiel an die Hafenentwicklung. Die geht ja weit in den Norden hinein. Aber es ist hier ohnehin nicht sinnvoll zu sagen: dies oder das. Leuchtturm oder viele kleine Projekte. Das entwickelt sich – beides. Das alles muss reifen … KS: Das klingt so ‚organisch‘. Ist da nicht auch Steuerung im Spiel? Oder anders ausgedrückt: Wie reagiert Ullrich Sierau auf das Stichwort ‚Leadership‘? US: Das ist schon ein recht schillernder Begriff. Aber letztlich ist das leicht zu beantworten. Auch in demokratischen Systemen kann es natürlich ‚Leader‘ geben, Führungspersönlichkeiten. Aber an prominenten Beispielen haben kluge Köpfe ja bereits illustriert, dass die Herausbildung solcher Personen und Persönlichkeiten nur aus ihrem Verhältnis zur gesellschaftlichen Situation erklärbar ist. Wenn es diese Entsprechung nicht gibt, werden die auch keine guten und akzeptierten ‚Leader‘. Insofern sind sie auch so etwas wie Projektionsflächen oder Kristallisationspunkte für gesellschaftliche Prozesse. Das eine hängt mit dem anderen zusammen. Wer führen will, muss also auch in engem Kontakt zur Gesellschaft und zu den Menschen stehen, dort Rat einholen und letztlich auch Motivation gewinnen. Denn einer, der nach vorne geht, muss immer auch zurückschauen, ob da noch jemand nachkommt, ob er eine Gruppe führt oder alleine mit seinem Führungsanspruch ist. Deswegen glaube ich: Ja, man ist sogar in der Pflicht, eine Programmatik zu entwickeln, Ziele und Projekte vorzuschlagen – und Personen dafür einzunehmen. Das darf aber nicht so gehen wie bei manchen Architekten, die sagen: Ich habe hier einen tollen Entwurf. Und entweder du liebst ihn – oder ich lieb dich nicht. KS: Jemand hat mal geschrieben, Architekten seien Autisten – und das wären dann ja wohl eher keine ‚Leader‘? US: Genau so ist es. Wer in der Führungsverantwortung ist, darf kein Autist sein, sondern er muss sehr dialog- und kommunikationsorientiert sein. In solchen Dialogen entstehen Ideen und Projekte. Aber Führungsverantwortung heißt dann auch, zu schauen, ob die machbar sind, was es braucht, um sie weiter verfolgen zu können … man muss also schon
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bei der Konzeptionierung eines Projektes darauf achten, dass das kein Wolkenkuckucksheim wird. KS: Wie ‚führt‘, wie steuert man eine so große Stadtverwaltung? US: Es muss natürlich Leitentscheidungen geben – inhaltlich wie organisatorisch. Aber wenn ich mich darauf beschränkte, würde ich im Laufe der Zeit Schiffbruch erleiden. Die Verwaltung muss sich darin auch wiederfinden, sie muss das als sinnvoll und sinnhaft empfinden. Und dann muss man sie auch in Ruhe lassen und sie ihre Arbeit machen lassen. KS: Noch gar nicht angesprochen haben wir die Ressourcenfrage für „nordwärts“. Wenn ich das in den Unterlagen richtig gelesen habe, dann baut die Strategie stark darauf, private Mittel, aber auch Fördermittel, Mittel von Stiftungen etc. zu mobilisieren. Und die Stadt setzt laufende Mittel prioritär im Norden ein. Trifft es das? US: In gewisser Weise ist das ein kompensatorischer Ansatz. Temporär sollen Prioritäten gesetzt werden. Heißt: Wenn wir nur Mittel für die Restaurierung eines Turms haben, dann mache ich jetzt zunächst mal nicht den Steigerturm in Berghofen, sondern den Kirchturm in Lindenhorst. Ressourcen müssen in gewissen Grenzen umgesteuert werden. Das heißt natürlich nicht, dass wir nichts mehr im Süden machen – das wäre auch nicht vermittelbar. KS: Habe ich das weiter richtig verstanden, dass nicht-monetäre Ressourcen, also z. B. Kommunikation, Netzwerke etc. eine wichtige Rolle spielen` US: Es gibt generell einen dreifachen Instrumentenkasten. Der umfasst das Recht. Ohne Recht keine Investition. Ich brauche Bebauungspläne, Baugenehmigung, Investitionssicherheit. Das zweite ist Geld – das öffentliche und das private. Da muss es gewisse Relationen geben. Die Hebelwirkung ist wichtig. In der Regel ist das 1:6 – also ein Euro öffentliches Geld und 6 Euro private Investition – bis 1:10. Am Phoenixsee war es noch mehr. Und das Dritte ist das Reden, das Moderieren, das Motivieren, das prozessuale Gestalten. Ich kann Leute haben, die Rechte haben, andere, die Geld haben – und die kommen trotzdem nicht zueinander. Aus diesen drei Komponenten muss ich also eine Gesamtstrategie machen. Dabei gilt: „Gutes Geld geht zu guten Projekten.“ Reden, Netzwerken etc. heißt ja auch: Perspektiven und Projekte entwickeln, Projekte qualifizieren, Wege finden – gemeinsam! Denn die Ideen und Projekte müssen zum Ort passen und gesellschaftlich verstanden werden können. Es muss ein Verhältnis geben – möglichst ein Vertrauensverhältnis, es muss im günstigen Fall schon mal die eine oder andere erfreuliche Erfahrung geben, die eine Grundlage bildet für mehr. Das geht nicht, wenn ich jetzt eine Agentur aus Hamburg oder Hannover bitten würde, das zu übernehmen. Das funktioniert nicht. KS: Wenn Ullrich Sierau sich mit anderen Amtskollegen vergleicht: Täuscht der Eindruck, dass es wenige gibt, die über diese tiefenscharfe Kenntnis der Stadtgesellschaft verfügen? US: Der täuscht nicht. Der ist berechtigt. Aber das hat natürlich auch Gründe: Ich bin einer der dienstältesten Oberbürgermeister in den deutschen Großstädten. Und ich habe das Glück, dass ich schon seit meiner Zeit als Planungsdezernent hier ganz viele Leute und ganz viele Ecken der Stadt kenne. Das ist ein ganz, ganz großes Pfund. 475
Düsseldorfs schönstes Bauwerk sieht man nicht Thomas Geisel
Als Christoph Zöpel als frischgebackener Minister für Bundesangelegenheiten 1978 sein Büro in der Staatskanzlei am Düsseldorfer Rheinufer bezog, blickte er auf einen unablässigen Strom aus Autos, die in der Nord-Süd-Achse die Stadt durchquerten: 55.000 pro Tag! Die Blechlawine schnitt die Stadt vom Rhein ab. Im Vorfeld der Landtagswahlen 1980 kam in das SPD-Wahlprogramm, das Christoph Zöpel als stellvertretender Landesvorsitzender der Partei verantwortete, ein Satz, der für das weitere Geschehen in Düsseldorf geradezu prophetisch wirken sollte: „Eine Straße weniger kann mehr sein als eine Straße zu viel.“ Die SPD gewann die Wahl mit absoluter Mehrheit der Sitze im Landtag. Es sollte noch bis zum Ende des Jahrzehnts dauern, bis Düsseldorfs Stadtrat – nach vielen wortreich geschlagenen Schlachten – mit großer Mehrheit den Beschluss fasste, die stetige lästige Blechlawine unter die Erde zu bringen. Die Idee des Rheinufertunnels war geboren, die Umsetzung eine gewaltige Herausforderung. Es war einer der wenigen wirklich großen Beschlüsse für die Stadtentwicklung hin zur heutigen Metropole am Rhein. Ohne den 1,9 Kilometer langen Tunnel ist das heutige Düsseldorf mit seinem urbanen Lebensgefühl am Fluss, mit seinem städtebaulich prägenden Medienhafen im Süden des Tunnelbauwerks und den Visionen für eine vielversprechende Entwicklung des Hotspots der Kultureinrichtungen am nördlichen Tunnelende nicht denkbar. Als die SPD bei der Landtagswahl 1985 sogar die absolute Stimmenmehrheit errang und Christoph Zöpels Amt aufgepeppt wurde zum Ministerium für Stadtentwicklung, Wohnen und Verkehr, verfügte er auch über die Etats, die aus Träumen Wirklichkeit werden lassen konnten. Er konnte nun Impulse für mehr Lebensqualität in Städten setzen, und er tat es aus Überzeugung. Was er dazu dachte, war damals nicht unbedingt Mainstream, aber er hatte einen roten Faden, der auch heute – über drei Jahrzehnte später – noch als Leitidee für eine sozial- und gesellschaftspolitisch bedeutsame Stadtentwicklung taugt. Seine Grundsätze lauteten: Grün in die Stadt; mehr Raum für Fußgänger; Spielraum für Kinder; Stadterneuerung lieber kleiner als zu groß. Was aber in Düsseldorf in Gang gesetzt wurde, war groß. Und es war Christoph Zöpel, der unbeirrt und im Einklang mit der Stadtspitze an dem Projekt festhielt, das die vielbefahrene Straße unter die Erde verlegte. Damit griff er tief in die herrschende Stadtplanung © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_30
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ein. So waren Diskussionen auszuhalten wie heute, wenn einer die Verkehrswende hin zu mehr Bus, Bahn und Fahrrad in einer ans Autofahren allzu sehr gewöhnten Gesellschaft realisieren will. Es gab Schmähungen in den Medien („Kurfürst“) und persönliche Beleidigungen vom politischen Gegner im Landtag, und man geht fehl, wenn man annimmt, dass verbale Tiefschläge einen selbstbewussten und stets cool auftretenden Minister nicht anfechten. Der Rheinufertunnel wurde nach dem Beschluss von 1989 sehr schnell Realität. In einer Bauzeit von nur dreieinhalb Jahren (15. März 1990‒15. Dezember 1993) mit einem unfassbar exakten Zeit- und Kostenplan wurde ein Meisterwerk geschaffen, das die Stadtentwicklung so nachhaltig beeinflussen sollte wie kaum ein zweites in der Landeshauptstadt. Die Bedeutung ist allenfalls qualitativ messbar mit den Baubeschlüssen für Messe, Flughafen und U-Bahn. Die damaligen Stadtväter und -mütter durften sich über eine 80 %-ige Finanzierung des Tunnels durch Bund und Land freuen; und auch über die Beharrlichkeit des Ministers, der die Finanzierung im Bundesrat erfolgreich absicherte, was in der Hochzeit der deutschen Wiedervereinigung schon allein ein kleines politisches Kunstwerk gewesen sein dürfte. Was macht die heute noch anhaltende Begeisterung für 235.000 in die Erde verbuddelte Kubikmeter Beton aus? Man könnte schlicht sagen: Es ist Düsseldorfs schönstes Bauwerk! Man sieht es zwar nicht, aber es übt Tag für Tag seine positive Wirkung auf Düsseldorfer und Düsseldorf-Besucher aus. Und damit sind nicht in erster Linie die Autofahrer im Tunnel gemeint. Düsseldorfs (heute noch) größtes Projekt der Verkehrsberuhigung mit 28 Hektar Fläche war seiner Zeit voraus. Es brachte die Stadt zurück an den Rhein, und was das bedeutete, konnte man erst erfühlen, als die Dauerblechlawine der Promenade auf dem Tunneldeckel gewichen war. Nun strengte sich die Stadt an, mit einem eigenen Pflaster, einer doppelreihigen Platanenallee und einer Grünzone zwischen zwei Rheinbrücken ein eigenes Erlebnisfeld zu schaffen. Das Rheinufer wurde auf zwei Ebenen begehbar, die Untere Rheinwerft wurde der Gastronomie, Spiel und Sport gewidmet, eine große Freitreppe und eine künstlerisch gestaltete Verbindung am Burgplatz überwanden den Höhenunterschied. Die Promenade überspannte an anderer Stelle den Zuweg zum Alten Hafen, der nun malerisch die Mauern der historischen Zitadelle schmückt. Denkmalschutz konnte – dank eines Machtwortes des Ministers – integriert werden, was eine besondere Note für die Akzeptanz all der Baumaßnahmen in der Bürgerschaft bedeutete. Zudem gelang es, eine damals dringend gewünschte Tiefgarage aus dem Tunnel anzubinden. Neben all der Modernität und technischen Präzision diente der Tunnelbau auch der Kunst und Kultur. Zum einen ließ sich in einem sogenannten Tunnelrestraum das unterirdische Museum KIT (Kunst im Tunnel) unterbringen, zum anderen wurde dem Apollo Varieté sein ungewöhnlicher Theaterbau unter der Kniebrücke ermöglicht. Urbanes Leben, dieses besondere Lebensgefühl zwischen Altstadt und Rhein, das ist heute Alltag. Kein Düsseldorfer und kein Tourist, der sich nicht der besonderen Atmosphäre an dieser Stelle bewusstwird. Den Schlossturm und das Rathaus am einen, den Landtag, Rheinturm und Medienhafen am anderen Ende, ist heute der Ministerpräsident
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des Landes Nordrhein-Westfalen der prominenteste Anlieger der Rheinuferpromenade. Und wenn die Büros geschlossen sind, nehmen sich Jung und Alt ihr Stück Rheinufer: zum Flanieren und Feiern, für Adventure Camps, Büchermeilen und Jubiläumsfeste, Japantag, Marathon, Weihnachtsmarkt mit Riesenrad – und früher auch schon mal als beschneite Skilanglaufstrecke. Der Fantasie sind auf dem Tunnel keine Grenzen gesetzt. Worum in der Planungsphase heftig gestritten wurde, ist heute unverzichtbarer Teil der Stadtkultur. „Prunkstück“ wäre der falsche, weil feudal anmutende Begriff. Die Ufermeile ist vollständig demokratisiert, erobert von allen Altersgruppen. Sie hat die Aufenthaltsqualität für jedermann in der Innenstadt erheblich verbessert, sie ist zudem ein qualitativer Pluspunkt für das Stadtmarketing in der Außendarstellung Düsseldorfs – das berühmte Alleinstellungsmerkmal. Eine solche Stadtplanung zeigt zweierlei: Erstens lohnt es sich, für große Anliegen und um die beste Lösung zu streiten. Das Tunnelbauwerk war wegweisend, in vielerlei Beziehung vorbildlich und vor allem: für Zigtausende zu ihrem Vorteil nutzbar. Dieses so erfolgreiche Projekt macht Mut, sich neuen Herausforderungen zu stellen und durchaus große Schritte in der Stadtentwicklung zu wagen. Zweitens wurde der Kern der Stadt zurückgebracht an den Rhein. Das Lebensgefühl einer Stadt am Fluss ist umso intensiver, je unmittelbarer man diesen Bezug erleben kann. Hinzu kommt eine historische Note: Schon einmal, 1902, hatte Düsseldorf eine Rheinuferpromenade eröffnet. Sie war letztlich das Ergebnis der Befestigung des Rheinufers gegen Überschwemmungen und Eisgang. Doch nachdem die Wasserflut bewältigt war, kam knapp 50 Jahre später die Autoflut, der – dem Zeitgeist folgend – die Schönheit der Promenade geopfert wurde. Jetzt sind wir zu den Wurzeln zurückgekehrt. Düsseldorf hat binnen eines Jahrhunderts zweimal die Fluten besiegt. Die unter die Erde gelegte Tangente am Rhein stellt zusammen mit der oberirdischen Cecilienallee eine unverzichtbare Nord-Süd-Achse dar. Sie nimmt zum Teil die Verkehre aus den nördlichen und südlichen Stadtportalen auf und verteilt sie auf Rheinbrücken und Autobahnen. Dies entlastet den Personen- und Lieferverkehr in der Innenstadt. Der Rheinufertunnel ist somit auch ein ökonomisches wie ökologisches Schwergewicht in der Verkehrspolitik der Stadt und der Region. So wie der Tunnel mit seiner Promenade heute dasteht, muss er nicht bleiben. Schon in den 1980er- und 1990er-Jahren gab es Diskussionen um eine nördliche Verlängerung jenseits der Oberkasseler Brücke; die damals verworfen wurde. Aber nun, mehr als 25 Jahre nach der Tunneleröffnung, ist die Idee wieder da. Sie spielt in städtebaulichen Entwürfen eine Rolle, die mehr sind als nur eine schöne Vision: Im Jahr 2019 wurde ein internationaler Wettbewerb mit dem Namen „Blaugrüner Ring“ in einem zweistufigen Verfahren mit 45 eingereichten Arbeiten abgeschlossen, der das Quartier zwischen Rhein und grüner Gartenachse zu einem großen Ganzen weiterentwickeln soll. Die visionären und nun auch konkretisierten Ideen sollen die Einheit von innerstädtischem Landschafts- und Kulturraum stärken und Akzente für ein neues Kraftzentrum zwischen Rhein, Hofgarten und Kö setzen. Die Planung setzt am nördlichen Tunnelmund an. Zahlreiche Kultureinrichtungen liegen in diesem Ring, beginnend mit der Tonhalle, dem Kunstpalast und dem NRW Forum im Ehrenhof. Die nicht vorteilhaft verknüpfte Kunstakademie verdient eine bessere 479
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Anbindung. Das stark diskutierte nationale Fotoinstitut kann hier hervorragend integriert werden. Für die in die Jahre gekommene Rheinoper wird ein bedeutender Neubau überlegt. Das Schauspielhaus am Hofgarten ist nach 50 Jahren frisch renoviert und wiedereröffnet. Der Ring zieht sich weiter nach Süden, umfasst eine Reihe weiterer Kulturinstitute in der Altstadt, auch die Achse zwischen den Landesinstituten K20 und K21 sowie das geplante Haus der Geschichte Nordrhein-Westfalen im Behrensbau, direkt an der Rheinuferpromenade gelegen. Was den Blaugrünen Ring angeht, so ist er ohne den Tunnel als Ausgangspunkt nicht denkbar. Im Grunde ist dieses zentrale Ringprojekt der Kern der weiteren Profilierung der Landeshauptstadt als internationale architektonisch-künstlerische Metropole mit großer Ausstrahlung und Anziehungskraft. Karl-Heinz Petzinka, der Rektor der Kunstakademie, beschreibt das Ziel so: „Dieses bedeutende Mehrdekadenprojekt, dieser städtebauliche Masterplan für die Kernstadt, könnte ein Meilenstein für viele Jahrzehnte werden, eine neue Meistererzählung für Düsseldorf als Metropole am Rhein begründen“ (Geisel et al. 2020). Dass sich ein Vergleich mit der Berliner Museumsinsel anbietet, sagt auch Petzinka, beschreibt aber nur unzulänglich die einzigartigen natürlichen und baulichen Gegebenheiten und ihre Entwicklung. Düsseldorf, eine Großstadt auf dem Weg zu 700.000 Einwohnern, versteht sich so, dass sie im Rahmen einer aktivierenden Stadtplanung versucht, ihre Bürgerinnen und Bürger beim vielfältigen Städtebau echte Partizipation zu bieten. 40.000 Interessensbekundungen und Stellungnahmen gab es zum Blaugrünen Ring, mehr als bei jeder anderen Bürgerbeteiligung an stadtplanerischen Verfahren. Wir erleben gerade, welche positiven Vibrationen ausgelöst werden, wenn es etwa um die Verlängerung der Rheinuferpromenade geht oder wenn der Wettbewerb kreative Ansätze dafür bietet, dass Barrieren im öffentlichen Raum fallen oder eine heute hauptsächlich von Autos genutzte Brücke in der Zukunft ganz anders vorstellbar ist. Düsseldorf jedenfalls betrachtet seine wirtschaftliche Stärke und Prosperität als Humus, auf dem auch weiterhin Kreativität, Innovation und Fortschritt wachsen und gedeihen können. Auch das Land Nordrhein-Westfalen denkt über eine stärkere Profilierung seiner Landeshauptstadt durch ein attraktives Regierungsviertel und damit für einen aufwertenden Städtebau nach. Damit schließt sich (vorläufig) der Kreis. Ich habe ja hier damit begonnen, was Christoph Zöpel beim Blick aus seinem ersten Ministerbüro vorfand. Oberbürgermeister und Oberstadtdirektor erklärten dem jungen Minister damals beim ersten Dienstgespräch: „Düsseldorf muss an den Rhein rücken.“ Sie fanden einen überzeugten Mitstreiter, Impuls- und Geldgeber. Und so gelang es einer weitsichtigen Politik in Stadt und Land mit respektablen Beschlüssen, die ich mir auch für die Zukunft wünsche, eine nachhaltige Stadtentwicklung in Gang zu setzen, die den Applaus von Generationen verdient. Was den Politiker Zöpel damals antrieb, ist brandaktuell geblieben: das bestmögliche Miteinander in den wachsenden Städten, Autofreiheit in den Quartieren, ein starker öffentlicher Personennahverkehr, die menschliche Dimension der Stadtgestaltung, die ökologische Urbanisierung mit all ihren Konsequenzen für die Energie- und Verkehrspolitik.
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Ich danke Christoph Zöpel für ein dauerhaft schönes Stück Düsseldorf, für sein Mitwirken am schönsten Bauwerk und für einen Satz, der wohl nicht nur auf die Rheinuferpromenade gemünzt ist: „Wer in der kompakten urbanen Stadt Autoverkehrsberuhigung will, sollte zu Fuß gehen!“
Literatur Geisel, Th., Nellen, D., & Zuschke, C. (2020). Düsseldorf – Metropole am Rhein. Stadtentwicklung und Städtebau 2015|2020|2025. Hrsg. v. der Stadt Düsseldorf. Berlin: Jovis.
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Spurensuche Christoph Zöpel und die Verkehrspolitik – genutzte und verpasste Chancen Heiner Monheim
1
Zum Hintergrund meiner Beobachtungen
Die nachfolgenden Beobachtungen beruhen im Wesentlichen auf meinen Erfahrungen, die ich in meinen zehn Jahren im Verkehrs- und Städtebauministerium NRW als Referatsleiter für Stadtverkehr und Verkehrsberuhigung sammeln konnte. Hinzu kam die Kooperation bei der gemeinsamen Herausgabe des Sammelbandes Raum für Zukunft (2008 [1997]) mit vielen Fachbeiträgen zur nachhaltigen Stadtentwicklungs- und Verkehrspolitik und ihrer praktischen Umsetzung in NRW. Meine Beobachtungen sind überwiegend subjektiv. Ihnen fehlt eine systematische analytische Basis, weil die Zeit unserer engen fachlichen Kooperation nur die Jahre 1985‒1995 abdeckt und die damaligen Inhalte sich vor allem auf die Verkehrsthemen beschränkten. Spätere globale Positionierungen Zöpels bezüglich weltweiter Metropolregionen und seine Auseinandersetzungen mit der Metropole Ruhr habe ich nicht ausreichend vertieft, um sie hier auch zu würdigen.
1.1
Unser erstes Zusammentreffen
Im Jahr 1985 war Zöpel zu einer verkehrspolitischen Akademietagung der evangelischen Akademie Loccum eingeladen. Ich war zusammen mit meinem Freund und Kollegen Helmut Holzapfel ebenfalls Referent. Und wir nutzten beide die Gelegenheit, dem Minister „Hausaufgaben“ mitzugeben, als Wünsche von uns zwei Vertretern der alternativen Verkehrsplanung, was die Politik unbedingt ändern müsse. Zöpel reagierte sehr spontan mit dem Hinweis, dass wir dann doch in sein Team kommen sollten, um politiknah an der Umsetzung unserer Ideen zu arbeiten. Holzapfel bekam eine Stelle im ILS in Dortmund, wo er lange die Verkehrsabteilung geleitet hat. Ich bekam eine Stelle in Zöpels Ministerium, das ich bis dahin nur von verschiedenen Sitzungen mit Prof. Ganser und dessen Mitarbeitern zu konzeptionellen Fragen der Verkehrsberuhigung kannte.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_31
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1.2
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Zöpel im Interview
Über seine konzeptionellen Orientierungen hat Zöpel später in einem langen Experteninterview Auskunft gegeben. Das Interview hatte ich zusammen mit der Journalistin Agnes Steinbauer geführt, die damals für den Deutschlandfunk und den WDR arbeitete. Vergleichbare Interviews haben wir auch mit Karl Ganser, Klaus Töpfer und Hans-Jochen Vogel geführt. Die Interviews sollten der „Schlussakkord“ in unserem Sammelband Raum für Zukunft sein (2008, S. 348‒370), den wir Karl Ganser zu seinem 70. Geburtstag gewidmet hatten. Aus der Zusammenschau dieser Interviews lassen sich gut die verschiedenen konzeptionellen Orientierungen im Fachdiskurs der 1970er- bis 2010er-Jahre zur Stadt- und Verkehrspolitik ablesen. Und es wird deutlich, dass Zöpel schon damals ambitionierte Ziele im Sinne einer Verkehrswende verfolgte, allerdings oft auch an die Grenzen des damals politisch Machbaren stieß.
2
Zöpel als Minister im Hause MLS/MSWV/MSV
In Debatten über die Entwicklungslinien deutscher Städtebau- und Verkehrspolitik kommt bei älteren Kollegen oft die Rede auf Zöpel. Er gilt vielen als ungewöhnlich mutiger, innovativer, kreativer und flexibler Minister. Und in der Tat, ich selbst habe von 1972‒1995 viele Bundes- und Landesminister*innen in Bau- und Verkehrsressorts erlebt. Darunter war niemand mit so viel Fachwissen, konzeptionellem Engagement und so unkomplizierter Ressortorganisation.
2.1 Zöpel als Förderer der Verkehrsberuhigung
Nordrhein-Westfalen galt damals bundesweit als „deutsches Mutterland“ der Verkehrsberuhigung. Es hatte sich früh bemüht, möglichst viel von den niederländischen Vorbildern zu lernen. Ich war vor meinem Eintritt ins Ministerium Koordinator des Bundesmodellvorhabens „Flächenhafte Verkehrsberuhigung“, das gemeinsam von der Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung BfLR (deren Chef zehn Jahre lang Karl Ganser war, bevor er 1980 Zöpels Ruf nach Düsseldorf folgte), dem Umweltbundesamt UBA und der Bundesanstalt für Straßenwesen BASt organisiert und finanziert wurde. Zöpels Ministerium schwankte damals zwischen • der eher verkehrstechnisch ausgerichteten Verkehrsberuhigung „á la HUK-Verband“ mit den Exponenten Pfundt und Meewes, die den Großversuch Verkehrsberuhigung in NRW initiiert und geprägt hatten und
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• der von Zöpel favorisierten, viel mehr städtebaulich und stadtgestalterisch ambitionierten, nicht schematischen, sondern flexibel und individuell gestalteten Verkehrsberuhigung und Wohnumfeldverbesserung. Diese Zöpelsche Interpretation hat sich dann auf Dauer auch landesweit durchgesetzt. Ganser hatte mich seit seinem Wechsel nach Düsseldorf mehrfach als Berater in das Ministerium gerufen, um den Mitarbeitern der Städtebauabteilung Tipps zu geben, wie sie sich gegen die starre, richtlinienfixierte Interpretation der Verkehrsberuhigung durchsetzen könnten. Im Jahr 1985 bekam ich dann nach meinem Wechsel in das Ministerium die Aufgabe, mit den viele kreativen, jungen Planungsbüros, die es in Nordrhein-Westfalen gab, das Thema den Kommunen durch entsprechende Planungsaufträge nahezubringen, die ebenso wie die nachfolgenden Investitionen vom Ministerium gefördert wurden. Zöpel machte über viele Jahre Verkehrsberuhigung zu einem Schwerpunkt der Stadterneuerungsprogramme und wurde so politischer „Vater“ der städtebaulich orientierten, offensiven Verkehrsberuhigung. Dagegen waren seine Amtsvorgänger*innen Riemer und Funke noch unter dem Einfluss des damals tonangebenden HUK-Verbandes mehr auf die verkehrstechnischen Verkehrsberuhigungskonzepte fixiert. Zöpel wollte Verkehrsberuhigung auch auf klassifizierte Hauptverkehrsstraßen anwenden. Der HUK-Verband, die BASt und der Deutsche Verkehrssicherheitsrat lehnten solche angeblich autofeindlichen Eingriffe ab. Die besondere städtebauliche Sensibilität Zöpels bewies sich vor allem an den Verkehrsberuhigungsmaßnahmen in den Mitgliedstädten und -gemeinden der beiden Landesprogramme „Historische Stadtkerne“ und „Historische Ortskerne“, in denen es gelang, orts- und altstadtgerecht Straßen und Plätze flächenhaft verkehrsberuhigt umzugestalten, auch auf den Ortsdurchfahrten klassifizierter Straßen.
2.2
Der Straßenbau widersetzt sich
Trotz seiner Präferenz für eine gute städtebauliche Integration gelang es Zöpel allerdings nicht, hausintern die Straßenbauabteilung angemessen zu motivieren, ihre milliardenschweren Straßenbauprojekte stadtverträglicher zu machen. So kam es oft vor, dass die gleiche Bundes- oder Landstraße innerorts mit Mitteln der Städtebauförderung geschwindigkeitsgedämpft und flächenminimiert wurde, ab dem OD-Stein dann aber mit Mitteln des Straßenbaus umso zügiger ausgebaut wurde. Die Stadtplaner waren eben leichter für Verkehrsberuhigung zu sensibilisieren als die traditionellen Verkehrs- und Straßenbauingenieure. Immerhin hatte Zöpel durchgesetzt, dass Planfeststellungsbeschlüsse für neue Ortsumgehungen von ihm nur unterschrieben wurden, wenn die betroffenen Gemeinden auch ein Verkehrsberuhigungskonzept für den Ortskern und die Ortsdurchfahrt vorgelegt hatten. Zöpel hatte zudem den Mut, auch Projekte zum Straßenabbau und zur Straßenrenaturierung zuzulassen, die allerdings nur aus Städtebaumitteln finanziert wurden, weil der Straßenbau sich für eine ‚Wiedergutmachung seiner Sünden‘ nicht verantwortlich fühlte. So wurde die Städtebauabteilung immer dann zum Nothelfer, wenn die anderen 485
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Abteilungen sich hinter ihren Formalismen versteckten. Das erlaubte zahlreiche ungewöhnliche Projekte, minderte aber den Lerneffekt, weil sich die eigentlich zuständigen Abteilungen abschotten konnten.
2.3
„Generell T 30“ wird leider von den eigenen Mitarbeitern torpediert
Die Resistenz der Verkehrsabteilung bewies sich fatal am Thema Tempo 30. Als ich 1985 in das Ministerium kam, wurde Tempo 30 noch sehr restriktiv gehandhabt, mit der gängigen, vom ADAC und HUK-Verband dominierten Grundhaltung • • • •
nicht zu viele T-30-Zonen, nicht zu große T-30-Zonen, immer baulich flankierte T-30-Zonen und keinesfalls T 30 auf Hauptverkehrsstraßen.
Das gefiel Zöpel nicht und er ließ sich von Helmut Holzapfel im ILS und mir für eine offensive T-30-Strategie gewinnen, die ja auch dem sogenannten „Städtetagsmodell“ entsprach. Wir förderten also kommunale T-30-Konzepte aus Städtebaumitteln. Aber die eigene Verkehrsabteilung hat bei dem Thema weiter gebremst. So hat der MSWV-Vertreter im Bundesrat in der entscheidenden Sitzung gegen eine generelle T-30-Regelung votiert, obwohl Zöpel das Gegenteil angeordnet hatte. So konnte die Autolobby ihre Blockade gegen „generell T 30“ bis heute aufrechterhalten.
2.4
Wenig innovationsbereite ÖPNV-Abteilung
Auch die ÖPNV- und Bahnabteilung bremsten Zöpels Kreativität und Verkehrswendeehrgeiz. Ab 1985 engagierte sich die Abteilung für immer weitere, sündhaft teure U- und Stadtbahntunnel. Sie verfolgten das Leitbild der „schienenfreien“ Innenstadt. Zöpel hatte mir gleich zu Beginn 1985 eingeschärft, ich möge doch bitte weitere unsinnige StadtbahnTunnelprojekte verhindern helfen. Das erwies sich aber als schwerer als gedacht. Denn die Tunnelbefürworter nutzten geschickt ihre lange eingespielten Verbindungen zu den örtlichen und regionalen Parteioberen und Baufirmen. Und konnten so durchsetzen, dass die milliardenschwere und wenig netzwirksamen Tunnelstrategie weitergeführt wurde. Heute leiden alle Tunnelstädte unter den hohen Folgekosten. Trotzdem sind auch heute noch die NRW-Metropolen Düsseldorf und Köln weiter auf Tunnelkurs und verfehlen daher den dringend nötigen Modal Shift zum ÖPNV wegen zu geringen Netzfortschritts. Ein trauriges Beispiel ist das unsägliche Milliardenprojekt der Nord-Süd-Fahrt in Köln. Zöpel schaffte es trotz seines Renommees in einem von mir moderierten Schlichtungsverfahren 2016/2017 nicht, gemeinsam mit namhaften internationalen Experten die Stadt
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umzustimmen. So musste eine historische Allee mit über 300 Bäumen geopfert werden, obwohl eine Tramallee eine naheliegende Option gewesen wäre. Die Kölner haben außerdem nicht dazugelernt und planen jetzt auch noch eine Ost-West-Fahrt mit Tunnelstrecke.
2.5
Verpasste Renaissance der Tram
In der ÖPNV-Abteilung gab es Widerstand gegen innovative Straßenbahnprojekte nach Französischem Vorbild. Rasengleistrassen galten als völlig undenkbar. Und es wurden immer eigene Gleiskörper für den Stadtbahnstandard gefordert. Das führte dann zu städtebaulich schlechten Lösungen mit Hochbahnsteigen und teilweise durch Zäune abgeriegelten Stadtbahntrassen oder zu weiteren Tunnellösungen. Eine gute städtebauliche Integration wurde versäumt. Heute steht man verwundert vor den vielen französischen Straßenbahnprojekten und wundert sich, warum so was nicht auch in Nordrhein-Westfalen möglich war, aber mit der ÖPNV-Abteilung waren solche Alternativkonzepte nicht umsetzbar. So blieb am Ende die frustrierende Erkenntnis, dass mit einem Maximum an Tunnelinvestitionen ein Minimum an ÖPNV-Förderung und Netzeffekt erreicht werden konnte. Es war dann fast ein Wunder, dass wenigstens in Oberhausen auf der alten Bahntrasse ein modernes Straßenbahnprojekt umgesetzt werden konnte.
2.6
Bescheidene Innovationen im kommunalen Busverkehr
Ähnlich begrenzt waren die Spielräume im Bereich der kommunalen Busverkehre. Erst gegen Ende von Zöpels Amtszeit gelang es, neben der beachtlichen Innovation der Bürgerbusse, Rufbusse und Schnellbusse, vor allem im Münsterland, auch neue Orts- und Stadtbussysteme für Klein- und Mittelstädte zu etablieren, meist mit Planungskosten der Städtebauförderung. Die ÖPNV-Abteilung hielt es für aussichtslos, Autofahrer*innen im ländlichen Raum zum Umsteigen zu motivieren, und sah deshalb den ländlichen ÖPNV in einer marginalen Restrolle für den Schüler*innenverkehr. Erst die großen Markterfolge der ersten Stadtbussysteme in Ostwestfalen (Lemgo, Bad Salzuflen, Detmold), deren Planung noch in die Amtszeit Zöpels fiel, deren Umsetzung dann von seinen Amtsnachfolger Kniola ermöglicht wurde, bewiesen, welche große Bedeutung attraktive Busangebote in Kleinstädten für den Einkaufs-, Freizeit- und Tourismusverkehr ländlicher Regionen haben. Die ÖPNV-Abteilung war nicht bereit, für solche innovativen ÖPNV-Konzepte eigenes Geld aufzuwenden, also sprang die Städtebauabteilung mit ihren Planungskostenprogrammen in die Bresche. Damit gelang es vorübergehend, NRW zum Pionierland der innovativen Stadtbusse nach Schweizer Vorbild zu machen. Leider ging aber in den Folgejahren das Modell Orts- und Stadtbus nicht in Serie. Weil die Landesnahverkehrsgesetze den kommunalen Busverkehr bei den Kreisen als Aufgabenträger beließen, die sich um feinerschließende ÖPNV-Systeme wenig kümmerten. Die Nahmobilität war damals kein Thema. Busverkehr im ländlichen Raum wurde nur regional 487
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gedacht, eine Feinerschließung mit dem ÖPNV (Dorfbus, Landbus, Ortsbus) galt als nicht darstellbar. Dagegen setzte Zöpel die Liebe für die Kleinstrukturen in den historischen Orts- und Stadtkernen sowie in den gründerzeitlichen Mischgebieten der Großstädte. Damit war er der damaligen Zeit weit voraus. Trotzdem ist in der kommunalen Praxis das Konzept „Nahverkehr von unten“ längst nicht überall angekommen, weil es dem Vorurteil widerspricht, der ländliche Raum müsse Autoland bleiben.
2.7
Zöpel und der Radverkehr
Zöpel selbst war kein passionierter Radfahrer. Im Gegenteil: bei seinen gelegentlich der Ministerrolle geschuldeten demonstrativen Presseradfahrten fühlte er sich sichtlich unwohl auf dem Fahrrad. Stundenlang durch den dichten Stadtverkehr zu radeln, war seine Sache nicht. Trotzdem maß er im Rahmen der Verkehrsberuhigung dem innerörtlichen Radverkehr eine große Rolle bei und förderte früh das Stadtradeln. Er akzeptierte, dass der Kfz-Verkehr Flächen, Privilegien und am Ende auch Haushaltsmittel abgeben musste, um dem Radverkehr zu seiner dringend erforderlichen Renaissance zu verhelfen. Zöpel hatte durch sein Engagement bei den Naturfreunden auch Bezug zum Radwanderern bekommen und daraus mehrere Ansatzpunkte für seine Fahrradpolitik gefolgert: • Um den überörtlichen Radverkehr zu fördern, ermöglichte er eine Aufstockung der Radverkehrsmittel in den Straßenbauprogrammen für eine Forcierung des Radwegebaus an klassifizierten Straßen. • Ihm war klar, dass auch der Radverkehr eine Wegweisung brauchte, vor allem im überörtlichen Straßen- und Wegenetz. Dafür initiierte er Modellvorhaben in Bochum und im Kreis Neuss, um mithilfe wissenschaftlicher Begleitung durch das ILS die besondere Bedeutung der Fahrradwegweisung zu belegen. Auf dieser Grundlagenarbeit basierte die später bundesweit eingeführte einheitliche Radverkehrswegweisung der FGSV. Das war anfangs nicht leicht, weil viele Landkreise eigene, touristische Wegweisungssysteme etabliert hatten und sich gegen eine Vereinheitlichung und Abkehr von ihrer regionalen Tradition wehrten. Als Kompromiss folgte die Option, mit der einheitlichen Beschilderung touristische Routenhinweise zu kombinieren. • Zöpel ermöglichte Experimente, um die Verkehrsflachen neu aufzuteilen für die sogenannten Angebotsstreifen, Mehrzweckstreifen oder Schutzstreifen. Dafür wurden in Bonn, Gladbeck, Krefeld, Lünen, Münster, Unna und Troisdorf Modellprojekte initiiert. Schmalfahrspuren des Kfz-Verkehrs auf Hauptverkehrsstraßen waren nicht mehr Tabu. Für solche Projekte gab es die Programme „Städtebauliche Integration von Hauptverkehrsstraßen“, „Verkehrsberuhigung in Konfliktbereichen“ und „Geschwindigkeitsdämpfung auf Hauptverkehrsstraßen“. Diese Experimente beinhalteten auch die Option des Scheiterns. Ein späterer Rückbau war für ihn eine vorstellbare Option, dafür war er bereit, die Bindungsfristen aufzuheben.
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• Ein weiteres Fahrradthema waren Radstationen und Bike & Ride. Die erste Bike & RideProgramme mit hochwertigen Abstellanlagen wurden im VRR und im VRS umgesetzt. Die erste NRW-Radstation wurde in Bielefeld eröffnet. Der Erfolg führte später zum eigenen Landesprogramm „100 Radstationen“, das NRW zum führenden Bundesland bei Radstationen machte. Basis war eine Rahmenvereinbarung mit der DB und eine eigene ADFC-Planungsagentur für Radstationen. • Auch beim Thema Fahrradstraßen und -zonen war NRW Impulsgeber mit ersten Beispielen in Lünen. Es sollte dann aber noch 35 Jahre dauern, bis die StVO die Idee der Fahrradzone in ihrer 2020er-Novelle die Idee aufgriff. Und auch in NRW gab es leider lange Zeit keinen systematischen, netzbildenden Einsatz von Fahrradstraßen. Nur wenige Städte wie Bonn, Essen und Münster entwickelten dafür eigene Konzepte. Krefeld erprobte schon früh ein Konzept für Velorouten im Quartier. Viele dieser frühen Pionierleistungen haben erst viele Jahre später Eingang ins etablierte Planungsrepertoire gefunden. • Nachdem diese Modellprojekte durchweg gute Ergebnisse gebracht hatten, sollte der Rahmen für die Landesradverkehrspolitik verstetigt werden. So begannen erste Überlegungen für eine Arbeitsgemeinschaft von Fahrradstädten, die dann von Zöpels Nachfolger Kniola mit der förmlichen Gründung der „Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte, Gemeinden und Kreise in NRW“ (AGfS) vollendet wurde. So wurde NRW für ca. 20 Jahre zum Pionierland deutscher Fahrradförderung. Die AGfS wuchs schnell, differenzierte ihre Instrumente, machte eine engagierte Öffentlichkeitsarbeit und erweiterte ihre Ziele auch um die Fußverkehrsförderung und die Aufnahme von Landkreisen. Fahrradmessen und -kongresse wurden zum Markenzeichen der Fahrradförderung in NRW.
3
Zöpel und die Verkehrswende
Leider ist die Modal Split-Entwicklung in NRW trotz massiver Förderanstrengungen noch nicht überzeugend. Weder der ÖPNV-Anteil noch der Radverkehrsanteil haben so stark zugelegt, wie das eigentlich gewünscht war. Das liegt daran, dass trotz Zöpels Engagement für die Verkehrswende alle Landesregierungen NRW immer auch als Autoland positionieren wollten und dadurch in ihren Strategien zwischen Verkehrswende und Autoförderung hin- und herschwankten. Wäre Zöpel weiter im Amt geblieben, hätte er sicher für mehr Konsequenz der Landesverkehrspolitik weg von der Autoförderung gesorgt. Dann wären innerörtliche Hauptverkehrsstraßen viel früher nicht nur im Experiment, sondern in ganzen Netzen umgestaltet worden. Dann wären viele Autobahnprojekte, die heute in keine Klimaschutzpolitik mehr passen, nicht mehr begonnen worden. Dann hätte es konsequentere Forderungen für neue Rahmensetzung im Verkehrs- und Baurecht sowie der Verkehrsfinanzierung gegeben.
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Damit sind wir beim Thema Verkehrswende. Mit Zöpel konnte man schon in den 1980er-Jahren über Verkehrswende diskutieren. Sein Abteilungsleiter Ganser hatte bereits Ende der 1960er-Jahre in München mit seinen Studierenden Seminare zum Thema „Welt ohne Autos“ veranstaltet. Auch über die Transformation des Autosystems durfte man im Ministerium diskutieren und Visionen einer besseren Verkehrswelt entwickeln. Aber in der offiziellen Landesverkehrspolitik Verkehrswendegedanken zu etablieren, war in den 1980er-Jahren noch sehr schwer – in Zeiten einer blühenden Autokonjunktur. Trotzdem versuchte Zöpel mit dem „Gesamtverkehrsplan NRW“ Verkehrswendefragen politikfähig zu machen.
3.1
Der Gesamtverkehrsplan NRW
Der Gesamtverkehrsplan NRW sollte auf Landesebene in ähnlicher Methodik wie bei den kommunalen Verkehrsentwicklungsplänen ein strategisches Verkehrswendekonzept entwickeln und von Netzüberlegungen über Prioritätenentscheidungen bis hin zu völlig veränderten Haushaltsansätzen führen. Vorbild war die Arbeit des Schweizer Stabs für Gesamtverkehrsfragen, der das dortige Konzept „Bus und Bahn 2000“ entwickelt hatte, das bis heute die Schweizer Verkehrspolitik mit ihrer Priorität für den öffentlichen Verkehr und die Bahnen geprägt hat. Als bewusste Antithese zur immer noch stark straßenfixierten Bundesverkehrswegeplanung wollte Zöpel mit dem Gesamtverkehrsplan NRW eine strategische Neuausrichtung auf den Umweltverbund versuchen. Doch die Zeit war damals, Anfang der 1990er-Jahre für das Verkehrswendethema noch nicht reif. Nur im akademischen Diskurs konnte man Verkehrswendefragen schon diskutieren. Der langjährige „Hausgutachter“ der NRW-Verkehrsministerien, IVV aus Aachen, war stets auf eher vorsichtige Annahmen bezüglich der Potenziale des Umweltverbundes programmiert. Man musste mit IVV um jeden Prozentpunkt Veränderung zum Umweltverbund ringen. Dem Radverkehr wollte IVV damals nur eine marginale Bedeutung beimessen. In den IVV-Generalverkehrsplänen der 1970er-Jahre war der Radverkehr noch als aussterbende Verkehrsart bezeichnet worden, mit der sich seriöse Verkehrsplanung nicht befassen müsse. Auch dem ÖPNV in der Fläche gaben die Gutachter zunächst nur marginale Bedeutung. Den Gutachtern galt weiteres Autoverkehrswachstum als unausweichlich, dem man mit weiterer Kapazitätsexpansion der Straßennetze und des Parkraums folgen müsse. Hiergegen mithilfe von Schweizer Gutachtern und Rudolf Petersen von der Grundsatzabteilung anzuargumentieren, erwies sich als schwierig. Da wäre ein Machtwort des Ministers hilfreich gewesen. Aber Zöpel zeigte wenig Neigung, sich in den Streit der Fachleute und Gutachter bis in die Details der Zahlenwerke einzumischen. Er war mehr der Praktiker, der sich lieber für Projekte als für Theorien engagierte. Trotzdem gelang es im mühsamen Ringen, dem Gesamtverkehrsplan NRW immerhin im Zahlenwerk und den exemplarischen Netzvorschlägen eine Verkehrswendeperspektive zu geben.
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Aber als es um die Umsetzung in der Landesverkehrspolitik ging, wurde Zöpel ‚amtsmüde‘ und suchte neue Aufgaben in der Bundespolitik. Dort verfolgte er als Staatsminister im Auswärtigen Amt andere Themen.
3.2
Difu – Auftrag für neuen Verkehrswenderahmen
Zöpel war bewusst, dass Verkehrswende vor allem eine kommunale Aufgabe sei und dass die Städte, Gemeinden und Kreise dafür ‚ertüchtigt‘ werden müssten durch Entfesselung von den vielen autofixierten Rahmensetzungen im Verkehrsrecht, Baurecht, Steuerrecht und der Verkehrsfinanzierung. Darum beauftragte er das Deutsche Institut für Urbanistik, die entsprechende Rahmensetzung kritisch zu überprüfen und Vorschläge für verkehrswendeförderliche Novellierungen zu erarbeiten. Leider wurde aber auch diese Aktivität durch sein Ausscheiden aus dem Amt vorzeitig beendet. Erst zwei Jahrzehnte später hat das Umweltbundesamt diese Fragen wieder aufgegriffen, stößt aber mit seinen Ideen und Forderungen im Verkehrsressort auf weitgehende Ablehnung. Zöpels Amtsnachfolger Kniola war in Sachen Verkehrswende weitaus skeptischer und konnte sich eine Welt mit abnehmender Motorisierung nicht vorstellen. Er zweifelte die entsprechenden Befunde aus der Schweiz über abnehmende private Motorisierung in den großen Städten an und wollte solche Ziele keinesfalls zur Grundlage seiner Politik machen. Deswegen wurde der Gesamtverkehrsplan auch schnell ‚schubladisiert‘ und spielte in der späteren NRW-Verkehrspolitik keine große Rolle.
3.3
Roll Back ins Autoland
Die autozentrierten Verkehrsinvestitionen, die nach dem Gesamtverkehrsplan eigentlich gebremst werden sollten, wurden wieder hochgefahren. Die NRW-Verkehrspolitik wurde in der Folgezeit bei wechselnden Minister*innen mit den typischen Anti-Stau-Straßenbauprogrammen fortgeführt, die auch in Bayern und Hessen zu immer längeren Staus sowie im linearen Denken zu immer mehr Straßenaus- und Neubauforderungen führt. Da half dann auch kein Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie, das Zöpel als unabhängigen Think Tank mit dem renommierten Präsident Ernst-Ulrich von Weizsäcker etabliert hatte. Es sollte fundierte Transformationskonzepte liefern. Die typischen ‚Zutaten‘ (Minimierung des Autoverkehrs, Straßenrückbau und konsequente Umschichtung der Verkehrsflächen und Verkehrshaushalte sowie Ausbau einer Flächenbahn) fanden leider zunächst wenig Eingang in das konkrete politische Handeln. Stattdessen dominierte in den Folgejahren wieder die naive Annahme, man könne dem Stau entkommen durch weiteren Straßenausbau. Verkehrswende wurde nach Zöpels Ausscheiden aus den Konzepten der NRW-Parteien und der nachfolgenden NRW-Verkehrsminister*innen wieder tabuisiert.
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Zöpel und die Arbeitsgemeinschaften
Am meisten Wirkung hat Zöpel mit den vielen Projekten der Stadterneuerungsprogramme hinterlassen. Um möglichst viele innovative Projekte umsetzen zu können, erweiterte Zöpel das Themenspektrum der Stadterneuerungsprogramme. Vor allem finanzierte das Land auch verkehrliche Planungskosten für kommunale und regionale Verkehrsentwicklungspläne. Zöpel bevorzugte das Gestalten durch Projekte gegenüber dem Regieren durch Erlasse und abstrakte Konzepte. Daher waren die Projektlisten der Stadterneuerungsprogramme immer besonders wichtig. Zur Verstetigung inhaltlicher Markierungen sollten interkommunale Arbeitsgemeinschaften beitragen, die den fachlichen Fortschritt fördern und bündeln sollten. Es begann mit den beiden Arbeitsgemeinschaften • AG Historische Stadtkerne und • AG historische Ortskerne, in denen die besonders stadtbildprägenden und entwicklungsbestimmenden Kerne, die in den Jahrzehnten zuvor oft durch Kahlschlagsanierungen gefährdet waren, qualitätsvoll erneuert werden sollten. In den Arbeitsgemeinschaften wurden dann die Themenfelder • • • • • •
Denkmalpflege, familienfreundlicher Wohnungsbau, Einzelhandelsentwicklung, Verkehrsberuhigung, Wohnumfeld und Stadtbegrünung sowie Hotellerie, Gastronomie und Städtetourismus
in vielen Fachsitzungen thematisiert und in innovative Projekte überführt. Später kam noch die bereits erwähnte AGfS hinzu, um auch im Radverkehr mit System innovative Maßnahmen zu fördern, beispielsweise mit den Themen • • • • • •
Fahrradparken, Radstationen und generell Bike & Ride, Schutzstreifen, Fahrradstraßen, Radschnellwege, Fahrradkommunikation sowie Fahrrad und betriebliches Mobilitätsmanagement.
Ich selbst hätte gern noch weitere Arbeitsgemeinschaften etabliert, insbesondere zu den Themen • Renaissance der Straßenbahn, • Schienenreaktivierungen,
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• innovative Orts- und Stadtbussysteme, • autofreies Wohnen sowie • betriebliches Mobilitätsmanagement. Ich stieß aber in den zuständigen Fachabteilungen auf wenig Gegenliebe für diese organisatorisch aufwändigen und inhaltlich anspruchsvollen Konstruktionen. Immerhin konnten aber mithilfe des ILS und dessen beachtlichen wissenschaftlichen und publizistischen Potenz ein Teil dieser Themen auch ohne AGs vorangetrieben werden.
5
Zöpel und Ganser als „Zwillinge“ mit vergleichbarer Orientierung
Ich habe Zöpel und seinen Abteilungsleiter Ganser meistens als „Zwillinge“ wahrgenommen, die sehr vertrauensvoll und kreativ zusammengearbeitet haben. Ganser hatte aus seiner vorherigen Tätigkeit als Chef der BfLR des BMBau und als Stadtentwickler in München eine große Leidenschaft für innovative Forschungs- und Planungsarbeit erworben, die er jetzt mit der Option großer Budgets in praktische Projektarbeit umsetzen konnte.
5.1
Egalitärer Führungsstil
Ganser war als Abteilungsleiter gegenüber den Mitarbeitern das „Scharnier“ zum Minister. Aber im Unterschied zu seinen Abteilungsleiterkollegen in den anderen Fachabteilungen war er keineswegs als „Filter“ und „Dominator“ tätig. Vielmehr hat er immer wieder auch direkte Kontakte zwischen Mitarbeiter*innen und Minister gefördert und initiiert. Zöpel legte Wert darauf, Ideen und Konzepte direkt, ungefiltert „aus erster Hand“ kennenzulernen. Auch Zöpel selbst hatte immer ein offenes Ohr für die fachlichen Impulse seiner Mitarbeiter*innen.
5.2
Kommunalfreundliche Praxis
Das betraf auch seinen Stil im Umgang mit den Kommunen. Er hatte immer ein offenes Ohr für kommunale Ideen, redete nicht nur mit den Stadtspitzen, sondern ließ sich immer wieder auf Fachdiskurse mit der Arbeitsebene ein. Die Verteilung der Stadterneuerungsmittel folgte nicht der typischen parteipolitischen Opportunitäten, sondern der Kreativität und dem Innovationsgehalt der kommunalen Projektanmeldungen. Das führte bisweilen zu bitteren Klagen der Großstädte und Metropolen, die sich im Vergleich zu den vielen Klein- und Mittelstädten mit ihrer engagierten Mitarbeit in den genannten AGs nach der Zahl geförderter Projekte und der Verteilung der Fördermittel benachteiligt fühlten. 493
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Aber das hatte viel mehr mit der „Unregierbarkeit“ großer Systeme und der ideologischen Zerrissenheit großstädtischer Planungsdispute zu tun. Jedenfalls fand es Zöpel nie unter seiner Würde, sich auch mit den Problemen und Ideen kleiner und mittlerer Städte zu befassen, auch wenn die damals noch überwiegend „schwarz“ regiert wurden. Umgekehrt verzweifelte Zöpel aber oft über die mangelnde interkommunale Kooperation seiner damals noch meist „rot“ regierten Ruhrgebietsstädte, die durch ihre ausgeprägte gegenseitige Konkurrenz viele Chancen nicht nutzen konnten.
5.3
Raum für Zukunft als „Zwillingstestat“
Nachdem ich 1995 aus dem Ministerium ausgeschieden und als Professor an die Universität Trier gewechselt war, ließ mich das „konzeptionelle Zwillingspaar Zöpel-Ganser“ trotzdem nicht mehr los. Denn erstens hielt ich weiter engen Kontakt zur IBA Emscher Park, deren Direktor Ganser inzwischen geworden war. Gegen anfänglichen Widerstand Gansers, der die Hoffnung auf innovative Verkehrsprojekte aufgegeben hatte, konnte dort das Projekt „Köln-Mindener Eisenbahn“ integriert werden. Außerdem hielt ich weiterhin Kontakt zur Arbeitsebene im Ministerium, vor allem in Sachen Fahrradförderung. Dann kam Zöpel auf mich zu und wünschte sich einen breit angelegten Sammelband, der die thematischen Akzentuierungen aus der gemeinsamen Ressortzeit in zweierlei Weise aufarbeiten sollte: • konzeptionell mit mehr theoriebezogenen Beiträgen sowie • praktisch mit vielen Fallstudien zur Stadterneuerung und Verkehrspraxis in NRW. Der Sammelband hieß dann Raum für Zukunft – Zur Innovationsfähigkeit von Stadterneuerung und Verkehr. Das Buch war bald vergriffen und wurde 2008 zum zweiten Mal in stark erweiterter Form herausgegeben. Vor allem in den Interviews am Ende des Bandes kann man das Reflektieren über die damalige Zeit der intensiven Planungsdiskurse im Vergleich der vier Planungsvordenker der 1960er- bis 2000er-Jahre – Hans-Jochen Vogel, Klaus Töpfer, Karl Ganser und Christoph Zöpel – gut nachvollziehen. Zöpel wollte mit dem Buch seine große Anerkennung für die vielen Inspirationen, die er durch Ganser erfahren hatte und die er mit seinen politisch-administrativen Mitteln dann auch in vielen realen Projekten umsetzen konnte, zum Ausdruck bringen.
6
Kooperation mit der Wissenschaft
Zöpel und Ganser kamen zunächst beide aus der Wissenschaft. Zöpel begann seine wissenschaftliche Laufbahn an der neu gegründeten Uni Dortmund als Politologe, Ganser an der TH München als geografischer Naturwissenschaftler. Beide haben in ihrer Hochschulzeit
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nicht direkt Stadt-, Regional-, Landschafts- oder Verkehrsplanungsfragen vertieft. Insoweit sind beide eigentlich Quereinsteiger in ihre späteren Planungsthemen, was auch einen Teil ihrer Offenheit für neue Ideen erklärt.
6.1
Dialog mit der Wissenschaft
Der wissenschaftliche Hintergrund hat beide immer gesprächsbereit mit den späteren Planungswissenschaften gemacht. Die lange Liste der in diesem Sammelband vertretenen Professor*innen belegt eindrucksvoll, dass es offenbar durchaus fruchtbare Wechselbeziehungen zwischen pragmatischen Machern und vertiefenden Forscher*innen geben konnte, mindestens, wenn Letztere anwendungsorientiert gearbeitet haben und den pragmatischen Machern kritisches Rüstzeug mitgaben, mit dem das bloße Machen zum planvollen, zielgeleiteten Handeln mit ethisch-moralischen Leitplanken qualifiziert wurde. Ganser hat diese Konstellation schließlich auch intensiv bei der Bestellung der wissenschaftlichen Direktoren der IBA Emscher-Park genutzt. Bei Zöpel haben die Interessen an der wissenschaftlichen Vertiefung und am Wissensdrang junger Menschen am Ende dazu geführt, dass er an seiner Universität nunmehr als Honorarprofessor des Raumplanungsstudiengangs viele praktische Erkenntnisse und theoretische Reflektionen an seine Studierenden weitergeben kann. Auch Ganser hat lange neben seinem Job in Düsseldorf im Ministerium oder als IBAChef in Gelsenkirchen weiter Lehraufträge bei den Münchener Geografen wahrgenommen.
6.2
ILS und Wuppertal Institut als Ideenlieferanten
Ganser und Zöpel nutzten auch intensiv die Möglichkeiten der Kooperation mit dem ILS in Dortmund und dem Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie. Beide dienten als Think Tanks. Im ILS konnte Helmut Holzapfel als Leiter der dortigen Verkehrsabteilung viele Impulse für die Verkehrspolitik geben. Zudem diente aber das ILS auch als leistungsfähige Organisationseinheit für viele Fachveranstaltungen, mit denen das Ministerium die Fachwelt über seine konzeptionellen Impulse informieren konnte. Die eingespielte Publikationsmaschinerie des ILS diente zudem der Herausgabe zahlreicher Fachpublikationen für das Ministerium. Schließlich konnte die engagierte und kreative wissenschaftliche Mann- und Frauschaft des ILS immer wieder eigene empirische Erhebungen zu brennenden Fragen ministerialer Debatten beisteuern. Aus alledem ergaben sich viele Impulse für die Themen der Stadt- und Verkehrsentwicklung. Für die über die alltägliche Projektarbeit hinausgehende, grundlegende Hintergrundsarbeit bevorzugte Zöpel den seriösen wissenschaftlichen Diskurs. Mit dessen Hilfe wollte er für die heraufziehenden Probleme des Klimawandels gewappnet sein. Dafür organisierte er eine langfristig angelegte Grundlagenforschung und Politikberatung mithilfe der Gründung des Wuppertal Instituts mit seinem ersten Chef Ernst-Ulrich von Weizsäcker. 495
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Der langjährige Grundsatzreferent in seinem Ministerium, Rudolf Petersen, übernahm die Verkehrsabteilung. Wenn man bedenkt, dass das alles schon wieder 30 Jahre her ist und dass erst jetzt allmählich der enorme Handlungsbedarf klimaorientierter Verkehrs-, Energie- und Baupolitik erkannt wird, kann man erahnen, wie früh Christoph Zöpel klar war, dass wir politisch und planerisch eine viel radikalere Verkehrs- und Energiewende brauchen, als damals in der NRW-Politik angelegt war. Allerdings fehlte solchen Konzepten damals noch die klare Mehrheitsfähigkeit.
7
Publikationsstrategie, Medienarbeit
In der Publikationsstrategie und Medienarbeit von Ganser und Zöpel gab es erhebliche Unterschiede. Denn Ganser hatte in der BfLR in den Jahren 1972‒1980 zahlreiche Publikationen in den Bereichen Stadtentwicklung und Verkehrsentwicklung initiiert, war Herausgeber mehrerer Zeitschriften und motivierte seine Mitarbeiter, zu promovieren und zu publizieren. Der BMBau startete diverse Modellvorhaben (spätere Ex-Wo-St-Programme) und ermöglichte in der BMBau-Schriftenreihe Städtebauliche Forschung (der sog. „orangen Reihe“) die Herausgabe zahlreicher Planungshilfen für die Themen Radverkehr, Verkehrsberuhigung und Stadtverkehr. Ganser legte als BfLR-Chef auch großen Wert auf aktive Medienarbeit seiner Mitarbeiter*innen im Interesse einer großen Breiten- und Massenwirksamkeit der BfLR. Es gab dafür spezielle Schulungen. Ausfluss dieser Akzentuierungen waren zwei in Millionenauflage erschienene Illustrierte • Wohnstraßen mit Zukunft (1979) und • Stadtverkehr im Wandel (1986). An diesem Typ illustrierter Publikation hatte Ganser maßgeblich mitgewirkt, indem er die typischen ministerialen Bedenken gegen eine „reißerische Machart“ geschickt abfederte. Ich begann, mit System Medienkontakte aufzubauen und initiierte Rundfunk- und Fernsehsendungen zu vielen Stadtverkehrsthemen, in denen ich auch selbst fallweise mitwirken konnte.
7.1
Zöpels Medienstrategie
Zöpels Ministerium bediente sich für seine Publikationen • einerseits eigener Hausreihen, in denen über Projekte und Programme berichtet wurde und die vom Referat für Öffentlichkeitsarbeit sowie den Fachreferaten mit Themen bedient wurden,
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• oder der mehr wissenschaftlich ausgerichteten, grundlegenden Publikationen, die vom ILS verantwortet wurden. Ich war eigentlich davon ausgegangen, meine frühere Medienarbeit auch in Zöpels Ministerium fortsetzen zu können. Doch Zöpel begegnete den mehr plakativen Machwerken, z. B. des ADAC, mit großer Skepsis. Er bevorzugte die nüchterne, wissenschaftlichere Machart von Publikationen. Ihm ging es ohnehin nicht so sehr um „Papierproduktion“, sondern mehr darum, durch konzeptionelle Steuerung der Stadterneuerungsprogramme möglichst viele konkrete Projekte zu initiieren und den innovativen Impetus über die Begleitung der geförderten Maßnahmen zu etablieren. Immerhin ließ er mir aber den Spielraum, in vielen Rundfunk- und Fernsehbeiträgen ‚Lautsprecher‘ für die Verkehrsthemen zu werden, was aber gelegentlich zu Konflikten mit dem Pressereferat führte. Auch ermöglichte er mir über eine halbjährige Beurlaubung, das Schreiben zusammen mit meiner Frau Rita Monheim-Dandorfer des dicken Buchs Straßen für Alle (1991), das er als umfassendes Fachbuch zum Stadtverkehr sehr schätzte. Erst sein Amtsnachfolger Kniola nahm Anstoß an meiner Medienpräsenz, was mich dann endgültig zum Ausstieg aus der Ministeriumsarbeit veranlasste.
8
IBA-Emscherpark
Unter dem Druck der vielfachen Kritik an einer Ungleichverteilung der Stadterneuerungsmittel zu Gunsten der Klein- und Mittelstädte, aber zu Lasten des Ruhrgebietes, und mit der sich schnell verschärfenden Strukturkrise von Kohle und Stahl ergab sich dann die Idee für die IBA Emscher Park. Es sollte eben nicht genügen, einfach mehr Geld ins Ruhrgebiet zu schaufeln, sondern hohe Qualitätsstandards und wirklich partizipative Prozesse sollten für breite Innovationen sorgen.
8.1
Die kreative Phase
Der IBA-Aufruf mobilisierte enormes kreatives Potenzial. Nicht nur die kommunalen Verwaltungen, sondern auch viele Verbände, Vereine und Initiativen machten sich an die Projektentwicklung. Ganser, Zöpel und die wissenschaftlichen Direktoren sorgten für hohe Qualitätsanforderungen und ausreichend partizipative Elemente. Die IBA war breit angelegt. Aber das Verkehrsthema wollte Ganser aus Frust über die Innovationsresistenz der Verkehrsadministrationen zunächst aussparen. Dagegen lief ich mit meinen Kollegen Sturm. Am Ende konnten wir wenigstens das Projekt „Bahnhöfe der Köln-Mindener Eisenbahn“ in die IBA bugsieren. Die IBA hat zweifellos viele innovative Projekte umgesetzt, die noch heute immer wieder vom regionalen, nationalen und internationalen Publikum bewundert werden. 497
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8.2
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Die frustige Bilanz
Umso frustrierender war später für die beiden IBA-Protagonisten Zöpel und Ganser, dass sich schon bald nach dem Präsentationsjahr die Lerneffekte der IBA in den Kommunen verflüchtigten. Wieder erhielt das typische beton- und autofixierte Planen und Bauen Oberwasser. Der Ausbau von Autobahnen und U-Bahn-Tunneln ging weiter. Die unerträglichen Emissionen des überbordenden Kfz-Verkehrs wurden schulterzuckend in Kauf genommen, bis dann 2018 endlich die DUH-Umwelthilfe immer mehr Kommunen wegen verfehlter Verkehrspolitik vor den Kadi brachte. Die Urteile zwangen die Kommunen, über neue Wege im Verkehr nachzudenken. Zöpels geliebte Verkehrsberuhigung war schon lange aufs Abstellgleis geraten. Der Modal Split im Ruhrgebiet blieb unsäglich schlecht mit seinen hohen Autoanteilen. Straßenrückbau und Dieselsperrungen wurden erst einmal tabuisiert. Die alte interkommunale Konkurrenz bestimmte wieder das Planen, Bauen und die Gewerbeansiedlung. Ob die IGA 2027 daran etwas ändern kann, bleibt abzuwarten.
9
Zöpel und die Tunnel: „Vorne hui und hinten pfui“
Den einzigen grundlegenden Fachdissens hatten Zöpel und ich in Fragen der Straßentunnel, insbesondere des Kölner und Düsseldorfer Rheinufertunnels. Andere Tunnelprojekte hatte er mutig abgelehnt. Die beiden Rheinufertunnel aber wollte und konnte er nicht verhindern.
9.1
Die Rheinufertunnel als homöopathisches Placebo
In beiden Projekten ließ sich Zöpel durch die schönen Bilder der komplett erneuerten Oberflächen auf jeweils 1 bis 1,5 Kilometer Tunneldeckel überzeugen, die nötigen Riesensummen für die Tunnel bereitzustellen. Das war „vorne hui“ oder besser „oben hui“. Natürlich ist es auf den ersten Blick faszinierend, zu sehen, wie diese beiden – allerdings sehr kurzen – Uferpromenaden die Städte mit dem Rhein wieder „versöhnt“ haben. Dort pulsiert das urbane Leben. Aber warum bitte nur dort? Was ist mit den ca. 80 bis 100 Kilometern hoch belasteter, lebensgefährlicher, emissionsgeschwängerter, unerträglich lauter innerörtlicher Hauptverkehrsstraßen, die weiter ihrem Schicksal überlassen bleiben? Deren Bewohner im Schnitt sieben Jahre kürzere Lebenserwartung haben als der städtische Durchschnitt?
9.2
Das Alternativprogramm „Paradies für Alle“
Mich als Systemdenker und Verkehrswendestratege schmerzte sehr, dass da 400 bzw. 600 Millionen DM zum Wohle eines schnelleren, flüssigeren Autoverkehrs versenkt werden sollten. Ich hatte vorgerechnet, dass man damit jeweils alle hoch belasteten Hauptverkehrs-
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straßen in Köln und Düsseldorf zu Boulevards mit üppigen Alleen, breiten Gehwegen und Radwegen sowie deutlich reduziertem Kfz-Verkehrs hätte umgestalten können. Ich wollte endlich einen Durchbruch erzielen für die Sanierung kaputter innerörtlicher Hauptverkehrsstraßen. Mit einem solchen Programm von insgesamt 180 Kilometern Boulevards in Düsseldorf und Köln hätte man weltweit Furore machen können. Tausende neuer Bäume hätten in beiden Städten Platz finden können. Der Autoverkehr wäre verringert statt gesteigert worden. Die ‚offenen Wunden‘ völlig entstellter öffentlicher Räume längs kaputter Hauptverkehrsstraßen hätten geheilt werden können. Stattdessen ließ man die anderen Hauptverkehrsstraßen so lebensgefährlich, lärmumtost, fußgänger- und fahrradfeindlich wie eh und je, mit völlig überdimensionierten Kreuzungen. Immerhin ließ mich Zöpel in beiden Städten in die politischen Gremien, um für diese Idee zu werben. Aber er bleib skeptisch, ob das mehrheitsfähig wäre – und steckte keine eigene Energie in die Idee. Am Ende wurden beide Tunnel gebaut. Sie waren für die Verkehrsentwicklung beider Metropolen negativ, weil sie die Reisezeiten im Kfz-Verkehr verkürzt und zu starken Zunahmen des Autoverkehrs geführt haben. Heute sind deshalb beide Städte wegen der weit verbreiteten Grenzwertüberschreitungen des überbordenden Autoverkehrs mit Klagen der DUH konfrontiert. Und weitgehend ratlos, was man wirksam tun kann. Mit den von mir favorisierten Umbauprogrammen dagegen hätten wir in beiden Städten Kopenhagener Verhältnisse haben können. Zöpels Kommentar aus heutiger Sicht: „Die Zeit war nicht reif für einen grundlegenden Systemwechsel“. Schade. Unabhängig davon bleibt natürlich vor allem bei dem Düsseldorfer Beispiel die städtebauliche Breitenwirkung durch die Begleitmaßnahmen in den angrenzenden Quartieren. Deren Qualität stimmt mich am Ende etwas milder mit der verpassten Chance einer durchgreifenden Stadtreparatur an allen Hauptverkehrsstraßen.
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Der „neue“ Zöpel und die Bürgerbewegungen – Mein versöhnliches Fazit
Zöpel ist heute in seinem Denken sehr viel radikaler geworden. Das zeigt sich an seinen gelegentlichen Auftritten für Bürger*inneninitiativen, die z. B. in Gladbeck, Ostwestfalen oder Köln gegen immer noch grassierende Straßenbauorgien oder die immer noch grassierende Tunnelitis der U-Bahn-Planer ankämpfen, vor allem in Köln. Heute hat Zöpel kein Problem mehr, Verkehrswende zu fordern sowie die Absurdität des unersättlichen Straßenbaus und der Großprojekte wie Stuttgart 21 anzuprangern. Da treffen wir dann gelegentlich wieder zusammen, mit verteilten Rollen, aber großer Übereinstimmung in der Kritik der herrschenden Verkehrspolitik und der allzu willfährigen Planungsadministration, die immer noch nicht angemessen auf die Klimakrise reagiert. Da sind wir uns dann immer ganz nahe, sehr vertraut, sehr versöhnlich. Und ich bin Zöpel dankbar, dass ich eine Weile seinen Weg begleiten konnte und von ihm und seinem Zwilling Ganser viele Impulse für meinen eigenen Weg erhalten habe. 499
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Heiner Monheim
Literatur Monheim, H., & Monheim-Dandorfer, R. (1990). Straßen für alle: Analysen und Konzepte zum Stadtverkehr der Zukunft. Hamburg: Rasch und Röhring. Monheim, H., & Zöpel, Ch. (Hrsg.). (2008 [1997]). Raum für Zukunft: zur Innovationsfähigkeit von Stadtentwicklungs- und Verkehrspolitik. 2. überar. u. erg. Aufl. Essen: Klartext.
Die Erfindung der historischen Stadtlandschaft Birgitta Ringbeck
In den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts wurden die noch aus dem 19. Jahrhundert stammenden Konzepte zum Schutz und zur Erhaltung des baukulturellen und archäologischen Erbes grundlegend weiterentwickelt. Die Denkmalpflege wurde aus der bildungsbürgerlichen und antimodernistischen Abstellecke geholt; dort war sie stecken geblieben, obwohl die Lebensreformbewegung (Ringbeck 1991, S. 216ff.) schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts erkannt hatte, dass Baukultur und Denkmalpflege zusammengehören. Die notwendige Balance zwischen Bewahrung und Entwicklung aber wurde nach dem Zweiten Weltkrieg bis weit in das siebte Jahrzehnt hinein nicht gehalten, die Denkmalpflege war kein integraler Bestandteil städtebaulicher Planung (Ganser 1991). Erhalten und Tradieren waren Inbegriffe für die reaktionären Kräfte und nicht Ausdruck eines Neubeginns. Dazu hatte auch die nationalsozialistische Kulturpolitik beigetragen: sie hatte den sich an traditionelle Strukturen orientierenden Siedlungs- und Städtebau derart auf Linie gebracht, dass er nach dem Krieg auf Jahrzehnte diskreditiert war. Nun beförderte die zunehmende Kritik an der Wachstums- und Fortschrittsgläubigkeit der Nachkriegszeit die Besinnung auf die Denkmalpflege als Merkmal nachhaltigen Handels. Wie auch schon in der Gründerzeit und um die vorletzte Jahrhundertwende waren es auch in den 1970er-Jahren wieder Vereine und Initiativen sowie einzelne Bürger und Bürgerinnen, die effektiven Denkmalschutz forderten und Widerstand gegen den Abriss von Denkmälern und Siedlungen leisteten. Der Kampf um die Siedlung Eisenheim in Oberhausen, die 1972 als erste deutsche Arbeitersiedlung unter Denkmalschutz gestellt wurde, steht bis heute für den Wertewandel und die Ausweitung des Denkmalbegriffs nicht nur in Nordrhein-Westfalen. Autoaufkleber mit dem Slogan „Haus für Haus stirbt dein Zuhause“ sensibilisierten das Bewusstsein auch in der breiten Öffentlichkeit. Sie waren Teil der Kampagne des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz im Europäischen Denkmalschutzjahr 1975, das bis heute den Aufbruch in eine zumindest zwei Jahrzehnte währende Politik der Achtung und Bewahrung der Zeugnisse historischer Schichten als Grundlage nachhaltiger Landes- und Stadtentwicklung markiert (Reicher & Roters 2015). Auf internationaler Ebene verabschiedete die UNESCO mit dem Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt (1972b) einen völkerrechtlichen Vertrag, der die Vertragsstaaten auf den Erhalt kultureller und natürlicher Ressourcen sowie deren © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_32
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Birgitta Ringbeck
Weitergabe an künftige Generationen verpflichtet. Dieses Übereinkommen wird vor allem über die Welterbeliste wahrgenommen; der Text des Übereinkommens aber verdeutlicht, dass es um viel mehr geht, nämlich darum, „eine allgemeine Politik zu verfolgen, die darauf gerichtet ist, dem Kultur- und Naturerbe eine Funktion im öffentlichen Leben zu geben und den Schutz dieses Erbes in erschöpfende Planungen einzubeziehen“. Was dafür auf nationaler Ebene notwendig ist, steht in der Empfehlung betreffend den Schutz des Kultur- und Naturerbes auf nationaler Ebene (UNESCO 1972a), die am selben Tag von der Generalkonferenz der UNESCO verabschiedet wurde. Sie rät den Mitgliedstaaten, ihre Arbeit so auszurichten, „dass das Kultur- und Naturerbe nicht länger als Hemmnis für die nationale Entwicklung, sondern als bestimmender Faktor dieser Entwicklung betrachtet werden“ (1972a, Art. III.7). Damit macht diese viel zu wenig beachtete Empfehlung deutlich, dass dem Erhaltungsanspruch und der Pflegeverpflichtung des Welterbeübereinkommens ein integrativer Ansatz mit einem rechtlich verankerten Schutzmechanismus und einem auf fachlichen Grundsätzen basierenden Pflegesystem zugrunde liegen sollte, das sowohl für die Kultur- und Naturgüter von außergewöhnlichem universellen Wert als auch für das Erbe gelten soll, welches die Kriterien der Konvention nicht erfüllt. Nur ein Jahr später verabschiedete die Generalkonferenz der UNESCO am 26. November 1976 in Nairobi zudem die Empfehlung zum Schutz von Ensembles (historischen Bereichen) und ihrer Rolle im heutigen Leben (nicht amtliche Übersetzung: ICOMOS 2012, S. 91‒108), mit der sie ihren Vertragsstaaten nochmals gesetzliche Initiativen und administrative Maßnahmen insbesondere zum Schutz der historischen und traditionellen Ensembles einschließlich ihres Umfeldes dringend nahe legte. Drei Tage zuvor, am 23. November 1976, hatte die Bundesrepublik Deutschland beim Generaldirektor der UNESCO in Paris die Urkunde zur Ratifizierung des Welterbeübereinkommens hinterlegt, das drei Monate später in Deutschland in Kraft trat. Ein Ausführungsgesetz wurde nicht erlassen. Als völkerrechtlicher Vertrag hat das Übereinkommen in der Rechtshierarchie innerstaatliche Geltung. Auch bei der Sicherstellung des Schutzes und der Erhaltung des Natur- und Kulturerbes galt von nun an der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit; deutsche Gesetze sollen in Auslegung und Anwendung nicht in Konflikt zu völkerrechtlichen Verpflichtungen geraten. Die Bestimmungen des Grundgesetzes (Art. 20 Abs. 3) verlangen zudem von den staatlichen und kommunalen Behörden, die Völkerrechtsnormen zu befolgen und umzusetzen. Die Achtung der Kulturhoheit und insbesondere das Vertrauen in die seinerzeit neuen bzw. novellierten Denkmalschutzgesetze der Länder waren groß. Die in der Empfehlung von Nairobi festgehaltene „Tatsache, dass in vielen Ländern eine ausreichend wirkungsvoll und genügend flexible Gesetzgebung zum baulichen Erbe und seiner Verbindung mit Stadtplanung, territorialer, regionaler oder lokaler Planung fehlt“ (ICOMOS 2012, S. 91), traf aber auch auf Deutschland zu. Nordrhein-Westfalen als eines der größten der deutschen Länder hatte damals noch kein Denkmalschutzgesetz. „Die Organisation von Denkmalschutz und Denkmalpflege“, so Paul Memmesheimer, der der langjährige Leiter der Obersten Denkmalbehörde im zuständigen Ministerium, „wurde in Nordrhein-Westfalen vor dem 1. Juli 1980 in einer Weise gehandhabt, wie sie sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt hat“ (Memmesheimer et al. 1989, S. 2).
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Immerhin war sich die Regierungskoalition zu Beginn der 7. Legislaturperiode im Jahr 1975 einig, die Landschaftsverbände mit einer Kulturguterfassung zu beauftragen und dafür entsprechende Mittel zur Verfügung zu stellen. Ein Gesetzgebungsverfahren wurde aber nicht in Angriff genommen – weder das Europäische Denkmalschutzjahr 1975 noch die Nominierung des im Jahr 1978 als erstes deutsches Denkmal in die Welterbeliste eingetragenen Aachener Doms beschleunigten entsprechende Aktivitäten. Erst zum Ende der 8. Legislaturperiode wurde als Parlamentsinitiative ein gemeinsamer Gesetzentwurf (LT-Dr. 8/4482) von SPD und FDP in den Landtag von Nordrhein-Westfalen eingebracht. In der letzten Plenarsitzung der Legislaturperiode des Landtags am 11. März 1980 wurde das Gesetz zum Schutz und zur Pflege der Denkmäler im Lande Nordrhein-Westfalen beschlossen. Es hatte lange auf sich warten lassen, aber das am 1. Juli 1980 in Kraft getretene Denkmalschutzgesetz von Nordrhein-Westfalen, mit dem Organisation, Zuständigkeiten und Verfahren neu geregelt wurden, war im bundesdeutschen Vergleich eines der modernsten. Besonderheiten waren seinerzeit die weitgehende Kommunalisierung mit der Zuständigkeit der Gemeinden für den Vollzug des Denkmalschutzgesetzes und das konstitutive Eintragungsprinzip, dem zu Folge die Vorschriften des Denkmalschutzgesetzes erst mit der bestandskräftigen Eintragung von Bau- und Bodendenkmälern in die Denkmalliste Rechtswirkung erhalten. Auch der weitgefasste Denkmalbegriff, die besondere Berücksichtigung der Arbeitswelt und die Verankerung städtebaulicher Bezüge waren innovativ. Mit der Verteilung der Verantwortung auf die Unteren und Oberen Denkmalbehörden, die Ämter für Denkmalpflege bei den Landschaftsverbänden und das Ministerium als letzte Entscheidungsinstanz in Streitfällen wurde ein fein austariertes System geschaffen, das Spielräume für den Denkmalschutz und die Denkmalpflege schaffte. Der Landtag von Nordrhein-Westfalen schien offensichtlich die Empfehlung betreffend den Schutz des Kultur- und Naturerbes auf nationaler Ebene der UNESCO verinnerlicht zu haben, denn mit dem neuen Gesetz hatte er einen wesentlichen Baustein für eine Politik sichergestellt, „deren Hauptziel es ist, alle verfügbaren wissenschaftlichen, technischen, kulturellen und sonstigen Mittel zu koordinieren und einzusetzen, um den wirksamen Schutz und die Erhaltung in Bestand und Wertigkeit des Kultur- und Naturerbes zu gewährleisten“ (1972a, Art. II.3). Noch bevor das Gesetz in Kraft trat, traf die im Mai 1980 mit absoluter Mehrheit ins Amt gewählte SPD-Landregierung mit der Berufung von Christoph Zöpel zum Chef des neu gegründeten Ministeriums für Landes- und Stadtentwicklung eine weitere wichtige Entscheidung: das Ressort, das zum 1. Juni 1980 seine Arbeit aufnahm, bündelte die bislang auf mehrere Ministerien verteilten Zuständigkeiten für den Grundstücksfond Ruhr, die Landesentwicklungsgesellschaft, die Raum- und Landesplanung, den Städtebau und die Städtebauförderung, das Bauwesen und den Wohnungsbau sowie den Denkmalschutz (Gleim 2015, S. 33). Damit war der Weg frei für eine integrierte Landesund Stadtentwicklung, in der die Erhaltung des kulturellen und natürlichen Erbes zum Dreh- und Angelpunkt nachhaltigen Handelns wurde. In Nordrhein-Westfalen wurden Standards gesetzt, die weit über die Landesgrenzen hinauswirkten. Die Flächensanierung, die lange der Neubebauung Vorrang vor der behutsamen Modernisierung des historisch gewachsenen Bestandes gegeben hatte, wurde abgeschafft. Fördermittel wurden nicht mehr 503
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nach dem Gießkannenprinzip verteilt, sondern nach Qualitätskriterien, Bürgerbeteiligung, Bestands- und Milieuschutz eingeführt. Für Denkmalschutz und Denkmalpflege begannen „zwei goldene Jahrzehnte“ (Mainzer 2015, S. 133). Bis Ende 1990 wurden 58.104 Denkmäler rechtskräftig in die Denkmallisten eingetragen, darunter Zeugnisse der Montan- und Schwerindustrie wie Zollern 2/4 in Dortmund, die Henrichshütte in Hattingen, Zollverein Schacht XII in Essen und das Hüttenwerk in Duisburg-Meiderich. Außerdem waren zu diesem Zeitpunkt bereits 100 Denkmalbereiche durch kommunale Satzungen geschützt. Die Unterschutzstellung der großflächigen Industrieanlagen, die oft eine Stadt in der Stadt waren, machen ebenso wie die Ausweisung zahlreicher Arbeiter-, Werks- und Genossenschaftssiedlungen und historischer Stadt- und Ortskerne als Denkmalbereiche deutlich, wie ernst die im Gesetz verankerte Berücksichtigung städtebaulicher Bezüge genommen wurde und wie sehr sie die neue Stadtentwicklungspolitik prägte. Zur Finanzierung von denkmalpflegerischen Maßnahmen stand nicht nur das Denkmalförderungsprogramm des Landes zur Verfügung. Die Städtebauförderung unterstützte u. a. die Umnutzung funktionslos gewordener Denkmäler zu Kultur- und Begegnungszentren, die Pflege stadtbildprägender Strukturen in historischen Stadt- und Ortskernen sowie Perspektiven aufzeigende städtebauliche Untersuchungen und Planungen. Im Rahmen der Wohnungsmodernisierung und der Wohnungsbauförderung konnte zusätzlich die Übernahme städtebaulich oder denkmalpflegerisch bedingter Mehrkosten beantragt werden. Auch Mittel der Dorferneuerung standen für die Restaurierung denkmalgeschützter Bauten zur Verfügung (Ministerium für Stadtentwicklung und Verkehr NRW 1990, S. 62; Giebeler 1991). Aber nicht nur die Förderprogramme, auch bestehende und neue Institutionen wurden auf den Erhalt, zur Pflege und die Nutzung des baukulturellen und archäologischen Erbes ausgerichtet bzw. dafür neu geschaffen. Die Landesentwicklungsgesellschaft NRW wurde seit Beginn der 1980er-Jahre zu einem wichtigen Instrument der erhaltenden Stadterneuerung und -entwicklung umstrukturiert; sie war nicht mehr nur für den Wohnungsbau, sondern auch für Brach- und Konversionsflächen zuständig. Zusammen mit dem Grundstücksfond Ruhr hat sie beispielsweise ganz entschieden sowohl zur Sicherung der Zeche Zollverein als auch zur Erhaltung des Hüttenwerks in Meiderich und dessen Integration in den Landschaftspark Duisburg-Nord beigetragen (Tiggemann 1995). Eine wichtige Rolle übernahm auch die zum 40. Geburtstag des Landes Nordrhein-Westfalen im Jahr 1986 gegründete NRW-Stiftung Naturschutz, Heimat- und Kulturpflege. Wie das große Vorbild, der National Trust in Großbritannien, nimmt sie Denkmäler und Naturschutzflächen in ihre Obhut und unterstützt Vereine und Initiativen bei ihrem Erhalt; zu den ersten Förderprojekten gehörte das Schachtgerüst Erin 7 in Castrop-Rauxel, für den sich der Erin-Förderturm-Verein ebenso engagiert wie für den Hammerkopfturm Erin Schacht 3 und den Förderturm Teutoburgia 1 in Herne. Durch die Förderung insbesondere ehrenamtlicher Arbeit trägt die NRW-Stiftung bis heute ortsnah und projektbezogen zur Pflege des Kultur- und Naturerbes in Nordrhein-Westfalen sowie zur Bewusstseinsbildung auf breiter Ebene bei. Im Jahr 1995 gründete die Landesregierung mit der NRW-Stiftung Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur eine weitere gemeinnützige Einrichtung; sie
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kümmert sich um denkmalgeschützte Zeugnisse des Industrialisierungsprozesses seit 1850, der wie keine andere historische Schicht Nordrhein-Westfalen geprägt hat. Mittlerweile zählen 14 Anlagen zu ihrem Bestand, darunter landschaftsprägende Landmarken wie die Pumpspeicheranlage Koepchenwerk an der Ruhr in Herdecke und die stadtteilprägende Kokerei Hansa in Dortmund-Huckarde. Trotz der industriellen Prägung gerieten aber auch die historischen Stadt- und Ortskerne abseits der Ballungszentren zwischen Rhein und Weser nicht aus dem Blickfeld. Neben den seit 1984 bestehenden Fördermöglichkeiten unterstützte das Land die Gründung der Arbeitsgemeinschaften der historischen Stadt(1987) und Ortskerne (1990), deren erklärtes Ziel die Integration des städtebaulichen Erbes in die Stadtentwicklung ist. Ende der 1980er-Jahren war es an der Zeit, die zunächst vom Ministerium für Landes- und Stadtentwicklung sowie dann vom ebenfalls von Christoph Zöpel geführten Ministerium für Stadtentwicklung, Wohnen und Verkehr entwickelten und wissenschaftlich begleiteten Strategien und Ansätze auf den gleichermaßen urban wie industriell geprägten Ballungsraum auf die Emscher-Region im nördlichen Ruhrgebiet anzuwenden. Geschäftsführer des als Internationale Bauausstellung Emscher Park zwischen 1989 und 1999 organisierten Strukturprogramms wurde Karl Ganser, der zuvor die Abteilung Stadtentwicklung in den genannten Ressorts geleitet hatte. Ziel der IBA Emscher Park war unter anderem, mit städtebaulichen, sozialen, kulturellen und ökologischen Projekten Impulse für den Strukturwandel in dieser alten Industrieregion zu geben. Zu den zentralen Arbeitsbereichen gehörte, die einmalige Dichte und Dimension von Zeugnissen der Montan- und Schwerindustrie zu erhalten, sie für neue Nutzungen herzurichten und in ein neues städtebauliches und landschaftliches Umfeld mit dem Emscher-Landschaftsparks als Rückgrat einzubinden. Die Umnutzung des Gasometers in Oberhausen zu einem Ausstellungsraum, der mit der Installation The Wall von Christ und Jean Claude eröffnet wurde, die von der Ruhrtriennale immer wieder spektakulär inszenierte Jahrhunderthalle in Bochum und die Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck stehen für die vielen Bau- und Industriedenkmäler, von deren Erhaltung die Denkmalpflege Ende der 1970er-Jahre nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Der außergewöhnliche universelle Wert der Ikone des Ruhrgebiets, die Zeche Zollverein, wurde 2001 mit der Eintragung in die UNESCO-Liste des Kultur- und Naturerbes der Welt anerkannt. Der Antrag war noch von der IBA Emscher Park auf den Weg gebracht worden; ihr konzeptioneller Ansatz prägte auch das Antragskonzept. Da im Ruhrgebiet die Verteilung und Ausbeutung der Steinkohlevorkommen zu einer einzigartigen Siedlungsform geführt hatte, wurde die außergewöhnliche Bedeutung von Zollverein folgerichtig auch mit der stadt- und landschaftsprägenden Wirkung der Gesamtanlage begründet. Die nominierte industrielle Kulturlandschaft aber wurde als Industriekomplex Zeche Zollverein in die Welterbeliste eingeschrieben. Damit schloss sich das Komitee der Auffassung der thailändischen Delegation an, dass Industrie nicht Kulturlandschaft erzeugen könne. Die Bedeutung von Zollverein wurde auf die Anwendung der Gestaltungskonzepte der klassischen Moderne in der Architektur in einem gänzlich industriellen Kontext und die technologisch herausragenden Gewinnungs- und Produktionsanlagen reduziert (UNESCO 2001). 505
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Die Entscheidung des Komitees entsprach nicht dem fachlichen Votum und war inkonsistent. Schon 1992 hatte das Welterbekomitee Kulturlandschaften als Kategorie eingeführt. Der Canal du Midi (1996) in Frankreich, die Semmeringbahn (1998) in Österreich und die Industrielandschaft Blaenavon (2000) in Großbritannien sind nur einige Beispiele für die Einschreibung von großflächigen Industrie- und Technikdenkmälern in die Welterbeliste und ihre Klassifizierung als Kulturlandschaften (Fowler 2003, S. 91ff.) in den Jahren zuvor. Mit der Eintragung der britischen Mustersiedlung Saltaire (2001) hat das Komitee zudem in derselben Sitzung anerkannt, dass industrielle Entwicklung nicht nur Kultur-, sondern auch Stadtlandschaften prägen kann. Wegen der Bedeutung und Bedrohung des durch die historische Schichtung von Werten bestimmten städtischen Erbes hat die Generalversammlung der UNESCO die Empfehlung zur Historischen Stadtlandschaft (2011) beschlossen, in der deren charakteristische Elemente und Qualitäten wie folgt beschrieben sind: „Die historische urbane Landschaft ist als urbaner Raum zu verstehen, der aus der historischen Schichtung von kulturellen und natürlichen Werten und Eigenschaften resultiert und in den über den Begriff des ‚historischen Zentrums‘ oder ‚Ensembles‘ hinaus der weitere urbane Kontext und seine geographische Lage einbezogen sind.“ Sie befasst sich mit der Erhaltung des – auch industriellen – Kulturerbes im urbanen Kontext und „unterstreicht die Notwendigkeit, Erhaltungsstrategien für das städtische Erbe besser in das übergreifende Ziel einer umfassenden nachhaltigen Entwicklung zu integrieren und festzulegen, um öffentliches und privates Handeln zu unterstützen, das auf die Erhaltung und Verbesserung der Qualität der menschlichen Umgebung ausgerichtet ist.“ Zudem schlägt sie „einen landschaftsbezogenen Ansatz vor, um historische Bereiche innerhalb ihres weiteren Kontextes unter Beachtung der Beziehungen zwischen ihren physischen Formen, ihren räumlichen Organisation und Verbindungen, ihrer natürlichen Struktur und Lage sowie ihrer sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Werte zu identifizieren, zu erhalten und zu managen.“ (UNESCO 2011)
Lange vor dieser UNESCO-Empfehlung ist ein auch für das 21. Jahrhundert gültiges Programm der erhaltenden Stadterneuerung entwickelt worden: „Diese Strategie ist in den beiden letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts konzipiert worden“, und zwar – wie Christa Reicher und Wolfgang Roters (2015, S. 8) zu Recht feststellen – „in Nordrhein-Westfalen“. Der regionale Nachzügler in Sachen Denkmalschutz und -pflege wurde zum internationalen Vorreiter im Umgang mit der historischen Stadtlandschaft. Die IBA Emscher Park ist eine Blaupause für die Implementierung der Empfehlung zur Historischen Stadtlandschaft im 21. Jahrhundert. Untrennbar verbunden ist diese historische Leistung mit den Namen Christoph Zöpel und Karl Ganser.
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Literatur Fowler, P. J. (2003). World Heritage Cultural Landscapes 1992‒2002. World Heritage Papers 6. Paris: World Heritage Centre. Ganser, K. (1991). Denkmalschutz und Stadtentwicklung. In R. Grätz, H. Lange, H. J. Beu (Hrsg.), Denkmalschutz und Denkmalpflege. 10 Jahre Denkmalschutzgesetz Nordrhein-Westfalen (S. 201‒204). Köln: Rheinland. Giebeler, U. (1991). Förderpolitik des Landes für die Erhaltung und Nutzung von Denkmälern. In R. Grätz, H. Lange, H. J. Beu (Hrsg.), Denkmalschutz und Denkmalpflege. 10 Jahre Denkmalschutzgesetz Nordrhein-Westfalen (S. 113‒116). Köln: Rheinland. Gleim, U. (2015). Die Wende in der Stadtentwicklungspolitik. Weichenstellungen. In Ch. Reicher & W. Roters (Hrsg.), Erhaltene Stadterneuerung. Ein Programm für das 21. Jahrhundert (S. 33‒50). Essen: Klartext. ICOMOS (Hrsg.). (2012). Internationale Richtlinien und Grundsätze der Denkmalpflege. Stuttgart: Fraunhofer IRB. https://www.icomos.de/admin/ckeditor/plugins/alphamanager/uploads/pdf/ Monumenta_I.pdf. Zugegriffen: 13. September 2020. Mainzer, U. (2015). Stadtentwicklung und Denkmalpflege. In Ch. Reicher & W. Roters (Hrsg.), Erhaltene Stadterneuerung. Ein Programm für das 21. Jahrhundert (S. 126‒135). Essen: Klartext. Memmesheimer, P. A., Upmeier, D., & Schönstein, H. D. (1989). Denkmalrecht Nordrhein-Westfalen. Kommentar. 2. Aufl. Köln: Deutscher Gemeindeverlag. Ministerium für Stadtentwicklung und Verkehr NRW (Hrsg.). (1990). Denkmalschutz und Denkmalpflege in Nordrhein-Westfalen. Bericht 1980–1990. Düsseldorf: Selbstverlag. Reicher, Ch., & Roters, W. (Hrsg.). (2015). Erhaltene Stadterneuerung. Ein Programm für das 21. Jahrhundert. Essen: Klartext. Ringbeck, B. (1991). Architektur und Städtebau unter dem Einfluss der Heimatschutzbewegung. In: E. Klueting (Hrsg.), Antimodernismus und Reform. Beiträge zur Geschichte der deutschen Heimatbewegung (S. 216‒287). Darmstadt: WBG. Tiggemann, R. (1995). Die LEG NRW GmbH. Ziele, Aufgaben und Perspektiven bei der Reaktivierung von Altstandorten. In D. Genske H. P. Noll (Hrsg.), Brachflächen und Flächenrecycling (S. 45‒56). Berlin: Ernst & Sohn. UNESCO (1972a). Empfehlung betreffend den Schutz des Kultur- und Naturerbes auf nationaler Ebene beschlossen von der Generalkonferenz am 16. November 1972 auf ihrer 17. Tagung in Paris – Amtliche Übersetzung. https://www.auswaertiges-amt.de/blob/272098/881a8b7a9dbd290447078907069eec97/ empfehlung-deutsch-data.pdf. Zugegriffen: 13. September 2020. UNESCO (1972b). Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt – Amtliche Übersetzung. 17. Oktober‒21. November 1972. https://www.auswaertiges-amt.de/blob/272094/718e4f97b6a729b1f2d1f41d3ae9e656/uebereinkommen-deutsch-data.pdf. Zugegriffen: 13. September 2020. UNESCO (2001). Erklärung zum außergewöhnlichen universellen Wert: Industriekomplex Zeche Zollverein in Essen – Amtliche Übersetzung. https://www.auswaertiges-amt.de/blob/2256584/7a99087ff44cc680477625f56547f9a3/25-zeche-zollverein-data.pdf. Zugegriffen: 13. September 2020. UNESCO (2011). Empfehlung zur historischen Stadtlandschaft – Amtliche Übersetzung. https://www. auswaertiges-amt.de/blob/272100/cfe1e56a798139d464412962865e9557/empfehlung-stadtlandschaft-uebersetzung-data.pdf. Zugegriffen: 13. September 2020.
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Die lebenswerte Stadt Landschaft als „Grüne Infrastruktur“ im Städtebau der Zukunft Andreas Kipar
„Die Infrastrukturqualität der Zukunft wird die Landschaft sein. […] Nicht irgendwie Landschaft, sondern eine ökologisch intakte und ästhetisch befriedigende.“ (Karl Ganser, 1991)
Derzeit erlebt LANDSCHAFT europaweit eine Renaissance. In Zeiten des Klimawandels und des Bevölkerungswachstums mit allen seinen neuen Formen des Zusammenlebens sowie der Rückbesinnung auf natürliche Kreisläufe lassen sich der bebaute und unbebaute Raum kaum noch auseinanderdividieren. Das gilt besonders in unseren verdichteten Metropolregionen mit ihrer ungestillten Sehnsucht nach einer wie auch immer gearteten Manifestation des Natürlichen, des Gesunden. Wie es sich gerade während der Viruspandemie im Frühjahr 2020 wieder gezeigt hat. In einer immer noch aktuellen Publikation Achtung: die Landschaft schreibt der Schweizer Architekt Jacques Herzog zum Thema: „Landschaft als kostbares Gut übernimmt die Rolle des Protagonisten und verlässt den Zustand einer passiven Ressource“ (ETH Studio Basel 2015). Es sei Zeit zum Umlernen, so auch jüngst der Holländer Rem Koolhaas: Countryside, The Future war der Titel seiner großen Ausstellung im New Yorker Guggenheim Museum. Dabei ist dieses Thema nicht neu: Der vor genau 20 Jahren vom Europarat verfassten Europäischen Landschaftskonvention (Council of Europe 2004) liegt ein umfassendes und ganzheitliches Landschaftsverständnis zugrunde. Landschaft wird hier nicht mehr als passives Objekt gesellschaftlichen Agierens gesehen, sondern als Grundbestandteil des europäischen Natur und Kulturerbes, der wesentlich zur Herausbildung der lokalen Kulturen beiträgt.
Alte Modelle und ein Paradigmenwechsel Die Industrielle Revolution hatte im 19. Jahrhundert eine urbane Umwälzung ausgelöst. Der Schritt aus der gefestigten Stadt über ihre mittelalterlichen Stadtmauern hinaus, das Schleifen von Wallanlagen, war ein Schritt ins Freie, ein Schritt in die Landschaft. Dabei © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_33
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ging die Erweiterung des Städtischen in der Regel auf Kosten des Natürlichen. Die Zukunft der Stadt wurde weiterhin vom Gebauten aus definiert, Natur blieb Dekor oder durfte sich höchstens als gestaltete Parkanlage wie eine von Gebäuden und Straßen umflossene Insel ausdrücken. Aus dem umgebenden Land wurde derweil eine ‚Zwischenstadt‘ und die wachsenden Städte drohten zur Peripherie ihrer selbst zu werden. Unter dem heutigen umfassenden und ganzheitlichen Landschaftsverständnis konnte diese Entwicklung, wenn nicht überall gestoppt, so doch gebremst und hier und da sogar umgedreht werden. Was wir inzwischen als selbstverständlich ansehen, war nicht immer so. Es war das großangelegte Planungsformat der IBA Emscher Park 1989‒1999, das im Ruhrgebiet den krisenhaften Strukturwandel innovativ begleitete und den Grundstein für heutiges wie für zukünftiges Handeln legte, während es hier und da noch altes Denken gab, das die Wunden des industriellen Fortschritts mit Pflastern aus Infrastrukturprojekten und Siedlungsförderungen bedecken wollte. Gemeinsam brachen der damalige NRW-Minister für Städtebau, Christoph Zöpel, und sein zuständiger Abteilungsleiter, Karl Ganser, der Zukunft eine Gasse. Auf Christoph Zöpel ging die Idee zum Format der IBA zurück, Karl Ganser verließ dafür die Landeshauptstadt und übernahm die operative Leitung – und Ministerpräsident Johannes Rau gab beiden klugen Köpfen den politischen Segen. Ohne das Gespann Zöpel/Ganser wäre das anspruchsvolle Projekt vielleicht gescheitert. Ich kann mich noch gut an diese Aufbruchsjahre erinnern. Nach Abschluss meines Studiums in Essen ging ich nach Italien, wo ich im Raum Mailand auf ähnliche Strukturprobleme stieß, wie sie an der Ruhr herrschten. Unser Blick ging von der Lombardei neugierig und voller Erwartung nach Nordrhein-Westfalen. Für die Italiener durfte ich als Vermittler auftreten, bei der IBA übernahm ich offiziell die Rolle eines Botschafters für Italien.
Vorbild IBA Emscher Park Der IBA Emscher Park war ein einmaliges weitsichtiges Format, um den notwendigen Strukturwandel von Kohle und Stahl zu einer neuen Dienstleistungsmetropole zu fördern. Zehn Jahre und mehr als 100 Projekte haben ein Erbe hinterlassen, das weltweit als Blaupause für wandlungsbedürftige Industrieregionen zitiert wird. Dazu gehört eine Perlschnur von Projekten wie die Emscher Renaturierung, der Emscher Landschaftspark, das UNESCO Kulturerbe Zeche Zollverein, der preisgekrönte Landschaftspark Duisburg-Nord, die Europäische Kulturhauptstadt Ruhr 2010, die Grüne Hauptstadt Europa Essen 2017 sowie weitere unzählige Einzelvorhaben, die ihren Ausgangspunkt in den 1990er-Jahren fanden. Unter Christoph Zöpel wurden also die Weichen für eine grüne Zukunft gestellt. Landschaft sollte es leisten, neue urbane Landschaftsnetzwerke – heute Grüne Infrastruktur genannt – sollten das Rückgrat einer leistungsfähigen Metropolregion Ruhr werden. Das war der Aufbruch zum Schultern einer Jahrhundertaufgabe. In den Jahren seit 1990 konnte das grüne Fundament einer zukünftigen nachhaltigen Entwicklung gelegt werden.
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Ein neues Bündnis mit der Natur Wenn es in der Vergangenheit immer darum ging, sich um den sich limitierenden Raum zu beschweren – „Es ist eng!“ –, drehen wir heute vielerorts den Spieß um. Wir sind Städter, die mit der Natur (also auch mit uns selbst) ein neues Bündnis eingehen. Wir Menschen stehen wieder in der Mitte. Es geht um ein Leben im Grünen – und nicht dazwischen! Das ist ein riesengroßer Unterschied: vergleichbar dem Quantensprung aus der Trinchera, dem Schritt aus der Enge der mittelalterlichen Stadtmauern. Wir dürfen heute in das neue, dabei noch wenig definierte Freie der nachindustriellen Zeit treten. Auf Zeche Zollverein gab der Bund deutscher Landschaftsarchitekten 2016 mit dem Regionalverband Ruhr (RVR) einen Anstoß in der Kick-off-Veranstaltung „Grüne Infrastruktur“. Von hier aus entwickelte sich das Investitionsprogramm der grünen Infrastruktur zu einer gesellschaftlichen Pflichtaufgabe, die über das Ruhrgebiet hinaus wahrgenommen wurde. Die später einsetzende nationale Strategie, eine grüne Infrastruktur zu etablieren, hatte in Essen seinen Ausgangspunkt gefunden. Wir brauchen neue Visionen – und hätte diese Region nicht mit dem „Blauen Himmel über der Ruhr“ von Willy Brandt neue Visionen gehabt, wären wir jetzt nicht so weit. Aus dem grauen Revier wurde über viele Etappen eine grüne Metropole. Visionen heißt heute: Zusammenarbeit, regionale Entwicklungskonzepte, Integration von den verschiedenen Akteuren und Disziplinen. Das dürfen wir in den grenzübergreifenden Strukturen des Ruhrgebiets lernen, weil wir hier ein Potenzial haben, was es anderswo nicht so gibt. Wir stehen nicht allein. München avisiert „Entschleunigung, Verdichtung, Umwandlung“ im Freiraumkonzept 2030 der bayerischen Landeshauptstadt (2015). Berlin entwickelt die Strategie Stadtlandschaften: „Natürlich, urban, produktiv“ (Senatsverwaltung 2016). Alle rüsten sich weit über 2030 hinaus.
Die grüne Dekade Wegmarken weisen in die Zukunft: die Klimametropole Ruhr 2022 und die IGA 2027 in der Metropole Ruhr. Veranstaltungen, Formate, die 53 Kommunen unter Beteiligung regionaler Partner mit einbeziehen. Das Ruhrgebiet steht in einer grünen oder „goldenen“ Dekade – und schaut ebenfalls weit über 2030 hinaus. Wir wären heute nicht so weit, wenn es gewisse Menschen nicht gegeben hätte, die gesagt haben: Ja, so tun wir es! Solch ein gewaltiges Thema wie die Deindustrialisierung des Ruhrgebiets konnte man seinerzeit nur mit einer Internationalen Bauausstellung stemmen – die erste IBA, die sich um Landschaft als zentrales Thema kümmerte. Dafür braucht man Alliierte, das kann man nicht allein machen. Das wusste Minister Christoph Zöpel. Und Karl Ganser, der Leiter der IBA sagte: „Gerade Landschaft in Industrieregionen kann langfristig vor dem beliebigen Zugriff wirtschaftlicher Interessen nur gewahrt werden, wenn sie durch Gestaltung tabuisiert wird.“
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Zwanzig Jahre Feinarbeit in der Dekade, Regionalverband Ruhr, Emscher-Umbau, Grüne Hauptstadt führen dazu, dass der Landschaftspark nicht nur eine grüne, sondern auch eine soziale Infrastruktur formt, die in der Zukunft Bestand haben wird. Es gibt mehr als nur ‚Park‘: Wir bauen Landschaft, wir denken Landschaft als Planer im Verbund mit den öffentlichen Institutionen und den politischen Verantwortlichen. Waren es in der Vergangenheit die großen Projekte, so sind es heute die notwendigen Prozesse gemeinschaftlichen Handelns, die Antworten auf die immensen Herausforderungen unserer Zeit geben können. Wir sind auf einem Weg. Immer dann, wenn man meint, man wäre fertig, stellt man fest, dass es weitergeht.
Das Beispiel Essen Das Betreten neuer Felder heißt, soziale Distanzen zu überbrücken und neue Beziehungen zu schaffen. Das Essener Strahlenmodell im Masterplan „Freiraum schafft Stadtraum“ und das Programm „Neue Wege zum Wasser“ sind Prozesse, die viele Hundert Einzelprojekte sammeln, bewerten und integrieren. Der Emscher Landschaftspark hat etwas im Kopf ausgelöst und dazu geführt, dass Grünzüge übergeordnete Landschaftsräume definieren. Eine zellenartige, räumliche Struktur hat dem gesamten Ruhrgebiet eine neue räumliche Dimension gegeben. Am Essener Strahlenmodell, einer ersten Anwendung der in Mailand entwickelten Strategie der „raggi verdi“ (grüne Strahlen; Istituto Italiano di Cultura Amburgo 2010), und an den „Neuen Wegen zum Wasser“ kann man die Bedeutung deutlich machen. Dieser Prozess führte mit drei Strahlen von Nord nach Süd im Sammeln und Bewerten von 500 Einzelprojekten und Maßnahmen. Was passiert nun, wenn man einen solchen Prozess mit kommunalen, regionalen, bürgerschaftlichen und professionellen Playern in Gang setzt? Man sieht auf einmal, wie so ein Modell wächst: Wenn man in der Landschaft und in den Städten Strahlen und Bypässe setzt, dann geht es nicht mehr um den Bypass, sondern darum, dass dieser das umgebende Gewebe neu belebt. Und es hat funktioniert: die Wasserroute, die Stadtroute und die Naturroute, sie kann man heute alle mit dem Fahrrad abfahren. Sie werden im Stadtgefüge erlebt. 250.000 Menschen können über die neuen Wege zum Wasser von Nord nach Süd fahren. Dort, wo Robert Schmidt in seinem Stadtmodell der 1920er-Jahren organisch gedacht hatte, wird heute wieder organisch gedacht. Wir kommen auf diese organischen Formen zurück. Dafür sind sowohl Umsetzung von Plänen, konkrete Arbeit vor Ort als auch Kopfarbeit notwendig. Man baut nicht einfach Landschaft – man kultiviert Landschaft mit einer Vision. Dann entwickelt sich der Park zur grünen Infrastruktur in einer neuen produktiven Landschaft. Folgerichtig verändert sich auch unsere Formensprache. Der Umgang mit Natur fordert die Ästhetik heraus: Sie gibt sich dynamisch, wachsend und prozessorientiert. Formen, die auf Natur basieren, setzen sich durch. Unser Parkdesign wird dementsprechend weniger determinierend bestimmt, nicht mit harten klaren Kanten, sondern es wird immer weicher.
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Die dazu passenden Bilder und Ikonen werden langsam aufgebaut und spätestens auf der IGA 2027 sichtbar werden. So wie sich das Bild der grünen Masche weiterentwickelt in ein Fluidum, in das Kontinuum „from grey to green“. Ein Perspektivwechsel tritt zu Tage, den ich für die IGA 2027 gerne mit einem „Plus“ versetzen möchte. „2027+“ heißt, den frischen Wind weit in die 2030er-Jahre hinein durchwehen zu lassen. Die Herausforderung richtet unser Denken also über 2027 hinaus, ohne dabei den Weg dahin aus dem Blick verlieren. Sicher ist: Die linear programmatische Denkweise, die noch Einfluss auf die 1990er-Jahre nehmen konnte, hat endgültig abgedankt; das nichtlineare Denken, das kreislaufförmige Wirtschaften und Planen wird unsere Handeln begleiten. Wir können dabei nicht in eine fertige Vision springen, sondern nur Schritt für Schritt auf sie hinarbeiten. Wir werden uns Problemen stellen, Lösungen finden, sie weiterentwickeln. „Nature-based Solutions“ nennt die Europäische Union das (o. J.). Da sind nun einmal der Klimawandel, die neuen Formen des Zusammenlebens und letztlich die Steigerung der Leistungsfähigkeit unserer urbanen Systeme.
Auf dem Weg zur IGA 2027 Wir üben und experimentieren, damit die grün-blaue Infrastruktur sich gesellschaftlich implantiert – „Reconnecting People with Nature“ ist mehr als nur ein Slogan. Für die 53 Städte der IGA 2027, die sich jetzt entsprechend positionieren, ist Siedlungsentwicklung nach einem ökologischen Fußabdruck auch im Rahmen der Weißbuchstrategien der Bundesregierung ganz neu zu definieren – damit dann vorwärtsweisende Projekte blühen können. Die grüne Dekade hat bereits viele Projekte und wird viele weitere haben. Es sind Hunderte einzelne Projekte, die zusammen genommen etwas gemeinsam schaffen wollen. Neue Projekte blühen und die grünen Infrastrukturen wachsen. Kommunikation spielt dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle. Es gilt, Lebensgefühle auch in der Kommunikation zu verdichten und zu vermitteln. Wir sind gehalten, die räumlich-funktionalen Systeme unserer Landesentwicklungsplänen langsam zu verlassen und umzudrehen, indem wir nun auf räumlich-funktionale Begabung achten. Denn das Wort der Zukunft lautet „Begabung“: Welche Begabungen bringen wir als Menschen, als Institutionen, als Landschaft, als Raum mit? Etwas ganz Neues: Das, was wir haben, können wir einsetzen, um Begabungen, Potenzen zu fördern. Es geht darum, die Potenziallinien sichtbar zu machen, damit auch hier durch Vernetzungen und mithilfe von sozialen Medien Partizipationsmöglichkeiten deutlich werden. Im Zeitalter der Digitalisierung ist digitales Vernetzen ein substanzielles Tun und kein Selbstzweck. Vernetzung ermöglicht Kommunikation zwischen den Menschen und Orten. Zudem schafft sie Identifizierung auf unterschiedlichen Ebenen. Daran ist in Zukunft zu arbeiten. Nicht zu vergessen: Wir müssen eine gerechtere Nutzung des öffentlichen Raums erreichen. Das ist gerade im Ruhrgebiet ein Schlüssel: Alle diejenigen, die an normalen Tagen mit Fahrrädern unterwegs sind, spüren, was gerechtere Nutzung des öffentlichen 513
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Raums bedeutet. Ohne die kommen wir nicht zur sozialen Gerechtigkeit. Auch für uns gibt es Vorbilder, die wir nutzen und übernehmen können: Wenn die vom Autoverkehr emanzipierten Verhältnisse in der Mobilität so im Alltag verwirklicht und so selbstverständlich sind wie in Kopenhagen oder in Randstad in den Niederlanden, dann ist ein großer Schritt in diesem Kontext getan. Die Differenzierung von Lebensstilen und eine spürbare Hinwendung des Konsumenten zu nachhaltigen und regionalen Produktion führt zu neuen Chancen für eine urbane Nutzungsmischung, die in der Folge das Leitbild einer ‚Stadt der kurzen Wege‘ befördern können. Dabei kommt den neuen Formen des Urban Gardening auch eine soziale und produktive Bedeutung zu.
Leben und Gestalten im anthropozänen Zeitalter Bewusst gestalten heißt, an Morgen zu denken. Der US-amerikanische Informatik-Vordenker Alan Kay hat es formuliert: „Der beste Weg, die Zukunft vorherzusagen, ist, sie zu gestalten“ (TED 2008). Wir warten nicht mehr darauf, dass etwas passiert, sondern nehmen die Zukunft selbst in die Hand. Der Mensch lebt nicht mehr passiv im Holozän, sondern im anthropozänen Zeitalter nimmt er im Guten wie im Bösen entscheidend Einfluss auf globale biologische, geologische und atmosphärische Prozesse. In einer Zeit, in der das Naturbedürfnis proportional zur Automatisierung und Digitalisierung in allen gesellschaftlichen Bereichen steigt, kommt der Natur in unseren Projekten ein eigenständiger Part zu – nicht als Ornament, sondern als Grundlage einer langfristigen Beziehungsentwicklung der Ressourcen Boden, Wasser, Luft, Flora und Fauna. Im Rahmen einer grünen Infrastruktur werden neue produktive Landschaften entstehen, multifunktional, sukzessiv und wild, kultiviert und ertragreich – schön und geheimnisvoll, wie nur die Natur uns überraschen kann. Grün allein genügt nicht, Landschaft muss auch lebenswert und liebenswert sein. Produktiven Landschaften, die sich an die traditionellen Agrarlandschaften, die Stadtlandschaften und die Kulturlandschaften binden wie Sehnen an einen Körper. Und sie werden unser Verständnis von Natur nachhaltig beeinflussen.
Die lebenswerte Stadt Im Verhältnis von Stadt und Land verändert sich gerade etwas. Lang galt das Primat der vielleicht etwas begrünten Stadt, die sich von Landschaft außen vor absetzt. Oder die im negativen Sinne Landschaft erobert und zerstört, indem sie urbane Grenzen sprengt und sich in Metropolzonen mit anderen Städten verzahnt. Jetzt tritt die umgekehrte Entwicklung ein: Es ist die Landschaft, die die Stadt im positiven Sinn ‚erobert‘ und sie mit Natur durchmischt wie Hefe den Brotteig.
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Aber Natur allein schafft aus sich heraus nicht unbedingt lebenswerte Verhältnisse, das Biotop bleibt asozial. Natur darf vom Menschen kultiviert und eingesetzt werden, um Landschaft, um Stadtlandschaft zu gestalten. Die Vision einer lebenswerten Stadt kann nur erreicht werden, wenn unterschiedliche Ziele nicht getrennt, sondern in planerischer Voraussicht zu einer integrierten Entwicklungsstrategie miteinander verbunden werden. Die klimafreundliche, umweltfreundliche und Ressourcen schonende Stadt ist nicht ohne die gerechte, inklusive und für alle sichere Stadt zu gestalten und sie ist auf die produktive, innovative und wettbewerbsfähige Stadt angewiesen. Integrierte Stadtentwicklungskonzepte können in ausgewogenem Maß „Bottom Up“-Ansätze mit „Top-Down“-Ansätzen verknüpfen. Vielleicht ist das gerade die zentrale Botschaft, die uns das Gespann Zöpel/Ganser mit auf den Weg gegeben hat: Das Verdichten und Veranschaulichen von zukunftsorientierten Lösungsansätzen in einem dezentralen IGA-Format. Die Früchte werden dann in den 2030er-Jahren geerntet. Spätestens dann sollten die Wunden des industriellen Fortschrittes und seiner Zeit verheilt sein.
Literatur Council of Europe (2004). Details of Treaty No.176 – European Landscape Convention. 01. März 2004. https://www.coe.int/en/web/conventions/full-list/-/conventions/treaty/176. Zugegriffen: 13. September 2020. European Commission (o. J.). Nature-Based Solutions. https://ec.europa.eu/research/environment/ index.cfm?pg=nbs. Zugegriffen: 13. September 2020. ETH Studio Basel (Hrsg.). (2016). Achtung: Die Landschaft! – Lässt sich die Stadt anders denken? Ein erster Versuch. Zürich: Lars Müller. Istituto Italiano di Cultura Amburgo (2010). Raggi Verdi – Grüne Visionen für Mailand 2015. 14. September 2010. https://iicamburgo.esteri.it/iic_amburgo/de/gli_eventi/calendario/2010/09/ raggi-verdi-gruene-visionen-fuer-mailand-2015.html. Zugegriffen: 13. September 2020. Landeshauptstadt München et al. (2015). Konzeptgutachten Freiraum München 2030: Entschleunigung – Verdichtung – Umwandlung. Dezember 2015. https://www.muenchen.de/rathaus/dam/ jcr:38cecb80-7c6a-46dc-a525-3669bb8b70e6/FRM2030_WEB.pdf. Zugegriffen: 13. September 2020. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt (2016). Die Strategie Stadtlandschaft Berlin – Natürlich urban produktiv. Statusbericht 2015. Januar 2016. Berlin. https://www.berlin.de/ sen/uvk/_assets/natur-gruen/landschaftsplanung/strategie-stadtlandschaft/faltmappe.pdf. Zugegriffen: 13. September 2020. TED (2008). Alan Kay – Educator and computing pioneer. https://www.ted.com/speakers/alan_kay. Zugegriffen: 13. September 2020.
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Hochschulpolitische Ausgangslage Ende der 60er-Jahre des letzten Jahrhunderts wurden in Deutschland die Defizite im Bildungsbereich, vor allem auch im Hochschulbereich wegen des Mangels an Studienplätzen und steigender Studentenzahlen immer gravierender. Das galt vor allem für NRW; hier bestand ein besonders deutlicher Nachholbedarf. Schnelles und überlegtes politisches Handeln war somit dringend geboten. Deshalb beschloss die SPD-geführte Landesregierung 1969 folgendes umfassendes Neu- und Ausbauprogramm für NRW: • vier neue Universitäten in Bielefeld, Bochum, Düsseldorf und Dortmund, • neue Universitäten/Gesamthochschulen in Duisburg, Essen, Paderborn, Siegen und Wuppertal, • zwei neue Großkliniken in Aachen und Münster sowie Neubauten für die medizinischen Einrichtungen in Düsseldorf, Essen und Köln sowie • grundlegende Erweiterungsmaßnahmen an den bisherigen Hochschulstandorten Aachen, Bonn, Köln und Münster. Dieses ehrgeizige Programm sollte schnellstmöglich verwirklicht werden. Dazu reichten die traditionellen Kapazitäten der Staatlichen Bauverwaltung bei Weitem nicht aus. Um den Hochschulbau zu beschleunigen, entschied die Landesregierung, den Bau eines Teils der neuen Hochschulen, darunter auch das Klinikum Aachen, durch eine in Form einer GmbH privatrechtlich organisierte Hochschulbau- und Finanzierungsgesellschaft (HFG) durchführen zu lassen. Die HFG sollte im Interesse der Beschleunigung von der haushaltsrechtlichen Vorschrift befreit sein, dass umfassend geplant sein muss, bevor mit dem Bau begonnen wird. Außerdem sollte die HFG die Möglichkeit haben, sich bei der Durchführung ihrer Aufgaben Dritter (Baubetreuer) zu bedienen, sodass nur noch die Bauherrenfunktionen des Landes von der HFG wahrzunehmen waren. Zugleich sollte erreicht werden, auch für Universitätsklinikbauten die Förderung durch den Bund zu erhöhen.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_34
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Mit dem Hochschulbaugesetz vom 30. September 1969 wurde dieses Managementkonzept von allen Fraktionen des Landtags und von der Landesregierung gemeinsam getragen, und auch der Bund billigte im Rahmen der Bundesmitfinanzierung dieses Konzept. Die mit Abstand umfangreichste und schwierigste Aufgabe aus dem anspruchsvollen Programm des Hochschulbaugesetzes war das Klinikum Aachen. Die Baubetreuung hierfür hatte die HFG an die in der Durchführung von Großbauprojekten und Klinikbauten erfahrene Neue Heimat Städtebau (NHS) übertragen; aus Gründen der Beschleunigung war auf eine Ausschreibung verzichtet worden. Auch diese Entscheidung wurde vom Bund im Rahmen der Mitfinanzierung gebilligt
Besonderheiten des Projekts Universitätsklinikum Aachen Das Universitätsklinikum Aachen ist mit einer Geländegröße von 17 Hektar (25 Fußballfelder), einer Länge von 240 Metern und einer Breite von 130 Metern, einer Nutzfläche von 222.000 Quadratmetern und mit 6.600 Räumen auf 13 Etagen das größte Krankenhausgebäude Europas. Die Gesamtkosten beliefen sich auf rund 2,06 Milliarden DM; die Gesamtbauzeit betrug rund 13 Jahre (1971‒1984). Beim Klinikum Aachen wurden gleich vier grundlegende Neuerungen verwirklicht: • Die Konzeption „Alles unter einem Dach“, • die Vollklimatisierung des gesamten Gebäudes, • die Anwendung des sogenannten Synchronverfahrens – des parallelen Planens und Bauens – auf Großprojekte sowie • die Baudurchführung durch einen Baubetreuer begleitet von einer beim staatlichen Bauen bisher unbekannten neuen privatrechtlich organisierten Hochschulbau- und Finanzierungsgesellschaft. Vorbild für die Konzeption des Universitätsklinikums Aachen war die in den USA führende Mayo Clinic in Rochester, Minnesota. Von der Mayo Clinic wurden die Grundideen – das Konzept „Alles unter einem Dach“ und die Vollklimatisierung des Gesamtgebäudes – übernommen. So war auch in Aachen vorgesehen, nicht nur die ganze Klinik – also den ganzen Krankenhausbetrieb ‒, sondern auch die komplette Medizinische Fakultät mit dem gesamten Lehr- und Forschungsbetrieb in einem riesigen Gebäude unterzubringen. Ebenso wurde auch beim Klinikum Aachen die Vollklimatisierung des gesamten Gebäudes vorgesehen, ohne kritisch zu hinterfragen, ob es nicht auch ausgereicht hätte, nur die sensiblen Bereiche, wie OP-Säle und Intensivstationen, voll zu klimatisieren, bei den Patientenräumen aber zu öffnende Fenster zu planen. Eine weitere Besonderheit beim Klinikum Aachen war die Anwendung des sogenannten Synchronverfahrens – des parallelen Planens und Bauens. Dieses von Baubetreuer NHS vorgeschlagene Verfahren war nach dem Hochschulbaugesetz zulässig und auch schon in der Praxis vielfach eingesetzt, zum
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Beispiel auch bei den übrigen Projekten des Hochschulbaugesetzes. Mit der Anwendung des Synchronverfahrens bei Großprojekten wie dem Klinikum Aachen wurde jedoch Neuland betreten. Die Fachleute sind sich einig, dass dieses Synchronverfahren nur auf der Grundlage einer zuverlässigen Netzplanung gelingen könne. Diese vier grundlegenden Besonderheiten des Klinikum Aachen bedeuteten für alle Beteiligten große Herausforderungen und zeigten zugleich, welche Risiken mit diesem Großprojekt auf dieser Grundlage eingegangen wurden.
Die Projektverwirklichung Aus der Erfahrung vieler Großprojekte in Deutschland wissen wir heute, wie schwierig eine zuverlässige Einschätzung von Gesamtkosten und voraussichtlicher Gesamtbauzeit sind. So sind aus heutiger Sicht die ursprünglichen Grundannahmen beim Klinikum Aachen – Gesamtkosten 571 Millionen DM (erster Bauabschnitt) und Gesamtbauzeit von sechs Jahren – als unrealistisch anzusehen. Umgekehrt war die Kostenexplosion auf 2,06 Milliarden DM Gesamtkosten und Bauzeitverlängerung auf 13 Jahre keineswegs nachvollziehbar und unvermeidbar. Diese Fakten zeigen vielmehr deutlich, dass das Großprojekt Klinikum Aachen aus dem Ruder gelaufen war. Schon kurz nach Baubeginn zeigten sich erste Planungsfehler: Wegen des lockeren Mergeluntergrundes kam es zu Beschädigungen der Grundleitungen und Setzungen von Gebäudeteilen. 64 Betonpfeiler mussten zusätzlich zur Verfestigung des Bodens eingebracht werden. Danach verliefen die Bauarbeiten bis zur Fertigstellung des Rohbaus weitgehend reibungslos. In der Folgezeit etwa ab 1974 kam es jedoch sowohl aufgrund von Fehlern der Beteiligten als auch aufgrund äußerer unvorhersehbarer Umstände immer wieder zu Bauverzögerungen und auch dadurch bedingt zu erheblichen Kostensteigerungen. Als ein wesentliches Problem erwies sich vor allem, dass die NHS die für die Synchronplanung elementar wichtige Netzplantechnik nicht hinreichend beherrschte. Das hat zugleich erheblich zu sich häufenden Bauverzögerungen und Baustillstand beigetragen. Der damalige Finanzminister Dr. Posser gab in der Debatte über den Zwischenbericht des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses am 29. November 1979 eine Bauverzögerung um vier Jahre ab. In der Festschrift 50 Jahre medizinische Fakultät 1966–2016 RWTH Aachen gingen die Verfasser sogar von einem annähernd fünfjährigen Stillstand des Bauvorhabens aus (Groß et al. 2016, S. 63). Bauverzögerungen und Baustillstand bedeuteten zugleich wesentliche Kostensteigerungen. Es kamen weitreichende folgenschwere Planungsänderungen hinzu. Finanzminister Dr. Posser verwies in seiner zuvor angeführten Rede auf 92 Planungsänderungen mit zusätzlichen Kosten von 203 Millionen DM. Die beiden wichtigsten Planungsänderungen: • Besonders gravierend war die geänderte DIN-Norm 1946 für Lüftungs- und Klimaanlagen. Aufgrund mehrerer Todesfälle in der Universitätsfrauenklinik Hamburg-Ep519
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pendorf – bedingt durch Übertragung tödlicher Keime durch Klimaanlagen – wurde die DIN-Norm 1946 Ende 1974 wesentlich verschärft. Das hatte zur Folge, dass die Planung der Vollklimatisierung für das Klinikum Aachen nachträglich grundlegend verändert werden musste. Ursprünglich waren 22 dezentrale Einheiten vorgesehen. Nunmehr musste eine Gesamtanlage – ein verbundenes System – mit einer zentralen Steuerungsanlage mit wesentlichen Mehrkosten in Höhe von 270 Millionen DM (von ursprünglich 40 auf 310 Millionen DM) eingebaut werden. • Ähnlich gravierend wirkte sich der „Kontaktfenstererlass“ von Ende 1973 aus. Die Bauaufsicht verlangte für innenliegende – bis dahin fensterlos geplante – Arbeitsräume den Einbau von Zwischenverglasungen (Kontaktfenstern), um einen Ausblick ins Freie zu ermöglichen. Deshalb mussten in erheblichen Umfang teure Umbaumaßnahmen durchgeführt werden. Ebenso hatten eine Vielzahl geänderter bauordnungsrechtlicher Vorschriften (insgesamt 54 Änderungen von Verordnungen des Bundes und des Landes) sowie 163 Neuerungen im Bereich der technischen Baubestimmungen erheblichen Einfluss auf das Baugeschehen. Auch auf der personellen Seite wurden die verschärften Probleme des Projekts sichtbar. Durchgreifende personelle Veränderungen sollten dazu führen, die Probleme zu lösen. So wechselte die NHS ihr gesamtes Management in Aachen aus und kündigte 1977 ihrem Ingenieurbüro fristlos. Das führte zwangsläufig zu erheblichen zusätzlichen Belastungen und Bauzeitverlängerungen. Auf der Landesseite wurde die HFG 1977 durch Gesetz von ihren Aufgaben, die bis auf das Klinik Aachen weitgehend durchgeführt waren, entbunden. Die HFG war mit dem Großklinikum Aachen sichtlich überfordert. Die verbliebenen Aufgaben wurden auf die staatliche Bauverwaltung zurück übertragen. Für das Klinikum Aachen wurde die Staatliche Sonderbauleitung Aachen (SBL) mit gegenüber der HFG deutlich verstärkter Personalausstattung errichtet. Damit trat eine Wende zum Besseren ein: Das Bauvorhaben kam voran. Die deutlich sichtbar gewordenen Probleme beim Klinikum Aachen führten zu einem erhöhtem medialen Interesse und zu heftigen Diskussionen im Landtag NRW. Von den überwiegend kritischen Pressestimmen ist der Bericht des Spiegels (1979) anzuführen: Hier ist von „der teuersten Fehlkalkulation in der Geschichte des Landes NRW“ und von „einer monströsen Fehlplanung“ die Rede. Im Landtag NRW griff die damalige CDU-Opposition das Thema Klinikum Aachen bereitwillig auf und beantragte nach vielen Anfragen und von ihr initiierten Parlamentsdebatten am 19. April 1977 einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss, der sich zwar formell mit der Tätigkeit der Hochschulbau- und Finanzierungsgesellschaft befassen sollte, sich aber überwiegend auf das Thema Klinikum Aachen fokussierte. Der Untersuchungsausschuss legte am 05. November 1979 aus Zeitgründen nur einen Zwischenbericht vor, wobei der Tatsachenteil des Berichts von den Regierungsparteien SPD und FDP sowie der CDU-Opposition gemeinsam beschlossen wurde, während der Wertungsteil erwartungsgemäß kontrovers ausfiel. In dem Wertungsteil der SPD-Mehrheit wurden der entscheidende Anteil des Baubetreuers NHS an den Problemen und unvorhersehbarer äußerer Einflüsse bei der Projektverwirklichung dargestellt und Angriffe auf Mitglieder
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der Landesregierung zurückgewiesen. Zugleich wurde kritisch hervorgehoben, dass man die Kosten immer noch nicht im Griff habe. Außerdem wurden Koordinierungsprobleme innerhalb der Landesregierung bemängelt und die Informationspolitik der Landesregierung gerügt. In dem Wertungsteil der CDU-Minderheit wurde der Versuch unternommen, vor allem Mitglieder der Landesregierung für die Kostenprobleme und Bauzeitverzögerungen beim Klinikum Aachen verantwortlich zu machen. In der vom beginnenden Wahlkampf geprägten Landtagsdebatte über den Zwischenbericht verdeutlichten der Finanzminister und der Ministerpräsident die Verantwortlichkeit der NHS, räumten aber auch Fehler der Landesregierung ein. Finanzminister Dr. Posser wies auf Baufortschritte hin. Er erläuterte detailliert die Kostenentwicklung beim Klinikum Aachen, die Ursachen für die Kostensteigerungen und verwies auf die Angaben des Baubetreuers zu den Eckdaten des Projekts: • voraussichtliche Gesamtkosten: 1.445 Millionen DM und • voraussichtliche Fertigstellung des Klinikums: 1981.
Wechsel der Ressortzuständigkeit für das Universitätsklinikum Aachen vom Finanzminister zum Minister für Landes- und Stadtentwicklung 1980 Mit der Neubildung der Landesregierung 1980 ging das Projekt Klinikum Aachen mit der Zuständigkeit der Staatshochbauverwaltung vom Finanzministerium in die Ressortzuständigkeit des neu gegründeten Ministeriums für Landes- und Stadtentwicklung unter Leitung von Minister Dr. Zöpel über. Wenn auch die Baustelle nach der Gründung der SBL wieder Fahrt aufgenommen hatte, so waren doch zwei Grundprobleme unübersehbar und irreparabel: die Kostenexplosion und die massiven Zeitverzögerungen. Das Klinikum Aachen war und blieb somit ein schwieriger Problemfall. Minister Zöpel traf daher nach einer Bestandsaufnahme zwei Grundsatzentscheidungen: • Das Klinikum Aachen ist so schnell wie möglich fertigzubauen und • bei der Kontrolle der Leistungen des Baubetreuers sind die Rechte des Landes optimal durchzusetzen, dabei wird aber an den Verträgen festgehalten. Um diese Grundsatzentscheidungen zu verwirklichen, wurde die Administration sowohl im Ministerium als auch bei der SBL durch personelle und organisatorische Maßnahmen wesentlich verstärkt: Im Ministerium berief der Minister einen Staatssekretär mit besonderer Erfahrung auf dem Gebiet der Fach- und Rechtsaufsicht über Staatshochbau. Außerdem wurde ein qualifizierter Jurist in der Fachabteilung als Gruppenleiter, insbesondere für Managementaufgaben bei der Fertigstellung des Klinikums Aachen eingesetzt. Organi521
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satorisch wurde ein gesondertes Referat „Neubau der Medizinischen Fakultät der RWTH Aachen“ eingerichtet und ebenso wie das Rechtsreferat personell verstärkt. Weiterhin wurde eine abteilungsübergreifende „Projektgruppe Klinikum Aachen“ gebildet. Die Kontrolle und Unterstützung des Baubetreuers NHS wurde deutlich verstärkt. So fanden regelmäßige intensive Besprechungen mit der NHS auf Leitungsebene im Ministerium statt. Mit der SBL gab es ebenfalls einen regen Austausch der anstehenden Probleme in „Lagebesprechungen“. Auch auf eine sorgfältige Abstimmung mit den beteiligten Landesressorts, insbesondere mit dem Wissenschafts- und Finanzminister, wurde größter Wert gelegt. Die SBL unterlag seit dem Ressortwechsel 1980 der unmittelbaren Fachaufsicht des MLS. Die SBL wurde unter der Ressortverantwortung des MLS deutlich verstärkt und insgesamt wurde die Mitarbeiterzahl von 20 auf 43 mehr als verdoppelt. So konnte auch auf Ortsebene die Kontrolle des Baubetreuers, aber auch die Unterstützung der NHS bei der Baufertigstellung deutlich und zielgerichtet ausgeweitet werden. Deshalb fanden regelmäßige Baufortschritts-, Termin- und Kostenkontrollgespräche sowie auch Juristengespräche zwischen der SBL und der NHS statt. Weiterhin wurde ein „Freigabeausschuss“ geschaffen, der schwerpunktmäßig alle Vergabevorschläge des Betreuers über 50.000 DM unter Anlegung eines strengen Maßstabes auf Notwendigkeit, Wirtschaftlichkeit und Preiswürdigkeit zu prüfen hatte. Insgesamt wurde so das Klinikum Aachen das am intensivsten fachaufsichtlich begleitete Projekt der Staatshochbauverwaltung. Diese intensiven administrativen Anstrengungen zeigten schon bald positive Wirkung. Aber in der Folgezeit traten jedoch 2 schwerwiegende neue Probleme auf, die beinahe doch noch zum Scheitern des Projekts geführt hätten: Das erste dieser Probleme war die Krise des Mutterkonzerns Neue Heimat (NH) 1982. Die NH war in erhebliche wirtschaftliche Turbulenzen geraten und vom einem Skandal (Veruntreuungen von Spitzenmanagern in der Konzernleitung) angeschlagen. Das Tochterunternehmen NHS wurde gleichfalls von dieser Entwicklung erfasst. Es kam hinzu, dass Mängel bei den Planungsleistungen der NHS immer deutlicher hervortraten. Deshalb ließ das MLS die Netzplanleistungen der NHS durch Prof. Kuhne – einem ausgewiesenen Netzplanexperten – gutachtlich untersuchen. Der Gutachter kam zu dem Ergebnis, dass die Netzplanleistungen unzureichend seien. Das MLS verklagte daraufhin die NHS auf teilweise Rückzahlung des für die Netzplanung erhaltenen Honorars (0,5 % der anrechnungsfähigen Herstellungskosten) und weigerte sich, fortan weiteres Honorar für Netzplanung zu zahlen. Wegen erheblicher Gegenforderungen des Landes lehnte das MLS auch die übrige Honorarzahlung für Betreuungsleistungen (1,5 % der anrechnungsfähigen Herstellungskosten) ab. Da die NHS ohne Honorarzahlungen nicht bereit war, weitere Leistungen zu erbringen, musste eine grundsätzliche Klärung herbeigeführt werden. Zunächst wurde eine Kündigung des Betreuers erwogen. Wegen der unabsehbaren Folgen einer solchen Kündigung in einem weit fortgeschrittenen Zeitpunkt der Baufertigstellung erschien dieser Lösungsweg zu riskant. Deshalb musste eine andere Lösung gefunden werden. Nach schwierigen Verhandlungen unter Leitung des Ministerpräsidenten und der zuständigen Minister – Minister Dr. Zöpel wurde wegen Erkrankung durch Staatsekretär Winter vertreten – wurde mit der Leitung der NH ein Moratorium vereinbart. Danach
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wurden der NHS bis zu dem von ihr nunmehr zugesagten Fertigstellungstermin für das Klinikum Aachen – Ende 1983 – nur noch die erforderlichen Personal- und Sachkosten erstattet. Da sich durch nicht vorsehbare Schwierigkeiten bei der Fertigstellung der lüftungstechnischen Konzeption die endgültige Fertigstellung des Klinikums bis Ende 1984 verzögerte, musste dieses Moratorium bis dahin verlängert werden. Das zweite Problem waren die Schwierigkeiten der Fertigstellung und Funktionsfähigkeit der komplizierten Vollklimatisierungsanlagen durch die Arbeitsgemeinschaft Luft- und Klimatechnik (ARGE L und K). Lange Zeit war es zweifelhaft, ob diese Anlagen, deren riesige Dimensionen schon äußerlich auf dem Dach des Klinikums eindrucksvoll sichtbar sind, überhaupt funktionieren würden. Nach erheblicher Verzögerung gelang aber doch noch die Fertigstellung. Zuvor hatte die ARGE eine neue vertragliche Regelung gefordert und anderenfalls gedroht, die Arbeiten einzustellen. Nach schwierigen Verhandlungen und in enger Abstimmung mit dem Finanz- und Wissenschaftsministerium wurde ein Vergleich zwischen dem Land und der ARGE L und K in Höhe von 331 Millionen DM geschlossen und vom Landeskabinett gebilligt. Beide Problembereiche konnten nur durch ein intensiven Krisenmanagement der beteiligen Landesressorts erfolgreich gelöst werden. Arbeitsintensiv war auch die Bearbeitung zahlreicher umfangreicher Prüfungsmitteilungen des Landesrechnungshofs (LRH). Die Arbeit war deshalb mühevoll, weil das Ministerium auf die Informationen des Baubetreuers NHS angewiesen war und diese Informationen oft nur unzureichend zur Verfügung gestellt wurden. Ein besonderer Kraftakt war die Beratung mit dem LRH über den zuvor erwähnten Großvergleich mit der ARGE L und K. Nach heftiger Diskussion gelang es, den LRH davon zu überzeugen, keine Bedenken gegen diesen Vergleich zu erheben. Eine weitere Herausforderung für die Administration stellte der II. Parlamentarische Untersuchungsausschuss auf Antrag der CDU-Landtagsfraktion dar. Der Antrag lautete: „Es wird ein Untersuchungsausschuss eingesetzt, der prüfen und feststellen soll, warum die Kosten für die Planung und den Bau des Klinikums Aachen von ursprünglich 571 Mio. DM auf die im 14. Rahmenplan nach dem Hochschulbauförderungsgesetz ausgewiesene Summe von 2,3 Mrd. DM angestiegen sind.“ Auch hier bedurfte es einer gezielten Zusammenarbeit mit den beteiligten Ressorts – vor allem mit dem Finanz- und Wissenschaftsminister. Dabei standen Überlegungen im Vordergrund, wie die Informationsanforderungen des Ausschusses erfüllt und die Zusammenarbeit zwischen Ressorts und Ausschuss effektiv gestaltet werden konnten. Außerdem wurde eine wechselseitige Information über die Erkenntnisse der Ausschussarbeit vereinbart. Da der Ausschuss alle Akten betreffend Klinikum Aachen auf seine Anforderung hin erhalten hatte, war die Tagesarbeit in den Ressorts ohne diese Unterlagen erschwert. Am 1. März 1985 – also in der beginnenden Wahlkampfzeit – legte der Untersuchungsausschuss seinen Abschlussbericht vor. Dabei konnten sich die Parteien nicht auf einen gemeinsamen Text – nicht einmal bei der Sachverhaltsdarstellung – einigen. So gab es den Mehrheitsbericht der SPD und den Minderheitsbericht der CDU. Der Mehrheitsbericht der SPD würdigte die Anstrengungen der Landesregierung, speziell des MLS, die zur 523
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Fertigstellung des Klinikums Aachen geführt haben. Anders als im Zwischenbericht des ersten Parlamentarischen Untersuchungsausschusses wurde keine Kritik am Verhalten der Landesregierung geübt. Vielmehr wurde abschließend festgestellt (S. 91): „Der Landesregierung ist wegen der dargestellten Kostenentwicklung kein Vorwurf zu machen. Bei der von allen politischen Kräften gewollten Konzeption des Hochschulbaugesetzes, bestimmte Großvorhaben des Hochschul- und Hochschulklinikbaus durch Betreuer in Vollbetreuung durchführen zu lassen, kommt es gerade für eine sorgfältige und nachvollziehbare Kostenberechnung entscheidend auf den Betreuer an. Ihm fällt im Bereich von Kosten und Terminen die Schlüsselrolle zu. […] Die Landesregierung hat insbesondere mit Einrichtung der SBL und durch gezielte Verstärkung der Fachaufsicht alles unternommen, um die Kosten zu kontrollieren. Sie konnte sich aber nicht an die Stelle des Betreuers setzen, weil das nicht der Intention des Hochschulbaugesetzes entsprach […].“
In dem Minderheitsbericht der CDU wurde einseitig der Versuch unternommen, dem ehemaligen Finanzminister Wertz, Minister Dr. Zöpel und Ministerpräsidenten Rau die Verantwortung für die Kostensteigerungen anzulasten. Bezeichnend ist dabei, dass die CDU nicht einmal die Frage nach der Verantwortung des Baubetreuers NHS für die Kostensteigerungen aufgeworfen, geschweige denn sachgerecht geprüft hatte. Die Landtagsdebatte über den Untersuchungsbericht vom 7. März 1985 war vom nahen Wahlkampf geprägt. SPD und CDU wiederholten im Wesentlichen ihre bisherigen Argumente. Auch Mitglieder der Landeregierung – Minister Dr. Zöpel und Ministerpräsident Rau – griffen in die Debatte ein. Dr. Zöpel fasste eingangs in sechs Punkten zusammen, was seit 1980 in seiner Mitverantwortung beim Klinikum Aachen erreicht wurde: • Seit 28. Dezember 1984 Fertigstellung der Medizinischen Fakultät der RWTH Aachen und Übergabe an den Nutzer, • Abrechnungsplanung mit dem Baubetreuer bis Mitte 1986 und Prüfung durch die SBL bis Ende des 3. Quartals 1988, • erzielbare Kostensicherheit erreicht, • Rechtspositionen des Landes vielfältig gewahrt; zentraler Punkt prozessualer Auseinandersetzungen, Klage gegen die NHS wegen mangelhafter Netzplantechnik als strategischer Ansatzpunkt für weitere Ansprüche wegen Mangelfolgeschäden, • restriktive Handhabung der finanziellen Position des Landes bezüglich potenzieller Honoraransprüche der NHS sowie • größte Sorgfalt, zur Vermeidung von Risiken für Patienten. Minister Dr. Zöpel hob vor allem hervor: In den viereinhalb Jahren liege hinter der Landesregierung als Ganzes ein strapaziöses Krisenmanagement, das durch konkretes Handeln von konkreten Menschen und mit konkreten Menschen geleistet werden musste. Er verwies dabei auf die schon dargestellten beiden Hauptproblemfelder – die Krise um die NH und die Fertigstellung der hochkomplizierten Lüftungs- und Klimaanlagen. Er schloss seine Rede mit folgenden sechs Feststellungen ab:
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„• Aachen hat eine neue Medizinische Fakultät, die Aachen brauchte. • In Aachen ist in der Tat ein Mekka der Hochleistungsmedizin entstanden. • In Aachen wird eine Krankenversorgung angeboten, die über die Qualität der Krankenversorgung in den meisten Krankenhäusern Deutschlands weit hinausgeht. • In Aachen ist auch ein markantes Beispiel von Nachkriegsarchitektur errichtet worden, über das es unterschiedliche Bewertungen gibt. • Hier ist eine Klinik gebaut worden, die ein wahrscheinlich mit keiner anderen Klinik verbundenes Maß an zusätzlichen Erkenntnissen über Medizintechnik und Krankenhaustechnik erbracht hat. […] • und hier bleibt die Zukunftsaufgabe der Landesregierung: Aachen stellt eine Herausforderung dar, wie man in einem neuralgischen Punkt der Natur des Menschen, nämlich der Krankheit, verantwortlich mit Technik umgehen kann, und das werden wir auch leisten.“
Ministerpräsident Rau hob in seinem Redebeitrag hervor, dass er für das Klinikum Aachen einstehe. Er warf dem Oppositionsführer ein Taktieren mit der Ministeranklage vor. Tagelang würden Menschen unter Verdacht belassen, das Land um Hunderte von Millionen DM geschädigt zu haben. Er persönlich werde in der Geschichte des Klinikums auch mit seinen Fehlern vorkommen. Als der für den Hochschulbau acht Jahre lang Zuständige könne er nicht für ein Projekt einer Größenordnung, die es noch nie gegeben habe, garantieren, dass nichts schiefgehe und er habe sein Bestes getan. Aachen werde ein „Mekka der Hochleistungsmedizin“, und es werde später von allen politischen Parteien die Idee reklamiert werden. Aachen werde immer Probleme bereiten. Aber es helfe vielen Menschen. Er sei stolz darauf. Am 16. April 1985 stellte die CDU gemäß Art. 63 der Landesverfassung Antrag auf Ministeranklage gegen den ehemaligen Finanzminister Wertz, Minister Dr. Zöpel und Ministerpräsident Rau. Damit wurde zum ersten Mal in der Geschichte des Landes eine derartige Klage beantragt. Art. 63 LV erforderte bewusst schwerwiegende Voraussetzungen: Der Antrag setzte voraus, dass der Ministerpräsident oder ein Minister vorsätzlich oder grob fahrlässig die Verfassung oder ein Gesetz verletzt habe. Der Beschluss auf Erhebung der Anklage bedurfte der Mehrheit von zwei Dritteln der anwesenden Mitglieder des Landtags. Diese Ministeranklage wurde von der Öffentlichkeit und den Medien überwiegend als überzogen und ungerechtfertigt angesehen. In ihrem Antrag vermochte die CDU nicht, diese zwingenden Voraussetzungen – vorsätzliche oder grobfahrlässige Verletzung der Verfassung oder eines Gesetzes durch ein Mitglied der Landesregierung – substanziell darzulegen. Das gelang der CDU ebenso wenig in der Landtagsdebatte über diesen Antrag, geschweige denn der Beweis dieser strengen Voraussetzungen. Allgemeine Behauptungen und Beschuldigungen, wie von der CDU vorgetragen, reichten hierfür nicht aus. Der Antrag hätte demnach schon aus formellen Gründen abgelehnt werden können. Gleichwohl wurde der Antrag zugelassen, um eine Auseinandersetzung in der Sache zu ermöglichen. So wurde der Antrag auf Ministeranklage in der Sondersitzung des Landtags vom 23. April 1985 in einer ganz vom Wahlkampf bestimmten Debatte kontrovers diskutiert, ohne das wesentliche, neue Argumente vorgebracht wurden. Der Antrag der
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CDU wurde mit der Stimmenmehrheit der SPD abgelehnt; die CDU hatte damit das erforderliche Quorum einer Zweidrittelmehrheit – wie erwartet – weit verfehlt. Übrigens: Durch Gesetz vom 25. Oktober 2016 beschloss der Landtag 14 Änderungen der Landesverfassung. Dabei hob der Landtag u. a. Art. 63 LV auf und schaffte damit die nicht mehr zeitgemäße Ministeranklage ab.
Fertigstellung, Einweihung und Abrechnung des Universitätsklinikums Aachen Das Klinikum Aachen wurde am 28. Dezember 1984 nach 13-jähriger Bauzeit fertiggestellt und an den Nutzer übergeben. Nach schrittweisem Umzug fand am 21. März 1985 die feierliche Einweihung des Universitätsklinikums Aachen durch Ministerpräsident Rau statt. Nach der Fertigstellung wurde in einer weiteren Kraftanstrengung das Klinikum Aachen abgerechnet. Die mit der NHS vereinbarte Abrechnungsplanung (Abrechnung der NHS bis Mitte 1986; Prüfung durch die SBL und Gesamtverwendungsnachweis bis Ende 3. Quartals 1988) konnte allerdings nicht eingehalten werden. Die Nachfolgegesellschaft der NHS, die Gesellschaft für Städtebau und Planung AG (GSP), legte die Abrechnung des Klinikums Aachen erst im Spätherbst 1989 – also rund drei Jahre später als vereinbart – vor. Die SBL konnte nach Überprüfung der Abrechnung des Baubetreuers den Gesamtverwendungsnachweis bereits Anfang 1990 aufstellen – deutlich früher als ursprünglich vorgesehen. Der tatsächliche Abrechnungszeitraum hatte sich daher nur geringfügig verlängert, was in Anbetracht des Großprojektes Klinikum Aachen als große Leistung zu werten ist. Besonders bemerkenswert ist es auch, dass sich die Abrechnung nicht – wie bei anderen Großprojekten – durch zahlreiche gerichtliche Auseinandersetzungen verzögerte. In Aachen gelang es, insgesamt 16 Vergleiche abzuschließen, darunter zwei Großvergleiche: der – bereits erwähnte – Vergleich zwischen der ARGE L und K und dem Baubetreuer. So wurden jahrelange Verzögerungen bei der Abrechnung vermieden. Entsprechend dem Gesamtverwendungsnachweis betrugen die Gesamtkosten des Universitätsklinikums Aachen 2,06 Milliarden DM.
Gebäude des Universitätsklinikum Aachen unter Denkmalschutz Erscheinungsbild und Architektur des Universitätsklinikums Aachen sind nach wie vor umstritten. Gleichwohl wurde das Gebäude des Universitätsklinikums Aachen 2008 mit der Begründung unter Denkmalschutz gestellt, es handele sich um eines der größten und wichtigsten Bauwerke der High-Tech-Architektur im europäischen Raum vergleichbar mit dem Centre Pompidou in Paris und dem Lloydsgebäude in London – und zugleich um das weltweit einzige Klinikgebäude in besagtem Stil. Auch der damalige Landeskonservator
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Prof. Dr. Mainzer äußerte sich positiv; er sprach bezüglich des Klinikums Aachen von einer „außerordentlichen Architekturleistung internationalen Ranges“ (Groß et al. 2016, S. 88). Ebenso gab es aber auch negative Aussagen zum Klinikum Aachen, wie „Krankes Haus“ und „monströser Energiefresser“ (Groß et al. 2016).
Medizinische Bedeutung des Universitätsklinikum Aachen Im Universitätsklinikum Aachen wird Spitzenmedizin geboten: • • • • • •
umfassendes Leistungsspektrum, Lehre, Forschung und Krankenversorgung unter einem Dach, intensiver, interdisziplinärer Austausch, 36 Fachkliniken, 25 Institute, 5 fachübergreifende Einheiten, 38 Lehr- und Forschungsgebiete, Zentren: u. a. Traumazentrum, Wirbelsäulenzentrum, Transplantationszentrum, Zentrum für seltene Erkrankungen, • 1.400 Betten, rund 50.000 stationäre und 200.000 ambulante Fälle im Jahr, • 2.610 Studierende.
Die überzeugenden medizinischen Spitzenleistungen in Aachen werden eindrucksvoll in der Festschrift 50 Jahre Medizinische Fakultät 1966‒2016 RWTH Aachen belegt (Groß et al. 2016). Beispielhaft sind hervorzuheben: • Die RWTH Aachen wurde 2009 vom Stifterverband Deutsche Wissenschaft und von der Kultusministerkonferenz im „Wettbewerb exzellente Lehre“ ausgezeichnet. Damit wurde die RWTH Aachen als eine von deutschlandweit sechs universitären Standorten für ihre hervorragende Ausbildung gewürdigt. An dieser Auszeichnung hatte die Medizinische Fakultät maßgeblichen Anteil (S. 229‒230). • Zahlreiche Auszeichnungen in den Bereichen Lehre und Lehrdidaktik werden benannt (S. 230ff.). • Von herausragender Bedeutung sind die Meilensteine der Aachener Universitätsmedizin: zehn wegweisende Entwicklungen und Entdeckungen (S. 263‒289). Die erste Herztransplantation in NRW wurde im Universitätsklinikum Aachen durchgeführt. Das jüngste Gutachten des Wissenschaftsrates vom 28. Oktober 2019 hat die sieben Standorte der NRW-Hochschulmedizin untersucht und gelangt dabei zu der positiven Kernaussage: Die Gutachter sprechen von einer „für die Zukunft gut aufgestellten Landschaft, die stark ist durch Vielfalt und Zusammenarbeit“. Die Universitätsmedizin in Aachen wird dabei als der „Rising Star“ der Universitätsmedizin in NRW bezeichnet.
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Zwei immer wieder geäußerte Befürchtungen bezüglich des Klinikums Aachen: • keine hinreichende Auslastung der Krankenbetten, • überhöhte Pflegesätze haben sich nicht bewahrheitet. Vielmehr ist das Klinikum Aachen nach wie vor gut ausgelastet, und die Pflegesätze sind mit denjenigen anderer NRW-Unikliniken durchaus vergleichbar. Inzwischen wird auch einem alten Anliegen vieler Patienten Rechnung getragen. In zwei renovierten Pflegeetagen gibt es jetzt einige zu öffnende Fenster, was für einige Patienten vor allem aus psychologischen Gründen wichtig ist.
Schlussbemerkung Nach über 30 Jahren praktischer Erfahrung mit dem Universitätsklinikum Aachen kann man rückblickend mit dem notwendigen Abstand über die Bedeutung dieses außerordentlichen und größten Bauprojekts in NRW nachdenken. Es war von Anfang an ein großes und riskantes Wagnis sowie eine bis dahin einmalige Herausforderung. Das Wagnis ist letztlich gelungen, aber zu einem hohen – viele Kritiker meinen zu einem zu hohen – Preis zu Lasten der Steuerzahler. Als einer der intensiv tätigen Mitarbeiter des MLS habe ich bei der Fertigstellung des Klinikums Aachen eine große Erleichterung und Freude empfunden. Einige fühlten sich an den Titel des bekannten Theaterstücks von Thornton Wilder Wir sind noch einmal davon gekommen erinnert. Im Nachhinein wird deutlich, dass dieses gigantische Projekt viele Menschen überfordert hat. Zugleich wurden auch die Grenzen der Technik ersichtlich und teilweise auch sichtbar überschritten, wobei anzuerkennen ist, dass für die moderne Klinikbautechnik neue Erkenntnisse erworben wurden. So wird das Klinikum Aachen ein wohl einmaliges umstrittenes Experiment bleiben, was sich nicht wiederholen wird. Aber das Wichtigste ist – und hat den hohen Einsatz gelohnt ‒, dass im Universitätsklinikum Aachen vielen kranken Menschen, gerade auch Schwerstkranken, zuverlässig und wirksam geholfen wird.
Literatur Groß, D., Kleinmann, J., & Schwanke, E. (2016). 50 Jahre Medizinische Fakultät (1966 – 2016) RWTH Aachen (Berichte aus der Medizin, Band 1). Aachen: Shaker. Spiegel (1979). BAUSKANDAL Bezahlen und vergessen. 14. April 1979. Spiegel, 16. https://www. spiegel.de/spiegel/print/d-40350292.html. Zugegriffen: 13. September 2020.
Teil 6 Ruhr
Das Konstante ist der Wandel: Chancenregion Ruhr Stephan Holthoff-Pförtner
Hätten schon vor 200 Jahren Satelliten aus dem Weltall die Erde beobachtet, dann würde uns ein Zeitrafferfilm über die Region an Ruhr, Emscher und Lippe heute vor allem eines zeigen: den ständigen Wandel. An den Gruben und Fördertürmen wäre erkennbar, wie der Bergbau sich von Süden nach Norden bewegte, wie aus kleinen Schmieden Stahlwerke wurden, wie die Städte wuchsen und wie der Staub der Halden und der Rauch der Schornsteine den Blick auf die Erde trübte. Später im Film würde die Sicht wieder klarer, im gleichen Maß, wie die Menschen, wenn sie nach oben schauten, wieder den blauen Himmel sahen. Es wäre erkennbar, wie die Städte grüner wurden und das Ruhrtal sich zum Ausflugsziel entwickelte. Gegen Ende des Films könnten wir miterleben, wie nach und nach die Emscher, befreit von der Abwasserlast, wieder zu einem lebendigen, klaren Fluss wird und die Landschaft um sie herum zum Naherholungsgebiet. Man sähe Stahlwerke entstehen und verschwinden, sähe Opel und Nokia kommen und gehen. Die Entwicklung zur Wissensregion wäre erkennbar – daran, dass vor bald 60 Jahren am Rand von Bochum Gebäude errichtet wurden, in denen kurze Zeit später junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler forschten und Studentinnen und Studenten lernten. Der Blick von oben ließe auch die kulturelle Vielfalt erkennbar werden. Es entstanden nicht nur Kirchen und Synagogen, sondern auch die Minarette von Moscheen und die Türme von Hindu-Tempeln ragen inzwischen in den Himmel. Auf alten Flächen ist Neues entstanden – vom Duisburger Hafen über Zollverein in Essen, die Jahrhunderthalle Bochum bis zum Phoenixsee in Dortmund. Manche Ereignisse dürften sogar aus der Satellitenperspektive erstaunlich wirken, wie die Eröffnung des Kulturhauptstadtjahrs im Schnee, oder das Stillleben Ruhrschnellweg, das rund drei Millionen Besucher auf die Autobahn A40 zwischen Duisburg und Dortmund lockte. Und in den Filmszenen ganz am Ende fiele auf, wie nach und nach auch die letzten Zechen schließen. In diesem Zeitrafferfilm über 200 Jahre Ruhrgebiet wäre nur eines ganz sicher nicht zu sehen: Stillstand. Das dürfte auch in den nächsten Jahrzehnten so bleiben. Jetzt sind wir aber nicht Zuschauer, sondern Regisseure. Zukunft passiert nicht, Zukunft wird von uns gestaltet. Was aus dem Ruhrgebiet wird, hängt entscheidend davon ab, welche Weichen wir heute stellen. Dieser Verantwortung müssen wir gerecht werden.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_35
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Wie geht der Film also weiter, welche Bilder fängt der Satellit in den nächsten Jahrzehnten ein? Eines ist schon sicher: nach der Kohleförderung wird auch die Kohleverstromung enden. Die Kraftwerksstandorte, die wir noch haben, werden sich ebenso wandeln wie früher schon die Zechen und Fördertürme. Damit einhergehen wird der Ausbau erneuerbarer Energien. Schon jetzt sind aus der Satellitenperspektive nicht nur Windräder zu sehen, sondern auch die glänzenden Solarzellen auf vielen Dächern. Das wird mit Sicherheit zunehmen. Experten dürften auf solchen Bildern auch erkennen können, wie unsere Industrie klimaneutral wird, wie Stahl mit Wasserstoff hergestellt wird. Außerdem wird sich eine Tendenz verstärken, die im Film schon für die früheren Jahrzehnte erkennbar ist: Grenzen verschwinden. Selbst am Boden wissen an vielen Stellen nur noch Einheimische, wo sie die eine Stadt verlassen und die andere erreichen. Auf Satellitenbildern ist die Metropole Ruhr längst als vernetztes Ganzes sichtbar, und dasselbe galt – um die Perspektive kurz zu wechseln – schon immer unter Tage. Dort war das Ruhrgebiet komplett vernetzt, man konnte an der Ruhr einfahren und an der Lippe oder der Emscher wieder ausfahren. Entscheidend wird sein, dass uns diese Vernetzung auch über Tage, beim Verkehr gelingt. Die große Chance der Metropole Ruhr besteht darin, dass hier fünf Millionen Menschen Spitzenangebote in allen Bereichen, von Gesundheit über Freizeit und Sport bis Kultur, gemeinsam nutzen können. Voraussetzung ist, dass wir mühelos zu den Angeboten und mühelos zurückkommen. Wenn das gelingt, wird von oben zu erkennen sein, was multimodale Mobilität bedeutet, also die Nutzung mehrerer Verkehrsmittel auf dem Weg von A nach B. Außerdem werden die Staus, die im Film seit dem vorigen Jahrhundert den Beginn und das Ende jedes Arbeitstages markieren, aus der Szenerie verschwinden. Die Coronakrise zeigt, wie digital Unternehmen und Verwaltung heute bereits sein können. Dass nicht mehr die Menschen zur Arbeit fahren, sondern die Arbeit – in Form von Daten – zu den Menschen, hilft uns in dieser Zeit sehr – wir machen einen unfreiwilligen digitalen Schub. Metropolregionen, die hohe Lebensqualität, kurze Wege, beste Bildung, Arbeit und Naherholung, schnelles Internet, industrielle Produktion und Natur, Wohlstand und Nachhaltigkeit miteinander verbinden, gehört die Zukunft, und die Metropole Ruhr wird eine davon sein. Deshalb spricht die Landesregierung von der Chancenregion – auf dieser Überzeugung fußt der gesamte Prozess der Ruhr-Konferenz. Denn die Metropole Ruhr bietet mit ihren Unternehmen und Universitäten, ihren Kulturangeboten und Landschaftsparks schon viele Elemente der nachhaltigen Metropolregion. Um zu einer der erfolgreichen und lebenswerten Städteregionen der Zukunft zu werden, braucht es trotzdem noch starke Impulse. Eine derartige Entwicklung kann nicht verordnet werden. Nur, was zuerst in den Köpfen stattfindet, wird auch in der physischen Welt gelingen. Dabei steht das Ruhrgebiet vor einer besonderen Aufgabe. Es muss die Energiewende gleich doppelt schaffen: Da ist zum einen die Wende weg von fossilen Brennstoffen hin zu erneuerbaren Energiequellen. Das gilt weltweit, und hier sind die entscheidenden Schritte zumindest in Deutschland, einschließlich des Ruhrgebiet, schon getan oder stehen in den nächsten Jahren und Jahrzehnten bevor. Es gibt aber auch noch die andere Hälfte dieser
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doppelten Energiewende, und die ist mindestens so anspruchsvoll wie die erste: Seit dem 21. Dezember 2018 wird im Ruhrgebiet keine Kohle mehr gefördert. Dieser Ausstieg aus einem Wirtschaftszweig, der einmal 600.000 Bergleuten und deren Familien Lohn und Brot geboten hat, wurde zwölf Jahre lang vorbereitet, begleitet und ohne soziale Verwerfungen geschafft. Das ist eine große politische und gesellschaftliche Leistung, um die andere uns beneiden. Die Steinkohle war aber nicht nur im wörtlichen Sinn der Brennstoff, der zwei Jahrhunderte lang die Energie für Wachstum und Fortschritt für ganz Deutschland geliefert hat. Sie hat auch im übertragenen Sinn die Stahlbranche und die Energiewirtschaft, die Industrie und die Forschung, die Stadtentwicklung, den Sport und die Kultur befeuert. Die Kohle verlieh dem Ruhrgebiet Anziehungskraft. Der Steinkohlebergbau war identitätsstiftend. Die Gründer und die Industrie zog es zur Kohle. Aus Erfindungen wurden zuerst kleine Betriebe – heute würden wir unsere Gründerväter „Start-ups“ nennen – und später Weltkonzerne. Das industrielle Zentrum Deutschlands entwickelte sich wie eine Sandbank: Je mehr da war, desto mehr kam hinzu. Menschen zog es zu Kohle und Stahl, sie fanden dort Arbeit. Wir fragen uns: Was kann dieser neue, nachhaltige „Treibstoff“ sein, der ähnliche Effekte auslöst wie Kohle und Stahl? Es ist die Kombination aus Erfindergeist, Fertigungskompetenz und mächtigem Markt. Diese drei Komponenten machen das Ruhrgebiet von heute aus, und sie kommen nur in Metropolregionen wie dem Ruhrgebiet zusammen. Zuvorderst die Fähigkeit, mithilfe der vorhandenen Universitäten und Forschungsinstitute Lösungen zu entwickeln. Dann die Kapazität, aus diesen Lösungen Produkte zu machen und herzustellen. Und drittens mehr als fünf Millionen Menschen, die Lösungen suchen und einen mächtigen Markt bilden. Die Basis für die Wissensregion wurde mit den Universitätsgründungen geschaffen. Aufgrund Kaiser Wilhelms Politik gab es bis tief ins 20. Jahrhundert im Ruhrgebiet mit seinen fünf Millionen Menschen keine einzige Universität. In der „Heimat der Proleten“ dürfe es weder Kasernen noch Universitäten geben, soll der preußische Herrscher einmal gesagt haben. Diesen Geist galt es zu überwinden, und das hat 1961 der damalige Ministerpräsident Meyers getan, als er beschloss: Wir bringen Universitäten ins Ruhrgebiet und gründen die Ruhr-Universität. Heinz Kühn hat diese Idee fortgesetzt. Der Gründungsrektor dieser Uni in Bochum hieß Kurt Biedenkopf und der erste AStA-Vorsitzende Christoph Zöpel – bedeutende Persönlichkeiten, die die Region mitgeprägt haben. Heute kann die Metropole Ruhr mit Blick auf Innovationen von sich sagen: Wir können es erfinden, wir können es bauen, wir können es hier einsetzen. Das gilt für Hardware, wie Maschinen oder Gebäude, es gilt aber auch für Dienstleistungen im Gesundheitswesen, für Kulturangebote, für Freizeit und Sport. Wo viele Millionen Menschen solche Angebote gemeinsam nachfragen, da können sie auf allerhöchstem und zeitgemäßem Niveau angeboten werden. Ebenso wichtig ist der große Erfolg der Internationalen Bauausstellung Emscher Park, also der Impuls, den Christoph Zöpel, dem dieses Buch gewidmet ist, während seiner Amtszeit als nordrhein-westfälischer Minister für Stadtentwicklung, Wohnen und Verkehr, und sein Mitstreiter Karl Ganser der Region gegeben haben. Auch dies war eine Gemeinschaftsleistung, die bis heute in der gesamten Region wirkt. Dieses Dekadenprojekt 533
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begann 1989, und seine Dimension wird deutlich, wenn wir uns vor Augen führen, dass eines seiner wichtigsten Elemente, nämlich der Emscher-Umbau, mehr als drei Jahrzehnte in Anspruch nimmt. Es ist ein einzigartiger, international beachteter Erfolg. Seine Wirkung ist bereits jetzt erlebbar. Denn der Emscher-Umbau leistet einen wesentlichen Beitrag zur künftigen erfolgreichen Entwicklung der Metropolregion Ruhr, er trägt zu Lebensqualität, Naherholung, Artenvielfalt, Naturerlebnis und zur Widerstandsfähigkeit gegen den Klimawandel bei. Die IBA hat vorgemacht, dass Nachhaltigkeit Gestaltungsprinzip sein kann. Ein Baustein der IBA sind auch die Industriedenkmäler. Heute muss man niemandem mehr erklären, wie wichtig es war, sie zu erhalten. Sie sind Weltkulturerbe, Standorte, an denen Neues entsteht und weiter entstehen muss. Mindestens so wichtig wie das, was wir heute der IBA an Landschaft und Industriekultur verdanken, ist aber der Gedanke dahinter, die Haltung von Christoph Zöpel und Karl Ganser – nämlich das Potenzial zu erkennen, das im Ruhrgebiet steckt, es herauszustellen und zu nutzen. In dieser Tradition sieht sich auch die jetzige Landesregierung. Es geht nicht darum, die Augen vor Problemen zu verschließen oder Dinge schönzureden. Es geht darum, sich zu befreien von der bloßen Defizitbetrachtung, dem Schlechtreden Positives entgegenzuhalten, den Blick zu öffnen für die Möglichkeiten zur Gestaltung. Die Chancen der Metropole Ruhr erkennen und betonen ist das eine, sie nutzen das andere. Gerade weil die polyzentrische Metropole nicht um einen stark verdichteten Kern herum gewachsen ist, hat sie zentralistischen Metropolen einiges voraus. Die Bevölkerungsdichte ist fünfmal so hoch wie in Deutschland insgesamt, aber die Menschen leben in 53 Städten und Gemeinden. Grünflächen, Naherholung, Sportvereine, Kulturangebot, Hochschulen – all dies ist über die ganze Region verteilt. Wenn eine solche Metropolregion ihre Vorteile ausspielt, dann bietet sie die größtmögliche Lebensqualität. Auch bei der Frage, wie das gelingen soll, müssen wir das Rad nicht neu erfinden, sondern können uns an den Erfolgen von Universitätsgründungen, Ruhrtriennale, IBA und Ruhr.2010 orientieren: • ganzheitlich denken, • die Region im Blick haben und • die Kraft der Zusammenarbeit nutzen. Ganzheitlich bedeutet, dass auch die neue Ruhr-Konferenz, wie schon 1988, nicht auf das Thema Wirtschaft und Infrastruktur beschränkt ist. Wer Investitionen anziehen will, wer Gründer zum Kommen und die klügsten Köpfe zum Bleiben bewegen will, wer die negativen Klischees abschütteln sowie durch Respekt und Selbstvertrauen ersetzen will, der muss in allen Lebensbereichen Impulse setzen. Deshalb hat die Landesregierung fünf Handlungsfelder entwickelt, in denen die Projekte in den nächsten Jahren wirken sollen. • Das erste lautet „Vernetzte Mobilität – kurze Wege“: Wenn mehr als fünf Millionen Menschen die Arbeitsplätze in ihrer Metropolregion, die Kultur- und Sportangebote,
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die Kliniken und Parks gemeinsam nutzen sollen, dann müssen sie mit möglichst wenig Aufwand von A nach B und nach A zurückkommen. Im zweiten Handlungsfeld „Erfolgreiche Wirtschaft – gute Arbeit“ geht es unter anderem darum, dass Unternehmen – kleine wie große – Flächen und eine funktionierende Infrastruktur brauchen, aber auch Fachkräfte, die sich in sicheren Arbeitsverhältnissen wandelnden Anforderungen anpassen und ihre Qualifikationen erweitern können. „Gelebte Vielfalt – starker Zusammenhalt“ ist das dritte Handlungsfeld, das auf der DNA des Ruhrgebiets aufbaut: Zuwanderung, aus anderen Ländern und Kulturen, war immer schon einer der Erfolgsfaktoren. Unter Tage spielten die Unterschiede keine Rolle, sondern wir mussten uns aufeinander verlassen können. Vielfalt bezieht sich hier aber nicht nur auf die Gesellschaft, sondern auch auf Kultur und Sport, Bildung und Wirtschaft – und auf die Städte und Gemeinden mit ihrer jeweils eigenen Identität und Geschichte. Darauf sind wir stolz. Dieses Handlungsfeld bezieht alle Aspekte der Lebensqualität ein, auch Wohnen und Gesundheit. „Sichere Energie – gesunde Umwelt“ ist ebenfalls ein Handlungsfeld mit zwei Komponenten, die eng zusammenhängen. Der Umstellung auf eine klimaneutrale Industrie und CO2-freies Wohnen hilft, den Klimawandel zu begrenzen. Projekte für eine grüne Infrastruktur und die Stärkung der Klimaresilienz sind nicht nur nötig, um mit den Veränderungen, die trotzdem kommen, fertig zu werden, sondern dienen auch der Lebensqualität. Der Erfolg einer Metropolregion hängt wesentlich auch davon ab, dass sie Bildungsgerechtigkeit und Spitzenleistungen in der Wissenschaft sicherstellt. Alles, was dazu beiträgt, gehört zum fünften Handlungsfeld, „Beste Bildung – exzellente Forschung“.
Diese fünf Handlungsfelder bilden die Struktur, an der sich alle Akteure in den nächsten Jahren orientieren können, nicht nur die Landesregierung, sondern auch die Akteure in der Region, die Kommunen und Verbände, die Industrie- und Handelskammern sowie die Handwerkskammern oder andere Partner der Zivilgesellschaft. Es ist offensichtlich, dass Erfolge in einem Handlungsfeld auch positive Auswirkungen auf andere haben sollen. Ohne gute Ausbildung gibt es keine Fachkräfte, ohne Mobilität keine Vernetzung, ohne erfolgreiche Wirtschaft keinen Wohlstand. Zu diesem ganzheitlichen Denken bei den Handlungsfeldern muss aber ein ganzheitliches geografisches Denken kommen. Es gibt viele wertvolle Projekte, die lokal, genau dort, wo sie umgesetzt werden, ein bestimmtes Ziel erreichen sollen, und die muss es auch weiterhin geben. Darüber hinaus ist es jedoch wichtig, auch Dinge zu tun, die in die Region hineinwirken. Im Idealfall gelingt beides zugleich. Die Entwicklung eines klimaneutralen Quartiers schafft hochwertigen und nachhaltigen Wohnraum vor Ort und hilft der Klimabilanz der Metropolregion. Die Gestaltung einer neuen Grünfläche hebt die Lebensqualität für die Nachbarschaft und trägt so zur Klimaresilienz des Ruhrgebiets bei. Der wichtigste Schlüssel zum Erfolg ist aber die Zusammenarbeit über Grenzen hinweg, zwischen Kommunen, Hochschulen, Verbänden, Kulturinstitutionen, Stiftungen, Unter535
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nehmen, Gewerkschaften – und über Parteigrenzen hinaus. Die kommunale Vielfalt kann ein großes Plus für die Lebensqualität sein. Zusammenarbeit ist möglich, ohne die Vielfalt und die Identität vor Ort aufzugeben. Zur Zusammenarbeit gehört die Vernetzung, und zwar nicht nur auf Ebene der Institutionen, sondern auch bei den Bürgerinnen und Bürgern. Voraussetzung dafür ist Partizipation, also Mitreden und Mitmachen. Einige wenige hochkarätige Expertinnen und Experten können Projekte am Grünen Tisch entwickeln, aber dann würden drei wichtige Erfolgsfaktoren fehlen: Kreative Ideen, auf die man am Grünen Tisch nicht so schnell kommt. Zweitens der Wandel in den Köpfen, weg von der Wahrnehmung des Niedergangs, hin zum Blick auf die Chancen – in der Organisationsentwicklung würde man das als Change-Prozess bezeichnen. Und drittens die schon beschriebene Vernetzung der Akteure und deren ganzheitliche Blick auf die Metropolregion. Dabei ist der Wandel in den Köpfen etwas, das nicht nur im Ruhrgebiet selbst passieren muss. Auch der Blick von außen auf diese Region muss wieder die Chancen einbeziehen. Das Ruhrgebiet ist eine Chancenregion für ganz Nordrhein-Westfalen. Ein starkes Ruhrgebiet wird unser Land stärker machen. Weil das Ruhrgebiet selbstverständlich auch Teil des Konzepts für die Bewerbung um Olympia 2032 ist, zusammen mit dem Rheinland, wird es schon dort sichtbar. Sport war im Ruhrgebiet immer schon ein zentrales Element von Vielfalt und Zusammenhalt. Deshalb könnte Olympia so viele vorhandene Sportstätten nutzen, deshalb gäbe es ein begeisterungsfähiges und gastfreundliches Publikum. Was die Metropole Ruhr zu bieten hat, wird sich auch zeigen, wenn die Europäische Kommission Partner für ihren Green Deal braucht. Projektpakete zur Energie, Klimaresilienz und Grüne Infrastruktur passen hier hervorragend. Wenn wir über die Zukunft der Metropolregion Ruhr nachdenken, blicken wir selbstverständlich auch über Nordrhein-Westfalen hinaus. Das Ruhrgebiet ist ja bei weitem nicht die einzige Region, die sich neu erfinden muss, glücklicherweise auch nicht die einzige mit dem Potenzial, Millionen von Menschen eine hohe Lebensqualität bei nachhaltigem Wirtschaften bieten zu können. Die Metropole Ruhr sollte sich mit anderen interessanten Regionen austauschen. Die Ausgangsvoraussetzungen in anderen Ländern sind sehr unterschiedlich, aber es lohnt sich, die Ziele gemeinsam zu schärfen und sich gegenseitig über die eingeschlagenen Wege zu informieren. Voneinander lernen, bedeutet, gut miteinander leben lernen. Das Ruhrgebiet hat große Chancen, es hat aber auch eine große Verantwortung. Beides hängt zusammen: Nur wenn wir unsere Chancen nutzen, können wir unserer Verantwortung gerecht werden. Das Ruhrgebiet muss sich zu einer innovativen und wirtschaftlich erfolgreichen Metropolregion entwickeln und dabei seinen Bürgerinnen und Bürgern höchste Lebensqualität bieten und gleichzeitig einen Beitrag zum nachhaltigen Wandel der Gesellschaft leisten. Das Ruhrgebiet kann Modell für einen Fortschritt werden, der nicht auf Konkurrenz beruht, sondern auf Teilhabe. Ob wir es wollen oder nicht, ob wir es im Ruhrgebiet tun oder lassen: beides wird Auswirkungen weit über die Region hinaus haben. Wie geht der Satellitenfilm also weiter? Eines ist sicher: Der Wandel wird die Konstante bleiben. Und wenn wir jetzt die richtigen Impulse geben, wird es ein Wandel zum Besseren sein.
Ruhr – Mut und Fantasie Frank Baranowski
Jede Region hat ihre eigene Geschichte und eigenen Geschichten, Erinnerungen, Sentimentalitäten. Auch das Ruhrgebiet macht da keine Ausnahme, so jung seine regionale Identität auch sein mag, so handfest sich die Menschen an Ruhr und Emscher auch geben mögen. Vermutlich muss man es sogar so sagen: Gerade das Ruhrgebiet pflegt seine Sentimentalitäten mit besonderer Leidenschaft. Nicht erst seit Prosper Haniel als letzte Zeche der Region geschlossen wurde – seitdem aber noch einmal etwas intensiver. Lange ist es her, dass ich das „Steigerlied“ so oft gehört und mitgesungen habe wie seit jenem Tag im Dezember 2018, ab dem niemand mehr von sich behaupten kann, ein aktiver Bergmann zu sein. Der Bergbau und dessen Kultur bilden ganz sicher den Stamm dessen, was man als Ruhrgebietsidentität verstehen und auch als Ruhrgebietsnostalgie bezeichnen kann. Auf den zweiten Blick zeigt sich allerdings auch, dass aus diesem Stamm neue Zweige gewachsen sind, die teilweise durchaus ganz unerwartete Blüten tragen. Ein Beispiel dafür liefert der städtebauliche Aufbruch der 1980er- und 1990er-Jahre, der auch als Antwort auf den rasanten Abschied von der Montanindustrie in jenen Jahren einsetzte und der schließlich im nördlichen Ruhrgebiet in die Internationale Bauausstellung Emscher Park mündete. Man muss sich nur einmal unter Stadtpolitikern der Region umhören, in den technischen Rathäusern, bei den Fachleuten der Städteplanung, mit welch respektvollem Ton über die IBA Emscher Park gesprochen wird. Ja, die IBA! Der Konsens ist eindeutig und unmissverständlich: Das war ein enormes Ereignis! Eines, auf das man heute mit Stolz, aber auch einer großen Portion Wehmut schaut. Wenn Sie nun dieses Buch in den Händen halten, eine Festschrift zu Ehren Christoph Zöpels, des Mannes, der die IBA Emscher Park ermöglicht hat, auf sämtlichen Ebenen, gedanklich, politisch, organisatorisch – dann kennen Sie das Phänomen sicherlich. Und dann teilen Sie vermutlich meine Einschätzung: Auch dieser Band ist ein Produkt jener IBA-Nostalgie, zu der er gleichzeitig noch einmal ein Stück beitragen wird. Mit großer Berechtigung übrigens, denn Christoph Zöpel hat diese Würdigung ganz sicher verdient, und mit ihm seine Mitstreiter. Dennoch bleibt die Frage, warum eine Veranstaltung mit diesem eher technischen Titel, warum noch über 30 Jahre nach ihrem Beginn und auch noch nach mehr als 20 Jahre nach ihrem Ende eine Internationale Bauausstellung solche Emotionen hervorrufen kann. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_36
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Woher rührt diese Wehmut? Dies ist vor allem deshalb eine interessante Frage, weil die Antwort vermutlich nicht nur etwas über unsere Vergangenheit verrät, sondern auch über unsere Gegenwart – und womöglich über unsere Zukunft. Was also sind die Gründe für die so weit verbreitete IBA-Nostalgie? Ein Teil der Antwort kann in dem Band nachgelesen werden, den Sie jetzt in den Händen halten: Die IBA Emscher Park war schlichtweg ein großer regionalpolitischer Wurf. Sie wurde zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort durchgeführt. Sie setzte die richtigen Akzente, zielte in dem Moment mutig auf die Zukunft unserer Region, als eine Zeitenwende anstand, als das Alte verschwand und das Neue gesucht wurde. Sie war ambitioniert und erfüllte nicht nur die Erwartungen, sondern übertraf sie. Sie wirkte und wirkt nach – bis zum heutigen Tag. Ja, die IBA Emscher Park wirkt nach, sie hat aus Industrieruinen und Industriebrachen wunderbare Industriedenkmäler und Parklandschaften geschaffen. Wir verdanken ihr viele attraktive Gebäude, den Gelsenkirchener Wissenschaftspark, den stadt.bau.raum Oberschuir, um nur zwei Orte aus meiner Heimatstadt zu nennen, stellvertretend für so viele, denn in den Nachbarstädten sieht es ja nicht anders aus. Allein dieser Wandel einzelner Gebäude und Orte hat im Bewusstsein der Menschen viel bewirkt, hat einen mentalen Wandel mit in die Wege geleitet. Die IBA wirkte und wirkt auch nach in Form von Förderprogrammen, die dank der IBA-Erfahrungen konzipiert und fortentwickelt wurden, die Soziale Stadt, der Stadtumbau West; Förderprogramme, von denen das nördliche Ruhrgebiet profitierte. Allein in meiner Heimatstadt Gelsenkirchen leben heute deutlich mehr als 100.000 Menschen in aktuellen oder früheren Stadterneuerungsgebieten. Es gab zudem das Kulturhauptstadtjahr als zweites regionales Großereignis, das ohne die IBA vermutlich so nicht zustande gekommen wäre. Und auch die grundsätzliche städtebauliche Neuorientierung, die der IBA vorausging und von ihr bekräftigt wurde – der Verzicht auf weiteren Flächenfraß, der sensible Umgang mit Baudenkmäler und der Industriekultur, die Strategie der behutsamen Erneuerung der gebauten Stadt, die Vernetzung und der Ausbau von Grünflächen, die Stärkung der regionalen Identität und der Lebensqualität insgesamt – hat sich bewährt. All diese Trends wurden seitdem nicht umgekehrt, sondern fortgeführt. Daher muss man festhalten: Die Strahlkraft der IBA ist nicht mit dem Jahr 1999 an ein Ende gekommen, viele Erkenntnisse der Jahre 1989 bis 1999 wurden handlungsleitend – bis heute. Und zugleich kommt man doch um eine Einsicht nicht umhin: Die IBA-Nostalgie ist nicht allein mit ihren Verdiensten zu begründen. Es gibt da noch einen weiteren Faktor: das leider etwas schmerzliche Gefühl, dass sie als Ereignis ohne einen echten Nachfolger blieb. Dass seitdem kein vergleichbarer regionaler Aufbruch mehr im nördlichen Ruhrgebiet folgte, keine ähnlich konzertierten Anstrengungen. Dieses Gefühl dürfte mit zum Kern der IBA-Nostalgie gehören. Und das wirft natürlich die Frage auf, ob das so sein muss. Müssen wir dauerhaft jenen Tagen hinterhertrauern? Ist ein ähnliches Ereignis mit starker Signalwirkung im Ruhrgebiet und entlang der Emscher tatsächlich nicht noch einmal möglich? Die spontane und sicher richtige Antwort muss natürlich lauten: Ein derartiges Dekadenprojekt lässt sich nicht wiederholen. Für manche Dinge braucht es einfach glückliche Konstellationen; es braucht einen gewissen Moment,
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ein gewisses Momentum. Auch Bilbao hat nur einmal ein Guggenheim-Museum eröffnet. Und dass die Welt so bald noch einmal ein Sommermärchen in Deutschland feiert, erscheint wenig realistisch. Dennoch darf man sich fragen, ob sich nicht doch noch mehr hinüberretten lässt von jener IBA als das, was ohnehin auf der Habenseite steht, als die vielen guten Praxisbeispiele und Ideen. Und zu fragen ist auch, was das bisher im nördlichen Ruhrgebiet verhindert hat – und wie diese Blockaden vielleicht gelöst werden könnten. Der wohl wichtigste Grund, der einer ähnlich konzertierten Aktion für das nördliche Ruhrgebiet im Weg stand und steht, dürfte die Sparpolitik der vergangenen Jahre und Jahrzehnte sein. Die IBA Emscher Park begann im Jahr des Mauerfalls und somit gerade noch rechtzeitig: Danach galt die mediale und politische Aufmerksamkeit dem Osten, und auch die Fördermittel flossen vornehmlich dorthin. Nach der Einheit und dem Ende des Einheitsbooms verschärfte sich die Notlage der öffentlichen Kassen, was die Städte im Ruhrgebiet besonders hart traf. Inzwischen, nach Jahrzehnten der erzwungenen Sparpolitik, fällt es den Städte der Region ausgesprochen schwer, große Projekte umzusetzen. Sie können durchaus noch Akzente setzen, aber große, regionalpolitische Handlungsspielräume bieten sich ihnen nicht – so gewaltig die Bedarfe auch sein mögen. Nicht wenige Städte ziehen es vor, am eigenen Profil zu arbeiten. Das ist leichter. Der Region hilft es nur bedingt. Die Sparpolitik hatte darüber hinaus auch ihre Auswirkungen auf das, was die Bürgerinnen und Bürger heute von der Politik erwarten – oder glauben, erwarten zu können. Dass die Ungleichgewichte in unserem Land zunehmen, dass die Mieten und Eigentumspreise in manche Regionen in enorme Höhen schnellen, während andere Regionen mit hohen Sozialkosten zurechtkommen müssen – das ist eine Entwicklung, die sehr vielen Menschen Sorgen bereitet. Bislang hat das nicht dazu geführt, dass eine breite Bürgerbewegung für benachteiligte Regionen im Umbruch entsteht, die sich im öffentlichen Diskurs wirklich bemerkbar macht. Möglicherweise – und das ist kein schöner Befund – weil zu viele Menschen gar nicht mehr damit rechnen, dass solche Entwicklungen zu steuern oder zu korrigieren seien. Die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen entfaltet dementsprechend keinen übermäßigen Ehrgeiz, um die Lage im nördlichen Ruhrgebiet zu ihrer Aufgabe zu machen. Derzeit, im Frühjahr 2020, läuft noch die sogenannte „Ruhr-Konferenz“; ein Prozess, bei dem die Landesregierung zu einer Fülle von Veranstaltungen einlädt, um dort sämtliche marktgängigen Moderationstechniken vorzuführen, die scheinbar nur ein Ziel haben: Ihr Interesse am Ruhrgebiet zu zeigen, ohne sich dabei auf verbindliche Handlungen und Resultate festlegen zu müssen. Die echten und oftmals mit den Händen zu greifenden Probleme spielen dabei – das ist mein Eindruck bislang – nur eine untergeordnete Rolle. Nehmen wir nur einmal das Stichwort „Mobilität“: Wann wäre der Moment günstiger für eine große gemeinsame Anstrengung für einen wirklich leistungsfähigen ÖPNV im Ruhrgebiet, für einen ÖPNV, der tatsächlich Metropolenqualität hat, wenn nicht jetzt, da das Bewusstsein des Klimawandels so weit fortgeschritten ist, da die Bürgerinnen und Bürger selbst Schritt für Schritt die Verkehrswende vorantreiben? Natürlich wird bei der 539
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„Ruhr-Konferenz“ über dieses Thema gesprochen – aber nicht so, dass man das Gefühl erhält: Ja, hier meint es jemand wirklich ernst, hier kann wirklich etwas Neues, Wegweisendes entstehen! Und so kann man weiter fragen: Wann könnte und müsste es einen entschlossenen struktur- und wirtschaftspolitischen Aufbruch geben rund um die Verbundindustrie, wenn nicht jetzt, nach dem doppelten Ende von Steinkohleförderung und Kohleverstromung? Das Gleiche kann man auch von den großen Themen Bildung und Forschung sagen. Wenn eine so bevölkerungsreiche Region wie das nördliche Ruhrgebiet dauerhaft Probleme hat, seine Talente zu halten, wenn sie ihre junge Menschen für andere Regionen ausbildet, dann sind doch eigentlich besondere bildungspolitische Maßnahmen angezeigt. Meine Forderung nach einer Emscher-Universität als Pendant zur Ruhr-Universität hat zwar viel Zustimmung in der Region hervorgerufen, aber aus Düsseldorf erhielt sie keinerlei ernsthafte Antwort. Auch hier denkt man mit Staunen zurück an eine Vergangenheit, in der Aufbrüche möglich waren, Aufbrüche wie die IBA Emscher Park oder eben eine Universitäts-Neugründung. Wobei das nicht eine Frage des Zeitgeistes ist, Bayern macht es uns mit der Gründung einer neuen Universität in Nürnberg gerade vor. Man braucht eben Mut – und regionalpolitisches Denken. Unserer Gegenwart und der jüngeren Vergangenheit, diese Kritik müssen wir äußern und auch ertragen, scheint es tatsächlich an politischer wie fachlicher Fantasie zu fehlen. Ja, es fehlte zuletzt an Mut, langfristige Strategien umzusetzen, Visionen zu verfolgen. Vielleicht fehlte auch eine Person wie Christoph Zöpel, die es verstand, den politischen Betrieb für die richtigen Ideen zu öffnen, um ihnen dann die nötige politische Form zu geben. Doch auch in dieser Lage gibt es eine gute Nachricht: Es gibt durchaus Möglichkeiten, diesen Mangel zu beheben und das Gesamtbild zu korrigieren – wenn man denn den Mut dazu aufbringt. Denn es eröffnen sich immer wieder neue Gelegenheiten. Zum Beispiel steht da die IGA 2027 an, die Internationale Gartenausstellung, von der manche schon sagen, sie könne durchaus eine „kleine IBA“ werden, zumal sie sich durch den Emscher Park zieht. Mit ernsthafter Unterstützung des Landes – die vorausgesetzt – wäre hier einiges zu bewegen. Auch die Olympiabewerbung 2032 birgt das Potenzial für ein deutliches Aufbruchsignal. Und dabei ist nicht immer entscheidend, wie der große Rahmen ausschaut. Entscheidend ist, dass gute Ideen umgesetzt werden, mit Mut und Entschlossenheit. Es liegt an uns, was wir aus diesen und anderen Projekten machen – und ob wir uns von den Erfahrungen der Internationalen Bauausstellung Emscher Park ermutigen lassen. In dem Augenblick, in dem dieser Beitrag entsteht, im März 2020, drängt sich noch ein weiterer Gedanke auf, der ebenfalls eine Verbindung unserer Gegenwart zur IBA-Zeit schlägt – und diese Ergänzung muss ich an dieser Stelle noch vornehmen: Ähnlich wie in den Jahren nach 1980 beim Übergang vom montan- zum postindustriellen Zeitalter stehen wir nun wieder an einer entscheidenden Schwelle. Die durch das Coronavirus ausgelösten Irritationen sind gegenwärtig zwar schon eindrücklich, aber dennoch noch frisch und in ihrem Umfang noch überhaupt nicht zu fassen. Klar erscheint jedoch, dass dies ein Moment mindestens wie der Beginn der Finanzkrise oder der Herbst 2015 mit
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der sogenannten Flüchtlingskrise ist. Wir stehen an einem echten Wendepunkt. Bedingt durch den Coronavirus und die zu seiner Eindämmung getroffenen Maßnahmen werden sich massive Veränderungen ergeben – Veränderungen in unserem Zusammenleben, in der internationalen Arbeitsteilung, in den Gesundheitssystemen, in der Bewertung von Fragen von Gerechtigkeit, der Erwartungen an Staatlichkeit und gesellschaftlicher Solidarität. Niemand kann in diesem Moment sagen, wie sich diese Unsicherheit auflösen wird. In einer Phase, in der wir mit akutem Krisenmanagement befasst sind, lassen sich nur vorläufige Gedanken formulieren. Aber sicher ist schon jetzt: Es wird viel Arbeit auf uns zukommen, die entstandenen Schäden und Risse in Wirtschaft und Gesellschaft zu reparieren. Wir werden dafür erhebliche Anstrengungen unternehmen müssen. Wir werden dafür viel Geld aufbringen müssen und auch gewohnte Pfade verlassen. Wir werden anders handeln müssen, als wir es über Jahre hinweg getan haben. Wir werden mehr, viel mehr gesellschaftspolitische Fantasie zulassen müssen als zuletzt. Die von Corona ausgelöste Krise wird einen Modernisierungsschub in Gang setzen – das ist sicher. Viele Menschen überdenken zudem ihre Werte. Das hat keine spezifisch regionalpolitische Komponente. Aber ich bin der festen Überzeugung: Wenn wir ernsthaft über Fragen von Solidarität und gutem Miteinander nachdenken und sprechen, dann dürfen wir auch die Frage der Gleichwertigkeit von Lebensbedingungen nicht ausklammern. Es ist nicht gesagt, in welche Richtung sich die Dinge entwickeln werden, welche Stimmung herrschen wird, wenn wir die Krise überstanden haben. Regionalpolitik und Städtebau werden dann vermutlich nicht ganz oben auf der Agenda stehen. Aber sicher ist doch: Es werden Zeiten kommen, in denen wieder mehr Mut, mehr politischer Gestaltungswille und auch mehr politische Vorstellungskraft gefragt sein werden. Und dann können wir uns durchaus inspirieren lassen von dem, was Christoph Zöpel gemeinsam mit vielen Mitstreiterinnen und Mitstreitern geleistet hat.
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Die Zukunft des Ruhrgebietes Auf dem Weg zur ökologischen Wissensregion Jörg Bogumil
In den letzten Jahren gab es einige Einschätzungen zur Situation und Zukunft des Ruhrgebietes (Bogumil et al. 2012; Bogumil & Heinze 2019; BMR 2020; Kempermann et al. 2020; Roters et al. 2019). Die Einschätzungen schwanken dabei zwischen Skepsis, Hoffnung und Zuversicht. Christoph Zöpel gehört seit Jahrzehnten eher zu den Personen mit Hoffnung und Zuversicht bezogen auf das Ruhrgebiet. Auch der Autor dieses Artikels nähert sich diesem Zustand zunehmend an. Im Folgenden soll in groben Zügen die Entwicklung des Ruhrgebietes betrachtet, der jetzigen Zustand bewertet und ein Ausblick auf die Zukunft gegeben werden.
Der Strukturwandel im Ruhrgebiet Mit dem Ende des deutschen Steinkohlenbergbaus im September 2018 endete im Ruhrgebiet eine Ära von 150 Jahren Industriegeschichte. Das Ruhrgebiet war durch einen Wachstumskern rund um Kohle und Stahl nachhaltig geprägt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die alten Montanstrukturen aufgrund der herausragenden Bedeutung der Grundstoffindustrie für den Wiederaufbau Europas und des Kohlemangels erneuert und das Ruhrgebiet wurde zum schwerindustriellen Zentrum Deutschlands. Zunächst erzielten die Montanunternehmen Wachstumsraten, die deutlich über dem bundesrepublikanischen Durchschnitt lagen, was sich wiederum positiv auf die Lohnentwicklung in der Region auswirkte. Ein hohes Lohnniveau verfestigte aber die sektoralen Strukturen, Nicht-Montanbranchen siedelten sich in anderen westdeutschen Regionen an. In den 1960er-Jahren endete jedoch die Wachstumsphase des Montansektors, schon ab den 1950er-Jahren gab es Zechenstilllegungen, zudem ging die wirtschafts- und beschäftigungspolitische Bedeutung von Kohle und Stahl seitdem massiv zurück. Allerdings erschwerten die Dominanz der altindustriellen Montanstrukturen und deren Beharrungskräfte den Strukturwandel. Sie ermöglichte aber auch einen weitgehend sozialverträglichen Beschäftigungsabbau, der wohl in keiner anderen europäische Region mit einem derartig tiefgreifenden Beschäftigungsrückgang zu beobachten ist. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_37
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Beschäftigungsaufbau wurde seit den 1960er-Jahren zunächst vor allem im Bildungs- und Wissenschaftsbereich sowie in der Automobilindustrie (vor allem Opel) realisiert. Im seit den 1990er-Jahren forcierten Strukturwandel waren dann zunehmend auch Bereiche der mittelständischen Produktionswirtschaft verstärkt ins Auge gefasst worden. Heute gibt es neue wirtschaftliche Standbeine und „Leitmärkte“ in der Logistik, Chemie und Gesundheitswirtschaft, aber auch im Bereich der digitalen Kommunikation, Ressourceneffizienz, Informations-, Nano- und Werkstofftechnologien (Bogumil et al 2012; BMR 2020). Der wirtschaftliche Aufholprozess hat sich in den letzten Jahren fortgesetzt. Es gibt wirtschaftliche Kerne mit hoher Spezialisierung und internationaler Sichtbarkeit, wie z. B. in den Feldern Gesundheitswirtschaft (mit über 320.000 Beschäftigten), digitale Kommunikation, Logistik oder chemischer Industrie. Für den Arbeitsmarkt im Ruhrgebiet sind sowohl der Wissenssektor als auch die Gesundheitswirtschaft/sozialen Dienste bedeutsam geworden (Dahlbeck & Hilbert 2017). Im Ruhrgebiet sind mittlerweile viele Menschen im Dienstleistungssektor tätig (über 77 %). Die Dienstleistungslücke ist nicht nur geschlossen, Jobs entstehen mehrheitlich im tertiären Sektor bzw. in „gemischten“ Strukturen. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten hat sich weiter erhöht. Im Ruhrgebiet lag das Beschäftigungswachstum im Jahr 2019 mit 1,9 % sogar knapp über den Vergleichswerten von Land (1,8 %) und Bund (1,6 %). Fast 33.000 neue Beschäftigungsverhältnisse im Jahr 2019 sind beachtlich in einer Region, die jahrzehntelang aufgrund des Strukturwandels viele Beschäftigungsverluste erleiden musste. In der Region sind 2019 mit fast 1,8 Millionen so viele Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigt wie seit 1976 nicht mehr (BMR 2020). Das Ruhrgebiet ist damit ins Mittelfeld der deutschen Metropolen aufgerückt. Dennoch hinkt das Ruhrgebiet bei einigen zentralen Wirtschaftsindikatoren weiter hinterher. So liegt in einzelnen Städten, insbesondere im nördlichen Ruhrgebiet, die Erwerbslosigkeit noch immer deutlich über dem Landes- und Bundesdurchschnitt. Und nach wie vor gibt es erhebliche sozialräumliche Unterschiede zwischen den Stadtteilen im Ruhrgebiet, der häufig benannte Sozialäquator „A 40“, der das nördliche vom südlichen Ruhrgebiet teilt, besteht weiterhin. Es waren nicht die industriellen Sektoren, die in den letzten Jahrzehnten verantwortlich für die Schaffung vieler Arbeitsplätze im Ruhrgebiet waren, sondern verschiedene Branchen und Gestaltungsfelder haben den Strukturwandel geprägt. So ist die Gesundheitswirtschaft ein heimlicher ‚Gewinner‘ des Strukturwandels und steht für einen gesellschaftlichen Trend der Höherbewertung von Gesundheit und Lebensqualität. Gesundheit stößt individuell auf ein hohes und wachsendes Interesse von Menschen, erst recht in der alternden Gesellschaft. An der Debatte um Digitalisierung zeigt sich zudem, dass Gesundheitsthemen eines der bedeutsamsten Anwendungsfelder für High-Tech-Lösungen (von Big Data über die Nanotechnik bis hin zu den Biotechnologien) sind. Am Beispiel der Gesundheitswirtschaft kann auch die weitverbreitete These aus der Innovationsforschung belegt werden, dass es nicht mehr die relativ isolierten Schlüsselakteure sind, die kurzfristig neuen Wohlstand und Arbeitsplätze schaffen, sondern dass vielmehr die Verknüpfung von Akteuren in Kompetenznetzen immer zentraler wird. Gerade regionale Innovationsprozesse verlaufen dann erfolgreich, wenn die Steuerung von heterogenen Netzwerken in
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einem räumlichen und sozialen Kontext gelingt, was erhebliche organisatorische Lernprozesse von den Akteuren aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik verlangt. Man kann von einem ‚neuen‘ Strukturwandel sprechen, der sich durch eine wachsende Bedeutung von hybriden Wertschöpfungsnetzen auszeichnet und deshalb nicht mit den Instrumenten des ‚alten‘ Strukturwandels im Sinne rigide getrennter Handlungsfelder von Politik und Unternehmen zu bewältigen ist (Bogumil & Heinze 2019). Eine wichtige Rolle bei der Umgestaltung von Wirtschaftsregionen kommt vor allem den Hochschulen und Forschungseinrichtungen sowie explizit dem Wissenstransfer zu. Dies gilt insbesondere für postmontane Regionen wie dem Ruhrgebiet. Die Universitäten sind zwar spät entstanden, können nun aber als Potenziale in struktur-, energie- und städtepolitischen Strategien genutzt werden. Mit den fünf Universitäten, 17 Fach- und Kunsthochschulen sowie sonstigen Forschungs- und Beratungseinrichtungen ist das Ruhrgebiet auf dem Weg, von der Region mit dem ‚Puls aus Stahl‘ zur Wissensregion zu werden. Die Wissensinfrastruktur ist im Ruhrgebiet mit 280.000 Studierenden, rund 2.600 Professorinnen und Professoren sowie rund 600 Studiengängen inzwischen weitgehend vorhanden und es haben sich spezifische Kompetenzfelder herauskristallisiert. Besonders deutlich wird der Strukturwandel im Ruhrgebiet beim Vergleich der Bergbaubeschäftigten und der Studierendenzahl. Während im Ruhrgebiet 1960 noch 400.000 Bergbaubeschäftigte im Steinkohlebergbau arbeiteten, sind es Ende 2018 nur noch einige wenige, die sich vor allem um die Sicherung der Grubenwässer kümmern. Studierende gab es damals nicht. Die erste Universität, die Ruhr-Universität Bochum, wurde 1965 gegründet. Heute gibt es im Ruhrgebiet gut 280.000 Studenten. Das Ruhrgebiet hat inzwischen europaweit die dichteste Hochschullandschaft. Der Begriff Wissensregion impliziert aber mehr als Wissenschaftsregion, die zentral auf die Ausbildungs- und Forschungskapazitäten in Hochschulen und Forschungseinrichtungen zielt. Das Wachstumspotenzial der Wissenschaft soll durch eine aktivierende Standortpolitik und offensive Unternehmensstrategien ausgeschöpft werden. Ziel ist die Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen. Um aus Wissen wirtschaftlichen Nutzen zu ziehen, kommt es darauf an, relevante Wissensbestände zu identifizieren, sich diese anzueignen, miteinander in Netzwerken zu verknüpfen, dann zu Problemlösungen zusammenzuführen und sie für die Anwendung bereitzustellen und umzusetzen (Bogumil & Heinze 2019). Auch wenn die Impulse aus den Hochschulen und Forschungseinrichtungen für eine wissensbasierte Gestaltung der Region bislang noch nicht in Gänze ausgeschöpft werden konnten, verstärken sich überall die Bemühungen um mehr Transfer, der mittlerweile als „Third Mission“ auch der Universitäten angesehen wird (zu den Chancen und Problemlagen einer stärkeren Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und Hochschulen: Bogumil et al. 2019). Es gibt also Erfolge im Strukturwandel. Gerade in Zukunftsfeldern wie der Künstlichen Intelligenz, Industrie 4.0 oder IT-Sicherheit, aber auch bei Greentech forschen die Institute der Metropole Ruhr an vorderster Front, entstehen Gründungen und entwickeln etablierte Unternehmen innovative Produkte und Dienstleistungen (Kempermann et al. 2020, S. 6). 545
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Vergleich Bergbaubeschäftigte (Kohle) und Studierende im Ruhrgebiet
Die Gründungsintensität ist allerdings sowohl in den innovationsstarken Wirtschaftsbereichen als auch insgesamt im Ruhrgebiet immer noch gegenüber dem Landes- und Bundesdurchschnitt schwächer ausgeprägt. Trotz der politischen Bemühungen seit Mitte der 80er-Jahre, die wesentlich dazu beigetragen haben, dass sich die Gründungsbedingungen verbesserten, konnte das Ruhrgebiet diesen Rückstand bislang noch nicht kompensieren. Hinsichtlich der Quantität hält das Ruhrgebiet inzwischen eine hohe Dichte an Innovations-, Technologie- und Gründerzentren sowie entsprechenden Beratungsangebote vor. Gleichwohl ist die Ausgründungsquote aus Hochschulen noch zu gering und es deutet sich an, dass der Wissens- und Technologietransfer (etwa durch Unternehmensgründungen) aus den Hochschulen und Forschungseinrichtungen des Ruhrgebiets (noch) nicht auf breiter Basis gelingt. Wenn sich auch die ‚Hardware‘ für Gründungen im Ruhrgebiet positiv entwickelt hat, fehlt es bislang an einer ausgeprägten Gründungskultur und deshalb ist der eingeschlagene Weg, von erfolgreichen Start-up-Standorten zu lernen, eine sinnvolle Strategie.
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Auf dem Weg zur ökologisch umgestalteten Wissensregion? Mittlerweile hat sich die Debatte um den Strukturwandel an der Ruhr also gedreht. Auch unsere Analyse aus dem Jahr 2012 unter dem Titel: Viel erreicht – wenig gewonnen würden wir heute wohl etwas hoffnungsvoller formulieren (Bogumil et al. 2012). Prägten jahrzehntelang Schlagzeilen über die hohe Dauerarbeitslosigkeit, Armut und Verödung städtischer Räume den Diskurs, so gibt es mittlerweile auch viele positive Nachrichten. Der wirtschaftliche Aufholprozess wurde schon erwähnt, zudem werden nachhaltige Strategien zur ökologischen Umgestaltung und der integrierten Stadtentwicklung mehr und mehr zum Thema, die Hochschulen zum Treiber der Stadtentwicklung und die ohnehin vielfältige Kulturszene blüht weiter auf. Im Bereich der ökologischen Umgestaltung des Ruhrgebietes sind insbesondere die Internationalen Bauausstellung Emscher Park (IBA) und der Emscherumbau zu nennen. Letzterer zielt auf eine ökologische Umgestaltung der Emscher. Hier hat die Emschergenossenschaft in den letzten 20 Jahren ca. 4,5 Milliarden Euro verbaut – das größte Infrastrukturprojekt Europas. Es wurden vier dezentrale Kläranlagen gebaut, 429 km Abwasserkanäle neu verlegt und auf 326 km Gewässer renaturiert. Im Jahr 2021 wird dieses Projekt abgeschlossen sein und die frühere „Kloake“ Emscher ist abwasserfrei, ein gigantisches Projekt ökologischer Sanierung des nördlichen Ruhrgebietes. Weiterhin sind Projekte zur Energie- und Ressourceneffizienz (wie bspw. Innovation City) zu nennen. Vor diesem Hintergrund wird mitunter sehr optimistisch formuliert. Es gibt im Ruhrgebiet „attraktive kulturelle Angebote, kulturelle Offenheit, günstige Mieten, ein dichter ÖPNV, wenngleich auch oft überlastet, und die Nähe zu Flughäfen, aber auch eine kritische Masse an unternehmerischen Kooperationspartnern und Kunden sowie potenziellen Gründern, spezialisierte Fachkräftepools und leistungsfähige Forschung in Zukunftsfeldern. Im heutigen Standortwettbewerb sind das entscheidende Stärken.“ (Kempermann et al. 2020, S. 6)
Während die Verkehrsanbindungen, das kulturelle Umfeld und das allgemeine Preisniveau zweifelslos als gut angesehen werden können und auch die Verfügbarkeit von Fachkräften angesichts der Entwicklungen der letzten Jahren insgesamt durchaus zufriedenstellend ist, gibt es jedoch auch Standortfaktoren, die eher hinderlich sind. Zu nennen sind z. B. die Hebesätze für Grund- und Gewerbesteuer. Sie liegen nach Daten des AK Altschulden NRW um 23 % bzw. 47 % über dem Durchschnitt der westdeutschen Bundesländer. Trotz deutlich höherer Hebesätze gibt es aber deutlich geringere Steuereinnahmen (-20 %). Zudem gibt es in diesen durch den Strukturwandel belasteten Kommunen stark erhöhte Sozialkosten (+50 %), höhere Zinslasten (+92 %) und deutlich geringere öffentliche Investitionen (-56 %). Junkernheinrich und Micosatt nennen dies eine fiskalische Konstellation, die man gut als Fünffaches Dilemma beschreiben kann (Junkernheinrich & Micosatt 2019). Der Strukturwandel hat die Steuerbemessungsgrundlage geschwächt, zugleich aber die Sozialausgaben deutlich ansteigen lassen. Dadurch mussten die Ausgaben für andere 547
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wichtige Aufgaben zurückgefahren werden. Insbesondere das Investitionsniveau ist deshalb niedrig. Zur Konsolidierung mussten u. a. die standortrelevanten Gewerbe- und Grundsteuerhebesätze überproportional angehoben werden. Dennoch reichten die Maßnahmen zum Haushaltsausgleich nicht aus. Es kam zu überproportional hohen Liquiditätskrediten, aus deren Finanzierung eine zusätzliche Belastung aus hohen Zinsausgaben resultiert. Weitere Beispiele für Regionen, die sich in einem ähnlichen Dilemma befinden, sind die Schuhindustrie in Rheinland-Pfalz, die Montanindustrie im Saarland oder die Werftstandorte an der deutschen Küste (Bogumil & Junkernheinrich 2020). Dies ist der wesentliche Grund für die berechtigte Forderung eines Altschuldenfonds. Die hohe Altschuldenbelastung des Ruhrgebietes (mit hohen Liquiditätskrediten) ist vor allem das Ergebnis von hohen sozialen Belastungen und/oder von Finanzschwäche. Die Forschung ist sich also einig darüber, dass die sogenannte Verursachungshypothese, dass also hoch verschuldete Kommunen nicht mit Geld umgehen können, so nicht zutrifft. Stattdessen gibt es einen deutlichen Einfluss der SGB-II-Quote auf kommunale Verschuldung. Weitere wichtige Erklärungsfaktoren sind darüber hinaus die Personalausgaben und Gewerbesteuereinnahmen (Bogumil et al. 2014). Insgesamt ist die Varianz kommunaler Haushaltslagen in hohem Maße durch die sozioökonomischen und räumlichen Umfeldbedingungen als gemeindespezifisch-exogene Faktoren geprägt. Vergleicht man bundesweit die Liquiditätskredite, so liegt der Durchschnitt bei 600 Euro je Einwohner im Jahr 2018. Die Disparitäten zwischen den Bundesländern sind dabei aber enorm; die Saarländer verzeichnen über 2.000 Euro je Einwohner an Kassenkrediten, die bayerischen Kommunen dagegen nur 14 Euro je Einwohner. In NRW liegt der Durchschnitt bei ca. 1.400 Euro, im Ruhrgebiet bei über 3.000 Euro.
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Abb. 2
Liquiditätskredite nach Bundesländern
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Ohne Zweifel werden auch in den Kommunen Fehler gemacht und es liegen individuelle Problemlagen vor, weshalb man die Kommunen nicht aus der Verantwortung nehmen kann. Die hohen Liquiditätskredite im Ruhrgebiet sind dennoch überwiegend das Ergebnis einer strukturellen Unterfinanzierung im Strukturwandel, die permanent unausgeglichene Haushalte zur Folge hatte. Auch bezüglich der Attraktivität als Wohnstandort gibt es noch Luft nach oben. Für das Ruhrgebiet ist der im Vergleich zu anderen großstädtischen Ballungsgebieten niedrige Anteil der Hochqualifizierten auch ein Ausdruck für die zuweilen nicht ausreichende Standortattraktivität für diese Arbeitskräfte. Die Entscheidung, sich in einer bestimmten Region anzusiedeln, wird nicht nur durch den angebotenen Arbeitsplatz, sondern auch durch die Ausgestaltung des zukünftigen Wohnumfelds, also die Lebensqualität vor Ort, bestimmt. Im Hinblick auf die Anforderungen an Arbeits- und Lebensbedingungen von gut qualifizierten Beschäftigten aus der gesellschaftlichen Mitte sind dem Ruhrgebiet zum Teil immer noch Defizite und Imageprobleme zu attestieren.
Die Zukunft des Ruhrgebiets Trotz der angesichts der enormen Herausforderungen durch den Strukturwandel insgesamt positiven Entwicklungen besteht weiterhin eine Lücke im Vergleich zu den Boom-Regionen Deutschlands. So sind die Wachstumsraten in München (+2,6 %) oder Berlin (+3,5 %) immer noch stärker. Gefordert wird von der Wirtschaftsförderung im Ruhrgebiet: „Daher brauchen wir gebündelte Anstrengungen für Wachstum. Statt Schwächen zu subventionieren, muss die Region ihre Stärken weiter stärken. Die Wirtschaft der Region ist resilienter und breiter aufgestellt als lange zuvor. Das Streben nach Wachstum sollte jedoch nicht nachlassen, um den Lückenschluss zu schaffen. Dazu braucht es klare Signale an Unternehmen und Investoren für neue Ansiedlungen im Ruhrgebiet. Sie brauchen gute Voraussetzungen wie verfügbare Flächenpotenziale und den Ausbau der industriellen Infrastruktur. Es braucht den Mut, die neuen Stärken der Region gemeinsam zu stärken. Mit Greentech, CyberSecurity oder Ressourceneffizienz ist die Metropole Ruhr schon heute internationale Spitze.“ (BMR 2020, S. 2)
Um vom Mittelfeld zur Spitze (der Regionen) aufzuschließen, bedarf es jedoch verschiedener Maßnahmen. Einerseits wäre ein gemeinsame „Change Story“ hilfreich, wie auch Erfahrungen aus anderen Regionen zeigen. Daran mangelt es derzeit im Ruhrgebiet. Nach dem Industriezeitalter hat sich zwar eine Wissenschaftslandschaft aufgebaut, der Umbruch wird aber noch zu wenig von überzeugenden Zukunftsentwürfen begleitet. Obwohl die Hochschulen und Forschungsinstitute in Deutschland inzwischen eine zentrale Rolle in regionalen Cluster-Strategien spielen, sind Unternehmen durch Anreiz- und Kooperationsstrukturen noch stärker in Kompetenznetzwerke und zukünftige Leitmärkte einzubinden.
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Generell gewinnen neben den harten die weichen Standortfaktoren immer mehr an Bedeutung im Wettbewerb der Regionen. Das direkte Lebensumfeld, die Wohnangebote, aber auch die umliegenden Naherholungsgebiete und die Natur spielen hierbei eine nicht zu unterschätzende Rolle. Das Ruhrgebiet hat frühzeitig die Weichen auf Wandel gestellt und die negativen Altlasten der Montanindustrie nach und nach beseitigt. Die IBA Emscher Park ist nur ein gutes Beispiel, das verdeutlicht, wie erfolgreich der Wandel des Ruhrgebiets als postmontaner Wohn- und Lebensraum verlaufen ist. Hier zeigt sich paradigmatisch ein nachhaltiger, ökologischer Umbau einer traditionellen Industrielandschaft. Dies lässt sich auch an der Renaturierung der Emscher studieren. Die dadurch gewonnene höhere Lebensqualität lässt sich an vielen Orten im Ruhrgebiet beobachten, wo die Renaturierung bereits abgeschlossen ist. Gerade vor dem Hintergrund der ökologischen und demografischen Herausforderungen und Erschöpfungssymptomen bei den traditionellen politischen Institutionen wird der Stärkung der Selbstorganisationsfähigkeit und Eigenverantwortung auf lokaler Ebene eine große Bedeutung beigemessen. Mit der offensiven Vermarktung als ökologisch umgestaltete Wissensregion tun sich viele Akteure jedoch noch schwer, was angesichts der jahrzehntelangen traditionellen Montanstrukturen nicht verwunderlich ist. Das Ruhrgebiet steht weiterhin vor großen Herausforderungen. Der Strukturwandel geht weiter in Richtung des Aufbaus einer wettbewerbsfähigen und ökologischen Wissensregion. Eine wichtige Stärke des Ruhrgebietes ist die Kombination aus einer dichten und exzellenten Wissenschaftslandschaft, günstigen Immobilienpreisen und einem hohen Kultur- und Freizeitwert. Damit diese Stärke wirken kann, müssen die weiteren Standortfaktoren verbessert werden. Um stärker in die manchmal in die Jahre gekommene Infrastruktur investieren zu können, abgehängte Stadtteile wieder einzubinden und die Wohnortqualität weiter zu steigen, ist trotz der erfreulichen wirtschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahre eine Altschuldenentlastung unabdingbar. Nur dann entsteht die Handlungsfähigkeit in den kommunalen Haushalten, insbesondere dann, wenn schlechtere Zeiten kommen, wie sich dies angesichts der Coranakrise mehr als deutlich abzeichnet.
Literatur Bogumil, J., Heinze, R. G., Lehner, F., & Strohmeier, K.-P. (2012). Viel erreicht – wenig gewonnen. Ein realistischer Blick auf das Ruhrgebiet. Essen: Klartext. Bogumil, J., & Heinze, R. G. (2019). Von der Industrieregion zur Wissensregion – Strukturwandel im Ruhrgebiet. APuZ, 1–3. Bogumil, J., Heinze, R. G., Beckmann, F., & Gerber, S. (2019). Vernetzung als Innovationsmotor – das Beispiel Westfalen. Ibbenbüren: IVD (Schriftenreihe der Westfalen-Initiative). Bogumil, J., Holtkamp, L., Junkernheinrich, M., & Wagschal, U. (2014). Ursachen kommunaler Haushaltsdefizite. Politische Vierteljahresschrift, 55, 614‒647.
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Bogumil, J., & Junkernheinrich, M. (2020, im Erscheinen). Regionale Entwicklungspolitik und kommunale Handlungsfähigkeit – Zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit des Ruhrgebietes. Gutachten im Auftrag der BMR. Essen. Business Metropole Ruhr [BMR] (2020). Wirtschaftsbericht Ruhr 2019. Essen. https://www.business. ruhr/fileadmin/user_upload/Bilder/Downloads/bmr_wirtschaftsberichr_ruhr_2019_130320. pdf. Zugegriffen: 14. September 2020. Dahlbeck, E., & Hilbert, J. (Hrsg.). (2017). Gesundheitswirtschaft als Motor der Regionalentwicklung. Wiesbaden: Springer Fachmedien. Deutsches Institut für Urbanistik [Difu] (2017). Kurzstudie zu kommunalen Standortfaktoren Ergebnisse auf Grundlage der Daten des Difu-Projekts „Koordinierte Unternehmensbefragung“. https:// www.kfw.de/PDF/Download-Center/Konzernthemen/Research/PDF-Dokumente-Studien-undMaterialien/KfW_Kurzstudie_Standortfaktoren_final.pdf. Zugegriffen: 14. September 2020. Junkernheinrich, M., & Micosatt, G. (2019). Kommunalfinanzbericht Metropole Ruhr 2019 Vergeblichkeitsfalle überwunden – Jetzt: Raus aus den Schulden. Essen: Regionalverband Ruhr. Kempermann, H., Krause, M., Lichtblau, K., Hecht, D., & Werbeck, N. (2020). Auf dem Weg zu einer starken Region Zukunftspotenziale der Metropole Ruhr. Studie für den Regionalverband Ruhr. 27. Februar 2020. https://www.iwkoeln.de/studien/gutachten/beitrag/hanno-kempermann-karllichtblau-zukunftspotenziale-in-der-metropole-ruhr.html. Zugegriffen: 14. September 2020. Roters, W., Seltmann, G., & Zöpel, Ch. (2019). Ruhr. Vorurteile – Wirklichkeiten – Herausforderungen. Essen: Klartext.
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Heimat Ruhrgebiet? Zur mentalen Rekonstruktion eines altindustriellen Ballungsraumes Theo Grütter
Der Begriff ‚Heimat‘ hat Konjunktur (grundlegend: Scharnowski 2019). Nicht nur unser Bundesland Nordrhein-Westfalen, sondern auch die Bundesrepublik Deutschland verfügt seit der letzten Regierungsbildung über ein eigenes Heimatministerium und seitdem läuft die muntere Diskussion, was denn Heimat eigentlich sei. Und diese Diskussion kommt auch nicht von ungefähr, ist der Begriff Heimat, zumal in Deutschland doch nicht ganz unproblematisch. Ich kann mich gut erinnern, dass wir als junge Geschichtsstudenten äußerst alarmiert waren, als Ende der 1970er-Jahre Edgar Reitz seine berühmte Fernsehserie Heimat über ein Dorf im Hunsrück in der NS-Zeit drehte, schien doch damit eine Vorstellung wieder aufzuerstehen, die mit dieser Zeit ein für alle Mal untergegangen war. Der Heimatbegriff hatte unter der NS-Diktatur eine große Bedeutung. Er reichte von der Vorstellung einer Blut-und-Boden-Heimat, die es zu verteidigen galt, über völkische Thing- und Gaufeste bis hin zu einem architektonischen Heimatstil. Insofern ging der Begriff mit der NS-Zeit zu Recht unter, war in einem neuen Deutschland der Nachkriegszeit zunächst verpönt und widersprach einer weltoffenen und liberalen Bundesrepublik. Dies änderte sich, wie gesagt, zum ersten Mal mit der – im Übrigen hervorragenden – Heimatsaga von Edgar Reitz und dann zunehmend mit der zeitlichen Distanz zur NSZeit. Heute gibt es vor allem unter jungen Menschen geradezu einen Hype um den Begriff Heimat. Es gibt regionale Start-ups, die sich mit dem Begriff schmücken, es gibt ein eigenes Heimatdesign in der Mode, und Slogans wie „Heimat Ruhrpott“ finden sich auf T-Shirts, Kaffeetassen und anderen Merchandising-Artikeln. Aber auf welches Bedürfnis gerade bei einer jungen, unbelasteten sowie in der Regel weltoffenen und toleranten Generation antwortet der Begriff Heimat? Nun, zum einen auf die von Jürgen Habermas (1985) und von zahlreichen anderen Sozialphilosophen ebenfalls schon Ende der 1970er-Jahren festgestellte „Neue Unübersichtlichkeit“, die die komplexen, kaum zu durchschauenden Strukturen in einer zunehmend globalisierten Welt als Herausforderung für die Orientierung der Menschen in ihrer jeweiligen Lebenswelt identifiziert und nach genau solchen Orientierungspunkten verlangte. Und dann auf das zunehmende Vertrauen in Produkte, vor allem in Lebensmittel aus dem jeweiligen regionalen Umfeld, die man zum einen kennt und konkret zurückverfolgen kann, die den Stolz auf das eigene Umfeld steigern und die zudem noch den scheinbar © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_38
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unsinnigen und irrwitzigen Reisetourismus von Waren und Gütern, mit all seinen ökologischen Folgen, überflüssig machen. Insofern ist der Begriff Region so etwas wie der Komplementärbegriff zu Heimat und erlebt einen ähnlichen Siegeszug – bis hin zu nicht unproblematischen Regionalismus- und Separationsbestrebungen in Spanien und anderswo, womit wir bei den potenziellen Schattenseiten eines übersteigerten Regionalismus oder einer Heimattümelei angelangt wären. Um dies aber gleich abzuwehren und nicht salonfähig zu machen, lohnt es sich, auf die konkrete Bedeutung des Begriffs Heimat einzugehen und eine Weile über seine Inhalte zu reflektieren. Heimat ist – entgegen der Behauptung von chauvinistischen Verfechtern oder radikalen Kritikern – kein hermetischer oder statischer Begriff, weder in räumlicher noch in zeitlicher Hinsicht. So habe ich in der Regel gar nicht eine Heimat, sondern mehrere, nähere und fernere, die manchmal auch miteinander konkurrieren, in der Regel aber das funktionierende Puzzle meiner räumlichen Zugehörigkeit bilden. Dies beginnt beim direkten näheren Umfeld, dem Elternhaus und der Straße, in der ich aufgewachsen bin, geht weiter über das Viertel und den Stadtteil und setzt sich fort über die Heimatstadt und die Region. Natürlich spielt auch die nationale Zugehörigkeit eine wichtige Rolle, insbesondere, wenn ich mich im Ausland befinde, und ich glaube, dass viele junge Menschen, die ein soziales Jahr in Asien, Afrika oder Südamerika verbringen, auch Europa als ihre Heimat empfinden. Dabei kann der Grad des Zugehörigkeitsgefühl unterschiedlich stark ausgeprägt sein und sich verändern. Ich weiß, dass viele Bürger aus Werden und vor allem aus dem spät eingemeindeten Kettwig immer noch nicht ‚in die Stadt‘, sondern ‚nach Essen‘ fahren und eine etwas geringere Verbundenheit mit ihrer Heimatstadt haben als die Bewohner aus anderen Essener Stadtteilen. Vor allem aber ist dieses Heimatgefühl nichts Statisches, sondern verändert sich; natürlich mit jedem Umzug, der die alte Heimatverbundenheit ganz allmählich verblassen und neue Zugehörigkeiten entstehen lässt, aber auch durch andere biografische oder gesellschaftliche Faktoren, die Bindungen lokaler, regionaler, nationaler oder sogar supranationaler Art stärker oder schwächer werden lassen. Das Wachsen von nationaler Zugehörigkeit in fast ganz Europa, von regionaler in Katalonien oder Schottland, aber auch von europäischer gegen die amerikanische Steuerpolitik unter der Trump-Administration mögen Beispiele dafür sein. Vor allem der amerikanische Patriotismus vieler Migranten, aber auch die Heimatverbundenheit der Ruhrgebietsbevölkerung, die im generationellen Zusammenhang zu 80 % einen Migrationshintergrund hat, zeigt überdeutlich, dass ‚Heimatgefühl‘ kein statischer, sondern ein fließender, sich im Laufe der Zeit verändernder Begriff ist. Oder, wie es der Essener Oberbürgermeister Thomas Kufen 2019 bei der Eröffnung der Ausstellung Das Zeitalter der Kohle auf dem Welterbe Zollverein sagte: Fremd sein und Zugehörigkeit ist gerade im Ruhrgebiet immer nur eine Frage des Zeitpunktes. Aus diesem Grunde ist es notwendig, den für die Orientierung der Menschen so wichtigen Begriff der Heimat offen und nicht als Ausgrenzungsmechanismus zu benutzen, der die einen in- und die anderen exkludiert. Und vor allem sollte man nicht die unterschied-
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lichen Heimatkonzeptionen gegeneinander ausspielen, etwa in der Form, dass man eine eher ländlich geprägte Dorfzugehörigkeit oder kleinstädtische Identität in Gegensatz zu einem städtischen oder sogar metropolen Zugehörigkeitsgefühl bringt. So setzt sich das Heimatgefühl im Ruhrgebiet, wie schon beschrieben, aus unterschiedlichen lokalen und regionalen Identitäten zusammen, auch die landsmannschaftlichen Zugehörigkeiten zum Rheinland und zu Westfalen spielen dabei weiterhin eine Rolle. Aber vor allem ist die Heimat der Ruhrgebietsbevölkerung natürlich das Ruhrgebiet und das vielleicht sogar gefühlt in zunehmendem Maße. Und damit bin ich beim zweiten Teil meines Texts: bei der mentalen Rekonstruktion des Ruhrgebiets als Identifikationsraum an einem ganz neuralgischen Punkt seiner Geschichte. Denn im Ruhrgebiet geht ein Zeitalter zu Ende. Mit der Schließung der Zeche Prosper in Bottrop als letzte Steinkohlenzeche in Deutschland endet nicht nur die zweihundertjährige Geschichte des maschinellen Steinkohlenbergbaus in Deutschland, sondern auch die des Strukturwandels im Ruhrgebiet, der schon zwei Generationen anhält und seine eigene Geschichte hat. Er begann 1958 mit der Kohlekrise und der Schließung der ersten Zeche und endete 2018 nach exakt 60 Jahren mit der Schließung der letzten Zeche (Brüggemeier et al. 2018). Von nun an ist der Bergbau im Ruhrgebiet und in Deutschland nicht mehr lebendige Gegenwart, sondern Vergangenheit und wird allmählich zum Teil der Erinnerung. Und dies ist Anlass genug, zu überlegen, wie diese Erinnerung zu gestalten ist, wie mit dem Erbe, vor allem dem kulturellen Erbe des Bergbaus im Speziellen und der Montanindustrie im Allgemeinen umzugehen ist und welche Rolle dabei die Erinnerungsinstanzen, vor allem das Museum, spielt. Dies will ich im Folgenden tun, zunächst aber mit einer Beobachtung bzw. Anekdote anfangen. Es ist zum Zeitpunkt dieses Bandes schon zehn Jahre her, dass im Juni 2010 im Rahmen der Kulturhauptstadt RUHR.2010 die gelben Ballons der „SchachtZeichen“ in den Himmel stiegen und es war zunächst einmal eine Riesengaudi. Wir feierten im Erich-Brost-Saal auf dem Dach der Kohlenwäsche Zollverein den 80. Geburtstag der Mutter von Oliver Scheytt, der damals Geschäftsführer der RUHR.2010 war. Oliver rannte aber den ganzen Vormittag mit dem Handy herum und kam nicht dazu, seine Geburtstagsansprache zu halten, weil immer neue Nachrichten reinkamen von der Flugsicherung und von den einzelnen „Bodenstationen“, dass der Wind zu stark sei, dass eines der Seile durchgeschnitten worden sei, dass in der Nacht einer der Ballons geklaut worden sei usw. usf.
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Abb. 1
Theo Grütter
Beleuchtete Ballons vor der Skyline der Kokerei Zollverein, © Fotoarchiv Ruhr Museum
Auch in den nächsten Tagen drehte sich im Ruhrgebiet das Gespräch überall um die Frage, ob die Ballons oben seien oder wann sie wieder aufsteigen würden. Auf 30 Meter oder auf 80 Meter? Ist der Wind zu stark oder legt er sich? Wann werden die Ballons beleuchtet? Von wo hat man den besten Blick? Kurz: Alles war auf Event getrimmt, wie es im postindustriellen Ruhrgebiet inzwischen häufig der Fall war (zusammenfassend und mit hervorragendem Bildmaterial: Bandelow & Moos 2011). In den darauffolgenden Tagen, als ich durch Zufall, dienstlich oder am Ende ganz bewusst, einige der insgesamt über 300 ehemaligen Orte von Zechen bzw. Schächten aufsuchte, änderte sich das Bild. Zunächst fiel mir auf, mit welchem Einsatz und welcher Inbrunst sich die jeweiligen Teams um ‚ihren‘ Ballon, der jeweils auf einem beweglichen Karren montiert war, kümmerten. Dabei galt die Sorgfalt und Ernsthaftigkeit zum einen dem Ballon, vor allem aber dem Schacht oder der Zeche selbst, die es zu markieren galt.
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SchachtZeichen-Aktion im Rahmen der Kulturhauptstadt RUHR.2010, © Fotoarchiv Ruhr Museum
Die Teams, die in der Regel aus ehemaligen Bergleuten der jeweiligen Zeche oder Anwohnern der umliegenden Stadtteile bestanden, versuchten in unzähligen Gesprächen, in kleinen Ausstellungen und Broschüren, in Straßenfesten oder Diskussionsrunden die ehemalige Gestalt ihrer Zeche, ihre technischen Funktionen und ihre Bedeutung für die Beschäftigten und den Stadtteil zu rekonstruieren. Es wirkte ein wenig wie Trauerarbeit und wie die Reaktion auf eine Art Phantomschmerz, den diese ehemaligen Bergwerke, die gar nicht mehr existierten, hinterlassen hatten. Und es war eine beeindruckende Demonstration des Heimatgefühls der Ruhrgebietsmenschen, die ich mit dem Stillleben auf der B 1 zu den gelungensten Projekten der Kulturhauptstadt zähle. Worin besteht nun der beschriebene Phantomschmerz der Menschen im Ruhrgebiet, worin besteht ihre enge Verbindung zu ihrer Heimat? Er basiert vor allem auf persönlichen Erinnerungen an die letzte Phase des Bergbaus nach dem 2. Weltkrieg und somit dem Höhepunkt in der Zeit unmittelbar vor der Bergbaukrise in den späten 1950er-Jahren.
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Abb. 3
Zechensiedlung in den 1960er-Jahren, © Fotoarchiv Ruhr Museum
Abb. 4
Typische Ruhrgebietskneipe in den 1960er-Jahren, © Fotoarchiv Ruhr Museum
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Insofern stammt unser Bild vom Ruhrgebiet, den Zechen und deren Siedlungen aus einer letztlich kurzen Phase von ca. 20 Jahren, als der Bergbau nicht von Krisen und Kriegen, von Ausbeutung und Klassengegensätzen geprägt wurde. In dieser Erinnerung steht er für Kraft und Energie, für Wohlstand, für harte Arbeit und guten Lohn, für Familie, für Kameradschaft und Nachbarschaft, für intakte Milieus, für Vereinsleben, für Fußball und Freizeit, für Tauben und Karnickel, für Hinterhof und Kleingarten. Und er steht für Stolz und Verlässlichkeit, für Einheitlichkeit und Gleichheit. Duisburg war die größte Stahlstadt, Gelsenkirchen die größte Bergbaustadt in Europa, aber Herten und Essen behaupten Letzteres von sich auch – und wahrscheinlich haben alle drei recht, je nachdem welches Jahr man betrachtet, auf jeden Fall war das ganze Ruhrgebiet ‚vor Arbeit ganz grau‘.
Abb. 5
Smog im Ruhrgebiet, © Fotoarchiv Ruhr Museum
Heute dagegen, zwei Generationen später, am Ende des Strukturwandels, sieht alles ganz anders aus. Das Ruhrgebiet ist nicht mehr erfüllt vom Dröhnen und Hämmern der Maschinen, von drehenden Seilscheiben und endlosen Kohlezügen, die Feuer in der Nacht brennen nicht mehr, der Pott kocht nicht mehr. Die sozialen Milieus haben sich weitgehend aufgelöst, den Vereinen fehlt es an Mitgliedern, der stolze Proletarier ist dem depravierten Harz-IVEmpfänger gewichen, die Zechen und Fabriken sind verschwunden und haben gesichtslosen Baumärkten und Einkaufszentren Platz gemacht. Das Ruhrgebiet ist keine Einheit mehr, sondern zerfällt in Regionen, denen es gut geht, meist an der Peripherie, meist im Süden, und verarmten Regionen in der Emscherzone, in denen Hoffnungslosigkeit eingezogen ist. 559
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Abb. 6
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Werkssiedlung Mitte der 1960er-Jahre, © Fotoarchiv Ruhr Museum
Aber stimmt dieses nostalgische, wehmütige Bild wirklich? Schaut man sich die Fotos im Ruhr Museum zum Ruhrgebiet der 1960er- und 1970er-Jahre an (Schneider 1998, 2000, 2019; Kaute 2013), so fällt auf, dass in und vor den zahlreich abgebildeten Siedlungen und Zechen kein Baum und kein Strauch stand. Und ansonsten sind die dargestellten alltäglichen Szenen liebenswert und anrührend, aber Kleidung, Wohnungsausstattung und die wenigen Autos sind bescheiden bis armselig. Ich kann mich noch erinnern, als Kind und Jugendlicher kilometerlang an hohen Fabrikmauern vorbeigelaufen zu sein, den Gestank der Kokereien und der Chemiefabriken in der Nase und häufig legte sich ein dreckiger Staub aus den Schornsteinen und Hochöfen über das Ruhrgebiet. Man lebte auf kleinstem Raum mit kinderreichen Familien in 60-qm-Wohnungen und die Häuser waren nicht frisch gestrichen, weil es sich nicht lohnte, denn die Emissionen hätten sie eh schnell wieder verdreckt. Meine Schwestern mussten nach Münster ziehen, um zu studieren, was sich ein Arbeiterhaushalt gar nicht hätte leisten können. Die Arbeit unter Tage und in der Stahlindustrie war hart und trotz aller technischen Errungenschaften und Sicherheitsbestimmungen menschenfeindlich.
Heimat Ruhrgebiet?
Abb. 7
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Freizeitidylle am Kanal im postindustriellen Ruhrgebiet, © Fotoarchiv Ruhr Museum
Heute zeigt der Blick vom Dach der Kohlenwäsche Zollverein ein grünes Ruhrgebiet, in dem sich die Gebäude zwischen den zahlreichen Bäumen geradezu verstecken. Der legendäre Ausspruch des Ruhrgebietes-Kabarettisten Frank Goosen „Boh ist das grün hier“ beschreibt kein Klischee, sondern die Realität. Selbst die hässlichsten Siedlungs- und Durchgangsstraßen im Essener Norden sind zu Alleen geworden. Der Himmel über der Ruhr ist, um mit Willy Brandt zu sprechen, so blau wie im Rheinland und in Westfalen, und wo früher Fabrikmauern standen, sind heute Parklandschaften oder moderne Gewerbeparks entstanden. Ich habe schon in Bochum studiert, hätte dies aber auch in Dortmund, Duisburg oder Essen können. Und die Kinder und Enkelkinder der Bergleute und Stahlarbeiter müssen schon lange nicht mehr unter Tage oder an den Hochofen, sondern arbeiten in sauberen und körperlich wenig verschleißenden Bürojobs. Der Spruch „Mutter, hol mich vonne Zeche, ich kann dat Schwatte nich mehr sehen“ ist heute nur noch kabarettistische Folklore. Insofern stimmt die beschriebene Verlusterfahrung, der Phantomschmerz, mit der Realität nicht unbedingt überein, zumindest stehen dem Verlust sicherer und auch gut bezahlter Arbeitsplätze in der Schwerindustrie eine Menge ausgleichender Errungenschaften gegenüber. Wie ist dieses nostalgische Gefühl, diese Sehnsucht nach dem guten 561
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alten Ruhrgebiet, das wir alle ein bisschen haben, dann zu erklären? Der Sozialphilosoph und Nordrhein-Westfalens ehemaliger Staatssekretär Hermann Lübbe hat vor Jahren eine Analyse vorgelegt, nach der eine Veränderung der Umwelt von mehr als 2‒3 % pro Jahr zu einem massiven Vertrautheitsschwund führt, das heißt, dass sich der Mensch in seinem angestammten Lebensraum nicht mehr wohlfühlt und zurechtkommt, kurz – und jetzt bin ich wieder beim Thema –: seine Heimat verliert (2004, S. 23‒24). Dies dürfte im Ruhrgebiet sicherlich der Fall sein. In den 1960er- und vor allem den 1970er-Jahren verschwanden ganze Zechenareale, die vorher Arbeitsmittelpunkt gewesen waren und die Silhouette und auch die Existenz eines ganzen Viertels oder Stadtteils bestimmt hatten. Es herrschte eine regelrechte Abrisswut, die versuchte, der unverhofft hereingebrochenen Krise Herr zu werden und möglichst schnell Platz zu schaffen für neue Industrien und Ansiedlungen, auch wenn sich dies als äußerst schwierig erwies. Einher ging diese Abrisswut mit einem ungebrochenen Modernisierungsglauben, der nach dem 2. Weltkrieg im Zuge des Wirtschaftswunders entstanden war. So kam es neben dem Abriss der Zechen und später der Stahlfirmen und metallverarbeitenden Fabriken auch zum Abriss und Neubau öffentlicher Einrichtungen, wie Rathäusern oder Badeanstalten, die den Vertrautheitsschwund noch weiter steigerten (Günter 2013, 2015). Der wirtschaftliche Niedergang des Ruhrgebietes hätte somit, wäre er in der beschriebenen Form weitergegangen, nicht nur die Zerstörung der Ökonomie, sondern auch der gesellschaftlichen und kulturellen Identität des Ruhrgebietes zur Folge gehabt, aber es kam anders. Dieser Abrissprozess kam nämlich in den 1980er- und vor allem in den 1990erJahren zum Ende und hat sich vor allem durch die Internationale Bauausstellung Emscher Park – Karl Ganser sei Dank – ins Gegenteil gedreht. Seit ca. zwanzig Jahren werden nicht nur die übriggebliebenen Zechen, sondern praktisch alle Relikte des Industriezeitalters weitgehend erhalten und gehören heute zum kulturellen Erbe des Ruhrgebietes (grundlegend: Ganser: 1999; Monheim & Zöpel 1997). Dabei ist zu beachten, dass die Bildung des kulturellen Erbes einer Gesellschaft, wie der französische Kulturwissenschaftler Krysztof Pomian ausgeführt hat (1990, S. 43‒44), in einem Bruch zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart bestehe. Die Traditionen, Verbindlichkeiten und Selbstverständlichkeiten der Vergangenheit würden in der Gegenwart obsolet und funktionslos. Dies gelte für soziale und rechtliche Systeme, Riten und Gepflogenheiten einer Gesellschaft ebenso wie für ihre materiellen Hinterlassenschaften. Diese veralten, würden zerstört oder ersetzt, würden zu Ruinen oder geraten in den Abfall. Sollten sie diesen Verfallsprozess aber durch irgendeinen Zufall oder durch ihre Widerständigkeit überstehen – und das ist im Ruhrgebiet bei vielen der gigantischen Industrieanlagen der Fall –, so komme ihnen bei der Bildung des kulturellen Erbes eine besondere Bedeutung zu. Es ist also gerade die Erfahrung des Bruchs zwischen Vergangenheit und Gegenwart, das Herausfallen aus gewohnten Lebensverhältnissen und Traditionen, und somit auch die fehlende Perspektive für eine sinnvolle Zukunftsgestaltung, die eine Orientierung in der Zeit nötig machen, eine mentale Operation, die wir im weitesten Sinne als Erinnerung bezeichnen. Die kulturelle Erinnerung entpuppt sich somit entgegen einem weitverbreiteten Missverständnis nicht als nostalgisches Festhalten an vertrauten und liebgewonnenen Ge-
Heimat Ruhrgebiet?
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wohnheiten, sondern als Neubewertung der Vergangenheit vom Standpunkt der jeweiligen Gegenwart. Und dabei kommt natürlich den materiellen Speichern dieser Erinnerung, den Museen und Archiven, aber auch den baulichen Hinterlassenschaften eine besondere Rolle zu. Denn die Relikte und Gebäude der Vergangenheit sind so etwas wie die Vermittler zwischen Vergangenheit und Zukunft. Walter Benjamin hat dies mit dem Begriff der „Aura“ beschrieben (1963, S. 18). „Aura“ meint bei ihm die Faszination des Authentischen, die durch das Spannungsverhältnis zwischen räumlicher und sinnlicher Nähe sowie zeitlicher Ferne und Fremdheit entsteht. Das historische Objekt oder Gebäude ist dem Betrachter nah und fern zugleich: nah, weil er es mit Augen und Händen direkt erfassen, ja körperlich spüren kann, fern, weil er durch den historischen Gegenstand mit einer entfernten Wirklichkeit und einem entfernten Bewusstsein konfrontiert wird. Gerade dadurch, dass sie von ihrem ursprünglichen Kontext abgeschnitten, entzeitlicht und durch den Wegfall ihres Umfeldes auch enträumlicht sind, werden Relikte der Vergangenheit in dem Maße unverständlich, fremd und interpretationsbedürftig, in dem sie ihre ursprüngliche Funktion und Bedeutung abgestreift haben oder nicht mehr so einfach preisgeben. Genau hier setzt aber ein Vermittlungsproblem ein – und damit bin ich bei meinem letzten Punkt – der Rolle der Industriekultur und des Museums in diesem Sinnbildungsprozess. Es wäre sicherlich völlig verfehlt, die ehemaligen Gebäude des Industriezeitalters als reine Kulissen, als Camouflage zu nehmen, die allein der Befriedigung einer falschen Nostalgie dienten, die das Industriezeitalter verniedlicht, verklärt und ein völlig falsches Bild vermittelt. Die alten Zechen und Fabriken, die zahlreichen Relikte und materiellen Überreste des Industriezeitalters bedürfen vielmehr einer Erklärung, einer Vermittlung ihrer ursprünglichen Bedeutung und der damit verbundenen sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse.
Abb. 8
Ruhr Museum in der Kohlenwäsche der Zeche Zollverein, © Fotoarchiv Ruhr Museum 563
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Genauso falsch wäre es aber, diese Relikte auf ihre ehemalige technische Funktion zu reduzieren und sie als rein technische Denkmale zu pflegen und zu erhalten. Der Gasometer Oberhausen steht nicht nur für die technischen Fragen der Gasspeicherung, sondern als größter Innenraum Europas vor allem für die gigantischen Dimensionen des Industriezeitalters. Und die Zeche Zollverein ist nicht wegen ihrer Funktion, der Förderung, Sortierung und Verteilung von Kohle zum Weltkulturerbe erklärt worden, sondern sie ist als förderstärkste Steinkohlenzeche der Welt das Symbol für ein ganzes Zeitalter, für das Zeitalter des fossilen Energieverbrauchs, für das Zeitalter der Kohle. Insofern ist es richtig, dass zum Beispiel die Rheinischen und Westfälischen Industriemuseen die ihnen anvertrauten Objekte nicht nur als technische Kulturdenkmale betreuen, sondern in ihnen die sozialen und gesellschaftlichen Implikationen für das jeweilige Umfeld, die Siedlungen und Stadtteile, ebenso deutlich machen wie die Arbeitsbedingungen und die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen des jeweiligen Industriezweiges. Insofern war es auch richtig, in der Kohlenwäsche, dem größten Gebäude auf Zollverein und zentralen Ausgangspunkt der Industriekultur, das Ruhr Museum zu verankern, das versucht, die Faktoren und Begleitumstände der Industrialisierung im Ruhrgebiet als umfassenden Prozess zu beschreiben (Borsdorf & Grütter 2010).
Abb. 9
Dauerausstellung des Ruhr Museums, Ensemble Industriearbeit, © Fotoarchiv Ruhr Museum
Heimat Ruhrgebiet?
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Indem es aber gleichzeitig nicht nur den Strukturwandel, sondern auch die langen Jahrhunderte vor der Industrialisierung zeigt, stellt es Letztere als relativ abgeschlossene Epoche dar, die das Ruhrgebiet zwar von Grund auf geprägt hat, aber auch Raum für Veränderungen ließ. Insofern stellt sich das Ruhr Museum, wie Gottfried Korff sagt, zwar als „Heimatmuseum neuen Typs“ dar, das die Industriegeschichte als eigene Geschichte, als Heimatgeschichte miteinschließt, sie durch den Historisierungsgrad gleichzeitig aber relativiert und für zukünftige Entwicklung offenhält. In diesem Zusammenhang möchte ich abschließend auf einen existierenden, meiner Ansicht nach aber konstruierten Widerspruch zwischen dem Erhalt des historischen Erbes und der Einrichtung von Museen auf der einen, aber dem Abriss von funktionslosen Anlagen und Ansiedlung neuer zukunftsfähiger Industrien auf der anderen Seite eingehen. Natürlich kann eine flächendeckende Musealisierung nicht der einzige Umgang mit dem industriellen Erbe sein. Sie trägt aber substanziell zu den mentalen Voraussetzungen bei und schafft die notwendige Akzeptanz für die Industriekultur. Genauso wichtig ist es natürlich, die ehemaligen Zechen und Industriegebäude zu neuem Leben zu erwecken. Das kann durch neue Produktions- und Wirtschaftsformen erfolgen, wie es in vielen Gründerzentren der Fall ist. Sie nutzen die Gebäude eben nicht nur als Dekoration, sondern können den Geist, neudeutsch: den „Spirit“, des Industriezeitalters mit Elementen wie harter und zuverlässiger Arbeit, Innovationskraft oder enger
Abb. 10 Aufführung der Ruhrtriennale in der Bochumer Jahrhunderthalle, © Fotoarchiv Ruhr
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Zusammenarbeit für ihre Produktionen in Anspruch nehmen und gleichzeitig architektonisch anspruchsvolle und häufig großzügige Arbeitsplätze anbieten, die eben nicht so sind wie überall. Genauso plausibel sind die Umnutzungen der Gebäude zu kulturellen Zwecken, wie es z. B. bei der Jahrhunderthalle in Bochum der Fall ist. Die Ruhrtriennale, das große Theaterfestival im Ruhrgebiet, das ausschließlich mit Produktionen in ehemaligen Industrieanlagen veranstaltet wird, gibt jedes Jahr einen deutlichen Eindruck davon, wie durch kulturelle Umnutzung neue Wertschöpfungsketten entstehen, die geistigen Mehrwert in einen ökonomischen Mehrwert transferieren. Ähnlich verhält es sich mit den zahlreichen soziokulturellen Zentren, die in ehemaligen Zechen und Fabriken gegründet wurden. Ich erinnere an die legendäre Zeche in Bochum oder die Zeche Carl in Essen. Auch hier stand und steht die kulturelle Nutzung im Vordergrund. Hinzu kommt aber ein weiteres Element: Sie sind Kristallisationspunkt ihres jeweiligen Stadtteils, aber auch ein Identifikationsort für eine junge Generation, die persönlich immer weniger mit der Industriezeit in Verbindung gekommen ist, die sich mit ihren Werten dennoch stark identifiziert. All diese Orte fungieren als Vermittler zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, indem sie neue Projekte und Ideen nicht geschichtsvergessen in neutralen geschichtslosen Räumen entwickeln, sondern stets eine Verbindung mit den Ursprüngen, Traditionen und Werten der Region schaffen, was man als Wirkung nach innen am besten mit dem Begriff der Heimat beschreiben kann. Nach außen bilden sie das Alleinstellungsmerkmal des größten altindustriellen Raumes Europas, dessen identifikatorische und übrigens auch touristische Potenziale – wie die Kulturhauptstadt RUHR.2010 und das Kohlejahr 2018 gezeigt haben – erst im Begriff sind, gehoben zu werden. Wie tief dieses Heimatgefühl verankert ist, zeigt übrigens eine Gegebenheit, die sich ebenfalls im letzten Jahr bei der Eröffnung der Ausstellung Das Zeitalter der Kohle auf der Kokerei Zollverein ereignete. Als der Ruhrkohle-Chor am Ende des Festaktes die berühmte siebte Strophe des Steigerliedes anstimmte, standen alle 1.500 Gäste ohne Anweisung auf und sangen absolut textkundig die Hymne des Ruhrgebiets mit. Hier zeigte sich die tiefe Verbundenheit der Menschen mit der Geschichte und Kultur ihrer Region. Ich bin mir sicher, dass die Industriekultur mit Grubenlampe und Bergmannskittel in Zukunft zum Heimatgefühl des Ruhrgebiets gehört wie der Bierseidel und die Lederhose zu Bayern, und dass es dieses industriekulturelle Erbe als Kern eines Heimatgefühls des Ruhrgebiets zu fördern und zu erhalten gilt.
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Herausforderungen und Chancen einer polyzentrischen Agglomeration Ruhr Christa Reicher
Herausforderungen einer polyzentrischen Agglomeration Ruhr
Regionen, die sich aus einer Vielzahl von einzelnen Städten und Ortschaften zusammensetzen, sind kein Sonderfall. Dennoch steht das Ruhrgebiet im deutschsprachigen Raum nahezu paradigmatisch für den Typus einer polyzentrischen Agglomeration. Welche besonderen Herausforderungen und Chancen stellen sich in einer Agglomeration? Wie lässt sich eine solche großräumige Städtelandschaften nachhaltig planen und gestalten? Nach welchen Prinzipien und mit welchen Mitteln kann und sollte Städtebau im regionalen Maßstab stattfinden? Das Ruhrgebiet ist für derartige Fragen besonders prädestiniert, nicht zuletzt weil derzeit der Blick verstärkt auf die Formate der Stadt- und Regionalentwicklung fällt, die in den letzten 30 Jahren seit der Internationalen Bauausstellung (IBA) Emscher Park die Agglomeration Ruhr geprägt und im Hinblick auf die Gestaltbarkeit regionaler Stadträume neue Wege erprobt haben. Und ein Blick in die Geschichte zeigt: Die Suche nach einer tragfähigen städtebaulichen Vision für die gesamte Region hat im Ruhrgebiet Tradition. Man denke nur an den von Robert Schmidt konzipierten Generalsiedlungsplan aus dem Jahr 1912 oder die von Martin Einsele in den 1960er-Jahren angestellten Überlegungen zu einer Ruhrstadt. Christoph Zöpel hat diese Gedanken im Jahre 2005 mit seiner Idee zur „Weltstadt Ruhr“ unter Einbeziehung der Metropolen Ruhr und Rhein weitergeführt. Wenn Christoph Zöpel schreibt „Das Ruhrgebiet kann eine Weltstadt“ sein (2005, S. 5), dies mit der Einwohnerzahl und dem globalen Handeln begründet, dann verbindet er mit dieser Vision ein gemeinsames – nach innen und nach außen abgestimmtes – Agieren. Jetzt, wo das Ruhrgebiet als Ganzes erklärtermaßen „Metropole“ werden will, wo mit dem Motto „Stadt der Städte“ die Kooperation der einzelnen Ruhrgebietsstädte eine zweifellos neue Qualität erreicht hat, wo aber auch ganze neue Herausforderungen für die Gestaltung von urbanen Lebensräumen sichtbar geworden sind, stellt sich die Frage von Neuem: Mit welcher städtebaulichen Vision geht das Ruhrgebiet ins 21. Jahrhundert?
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_39
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Von den Gesetzmäßigkeiten und Begabungen von Ruhr
Die Agglomeration Ruhr folgt nicht den Mustern klassischer europäischer Städte. Sie weist deutlich andere Charakteristika und eigene räumliche Logiken auf. Auch wenn sich im Ruhrgebiet jene Orte und Räume finden, die den Idealvorstellungen einer Europäischen Stadt entsprechen: historische Ortskerne mit verwinkelten Fachwerkgassen, Schlösser, Burgen und historische Parkanlagen, Gründerzeitviertel, Marktplätze und so weiter. Sie sind nicht weniger schön, nicht weniger beliebt als in anderen Städten, sie bestimmen nur weder das Bild noch die wesentliche räumliche Struktur des Ruhrgebiets.
1.1
Räumliche Eigenlogik: Ruhrbanität
Charakteristisch für die Agglomeration ist seine spezifische Urbanität, seine Ruhrbanität, die in vielen räumlichen und funktionalen Gesetzmäßigkeiten zum Ausdruck kommt: in der Polyzentralität, in der Verflechtung von Bebauung und Freiraum, in dem Nebeneinander von Nutzungen sowie in der – im Vergleich zu großen europäischen Metropolen – geringen Dichte. Diese Eigenarten sind historisch bedingt. Das Ruhrgebiet bleibt räumlich und physisch geprägt von seiner montanindustriellen Geschichte, welche die vorindustrielle Vergangenheit von Städten und Dörfern überlagert hat (Polívka et al. 2017, S. 229ff.). Die Montanindustrie hat über zwei Jahrhunderte hinweg die sozialökonomischen Verhältnisse von Millionen Menschen verbessert, zugleich aber auch vielfältige Schäden hinterlassen, die heute noch u. a. in Zäsuren und Brüchen, Altlasten und Brachflächen sichtbar sind.
1.2
Siedlungsstruktur und Wohnkultur
Seit der Industrialisierung lässt sich im Ruhrgebiet ein stetiger Wandel des Wohnens nachvollziehen (Cox & Reicher 2017, S. 58ff.). Mit dem Übergang von einer agrarisch-kleinstädtisch geprägten Region zu einer der bevölkerungsreichsten Ballungsräume Europas hat sich auch die Siedlungsstruktur verändert. In der Phase der Industrialisierung haben sich binnen weniger Jahrzehnte Bauerndörfer wie Bottrop, Gelsenkirchen und Herne zu Städten mit über 50.000 Einwohnern entwickelt (Polívka & Roost 2011, S. 44ff.). Der einsetzende Prozess der Urbanisierung wurde begleitet von neuen Zechen- und Industrieansiedlungen und einem Netz von Verkehrsinfrastruktur. Zwischen den alten Hellwegstädten und den umliegenden neuen Orten ist in der Folge ein enges Geflecht von Wegen und Erschließungsachsen entstanden. Industrialisierung und Bevölkerungsentwicklung führten zu einem dichten Gewebe „ohne klare Stadtgrenzen, ohne Kategorien wie Innen und Außen, ohne den Dualismus zwischen Stadt und Land“ (Langner 2011, S. 134). Dieses eng verwobene Geflecht aus Städten und kleineren Siedlungseinheiten sowie den Verbindungsadern kennzeichnet bis heute die netzartige Siedlungsstruktur der Agglomeration Ruhr. In der industriellen Genese der Siedlungsstruktur liegt ebenfalls die Ursache für die
Herausforderungen einer polyzentrischen Agglomeration Ruhr
Abb. 1
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Schichtung der Region. Next Ruhr (RHA – Reicher Haase Assoziierte 2013)
die enge funktionale Verwebung, insbesondere von Arbeiten und Wohnen. Der Werkswohnungsbau und die erste Generation des Arbeitersiedlungsbaus entstanden in unmittelbarer Nähe zur Arbeitsstätte der jeweiligen Zeche. Mit dieser räumlichen Verflechtung ging meist eine enge Bindung der Arbeiter an die jeweiligen Arbeitgeber einher, die über ein entsprechendes Mietverhältnis verstärkt wurde. Dieses Patchwork aus Wohnen und Arbeiten schlägt sich bis heute in der räumlichen Struktur der Agglomeration Ruhr und dem Nebeneinander von Nutzungen nieder. Die ökonomischen Veränderungen haben – neben demografischen und sozialen Entwicklungen – die Veränderung der Siedlungsstruktur und der Wohnkultur beeinflusst; dabei ist die Entwicklung der Wohnsiedlungen ein Abbild der Genese des Ruhrgebiets mit seinem wirtschaftlichen Aufstieg im Zug der Montanindustrialisierung, den kriegsbedingten Brüchen sowie der Montankrise. Trotz der verschiedenen inhaltlichen Schwerpunkte, die 571
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in den Phasen der Stadtentwicklung ihren Niederschlag in der Siedlungskultur gefunden haben, sind die Arbeitersiedlungen heute noch ein wichtiger Bestandteil der industriellen Kulturlandschaft. Die Gartenstadtidee hat im Revier, wo die meisten Bergleute aus dörflichen Strukturen vom Land kamen, vielfältige Übersetzungen gefunden. Noch vor dem ersten Weltkrieg und insbesondere zwischen den Weltkriegen sind gartenstädtische Siedlungen gebaut worden, zunächst in unmittelbarer Nähe zu den jeweiligen Schachtanlagen, später eigenständig ohne direkten Werksbezug. Diese Siedlungen wurden zu identitätsstiftenden Adressen und gehören bis heute zu den unverwechselbaren Siedlungstypologien des Ruhrgebiets. Das Weiterbauen und die Sanierung dieser gartenstädtischen Siedlungen während der Internationalen Bauausstellung (IBA) Emscher Park in den 1990er-Jahren haben diese wichtigen baukulturellen Siedlungen zukunftsfähig gemacht.
Abb. 2
Acht Phasen der Siedlungskultur Ruhr (Cox & Reicher 2017)
1.3
Freiräume und „Innere Ränder“
Die Region weist als Ganzes aufgrund seines industriellen Entstehungsprozesses und seiner weiträumig verteilten Entwicklung von Zechen und Produktionsstandorten als Ausgangspunkt des Wachstums eine flache Dichte auf (viel Siedlungsbau, wenig dezidiert großstädtische Quartiere) und ist daher eher als postsuburbaner denn als klassisch metropolitaner Ballungsraum einzustufen. Die konzentrischen Erweiterungskreise der klassischen Europäischen Stadt sind – abgesehen von den Hellwegstädten – lediglich schwach ausgeprägt. Charakteristisch ist die extreme Verzahnung von Siedlung und Freiraum, nicht nur an den Rändern des Ballungsraums, sondern bereits im eigentlichen Stadtgefüge. Aufgrund der durchlässigen Siedlungsstruktur und der Nähe zu den vielfältigen Frei- und Landschaftsräumen entsteht eine besondere Charakteristik: ein „Innerer Rand“. Diese Vielzahl von
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inneren Stadträndern – Kontaktlinien zwischen bebautem und unbebautem Raum – ist ein grundlegendes Prinzip der regionalen Raumstruktur. Wohnortnahe Grünbereiche, die einen unmittelbaren Übergang von der Siedlung in den Freiraum ermöglichen, haben im Ruhrgebiet eine wesentlich stärkere Präsenz als in anderen Städten. Als nutzbare Freifläche in Form von Kleingärten, Sportanlagen, landwirtschaftlich genutzten Flächen oder Wäldern fungieren diese Räume als wertvolle Naherholungsflächen, vorausgesetzt die Übergänge zwischen Wohnsiedlung und Freiraum sind entsprechend gestaltet. Weil solche landschaftlichen Grenzbereiche seit jeher für Menschen attraktiv sind – das Siedeln am Rand ist womöglich eine Art anthropologischer Konstante –, stellt dies ein kaum überschätzbares Potenzial für die künftige Entwicklung des Ruhrgebiets dar.
Abb. 3
„Innerer Rand“ – Kontaktstellen zwischen Wohnsiedlung und Grünräumen 2011
1.4
Infrastruktur und Verkehr
Die Entwicklung der Infrastruktur im Ruhrgebiet ist der Industrialisierung gefolgt. Die Rohstoffgewinnung bedingt Betriebe zur Verarbeitung; die Distanz zwischen der Stätte der Rohstoffgewinnung und der Verarbeitung macht eine entsprechende Infrastruktur für den Transport erforderlich. Auch die Flüsse übernehmen im Kontext der Industrialisierung eine wichtige dienende Funktion. Während die Ruhr im Süden die Wasserversorgung übernimmt, dient die Emscher der Abwasserableitung und die Lippe der Brauchwasserversorgung. Durch die vom Bergbau verursachten Senkungen war es unmöglich, unterirdische Abwasserkanäle anzulegen. Mit der Industrialisierung stieg die Anforderung, Rohstoffe zu transportieren. In Ergänzung zu dem Flusssystem von Ruhr, Emscher und Lippe wurde infolge des zunehmenden Transportbedarfs in wenigen Jahrzehnten ein Netz von Kanälen angelegt: der Dortmund-Ems-Kanal (1899), der Datteln-Hamm-Kanal 573
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(1914), der Rhein-Herne-Kanal (1914) und der Wesel-Datteln-Kanal (1931). Diese künstlichen Wasserstraßen haben noch heute eine wichtige Funktion für die Güterschifffahrt, in Teilen auch für die Freizeit (Langner 2011, S. 139). Während der Phase der Internationalen Bauausstellung (IBA) Emscher Park ist das Projekt auf den Weg gebracht worden, den offenen Abwasserkanal der Emscher zu einem neuen urbanen und landschaftlichen Rückgrat der Region umzubauen. Mit dem Wissen darum, dass solche regionalen Großprojekte einen langen Atem und ein komplexes Know-how für den technologischen Umbau erfordern, sind wichtige Realisierungsschritte mittlerweile umgesetzt worden. Die Vision von einem Neuen Emschertal, einem Freiraum am Wasser – von der Emscherquelle in Holzwickede bis zur Mündung in Dinslaken – mit hoher ökologischer und urbaner Qualität ist auf dem Weg und stellenweise schon erlebbar. Die Agglomeration Ruhr verfügt über ein historisch gewachsenes und zugleich hoch entwickeltes Eisenbahnnetz, das durch die Anforderungen des Bergbaus geprägt wurde. Die ab Mitte des 19. Jahrhunderts gebauten Industriebahnen bestimmen noch heute die Siedlungsstruktur. In den 1970er-Jahren hat der Ausbau des Schienennetzes einen Schub durch öffentlich geförderte Programme erhalten. So ist ein Netz von S-Bahnen und kommunalen Stadtbahnen entstanden (Wegner 2011, S. 96ff.). Die Entwicklung des Straßennetzes im Ruhrgebiet zeigt einige Parallelen zur Entstehungsgeschichte des Eisenbahnnetzes auf, wobei es auf das Netz der mittelalterlichen Handelsstraßen aufbauen konnte. Die Bedürfnisse der Kohle- und Stahlindustrie haben dem Ausbau des Straßennetzes einen entscheidenden Schub gegeben. In den 1970er-Jahren ist das großflächige Autobahnnetz angelegt worden, gefördert durch Bundes- und Landesprogramme. Betrachtet man heute die Pendlerströme im Ruhrgebiet, dann fällt auf, dass eine intensive Pendlerverflechtung zwischen den einzelnen Städten besteht, auch wenn es große regionale Unterschiede gibt. Während die großen Städte des Ruhrgebiets durchweg mehr Einpendler als Auspendler haben, handelt es sich bei den Umlandgemeinden überwiegend um Auspendlergemeinden (Wegner 2011, S. 98). Auffallend ist zudem, dass trotz des äußerst dichten Autobahnnetzes die Streckenbelastungen des Netzes zu den Hauptverkehrszeiten extrem hoch sind und in der Folge zu erheblichen Verkehrsstaus führen. Trotz dieser umfangreichen Verkehrsinfrastruktur in Form des Schienen- und Verkehrsnetzes ist die Verkehrssituation insgesamt unausgewogen: In manchen Bereichen ist die Infrastruktur für bestimmte Verkehrsträger, insbesondere den MIV, überdimensioniert, in anderen Bereichen unterdimensioniert, insbesondere ÖPNV und Radverkehr (Jansen & Schmidt 2017, S. 114ff.). Zukunftswege für eine nachhaltige Mobilität benötigen – gerade in einer polyzentrisch organisierten Region – einerseits eine integrierte Betrachtung von Verkehrsinfrastruktur und Siedlungsentwicklung und andererseits eine Neuausrichtung der Mobilitätsinfrastruktur, die neben technologischen Innovationen auch das Mobilitätsverhalten in den Blick nimmt.
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Industriekultur und Industrienatur als postindustrielles Erbe
Das montanindustrielle Erbe und seine Transformation in Industriekultur ist die zentrale kollektive Erfahrung dieser Region. Das Ruhrgebiet präsentierte sich noch zu Beginn der Internationalen Bauausstellung (IBA) Emscher Park als stark zersiedelte Stadtlandschaft. Sie war reich an Freiflächen, jedoch wurden diese durch Autobahnen, Schnellstraßen, Wasserwege, Bahnlinien und Stromleitungen zerschnitten. Zudem waren viele Flächen durch Altlasten auf ehemaligen Industrieflächen und Deponien belastet. Mit der IBA hat ein mentaler Wandel im Umgang mit der postindustriellen Landschaft stattgefunden. Den beteiligten Akteuren ist klar geworden: Die Stadtlandschaft musste wertvoller werden in den Köpfen der Planer und der Entscheidungsträger (Fachgebiet Städtebau 2008, S. 16). Nun galt es nicht mehr, die Bewahrung der Freiräume von anderen zu fordern, sondern diese aktiv zu gestalten und Zukunftskonzepte zu erarbeiten. „Der Emscher Landschaftspark ist das zentrale Anliegen und das verbindende Thema dieser Bauausstellung. Er soll der Emscher Region mehr landschaftliche Attraktivität und gleichzeitig mehr städtebauliche Ordnung geben“ (IBA Emscher Park Projektkatalog 1999). Der IBA gelangte es, einen neuen Blick auf die Stadtlandschaft des Ruhrgebiets zu werfen und dabei die einmaligen Potenziale zu nutzen. Strategisch ging es um einen grundlegenden Wechsel im Umgang mit der städtischen Natur von einer bisher achtlosen Behandlung als „Restlandschaft“ zu einer wertschätzenden Gestaltung einer neuen städtischen Kulturlandschaft. Räumlich ging es um das Entdecken von Qualitäten, das Integrieren von Brachflächen und die damit verbundene Überwindung von Barrieren, das Verbinden vormals isolierter Landschaftsräume sowie um das Qualifizieren einzelner Flächen und Projekte im Sinne einer hohen ökologischen Funktionsfähigkeit und einer authentischen Gestaltung. Neue Allianzen aus Industrie, Kultur und Natur sind in der IBA-Ära geschaffen worden und prägen noch heute die Charakteristik der Stadtlandschaft. An vielen Stellen ist die Rückeroberung des industriellen Standortes durch die Natur zu einem ökologischen und ästhetischen Merkmal geworden. Alle auch gegenwärtigen Identitätspolitiken für das Ruhrgebiet knüpfen daran an, und so sind die Begriffe der Industriekultur und Industrienatur untrennbar mit dem Ruhrgebiet verbunden. Industriekulturelle Orte und Landschaften sind zudem die atmosphärisch stärksten Orte, sie prägen Bild und Aura des Ruhrgebiets. Diese Wahrnehmung ist verbunden mit einem fundamentalen ästhetischen Lernprozess, den das Ruhrgebiet durchlaufen hat: Die ausgedienten Architekturen des Industriezeitalters samt ihrer ‚ruinierten‘ Landschaften sind nun zu stadt- und landschaftsästhetischen Errungenschaften, zu Ikonen des postindustriellen Ruhrgebiets geworden.
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Polyzentralität als nachhaltiges räumliches Entwicklungsmodell
Das Phänomen von polyzentralen Stadtregionen und der polyzentrischen Raumentwicklung stellt zwar kein neues Feld im Planungsdiskurs dar, es ist jedoch in den letzten Jahren verstärkt in den Fokus gerückt. Dabei richtet sich der Blick zum einen auf die morphologische Raumstruktur und zum anderen auf Planungskonzepte und Governancestrukturen. Die Begriffe der polyzentrischen und der polyzentralen Stadtregion werden gleichermaßen verwendet und synonym verstanden (Growe & Lamker 2012, S. 2). Der Begriff der Polyzentralität meint im Wesentlichen die Existenz von mehreren Zentren, die sich als räumliche oder wirtschaftliche Einheiten von ihrem Umfeld abgrenzen lassen. Zugleich bezieht sich Polyzentralität auf das Verteilungsmuster der Bevölkerung sowie auf die wirtschaftlichen Aktivitäten innerhalb einer Region. Polyzentralität meint also – neben der Siedlungs- und Raumstruktur – eine polyzentrale Verteilung von Verantwortung und Kompetenz auf verschiedene Einheiten und Ebenen innerhalb der Region, die sich in den Organisations-, Verwaltungs- und Governance-Strukturen niederschlägt (Growe & Lamker 2012, S. 6). Von zentraler Bedeutung ist das Verständnis von Städten als Teil eines größeren, meist regionalen Netzwerks, in dem die einzelnen Städte unterschiedliche funktionale Aufgaben und Schwerpunkte übernehmen können. Schwierigkeiten können in polyzentralen Regionen dann entstehen, wenn es keinen Hauptakteur gibt, der eine Führungsrolle übernimmt und Initiativen anstößt (BMVBS 2008, S. 35) oder wenn – wie dies im Ruhrgebiet derzeit der Fall ist – die Kompetenzen einer regionalen Akteurs wie des Regionalverband Ruhr (RVR) angezweifelt werden. Dennoch gelten polyzentrische Stadtregionen als nachhaltige Modelle einer zukunftsfähigen Raumentwicklung. So bieten polyzentrische Strukturen einerseits eine gute Grundlage für Selbststeuerung und Koproduktion öffentlicher Güter und Dienstleistungen, sofern funktionierende Kooperationsstrukturen existieren (WBGU 2016, S. 294); andererseits werden negative Folgen von Transformationsprozessen wie Mietpreisanstieg, Engpässe in der Wohnraumversorgung oder der steigende Entwicklungsdruck auf Freiräume in einem polyzentrischen Raummodell entschärft und verstärkt in den regionalen Kontext umgeleitet.
2.1
Polyzentrale Stadtregion Ruhr
Das Ruhrgebiet ist mit über fünf Millionen Einwohner auf einer Fläche von 4.435 km2 die größte deutsche Agglomeration und die fünftgrößte Europas (Schneider 2009, S. 14ff.). In der Zusammenschau mit den Ballungsräumen an der Rheinschiene ist die Metropolregion Rhein-Ruhr die größte in Europa. Der wohl markanteste Unterschied des Ruhrgebiets zu den klassischen europäischen Industrieregionen ist seine polyzentrische Struktur. Die additive und polyzentrale Siedlungsstruktur hat ihre Ursache in der Entstehungsgeschichte des Bergbaus und wurde befördert durch die starke Einwohnerkonzentration
Herausforderungen einer polyzentrischen Agglomeration Ruhr
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an den dezentral angelegten Orten der Arbeit während der Wachstumsphase. Die polyzentrische Struktur hat die Ortsidentität der Bewohner des Ruhrgebiets historisch stark geprägt (Tenfelde 2002), was im Hinblick auf die Governance des Strukturwandels eine große Herausforderung darstellt. Polyzentral verteilt sind nicht nur die montanindustriellen Anlagen und Wohngebiete, sondern auch die Verwaltungssitze öffentlicher Einrichtungen und Unternehmen, Bildungs- und Kultureinrichtungen sowie Einkaufszentren (Polívka et al. 2017, S. 233). Die Polyzentralität der Agglomeration Ruhr zeigt sich funktional in der Vielfalt unterschiedlich hierarchisierter Orte als ‚Kerne‘ und deren Verbindungen, der ‚Adern‘ zwischen ihnen. Dieser Vielfalt entspricht die kommunale Gebietseinteilung in 53 Kommunen. Sie ist entstanden durch mehrfache kommunale Neugliederungen – im Wesentlichen zwischen 1929 und 1975. Mit der polyzentrischen Genese der Region gehen jedoch auch viele Restriktionen einher, insbesondere die kommunale Zersplitterung ist einer polyzentralen Funktionsverteilung in der Agglomeration wenig förderlich.
2.2
Innerregionale Funktionsteilung
Die innerregionale Funktionsteilung, die sich über Dekaden im Ruhrgebiet herauskristallisiert hat, erschwert aufgrund von Wirtschafts- und Verwaltungsstrukturen in den historisch gewachsenen Teilräumen die Schlagkraft von Maßnahmen (BMWi 2015, S. 4). Hans-Werner Wehling zeigt in seinen Recherchen die verschiedenen Phasen und Prozesses des Strukturwandels auf, die sich unterschiedlich in der Emscherzone und dem südlichen Rand des Ruhrgebietes ausgewirkt haben, und spricht in diesem Kontext von einer „postindustriellen Fragmentierung“ (2010, S. 56) des Ruhrgebiets. Mit dem Stichwort „Kooperation und Eigensinn“ weist Benjamin Davy (2004) darauf hin, dass eine Zusammenarbeit der Städte im Ruhrgebiet sinnvoll ist, wenn sie für jede Stadt nützlich ist. Der Eigensinn der Städte wird aber nicht als Hindernis für eine interkommunale Zusammenarbeit gesehen, sondern als Voraussetzung für flexible und erfolgreiche Anstrengungen in der Agglomeration Ruhr. Will man die Vorteile von Polyzentralität nutzen, dann darf nicht die Hierarchisierung innerhalb der Agglomeration gestärkt werden, sondern es muss eine arbeitsteilige Profilierung erfolgen. Zentren, die im Rahmen eines Städtenetzes eine klare funktionale Unterscheidung durch Spezialisierung erlangen, sind ein Phänomen kompakter polyzentraler Metropolen, die aufgrund einer Konzentration von Nutzungen eine ausgeprägte Arbeits- bzw. Funktionsteilung einzelner Bereiche besitzen. Über eine Spezialisierung einzelner Orte und Knotenpunkte kann ein Bedeutungsüberschuss innerhalb des Siedlungsgefüges generiert werden, der zu Synergieeffekten führt, vorausgesetzt die räumliche und zeitliche Nähe ist entsprechend gewährleistet. Das Nebeneinander von Städten innerhalb einer Region ist zwar kein Alleinstellungsmerkmal des Ruhrgebiets, diese enorme Dichte an souveränen Groß-, Mittel- und Kleinstädten ist jedoch in Deutschland und womöglich auch in Europa ohne Beispiel. Während für viele europäische Ballungsräume die Schaffung von mehr Polyzentralität zu den wichtigsten langfristigen Ziel577
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vorstellungen zählt, findet man dies im Ruhrgebiet bereits als Ausgangsbedingung für die künftige Entwicklung vor. Auch wenn sie vor Ort mitunter kritisch gesehen wird, weil das lange Zeit wenig koordinierte Handeln der einzelnen Städte als Entwicklungshemmnis für die gesamte Region gesehen wird, und Wissenschaftler auf die Problematik der Fragmentierung und Zersplitterung im Zusammenhang mit einer gemeinsamen Planungsstrategie hinweisen, dürfte die ausgeprägte räumliche Polyzentralität auch in Zukunft grundlegend sein.
3
Zukunftsstrategien eines regionalen Städtebaus
Mit dem Paradigmenwechsel einer schrumpfenden und stagnierenden Region hin zu neuem Wachstum von Bevölkerung und Wirtschaft sind in dieser polyzentrischen Agglomeration viele Herausforderungen und Chancen verbunden, wie im Folgenden gezeigt wird.
3.1
Maßvolle Urbanisierung der Kerne
Polyzentralität hat das Potenzial, in einem kleinräumigen Maßstab Urbanität zu befördern und entstehen zu lassen. Dies gilt zunächst für die Kerne oder Knoten der Region. Sie beschränken sich nicht notwendigerweise nur auf die tradierten städtischen Zentren, die mitunter aufgrund der rasanten Urbanisierung des Gebiets im 19. und 20. Jahrhundert noch gar keine lange Tradition haben, sondern umfassen vor allem jene Räume des Ruhrgebiets, die sich auch künftig für eine stärkere Urbanisierung bzw. Reurbanisierung eignen. Dort stehen höhere Nutzungs- und atmosphärische Dichten im Vordergrund sowie die Konzentration jener Aspekte zeitgemäßer Urbanität, die den immer wieder formulierten Anspruch, „Metropole“ werden zu wollen, auch plausibel und erlebbar machen. Kaum ein Stadtzentrum im Ruhrgebiet hat keine freien oder untergenutzten räumlichen Potenziale und auch die wenigen, großstädtisch anmutenden Stadtquartiere haben Reserven für eine weitere Intensivierung des Großstadtlebens. Die „Nachverdichtung“ solcher Kerne – ein Wort, das außerhalb der Planerwelt einen zweifelhaften Ruf genießt – zielt daher nicht auf eine einseitige Spezialisierung mit den immer gleichen Funktionen, sondern auf ihre funktionale Anreicherung, auf ein höheres Maß an Diversität.
3.2
Lebendige Universitätsviertel
Das Ruhrgebiet zählt mit über 280.000 Studierenden, ca. 2.600 Professorinnen und Professoren sowie rund 600 Studiengängen (Roters et al. 2019, S. 69) europaweit mittlerweile zu den dichtetesten Hochschullandschaften. Die jungen Menschen und dieses kreative Potenzial gilt es – über die Phase des Studiums hinaus – an das Ruhrgebiet zu binden und ihnen interessante Arbeitsmöglichkeiten und ein spannendes Umfeld anzubieten.
Herausforderungen einer polyzentrischen Agglomeration Ruhr
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Aber es geht auch konkret um die Hochschul- und Universitätsviertel an sich. Es sind, um einen Raumtypus jenseits etablierter Stadtzentren herauszugreifen, gerade die Standorte von Bildungseinrichtungen, die sich für eine gezielte Urbanisierung eignen – mit mehr Nutzungen, mehr Diversität. Viele Hochschulen des Ruhrgebiets sind in den 1960er- und 1970er-Jahren als monofunktionale Betriebsflächen entstanden, bestenfalls ergänzt um einige hochschulnahe Wohnviertel (wie beispielsweise in Bochum) oder, ab den 1980erJahren, um großflächige, genauso monofunktionale Technologie- und Wissenschaftsparks (wie in Dortmund). Als wichtigste Produktionsstätten von „Zukunft“ sind sie aber zugleich mögliche Katalysatoren für weitere Stadtentwicklung: Sie können zu lebendigen, auch über die Region hinaus attraktiven Universitätsvierteln des Ruhrgebiets werden. Mit dem Masterplan für die Ruhr-Universität Bochum schreitet die Stadt Bochum voran, um den Universitätsstandort zu einem Baustein ihrer Wissenschaftsstadt zu entwickeln und stärker in dem urbanen Kontext zu vernetzen. Die übergeordnete regionale Forschungsklammer bildet die Universitätsallianz Ruhr, in der die Ruhr-Universität Bochum, die TU Dortmund sowie die Universität Duisburg-Essen inhaltlich und organisatorisch verschränkt werden.
3.3
Regionale Leitplanke „Grünzüge“
Die Kerne oder Knoten des polyzentrischen Ruhrgebiets sind miteinander zu verbinden: zum einen mit leistungsfähiger Infrastruktur, zum anderen mit ästhetisch hochwertigen regionalen Räumen (Straßen, Flüsse, Grünzüge etc.), wie dies bereits im Rahmen der IBA Emscher Park, im Kontext der Europäischen Kulturhauptstadt RUHR.2010 und dem regionalen Diskurs zum Regionalplan thematisiert worden ist. Diese regionalen Räume gelten zu Recht als eines der zentralen Betätigungsfelder regionalen Städtebaus, weil sie für die Stadtästhetik des Ruhrgebiets so eminent bedeutsam sind. Allerdings werden – womöglich aus der Perspektive der klassischen Regional- oder technischen Infrastrukturplanung – die Verbindungen noch allzu häufig als Linien gedacht und begriffen, jedoch nicht als dreidimensionale Stadt- bzw. Landschaftsräume. Eine überzeugende Qualifizierung dieser verbindenden Landschaftsräume muss hier die überholte Perspektive des zweidimensionalen Planens hinter sich lassen und die Erlebbarkeit dieser Räume stärken. Die historisch, geologisch, topografisch und hydrologisch bestimmten Landschaftszüge der Region können gemeinsam eine Palette unterschiedlicher Landschaftstypen formen, die zum Selbstverständnis und zur besseren Lebensqualität der Bewohner der Region beitragen kann. Alle Zutaten, die für ein Gerüst von attraktiven Freiräumen erforderlich sind, sind bereits heute vorhanden, sie müssen lediglich in Wert gesetzt werden. Eine wichtige Aufgabe wird es jedoch sein, die Fragmente der Landschaft in Zukunft richtig zu lesen und sie in einen sinnfälligen Zusammenhang zu stellen. Eine zentrale Rolle spielt dabei, die Landschaft erlebbar zu machen; erlebbar machen bedeutet, eine Wertigkeit zu schaffen, die über die reine Funktionalität wie Freizeitnutzung, Biotope, Ausgleichsflächen, Verkehrsflächen und landwirtschaftliche Flächen hinausgeht.
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Abb. 4
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Regionale Leitplanke Grünzüge. Beitrag zum Ideenwettbewerb Ruhr 2013, Next Ruhr (RHA 2013)
Die Devise „Stadtentwicklung mit attraktiven Freiräumen“ gilt auch und gerade für die inneren Stadtränder des Ruhrgebiets: Stadtrandlagen sind vor allem deshalb attraktiv, weil sie interessante Raumerlebnisse bieten (im Wald, am Bach, auf der Obstwiese etc.) – Qualitäten, die innerstädtische Quartiere eher selten vorweisen können. Wenn diese nahezu allgegenwärtige Verzahnung von Siedlungs- und Freiraum nicht nur eine überwiegend theoretische Qualität (‚Potenzial‘) des Ruhrgebiets bleiben soll, müssen diese urbanen Freiräume mit ähnlicher Aufmerksamkeit bedacht werden wie die klassischen Stadträume (Straßen, Plätze etc.). Dass erfolgreicher Städtebau immer häufiger mit qualitätsvollen Freiräumen beginnt, ist nicht nur bei den laufenden Stadtumbauprojekten im Ruhrgebiet unübersehbar, sondern wurde bereits zu einer generellen Maxime der Stadtentwicklung.
3.4
Regionale Leitplanke „Mobilität“
Neben den Grünzügen kommt der Mobilität als regionale Leitplanke eine große Bedeutung zu. Das Ruhrgebiet von heute ist eine ‚Autofahrer-Metropole‘ mit begrenzten Möglichkeiten im öffentlichen Verkehr und oftmals schlechten Möglichkeiten der Vernetzung für Radfahrer und Fußgänger. Viele Bereiche sind so unbefriedigend abgedeckt, dass Arbeitsstätten und Wohngebiete in der dispersen, wenig dichten Agglomeration Ruhr nur mit dem Auto verbunden werden. Eine neue Mobilitätstrasse – eine Infinity-Line/ Unendlichkeitstrasse – die Zentren unterschiedlicher Hierarchie miteinander verbindet,
Herausforderungen einer polyzentrischen Agglomeration Ruhr
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ein Trassenverlauf, der auch der Tiefe des Raums besser gerecht wird als die bisherigen von Ost nach West verlaufenden Trassen.
Abb. 5
Regionale Leitplanke Mobilität. Beitrag zum Ideenwettbewerb Ruhr 2013, Next Ruhr (RHA 2013)
Der Radschnellweg RS1 stellt einen wichtigen Mobilitätsbaustein in Ost-West-Richtung dar, der entsprechend angebunden sein muss, um seine Potenziale entfalten zu können. Hinzu kommen die Mobilitäts-Hubs als Verbindungs- und Vernetzungselemente in den Raum. Ein optimiertes ÖPNV-System muss sowohl im Bereich Geschwindigkeit und Zuverlässigkeit als auch im Bereich der Kosten eine profundere Alternative zum Auto darstellen. Auf längere Sicht wird die Flexibilität eine immer wichtigere Rolle spielen – hier können über ein differenziertes Mobilitätsträgerangebot an entscheidenden HUBs wichtige Weichen gestellt werden. Mobilitäts-HUBs können verschiedene Aspekte einer modernen Infrastruktur für Verkehr und deren Vernetzung vereinen. Größe und Hierarchie der HUBs müssen sich nach der Menge der Nutzer, der Dichte und dem Ort an sich richten. HUBs können auf unterschiedlichen räumlichen Ebenen verschiedene soziale Funktionen, als Ort der Begegnung und Fortbewegung, übernehmen – dies reicht von Nachbarschaften bis zu lebhaften, urbanen Kristallisationspunkten. Ein weiteres Merkmal ist die Hierarchisierung unterschiedlicher Verkehrsträger und -mittel, zwischen denen problemlos und barrierefrei gewechselt werden kann. Der Fokus liegt hierbei auf Effektivität und langfristigen nachhaltigen Strukturen, die einen Modal 581
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Split, d. h. eine Verschiebung hin zu nachhaltigen Wegen der Mobilität wie dem (E-)Bike oder ÖPNV, fördern. Die HUBs als Anknüpfungs- und Verbindungselemente in einem großen System liefern Echtzeitinformationen über mögliche (Reise-)Routen, Wartezeit und Optionen. Das Design eines solchen digitalen Systems mit Fokus auf den Nutzer stellt ein großes Potenzial für Regionen dar, indem es den technologischen Fortschritt widerspiegelt.
3.5
Städtebau gegen großräumige Benachteiligungen
Seit den 1990er-Jahren ist vieles, was die Lebensqualität im Ruhrgebiet – und gerade auch in den Städten entlang der Emscher – betrifft, besser, vieles aber auch nach wie vor unverändert oder sogar schwieriger geworden. Die hohen Arbeitslosenquoten zeigen noch nicht einmal das ganze Ausmaß des Problems, denn auch viele derjenigen, die Arbeit haben, können der Armut nicht entkommen. Die Kommunen selbst stehen immer häufiger am Rande der Handlungsunfähigkeit (Reicher 2013). Auch auf regionaler Ebene finden räumliche Segregationsprozesse statt. Gerade dort, wo sich im regionalen Maßstab städtebauliche Benachteiligungen häufen, ist die Verantwortung der Region als Ganzes besonders groß, in gegebenenfalls neue städtebauliche Ansätze zu investieren. Die Realisierung des Neuen Emschertals ist dafür das prägnanteste Exempel: Die geplante Transformation dieses Raums ist nicht nur eine gigantische Infrastrukturinvestition, sondern von Beginn an mit dem Anspruch verbunden gewesen, stadträumliche Benachteiligungen des Emscherraums abzubauen und einen ganz neuen Typ von urbaner Kulturlandschaft zu entwickeln, der mit der naturräumlichen Gunst beispielsweise des Ruhrtals durchaus konkurrieren kann. Pilotprojekte wie „Glückauf Nachbarn – Modellquartier Integration“, die von RAG Montan Immobilien und VIVAWEST 2017 initiiert worden sind, zeigen auf, wie eine nachhaltige Erneuerung von Quartieren konzeptionell angegangen werden kann. Solche integrierten ganzheitlich gedachten Lösungsansätze, die auf eine soziale und kulturelle Integration unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen abzielen, müssen in der regionalen Breite Anwendung finden.
3.6
Das Quartier als Handlungsebene
Nicht die Städte selbst, sondern die Quartiere stehen im Mittelpunkt des Prozesses zur Ideengenerierung. Diese teilräumliche Ebene hat sich im Laufe der Geschichte als Einheiten von Nachbarschaft herausgebildet und ist sowohl Bezugs- als auch Handlungsraum für die Bewohnerinnen und Bewohner vor Ort. Dort fühlen sich die Menschen angesprochen. Im Quartier mit seinem Wohnumfeld liegt das Potenzial zur Aktivierung möglicher Ansätze für die lokale Ökonomie, für das soziale Netzwerk sowie für die Nahmobilität. Im regionalen Maßstab der 53 Städte und Kreise wird die Arbeits- und Produktionswelt, der verbindende Freiraum und ein regionales Verkehrsnetz weitergedacht (siehe regionale
Herausforderungen einer polyzentrischen Agglomeration Ruhr
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Leitplanken). Die Region lässt sich als ein dichtes und unmittelbares Nebeneinander von Schrumpfen, Warten und Wachsen beschreiben, als ein Mosaik aus unterschiedlichen Quartieren, deren Qualitäten und Begabungen es wertzuschätzen gilt. Die unterschiedlichen Funktionen, Begabungen und Rollen der Quartiere innerhalb der Region müssen im Sinne der Polyzentralität und Vielfalt herausgearbeitet werden. Die vorhandenen räumlichen Grenzen sind hierbei ein wesentlicher Faktor. Das Quartier im Kontext des polyzentrischen Gesamtgefüges stellt eine gute Basis dar, um örtliche Identitäten zu bewahren oder entstehen zu lassen. Hier kann sich – stärker als auf der städtischen Ebene – bürgerschaftliche Zusammenarbeit entfalten und zugleich das passgenauere Zukunftskonzept geschneidert werden.
4
Die wirkliche Wirklichkeit der Agglomeration Ruhr?
Wenn Gerhard Spörl sein Buch Groß Denken, Groß Handeln mit den Worten beginnt: „Mein Ruhrgebiet, das ist der wunderbare Landschaftspark Duisburg-Nord, der einmal ein riesiges Stahlwerk war“ (2017, S. 7), dann steht diese Aussage für den enormen Transformationsprozess, den das Ruhrgebiet in der lokalen und internationalen Wahrnehmung durchgemacht hat. In der Folge der Internationalen Bauausstellung (IBA) Emscher Park sind viele Großprojekte der Transformation von einem ehemaligen Kohl- und Stahlstandort hin zu einem neuen Quartier oder Stadtteil realisiert oder auf den Weg gebracht worden. Der Phoenixsee in Dortmund, ein Stadtteil, der auf dem Areal eines ehemaligen Stahlwerks in Dortmund-Hörde entwickelt wurde, steht Pate für eine nachhaltige Stadtentwicklung mit regionaler Ausstrahlung. Mit dem Blick auf die Entwicklung von einzelnen Standorten hat das Ruhrgebiet jede Menge Erfolgsprojekte vorzuweisen. Weitaus schwieriger gestaltet sich die regionale Koordination von Planungsvorhaben und insbesondere die Aufstellung eines einheitlichen Regionalplans, dem es nach vielen Jahrzehnten der zersplitterten räumlichen Zuständigkeiten und dem teilräumlicher Planwerk gelingt, verbindliche Aussagen zur Sicherung von Freiräumen, zur Ausweisung von Gewerbe- und Siedlungsflächen etc. zu machen. Die Diskussion um regionale Kooperationsstandorte, differenziert nach unterschiedlichen Flächengrößen, hat gezeigt, wie schwierig ein Konsens über die kommunalen Grenzen hinweg zu sein scheint.
4.1
Regionaler Maßstab von städtebaulichen Visionen
Errungenschaften, also die städtebaulichen Visionen für das Ruhrgebiet, beziehen sich notwendigerweise auf den regionalen Maßstab, sind also nicht das Gleiche wie städtebauliche Visionen für diese oder jene Stadt innerhalb der Region. Im Vordergrund steht die ‚Architektur‘ dieser Region als Ganzes, also das, was sie trägt und repräsentiert. 583
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An dem Vorhaben IGA 2027 Internationale Gartenausstellung Metropole Ruhr lässt sich veranschaulichen, wie die lokalen IGA-Orte auf eine regionale städtebauliche Vision einzahlen können. Die IGA 2027 wird von den 53 Kommunen und vier Kreisen der Metropole Ruhr, von Verbänden wie Emschergenossenschaft (2006, 2015) und Lippeverband sowie der regionalen Wirtschaft und Zivilgesellschaft getragen. Die Allianzen zwischen den Städten nehmen Form an. So bringen die Städte Oberhausen, Mülheim und Duisburg das Gemeinschaftsprojekt Parklandschaft Ruhr auf den Weg. An unterschiedlichen Standorten – von Duisburg bis Dortmund – werden derzeit konkrete städtebauliche Visionen für Zukunftsgärten erarbeitet, die regionale Antworten auf die Fragen liefern sollen: Wie wollen wir morgen leben? Wie wollen wir wohnen? Wie wollen wir arbeiten? Die Kraft entsteht in der interkommunalen Kooperation sowie nicht zuletzt in den räumlichen und konzeptionellen Antworten, die der Laborraum Ruhr auf die drängendsten Zukunftsfragen formulieren muss.
4.2
Von der Notwendigkeit eines Quantensprungs
Zu den drängendsten Fragen, die keinesfalls an den Stadtgrenzen haltmachen, gehören Klimawandel und -anpassung. Wissenschaftler empfehlen den Weg einer ‚grünen‘ Reindustrialisierung im Sinne einer Transformationsstrategie, welche die Agglomeration Ruhr als Werkbank diverser Technologien zur Nutzung erneuerbarer Energien ausbaut, Ressourceneffizienz fördert und eine nachhaltige Verkehrsinfrastruktur entwickelt (WBGU 2016, S. 295). Vor diesem Hintergrund bieten die polyzentrische Struktur und die interkommunalen Kooperationen ein gutes Fundament, um diese Strategien umzusetzen. Jede Zukunftsvision muss auf die polyzentrische Siedlungsstruktur und damit auf die spezifische Urbanität als Ausgangspunkt und Fundament aufsatteln. Mit dem Wissen um derartige Besonderheiten und Eigenarten sind künftige städtebauliche Strategien für die Region zu entwickeln. Visionen, Strategien und städtebauliche Konzepte sollten bezogen auf das Ruhrgebiet jedoch nicht alleine auf den bereits vorhandenen Charakter fokussieren (‚Stärken stärken‘), sondern ausgehend von neuen urbanen Herausforderungen auch neue unverwechselbare Qualitäten umfassen und einen Quantensprung wagen. Nimmt man den Anspruch ernst, eine umweltgerechte und klimaneutrale Agglomeration zu werden, dann geht das keinesfalls mit der Strategie ‚business as usual‘ – das kann nur gelingen, wenn die Potenziale der polyzentrischen Konstitution genutzt werden und die Teilstrategien auf die große Vision einzahlen. Unabhängig von der Erkenntnis, dass das „Ruhrgebiet besser als sein Ruf“ sei (Roters et al. 2019), mangelt es nach wie vor an einer konkreten Vision, welche die wünschenswerten Qualitäten illustriert, den Schulterschluss zwischen der Quartiersebene und dem regionalen Kontext aufzeigt und die Entwicklungsprinzipien für eine nachhaltige und attraktive Agglomeration konkret benennt – und das möglichst im Einklang mit einer ehrgeizigen zeitlichen Roadmap!
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Literatur Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung [BMVBS] (2008). Metropolregionen – Chancen der Raumentwicklung durch Polyzentralität und regionale Kooperation. Voraussetzungen für erfolgreiche Kooperationen in den großen Wirtschaftsräumen der neuen Länder am Beispiel der Metropolregion Sachsendreieck. Bonn: BMVBS (Werkstatt: Praxis 54). Bundesministerium für Wirtschaft und Energie [BMWi] (2015). Lehren aus dem Strukturwandel im Ruhrgebiet für die Regionalpolitik. Endbericht der Prognos AG in Zusammenarbeit mit dem InWISInstitut. Bremen, Berlin, Bochum: Prognos. Cox, K.-H., & Reicher, C. (2017). Wohnkultur und Siedlungskultur gestalten – soziale und baukulturelle Aufgaben. In J. Polívka, C. Reicher & Ch. Zöpel (Hrsg), Raumstrategien Ruhr 2035+. Konzepte zur Entwicklung der Agglomeration Ruhr (S. 59‒90). Dortmund: Kettler. Davy, B. (2004). Die Neunte Stadt. Wilde Grenzen und Städteregion Ruhr 2030. Wuppertal: Müller und Busmann. Emschergenossenschaft (2006). Masterplan „Emscher-Zukunft“. Essen. https://www.eglv.de/emscher/ masterplan/. Zugegriffen: 16. September 2020. Emschergenossenschaft et al. (Hrsg.). (2015). Landesgartenschau „Emscherland 2020“. Wasser. Wege. Wandel. Essen. Fachgebiet Städtebau, Stadtgestaltung und Bauleitplanung, TU Dortmund (2008). Internationale Bauausstellung Emscher Park. Die Projekte 10 Jahre danach. Essen: Klartext. Growe, A., & Lamker, C. (2012). Polyzentrale Stadtregion – die Region als planerischer Handlungsraum. Arbeitsbericht der ARL 3. Hannover: Akademie für Raumforschung und Landesplanung. Internationale Bauausstellung Emscher Park (Hrsg.). (1999a). Katalog der Projekte. Essen. Internationale Bauausstellung Emscher Park (Hrsg.). (1999b). Die Erfahrungen der IBA Emscher Park. Programmbausteine für die Zukunft. Gelsenkirchen. Internationale Bauausstellung Emscher Park (Hrsg.). (1999c). Nationalpark der Industriekultur im Ruhrgebiet. Entwurf. Gelsenkirchen. Polívka, J., Reicher, C., & Zöpel, Ch. (2017). Zukunftswege der Agglomeration Ruhr. In: Diess. (Hrsg), Raumstrategien Ruhr 2035+. Konzepte zur Entwicklung der Agglomeration Ruhr (S. 227‒260). Dortmund: Kettler. Polívka, J., & Roost, F. (2011). Kerne, Adern und Ränder: Siedlungs- und Bebauungsstruktur des Ruhrgebiets. In C. Reicher, K. R. Kunzmann, J. Polívka, F. Roost, Y. Utku & M. Wegener (Hrsg.), Schichten einer Region – Kartenstücke zur räumlichen Struktur des Ruhrgebiets (S. 38−78). Berlin: Jovis. Reicher, C. (2013). Aufwertung versus Verdrängung. Kann es einen Wandel des Emschertals ohne Gentrifizierung geben? 15. März 2013. EMSCHERplayer. http://www.staedtebauleitplanung.de/ wp-content/uploads/2013/03/ID_84482_aufwertung_versus_verdraengung_emscherplayer.pdf. Zugegriffen: 16. September 2020. Roters, W., Seltmann, G., & Zöpel, C. (2019). RUHR. Vorurteile – Wirklichkeiten – Herausforderungen. Essen: Stiftung Mercator GmbH Schneider, H. (2009). Das Ruhrgebiet in Europa. In A. Prossek, H. Schneider, B. Wetterau, H. A. Wessel & D. Wiktorin (Hrsg.), Atlas der Metropole Ruhr. Vielfalt und Wandel des Ruhrgebiets im Kartenbild (S. 14‒15). Köln: Emons. Spörl, G. (2017). Groß denken, groß handeln. München: Piper. Tenfelde, K. (2002). Ruhrstadt. Visionen für das Ruhrgebiet. Essen: Klartext. Wehling, H.-W. (2010). Die Entwicklung des Ruhrgebiets im Spiegel regionaler Strukturmodelle. Mitteilungen der Essener Gesellschaft für Geografie und Geologie, 1, 47‒58. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen [WBGU] (2016). Der Umzug der Menschheit: Die transformative Kraft der Städte. Berlin: WBGU. Zöpel, Ch. (2005). Weltstadt Ruhr. Essen: Klartext. 585
Industrie und Nachhaltigkeit für eine starke Ruhrbanität Franz Lehner
Eine radikale, aber noch machbare Strategie zu einer international wettbewerbsstarken Region und einer wirklichen Metropole Ruhr1 Der von Jan Polívka, Christa Reicher und Christoph Zöpel geprägte Begriff der „Ruhrurbanität“ beschreibt in einem einzigen Wort das Ziel des Strukturwandels des Ruhrgebiets: die Entwicklung von einem durch die Montanindustrie definierten Gebiet zu einer Agglomeration mit einer klaren urbanen Identität. Sie beschreiben diesen Weg durch sechs strategische Schwerpunkte, nämlich „die Weiterentwicklung der polyzentralen Siedlungsstrukturen mit dem Ziel der Steigerung von Urbanität, eine nachhaltige polyzentralitätsgerechte Mobilität, die Lösung sozialer und demographischer Herausforderung durch Erziehung, Bildung und lebenslanges soziales und fachliches Lernen, eine wissensbasierte Ökonomie, eine nachhaltige Energiewirtschaft, und innere Dezentralisierung und gleichzeitig ausstrahlende Metropolenzentralität mit entsprechender politischer Institutionalisierung bei nachhaltiger Finanzierung.“ (Polívka et al. 2017, S. 15)
Die Forderung nach einer eigenständigen Ruhrurbanität wird begründet durch die historischen, räumlichen und funktionalen Bedingungen des Ruhrgebietes, durch die es sich grundlegend von den großen europäischen Städten unterscheidet. Die großen Städte Europas haben ihre heutige Stellung vor allem durch die Dienstleistungsfunktionen erlangt, die sie seit der frühen Neuzeit entwickelt haben. Ihre Urbanität ist mit diesen Funktionen untrennbar verbunden. Die Urbanität des Ruhrgebiets muss dagegen aus seiner montanindustriellen Geschichte und den daraus entstandenen Strukturen (und Potenzialen) heraus
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Dieser Beitrag profitiert viel von anregenden Gesprächen mit Manfred Beck, Julia Frohne, Heinz-Peter Heidrich, Rolf Heinze, Michael Krüger-Charlé, Frank Levermann, Hans-Peter Noll, Uli Paetzel, Christa Reicher und Eberhard Schmidt. Ein besonders wichtiger Aspekt dieser Gespräche war der Versuch, trotz der Einsicht in die Schwierigkeiten des Ruhrgebiets und seiner Entscheidungsstrukturen mit dem Strukturwandel einen realistischen Weg in eine bessere Zukunft zu finden. Ilse Führer-Lehner und David Lehner danke ich für eine gründliche Korrektur meines Manuskripts und hilfreiche inhaltliche Anregungen.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_40
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entwickelt werden. Deshalb kann das Ruhrgebiet nicht einfach den Weg der europäischen Stadt nachahmen und auch keine Metropole werden, wie Paris, Berlin, Zürich oder Rom (Polívka et al. 2017; Lehner & Noll 2016). Karl Ganser hat das klar formuliert, dabei aber dem Ruhrgebiet auch eine neue Perspektive eröffnet: „Um als ‚klassische Metropole‘ gelten zu können, fehlen im Ruhrgebiet […] so ziemlich alle Voraussetzungen. Nun muss das Ruhrgebiet deshalb nicht mit seiner eigenen Geschichte hadern, denn die ‚klassische Metropole‘ ist eine historische Kategorie, die in der modernen Welt ein ‚Auslaufmodell‘ darstellt.“ (2000, S. 169)
Ich teile diese Einschätzung und beschreibe in dem vorliegenden Beitrag eine zwar anspruchsvolle, aber machbare Alternative: die Entwicklung einer neuen industriellen Urbanität und einer nachhaltigen Metropole des 21. Jahrhunderts.
Holz- und Königswege zur Metropole Ruhr Der bisherige Strukturwandel im Ruhrgebiet ist mit einer massiven Deindustrialisierung verbunden, ohne dass sich im Ruhrgebiet eine international wettbewerbsstarke und zukunftsträchtige Dienstleistungswirtschaft entwickelt hat. Der Dienstleistungssektor im Ruhrgebiet ist überwiegend geprägt durch Branchen mit geringer Wissens- und Technologieintensität. Er unterscheidet sich dadurch grundlegend von der Struktur der Dienstleistungswirtschaft in den internationalen Dienstleistungsmetropolen. Das Ruhrgebiet hat auf absehbare Zeit keine Chancen, zu diesen Metropolen aufzuschließen. Trotz scheinbar beeindruckenden Beschäftigungszahlen kann der Dienstleistungssektor die durch die Deindustrialisierung erzeugten Verluste bei der Wachstums- und Wohlstandsdynamik nicht kompensieren. Deshalb wird die Deindustrialisierung im Ruhrgebiet von einer hohen Langzeitarbeitslosigkeit, einem großen Niedriglohnsektor und einer überdurchschnittlichen Armut, insbesondere Kinderarmut, begleitet (Bogumil et al. 2012). Selbst die als Jobmotor und Zukunftsbranche des Ruhrgebiets gefeierte Gesundheitswirtschaft ist im Hinblick auf Wertschöpfung und Innovation kein starker Treiber von Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität. Das liegt insbesondere daran, dass sich die Beschäftigung in der Gesundheitswirtschaft lauf Business Metropole Ruhr (2019) zu mehr als 90 % auf die Bereiche stationäre und ambulante Versorgung sowie gesundheitsrelevanten Handel und Sport sowie Sozialwesen und Pflege konzentriert. Dagegen ist das Ruhrgebiet bei medizintechnischen und pharmazeutischen Produkten sowie wissensbasierten Dienstleistungen ziemlich schwach. Das sind aber die Bereiche, die das eigentliche Potenzial der Gesundheitswirtschaft für Innovation, Wachstum und Wohlstand bilden. Das Marktpotenzial des Ruhrgebiets hat bisher nicht dazu geführt, dass sich auch diese Bereiche im Ruhrgebiet stark entwickeln (Baas 2019; Böttinger & Pulitz 2019; Schulz 2019).
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Gerade an der Gesundheitswirtschaft lässt sich erkennen, dass die Tertiarisierung eher ein Holz- als ein Königsweg für den Wandel des Ruhrgebiets darstellt. Es ist nicht der Weg, auf dem das Ruhrgebiet innerhalb etwa einer Dekade zu einer international wettbewerbsstarken Region werden kann, wie es die Zukunftsstudie der RAG-Stiftung (2016) verlangt. Es ist auch nicht der Weg, auf dem das Ruhrgebiet zu einer wirklichen Metropole werden kann. Der Königsweg besteht vielmehr in einer Reindustrialisierung, die zu einer engen Verknüpfung von industrieller Produktion und Dienstleistungen führt. Dabei müssen die Entwicklungspotenziale des industriellen Kerns des Ruhrgebiets mit den Stärken und Marktpotenzialen seiner Dienstleistungsbereiche verbunden werden. Ein Beispiel: Der industrielle Kern des Ruhrgebiets hat beträchtliche Stärken und Potenziale im Bereich Werkstoffe, insbesondere auch Biowerkstoffe. Viele dieser Stoffe sind für die Gesundheitswirtschaft wichtig und zukunftsträchtig. Die Verbindung der einschlägigen Werkstoffindustrie mit der Gesundheitswirtschaft, insbesondere der ambulanten und stationären Versorgung, über gemeinsame Projekte oder die gemeinsame Förderung von Existenzgründungen und andere Kooperationsformen, bietet für beide Seiten Synergie- und Innovationspotenziale. So können gemeinsame offene Innovationssysteme beiden Seiten wichtige Innovationsanstöße bieten, Zusammenarbeit für eine frühe Markteinführung und Erprobung von neuen Werkstoffen und Verfahren kann auf beiden Seiten wichtiges Erfahrungswissen und damit Wettbewerbsvorteile schaffen. Ähnliche Situationen bestehen, wie im Folgenden noch dargestellt wird, in Bezug auf die meisten der im Wirtschaftsbericht Ruhr aufgeführten Leitmärkte. Die Reindustrialisierung des Ruhrgebiets und die Verbindung von Industrie und Dienstleistungen müssen zwingend innerhalb von wenigen Jahren den Bedingungen einer nachhaltigen Entwicklung genügen. Regionen, die diese Bedingungen nicht erfüllen, haben kaum Chancen, im internationalen Wettbewerb eine starke Position zu erlangen und zu halten. Das ist gerade für das Ruhrgebiet eine große Herausforderung, zumal sich Nachhaltigkeit weder im Ruhrgebiet noch anderswo allein auf ökologische Bedingungen beschränken kann, sondern wirtschaftliche und soziale Bedingungen mit einbeziehen muss. Hohe Ressourcenproduktivität und die Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen müssen einhergehen mit einer starken Wissensökonomie, die in der Lage ist, den Lebensstandards der breiten Masse der Bevölkerung zu sichern und zu verbessern. Dabei muss die soziale Kohäsion, definiert als Fähigkeit der Gesellschaft, Entscheidungen zu treffen, die weithin akzeptiert sind, gewahrt werden. Ökologische Nachhaltigkeit ist gerade in demokratischen Gesellschaften nur im Verbund mit wirtschaftlicher und sozialer Nachhaltigkeit erreichbar. Sie scheitert sonst an der mangelnden Bereitschaft vieler gesellschaftlicher Akteure, sich auf ökologische Nachhaltigkeit einzulassen, an vielen Widerständen und an vielen kleinen und großen Konflikten. Die Verknüpfung von ökologischer mit wirtschaftlicher und sozialer Nachhaltigkeit, die oft als dreifache Nachhaltigkeit bezeichnet wird, entspricht dem weithin akzeptierten Nachhaltigkeitskonzept der UNO Weltkommission für Umwelt und Entwicklung (Brundtland-Kommission). In ihrem Bericht Our Common Future wird Nachhaltigkeit 589
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definiert als eine Entwicklung, welche den gegenwärtigen Generationen die Befriedigung ihrer Bedürfnisse erlaubt, ohne dadurch die Möglichkeiten zukünftiger Generationen zu beschränken, wiederum ihre Bedürfnisse zu befriedigen (United Nations 1987, 2015). Die Forderung nach dreifacher Nachhaltigkeit scheint die Anforderung an Strategien und Maßnahmen für eine nachhaltige Entwicklung massiv zu verschärfen. Das ist jedoch nicht zwingend der Fall. Im Gegenteil: Mit geeigneten, längerfristig angelegten Strategien ist die Verknüpfung der drei Dimensionen gerade auch der ökologischen Entwicklung förderlich. Die Entwicklung und Durchsetzung solcher Strategien sind zugegebenermaßen im Rahmen der üblichen politisch-administrativen Strukturen in Deutschland und anderen westlichen Ländern schwierig. Das Ruhrgebiet hat jedoch mit seinen Dekadenprojekten – der IBA Emscher Park, der Kulturhauptstadt, des Emscher-Umbaus und auch des Abbaus des Steinkohlebergbaus – institutionelle und organisatorische Form gefunden, die durchaus geeignet sind, effektive Nachhaltigkeitsstrategien zu entwickeln und zu implementieren.
Das Ziel: Eine international wettbewerbsstarke Metropole Die Zukunftsstudie der RAG-Stiftung (2016) ist ein interessantes Lehrstück über den Strukturwandel im Ruhrgebiet. Die Studie enthält für das Ruhrgebiet eine harte Botschaft: das Ruhrgebiet schafft es, entweder innerhalb etwa einer Dekade zu einer international wettbewerbsfähigen Region zu werden oder es droht, zu einem wirtschaftsschwachen, peripheren Raum abzusinken. Diese Botschaft wurde nach meiner Wahrnehmung in den einschlägigen Kreisen und den Medien breit zur Kenntnis genommen und hat auch Debatten angestoßen. Es dürfte den meisten relevanten Akteuren klar gewesen sein und immer noch klar sein, dass die Botschaft der Studie ebenso richtig wie anspruchsvoll ist. Es gab auch die Einsicht in die Notwendigkeit einer Bündelung der Kräfte und eines gemeinsamen Kraftaktes möglichst vieler Akteure. Dieser Kraftakt kam jedoch nur in Ansätzen in Form der Ruhrkonferenz der Landesregierung zustande. Diese hat eine ganze Reihe interessanter Ideen und Projekte hervorgebracht, aber kein kohärentes, auf klare Ziele ausgerichtetes Handlungsprogramm oder gar ein großes Projekt, mit dem die Kräfte und Potenziale des Ruhrgebiets gebündelt werden könnten. Auch in Wirtschaft und Zivilgesellschaft entwickelte sich keine starke gemeinsame Aktion und eine Bündelung der Kräfte in einem großen Projekt oder ein durch gemeinsame Vorstellungen und einen informellen ‚Pakt‘ getragenes konzertiertes Handeln wichtiger Akteure. Unerreicht bleibt weiterhin die seit Langem geforderte Vereinfachung und drastische Verkürzung von Planungsprozessen sowie der nicht minder vordringliche Bürokratieabbau – ohne die das von der RAG-Studie (2016) postulierte Ziel ebenso wenig erreichbar ist wie andere große Ziele, etwa im Klimaschutz, der Digitalisierung oder überfälligen Modernisierung der Infrastrukturen, die sich Deutschland gesetzt hat. Damit bleibt das Ruhrgebiet in einem Entwicklungsmuster gefangen, dass Jörg Bogumil, Rolf Heinze, Klaus Peter Strohmeier und ich in einem Buchtitel beschrieben haben
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als Viel erreicht – wenig gewonnen (Bogumil et al. 2012). Wir zogen damit eine realistische Bestandsaufnahme des Strukturwandels im Ruhrgebiet. „Viel erreicht“ bezieht sich dabei auf die Tatsache, dass es im Ruhrgebiet ganz viele interessante und erfolgreiche Aktivitäten zur Bewältigung des Strukturwandels gab und gibt – von großen Dekadenprojekten über viele neue Unternehmensgründungen und Geschäftsmodelle etablierte Unternehmen bis hin zu vielen Projekten in Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Dabei hat das Ruhrgebiet eine hohe Wandlungskompetenz bewiesen. Das alles hat jedoch nicht gereicht, um den Durchbruch zu einer international wettbewerbsstarken Region zu schaffen, die ihrer Bevölkerung einen Wohlstand und eine Lebensqualität bieten kann, wie es andere große Städte und Agglomerationen bieten können. Darauf bezieht sich wiederum das „wenig gewonnen“. „Wenig gewonnen“ bezieht sich aber auch auf den Anspruch des Ruhrgebiets, eine Metropole zu sein. Im üblichen Verständnis sind Metropolen nicht einfach große Städte und Ballungsräume, sondern „Städte und Agglomerationen, die international wichtige Zentren von Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur darstellen. Sie nehmen in diesen Bereichen wichtige Steuerungs- und Dienstleistungsfunktionen wahr. Sie beeinflussen wirtschaftliche, wissenschaftliche oder kulturelle Entwicklungen auf nationaler und internationaler Ebene. Sie bilden Knotenpunkte in der globalen Kommunikation von Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur.“ (Lehner & Noll 2016, S. 18)
Von einer Metropole in diesem Sinne ist das Ruhrgebiet also noch weit entfernt. Auch wenn das Ruhrgebiet in diesem Sinne noch keine Metropole darstellt, ist die Rede von der Metropole Ruhr nicht völlig abwegig. Im Gegenteil: Sie ergibt dann viel Sinn, wenn die Metropole Ruhr nicht als Realität, sondern als hohes Ziel begriffen wird. Damit sich das Ruhrgebiet zu einer international wettbewerbsstarken Region entwickeln kann, muss es sich auch zu einer Metropole entwickeln. Es darf Strukturwandel nicht bloß als eine groß angelegte Aufholjagd begreifen und dem Strukturwandel hinterherhinken, sondern muss in wichtigen Bereichen an der Spitze mitmarschieren und international ausstrahlen. Nur dann wird es zu einer Region, die wissens- und technologieintensive Unternehmen sowie kreative und qualifizierte Arbeitskräfte und Existenzgründer anziehen und halten kann (Lehner & Noll 2016). Das kann in einem so kurzen Zeitraum von etwa zehn Jahren nur gelingen, wenn das Ruhrgebiet dabei auf seinen vorhandenen Stärken aufbaut und gleichzeitig seine ebenfalls vorhandenen Schwächen möglichst gut für ein problemlösendes Wachstum nutzt. Die Stärken und Schwächen müssen dabei in Relation zu denen anderer Metropolen gesehen werden. Das Ruhrgebiet hat in Bereichen, in denen mehrere Metropolen ihre Stärken haben, während es selbst eher schwach ist, kaum Chancen, innerhalb von etwa zehn Jahren zur Spitze aufzurücken – es verbleibt hier in einer andauernden Aufholjagd. Zu diesen Bereichen gehören die meisten wissensbasierten und hochwertigen Dienstleistungen. Dagegen hat das Ruhrgebiet gute Chancen, in den Bereichen rasch eine Spitzenposition zu erlangen, in denen es wirkliche Stärken aufweist. Dazu gehören wichtige Teile des industriellen Kerns sowie die in der Montanindustrie und weiteren Branchen entwickelten Kompetenzen in 591
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der Gestaltung von und im Umgang mit sowohl technisch als auch organisatorisch komplexen Systemlösungen. Den Bereichen, in denen das Ruhrgebiet im Vergleich zu anderen Ballungsräumen Schwächen aufweist, bietet sich oft die Chance, ein problemlösendes Wachstum anzustoßen. Dabei geht es darum, der regionalen Wirtschaft durch innovative Lösungen wichtiger Probleme neue Wachstums- und Beschäftigungsimpulse zu vermitteln. Ein Beispiel ist die Lösung der Schwierigkeiten der Energiewirtschaft und eine Beseitigung der Defizite bei den erneuerbaren Energien durch die rasche Entwicklung und Umsetzung kleinräumiger Systemlösungen für eine nachhaltige Energieversorgung. Ein anderes Beispiel ist die weiter unten etwas ausführlicher beschriebene Entwicklung einer neuen Netzwerkwirtschaft zur Förderung der im Ruhrgebiet relativ schwach entwickelten mittelständischen Wirtschaft. Ein drittes Beispiel ist die Übernahme der Schulden der Ruhrgebietsstädte unter der Bedingung, dass die Städte die frei gewordenen finanziellen Spielräume investiv für die Digitalisierung, die nachhaltige Entwicklung neuer Gewerbeflächen und den Ausbau der Bildungsinfrastrukturen nutzen. Ein gutes Beispiel ist ein starker Bürokratieabbau, der viele Innovations- und Wachstumspotenziale entfesseln könnte. Das müsste allerdings in Berlin, Düsseldorf und Brüssel beginnen. Damit der steinige Weg zur Metropole und zu einer international wettbewerbsstarken Region erfolgreich begangen werden kann, muss das Ruhrgebiet seine institutionellen Fähigkeiten, von Metropolen und anderen Staaten Ballungsräumen zu lernen und deren Problemlösungen zu adaptieren, rasch ausbauen. In dieser Hinsicht hat das Ruhrgebiet erhebliche Defizite. Das zeigt sich beispielsweise, wenn man die Mobilitätsangebote in anderen polyzentrischen Metropolen, wie London oder Los Angeles, betrachtet. Wenn das Ruhrgebiet mehr von solchen Lösungen lernen würde, könnte es ein Mobilitätsangebot bereitstellen, das sich hinter dem anderer Ballungsräume nicht verstecken müsste. Das geht allerdings in den bestehenden Strukturen des öffentlichen Personennahverkehrs nicht. Letzteres gilt auch für andere wichtige Bereiche – die institutionellen Strukturen des Ruhrgebiets sind im Hinblick auf kollektives Lernen sicher kein Beispiel bester Praxis. Das zeigt sich auch darin, dass viele Akteure im Ruhrgebiet zwar gerne von der Metropole Ruhr reden, aber nicht davon, was getan werden müsste, damit das Ruhrgebiet wirklich zu einer Metropole wird (Lehner & Paetzel 2019).
Die Chancen dreifacher Nachhaltigkeit Das Ruhrgebiet kann wie eingangs schon festgestellt wurde, keine klassische Metropole wie Paris, London, Wien, New York oder Hongkong werden. Es kann auch nicht die stark auf hochwertige, wissensbasierte Dienstleistungen konzentrierten Wirtschaftsstrukturen dieser Metropolen entwickeln. Es hat eine andere Geschichte und hat sich als montanindustrieller Ballungsraum aus anderen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Strukturen
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heraus entwickelt. Es muss deshalb auch aus seiner industriellen Vergangenheit heraus zur Metropole werden (Lehner & Noll 2016; Polívka et al. 2017; Roters 2000). Diese Ausgangslage gereicht im Ruhrgebiet keineswegs zum Schaden. Die klassische Metropole ist kein erstrebenswertes Ziel für das Ruhrgebiet, sondern von gestern. Ihre im 19. und 20. Jahrhundert entstandenen Strukturen entsprechen nicht mehr den Bedingungen und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Sie ist zwar wirtschaftlich stark, aber ökologisch und sozial nicht mehr nachhaltig. Sie schafft ihren hohen Lebensstandard nur mit einem viel zu großen ökologischen Rucksack und Fußabdruck – sie verbraucht für die Herstellung, Nutzung und Entsorgung der Produkte, die sie konsumiert, viel zu viele natürliche Ressourcen und Land, und zerstört mit ihrer Lebensweise ihre natürlichen Lebensgrundlagen. Von ihrer wirtschaftlichen Stärke profitiert nur ein relativ kleiner Teil ihrer Bevölkerung. Ihre sozialen Strukturen sind geprägt durch hohe Ungleichheit sowohl der materiellen Bedingungen als auch der sozialen Chancen. Das ist verbunden mit Armut, insbesondere Kinderarmut, Segregation, Polarisierung und Radikalisierung (Lehner & Noll 2016). Die Metropole des 21. Jahrhunderts muss dagegen vor allem eines sein: ökologisch ebenso nachhaltig wie wirtschaftlich und sozial. Das ist keineswegs Wunschdenken, sondern liegt in der Natur der Sache. Metropolen gewinnen ihren Status als weit ausstrahlende, attraktive internationale Zentren von Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur aus ihrer wirtschaftlichen Stärke, Innovationskraft und Kreativität. Dabei geht die wirtschaftliche Entwicklung Hand in Hand mit der Entwicklung von Wissenschaft, Kultur und Lebensbedingungen. Dieses Zusammenspiel stößt aber vermehrt an seine Grenzen und scheitert schließlich, wenn die wirtschaftliche Produktion von Lebensstandard und -qualität ökologisch nicht nachhaltig ist. Das gilt gerade für Metropolen und Ballungsräume, weil sich in diesen dann auch die ökologischen Probleme sowie die damit verbundenen Konflikte häufen und konzentrieren. Damit scheinen wir wieder bei dem grundlegenden Dilemma zu landen, dass der Club of Rome vor fast 50 Jahren in seiner epochalen Studie Grenzen des Wachstums beschrieben hat (Meadows et al. 1972). Das war damals und auch lange Jahre danach richtig, aber die in dem Bericht beschriebene Situation ist schon seit einigen Jahren dabei, sich grundlegend zu verändern. Der Anteil der erneuerbaren Energien am Gesamtenergieverbrauch nimmt in vielen Ländern rasch zu. Der biogene Anteil des Mülls wird mancherorts nicht mehr verbrannt, sondern zu Biogas gemacht. Immer mehr Werkstoffe und andere Güter können aus nachwachsenden Rohstoffen erzeugt werden. In einer wachsenden Zahl von Städten wächst die urbane Landwirtschaft, mit der die Städte einen wachsenden Anteil ihrer Nahrungsmittel produzieren können. Auch das erste Rinderhack ist schon im Labor entstanden und nicht mehr auf der Weide aufgewachsen. Carsharing und ähnliche Geschäftsmodelle in anderen Bereichen sorgen dafür, dass Produkte viel effizienter genutzt werden. Städte wie Zürich, London, Los Angeles und Tokyo sorgen mit leistungsfähigen öffentlichen Nahverkehrssystemen dafür, dass der Anteil des Autos an der städtischen Mobilität stark zurückgeht. In vielen Unternehmen und für viele Produkte werden Verfahren eingesetzt oder entwickelt, welche den Ressourcenverbrauch beträchtlich reduzieren. Nicht zuletzt
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nimmt der Anteil der Materie an vielen Produkten drastisch ab – moderne gentechnische Produkte, zum Beispiel, bestehen fast nur noch aus Wissen und kaum mehr aus Materie. Die Wirtschaft kommt damit auf einen Weg, den Friedrich Schmidt-Bleek schon vor vielen Jahren mit seinem Faktor-10-Konzept vorgeschlagen hat (1994, 1998). Er argumentierte damals schon, dass der Schlüssel zu einer nachhaltigen Entwicklung Ressourcenproduktivität heiße. In einer anspruchsvollen, aber durchaus machbaren Verbesserung der Ressourcenproduktivität um den Faktor 10 (auf das Zehnfache) innerhalb weniger Jahrzehnte sah er den Weg zu einer nachhaltigen Entwicklung. Zur Berechnung der Ressourcenproduktivität führte er das MIPS-Konzept ein (MIPS: Material-Intensität pro Serviceeinheit [Nutzeneinheit]) ein. Die Materialintensität berechnete er von der Wiege bis zur Bahre. Er zeigte, dass Güter und Dienstleistungen in aller Regel ein Vielfaches dessen, was an Material in sie eingeht, als ökologischen Rucksack mit sich schleppten. Das ist beispielsweise bei Elektroautos der ganze Aushub der Kupferminen oder bei Versicherungen die große Strommenge, die ihre Computer verbrauchen. Auf der Basis dieses Konzeptes haben wir in unserem gemeinsamen Buch Die Wachstumsmaschine (Lehner & Schmidt-Bleek 1999) dargestellt, dass der Konflikt zwischen Ökologie und Wachstum mithilfe der Ressourcenproduktivität prinzipiell lösbar wird. Die Grundidee ist einfach: je produktiver Ressourcen in einer Volkswirtschaft genutzt werden, desto mehr kann produziert werden und desto mehr kann die Volkswirtschaft wachsen. Es geht noch einen Schritt weiter. Die für eine nachhaltige Entwicklung notwendigen Steigerungen der Ressourcenproduktivität erfordern viele Innovationen, vor allem radikale Innovationen. Diese eröffnen neue Märkte und neue Geschäftsfelder und verleihen einer Volkswirtschaft in aller Regel auch neue Wachstums- und Beschäftigungsimpulse. Das bedeutet, dass eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung nicht zulasten von Wachstum und Wohlstand gehen muss, wenn die Entwicklung auf (insbesondere radikalen) Innovationen beruht, mit denen die Ressourcenproduktivität stärker vorangetrieben wird, als das wirtschaftliche Wachstum. Schon als wir das Buch vor rund 20 Jahren schrieben, war Faktor 10 keine Utopie mehr. Heute wäre viel mehr möglich, wenn das verfügbare Wissen und die verfügbare Technologie konsequent genutzt und die einschlägige Forschung und Entwicklung konsequent vorangetrieben würde. Das ist jedoch nicht der Fall. Die westlichen Volkswirtschaften leiden vielmehr unter einer massiven Innovationslücke, einer Lücke zwischen dem, was an Innovationen jetzt oder kurzfristig möglich wäre, und dem, was tatsächlich geschieht. Forschung und Entwicklung, aber auch führende Unternehmen und beste Praxis sind sowohl dem Gros der Unternehmen als auch der staatlichen Regulation weit voraus. Die westlichen Volkswirtschaften könnten also mit ihrem Wissen und ihren technischen und organisatorischen Möglichkeiten die Ressourcenproduktivität schon viel weiterentwickelt haben, als das tatsächlich der Fall ist. Ein wichtiger Grund dafür liegt darin, dass die staatliche Regulation viel zu sehr an dem breit verfügbaren Stand der Technik orientiert ist und bestimmte technische Lösungen festschreibt oder subventioniert – was ganz einfach innovationsfeindlich ist. Durch die ökologische Innovationslücke geraten die westlichen Volkswirtschaften und ihre Unternehmen immer wieder in Konflikt zwischen ökologischer Nachhaltigkeit und
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wirtschaftlichem Wachstum und Wohlstand. Das ist verbunden mit einer wachsenden Ungleichheit, die längst jedes ökonomisch vernünftige Maß überschritten hat. Wachstumsschwäche und hohe Ungleichheit hemmen wiederum die Entwicklung einer ökologisch nachhaltigen Wirtschaft (Lehner 1997; Lehner & Schmidt-Bleek 1999). Wir stoßen hier auf ein zwar bekanntes, aber auch verkanntes Problem. Es ist das Problem, das Ulrich Beck (1986) in seinem Buch Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne aufgezeigt hat. Er argumentiert dort, dass die moderne Industriegesellschaft im Rahmen ihrer Produktion von Wohlstand immer mehr Risiken erzeuge. Deshalb würden Konflikte um die Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstands immer mehr überlagert durch Konflikte um die Verteilung gesellschaftlicher Risiken. Dieses Problem äußere sich auch in vielen, oft massiven Konflikten und Widerständen gegen Strategien und Maßnahmen für eine nachhaltige Entwicklung. Diese Konflikte seien selten Konflikte für oder gegen ökologische Nachhaltigkeit; es seien stattdessen in aller Regel Konflikte um die Verteilung der Risiken und Kosten von Strategien und Maßnahmen. In vielen Reden und Veröffentlichungen wird immer wieder betont, dass doch Nachhaltigkeit im Interesse aller Menschen, also ein gemeinsames Gut sei. Dabei wird oft übersehen oder verschwiegen, dass die Kosten der Erzeugung dieses Gutes in den modernen Industriegesellschaften ebenso ungleich verteilt sind wie der gesellschaftliche Wohlstand. Bei praktisch allen Aktivitäten für eine nachhaltige Entwicklung profitiert zwar sicher die Allgemeinheit, aber auch bestimmte Akteursgruppen. Andere Akteure und Gruppen dagegen zahlen vorerst drauf. Ein illustratives Beispiel dafür sind die Auseinandersetzungen um den Hambacher Forst. Da stehen sich keineswegs engagierte Befürworter und böswillige Gegner des Erhalts unserer natürlichen Lebensgrundlagen gegenüber. Auf der einen Seite sind vielmehr Menschen, die sich engagiert für das allgemeine Interesse Naturschutz einsetzen, aber von der Schließung des Tagebaus nicht betroffen sind, sowie Menschen, deren räumliches Umfeld durch den Tagebau zerstört wird. Auf der anderen Seite aber stehen Beschäftigte, denen der Verlust ihrer Arbeit und somit oft auch der sozialen Chancen ihre Kinder drohte, wie Führungskräfte, die sich ihrem Unternehmen verpflichtet fühlten. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich Situationen vorzustellen, in denen Personen beider Seiten die Seite wechseln – beispielsweise wenn sich Bürgerinnen und Bürger, die sich ansonsten ökologisch engagieren, gegen eine Starkstromleitung in ihrer Nähe wehren, durch die mehr Windstrom genutzt werden könnte, während auf der anderen Seite Kraftwerksbeschäftigte sich gerade dafür stark machen, weil Windenergie und andere erneuerbare Energien ihrem Unternehmen neue Wachstums- und Beschäftigungschancen eröffnen. Die Entwicklung einer Risikogesellschaft und die vielen Auseinandersetzungen um Nachhaltigkeitsprojekte können größtenteils mit Strategien vermieden werden, die auf dreifache Nachhaltigkeit ausgerichtet sind und dieses auch ganz konkret in die Praxis umsetzen. Dabei müssen nicht-nachhaltige Aktivitäten über einen längeren, aber überschaubaren Zeitraum schrittweise abgebaut und die entsprechenden Anlagen abgeschrieben werden. Parallel dazu müssen Innovationen zur Entwicklung neuer, nachhaltiger Aktivitäten vorangetrieben sowie neue Wachstums- und Beschäftigungsmöglichkeiten geschaffen werden
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und die Beschäftigten in den alten Aktivitäten entsprechend weitergebildet werden. Das kostet nicht nur viel Geld, sondern auch viel Zeit. Nach diesem Prinzip kann man auch ein schwieriges Problem, wie den Ausstieg aus konventionellen Energien, so gestalten, dass es kaum Verlierer gibt. Das ginge beispielsweise dadurch, dass die Umstellung auf erneuerbare Energien mit der Entwicklung neuer digitaler Dienstleistungen in der Energieversorgung verbunden wird. Wenn man für diesen Prozess genügend Zeit lässt, dann können die Energieunternehmen ihre Investitionen abschreiben, neue Geschäftsfelder entwickeln und ihr Personal entsprechend umschulen. Für das Ruhrgebiet ist das bezogen auf die Energiewirtschaft wahrscheinlich keine realistische Option mehr, aber für die Chemie und die übrige Werkstoffindustrie bieten sich in dieser Richtung noch viele Chancen. Die Entwicklung neuer Materialien und Werkstoffe aus nachwachsenden Rohstoffen oder dem biogenen Anteil von Müll bietet noch viele Möglichkeiten für neue Produkte, Dienstleistungen und Geschäftsfelder mit neuen Wachstums- und Beschäftigungspotenzialen. In manchen Fällen können diese Möglichkeiten verbunden werden mit Dienstleistung für Entsorgung und Wiederaufbereitung. Ein besonders wichtiges, aber auch sehr interessantes Feld für urbane Strategien dreifacher Nachhaltigkeit ist die Entwicklung einer leistungsfähigen urbanen Landwirtschaft in Zusammenarbeit mit einschlägigen Industrieunternehmen sowie Handel und Logistik. Wie alle großen Städte und Agglomerationen hat auch das Ruhrgebiet einen viel zu großen ökologischen Fußabdruck. Selbst wenn man die Produktivität der Landwirtschaft stark erhöhen könnte, gäbe es auf der Erde nicht genügend landwirtschaftlich nutzbare Flächen, um alle Städte und Agglomerationen auch nur auf einem bescheidenen Niveau mit den landwirtschaftlichen Produkten zu versorgen, die sie benötigen. Die logische Schlussfolgerung daraus ist, dass Städte und Agglomerationen diese Produkte weitestgehend selbst herstellen oder im Tausch mit eigenen landwirtschaftlichen Produkten von anderen Städten und Agglomerationen beschaffen müssen. Sie müssen also eine leistungsfähige urbane Landwirtschaft aufbauen. Technisch ist das heute möglich, wirtschaftlich jedoch noch sehr schwierig. Die verfügbaren Lösungen können nur in Ländern mit hohen Lebensmittelpreisen wirtschaftlich eingesetzt werden. Gerade das bietet für das Ruhrgebiet eine große Chance, einen neuen wissens- und technologiebasierten Wirtschaftszweig mit einer komplexen Wertschöpfungskette aufzubauen und in diesem Wirtschaftszweig eine national und international führende Position zu erringen (Lehner et al. 2015). Solche Strategien haben jedoch eines gemeinsam: Sie brauchen nicht nur viel Geld und Zeit, sondern auch die Fähigkeit, gesellschaftliche Kräfte und Potenziale zu bündeln, sie auf anspruchsvolle Ziele auszurichten und in große, innovative Projekte umzusetzen. Das Ruhrgebiet hat diese Fähigkeiten in den „Dekadenprojekten“ immer wieder bewiesen, es aber nie geschafft, sie in der Alltagskultur und den alltäglichen Handlungsstrukturen zu verankern. Für die Entwicklung des Ruhrgebiets zu einer international wettbewerbsstarken Region und einer wirklichen Metropole müssen diese Fähigkeiten neu entwickelt oder mobilisiert werden. Dafür braucht es aber zuerst ein klares, konkret umsetzbares und weithin akzeptiertes Verständnis davon, wohin sich das Ruhrgebiet entwickeln soll, auf
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welchen Wegen das möglich ist und welche Rollen die Akteure der Region dabei spielen. Es muss sich als Industrieregion geistig neu erfinden.
Der Rückweg zur großen Industrieregion In seiner industriellen Blütezeit waren das Ruhrgebiet und seine Industriekultur geprägt durch große Industriekonzerne. Diese Kultur hat in den ersten Jahrzehnten des Rückgangs und Rückbaus der Montanindustrie auch die Strukturpolitik stark beeinflusst. Im Fokus von Wirtschaft und Strukturpolitik stand die Ansiedlung großer Unternehmen, die mit Opel oder Nokia zunächst auch erfolgversprechend war. Beide Unternehmen sind aber inzwischen schon wieder aus dem Ruhrgebiet weg, und auch die etablierten Konzerne aus Energie und Stahl haben an Bedeutung und Strahlkraft für die zukünftige Entwicklung des Ruhrgebiets verloren. Sie sind immer noch wichtig, gerade auch wenn es um eine nachhaltige Wirtschaft geht, aber die Entwicklung einer nachhaltigen Wirtschaft im Ruhrgebiet muss sich auf ein viel breiteres Spektrum von Unternehmen, insbesondere auch von mittelständischen Unternehmen, stützen können, wenn sie gelingen soll. Die Forderung nach einer starken Beteiligung von mittelständischen Unternehmen an der Reindustrialisierung des Ruhrgebiets ist nicht nur der Tatsache geschuldet, dass der Bestand an mittelständischen Unternehmen im produzierenden Gewerbe des Ruhrgebiets im Vergleich zu prosperierenden Industrieregionen noch zu schwach ist. Vielmehr steht dahinter auch ein Zukunftsmodell einer mittelständischen Industrie, für die es im Ruhrgebiet besonders günstige Bedingungen gibt. In Deutschland wird Digitalisierung der Wirtschaft oft mit Industrie 4.0 gleichgesetzt. Industrie 4.0 ist faktisch ein weitgehend von großen, international operierenden Konzernen dominiertes, digital vernetztes und verzahntes Produktionssystem. In der einschlägigen Literatur findet man jedoch auch ein ganz anderes, gegenteiliges Modell: einer von Selbstständigen, kleinen und mittleren Unternehmen sowie von Genossenschaften geprägten Netzwerkwirtschaft. Mit offenen Innovationssystemen, Crowd-Finanzierung, Co-Working, befristeten Projekten und anderen offenen Kooperationsformen sowie 3D-Druck werden diese Unternehmen zu den wichtigsten Innovationstreibern, zum Kern einer hochgradig kundenorientierten Wirtschaft sowie einer engen Verzahnung von industrieller Produktion und Dienstleistungen. Durch die Beteiligung an internationalen oder gar globalen Innovations- und Finanzierungssystemen können kleine und mittlere Unternehmen ihre Innovationsfähigkeit und Finanzkraft drastisch erhöhen, während 3D-Druck eine weitgehende Dezentralisierung der Fertigung und eine hohe Kundenorientierung ermöglicht. Im Sinne von Schwarmintelligenz können kleine und mittlere Unternehmen aus ganz unterschiedlichen Orten zusammen neue Produkte global entwickeln und finanzieren und diese Produkte dann über 3D-Druck in enger Abstimmung mit ihren Kunden lokal produzieren. Damit können kleine Unternehmen, die in Netzwerken zusammenarbeiten, große Unternehmen ersetzen 597
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(Anderson 2012; Barnatt 2013; Brynjolfsson & McAfee 2015; Gibson et al. 2015; Lipson & Kurman 2013; Marsh 2012; Rifkin 2011; Tapscott 1996). Es wäre naiv, anzunehmen, dass sich dieses Modell in Reinkultur durchsetzen wird. Aber es ist dennoch ein gutes Leitbild für die Reindustrialisierung des Ruhrgebiets. Es weist den Weg für die Entwicklung einer internationalen wettbewerbsstarken mittelständischen Industrie im Ruhrgebiet. Dieser Weg ist interessant für die „Zukunftsindustrien“ Biotechnologie, Informationstechnologie und Umwelttechnik, aber auch für die Zukunft von etablierten Industrien des Ruhrgebiets, wie Maschinenbau, Werkstoffindustrie oder Bauwirtschaft. Gerade im Ruhrgebiet werden flexibel vernetzte, kundennahe und anpassungsfähige kleine und mittlere Unternehmen eine wachsende Rolle für Innovation, Wachstum und Beschäftigung in diesen Bereichen spielen. Das liegt insbesondere daran, dass sich die Industrie in den entwickelten Industrieländern ebenso wie in vielen Entwicklungsländern immer mehr zu einer kunden- und dienstleistungsorientierten „Maßwirtschaft“ (Lehner & Schmidt-Bleek 1999) entwickeln wird – obwohl es gegenwärtig eher den gegenteiligen Eindruck einer Renaissance der Massenproduktion macht. Diese Entwicklung ist jedoch, wie gleich noch ausgeführt wird, weder ökologisch noch ökonomisch und sozial nachhaltig. Sie passt nicht mehr zu den Möglichkeiten und Potenzialen der modernen Wissensgesellschaft. Vor diesem Hintergrund wäre es ebenfalls naiv, zu glauben, dass die herkömmlichen Industriestrukturen, insbesondere die Strukturen der großen Konzerne, einfach weiter bestehen bleiben. Schon seit den 1980er- und 1990er-Jahren kann man in der Industrie neben der Renaissance der Massenproduktion auch den gegenteiligen Trend, nämlich Entwicklung einer stärkeren Kundenorientierung erkennen. In manchen Branchen gibt es eine Synthese von beidem in Form einer kundenorientierten Massenproduktion (‚mass customization‘). Die ökologischen Nachhaltigkeitszwänge und die rasante Wissensentwicklung in vielen Bereichen werden in den kommenden Jahren die Abkehr von der Massenproduktion beschleunigen. Das gilt umso mehr, als sich globale Produktionsmodelle im Hinblick auf Effizienz und Qualität immer wieder als vulnerabel erweisen. Im Zuge dieser Entwicklung müssen auch große Konzerne ihre Flexibilität und Kundenorientierung drastisch steigern, um auf Dauer im internationalen Wettbewerb stark zu sein. Das Netzwerkmodell kann ihnen dabei als Vorbild für den Ersatz der herkömmlichen Hierarchien durch moderne, flexible Netzwerkstrukturen dienen. Darüber hinaus eröffnen Netzwerkstrukturen auch neue Formen der Zusammenarbeit zwischen großen und kleinen Unternehmen. Größere Unternehmen mit hoher Finanzund Innovationskraft können beispielsweise mit kleineren Unternehmen kundenorientierte Produktionsnetze bilden, in denen das große Unternehmen sich weitgehend auf die Forschung, Entwicklung und das Design fokussieren, während ihre kleinen Partner die Produkte an spezifische Kundenwünsche anpassen sowie die Produktion der Produkte und damit verbundene Dienstleistungen übernehmen. Die kleinen Unternehmen können zudem wichtige Funktion in der kontinuierlichen Verbesserung von Produkten ausüben. Das alles sind für die industrielle Entwicklung des Ruhrgebietes interessante Ansätze und Möglichkeiten.
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Die Entwicklung der Maßwirtschaft Im Zusammenspiel von stagnierenden oder gar sinkenden Einkommen und wachsende Ungleichheit einerseits sowie weiter wachsenden Erwartungen und Ansprüchen an Konsum und Lebensqualität andererseits hat sich in Deutschland und anderen entwickelten Volkswirtschaften eine veritable „Geiz-ist-geil“-Wirtschaft entwickelt. Ich verstehe darunter eine entwickelte Wirtschaft, die sich mit einem harten Preiswettbewerb an eine länger andauernde Periode stagnierender oder sogar sinkender Einkommen eines beträchtlichen Bevölkerungsanteils angepasst hat. Diese Bedingung schafft eine steigende Nachfrage nach preisgünstigen Produkten und attraktive Märkte für solche Produkte. Das technologische und organisatorische Potenzial für eine globalisierte Massenproduktion zur Erschließung solcher Märkte ist enorm. Die „Geiz-ist-geil“-Wirtschaft erstreckt sich nicht nur auf Lebensmittel, Bekleidung, Reisen oder Logistik, sondern auch auf technisch anspruchsvollere Produkte, wie Elektrogeräte und Smartphones. Sinkende oder stagnierende Preise für diese und viele andere Güter haben es vielen Menschen mit relativ niedrigen Einkommen ermöglicht, ihren materiellen Lebensstandard trotz stagnierender oder sinkender Einkommen zu halten. Das wurde und wird erkauft mit einem harten Preiswettbewerb, monopolistischen Strategien, oft niedriger Produktqualität, prekären Arbeitsverhältnissen und schlechten Arbeitsbedingungen, einem großen Niedriglohnsektor sowie einer massiven Deindustrialisierung und einer verhaltenen Innovationsdynamik in den entwickelten Volkswirtschaften. Damit untrennbar verbunden sind eine geringe Ressourceneffizienz und hohe Umweltbelastungen. Auf den Punkt gebracht: Die „Geiz-ist-geil“-Wirtschaft sowie ihre Produktions- und Verteilungsformen sind ökologisch, wirtschaftlich und sozial alles andere als nachhaltig (Lehner & Schmidt-Bleek 1999). Gerade für das Ruhrgebiet bietet die „Geiz-ist-geil“-Wirtschaft keine positiven Zukunftsaussichten. Ganz im Gegenteil: die Industrie des Ruhrgebiets kann in einem scharfen internationalen Preiswettbewerb kaum mithalten. Ihre Wettbewerbsstärken liegen vielmehr in Innovationsfähigkeit und Qualität. Die „Geiz-ist-geil“-Wirtschaft fördert deshalb die Deindustrialisierung des Ruhrgebiets und steht einer Reindustrialisierung im Wege. Der große Niedriglohnsektor und die hohe Arbeitslosigkeit im Gefolge der Deindustrialisierung sind mit massiven Kaufkraftverlusten verbunden, welche die „Geiz-ist-geil“-Wirtschaft weiter ausdehnen. Das prägt die Einkaufsmöglichkeiten und das Gastronomieangebot sowie das Wohnungs- und Freizeitangebot in den Städten. Das wiederum schlägt sich nieder in einer Armutsmigration in das Ruhrgebiet und einer verringerten Attraktivität des Ruhrgebiets für qualifizierte Arbeitskräfte und wissens- und technologieintensive Unternehmen. Dem Ruhrgebiet droht – statt der Entwicklung zu einer Metropole – eine Abwärtsspirale in die Peripherie (Lehner & Noll 2016). Wo das Ruhrgebiet hin muss, macht ein einfacher Vergleich mit der Entwicklung von Metropolen und anderen wettbewerbsstarken Agglomerationen deutlich. Was diese Räume vom Ruhrgebiet unterscheidet, ist eine starke Vorreiterrolle in wichtigen Bereichen von Wissen, Technologie und Wirtschaft. Das erfordert radikale Innovation, also Innovation, 599
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die nicht bloß vorhandene Produkte, Dienstleistungen, Prozesse und Problemlösungen auf Basis vorhandenen Wissens die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen in etablierten Märkten verbessern, sondern neue Produkte, Dienstleistungen, Prozesse, Problemlösungen und Märkte auf der Basis neuen Wissens generieren. Das Ruhrgebiet kann also nicht einfach dadurch zur Metropole oder zumindest zu einer wettbewerbsstarken Agglomeration werden, dass es den jeweils aktuellen Stand von Wissen, Technik und Kulturproduktion rasch und breit aufnimmt. Auch wenn man dabei vorne im Strom von Wissen, Technologie und Innovation mitschwimmt, erlangt man keineswegs eine international starke Wettbewerbsposition, weil man Wissen, Technologie und kulturelle Trends nutzt, die im Prinzip weltweit verfügbar sind. Das wird in vielen Städten und Agglomerationen sowie von vielen Unternehmen gemacht. Damit kann man sich als Unternehmen und als regionale Wirtschaft zwar oft einige Zeit gut im Wettbewerb halten, aber wirklich stark ist man trotzdem nicht. Da man sich nicht abhebt von vielen anderen Städten und Agglomerationen, mit denen man konkurriert, wird man immer wieder in einen harten Preiswettbewerb hineingezogen und muss damit rechnen, dass andere Regionen, die das gleiche Wissen und die gleiche Technologie nutzen, aufgrund von situativen Bedingungen viel günstiger produzieren können. Eine starke Wettbewerbsposition erlangen Unternehmen und regionale Volkswirtschaften nur dadurch, dass sie sich durch ihre überlegene Innovationsfähigkeit diesem Prozess dauerhaft und verlässlich entziehen können (Lehner & Noll 2016). Damit das Ruhrgebiet diese Fähigkeit in der relativ kurzen Zeit von etwa einer Dekade soweit entwickeln kann, um zu einer wettbewerbsstarken Region zu werden und auf den Weg zu einer Metropole zu kommen, braucht es ein avantgardistisches Verständnis und Leitbild einer nachhaltigen Wirtschaft und industriellen Urbanität. Beides muss zusammengehen und aufeinander bezogen werden. Wirtschaftlich gesehen geht es dabei um das Gegenteil einer „Geiz-ist-geil“-Wirtschaft, also um eine Wirtschaft, deren tragende Säule radikale Innovation, hohe Produktivität und Qualität sind. Also die bereits erwähnte Maßwirtschaft. Friedrich Schmidt-Bleeker und ich beschreiben damit eine stark kundenorientierte Wirtschaft, die „wie ein Maßanzug genau auf unsere individuellen Bedürfnisse, Wünsche und Träume zugeschnitten“ ist und die Maß hält und nur das aus der Natur nimmt, was wirklich gebraucht wird (1999, S. 44). Die Maßwirtschaft ist also darauf ausgerichtet, mit einem möglichst geringen Verbrauch von Ressourcen, insbesondere auch von natürlichen Ressourcen, die Bedürfnisse, Wünsche und Träume des größtmöglichen Teils der Bevölkerung einer Gesellschaft zu befriedigen – wie es die Nachhaltigkeitsdefinition der Brundtland-Kommission fordert. Das Ruhrgebiet muss sich nicht nur als industriell geprägte Wirtschaft ein Stück weit neu erfinden, sondern auch als Agglomeration und Stadtlandschaft. Es muss Standort- und Lebensbedingungen entwickeln, die einer modernen Wissensgesellschaft und ihrer wissensund technologiebasierten Wirtschaft angemessen sind. Es muss eine Lebensqualität und eine Kultur schaffen, die für qualifizierte und kreative Arbeitskräfte attraktiv ist. Auf den Punkt gebracht: Das Ruhrgebiet muss zu einem Vorreiter einer neuen, zukunftsfähigen Urbanität werden (Polívka et al. 2017; Roters 2000).
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Das „alte“ Ruhrgebiet als Vorbild für eine neue industrielle Urbanität Das Ruhrgebiet hat gute Voraussetzungen und Chancen, um zu einem Vorreiter einer neuen, zukunftsfähigen Urbanität zu werden. Das kann man sich gut vergegenwärtigen, wenn man die eingangs zitierte Aussage von Karl Ganser (2000) reflektiert, dass die klassische Metropole ein Auslaufmodell sei. Für diese Aussage lassen sich gute Argumente finden. Die klassischen Metropolen sind nicht nur wichtige Zentren von Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur, sondern auch von Naturverbrauch, Ressourcenineffizienz, Massenverkehr, Umweltverschmutzung, Segregation, Armut und Kriminalität. Sie strahlen auch ökologisch in Form eines großen Fußabdruckes und sozial in Form von Armutsproduktion (welt-) weit aus. Sie nehmen für ihre Steuerungs- und Dienstleistungsfunktionen sowie für den Konsum ihrer hochqualifizierten und gut bezahlten Arbeits- und Führungskräfte einen überproportionalen Anteil an knappen Gütern in Anspruch. Sie nutzen zur Sicherung ihrer Wettbewerbsfähigkeit und für die „Geiz-ist-geil“-Wirtschaft, mit der sie ihre eigenen niedrigqualifizierten und schlecht bezahlten Arbeitskräfte versorgen, schlechtbezahlte Arbeitskräfte mit schlechten Arbeitsbedingungen weltweit. Sie überragen auch in dieser Hinsicht die anderen Großstädte und Agglomerationen in den Industrieländern. Das liegt keineswegs nur an der Größe und Bedeutung der Städte und Metropolen, sondern hat strukturelle Ursachen. Diese liegen einerseits in einem einseitigen Fokus auf Dienstleistungen und andererseits in einer starken ‚Befangenheit‘ im Industriezeitalter. Der Dienstleistungssektor ist auch ein großer Niedriglohnsektor. Das gilt gerade auch für die Städte oder Metropolen, die Standorte für hochentwickelte Dienstleistungen sind. Das hochqualifizierte und gut bezahlte Personal in diesen Dienstleistungen hat einen besonders hohen Konsum an sozialen und personenbezogenen Dienstleistungen, in denen es viele Beschäftigte in schlecht bezahlten Jobs gibt. Deshalb gibt es gerade auch in diesen „Metropolen des Weltmarktes“ (Sassen 1994) einen großen Niedriglohnsektor und somit auch eine ausgeprägte „Geiz-ist-geil“-Wirtschaft. Die bekannten ökologischen und sozialen Probleme hängen mit diesem Sachverhalt eng zusammen. Das, was die Stärke und die Bedeutung der klassischen Metropolen sowie anderer großer Städte und Agglomerationen ausmacht – ihr starker Fokus auf Dienstleistungen –, ist also auch eine wichtige, systematische Ursache ihrer Probleme.2 Das Gleiche gilt auch im Hinblick auf die Befangenheit im Industriezeitalter. Die heutigen Großstädte und Metropolen in den Industrieländern sind das Produkt eines raschen Wachstums als Folge der ebenso raschen Industrialisierung im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Diese rasche Industrialisierung hat den Zusammenhang und die Lebensbedingungen in den Städten zerstört. Um den inneren, historischen Kern der Städte herum entstanden dicht bevölkerte Quartiere mit schlechten Lebensbedingungen für die schlecht bezahlten Arbeitskräfte der Industrie, sowie große Industrieviertel. Die Städte 2
Ich will damit keineswegs die gesamten sozialen und ökologischen Probleme großer Städte und Agglomerationen auf den großen Anteil der Dienstleistungen zurückführen, sondern argumentiere lediglich, dass dieser eine wichtige und systematische Ursache ist. 601
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wucherten verstärkt in das Umland. Mit diesen Entwicklungen wuchsen die sozialräumliche Segregation und soziale Spannungen ebenso wie die ökologischen Probleme. Um diesen Problemen entgegenzuwirken und die Lebensbedingungen in den Städten nachhaltig zu verbessern, haben Architekten unter der Federführung von Le Corbusier in der Charta von Athen (1962) ein neues Leitbild entwickelt, in dessen Kern eine klare räumliche Trennung der städtischen Funktionsbereiche stand. Dieses Prinzip hat allerdings die sozialen und ökologischen Probleme der modernen Städte und Agglomerationen nicht gelöst, sondern stattdessen massiv verschärft. Schon seit einigen Jahren wird von Raumplanern und Stadtentwicklern deshalb ein Stadtmodell propagiert, dass dem Modell der Charta von Athen in wichtigen Punkten entgegengesetzt ist. So hat beispielsweise der European Council of Spatial Planners im Jahr 2013 in Barcelona eine Charter of European Planning verabschiedet, welche zusammen mit der vom gleichen Rat schon 1998 in Athen verabschiedeten New Charter of Athens das Bild einer räumlich und sozial integrierten und vernetzten Stadt der Zukunft skizziert (ECTP 2013; Architexturez 2013). Räumliche Integration soll der Zersiedelung entgegenwirken, den sozialen Zusammenhalt auch bei kultureller Vielfalt fördern und die soziale Identität der Stadt stärken. Die Stadt der Zukunft muss nachhaltig sein und verantwortlich mit dem Raum als Ressource umgehen; sie soll ressourceneffizient sein und in einer Kreislaufwirtschaft ihren Abfall energetische oder stofflich nutzen; zudem soll sie einen großen Teil der von ihr benötigten Ressourcen selbst produzieren oder im Austausch mit anderen Städten beschaffen; um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu fördern, sollen Städte in polyzentrischen Netzwerken zusammenarbeiten. Zu diesem zwangsläufig sehr abstrakten Leitbild gibt es in der einschlägigen Fachliteratur und den Diskussionen Raumplaner und Architekten vieles an konkreten Vorschlägen, auf die ich im Folgenden nur im konkreten Zusammenhang mit dem Ruhrgebiet weiter eingehen werde (Guallart 2014; Hajer & Dassen 2014; Messling et al. 2011; Thornbush & Golubchikov 2019). Das Ruhrgebiet kann gerade aus seinen historisch gewachsenen Strukturen die in dem Leitbild und der einschlägigen Fachliteratur umrissene, zukunftsfähige Urbanität viel besser entwickeln als manche etablierten Städte und Metropolen. Es kann sich gleichsam selbst Vorbild für eine neue industrielle Urbanität sein. Das ‚alte‘ Ruhrgebiet wies Strukturen auf, die heutzutage eine neue Modernität erlangen. Seine integrierten, kleinräumigen Siedlungsstrukturen, seine Polyzentralität und auch seine Grünzüge entsprechend den Anforderungen vieler Stadtplaner und Ökologen viel besser als die Strukturen der klassischen Metropolen und vieler anderer Großstädte. Die historische europäische Stadt ist charakterisiert von einer hohen Dichte und kleinräumigen Mischung unterschiedlicher Nutzungen sowie einer Verflechtung unterschiedlicher Stadtfunktion. Dieses Prinzip gewinnt im Zusammenhang mit den gegenwärtigen gesellschaftlichen und ökonomischen Veränderungsprozessen und ökologischen Herausforderungen eine neue Aktualität. Während dieses Prinzip im Verlauf der Industrialisierung in den meisten Städten und Agglomerationen aufgeweicht und faktisch aufgegeben wurde, ist das Ruhrgebiet durch die Montanindustrie in die gegenteilige Richtung gedrängt worden. Die Stadtfunktionen Wohnen, Arbeiten, Bilden, Versorgen und Erholen
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wurden kleinräumig um „Pütts“ und Stahlwerke angesiedelt. Erst in jüngerer Zeit haben sich Regionalplanung und Stadtentwicklung stärker am Modell der Funktionstrennung orientiert. Die zukünftige und zukunftsfähige Agglomeration Ruhr wird sich davon wieder abwenden und zum Prinzip der kleinräumigen Verflechtung zurückkehren müssen (Klein & Reicher 2018; Reicher 2019; Polívka et al. 2017). Im Kontext dieser Entwicklung konnte sich im Ruhrgebiet nie eine starke zentrale Stadt herausbilden. Entstanden ist vielmehr eine polyzentrale Agglomeration mit einem „eng verwobenen Geflecht aus Städten und kleinen Siedlungseinheiten […], das bis heute die netzartige Siedlungsstruktur der Agglomeration Ruhr [kennzeichnet]“ (Reicher 2019, S. 445). Damit hat sich im Ruhrgebiet schon früh im regionalen Maßstab ein Stadtnetz herausgebildet, wie es die in Barcelona verabschiedete Charter of European Planning gleich im europäischen Maßstab fordert – was doch etwas blauäugig sein dürfte. Mit dieser Siedlungsstruktur sind gewichtige Vorteile und Chancen für die Entwicklung einer wettbewerbsstarken und zukunftsfähigen Agglomeration verbunden. Sie weist allerdings auch Schwachstellen auf, die diese Entwicklung massiv hemmen. Die polyzentrale Struktur des Ruhrgebiets erlaubt ihm eine multiple, gleichwohl fokussierte Innovations- und Wachstumsstrategie, welche die Entwicklung der Region stark beschleunigen kann, ohne dabei bestehende Disparitäten innerhalb dessen weiter zu verschärfen oder gar neue zu schaffen. Im Prinzip geht es dabei um eine Strategie der kleinräumigen Innovations- und Wachstumsförderung, die dem Konzept der „smart specialization“ folgt. Dieses Konzept beschreibt eine kleinräumige Förderung von „Clustern“ größtenteils mittelständischer Unternehmen mit einem beträchtlichen Innovations- und Wachstumspotenzial, die in ein günstiges lokales Umfeld eingebunden sind. Damit kann man in den unterschiedlichen Zentren der Agglomeration Ruhr unterschiedliche Stärken und Wachstumspole entwickeln, dabei differenzierte innovative Milieus und Standortfaktoren nutzen und ausbauen. Dem gleichen Grundprinzip folgend kann man das verbinden mit der Förderung der Entwicklung sowohl einer differenzierten Konzentration von Steuerungs- und Dienstleistungsfunktion als auch einer differenzierten Fokussierung von Wissens- und Technologietransfer sowie von Gründungsaktivitäten in den einzelnen Zentren der Region (Foray 2015; McCann & Varga 2017). Auf der Marktseite bildet sich ein analoges Verfahren an, nämlich eine differenzierte Entwicklung starker Marktumfelder und von echten Leitmärkten in den verschiedenen Zentren. Die regionale Wirtschaftsförderung Business Metropole Ruhr definiert Leitmärkte ebenso wie die Innovationsstrategie NRW über die großen gesellschaftlichen Herausforderungen (2019). Das ist insofern sinnvoll, als große gesellschaftliche Herausforderungen in aller Regel wichtige Treiber von Innovation, Wachstum und Beschäftigung sind – vor allem dort, wo frühzeitig innovative Lösungen zur Bewältigung dieser Herausforderungen auf den Markt kommen. An Orten, an denen dies erst spät geschieht, kann es dagegen zu massiven Einbrüchen bei Wachstum und Beschäftigung kommen. Leitmärkte im Sinne der Innovationsstrategie NRW oder von Business Metropole Ruhr sind also nicht unbedingt die Märkte, über die eine nachhaltig positive Entwicklung von Innovation, Wachstum und Beschäftigung im Ruhrgebiet eingeleitet werden kann. Zu solchen Märkten werden sie 603
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dann, wenn es gelingt, sie zu den Märkten zu entwickeln, auf denen frühzeitig innovative Lösungen zu den großen Herausforderungen angeboten werden. Das ist das Leitmarktkonzept der Europäischen Union (Beise 2001; European Commission 2011). Alldem steht jedoch ein großes strukturelles Problem des Ruhrgebiets gegenüber: eine weitgehend fehlende funktionale Differenzierung. Diese bezieht sich hier nicht auf die Trennung der Funktionen Wohnen, Arbeiten etc., sondern das Setzen unterschiedlicher wirtschaftlicher und kultureller Schwerpunkte. Einfach ausgedrückt heißt fehlende funktionale Differenzierung also, dass die Städte im Ruhrgebiet, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, kein besonderes wirtschaftliches und kulturelles Profil haben, sondern in etwa das Gleiche anbieten. Sie machen sich wechselseitig Konkurrenz und beschränken ihr Umland und ihr Einzugsgebiet wechselseitig – keine Stadt kann das ganze Ruhrgebiet als Markt oder als Einzugsgebiet für seine kulturellen Angebote nutzen. Sie verlieren damit nicht nur an Wirtschaftskraft, sondern auch an Attraktivität als Standort von Unternehmen und als Wohnort (Bogumil et al. 2012). Zu den wenigen Ausnahmen gehören dabei Duisburg und Dortmund in der Logistik. Beide Städte, die in der Logistik auch durch starke Kooperationsbeziehungen verbunden sind, sind das logistische Zentrum für das gesamte Ruhrgebiet und dessen Umland. Sie nehmen dort wichtige Steuerungs- und Dienstleistungsfunktionen wahr, von denen auch die anderen Städte im Ruhrgebiet und die dort angesiedelten Unternehmen profitieren. Ein Beispiel ist die Kooperation des Hafens Gelsenkirchen mit dem Hafen Duisburg. Beide Städte bilden Knoten in einem regionalen Logistiknetz, das so in (inter-)nationale Logistiknetze eingebunden ist. Diese Zentrumsfunktion macht Duisburg und Dortmund, aber auch das Ruhrgebiet insgesamt für Logistikunternehmen und Logistikaktivitäten attraktiv. In anderen Wirtschaftszweigen gibt es solche Strukturen nicht: „Gerade bei den jeweils als zukunfts- und wachstumsträchtig geltenden Wirtschaftszweigen haben die meisten Städte im Ruhrgebiet von allem etwas und alle wollen auch von allem etwas haben“ (Bogumil et al. 2012, S. 105). Das verhindert, dass das Ruhrgebiet seine Kräfte und Potenziale in Städten so bündeln kann, dass sich diese – und mit ihnen das Ruhrgebiet insgesamt – zu international wettbewerbsstarken Standorten entwickeln können. Das hemmt die Entwicklung des Ruhrgebiets zu einer internationalen wettbewerbsstarken Agglomeration nicht nur indirekt über die Entwicklung der einzelnen Städte, sondern auch unmittelbar. Große Agglomerationen können nur prosperierende und international wettbewerbsstark werden, wenn sie über mehrere Wachstumspole aus unterschiedlichen Wirtschaftszweigen verfügen – das macht sie nicht nur stark, sondern auch krisenfester. Solange es das Ruhrgebiet nicht schafft, eine tragfähige funktionale Differenzierung zwischen den Städten herzustellen, also unterschiedliche wirtschaftliche und kulturelle Schwerpunkte zu setzen, hat es keine Chancen, zu einer internationalen wettbewerbsstarken Agglomeration und einer wirklichen Metropole zu werden. Das heißt mit anderen Worten: Solange das Ruhrgebiet es nicht schafft, sich funktional zu differenzieren, wird sich seine Polyzentralität nicht als großer Vorteil und große Chance erweisen können, sondern als Gegenteil: als massives Entwicklungshemmnis.
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Auch für eine kleinräumige Nutzungsmischung ist die fehlende funktionale Differenzierung ein gewichtiges Hemmnis. Die kleinräumige Nutzungsmischung auf der Quartiersebene gilt heute als unabdingbare Voraussetzung zur Entwicklung einer nachhaltigen und kompakten Stadt mit kurzen Wegen. Mit ihr sollen insbesondere lange ungenutzte städtische Potenziale zur Bewältigung ökologischer Probleme genutzt werden. Allerdings ist kleinräumige Nutzungsmischung noch keine Garantie für kurze Wege, sondern wird es erst, wenn die Menschen, die in einem bestimmten Quartier oder in dessen Nähe wohnen, auch dort arbeiten, und umgekehrt (Klein & Reicher 2018; Reicher 2014). Das bedeutet, dass für eine funktionierende Nutzungsmischung nicht beliebige Mischungen von Nutzungen möglich sind. Im Idealfall müsste ein Quartier attraktiv sein für die Arbeitskräfte der Unternehmen, die im Quartier oder seinem unmittelbaren Umfeld angesiedelt sind. Alternativ müssen in einem Quartier Unternehmen angesiedelt werden, die für die Bewohner des Quartiers interessante Arbeitgeber sind. In funktional differenzierten Agglomerationen und Städten haben sich solche Strukturen oft spontan herausgebildet. Zumindest bestehen durch die Differenzierung klare Ankerpunkte dafür, welche Unternehmen und welche Arbeitskräfte besser oder weniger gut in bestimmte Quartiere passen. Für das Ruhrgebiet müssen dagegen konkrete Konzepte für eine Nutzungsmischung in enger Verbindung mit konkreten Konzepten für eine stärkere funktionale Differenzierung erarbeitet werden. Die Entwicklung von funktionierenden nutzungsgemischten Quartieren bedarf, wie Klein und Reicher (2018) hervorheben, einer gezielten Steuerung von der Konzeption bis zur Realisierung. Sie muss zudem als eine gesamtstädtische Aufgabe verstanden werden, weil Quartiere jeweils auch in unterschiedlicher Weise einen Beitrag zur Gesamtstadt und ihrem Angebot an Standorten und Wohnorten leisten muss. Sie kann also nicht dem spontanen Handeln von Akteuren im Quartier überlassen werden. Im Ruhrgebiet ist das nicht nur eine gesamtstädtische, sondern eine regionale Aufgabe, zumal sie mit funktionaler Differenzierung verbunden werden muss, was erst recht eine regionale Aufgabe ist. Im und für das Ruhrgebiet muss diese Aufgabe auch noch mit der Aufgabe der Reindustrialisierung verknüpft werden. Das ist insofern ein besonderes Problem, weil es zumeist schwieriger ist, Industriebetriebe in nutzungsgemischte Quartiere einzubauen, als Dienstleistungsbetriebe. Aber für die Zukunft des Ruhrgebiets ist es unabdingbar, die Industrie möglichst gut in moderne nutzungsgemischte urbane Strukturen einzubauen. Die Reindustrialisierung des Ruhrgebiets muss stark auf innovative, wissens- und technologieintensive Unternehmen ausgerichtet werden – auch und gerade in Bezug auf seine traditionellen Branchen. Solche Unternehmen gedeihen am besten in starken innovativen Milieus, die sich am ehesten in urbanen Kontexten herausbilden oder herstellen lassen. Deshalb müssen die städtische und regionale Planung und Steuerung der Nutzungsmischung auch darauf ausgerichtet werden, innovative Milieus in möglichst vielen geeigneten Quartieren zu entwickeln. Für die Region insgesamt ist es dabei wichtig, dass möglichst viele unterschiedliche Milieus entwickelt werden und dafür die kulturelle Vielfalt des Ruhrgebiets konstruktiv genutzt wird.
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Vor diesem Hintergrund wird Segregation auch wirtschaftlich zu einem zentralen Problem. In abgehängten Quartieren können sich weder die innovativen Milieus noch das breite und gute Bildungsniveau entwickeln, das eine wissens- und technologieintensive Wirtschaft braucht. Auch in den sozial homogenen Quartieren der betuchteren Gesellschaft entwickelt sich, was nur scheinbar paradox ist, kaum ein innovatives Milieu. Städte sind, wie Rauterberg (2013) betont, voller Gegensätze und sie leben von diesen Gegensätzen. Sie sind ein wichtiges Moment der Fähigkeit, Probleme wahrnehmen und kreativ lösen, sich auf Neues und Unerwartetes einstellen, radikale Innovationen ausdenken und umsetzen zu können. Moderne Wissensgesellschaften und ihre wissensbasierten Volkswirtschaften brauchen deshalb einen Urbanismus, der soziale Nähe und Vielfalt zu anregenden und kreativen Milieus und Lernumfelder verbindet. Das ist die wirtschaftliche Begründung für einen Urbanismus, der auf Quartiere und Nutzungsmischung setzt (Burow 2014; Goldin & Katz 2008; Spiegel 2015; von Mutius 2017).
Die Organisation eines nachhaltigen Wandels Die Entwicklung des Ruhrgebiets zu einer international wettbewerbsstarken Region und einer wirklichen Metropole ist ein Mammutprojekt, das ich in diesem Beitrag nur grob und unvollständig skizziert habe. In diesem Projekt muss eine breite Palette unterschiedlicher und unterschiedlich gelagerter Aufgaben und Themen bearbeiten werden – vieles davon wegen des großen Zeitdrucks gleichzeitig und mit viel Improvisation verbunden. An erster Stelle steht die Erarbeitung und Diskussion eines gut verständlichen fassbaren und nachvollziehbaren Narrativs, das beschreibt, wie das Ruhrgebiet als Metropole des 21. Jahrhunderts und die damit verbundene besondere Ruhrurbanität sowie der Weg, der dahin führt, aussehen soll. Das Narrativ muss auch zeigen, wie konkrete Auseinandersetzungen und Konflikte zwischen Ökonomie und Ökologie im Ruhrgebiet mithilfe von Strategien dreifacher Nachhaltigkeit gelöst werden sollen. Dieses Narrativ und die Diskussion darüber erfüllen eine ganz wichtige Funktion: Sie müssen viele Menschen und Akteure im Ruhrgebiet für das Metropolenprojekt begeistern und sie motivieren, an dem Projekt mitzumachen. Sie müssen zudem das Ruhrgebiet für viele kreative Menschen, insbesondere junge Menschen, und innovative Unternehmen außerhalb der Region attraktiv machen und sie so in die Region ziehen. Nicht zuletzt muss es durch das Aufzeigen eines glaubwürdigen Weges in eine bessere Zukunft Angst vor Wandel nehmen und Hoffnungen auf einen Aufschwung vermitteln. Das gewinnt eine besondere Aktualität durch die Coronakrise, die das Ruhrgebiet ebenso wie andere Regionen in eine Rezession und eine ungewisse Zukunft führen könnte. Wegen der knappen Zeit ebenfalls vordringlich sind die Entwicklung eines tragfähigen Konzepts für die funktionale Differenzierung des Ruhrgebiets sowie für einen öffentlichen Nahverkehr, der den Ansprüchen einer international wettbewerbsfähigen Region und einer Metropole genügt. Auch andere Themen, wie die Nutzungsmischung in Quartieren,
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Netzwerkwirtschaft, urbane Landwirtschaft, eine Maßwirtschaft für das Ruhrgebiet oder die Entwicklung echter Leitmärkte, erfordern eine erhebliche konzeptuelle Vorarbeit. Dagegen können Themen wie Bildung für nachhaltige Entwicklung, Werkstoffe aus nachwachsenden Rohstoffen oder ein konsequentes Recycling von Abfällen auf laufenden Diskussionen und aktuellen Diskussionsständen in Wissenschaft, Fachkreisen, Medien und Öffentlichkeit aufbauen. Damit das durch diese Aufgaben und Themen noch einmal skizzierte Mammutprojekt gelingen kann, müssen die Kompetenzen und Potenziale des Ruhrgebiets breit einbezogen, fokussiert und gebündelt, aber auch innovationsstark und effizient zum Tragen gebracht werden. Das wiederum erfordert die Beteiligung und das nachhaltige Engagement einer größeren Zahl von Akteuren aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Zivilgesellschaft, von den viele mehr oder weniger starke Vetopositionen besitzen. Das führt in ein organisatorisches Dilemma, weil eine hohe Konsensfähigkeit einer größeren Anzahl von Akteuren aus unterschiedlichen Bereichen und mit unterschiedlichen Interessen in aller Regel mit einer geringen Innovations- und Leistungsfähigkeit verbunden ist. Dieses Dilemma ist im Rahmen der bestehenden regionalen Organisationsstrukturen des Ruhrgebiets nicht lösbar (Lehner & Paetzel 2019). Im Ruhrgebiet hat man jedoch sehr gute Erfahrungen damit gemacht, grundlegende Aktivitäten zur Bewältigung des Strukturwandels als eigenständige Dekadenprojekte zu organisieren. Das gilt für die IBA Emscher Park ebenso wie für die Kulturhauptstadt, aber auch für Innovation City und in gewisser Weise auch für den Emscher-Umbau. Für die Entwicklung des Ruhrgebiets zu einer nachhaltigen Metropole drängt sich die IBA Emscher Park als Vorbild geradezu auf. Sie zeigt, wie man ein breites Spektrum von städtebaulichen, sozialen, kulturellen, ökologischen und ökonomischen Themen in ein stimmiges und zukunftsweisendes Konzept für den Strukturwandel des Ruhrgebiets integrieren und in konkrete Projekte umsetzen kann. Die IBA konnte in einer Dekade den Strukturwandel des Ruhrgebiets nicht zu einem (vorläufigen) Ende führen. Sie hat jedoch während ihrer Laufzeit mit ihrer Programmatik und ihren Projekten Wege gewiesen, Weichen gestellt sowie Denk-, Handlungsstrukturen und Netzwerke geschaffen, die über das eigentliche Projekt hinausweisen. Das ist für das Metropolenprojekt noch viel zwingender als für die IBA. Es kann sein Ziel zwar mit einem starken Kraftakt in wichtigen Ansätzen erreichen, muss aber darüber hinaus einen dynamischen Prozess in Gang setzen, der nach dem Ende des formalen Projektes die Entwicklung zur wettbewerbsstarken Region und zur nachhaltigen Metropole spontan weitertreibt. Es muss auch einen Organisationskern hinterlassen, der diesen Prozess nach Projektende weiterführt. Auch eine noch so gut konzipierte und ausgestattete neue IBA wäre jedoch mit der Entwicklung einer international wettbewerbsstarken Region und einer wirklichen Metropole allein überfordert. Schon das Schaffen eines öffentlichen Nahverkehrs, der den Anforderungen einer nachhaltigen Metropole genügt, ist für sich eine Mammutaufgabe. Der öffentliche Nahverkehr ist eines der größten Entwicklungshemmnisse des Ruhrgebiets. Das Ruhrgebiet braucht, wie sich Experten seit vielen Jahren einig sind, eine einheitliche 607
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Verkehrsplanung und eine einheitliche Verkehrsgesellschaft. Dafür gibt es gerade auch in polyzentrischen Metropolen wie Los Angeles, London, Tokio und in gewisser Weise auch Zürich interessante Vorbilder. Das Gleiche gilt für die Entwicklung eines funktional differenzierten Wirtschaftsraumes mit mehreren starken Innovations- und Wachstumspolen. Auch das ist eine Mammutaufgabe und auch dafür sind die bestehenden Strukturen ungeeignet. Wie beim öffentlichen Nahverkehr haben wir es bei der Wirtschaftsförderung im Ruhrgebiet mit einer Organisationsstruktur zu tun, die durch eine viel zu starke kommunale und eine viel zu schwache regionale Ebene charakterisiert ist. Andere polyzentrale Metropolen zeigen auch bei der Wirtschaftsförderung, dass es anders und vor allem viel besser geht (Lehner & Paetzel 2019). Um die Komplexität des Gesamtprojektes auf ein handhabbares Maß zu reduzieren, ist es sinnvoll, den öffentlichen Nahverkehr und die Wirtschaftsförderung eigenständig zu organisieren, sie aber gleichzeitig mit dem Gesamtprojekt zu verbinden. Für dieses könnte die neue IBA als strategische Führungsgesellschaft fungieren, die gleichzeitig auch die unterschiedlichen Komponenten des Projektes in der Stadt- und Regionalentwicklung zusammenführt. Sowohl das Gesamtprojekt als auch der öffentliche Nahverkehr und die Wirtschaftsförderung sollten im Hinblick auf das oben skizzierte organisatorische Dilemma außerhalb der etablierten politisch-administrativen Strukturen des Ruhrgebiets in Form von Genossenschaften organisiert werden. Es mag überraschen, dass für die Organisation eines auf Innovation und Wandel ausgerichteten Zukunftsprojektes die ‚altehrwürdige‘ Form der Genossenschaft vorgeschlagen wird. Im Ruhrgebiet hat man mit der Durchführung eines großen und langfristigen Projekts, dem Emscher-Umbau, durch eine Genossenschaft gute Erfahrungen gemacht. Der Emscher-Umbau ist eines der wenigen großen und anspruchsvollen Projekte in Deutschland, die im vorgesehenen zeitlichen und finanziellen Rahmen erfolgreich zu Ende gebracht wurden. Das ist nicht zufällig, sondern liegt in der Struktur und Organisation der Emschergenossenschaft begründet. Diese bietet einerseits starke Anreize für konsensuales Handeln, ist andererseits aber auch mit starken Innovationszwängen verbunden. Das ist ein interessantes, in mancher Hinsicht durchaus noch verbesserungsfähiges Modell – sowohl für die neue IBA als auch die neue Verkehrsgesellschaft und die neue Wirtschaftsförderung (Lehner & Paetzel 2019). In seinem Buch Versemmelt. Das Ruhrgebiet ist am Ende zeichnet Stefan Laurin (2019) ein überaus düsteres Bild von der Zukunft des Ruhrgebiets und den zahlreichen Fehlern der Vergangenheit. Ich kann vieles seiner Argumentation nachvollziehen, teile aber seine Schlussfolgerungen noch nicht – die Betonung liegt hier jedoch auf „noch“. Denn dem Ruhrgebiet läuft die Zeit weg. Ohne einen großen inhaltlichen und organisatorischen Kraftakt, wie ich ihn in diesem Beitrag skizziert habe, wird sich das Ruhrgebiet, vor allem das nördliche Ruhrgebiet, in wenigen Jahren da befinden, wo Laurin es jetzt schon sieht.
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IBA, oder die Kunst, Innovationen zu organisieren in nicht-innovativen Milieus1 Walter Siebel IBA, oder die Kunst, Innovationen zu organisieren
Einleitung Internationale Bauausstellungen sind eine Antwort auf ein Problem hoch organisierter Planungssysteme: Sie bezahlen ihre Effizienz und Verlässlichkeit mit einer gewissen Unbeweglichkeit. Eine IBA ist ein Instrument zur Organisation von Innovationen. Dieser Beitrag beschreibt Ziele, Voraussetzungen und Merkmale der IBA. Die neuere Praxis von IBA droht, zwischen hohen Ansprüchen einerseits und sinkenden Handlungsspielräume andererseits zerrissen zu werden. Zum Schluss werden Szenarien zu möglichen Zukünften der IBA skizziert. Der Titel formuliert eine Kränkung: Eine IBA soll innovative Lösungen finden für drängende Probleme von nationaler, sogar internationaler Relevanz, die ohne IBA nicht aufgegriffen und schon gar nicht innovativ gelöst würden. Sie ist folglich nur dort notwendig, wo Markt und Staat sich nicht in der Lage zeigen, das Problem zu bearbeiten. Innovationsfähige private und öffentliche Akteure brauchen keine IBA – IBA organisiert vielmehr Innovationen in nicht-innovativen Milieus. Der damit implizierte Vorwurf muss die Akteure kränken. Deshalb stößt IBA zu Beginn selten auf ungeteilte Zustimmung, und bei ihrem Ende mischt sich in Stolz und Jubel auch ein allgemeines Aufatmen, dass es nun endlich vorbei ist. Trotzdem ist die IBA in Mode gekommen. Im zwanzigsten Jahrhundert fanden insgesamt fünf statt, seitdem sind weitere drei abgeschlossen, gegenwärtig laufen sechs parallel, drei davon im Ausland, und das Interesse, eine IBA zu veranstalten, wächst weiter. In Deutschland, Polen, Luxemburg, Australien und sogar für Afrika gibt es Planungen für neue IBA. Dabei ist die IBA ein durch und durch informelles Planungsformat. Die Marke ist nicht geschützt, es gibt keine kodifizierten Regeln, keine Organisationsformen, Verfahrensweisen, Prozesse oder Standards, die eindeutig definieren würden, was eine IBA ist und was sie nicht ist, man muss keine thematischen Vorgaben einhalten, und es gibt
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Der Text ist die stark erweiterte Fassung eines Vortrags auf dem IBA-Kongress am 14. und 15. November 2019 in Berlin. Ich danke Werner Durth und Raimar Molitor für wichtige Hinweise und Ergänzungen.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_41
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formell keine politischen und finanziellen Voraussetzungen, um eine IBA veranstalten zu können. Im Prinzip kann jeder alles und überall unter dem Titel IBA veranstalten. Woher diese Attraktivität eines Planungsformats, dessen herausragendstes Kennzeichen seine Offenheit, ja fast Regellosigkeit ist? Ein Grund ist der Wandel der Planungsaufgaben ab Mitte der 1970er-Jahre (Siebel 2006, S. 198‒199). Damals wurden die Anzeichen eines Endes der industriellen Urbanisierung unübersehbar. War bislang Strukturschwäche ein Phänomen vorwiegend ländlich-agrarisch geprägter Regionen, so zeigten sich nun strukturelle Probleme in hoch industrialisierten und urbanisierten Regionen: den Werftstandorten an der norddeutschen Küste und den Standorten der Schwerindustrie an der Ruhr und im Saarland. Es entstanden großräumige Ungleichgewichte zwischen den vorwiegend südlichen Agglomerationen, die während der industriellen Urbanisierung keine große Rolle gespielt hatten und nun für die neue Dienstleistungsgesellschaft und moderne Industrien im wörtlichen und übertragenen Sinne unverbrauchte Standorte boten, und dem Norden, der von Deindustrialisierung, Abwanderung und sinkenden Steuereinnahmen geprägt wurde (Friedrichs et al. 1986). Gleichzeitig beschleunigte und erweiterte sich innerhalb der großstädtischen Agglomerationen der Prozess der Suburbanisierung. Nicht nur die Wohnbevölkerung und die industriellen Arbeitsplätze, sondern zunehmend auch tertiären Funktionen – Handel, haushaltsbezogene Dienstleistungen und „back offices“ – drängten ins Umland. Die Kernstädte – insbesondere in den alten Industrieregionen – verloren Funktionen, Arbeitsplätze und Menschen. Nach 150 Jahren industrieller Urbanisierung war in der Krise der alten Industrieregionen zum ersten Mal ein gänzlich neuer Typus der Stadtentwicklung sichtbar geworden: Stadtentwicklung durch Schrumpfen – Schrumpfen der Arbeitsmärkte, der Flächennutzung, der Einwohnerzahlen und des Steueraufkommens (Häußermann & Siebel 1987). Nach der Wiedervereinigung war dieser Typus in den Neuen Bundesländern dominant geworden. Die Deindustrialisierung, die in den alten Ländern bereits in den 1960er-Jahren begonnen hatte, und abgefedert durch enorme Subventionen und eine dichte Folge immer differenzierterer Planungen (Roters et al. 2019) sich über Jahrzehnte hingezogen hatte, ist nach 1989 in den Neuen Bundesländern verdichtet auf einen viel kürzeren Zeitraum abgelaufen. Sie wurde überlagert durch Entmilitarisierung und den Abbau eines systembedingt aufgeblähten öffentlichen Dienstes. Alle drei Entwicklungen haben die Arbeitsmärkte in einzelnen Regionen der Neuen Bundesländer regelrecht zusammenbrechen lassen. In der Folge wanderten vor allem die Jungen, die Qualifizierten und die Frauen in die alten Bundesländer, was die Chancen auf langfristige Stabilisierung selbst auf einem niedrigerem Niveau infrage stellte. Denn die Abwanderung der jungen und qualifizierten Arbeitskräfte schwächt die Attraktivität einer Region für Investitionen, und wenn überdurchschnittlich viele junge Frauen abwandern, dann gehen der Region die künftigen Mütter verloren, was bedeutet, dass dort in Zukunft noch weniger Kinder geboren werden. Großräumige Wanderungen zusammen mit einer nachholenden Suburbanisierung führten zu massiven Bevölkerungsverlusten auch der Städte, aber für die meisten großen Städte in den Neuen Bundesländern ist dieser Trend durchbrochen. Auch sie profitieren seit der Jahrtausendwende von der Tendenz einer Reurbanisierung. Dagegen halten in den strukturschwachen
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ländlichen Regionen im Westen wie im Osten die Teufelskreiseffekte des Schrumpfens an, was die Forderung nach gleichwertigen Lebensverhältnissen in den Abwanderungsregionen unrealisierbar erscheinen lässt. In den altindustriellen Regionen, in den Neuen Bundesländern aber auch in manchen Kernstädten, ist damit eine gänzlich neue Aufgabenstellung der Planung dominant geworden: die Steuerung des Schrumpfens (Mayer & Siebel 1998; Siebel et al. 2001). Solange Strukturschwäche ein Phänomen gering industrialisierter Räume gewesen war, hatte sich die Strukturpolitik auf Umverteilungsmaßnahmen beschränken können, um den Zurückgebliebenen auf die Beine zu helfen, damit sie schneller auf dem für allgemein gültig gehaltenen Pfad industrieller Urbanisierung vorankämen. Mit der Krise des Ruhrgebiets aber war eine neue Problematik sichtbar geworden: Hier handelte es sich um eine hoch urbanisierte und industrialisierte Region, deren einstige Modernität in einer Sackgasse geendet war. Strukturpolitik hatte hier nicht die vorhandenen Strukturen zu stärken – die waren gerade das Problem ‒, sie mussten vielmehr grundlegend geändert werden. Es ging nicht um schnelleres Vorankommen auf einer vorgegebenen Bahn, sondern um das, was Schumpeter als Innovation definiert hat: „Die Veränderung der Bahn“ (zit. nach Svedberg 1994, S. 55). Eine solche Planung greift schwer fassbare soziale und kulturelle Themen auf – unter der ebenso schwer fassbaren Zielsetzung der Organisation von Innovation. Planung zielt viel stärker als früher auf weiche Standortfaktoren und setzt auf weiche Strategien: kooperieren, verhandeln, koordinieren, aber auch begeistern und mobilisieren der eigenen Kräfte – die „Verführung durch das Projekt“ (Karl Ganser). Unter dem Stichwort der Projektorientierung konzentriert sich die Planung auf ein inhaltlich, zeitlich und räumlich eng umschriebenes Vorhaben, das Projekt, etwa die Umnutzung einer Industriebrache oder die Veranstaltung einer Weltausstellung. Dabei wird die zeitliche und akteursmäßige Trennung von Zielformulierung und Durchführung in vielfältigen Kooperationsformen zwischen öffentlichen und privaten Akteuren aufgehoben. Planung nimmt sich einerseits zurück im Vergleich zum Anspruch der Entwicklungsplanung auf umfassende, flächendeckende und langfristige Steuerung der gesamten Stadtentwicklung, anderseits erweitert sie ihren Aktionsraum, indem sie die klassische Arbeitsteilung zwischen rahmensetzender, staatlicher Steuerung und privater Umsetzung überwindet. Die IBA Berlin und die IBA Emscher Park markieren den dadurch induzierten Wandel der Planungskultur. Aber die IBA hat ihre Attraktivität behalten, obwohl neben der Steuerung des Schrumpfens seit der Jahrtausendwende die Steuerung von Wachstumsprozessen wieder aktuell geworden ist. Zum einen begründen die greifbaren Erfolge das anhaltende und sogar steigende Interesse an IBA auch unter geänderten Voraussetzungen und Problemlagen. Offenkundig sind die bisherigen IBA den hohen an sie gerichteten Erwartungen gerecht geworden. Außerdem haben die IBA Berlin und die IBA Emscher Park die Thematik von IBA räumlich erweitert und inhaltlich auf grundsätzliche Fragen der Stadterneuerung und der regionalen Strukturpolitik ausgedehnt, wodurch das Handlungsfeld von IBA so weit geöffnet wurde, dass auch Themen jenseits von Architektur und Städtebau mit einer IBA aufgegriffen werden konnten. Mittlerweile genießt die IBA einen so guten Ruf, dass manche Planer und Politiker verleitet sein könnten, eine IBA zu 613
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veranstalten in der Hoffnung, so leichter an Geld und Aufmerksamkeit für Vorhaben zu gelangen, die aus sich heraus diese Ressourcen nicht mobilisieren könnten. Der zentrale Grund für die neuerliche, hohe Attraktivität von IBA aber dürfte in den Eigenschaften des Formats selbst liegen. Gerade in seiner Offenheit und – scheinbaren – Voraussetzungslosigkeit ist IBA eine Antwort auf ein allgemeines Problem hoch organisierter und hoch verrechtlichter Planungssysteme: Sie sind effizient und verlässlich, sie schaffen Rechtssicherheit und gewährleisten grundlegende Qualitäts- und Versorgungsstandards. Aber sie bezahlen ihre Effizienz und Verlässlichkeit mit einer gewissen Unbeweglichkeit. Nicht ganz ohne Grund gilt die öffentliche Verwaltung nicht gerade als Inbegriff eines innovativen Milieus. Die IBA aber ist ein Instrument, um in innovationsfeindlichen Milieus Innovationen zu organisieren. Wie bewältigt IBA diese paradoxe Aufgabe? Die Frage, woher innovative Ideen kommen, ist im Grunde einfach zu beantworten: Sie kommen von klugen Menschen. Aber solange man IBA-Macher wie Christoph Zöpel oder Karl Ganser (zur zentralen Rolle von Schlüsselpersonen bei Innovationen: Ibert et al. 2015) nicht klonen kann, bietet diese Antwort – so einleuchtend sie sein mag – keinen Ansatz zur Innovationsförderung. Man kann allenfalls mittels einer urbanen Umgebung und attraktiver Arbeitsplätze versuchen, kluge Menschen in die eigene Stadt zu locken, wie es Richard Florida empfohlen hat (2002). Aber abgesehen von Clustereffekten kämen dadurch nicht mehr Innovationen in die Welt, sie würden nur anders über die Welt verteilt. Will man Innovationen fördern, muss man soziale Situationen organisieren, die Innovationen anregen. Situationen, die neues Denken anregen, beinhalten eine prekäre Balance zwischen widersprüchlichen Anforderungen. Es sind Situationen, in denen scheinbare Sicherheiten aufgelöst und Identitäten infrage gestellt werden und denen das Risiko des Scheiterns immanent ist. Kreative Situationen sind spannungsvolle Situationen, die ausgehalten werden müssen. Das macht eine Stadtpolitik, die Innovation fördern will, zu einer Wanderung auf schmalem Grat. Die IBA als eine Strategie zur Organisation von Innovationen ist also eine riskante Strategie. Es ist die Rolle der IBA, innerhalb des politisch-administrativen Systems Ausnahmesituationen auf Zeit zu schaffen, Sonderplanungszonen ähnlich den Sonderwirtschaftszonen, in denen in Anlehnung an einen Ausspruch von Karl Ganser, die Zweckentfremdung öffentlicher Gelder, die Dehnung des Baurechts und die Umgehung eingespielter Verwaltungsabläufe erprobt werden können. IBA ist ein Format informeller Planung – aber informell heißt nicht, es gäbe keine Standards. Im Gegenteil: In über hundert Jahren Erfahrung mit der IBA sind Ansprüche, Voraussetzungen und Merkmale von IBA etabliert worden, hinter die sie nicht zurückfallen kann, ohne das Format zu beschädigen oder sogar wirkungslos zu machen (BMI 2017). Ihr Gemeinsames ist ihre Ambivalenz oder auch ihr Paradoxie: • IBA soll Probleme lösen, die ohne Anstoß von außen nicht gelöst würden. Deshalb ist IBA immer ein neuer und fremder Akteur, der Routinen irritiert, höchste Qualitätsstandards verlangt, mit neuem Wissen konfrontiert und nach ungewohnten Regeln handelt. IBA ist eine Zumutung. Aber IBA kann nur so weit erfolgreich sein, wie es
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gelingt, die lokalen Akteure mit ihren endogenen Potenzialen für IBA zu mobilisieren. Die IBA ist eine Zumutung, für die sich die Akteure begeistern müssen. Die Einrichtung einer IBA ist eine Misstrauenserklärung gegen die Innovationsfähigkeit der lokalen Akteure, die aber nur Erfolg haben kann, wenn die lokalen Akteure sich mit hohem Engagement beteiligen. Um die lokalen Akteure zu beteiligen und ihre Potenziale zu mobilisieren, ergeht zu Beginn einer IBA ein Aufruf, Ideen für Projekte einzureichen. Von den daraufhin eingesandten Vorschlägen werden letztlich nur wenige in die IBA aufgenommen. Das schafft viele frustrierte Akteure. Und die, die das IBA-Label erhalten haben, sind in erster Linie an ihrem Projekt interessiert und allenfalls sekundär daran, IBA-Standards zu erfüllen. Im Gegenteil, die Qualitätsanforderungen von IBA können als zusätzliche Lasten empfunden werden, die die Realisierung des Projekts erschweren oder gar verhindern. Auch stehen die IBA-Macher ihrerseits unter dem Druck der Öffentlichkeit, möglichst bald etwas Sichtbares vorzuweisen. Beides kann dazu verleiten, im Interesse greifbarer Erfolge die Qualitätsstandards zu lockern. Daher lautet immer die Frage: Wie kann eine IBA gegen solche Versuchungen, vom rechten Pfad abzuweichen, immunisiert werden? IBA ist eine Planungsstrategie, die Innovationen entwickeln und umsetzten soll. Das wirklich Neue aber kann zu Anfang nicht schon gewusst sein. Wie will man etwas planen, das man noch gar nicht kennt? IBA ist also Planung des Unplanbaren. IBA-Projekte sollen für lokal auftretende Probleme lokal angepasste Lösungen entwickeln. Die aber sollen internationale Strahlkraft entfalten. IBA ist ein Labor, in dem unter experimentellen Bedingungen Neues entwickelt wird. Wie können unter Ausnahmebedingungen entwickelte Lösungen alltagstauglich sein? IBA ist eine Bauausstellung, die entsprechend dem Wandel der städtischen und regionalen Problemstellungen mehr und mehr ökonomische, soziale und ökologische Themen adressiert. Solche Themen sind oft nur schwer mit Bauten angemessen visualisierbar. Eine Ausstellung – erst recht eine Bauausstellung – ist auf aber auf Gebautes und auf Sichtbarkeit angelegt. IBA Qualitätsstandards müssen sich vor einer internationalen Fachöffentlichkeit bewähren können. Aber sind die Standards der Experten immer identisch mit denen, nach denen die Bevölkerung den Erfolg einer IBA beurteilt? Und falls nicht, wie überbrückt man solche Diskrepanzen?
Jede IBA muss für diese Schwierigkeiten die für ihre Aufgabenstellung und für ihre besonderen Rahmenbedingungen passenden Lösungen finden. Da IBA eine auf Praxis orientierte Strategie ist, müssen es praktisch handhabbare Lösungen sein. Nun gibt es nach Sigmund Freud für jedes komplexe Problem eine einfache Lösung, nur die sei in der Regel falsch. Also müssen die Organisation, die Strategien, die Prozesse und die Lösungen ein den Aufgaben adäquates Komplexitätsniveau erreichen. Anders gesagt: Der Paradoxie ihrer Aufgabenstellung, Innovationen zu organisieren, entspricht eine paradoxe Planungsstrategie von IBA. Dazu im Folgenden vier Beispiele.
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IBA ist „perspektivischer Inkrementalismus“ (Karl Ganser) IBA ist ein eigentümlicher Zwitter aus visionärer Programmatik und pragmatischer Selbstbescheidung: Sie greift zukunftsträchtige Themen von internationaler Relevanz auf und ihre Lösungen sollen höchsten Qualitätsstandards genügen. Aber die IBA ist auch eine systematische Organisation von Zeitdruck. Spätestens nach zehn Jahren müssen praktische Antworten ausgestellt werden. Unabhängig davon, wie sinnvoll umfassende Entwicklungspläne sind, sie hätte gar nicht die Zeit dafür. Die IBA Berlin wie auch die IBA Emscher Park haben keine Masterpläne aufgestellt, sie haben zentrale Handlungsfelder wie den Verkehr sogar bewusst ausgeklammert. Beide betrieben Akupunktur, d. h., sie haben mit einzelnen Projekten an strategisch wichtigen Orten exemplarisch zu zeigen versucht, wie die Schäden an der europäischen Stadt repariert und wie die Hinterlassenschaften von 150 Jahren Industriegesellschaft bewältigt werden könnten. Die IBA macht kleine Schritte zu großen Horizonten.
IBA ist irrtumsfreundliche Planung Planung ist zielorientiertes Handeln in die Zukunft unter möglichst weitgehendem Ausschluss von Irrtümern. Aber Zukunft kommt oft anders als geplant. Deshalb hat fast jede Planung unbeabsichtigte Nebenfolgen. Das gilt für IBA in besonderem Maße, denn als eine Strategie zur Organisation von Innovationen ist sie eine Planung ins Ungewisse. Die Möglichkeit des Scheiterns ist bei der IBA immanent, und deshalb muss sie Scheitern systematisch ins Kalkül nehmen, d. h. irrtumsfreundlich planen, um die Risiken in Grenzen halten zu können.
IBA ist eine Bauausstellung, die Innovationen entwickelt, (auch) ohne zu bauen Die IBA Thüringen hat sakrale Kirchenräume umdefiniert zu Räumen des Alltags. Die innovativen Lösungen dafür hatten nicht viel mit Bauen zu tun. Ähnlich die IBA Emscher Park. Gerade ihre spektakulärsten Projekte sind keine Neubauten, sondern Umdefinitionen von längst Vorhandenem. Die gebauten Hinterlassenschaften der Schwerindustrie waren in den Augen der Bevölkerung des Ruhrgebiets Schrott, der einfach nur wegsollte. Die IBA Emscher Park aber hat verhindert, dass der Gasometer Oberhausen abgerissen wurde, und dann nichts weiter getan, als den Blick von außen auf einen riesigen, nutzlos gewordenen und hässlichen Behälter umzulenken in das Innere und so eine monströse Blechbüchse in einen geradezu sakralen Ausstellungsraum verwandelt.
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Die IBA Thüringen und IBA Emscher Park leisten Innovationen, aber beide Male liegt das Neue in neuen Sichtweisen und geänderten Problemdefinitionen. Auch die IBA bietet handfeste technische und organisatorische Innovationen und herausragende Neubauten. Aber die nachhaltigsten Innovationen von ihr sind die, die Veränderungen in den Köpfen der Menschen bewirken – und Bauten sind dafür manchmal nur die Vehikel. So beruhen viele Innovationen der IBA Emscher Park darauf, nutzlos gewordenen Industrieanlagen neue Bedeutungen und neue Funktionen zuzuweisen: eines Museums, eines Ausstellungsraums, eines Technologiezentrums oder eines Parks, ohne die darin gebundene Geschichte vergessen zu machen. Damit hat die IBA der Region ein Stück Selbstbewusstsein zurückgegeben. Das Ruhrgebiet war mit der neuen, industriellen Gesellschaft groß geworden und es hatte seinen Stolz lange aus seiner Modernität gewonnen. Die Vergangenheit galt wenig. Wenn etwas seinen Zweck verloren hatte, wurde es weggeräumt, um Platz zu machen für das jeweils neueste Neue. Die IBA Emscher Park hat dem Ruhrgebiet ein historisch vermitteltes Selbstbewusstsein eröffnet, was nicht nur die Identifikation mit der Region gestärkt, sondern auch zu einem anderen Umgang mit dem Vorhandenen beigetragen hat.
IBA ist bottom-up und top-down IBA verfolgt keine Machtstrategie, die mit überlegenen Ressourcen Ideen von außen importiert und auch gegen lokale Widerstände durchsetzt. Die endogenen Potenziale mobilisiert man nicht mit Befehlen. Macht weckt kein persönliches Engagement – im Gegenteil sie provoziert Widerstand, und sobald die Macht sich zurückgezogen hat, kehren die alten Netzwerke und Verhaltensweisen zurück. Machtstrategien sind selten nachhaltig. Um nachhaltig zu sein, müssen stattdessen ein neues Problembewusstsein, höhere Qualitätsstandards und bessere Prozesse in den Köpfen der Menschen verankert werden. Das gelingt nur, wenn die Akteure maßgeblich beteiligt werden an der Formulierung und der Durchführung der Projekte. Innovation braucht Bottom-up-Prozesse – daher auch die Projektaufrufe im Rahmen der IBA. Andererseits setzt Innovation die Irritation eingefahrener Verhaltensweisen voraus, der Filz muss aufgerissen werden, die lokalen Akteure müssen mit neuen Problemdefinitionen, höheren Qualitätsanforderungen und ungewohnten Planungsprozessen konfrontiert werden. Für Innovationen ist zuweilen auch ein fremder, eigenständiger Akteur notwendig, der mit starken, rahmensetzenden Programmen von außen und top down intervenieren kann. IBA ist top down, aber als sanfte Machtstrategie, die Anreize setzt und Belohnungen verteilt, und deren vorgefasste Programmatik von lokalen Initiativen irritierbar ist. Inkrementalismus, aber mit visionärer Perspektive – Bauausstellung, die gar nicht baut oder Bauten als Vehikel zu ganz anderen Zwecken nutzt, irrtumsfreundliche Planung, bottom-up und top-down: IBA ist ein widersprüchliches, manchmal auch chaotisches Geschäft. Aber schon Jane Jacobs hat 1956 in einem Vortrag vor dem Architectural Forum die Planer ermahnt, to „respect – in the deepest sense – strips of chaos that have a weird 617
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wisdom of their own not yet encompassed in our concept of urban order“ (2016 [1956], zit. nach Sparberg 2006). Es ist die notwendige Kunst jeder IBA, ihre spezifische Gewichtung zwischen diesen Anforderungen zu finden, um ihre Paradoxien produktiv aufzulösen. Damit aber IBA überhaupt die Chance hat, angemessene Lösungen zu entwickeln, sind bestimmte Voraussetzungen unabdingbar: 1. Eindeutige Unterstützung durch die Politik. In Darmstadt hatte der Landesfürst die erste IBA auf der Mathildenhöhe zu seiner eigenen Sache gemacht. Die IBA Emscher Park ist mit einem Beschluss der Landesregierung gegründet worden, die der IBA-Gesellschaft Unabhängigkeit von den Haushaltsbeschlüssen des Parlaments und ihren Projekten Zugang zu den nötigen Ressourcen sicherte. 2. Geld. IBA benötigt keine eigenen Investitionsmittel. Wenn IBA ihre Projekte selbst finanziert, kann nach Ende der IBA darauf verwiesen werden, dass man nur mit Sondermitteln diese besonderen Projekte hätte realisieren können. IBA-Impulse wären nicht nachhaltig. Aber das IBA-Etikett muss mit der begründeten Aussicht auf Finanzierung verbunden sein. Das war im Fall der IBA Emscher Park und der IBA Sachsen-Anhalt durch den Beschluss der Landesregierungen gewährleistet, dass IBA-Projekte an die Spitze der Anträge bei den einschlägigen Förderlinien rücken. Damit war ihre Finanzierung indirekt gesichert – zusammen mit der Möglichkeit, ein Projekt ressortübergreifend zu fördern. Das wiederum ist die Voraussetzung für ein wesentliches Qualitätskriterium von IBA-Projekten: ihre Polyvalenz, d. h., dass jedes Projekt mehreren Qualitätsmaßstäben genügen soll, also sozialen, architektonischen, ökologischen, ökonomischen etc. 3. Aufmerksamkeit. Die IBA bietet eine Bühne, auf der ihre Akteure die Aufmerksamkeit der nationalen und internationalen Fachwelt, der Politik und der Öffentlichkeit gewinnen können, und Aufmerksamkeit ist eine Ressource, die einen starken Anreiz auf die verschiedenen Akteure ausüben kann, sich zu beteiligen. 4. Zeitdruck. Zehn Jahre sind wenig Zeit, aber ausreichend, um eine genügende Zahl von Projekten zu formulieren, zu qualifizieren und umzusetzen. Dennoch ist dieser Zeitrahmen so eng, dass die üblichen Prozesse beschleunigt werden müssen. Die Aussicht, im Rahmen von IBA ein Projekt schneller realisieren zu können, kann wiederum ein Motiv sein für manchen Investor, sich an der IBA zu beteiligen. 5. Themen. Eine IBA benötigt ein Thema von nationaler und internationaler Relevanz, das ohne IBA nicht erfolgversprechend in Angriff genommen würde. 6. Kompetenz und Charisma. Die IBA braucht hervorragende Experten, die Impulse geben können zum Wandel der Planungspraxis und für weitergehende Experimente. Zugleich sollten sie über die Fähigkeit verfügen, andere für die riskanten Aufgaben einer IBA zu begeistern. Ressourcen, haben die unangenehme Eigenschaft, knapp zu sein. Das gilt für die IBA-spezifischen Ressourcen in besonderem Maße. Zeitdruck ist ein explizites Merkmal des Formats. Politische Unterstützung, Geld und Aufmerksamkeit, aber auch zukunftsträchtige Themen
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einer raumbezogenen Planung sind nicht beliebig vermehrbar. Bei einigen Vorhaben der letzten Zeit scheinen das politische Commitment der Landesregierungen und demzufolge auch das nötige Geld zu fehlen. Man könnte zuweilen den Eindruck bekommen, als sei eine IBA eingerichtet worden in der Hoffnung, so das Interesse der Politik für planerische Vorhaben überhaupt erst zu wecken und die nötigen finanziellen Ressourcen zu mobilisieren. Erst recht ist Aufmerksamkeit grundsätzlich begrenzt, sie kann nur umverteilt, aber nicht vermehrt werden. Ähnliches gilt für Themen, die lokal bearbeitbar sind und zugleich nationale und internationale Aufmerksamkeit garantieren. Im 20. Jahrhundert fand rund alle 20 Jahre eine IBA statt, sie war die seltene Ausnahme und lebt davon, Ausnahme zu sein. Gegenwärtig laufen sechs IBA parallel und weitere sind in Planung. Die IBA droht, ihre Außeralltäglichkeit zu verlieren. Außerdem nehmen sich sechs parallele IBA gegenseitig politische Unterstützung, Themen und Geld. Der Zugang zu eben diesen Ressourcen dürfte auch das wichtigste Motiv sein, um sich als Experte, Investor, Sponsor oder zivilgesellschaftlicher Akteur in einer IBA zu engagieren. Die Inflation von IBA lässt somit eine weitere wichtige Ressource knapp werden: kluge Köpfe, die Kompetenz und Charisma verbinden. Hinzu kommt, dass IBA aufgrund des Mangels an Ressourcen und des Verlusts an Außeralltäglichkeit nicht mehr die einzigartigen Tätigkeitsmöglichkeiten bietet wie früher, weshalb der Reiz, sich bei einer IBA zu engagieren, schwächer wird. Und schließlich sinken die Chancen, einprägsame Orte zu schaffen und dafür Aufmerksamkeit zu gewinnen, wenn immer größere Räume adressiert werden. Die erste regionale IBA, die IBA Emscher Park, bearbeitete ein Gebiet von 800 km2, die IBA Thüringen ein Land von 16.000 km2. Mit der räumlichen Ausdehnung steigt in der Regel die Heterogenität der Probleme wie der Interessen der potenziellen Akteure, während es für die IBA-Projekte immer schwieriger wird, auch nur innerhalb ihres Planungsgebiets Sichtbarkeit zu erreichen. Diese Entwicklungen engen die Handlungsspielräume von IBA zunehmend ein. Es wird immer schwieriger, Projekte aus dem Kontext von Programm und Qualitätsstandards zu entwickeln und dafür Umsetzungsmöglichkeiten zu suchen. Um größere Projekte bearbeiten zu können, sind die IBA-Macher vermehrt gezwungen, Projekte dort anzusiedeln, wo Flächen, Fördermittel und politische Unterstützung zur Verfügung stehen. Damit läuft IBA Gefahr, Projekte zu entwickeln, die unterhalb den programmatischen Ansprüche bleiben oder diese sogar verfehlen. Je stärker eine solche Gelegenheitsorientierung in den Vordergrund tritt, desto schwieriger wird es, ein kohärentes Programm mit Vorbildfunktion für Dritte zu realisieren. Die Praxis von IBA droht, zwischen hohen Ansprüchen an Programmatik und Qualität der Projekte einerseits sowie einer erzwungener Orientierung an den sich bietenden Gelegenheiten andererseits zerrissen zu werden. Angesichts dieser Situation sind Prognosen schwierig. Aber es lassen sich zwei negative Szenarien und eine Hoffnung zur Zukunft von IBA formulieren.
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Laissez-Faire Die Inflation von IBA entwertet das Format, aber darin können auch Vorteile gesehen werden. Eine Vielzahl von IBA, von unterschiedlichen Akteuren – Ländern, Gemeinden, zivilgesellschaftlichen Initiativen, Planern und Architekten – zu verschiedenen Themen ins Leben gerufen und betrieben, kann als hochdifferenziertes, dezentrales Suchsystem verstanden werden, das in einem bottom-up-organisierten Prozess künftige Probleme, zukunftsträchtige Themen und beispielgebende Lösungen erarbeitet. Der Bund könnte sich auf ein intensives Monitoring des Systems IBA beschränken, um daraus Erkenntnisse für kommende Aufgaben der raumbezogenen Planung und für intelligente Antworten darauf zu gewinnen. Innovative Projekte könnten durch Zuschüsse bei der Qualifizierung und Umsetzung unterstützt, besonders gelungene Lösungen im Nachhinein prämiert werden. Das hätte den Vorteil, auf Ausschreibungen und Themenvorgaben verzichten zu können, was ja immer voraussetzt, das schon ungefähr gewusst wird, was die künftigen Aufgabenstellungen sein werden. Allerdings: Die Inflation von IBA und damit die allmähliche Aushöhlung des Formats würde nicht aufgehalten. Zentrale Finanzierung Verglichen mit der IBA Emscher Park sind viele der heutigen IBA sehr schmalbrüstig. Eine regelmäßige Finanzierung durch den Bund würde viele ihrer Probleme lösen helfen, nur wäre das ohne formelle Zertifizierung nicht machbar. Zertifizierungsverfahren aber sind immer selektiv. Die IBA organisiert Prozesse mit offenem Ausgang. Das zu finanzieren ist eine Zumutung für jede Politik. Gute Aussichten, finanziert zu werden, hätten eher solche Konzepte, bei denen von vorneherein absehbar ist, was auch herauskommt. Außerdem wird ein Zertifizierungsverfahren bei den Antragstellern die Tendenz verstärken, sich an aktuellen Prioritäten der Bundespolitik zu orientieren – in der Hoffnung, so ihre Chancen auf Bewilligung zu verbessern. In beiden Fällen verstärkt die Zertifizierung einen Trend zu wenig wirklich suchenden und deshalb riskanten IBA: Die Innovationskraft von IBA würde geschwächt.
Fazit Die Zukunft der IBA wird hoffentlich zwischen diesen beiden Szenarien gefunden werden. Das hieße: wenn IBA, dann geführt von einer für die gesamte Laufzeit organisatorisch wie finanziell unabhängigen IBA-Gesellschaft, die die eindeutige Unterstützung aller relevanten politischen Instanzen genießt, ihr Programm in enger Kooperation mit lokalen, nationalen und internationalen Akteuren konkretisiert und die ihre Projekte unter der begründeten Aussicht erarbeiten kann, sie ohne Abstriche an den IBA-Standards auch zu realisieren. Es wäre kein Schaden, wenn dadurch auch die Inflation der IBA gebremst werden könnte.
IBA, oder die Kunst, Innovationen zu organisieren
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Literatur Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat [BMI], Referat SW 16 (Hrsg.). (2017). IBA Expertenrat: Memorandum zur Zukunft Internationaler Bauausstellungen. Berlin. https://iba. heidelberg.de/media/iba_memorandum_des_bundes.pdf. Zugegriffen: 24. September 2020. Florida, R. (2002). The Rise of the Creative Class. New York: Basic. Friedrichs, J., Häußermann, H., & Siebel, W. (Hrsg.). (1986). Süd-Nord-Gefälle in der Bundesrepublik? Opladen: Westdeutscher Verlag Häußermann, H., & Siebel, W. (1987). Neue Urbanität. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Ibert, O., & Christmann, G. et al. (2015). Innovationen in der räumlichen Planung. Informationen zur Raumentwicklung, 3, 171‒182. Jacobs, J. (2016 [1956]). The missing link in city redevelopment. In J. Jacobs, Vital little plans: The short works of Jane Jacobs. Ed. by S. Zipp & N. Storring. Toronto: Vintage. Mayer, H.-N., & Siebel, W. (1998). Neue Formen politischer Planung: IBA Emscher Park und Expo 2000 Hannover. DISP, 134, 4‒11. Roters, W., Seltmann, G., & Zöpel, Ch. (2019). Ruhr – Vorurteile, Wirklichkeiten, Herausforderungen. Essen: Mercator-Stiftung. https://www.stiftung-mercator.de/media/downloads/3_Publikationen/2019/2019_10/Studie_Ruhr_Vorurteile_Wirklichkeiten_Herausforderungen.pdf. Zugegriffen: 24. September 2020. Siebel, W. (2006). Wandel, Rationalität und Dilemmata der Planung. Planung neu denken 1: Zur räumlichen Entwicklung beitragen, 195‒209. Hrsg. v. K. Selle. https://digital.zlb.de/viewer/api/v1/ records/15463428_2006_4/files/pdf/pnd-online_2006-4.pdf. Zugegriffen: 24. September 2020. Siebel, W., Ibert, O., & Mayer, H.-N. (2001). Staatliche Organisation von Innovation: Die Planung des Unplanbaren unter widrigen Umständen durch einen unbegabten Akteur. Leviathan, 29(4), 526‒543. Sparberg Alexiou, A. (2006). Jane Jacobs: Urban Visionary. New Jersey, London: Rutgers UP. Svedberg, R. (1994). Josef A. Schumpeter: Eine Biographie. Stuttgart: Klett-Cotta.
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Die IBA Emscher Park im Kontext der Stadtentwicklungspolitik für Nordrhein-Westfalen Gerd Seltmann
Die IBA Emscher Park im Kontext der Stadtentwicklungspolitik
Über die Methoden und Wirkungen der IBA Emscher Park (1989‒1999) ist zu Recht viel geschrieben worden. Viel weniger Material gibt es jedoch zu den politisch-administrativen Rahmenbedingungen, die den Start dieser Bauausstellung erleichtert und sie über den gesamten Arbeitsprozess hinweg wirkmächtig begleitet haben. Das gilt im Prinzip auch für Einschätzungen dazu, welche Wirkungen umgekehrt von der IBA Emscher Park in das politisch-administrative System hinein ausgegangen sind. Ziel dieses Beitrages ist es, diese Zusammenhänge in knapp gefasster Form sichtbar zu machen. Wieso kam die Idee für eine Bauausstellung im nördlichen Ruhrgebiet überhaupt auf? Warum konnte es der IBA Emscher Park GmbH gelingen, nach einem kurzen Vorlauf erste Vorhaben in die Realisierung zu bringen und damit sehr früh über „die Faszination des Projekts“ (Karl Ganser) Wirkung zu entfalten? Wie ist es zu erklären, dass die Finanzierung der Projekte zu erheblichen Anteilen aus öffentlichen Mitteln erfolgte, dies aber nie zu Diskussionen über die Verteilung der verfügbaren Mittel geführt hat? Und weshalb haben sich methodische Ansätze der IBA Emscher Park in der Landes- und den Kommunalverwaltungen weit über ihre Laufzeit hinaus erhalten und weiterentwickelt? Dazu zunächst vier Thesen: • Der Erfolg der IBA Emscher Park basiert zu einem erheblichen Teil auf grundsätzlichen Rahmensetzungen der Stadtentwicklungspolitik in NRW und der intensiven Begleitung durch die Landesregierung über die gesamte Laufzeit hinweg. • Die IBA Emscher Park war eine bewusste und innovationsorientierte Verdichtung der Stadtentwicklungspolitik für ganz Nordrhein-Westfalen in einem städtebaulich, ökologisch und ökonomisch benachteiligten Raum. • Die IBA Emscher Park ihrerseits hat durch innovative Strategien und Projekte zur Weiterentwicklung staatlichen Handelns in ganz NRW beigetragen. • Die konsequente Abstimmung von Leitthemen, Projekten und Vorgehensweisen mit den kommunalen und regionalen Gremien hat auch auf dieser Ebene zu einer Verstetigung der methodischen Ansätze geführt.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_42
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In den folgenden fünf Abschnitten werden die Rahmenbedingungen der IBA Emscher Park und ihre Innovationsleistungen für das politisch-administrative System dargestellt. Der letzte Abschnitt fasst die wesentlichen Ergebnisse zusammen.
Stadtentwicklungspolitik in den 1980er-Jahren Die absolute Mehrheit der SPD bei der Landtagswahl 1980 führte zur Gründung des Ministeriums für Landes- und Stadtentwicklung unter Minister Christoph Zöpel. Ab 1981 war die zum Ressort gehörende Städtebauförderung dann geprägt von den vier Leitsätzen „Stadterneuerung: Lieber kleiner also zu groß – mehr Raum für Fußgänger – Spielraum für Kinder – Grün in die Stadt“. In vielen Vor-Ort-Gesprächen haben Christoph Zöpel und Karl Ganser die Umsteuerung der Städtebauförderung eingeleitet: weg von großflächigen „Stadtsanierungen“ und aufwändigen Betriebsverlagerungen hin zu bestandsorientierten und quartiersbezogenen Vorhaben. Über eine weit gefasste Richtlinie wurde es möglich, neuartige Projekte wie die Neunutzung von Bestandsgebäuden, die Verknüpfung von Stadträumen mit Freiräumen oder flächenhaften Verkehrsberuhigungsmaßmaßnahmen zu realisieren. Parallel dazu gab es eine Reihe von weiteren Maßnahmen und Entscheidungen in der Verantwortung von Christoph Zöpel, die in ihrer Gesamtheit zur eigentlichen Ausformung der Stadtentwicklungspolitik für Nordrhein-Westfalen geführt haben: Noch unter dem FDP-Innenminister Burkhard Hirsch war der „Grundstücksfonds Ruhr“ gegründet worden. Auf der Basis dieses Fonds – später erweitert zum „Grundstücksfonds NRW“ – konnte das Land über die Treuhänderschaft der Landesentwicklungsgesellschaft (LEG) nicht nur brachgefallene Flächen und Gebäude erwerben, sondern auch selbst als Träger für deren Neunutzung agieren. Über die konsequente Umsetzung des 1980 in Kraft getretenen Denkmalschutzgesetzes wurden landesweit Denkmallisten erstellt. In den wenigen Streitfällen entschied das Ministerium im Regelfall für den Erhalt der jeweiligen Denkmäler – so etwa gegen den Widerstand der Stadt Essen bei der Unterschutzstellung von Zollverein im Jahr 1987. Auch landeseigene Gebäude wurden unter Denkmalschutz gestellt und die entsprechenden Mittel deutlich erhöht. Im Einzelfall wurden zudem denkmalwerte Gebäude erworben und für Landesbehörden genutzt, zum Beispiel für den Umzug des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen in das ehemalige Postgebäude am Hauptbahnhof. Im Bereich des Wohnungsbaus wurden tausende von Wohnungen in Arbeitersiedlungen vor der Privatisierung bewahrt, indem sie auf gemeinnützige Wohnungsunternehmen übertragen und diese dann mit Modernisierungsmitteln unterstützt wurden. Die rund 40.000 Wohnungen der „Neuen Heimat“ in NRW wurden in eine neue Trägerschaft unter dem Dach der LEG überführt. Neubauprojekte im sozialen Wohnungsbau wurden mit Maßnahmen der Städtebauförderung abgestimmt. Zudem galt für Vorhaben mit mehr als 40 Wohnungen eine Verpflichtung zur Durchführung von Wettbewerben.
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Nach Zusammenführung von zuvor getrennten Bereichen zum Ministerium für Stadtentwicklung, Wohnen und Verkehr im Jahr 1995 wurden Maßnahmen des kommunalen und des landeseigenen Straßenbaus konsequent mit parallellaufenden Städtebauförderungsprojekten verknüpft. Im Bereich des öffentlichen Nahverkehrs wurden vorhandene Verkehrsverbünde gestärkt und neue gegründet. Mit den fachlichen Entscheidungen verbunden waren zudem wesentliche Veränderungen im Auftritt der staatlichen Administration. Architekten, Planer und Ingenieure oder Kulturschaffende waren nicht mehr nur Beteiligte in Planungsprozessen, sondern ständige Gesprächspartner. Bürgerschaftliche Gruppen – von Mietervereinigungen über sozialkulturelle Initiativen bis hin zu Hausbesetzern – wurden mit ihren Anliegen ernst genommen und oft in ihren Verhandlungen mit Kommunen unterstützt.
Die IBA Emscher Park als teilregionale Verdichtung der Stadtentwicklungspolitik In der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre waren die Erfolge der integrierten Stadtentwicklungspolitik flächendeckend sichtbar und durch alljährliche Rechenschaftsberichte zu den verschiedenen Programmen öffentlich dokumentiert. Es gab allerdings einen Teilraum des Ruhrgebietes, in dem die Entwicklung deutlich langsamer vorangeschritten waren als in den anderen Landesteilen: Die Emscher-Region zwischen Duisburg und Dortmund. Prägendes Merkmal dieses Teilraums war das rund 350 Kilometer umfassende, offene Abwassersystem der Emscher und deren Nebenläufe. Hinzu kamen große Industriebrachen mitten in den Städten, viele städtebaulich ungeordnete Quartiere mit überalterten Beständen und zerrissene Landschaften. Vor diesem Hintergrund stand die Frage im Raum, ob und auf welche Weise die Stadtentwicklungspolitik auf diese Gegebenheiten reagieren sollte. So entwickelte sich die Idee für einen besonderen Ansatz zur noch zielgerichteter gesteuerten Anwendung des staatlichen Förderinstrumentariums. Dafür standen in erster Linie die Programme des Ministeriums für Stadtentwicklung, Wohnen und Verkehr zur Verfügung. Vorgesehen war allerdings auch die Unterstützung durch Mittel anderer Ressorts für Herausforderungen, die absehbar nicht vollständig oder nur unvollständig mit den Fördermitteln des Städtebauministeriums zu bewältigen sein würden. Anders als bei klassischen staatlichen Programmen sollte die Steuerung des Prozesses jedoch nicht von der Landesverwaltung, sondern über eine staatliche Agentur privaten Rechts erfolgen. Neben der Präsenz inmitten der Region bestand ein weiterer Vorteil dieser Konstruktion darin, dass die Geschäftsführung für Gespräche und Vereinbarungen mit Leitungsbereichen anderer Ressorts nicht mehr zwingend auf die Einhaltung von Dienstwegen angewiesen war. Darüber hinaus wurde die Eigenfinanzierung der IBA GmbH für zunächst fünf, später für insgesamt zehn Jahre sichergestellt. Inspirationen für dieses Konzept lieferte die bis 1987 in Berlin laufende IBA, die sich erstmals in der Geschichte 625
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Internationaler Bauausstellungen auf ein ganzes Stadtgebiet ausgedehnt und in deren Verlauf die erhaltende Stadterneuerung erheblich an Bedeutung gewonnen hatte. Dem von Karl Ganser formulierten inhaltlich-programmatischen Titel „Emscher Park“ kam eine doppelte Funktion zu: Zum einen stand er für die Vision von einer Region, deren Erscheinungsbild und Lebensqualität sich fundamental verändern könnte; zum anderen enthielt er aber auch implizit eine Selbstverpflichtung der verantwortlich Handelnden in der Region, gemeinschaftlich und interkommunal an der Umsetzung zu arbeiten. Die formelle Ausrufung einer IBA in Verbindung mit diesem programmatischen Titel war zudem ein wichtiges Signal für die Fachwelten und die Medien. Ausgangspunkt der IBA Emscher Park war also die Analyse von Wirkungen der Stadtentwicklungspolitik in ganz Nordrhein-Westfalen. Daraus abgeleitet und mit einem maßgeschneiderten Organisationsmodell ausgestattet, wurde dann die Entscheidung zur bewussten und innovationsorientierten Verdichtung dieser Politik in einem städtebaulich, ökologisch und ökonomisch benachteiligten Raum.
Zur Bedeutung politisch-administrativer Rahmensetzungen für die IBA Emscher Park Vor dem geschilderten Hintergrund wird deutlich, dass die IBA Emscher Park bei der Entwicklung und Umsetzung ihrer Projekte erheblich von übergeordneten Rahmensetzungen in der Stadtentwicklungspolitik profitiert hat. Eine Reihe von Schlüsselflächen waren über den Grundstücksfonds Ruhr bereits in staatlichem Eigentum – so zum Beispiel zunächst die Zeche und später auch die Kokerei Zollverein in Essen, das Hüttenwerk Meiderich in Duisburg oder die Flächen des Gussstahlwerks und der Zeche Rheinelbe in Gelsenkirchen. In Abstimmung mit der LEG konnten also die Planungsprozesse schon vor Verkündung der IBA vorbereitet und danach unmittelbar eingeleitet werden. Mit einer Reihe von Bergehalden waren wichtige Teilflächen des künftigen Emscher Landschaftsparks bereits seit 1986 in den Besitz des Regionalverbands Ruhr (RVR) übergegangen, der dabei mit erheblichen Mitteln des Städtebauministeriums unterstützt worden war. Die grundlegende Studie des RVR zur Machbarkeit des Emscher Landschaftsparks wurde von Karl Ganser noch im Ministerium beauftragt und konnte deshalb kurz nach Arbeitsaufnahme der IBA GmbH vorgelegt werden. Die über viele Jahre hinweg konsequente Haltung des Ministeriums in Sachen Denkmalschutz war ebenfalls eine wichtige Rahmenbedingung für die IBA Emscher Park. Auseinandersetzungen über die Denkmalwürdigkeit von Gebäuden oder technischen Anlagen sind über die gesamte Laufzeit weitestgehend unterblieben. Eine Ausnahme gab es lediglich bei den Diskussionen um den Gasometer Oberhausen, dessen Abriss letztlich durch eine entsprechende Verfügung von Wolfgang Roters als seinerzeit zuständigem Abteilungsleiter im Städtebauministerium verhindert wurde. Kurze Zeit später begannen ebenfalls
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mit Unterstützung des Städtebauministeriums die Aktivitäten zur Aufnahme von Zeche und Kokerei Zollverein in das Weltkulturerbe, die 1991 erfolgreich abgeschlossen wurden. Diese Beispiele zeigen, dass die Zusammenarbeit der IBA GmbH mit dem Städtebauministerium unter den Nachfolgern von Christoph Zöpel weiterhin intensiv war – und von erheblicher Relevanz für den Erfolg, denn in den IBA-Projekten waren oft komplexe Förderfragen zu lösen. Über die gesamte Laufzeit der IBA Emscher Park hinweg war es möglich, Förderoptionen frühzeitig zu diskutieren und damit Zuwendungsbescheide zeitgerecht und programmübergreifend auszureichen. Ebenfalls wesentlich zur Umsetzung von IBA-Vorhaben beigetragen hat die Zusammenarbeit mit anderen Ressorts. So wurde 1991 nach Vorbereitung von Karl Ganser und Abteilungsleiter Thomas Neiss im Umweltministerium das „Ökologieprogramm Emscher-Lippe“ (ÖPEL) aufgelegt, aus dessen Mitteln während und auch noch lange nach Abschluss der IBA viele Einzelprojekte im EmscherRaum, aber auch an der Lippe und der Seseke realisiert werden konnten.
Beiträge der IBA Emscher Park zur Innovation staatlichen Handelns Ein wichtiges Element der Interaktion von IBA GmbH und Landesbehörden bestand darin, dass durch einen flexiblen Umgang mit den jeweiligen Richtlinien zunächst in Einzelfällen Innovationen ermöglicht wurden, die dann später durch Aufnahme in Richtlinien ‚in Serie‘ gehen konnten. So wurden zum Beispiel in Sozialwohnungsneubauten der IBA Emscher Park Gemeinschaftsräume gefördert, deren mögliche Einrichtung später in die landesweiten Richtlinien für alle Vorhaben aufgenommen wurde. Gleiches galt für Maßnahmen zur Regenwasserableitung und -sammlung. Ebenfalls zunächst im experimentellen Raum entstanden die ersten großflächigen Solaranlagen in der Metropole Ruhr (z. B. im Wissenschaftspark Gelsenkirchen und in der Kokerei Zollverein). Schon bald danach wurde deren Mitfinanzierung zum selbstverständlichen Bestandteil von Fördermöglichkeiten im Städtebau, aber auch in wirtschaftsbezogenen Förderprogrammen. Von Bedeutung für die Umsetzung des oben angesprochenen ÖPEL-Programms war es, dass im Zuge einer Verwaltungsinnovation alle Anträge einheitlich bei der Bezirksregierung Münster bearbeitet wurden, obwohl die Gebietskulisse sich über die Zuständigkeitsbereiche von drei Bezirksregierungen erstreckte. Auch die Gründung der Stiftung „Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur“ wurde auf Grund von Erfahrungen in der IBA Emscher Park auf den Weg gebracht; zunächst als Gemeinschaftsprojekt des Städtebauministeriums und der Ruhrkohle AG. Schon parallel zum Abschluss der IBA Emscher Park im Jahr 1999 etablierte die Landesregierung das Prinzip der interkommunalen Zusammenarbeit als grundsätzliche Vorgabe für die ‚Regionalen‘, die als gezielte Strukturförderung für Regionen zunächst in Ostwestfalen-Lippe (im Zusammenhang mit der Expo 2000 Hannover) und dann 2002 („EUROGA“; Düsseldorf und Niederrhein) organisiert wurden und seither in regelmäßigen Abständen stattfinden. 627
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Verstetigung von Methoden der IBA Emscher Park auf kommunaler und regionaler Ebene Ein wesentliches Merkmal der IBA Emscher Park waren die Wettbewerbsverfahren, denen alle Bau- und Landschaftsprojekte unterzogen wurden. Zuvor hatte es in den meisten Städten des IBA-Gebietes viele Jahre lang keine derartigen Wettbewerbe gegeben. Die Mitglieder von Stadträten und Kreistagen hatten also bei IBA-Projekten nicht nur im üblichen Rahmen über kommunale Finanzierungsanteile und Planverfahren zu beschließen, sondern waren zum Beispiel über die Diskussion von Ausschreibungsverfahren und die Mitwirkung in Wettbewerbsjurys unmittelbar in die Qualitätsfindung einbezogen. Darüber hinaus hatten die Bezirksplanungsräte über die Einrichtung und Entwicklung der regionalen Grünzüge zu entscheiden. So entwickelte sich ein weitestgehend überparteilich geprägtes Bewusstsein zur Sinnhaftigkeit der IBA-Projekte. Zur Vernetzung innerhalb der Kommunalverwaltungen wurden in allen Städten und Kreisen „IBA-Beauftragte“ ernannt. In jedem regionalen Grünzug wurde eine interkommunale Arbeitsgemeinschaft gebildet. Damit entstand im Rahmen der IBA Emscher Park ein breit gefächertes Netzwerk in den politischen Gremien und den Verwaltungen. Das Netzwerk sorgte für umfassende Transparenz; die Teilnehmer waren in lokale wie regionale Diskussionen zu Projektauswahl und Verfahren eingebunden und traten damit wiederum in ihren individuellen Netzwerken als ‚Botschafter‘ der IBA auf. Auf diese Weise wurden methodische Ansätze wie Wettbewerbsverfahren, projektorientiertes Denken und dialogorientierte Verfahren in den Kommunen verankert und auch nach der IBA weitergeführt. Vor allem aber ist es gelungen, ein starkes Fundament für die interkommunale Zusammenarbeit zu legen, die nach Abschluss der IBA im Emscher Landschaftspark oder beim Emscher-Umbau weitergeführt und inhaltlich Schritt für Schritt erweitert wurde. So schlossen sich schon im Jahr 2000 die Städte Bochum, Dortmund, Duisburg, Essen, Gelsenkirchen, Herne, Mülheim an der Ruhr und Oberhausen im Rahmen eines Forschungsvorhabens des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zusammen, um gemeinsam über die Zukunft der Region nachzudenken. In Zusammenarbeit mit der Universität Dortmund – Fakultät Raumplanung – und im Austausch mit Akteuren der Region entstanden zahlreiche Ideen, wie die Region im Jahre 2030 aussehen könnte. Im Jahr 2006 wurde auf dieser Grundlage die erste Fassung des „Masterplans Ruhr“ vorgelegt. Bereits im Jahr davor hatten die Städte Bochum, Essen, Gelsenkirchen, Herne, Mülheim an der Ruhr und Oberhausen eine Planungsgemeinschaft gegründet und mit den Vorarbeiten zur Aufstellung eines gemeinsamen „Regionalen Flächennutzungsplans“ (RFNP) begonnen. Das 2007 formal eingeleitete Planverfahren wurde im Mai 2010 mit Inkrafttreten des ersten RFNP in Deutschland abgeschlossen. Auch das Prinzip der Verknüpfung regionaler Entwicklungsstrategien mit besonderen, überregional wahrnehmbaren Ereignissen wurde beibehalten und weiterentwickelt – mit interkommunaler Zusammenarbeit im Rahmen der „Kulturhauptstadt Europas – Essen und das Ruhrgebiet“ im Jahr 2010 oder der „Grünen Hauptstadt Europas“ in Essen im Jahr
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2017. Als nächstes Großereignis wird derzeit wiederum in interkommunaler Zusammenarbeit die „Internationale Gartenbauausstellung“ (IGA 2027) vorbereitet.
Zusammenfassung Die Stadtentwicklungspolitik der 1980er-Jahre war geprägt durch die systematische Koordination der staatlichen Handlungsinstrumente – von der Städtebauförderung über den sozialen Wohnungsbau und den Staatshochbau bis hin zum Verkehr. Eine Bilanzierung der Zwischenergebnisse zeigte, dass in der städtebaulich wie ökologisch benachteiligten Emscher-Region besonderer Handlungsbedarf bestand. Über die Ausrufung der IBA Emscher Park wurde ein neuartiger Ansatz staatlicher Strukturpolitik gewählt. Die IBA Emscher Park wurde also organisch aus der Stadtentwicklungspolitik des Landes Nordrhein-Westfalen heraus entwickelt. Der Erfolg der IBA lässt sich noch heute an den täglich von vielen tausend Menschen genutzten Siedlungen, Industriekulturarealen und Landschaftsparks ablesen. Er basiert zu einem erheblichen Teil auf den seinerzeit bestehenden Rahmenbedingungen der Stadtentwicklungspolitik für ganz Nordrhein-Westfalen. Umgekehrt hat die IBA ihrerseits zur inhaltlichen und prozessbezogenen Innovation staatlichen wie kommunalen Handelns beigetragen und dabei in der gesamten Metropole Ruhr das Fundament für eine ausgeprägte interkommunale und regionale Zusammenarbeit gelegt.
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Die Emscher – Erinnerungsort und Zukunftswerkstatt Ulrich Paetzel
Auch die Zukunft hat eine Vergangenheit. Hätte jemand einem „Pottler“ vor 50 oder 60 Jahren prophezeit, dass die Emscher wieder zu einem sauberen Fluss werden würde, hätte man wahrscheinlich bestenfalls ungläubige Blicke geerntet. Denn die Emscher – ein knapp 83 Kilometer langer Fluss, der mitten durch das Revier fließt – hieß im Volksmund lange „Köttelbecken“. Noch in den 1990er-Jahren wurde sie in der Presse als „gequältes Wasser“ beschrieben (Rigos 1999, S. 223). Die heute längst zur Realität gewordene blau-grüne Zukunft der Emscher, konnten sich vor wenigen Jahrzehnten nur diejenigen ausmalen, die die Weichen für eben jene Zukunft stellten – allen voran der „Zukunftsminister“ Christoph Zöpel. Untersuchungen zur Geschichte der Zukunft, wie sie z. B. die Historiker Lucian Hölscher (1999) und Joachim Radkau (2017) vorlegten, haben aufgezeigt, dass Vorstellungen von und Erwartungen an die Zukunft seit dem Beginn des letzten Jahrhunderts eine maßgebliche Triebkraft für politisches und soziales Handeln waren. Zukunftsvisionen und -prognosen sind zudem ein Spiegel des jeweiligen Zeitgeistes. „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“ – die pointierte Antwort des ehemaligen Bundespräsidenten Helmut Schmidt in einem Interview mit dem Magazin Der Spiegel ist längst zu einem Bonmot avanciert.1 Es steht sinnbildlich für einen Paradigmenwechsel innerhalb des politischen Vokabulars – große Zukunftsvisionen erschienen (manchen) in den 1980er-Jahren als inzwischen unzeitgemäß. Das Thema Umweltschutz ist besonders eng mit Zukunftsvorstellungen verbunden – man denke nur an die „Fridays for Future“-Proteste. Umwelt schützen, heißt entsprechend auch Zukunft gestalten. Umweltfragen sind folglich Zukunftsfragen. Das zeigt sich deutlich am Beispiel der Emscher. Insofern ist die Geschichte der Emscher auch eine Geschichte der Zukunft. Anhand des menschgemachten Wandels dieses Flusses lässt sich der Wandel der jeweiligen zeitgenössischen Zukunftsvisionen ableiten. Ein kritischer Blick auf die ökologische Vergangenheit des Gewässers kann außerdem wichtige Impulse für die Gestaltung der Zukunft setzen (für einen Überblick über die Umweltgeschichte des Ruhrgebiets: Brüggemeier & Rommelspacher 1992; Brüggemeier 2003). Die Emscher ist so sowohl ökologischer Erinnerungsort als auch Zukunftswerkstatt (Berger & Seiffert 2014).
1
In einem Interview mit Der Zeit äußerte sich Helmut Schmidt sehr kritisch über sein berühmtes Zitat: „Das war eine dumme Antwort auf eine dumme Frage“ (di Lorenzo 2010).
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_43
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Zukunft durch Technik – Die industrielle Revolution und ihre ökologischen Folgen Noch im 18. Jahrhundert war das Gebiet um die Emscher kaum besiedelt. Auwälder prägten das Landschaftsbild (Pott 2017). Doch bereits damals galt sie als ein „unberechenbarer“ und damit potenziell gefährlicher Fluss, denn es kam häufig zu Überschwemmungen, insbesondere nach starkem Sommerregen oder während der Schneeschmelze (Peters 1999, S. 8). Die „avantgardistische Fürstäbtissin“ (Spörl 2017, S. 24) Maria Kunigunde von Sachsen (1740–1826), die letzte Fürstäbtissin des Damenstifts Essen-Werden (Küppers-Braun 2002), gehörte zu einer der Ersten, die Pläne schmiedeten, um den Flusskreislauf zu verändern – allerdings fehlten ihr die technischen Möglichkeiten, um ihre Innovationen zu verwirklichen (Held 2007, S. 26).
Abb. 1
Der natürliche Verlauf der Emscher um 1789. Die roten Doppelstriche aus der Feder der Essener Fürstäbtissin Maria Kunigunde dokumentieren die frühen Überlegungen, den Ablass der Emscher zu beschleunigen und Energie aus Wasserkraft zu gewinnen (Archiv Emschergenossenschaft)
Maria Kunigunde hatte das Amt der Fürstäbtissin als Ausgleich für zuvor gescheiterte Heiratspläne erhalten. Hohe Positionen in der Reichskirche waren im 18. Jahrhundert noch für Sprösslinge führender Adelsfamilien vorgesehen. Als Leiterin des Essener Damenstifts hatte Maria Kunigunde als Autoritäten nur den Papst und den König über sich. Entsprechend groß war ihr Handlungs- und Gestaltungsspielraum. Sie erwarb die Eisenhütten Neu-Essen und St. Antony sowie Anteile an der Hütte Gute Hoffnung. Mit ihrer Entscheidung, in diese neue Branche einzusteigen, bewies sie – retrospektiv betrachtet – „Weitsichtsicht und Unternehmergeist“ (Spörl 2017, S. 23). Maria Kunigunde setzte auf die Industrialisierung, noch bevor diese in vollem Gange war.
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Im 19. Jahrhundert veränderte sich das Gebiet um die Emscher sowie der Fluss selbst grundlegend. Kohle war als Rohstoff bereits zuvor bekannt, hatte aber als Heiz- und Brennstoff noch keine signifikante Bedeutung inne. Im Zuge der Industrialisierung veränderte sich die wirtschaftliche Bedeutung des Rohstoffes Kohle sowie die technischen Möglichkeiten, ihn zu gewinnen, substanziell. Hier beginnt die eigentliche Geschichte des Ruhrgebiets (für einen Überblick zur Geschichte des Ruhrgebiets zur Zeit der Industrialisierung: Köllmann 1990). Ein neues Ballungsgebiet entstand dort, wo sich Bergbau und Schwerindustrie angesiedelt hatten. Allein zwischen 1871 und 1905 stiegen die Einwohnerzahlen zwischen Dinslaken und Castrop-Rauxel um das Sechsfache – von 90.000 auf 590.000 (Vallentin & Scheck 2013, S. 25). Laut zeitgenössischen Untersuchungen war ein Großteil der Wohnung „überbevölkert“ oder „hochgradig überbevölkert“ (Pieper 1903, S. 202, 208). Diese beengten Wohnverhältnisse trugen dazu bei, dass sich Krankheiten schneller verbreiten konnten – einer der Gründe für die niedrige durchschnittliche Lebenserwartung (Martin 2009). Industrialisierung und Urbanisierung führten zwangsläufig zu einer enormen Zunahme der Abwässer – ein Problem, das die Emscher zunächst ganz buchstäblich wegzuspülen schien. „Durch ihre Lage in der Mitte des Industriegebietes schien sie von Natur aus dazu bestimmt zu sein, der Hauptvorfluter für die ihr durch zahlreiche Bäche und sonstige Zuleitungen zugeführten Abwässer des größten Teiles dieses Gebietes zu werden“, so beschreibt Wilhelm Avereck (1913, S. 6) die Rolle der Emscher in seiner Untersuchung zu den Auswirkungen der Industrialisierung auf die Landwirtschaft. Doch die Einleitung von ungeklärten Abwässern in die Emscher blieb nicht ohne Folgen. Aufgrund des geringen Gefälles des Flusses, seines stark mäandernden Flusslaufes sowie durch die durch den Bergbau hervorgerufenen Bodensenkungen kam es zu zahlreichen Überschwemmungen, die die giftigen Industrieabfälle und Fäkalien anspülten (Vallentin & Scheck 2013, S. 25). Dies verursachte nicht nur einen erheblichen Schaden für die „Quantität und Qualität“ landwirtschaftlicher Produkte, sondern stellte „für die ganze Gegend eine direkte Gefahr“ dar (Avereck 1913, S. 6). Der mangelnde Hochwasserschutz führte in Kombination mit einem unzureichenden Kanalisationsnetz und fehlender Abwasserreinigung dazu, dass Krankheiten wie Typhus und Cholera sich rasant ausbreiten konnten und zu Epidemien wurden. Im Jahr 1901 erkrankten während der „Gelsenkirchener Typhusepidemie“ tausende Menschen, hunderte starben (Weyer-von Schoultz 2000).
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Abb. 2
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Hochwasser an der Boye in Essen-Karnap, 1909 (Archiv Emschergenossenschaft)
Zukunft gemeinsam gestalten – Die Gründung der Emschergenossenschaft und der erste Umbau der Emscher Um diesen „unhaltbaren Zuständen“ (Avereck 1913, S. 7) ein Ende zu bereiten, schlossen sich Bergbau, Industrie, anliegende Städte und Gemeinden zusammen und gründeten 1899 die Emschergenossenschaft – den ältesten Wasserwirtschaftsverband Deutschlands. Erstmals wurde die wasserwirtschaftliche Verantwortung einer regionalen Institution übertragen (Stemplewski 2011a, S. 132). Mit der Entscheidung für das Genossenschaftsmodell waren die damaligen Akteure ihrer Zeit voraus. Gleichzeitig erwies sich die Organisationsform jedoch als äußerst beständig und überstand sowohl Weltkriege als auch Währungsreformen oder Gleichschaltungsbemühungen durch das Naziregime (Balz & Kirchberg 2020). Auch in den 1990er-Jahren, inmitten der Privatisierungswelle kommunaler Energie- und Wasserbetriebe, konnten sich die öffentlich-rechtlichen Wasserverbände behaupten und waren angesichts der negativen Folgen der privaten Trägerschaften von Versorgungsunternehmen eine Kooperationsform, die sich an langfristigen Vorteilen sowie an werte- und verantwortungsorientiertem Handeln ausrichten (Faust 1977; Peemüller 2005; Pries 2019). Auch hinsichtlich des erfolgreichen Einsatzes von technischen Innovationen zur Bewältigung der zentralen Aufgaben – Abwasserreinigung, Hochwasserschutz, Gewässerunterhaltung – gehörte die Emschergenossenschaft zur Avantgarde. Im zeitgenössischen Fachjournal Stahl und Eisen war entsprechend die Rede von einem „bedeutende[n] Unternehmen […], durch welches ein ganzes Flußgebiet reguliert und durch Reinigung der Abwässer in einen gesunden Zustand überführt werden soll“ (Nolte 1907, S. 172). Internationale Delegationen reisten an, wie beispielsweise 1929 aus Manchester, um das Emscher-System zu studieren (City of Manchester 1929, p. 8).
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Wenige Jahre nach der Gründung der Emschergenossenschaft begannen die Bauarbeiten. Kläranlagen wurden errichtet und die Gewässer mit Sohlschalen ausgebaut, um ein oberirdisches Netz aus offenen Abwasserkanälen von rund 400 Kilometern Länge zu errichten. Außerdem wurde die Emscher begradigt. Der Emscherhauptlauf verkürzte sich so von 109 auf 81 Kilometer. Dieser Eingriff in den Flusskreislauf erhöhte die Fließgeschwindigkeit und verbesserte den Ablauf des Wassers. Zusätzlich gleichen seit diesem ersten Umbau der Emscher Pumpwerke die durch den Bergbau hervorgerufenen Bergsenkungen aus. Deiche verhindern, dass der Fluss über die Ufer tritt. Ohne die Eindeichung und das Abpumpen des Wassers stünden große Teile der Emscher-Region als Polder unter Wasser (Stemplewski 2011a, S. 132; Peters 1999, S. 74–105; Paetzel et al. 2017). Durch diesen ersten Umbau fand eine „Industrialisierung“ des Flusses statt. Aus der weitverzweigten Emscher war ein Abwasserkanal geworden.
Abb. 3
Marbach in Bochum-Hamme während des Baus des oberirdischen Abwasserkanalnetzes mit den Emschersohlschalen aus Beton (Archiv Emschergenossenschaft)
Mit diesen umfangreichen Maßnahmen konnte die hygienische Situation der umliegenden Städte massiv verbessert werden – hier beginnt die Geschichte des Umweltschutzes (Radkau 2000; Schmoll 2004). Das klingt aus heutiger Perspektive paradox, weil erheblich in die Natur eingegriffen wurde, um den verzweigten Fluss in einen offenen Abwasserkanal
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zu verwandeln. Für die damalige Zeit stellte die Frage nach den potenziell schädlichen Auswirkungen der Industrialisierung ein Novum dar.
In Zukunft ein „blauer Himmel“ – Umweltschutz als eine Frage von sozialer Gerechtigkeit „Da unten, da oben, da im Westen – sagen die Deutschen – da riecht es nach Ruß und Geld“, schreibt Heinrich Böll (2005, S. 361) in seinem einleitenden Essay zum 1958 erschienenen Fotoband Im Ruhrgebiet.2 Die „materielle Existenzkrise“ der Nachkriegsjahre, die das Ruhrgebiet aufgrund seiner zentralen Bedeutung für die Rüstungsindustrie schwer getroffen hatte, war zu diesem Zeitpunkt bereits überwunden. Die Wirtschaft der jungen Bundesrepublik boomte – allen voran im Ruhrgebiet (Jenko 2010). Für ihr gemeinsames Buch bereisten der spätere Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll (1917–1985) und der Fotograf Karl Heinz Chargesheimer (1924–1971) das Epizentrum des Wirtschaftswunders. Chargesheimers Schwarz-Weiß-Fotografien zeigen das Ruhrgebiet als Industriehochburg. Es sind ikonografische Bilder, die allerdings mit den in den 1950er-Jahren vorherrschenden Narrativen des durchweg positiven Wirtschaftswunders brechen. Chargesheimers Fotografien von Zechen und Kokereien sind ebenso imposant wie düster. Sie zeigen – ganz buchstäblich – die Schattenseiten der Industrie: verrußte Häuserfronten, verrußte Fenster, verrußte Menschen. Ein Triumph der Technik über die Natur. Chargesheimers eindrückliche Bildsprache gewinnt in Kombination mit der harschen Kritik, die Heinrich Böll in seinem den Fotos vorangestellten Essay übt, an Schärfe. Über ‚den Arbeiter‘ schreibt der spätere Nobelpreisträger: „[…] hundert Jahre lang ließ man, ohne sich die geringsten Gedanken darüber zu machen, Staub und Ruß auf ihn herabregnen, machte die Landschaft, in der er lebte, zur Büßerlandschaft, ließ Dämpfe auf ihn los, knebelte ihm das Klima, raubte ihm jährlich einen ganzen Monat Sonne; man schuf ‚Industrielandschaft‘, doch dieser Begriff, der sich nüchtern klingt, ist nur eine romantische Verbrämung der Tatsache, daß die Industrie hier die Landschaft getötet hat, ohne eine neue zu bilden […]; was man jetzt an Natur noch sieht, wirkt wie eine Vortäuschung von Natur, wie geplante Idylle […]. Das Wort Fortschritt bleibt bittere Ironie, solange dem Menschen die Elemente: Erde, Luft und Wasser entzogen oder vergiftet werden […].“ (Böll 2005, S. 384)
Der Wiederaufbau der vom Krieg zerstörten Industrie ist für Heinrich Böll kein Symbol des Fortschritts, sondern – im Gegenteil – fast schon ein Rückschritt. Wo einst die Zerstörung durch den Krieg die Landschaft prägte, wird sie zur Zeit des Wirtschaftswunders (erneut) durch die Zerstörung der Natur geprägt. Im Ruhrgebiet greift damit zentrale An-
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Im Jahr 2014 widmete das Ruhrmuseum Essen den 157 Fotos und bisher unveröffentlichtem Material eine Ausstellung.
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liegen der sich in den späten 1970er- und 1980er-Jahren etablierenden Umweltbewegung vorweg – eine Vision der Zukunft, in der „Technik und Umwelt gemeinsam gedacht“ werden (Fekkak & Wilts 2013). Im Jahr 1958, als Im Ruhrgebiet erschien, hatte das Zechensterben bereits begonnen und mit ihm die existenzielle Not derer, die ihre Arbeitsplätze verloren. Vor diesem Hintergrund lässt sich nachvollziehen, welchen Affront der Fotoband für manche darstellte. In einem „offenen Brief“ kritisierte der damalige Essener Oberbürgermeister Wilhelm Nieswandt den Bildband scharf und erklärte, das Ruhrgebiet sei es „gründlich leid, von Außenseitern in einer Weise dargestellt zu werden, die nicht einmal mit der Realität der Gründerjahre übereinstimmt, geschweige denn mit der Gegenwart“ (N.N. 1959, S. 58). „Das Ruhrgebiet wurde aus der Dreckatmosphäre gesehen“, ließ sich der Direktor des Bochumer Verkehrsvereins im Spiegel zitieren. Doch Chargesheimer und Böll waren nicht die Ersten, die die Umweltbelastung skandalisierten. Bürgerinitiativen versuchten seit Jahren die Aufmerksamkeit für dieses Thema zu gewinnen (Weichelt 2000, S. 255). Im Jahr 1956 hatte Der Stern im Rahmen einer Artikelserie zu Umweltbelastungen Duisburg zur „schmutzigsten Stadt Deutschlands“ gekürt (Weichelt 2000, S. 259). Der Wunsch nach weniger Umweltbelastung war entsprechend keiner, der ausschließlich ‚von außen‘ an das Ruhrgebiet herangetragen, sondern einer, der im Kontext der aufblühenden sozialen Bewegungen der Nachkriegszeit formuliert wurde. So harsch Bölls Worte für die „getötete Landschaft“ waren, so anerkennend waren sie für die Menschen, die diese Industrielandschaft hervorgebracht hatte – nirgendwo seien die Menschen „unpathetischer, einfacher und herzlicher“ (Böll 2005, S. 361). Bölls Essay lässt sich auch als ein Appell lesen, sich nicht mit der zur Normalität gewordenen Luftund Wasserverschmutzung zu arrangieren (Emschergenossenschaft 1999, S. 31), sondern sich gemeinsam für eine lebenswerte Umwelt auch für die einfachen Leute zu engagieren. Umweltschutz wird hier zu einer Frage von sozialer Gerechtigkeit. „Es ist bestürzend, dass diese Gemeinschaftsaufgabe, bei der es um die Gesundheit von Millionen Menschen geht, bisher fast völlig vernachlässigt wurde. Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden!“ (Willy Brandt).Willy Brandt machte Umweltschutz bei seiner Rede auf dem SPD-Wahlkongress in der Bonner Beethovenhalle am 28. April 1961 zu einem Teil seines Wahlversprechens. Der Spiegel kommentiert zwar kritisch, dass Brandt „allen alles“ versprochen habe – „den Rentnern mehr Geld, den Alten Fernsehgeräte, den Hausfrauen die Abschaffung der Zündholz- und Süßstoffsteuer und den RuhrAnrainern ‚reine Luft‘“; gleichzeitig wird hervorgehoben, dass Brandts Wahlversprechen den „rauchzerkratzten Kehlen an der Ruhr ein langersehntes Labsal“ gewesen sei und entsprechend große Unterstützung gefunden habe (N.N. 1961). Außerhalb des Ruhrgebiets wurde Brandts Vision eines blauen Himmels eher bespöttelt (Brüggemeier 2003, S. 104). In den 1990er-Jahren prägte dieser Zukunftsentwurf hingegen politische Entscheidungen.
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Eine Zukunft nach dem Strukturwandel – Die Internationale Bauausstellung Emscher Park Das Ende des Bergbaus und der ortsansässigen Schwerindustrie stellte das Ruhrgebiet vor eine enorme Herausforderung. Welche Zukunft hat ein Industriestandort ohne die bisherige Industrie? Wie kann eine von der Industrie geprägte Region aussehen, wenn Zechen und Stahlwerke eine buchstäbliche Lücke durch die freigewordenen Flächen hinterlassen haben (Goch 2002)? Die Internationale Bauausstellung Emscher Park (IBA Emscher Park), die am 21. April 1989 begann, stellte sich über einen Zeitraum von zehn Jahren diesen Fragen und entwarf ein Zukunftsprogramm, um die Strukturkrise zu bewältigen. Ein Leitgedanke der IBA war, dass der Rückbau von Industrialisierungsschäden eine zentrale Voraussetzung für neue, zukunftsfähige Entwicklungen für die Region ist. Im „Urmanuskript“ der ausformulierten Zielsetzung von 1987 heißt es: „Am Ende der Internationalen Bauausstellung soll, entlang der Emscherzone von Duisburg bis Dortmund, ein System von Naturparks, Freizeitparks, Kulturparks, Industrieparks und Wissenschaftsparks entstanden sein. Diese sollen glaubhaft machen, dass es innerhalb einer Generation mit dem konzentrierten Einsatz der gestalterischen, technischen, politischen und finanziellen Kräfte gelingen kann, die Schäden der Industrialisierung zurückzubauen und eine attraktive Natur- und Kulturlandschaft entstehen zu lassen. Die kurzfristigen und langfristigen strukturpolitischen Effekte dieser ins nächste Jahrtausend tragenden Idee entstehen vor allen Dingen durch die Beseitigung der vielfältigen ökologischen Schäden, durch eine Verbesserung der Rahmenbedingungen für gesellschaftliche und technische Innovationen und durch eine Steigerung des Selbstwertgefühls in dieser Region. Die Internationale Bauausstellung soll dazu beitragen, die nationalen und internationalen Vorurteile gegenüber dieser Region abzubauen.“ (IBA Emscher Park 2010, S. 927)
Initiiert wurde die IBA vom damaligen Nordrhein-Westfälischen Minister für Stadtentwicklung, Wohnen und Verkehr, Prof. Dr. Christoph Zöpel, und dem späteren Geschäftsführer der IBA, Dr. Karl Ganser. Eine der Besonderheiten der IBA Emscher Park war (und ist) ihr partizipationsorientierter Ansatz. Statt ein kurzfristiges Konjunkturprogramm ‚von oben‘ vorzugeben, wurden Rahmenbedingungen für Innovationsprozesse in und aus der Region geschaffen. Die Umgestaltung der Region sollte „die von den Planungsprozessen Betroffenen beteiligen und mitnehmen“. Eine Vorgehensweise, die deutlich die Handschrift des Politikstils von Christoph Zöpel trug (Goch 2013, S. 99–100). Über 120 Einzelprojekte wurden in den 17 Kommunen der Emscher-Region umgesetzt3 – eine „Propaganda des guten Beispiels“ (Häußermann & Siebel 1994, S. 60). Die unterschiedlichen Projekte gruppierten sich um verschiedene Schwerpunkte. Einer von ihnen war der Erhalt von architektonischen Zeugnissen der Industrieepoche, etwa 3
Die Kommunen der Emscher-Region sind: Duisburg, Oberhausen, Mülheim an der Ruhr, Bottrop, Essen, Gladbeck, Bochum, Gelsenkirchen, Recklinghausen, Herne, Herten, CastropRauxel, Waltrop, Lünen, Dortmund, Kamen und Bergkamen.
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das Gasometer in Oberhausen, die Essener Zeche Zollverein oder die Jahrhunderthalle in Bochum. Auch die Arbeitersiedlungen gehörten hierzu. Sie wurden unter Beteiligung der Bewohner*innen saniert. Bürgerinitiativen hatten sich seit den 1970er-Jahren für ihren Erhalt und ihre Modernisierung eingesetzt (Goch 2013, S. 99). Für den Direktor des Instituts für soziale Bewegungen, Stefan Berger, war die Entscheidung des „äußerst kreativen“ Sozialdemokraten Zöpel für den Erhalt der Industriedenkmäler wegweisend für die Etablierung einer Erinnerungskultur, die neue positive Identifikationsangebote schuf (Berger & Golombek 2020, p. 203). Ein weiterer Schwerpunkt der IBA war die namensgebende Entwicklung eines EmscherLandschaftsparks. Bereits in den 1980er-Jahren hatte Christoph Zöpel darauf verwiesen, dass ökologische Städte zukunftsfähige Städte seien, denn es seien Städte, in denen Menschen gerne lebten (Zöpel 1983). Das Zusammendenken einer ökologischen mit einer sozio-ökonomischen Bewältigung des Strukturwandels zieht sich wie ein roter Faden durch sein politisches und wissenschaftliches Schaffen. In der Retrospektive zeigt sich, wie richtig Christoph Zöpel mit seinen ökologischen Prognosen lag. Bei der Laudatio zur Verleihung des Verdienstordens des Landes Nordrhein-Westfalen 2017 hieß es entsprechend, dass er seinen Beinamen „Zukunftsminister“ völlig zurecht trage (Landesregierung NordrheinWestfalen 2017).
Zurück in die Zukunft – Der ökologische Umbau der Emscher So innovativ der erste Umbau der Emscher gewesen war, so wenig zeitgemäß wirkte er fast 100 Jahre später. Rein technisch betrachtet war das Emscher-System zukunftsfähig – es funktionierte weiterhin –, sozio-ökologisch betrachtet gehörte ein offenes Abwassersystem aber nicht mehr zu der Zukunft, die man für die Region gestalten wollte (Heinze & Bölting 2019). Im Kontext der Internationalen Bauausstellung Emscher Park Anfang der 1990er-Jahre läutete die Emschergenossenschaft daher eine neue Epoche im Ballungsraum entlang der Emscher ein: die ökologische Umgestaltung der Emscher. Aus dem größten offenen Schmutzwassersystem Europas sollte wieder ein sauberer oberirdischer Fluss werden. Ein Schlüsselmoment in der Geschichte der Region. Die Entscheidung für einen ökologischen Umbau war auch eine Entscheidung für eine bestimmte Zukunftsvision. In dem unter anderen von Klaus Tenfelde herausgegebenen Historischen Lesebuch heißt es über diesen epochalen Moment: „Die einst von Willy Brandt im Wahlkampf 1961 verkündete Vision vom ‚blauen Himmel über der Ruhr‘, die durch den Strukturwandel und strengere gesetzliche Auflagen weitgehend realisiert werden konnte, ist heute zur Vision der ‚blauen Emscher im grünen Emschertal‘ weiterentwickelt worden.“ (Vollmer & Löwen 2010, S. 838)
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Mit dem Abklingen der durch den Bergbau entstandenen Bergsenkungen war es möglich, die Vision der „blauen Emscher im grünen Emschertal“ Wirklichkeit werden zu lassen. Ende 2021 wird das Generationenprojekt, das hinsichtlich des Umfangs, des Aufwands und der Kosten seinesgleichen sucht, abgeschlossen sein. Dieser Weg zur „blauen Emscher“ führt über drei Stationen. Der Aufbau eines dezentralen Systems zur Abwasserreinigung Seit dem Jahr 2000 reinigen vier biologische Großkläranlagen die häuslichen und industriellen Abwässer der Region, bevor diese in die Emscher bzw. den Rhein fließen. Im Jahr 1994 wurde die Kläranlage Dortmund-Deusen in Betrieb genommen, die die Dortmunder Abwässer reinigt. Seit 1996 reinigt das neue Klärwerk Bottrop – das auf der Stelle des alten Flussklärwerks errichtet wurde – die Abwässer des mittleren Ruhrgebiets und seit 2018 auch das Wasser aus dem Emscher-Kanal. Im Jahr 2001 war die Modernisierung des bereits 1976 errichteten Klärwerk Emscher-Mündung (KLEM)4 abgeschlossen: das größte Klärwerk Europas mit biologischer Reinigungsstufe. Sein Standort könnte ruhrgebietstypischer nicht sein – an den Stadtgrenzen zwischen Dinslaken, Duisburg und Oberhausen. Im Werk werden die Abwässer des gesamten mittleren Ruhrgebiets gereinigt, bevor sie in den Rhein eingeleitet werden. Zwischen 2014 und 2019 wurde das Klärwerk bei laufendem Betrieb umgebaut, um die Anlage an das neue Emscher-System anzupassen. Die Abwässer aus dem Duisburger Norden und von Teilen Oberhausens werden in der Kläranlage Duisburg Alte Emscher gereinigt, bevor sie sauber in den Rhein fließen. Der Bau des Emscher-Kanals Der Bau des 51 Kilometer langen unterirdischen Abwasserkanals, der parallel zur Emscher zwischen Dortmund-Deusen und Dinslaken verläuft, ist der derzeitige Arbeitsschwerpunkt und das Herzstück des ökologischen Umbaus der Emscher. Er führt den oben beschriebenen Kläranlagen unterirdisch Haushalts- und Industrieabwässer zu, Schmutz- und Fließwasser verlaufen entsprechend getrennt voneinander. Die für den Kanal verwendeten Stahlbeton-Rohrsegmente haben einen Innendurchmesser von 1,4 bis 2,8 Meter und werden 8 bis 40 Meter unter der Erdoberfläche verlegt. Voraussetzung hierfür war das Abklingen der Bergsenkungen. Um einen größeren Gesamtquerschnitt zu erhalten, wurden in manchen Abschnitten zwei Röhren parallel verlegt. Werden diese Röhren ebenfalls miteingerechnet, dann hat der unterirdische Abwasserkanal eine Gesamtlänge von 73 Kilometern. Das Abwasser fließt mit einer Geschwindigkeit von 4 km/h durch den Kanal, etwa so schnell wie ein gemütlicher Spaziergang. Diese Fließgeschwindigkeit kann erreicht werden, weil der Kanal mit einem leichten Gefälle angelegt wurde. Am Ende seines Wegs quer durch das Revier muss das Abwasser aus bis zu 40 Metern Tiefe gehoben werden. Dieses Problem
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Das Klärwerk Emschermündung ist Teil der Route der Industriekultur. Sie ist eine Station der Themenroute 13 „Auf dem Weg zur blauen Emscher“.
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wurde durch den Bau von drei unterirdischen Pumpwerken in Gelsenkirchen, Bottrop und Oberhausen gelöst. Im September 2018 ging der 35 Kilometer lange Abschnitt von Dortmund über CastropRauxel bis Bottrop mitsamt den Pumpwerken Gelsenkirchen und Bottrop schrittweise in Betrieb. Die letzten Kanalrohre wurden im August 2019 verlegt. Im März 2020 feierte das Pumpwerk Oberhausen Richtfest. Ende 2021 wird die Abwasserfreiheit in der Emscher erreicht worden sein. Renaturierung der Emscher und der Gewässer Die zuvor beschriebenen Maßnahmen sind die Grundlage dafür, dass sowohl die Emscher als auch die Nebenbäche abwasserfrei sein werden und naturnah umgestaltet werden können. Naturnah – und nicht etwa naturgetreu – deshalb, weil es schlicht unmöglich ist, die Emscher und ihre Nebenbäche in den Zustand vor der Industrialisierung zurück zu verwandeln.
Abb. 4
Der Borbecker Mühlenbach in Essen vor der Umgestaltung und danach (Archiv Emschergenossenschaft)
Das Ziel des ökologischen Emscher-Umbaus geht jedoch weit über die Umgestaltung des Abwassersystems hinaus – die Lebensqualität in der Emscher-Region soll gesteigert und der Standort dadurch entscheidend aufgewertet werden. Der Leitgedanke ist, „dass die Entfaltung einer kreativen Ökonomie entscheidend von den Räumen abhängt, in denen Menschen sich bewegen. Nur in lebenswerten Städten kann sich ein kreatives Klima entfalten, nur in lebenswerten Städten werden sich überhaupt erst kreative Menschen ansiedeln“ (Rüttgers 2011, S. 139–140). Folglich wird eine Verbesserung der Möglichkeiten angestrebt, den Emscher-Bereich für Naherholung, Kultur, Sport und Freizeit nutzen zu können. Daher werden Projekte, die weit über den Gewässerverlauf gehen, durchgeführt, etwa das Anlegen von Wander- und Fahrradwegen. Das Projekt „Emscherkunst“, das im Rahmen der „Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010“ stattfand, gab mehr als 200.000 Besucher*innen
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einen kleinen Ausblick auf die Zukunft an der „blauen Emscher“ – eine Zukunft, in der „Technik und Natur gemeinsam [gedacht]“ werden (Fekkak & Wilts 2013, S. 31). „Wer glaubt, dem Ruhrgebiet sei seine Kraft verloren gegangen, es sei zu Großem nicht mehr imstande, der blicke auf die Emscher“, schreibt der Journalisten Uwe Knüpfer. Für ihn beweist das Projekt nicht nur die „Lernfähigkeit“ der Region, sondern belegt auch seine „Fähigkeit, Vision zu entwickeln“ (zit. in Niewerth & Stemplewski 2004, S. 9). Mit seiner Einschätzung ist er keinesfalls allein. Studien belegen eine überwältigende Akzeptanz des Umbaus bei der Bevölkerung (Heldt et al. 2016). Wie bereits vor über 100 Jahren reisen heute wieder internationale Besucherdelegationen an. Die Emscher-Region ist (wieder) zum „Lernlabor für andere Regionen“ geworden, insbesondere für die Regionen, die noch vor der Herausforderung des Strukturwandels stehen (Lucas et al. 2013, S. 116). Sie ist ein anschauliches Beispiel „sowohl für die Umweltbelastungen, die das Industriezeitalter hervorgebracht hat, als auch für die Möglichkeiten, hiergegen vorzugehen“ (Brüggemeier 2003, S. 87).
Fazit „Es zog sich hin, bis ein schreiender Missstand behoben wurde, dann aber gründlich und sogar exemplarisch“, schreibt Gerhard Spörl (2017, S. 20) in seiner Geschichte des Ruhrgebietes über die Emscher. Doch die Geschichte der Emscher ist weit mehr als eine Geschichte der Missstände – wie Spörl verdeutlicht –, denn für manche sei die Verwandlung eines offenen Abwasserkanals zurück in einen Fluss nichts weniger als „ein kleines Wunder“ (2017, S. 192). Um dieses Wunder wahr werden lassen zu können, brauchte es nicht nur große Visionen, sondern immer auch Entscheidungsträger, die mit Mut und Entschlossenheit vorangehen. Christoph Zöpel war sicherlich so eine Art von Politiker, der auch vor großen Herausforderungen nicht zurückwich. Ohne ihn, das lässt sich sicherlich so sagen, wäre der Strukturwandel im Revier anders verlaufen und vieles, auf das man heute in unserer Region mit Recht stolz ist, gäbe es nicht. Der menschengemachte Wandel der Emscher ist dafür ein Beispiel. „Zukunft braucht Vergangenheit“ appelliert die amerikanische Historikerin Gerda Lerner (2002). An der Emscher haben sich Zukunft und Vergangenheit längst getroffen. Ihre ökologische Vergangenheit gab und gibt entscheidende Impulse für die Gestaltung ihrer Zukunft – sie ist ökologischer Erinnerungsort und Zukunftswerkstatt zugleich.
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Mario Pallaschs Frau hat Kaffee gekocht, und die Tassen, die sie bereitgestellt hat, sind beschriftet: „Ickern – hier is auch schön!“ Klar ist es schön bei Mario Pallasch im Garten, er hat ja jetzt viel Zeit, ihn zu pflegen, denn seine Zeit als Bergmann ist lange vorbei. Aber 25 Jahre unter Tage wirken nach. Pallasch war Steiger in der Zeche Minister Achenbach, Obersteiger in den Zechen Westfalen und Consol, er weiß noch genau, wie lange er wo war und wann jeweils der „Deckel auf’n Pütt kam“, wie man im Ruhrgebiet sagt. Mitten im Garten an einem Mast hat er eine Fahne aufgezogen. Darauf steht, weiß auf schwarz: „Ruhrpott, meine Heimat, meine Liebe“. Dazu das Bergmannssymbol, Schlägel und Eisen, gekreuzt. Ickern liegt mittendrin im Ruhrpott, als Stadtteil von Castrop-Rauxel. Durch Castrop-Rauxel fließt, mehrere Kilometer lang, die Emscher. Sie gehört zur Stadt wie die Fahne zu Pallaschs Garten. Der Fluss war immer da, nicht zur Freude, sondern mehr als Belästigung und Beleidigung für Augen und Nase. Vor allem für die Nase. „Wenn die Emscher stinkt, gibt’s schönes Wetter“, so sagen sie in Ickern, und wenn es in der Liebe nicht laufe, „dann spring’ ich in die Emscher.“ Was eine besonders massive Drohung ist, denn die Emscher ist in Wahrheit kein Fluss, sondern eine üble Kloake. Deshalb nennt man sie im Ruhrgebiet ja auch Köttelbecke, was so viel heißt wie Kackebach, und es muss schon eine große Liebe zur Heimat sein, wenn einer das all die Jahre ausgehalten und seinen Stadtteil trotzdem schön gefunden hat: bei Ostwind den Gestank von der Emscher, bei Westwind den Gestank von der nahen Kokerei, vermischt mit dem vom nahen Chemiewerk. Unter’m Strich also: „Immer Gestank“, sagt Pallasch, denn Nord- und Südwind kenne man in Ickern nicht. Oft stand die Ekelbrühe sogar in den Kellern, denn die Emscher trat bei jedem größeren Regen über die Ufer, Kirchstraße, Klopstockstraße, alles überflutet, und Klaus-Dieter Tesch ist dann „in der Zinkwanne im Keller ’rumgepaddelt, um das Eingemachte zu retten.“ Auch ein Ickerner, der Herr Tesch, auch einer, der unter der Emscher gelitten hat. „Du lädst Freunde zum Grillen ein, und noch bevor der Grill angeschmissen ist, sagt schon der erste: ‚Was stinkt denn hier so?‘“ Oder Volker Anderl, der Fahrradhändler, Ickern, Emscherstraße 8. Näher an der Emscher kann man nicht leben. Direkt an der Böschung hat er seinen Laden, und er hat dort auch gewohnt, fast sein gesamtes Leben. Zunächst mit der Schwester im Kinderzimmer © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_44
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unter dem Dach. Unten floss der schwarze, ölige Fluss – und das war praktisch, denn da ließ sich alles hineinwerfen, was bei den Kindern an Müll so anfiel. Mit Schwung durchs Fenster, Dreck zu Dreck. An der Emscher rauchte Anderl heimlich seine erste Zigarette, ihren Gestank nahm er als normal hin: „Ich dachte, Flüsse seien so.“ Später dachte er das nicht mehr. Da schaffte sich die Familie einen Wohnwagen an und stellte ihn ein paar Kilometer von der Emscher entfernt auf einen Campingplatz, damit sie wenigstens an den Wochenenden unbehelligt blieben von ihren Ausdünstungen. Herr Tesch dagegen gründete eine Bürgerinitiative. Die schrieb Beschwerdebriefe an die für die Zustände verantwortliche Emschergenossenschaft, und für den Fotografen von der Lokalpresse stellten sich ihre Mitglieder ans Ufer der Emscher und hielten sich die Nasen zu. Es wurde dann an den schlimmsten Stellen Sauerstoff eingeblasen in die Emscher – hat aber nicht viel genützt. Es wurden die Ufer begrünt mit Bäumen und Büschen – hatte aber nur eine optische Wirkung. Doch dann war plötzlich Hoffnung. Und Bergmann Mario Pallasch sagte verträumt: „Wenn ich das noch erlebe, dass ich an der Emscher meine erste Forelle fange …“ Dann setzte sich Herr Tesch hin und schrieb einen Dankesbrief. Diese Geschichte handelt vom Verschwinden und von Wiederkehr, von Zerstörung und Heilung, von einem Comeback, das nach Schändung und hundert Jahren Missbrauch nur wenige für möglich gehalten hätten. Flüsse sind ja vieles gewohnt. Der Mensch staut und begradigt sie, er benutzt sie mal als Wasserspeicher, mal als Müllabfuhr, und wenn’s zu viel wird mit dem Müll, dann zwingt er sie durch Kläranlagen. Im günstigsten Fall besingt er sie. Nirgendwo in Europa jedoch hat der Mensch einem Fluss so viel zugemutet und so viel aufgebürdet wie der Emscher. Aber sie war nicht nur Opfer, sie war auch Täter. Östlich von Dortmund, am Rande der Gemeinde Holzwickede, steht der Hixterwald. Zwischen Farnen und Moosen und beschattet von alten Bäumen finden sich dunkle, feuchte Stellen am Boden. Es sind Sickerquellen, der Ursprung der Emscher. Hier hat sie sich vor langen Zeiten aufgemacht zu ihrer 108 Kilometer langen Reise an den Rhein. Als fischreiches Gewässer floss sie in verschwenderischen, großen Schleifen gemächlich durch die Heimat von Wollnashorn, Mammut und Höhlenbär, irgendwann grasten an ihren Ufern Wildpferde. Menschen siedelten sich nur spärlich an im Emscherbruch, das Gebiet war sumpfig, und der Fluss war gefürchtet, weil er aufgrund des sehr geringen Gefälles immer wieder über die Ufer trat. Das hatte oft schlimme Folgen, aber schlimmer wurde es, als man an den Ufern der Emscher die Erde aufzugraben begann, um den schwarzen Schatz zu heben, der sich darin befand: Der Kohleabbau, die Industrialisierung, der Zuzug Hunderttausender von Arbeitern – das alles ging zu Lasten der Emscher und ihrer Nebenbäche, die fortan gewaltige Schmutzwassermengen aus Bergwerken, Eisenhütten und Haushalten aufzunehmen hatten. Überschwemmungen lösten nun immer öfter tödliche Epidemien aus, die Menschen starben an Typhus, Cholera und sogar Malaria. Bergsenkungen taten ihr Übriges. Wo gewühlt wird im Untergrund, senkt sich das Land, ganze Stadtteile im Ruhrgebiet sackten ab, zehn Meter, zwanzig Meter, Flüsse flossen plötzlich rückwärts, bildeten stinkende Tümpel, und die hygienischen Verhältnisse wurden immer unerträglicher.
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Abhilfe musste geschaffen werden, aber wie? Unterirdisch ließ sich keine Kanalisation verlegen, die Erde war in Bewegung, Rohre wären gebrochen. Es blieb nur die oberirdische Lösung. Die war brutal, aber für das Überleben dieser Industriegesellschaft unvermeidlich. Im Jahr 1899 organisierten sich die Städte des Reviers in der Emschergenossenschaft, und die machte aus einem Fluss und den allermeisten seiner 35 Nebenbäche offene, stinkende Abwasserkanäle. Es sollte schnell weg, das Dreckszeug, unterwegs würde man es oberflächlich klären, und dann ab in den Rhein. Die Nebenbäche wurden zu betonierten Schneisen, auch die Emscher bekam am Oberlauf ein betoniertes Korsett. Ihrer Schleifen wurde sie beraubt, der direkte Lauf zur Mündung machte die Emscher um 25 Kilometer kürzer. Man legte sie tiefer und verschaffte ihr mehr Gefälle. Man deichte und zäunte sie ein. „Das stinkende Schmuddelkind“, sagte Roland Günter, Kunst- und Kulturhistoriker und großer Freund des Ruhrgebiets, „sollte möglichst keiner mehr sehen.“ Während man weiter südlich die Ruhr, die Namensgeberin der Region, zum Trinkwasserlieferanten umschulte, wurde aus der Emscher ein verbotener Fluss. Es waren üble Zeiten im Revier. Ruß war in der Luft und Staub in den Lungen, der Pesthauch der Emscher war nur ein Übel unter vielen. Doch mit dem grünen Bewusstsein mehrten sich die Beschwerden, die Klagen, die Fragen, und der nordrhein-westfälische Minister für Stadtentwicklung, Christoph Zöpel, kam zu dem Schluss, dass urbane Entwicklung nicht stattfinden könne, wo der Hauptfluss und alle Nebenflüsse stanken. Die Emscher-Zone ist ja ohnehin soziales Notstandsgebiet, die am dichtesten besiedelte Region Europas ist ein wildes Durcheinander von Industriebrachen, Arbeitersiedlungen, Straßen, Schienen und Stromtrassen. Dazu der abschreckende Fluss. Es gab etwas zu korrigieren, und als Ende der achtziger Jahre ein Zukunftsprogramm aufgelegt wurde für die Neuerfindung einer alten Industrieregion, da war der ökologische Umbau des Emscher-Systems eines der wichtigsten und ambitioniertesten Projekte. Die Gelegenheit war günstig, denn der Kohlebergbau, der mit Hunderten von Fördertürmen das Panorama des Reviers so lange beherrscht hatte, war am Ende, die Bergsenkungen hatten nachgelassen – erstmals konnte man daran denken, ein unterirdisches Abwassersystem zu installieren. Für Zöpel war die Sache klar: „Zu jeder europäischen Stadt gehört für die selbstverständliche, alltägliche Lebensqualität ein Fließwasser.“ Für das Ruhrgebiet, eine Zusammenballung vieler Städte, gelte das erst recht. Renaturierung der Emscher hieß sein Plan, doch als er den verkündete, kam aus der Zentrale der Emschergenossenschaft in Essen zunächst nur Widerstand: unmöglich, viel zu teuer, der Minister sei wohl nicht ganz bei Trost. Doch was als kaum machbar erschien, hatte sich bald als ein funktionierendes Großprojekt etabliert. Jeder Fluss, jeder Bach im Emscher-System bekam als unterirdischen Zwilling einen parallellaufenden Kanal, der für das Schmutzwasser zuständig war, damit an der Oberfläche wieder sauberes Wasser fließen konnte. Früher wäre das Schmutzwasser vor allem aus den Kohlezechen und Stahlschmieden gekommen, doch die Zeiten waren vorbei. An der Emscher ist keine Zeche mehr in Betrieb. Heute sind es hauptsächlich die Abwässer aus 1,3 Millionen Haushalten, die von den Kanalröhren aufzunehmen und abzuführen sind.
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429 Kilometer Röhren insgesamt, 74 Kilometer davon der Zwilling der Emscher, der, gespeist von all den Nebenzwillingen, die Aufgabe hat, das gesammelte Schmutzwasser zu drei neuen, hochmodernen, biologischen Klärwerken zu leiten. Die sollen all den Dreck und die Gifte herausfiltern, sodass am Ende Wasser übrigbleibt, das man zwar nicht trinken kann, das aber keine Gefahr mehr darstellt für Flora und Fauna, und das getrost sowohl in den sauberen Fluss gepumpt als auch an dessen Ende guten Gewissens dem Rhein überantwortet werden kann. Am Oberlauf der Emscher, im südlichen Dortmund, zeigten sich die Veränderungen am schnellsten. Und das ausgerechnet in einem Gebiet, in dem die Emscher vor gar nicht so langer Zeit nicht mehr zu existieren schien. Klaus Tillmann zum Beispiel hatte die Emscher dort nie gesehen – nicht als Kind, nicht als Jugendlicher. Erst viel später als Erwachsener. Er wusste von diesem Fluss, denn die Tante hatte davon erzählt, wie sie als Kind der Oma geholfen hatte, am Ufer des Flusses die Wäsche zum Bleichen auszulegen. Also war da ein richtiger Fluss gewesen, ein Fluss mit Wiesen an seinen Ufern, nur war er verschwunden, als Klaus Tillmann alt genug war, um sich über Flüsse Gedanken zu machen. Die Tillmanns wohnten schon immer im Dortmunder Stadtteil Hörde in der Weingartenstraße am Rande eines gewaltigen Stahlwerks, eines Dreck und Abgase speienden Ungeheuers, das den Himmel rot färbte, wenn das Roheisen aus dem Hochofen floss. Es ließ die Häuser zittern und die Menschen keuchen, überall fraß sich der Schmutz hinein, die Dachrinne, sagt Tillmann, hätte man mit einem Magneten säubern können. Gegen die Stahlschmiede hatte der Fluss keine Chance. Sie begrub ihn unter sich, buchstäblich. Man ließ ihn tief in der Erde in einem Rohr unter dem Werk hindurchfließen über eine Strecke von bestimmt einem Kilometer. Denn das war zu der Zeit kein Fluss mehr, den man in der Nähe haben wollte. Selbst aus dem Rohr im Untergrund drang noch Fäulnisgeruch an die Oberfläche. Über die Kanalisation. Tillmann konnte die Emscher riechen, aber nicht sehen, doch das alles änderte sich an einem Dezembertag im Jahr 2009. Das Stahlwerk produzierte nicht mehr, die Anlagen hatte man abgebaut und teilweise in China wiederaufgebaut, die Stahlstadt Dortmund war Vergangenheit, und das Rohr für die Emscher brauchte man nicht mehr. Der Eingang wurde zugemauert und die Emscher in einer kleinen Feierstunde ans Licht zurückgeholt. Statt des Rohrs bekam sie nun ein von Landschaftsarchitekten gestaltetes neues Bett, und statt einer übelriechenden Brühe floss da jetzt sauberes, klares Wasser. Es grenzte an ein Wunder. Die Tillmanns hatten natürlich gewusst, dass da ein Jahrhundertprojekt gestartet worden war, das sich zum Ziel gesetzt hatte, der Emscher wieder ein natürliches Gesicht zu geben, doch nun bekamen sie an ihrem Oberlauf, vor ihrer Haustür, erstmals einen Eindruck davon. Ein Fluss wie gemalt. Wie zum Auslegen von weißer Wäsche. Ein schmales, sich sanft schlängelndes, munter plätscherndes Gewässer, mehr Flüsschen als Fluss, nur ein Wehr hatte man öffnen müssen, und da war sie, die Emscher. Klaus Tillmann fand sie wunderschön. Doch es kam noch besser. Zehn Monate später wurde dort, wo das Stahlwerk gestanden hatte und nach seinem Abriss ein gewaltiger Krater klaffte, ein See geflutet. So entstand der Dortmunder Phoenix-See, benannt nach dem Stahlwerk, an dessen Stelle sich nun ein
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Gewässer ausbreitete, von dem stolz behauptet wurde, es sei größer als die Hamburger Binnenalster. Fortan floss die Emscher, gerade noch Totenfluss im Untergrund, am Rande des Sees mitten durch ein Freizeitgebiet, und Klaus Tillmann mochte sich fühlen wie wiedergeboren. Er hatte das Stahlwerk überlebt, die Luft war wieder frisch, die Emscher schön, der See noch schöner – es war Zeit für ein Gläschen Sekt. Es wurden dann die Ufer des Sees bebaut, und es waren keine armen Menschen, die sich da niederließen. Die luxuriösen Stadtvillen in der ersten Reihe waren schnell verkauft, und wenn sie nicht mehr als eine Millionen Euro kosteten, waren sie günstig. Wohnquartiere wurden als „Breeze living“ vermarktet, Haustypen trugen Namen wie „Cannes“ oder „Venedig“. Und weil in Dortmund der Norden für Armut steht, durfte das Nordufer des Sees natürlich nicht Nordufer heißen, sondern Südhangufer. Es ist terrassiert, es zieht sich einen kleinen Hügel hinauf bis zu der Stelle, an der das schöne, neue Dortmund auf das alte, sozial schwache Dortmund stößt: in der Weingartenstraße. Der sieht man an, dass sie schwer gelitten hat unter dem Stahlwerk. Wände haben grob verputzte Risse, über die Stuckfassaden der Gründerzeithäuser haben sich Schmutzschichten gelegt. Tillmanns Haus ist eines der kleineren in der Straße. Es sieht aus, als hätte es sich geduckt unter der Wucht der Höllenmaschine, die gerade in Schwung kam, als das Haus vor über 150 Jahren gebaut wurde. Tillmann hat noch zwei weitere Häuser in der Straße, schon seit Langem. Miete als Alterssicherung. Es sind soziale Mieten. In der Weingartenstraße verfolgten sie mit Interesse, was sich da tat in ihrer Nachbarschaft. Es war wohl ein bisschen wie beim Betrachten eines Films, nur dass dies Wirklichkeit war. Larry Hagman, der Fiesling der TV-Serie Dallas, war Ehrengast gewesen bei der Flutung des Sees, und damit hatte der Promifaktor Einzug gehalten im Arbeiterstadtteil Hörde. Spielernamen raunte man sich zu. Hatte Marco Reus, Stürmerstar von Borussia Dortmund, sich nicht eingekauft am See? In der Weingartenstraße sind sie eine Welt weg davon und doch gleich nebenan. See und Fluss gehören ihnen nicht weniger als den Millionären, oder vielleicht nicht? Klaus Tillmann weiß nicht mehr genau, wann er das erste Mal Post in seinem Briefkasten fand von jemandem, der von ihm wissen wollte, ob er nicht eines seiner Häuser verkaufen wolle. Es kamen immer neue Kaufangebote, aber Tillmann hat sich nicht ernsthaft damit beschäftigt. Er sei zufrieden, so wie es sei, er wolle nicht weg aus seiner Straße, die er jetzt „golden“ nennt. Andere aber nutzten die Gunst der Stunde. Endlich hatten ihre Häuser einen Wert, und an Käufern war kein Mangel. Das Stahlwerk war noch nicht ganz abgebaut, da hatten Investoren die Weingartenstraße und ihre Verlängerung, die Straße Am Remberg, bereits in den Blick genommen. Grenzgebiet zum Dorf der Reichen. Interessant. Ein Haus nach dem anderen wechselte den Besitzer. Ist ein Haus erst einmal verkauft, dauert es nicht lange, bis der neue Besitzer alles umkrempelt, was er da erstanden hat. Schnell sind Häuser eingerüstet, andere abgerissen, Kräne und Bagger fahren vor. Hier wächst ein „Lofthouse“ in die Höhe, dort entstehen „Waterlofts“. Entkernen, sanieren, modernisieren, aus alt mach’ neu, und am Ende werden die Kosten auf die Miete umgelegt.
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Dabei verdoppeln, verdreifachen sich die Mieten, was für die Altmieter weit jenseits ihrer Möglichkeiten ist. Für die Folgen steht ein unschönes Wort: Verdrängung. Tillmann erkennt sie daran, dass er plötzlich ein altvertrautes Gesicht in der Straße nicht mehr sieht. Forscht er nach, hört er fast immer dieselbe Geschichte: Da hätte einer wegziehen müssen, weil er sich die Miete nicht mehr leisten konnte. Er sagt: „Jahrzehntelang haben die Leute hier den Dreck geschluckt, und jetzt, da dies ein Erholungsgebiet ist, schließt man sie aus.“ Vielleicht ist Kollateralschaden das richtige Wort. Man will das Gute, man tut das Gute, und wer wollte bestreiten, dass die Renaturierung der Emscher, die Erlösung dieses Flusses von dem Fluch, eine Kloake sein zu müssen, eine Großtat mit Gütesiegel sei. Uli Paetzel, Chef der Emschergenossenschaft, welche den Umbau betreibt, sagt es so: „Wir geben den Menschen eine heile Flusslandschaft zurück.“ Aber nicht nur denen. Schon kehren sie wieder zurück, der Graureiher, die Rohrammer, der Sumpfrohrsänger – 45 Arten insgesamt, dazu das Kleingetier und als erster Fisch die Groppe. Sie alle scheinen sich wohl zu fühlen in der neuen Emscher, jedenfalls in dem Abschnitt, der bereits renaturiert ist. Ende 2021 soll sie dann ganz abwasserfrei sein, von der Quelle bis zur Mündung. Doch scheint im Schatten der Aufwertung etwas zu lauern, etwas Bedrohliches, das Verlierer noch ein zweites Mal zu Verlierern machen könnte. Die Menschen der Emscherzone sind arm, und an ihren Häusern vorbei floss seit ewigen Zeiten dieser stinkende Fluss. Dann kam endlich etwas in Gang, etwas Großartiges, über fünf Milliarden Euro kostete es, doch die Frage ist, wer am Ende davon profitieren wird. In der Weingartenstraße lebt einer, der hat sich auf seine Kinder verlassen. Er dachte, das Haus wäre bei ihnen in besten Händen und er selbst hätte dann keine Last mehr damit. Doch dann kam der Investor, und die Kinder wollten verkaufen, endlich Asche machen, wie man im Ruhrgebiet sagt, auch mal ein Stück vom Kuchen abbekommen. Der Vater aber will nicht, er hängt an dem Haus und mag nicht weg. Seither leben sie im Streit, die Kinder gegen den Vater, und wie man hört, versuchen die Kinder jetzt, den Vater herauszuklagen aus seinem eigenen Haus. Aufwertung hat ihren Preis: Sie befeuert die Gier, sie regt Wertschöpfungsfantasien an, und wenn einer sich querlegt, gibt es auch noch andere Mittel als juristische. Investoren haben da ihre Taktiken. Auch das ist eine Geschichte aus der Weingartenstraße. Zu ihren langjährigen Bewohnern zählt ein Mann mit türkischen Wurzeln. Er hat die schlechten Zeiten dort erlebt, hat dem Niedergang getrotzt, dem Dreck, den Abgasen und hat unbeirrt seine Kinder großgezogen. Er ist in der Straße zu Hause. Aber nun klingeln sie bei ihm an der Tür und sagen, Hörde werde doch jetzt ein feiner Stadtteil und ob er, der Türke, schon mal überlegt habe, in einen anderen Stadtteil zu ziehen, der besser zu ihm passe. Soll natürlich keine Kränkung sein. Nur ein freundlicher Rat. Neue Zeiten, und auch weiter westlich, in Castrop-Rauxel, sind sie angebrochen. Aufwertung war stets ein Fremdwort in dieser Stadt, aber jetzt, sagt der Fahrradhändler Volker Anderl, er hoffe, dass die bald komplett saubere Emscher die Region aufwerten werde, „und wenn das passiert, ist doch mein Haus auf Schlag das Doppelte wert.“ Wenn nicht sogar mehr.
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Wertsteigerung, auch so ein Wort. Klaus-Dieter Tesch benutzt es. Er ist ein nüchterner Mann, Elektrotechniker von Beruf, kein Schwärmer. Er hat sich gegen den Gestank gewehrt, schon aus Eigeninteresse. Er wohnt nur ein paar Meter von der Emscher entfernt, und plötzlich sieht er sich mit auf der Siegerseite, sieht Häuser im Wert steigen und glaubt, dass sie sich demnächst gut vermarkten lassen: „Früher wäre doch hier kein Haus verkaufbar gewesen, jetzt wird die Emscher Verkaufsargument.“ Der Hausbesitzer freut das, warum auch nicht, aber wäre es nicht an den Städten, solche Entwicklungen zu steuern? Klaus Vatter ist im Gelsenkirchener Stadtteil Feldmark aufgewachsen. Die Kinder hatten dort ihren Bolzplatz, und gleich daneben floss der Schwarzbach. Der war besonders widerlich, weil er auch noch die ganzen Einleitungen aus den Schlachthöfen mit sich führte, doch den Fußball interessierte das nicht, immer wieder flog er, patsch, hinein in die Brühe. Mit Ekel durften sich die Jungen nicht lange aufhalten. Sie mussten rennen, schnell hinter dem Ball her, bis zu der einen Stelle, an der man ihn gefahrlos herausfischen konnte, sie hatten extra einen langen Stock dort liegen. Tempo war entscheidend, denn kurz danach floss der Schwarzbach in die Emscher. Heute lebt Vatter in Bottrop. Er ist studierter Philosoph und gehört zu einer Gruppe von Intellektuellen, den sogenannten Emscher-Freunden, die den Umbau kritisch begleiten mit Gedanken und Anregungen. Dass da „ein Moloch von links auf rechts gedreht wird“, findet Vatter faszinierend, aber er hat auch Sorgen. Eigentlich, sagt er, müsste doch jetzt „im Glanz eines so beispielhaft nachhaltigen Infrastrukturprojekts an der Emscher eine Hochzeit des sozialen Wohnungsbaus und der erhaltenden Stadterneuerung beginnen“, zugunsten all derer, die dort ihre Wurzeln und ihre von Härten und Entbehrung geprägte Geschichte haben. Jürgen Evert, Stadtplaner und ehemaliger Baudezernent in Lünen, einer Stadt am Rande des Ruhrgebiets, sieht es auch so. Ein solch großes Aufwertungsprojekt für den benachteiligten Norden des Ruhrgebiets wie der Emscher-Umbau werde nur funktionieren, „wenn es Regulative gibt in Form von sozialem Wohnungsbau, damit niemand verdrängt wird.“ Aber lässt sich irgendwo ein solches Regulativ erkennen? Stattdessen herrschte in Dortmund Bonanza, denn dort ging es darum, die Seegrundstücke möglichst teuer zu verkaufen, um so zumindest einen Teil der Projektkosten zu decken. Sozialer Wohnungsbau? Dass „der Facharbeiter da auch wohnen kann“, hatte der frühere Dortmunder Oberbürgermeister Günter Samtlebe noch angemahnt, hoffnungsloser Sozialromantiker, der die neuen Zeiten nicht begriff und dass man Millionären keine Hartz-IV-Empfänger in die Nachbarschaft setzt. Im Bebauungsplan ging es dann hin und her, erst waren ein paar Sozialwohnungen drin, dann wurden sie stickum entfernt, aber als es dem Bezirksbürgermeister von Hörde auffiel, kamen sie wieder hinein, und jetzt gibt es ein paar Dutzend an wenig prominenter Stelle. Als Feigenblatt. Der Investor hat schon angekündigt, dass er sie nach 25 Jahren, wenn die Sozialbindung ausläuft, verkaufen werde. Keine soziale Durchmischung, und auch am Rande, wo die Tillmänner wohnen, mochte sich die Stadt Dortmund nicht dazu aufraffen, mit einem Sozialplan den ärgsten Verwerfungen einen Riegel vorzuschieben, die offenbar nicht mehr aufzuhalten sind. „Die alten 653
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Häuser werden verschwinden, hier ist jetzt alles auf Luxus ausgerichtet“, sagt einer, der sich auskennt, „alles exklusiv, alles vom Allerfeinsten, da wird an keinem Komfort gespart.“ Die sozial Schwachen würden „ ’rausgedrängt, Punkt, aus.“ Vielleicht ist das letztlich sogar die Absicht. Glaubt jedenfalls Klaus Tillmann: „Die Stadtverwaltung würde die Gegend hier doch am liebsten platt machen.“ Sentimentale Geschichten über die Stahlwerker von einst, aber in Wahrheit „will man die Leute weghaben.“ Die altgewachsenen Sozialstrukturen sieht Tillmann bereits unter großem Druck. Früher sei man eine Gemeinschaft gewesen, dieselben Nöte, dieselben Belastungen, derselbe Lohn, aber dieser Zusammenhalt werde bald weg sein. Die Mieter weg, das Solidargefühl weg, „und irgendwann heißt es nur noch ‚ich, ich, ich‘, und gesprochen wird über Anwälte.“ Man könnte lernen aus der stillen Tragödie einer Straße in Dortmund, Man könnte darüber nachdenken, wie Klaus Vatter das tut, ob es nicht ein großer Fehler sei, an den Ufern der bald wieder taufrischen Emscher dem Markt die Regie zu überlassen. Ob es noch etwas mit Baukultur zu tun habe, wenn die Städte in Wahrheit nur noch „nach Investoren jagen“ und sich „Angeberprojekten verschreiben, die nichts zu tun haben mit dem Alltag von Menschen.“ So sagt es Roland Günter. Rajko Kravanja kann man nicht vorwerfen, er kenne den Alltag der Menschen nicht. Der Bürgermeister von Castrop-Rauxel kennt ihn sogar aus eigener Erfahrung. Er hat die Zeit nicht vergessen, als er am Zusammenfluss von Emscher und Herdicksbach wohnte. Große Köttelbecke, kleine Köttelbecke, das Eckgrundstück hatte niemand haben wollen – aus gutem Grund. Außer Kravanjas Eltern. Die bauten dort ein Haus, und was folgte war ein Leben im Gestank. Das habe die Menschen geprägt, sagt Kravanja, „die Emscher stinkt, die meidest du, wenn du kannst.“ Aber jetzt durch die Renaturierung setze langsam ein Bewusstseinswandel ein: „Wir merken das an den Grundstückspreisen entlang der Emscher, nach und nach ziehen sie an.“ Käufer seien plötzlich bereit, mehr zu zahlen, „weil sie wissen, bald haben wir den blauen Fluss vor dem Garten.“ Grundstücke, die früher „überhaupt nicht attraktiv waren für Bebauung“, sagt der Bürgermeister, würden plötzlich interessant, und deshalb sei man gerade dabei, ein Stück Land zu entwickeln, direkt an der Emscher, wunderbar gelegen. „Wohnen am Wasser“, allein schon der Name, es sei ein Vorzeigeprojekt mit Modellcharakter, schreibt die Lokalpresse, und eine Uferpromenade sei auch geplant. Und die Art der Bebauung? Nein, sagt Kravanja, sozialen Wohnungsbau werde es nicht geben, das lohne sich für den Investor nicht. Der Untergrund des Baugeländes sei schwierig, das Bauen werde teuer, „und am Ende muss Wohnen am Wasser bezahlt werden.“ Man werde aber versuchen, eine Mischung hinzubekommen, gehobenes Bauen im vorderen Bereich, Mehrfamilienhäuser „für kleineres Geld“ weiter hinten. Sozialer Wohnungsbau sei an anderer Stelle geplant, sagt Kravanja, auch an der Emscher, aber die Wirtschaftlichkeitsberechnungen liefen noch. Und was die gestiegenen Immobilienpreise betreffe und die Gefahr, dass die Entwicklung zu Lasten der alten Sozialstrukturen gehe, so wolle man versuchen, das zu steuern, „sofern das geht.“ Aber am Ende gelte natürlich, „es muss sich rechnen.“ Klingt nicht so, als sei da eine Stadt wirklich entschlossen, abzuwenden, was Klaus Vatter für ein mögliches Szenario hält und was in
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Dortmund ja auch schon eingetreten ist: dass sich die Menschen an der Emscher sich demnächst „als weggentrifizierte und beschämte Zaungäste am Rande des ach so attraktiven und prestigeträchtigen Wohnens am Wasser wiederfinden werden.“ Clevere Investoren, glaubt Stadtplaner Evert, seien längst dabei, sich die Gegend an der Emscher auszugucken, „wo gibt es preiswerten Grundbesitz und wo maroden, abreißbaren Wohnbestand.“ Ohnehin gebe es Stimmen, die nicht die Gentrifizierung für die Gefahr hielten, sondern deren Mangel. Da heiße es dann, wir bräuchten Gutverdiener, gute Steuerzahler und keinen sozialen Wohnungsbau, „denn der bringt uns ja nur die Hartz-IV-Bezieher.“ Solche Probleme, und man vergisst leicht darüber, was die Begehrlichkeiten überhaupt erst geweckt hat. Dieses Unternehmen, eine Kloake in einen Fluss zu verwandeln und einer abschreckenden Meidezone ihre Normalität und Natürlichkeit zurückzugeben, hält Christoph Zöpel, der Ex-Minister, der den Startschuss gab, „für das erfolgreichste Großprojekt in Deutschland.“ Roland Günter spricht trotz mancher Einwände sogar von der „vielleicht bedeutendsten Landschaftsgestaltung der Welt.“ Große Worte, aber es geht auch eine Nummer kleiner. Im Phoenix-Gymnasium im Dortmunder Stadtteil Hörde halten sie die Renaturierung der Emscher für ein Geschenk. Biologieunterricht kann sehr trocken sein, aber an dieser Schule gibt es jetzt ein anschauliches Studienobjekt, denn es fließt geradewegs am Schulhof vorbei. Schüler der Oberstufe messen da die Wasserwerte und analysieren die Arten, die im Wasser und am Ufer leben, und es sieht so aus, als würden sie da bald eine Erfolgsgeschichte dokumentieren. „Blaues Klassenzimmer“ heißt das Projekt – blau für sauberes, gutes Wasser aus der Emscher.
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Wilhelm von Humboldts Ausspruch „Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft“ gehört zwar zu den häufig zitierten Bildungsweisheiten, doch die Verbindung zwischen beidem wird selten hergestellt. Historiker möchten die Wissenschaftlichkeit ihrer Erkenntnisse nicht durch Wertvorstellungen und Wünsche für die Zukunft beflecken; Zukunftsgestalter wie Politiker, Wirtschaftstreibende und andere jagen zumeist jüngsten aktuellen Daten hinterher und haben kaum Zeit, längerfristige Prozesse zu reflektieren und in die Begründung ihres Handelns mit einzubeziehen. Doch gerade im aufkommenden Zeitalter der Nachhaltigkeit stellt sich die Frage nach der Berücksichtigung des Historischen als der einzigen Möglichkeit, Langfristigkeit auch empirisch zu untersuchen und zu belegen, mit zugespitzter Dringlichkeit. Dabei kann es nicht darum gehen, aus angeblichen Entwicklungsgesetzen der Geschichte eine quasi notwendige Zukunft vorherzusagen. Vielmehr stellt sich die Frage, welche spezifischen, historisch entwickelten Charakteristika uns heute als wertvoll erscheinen, um auf ihnen aufzubauen und mit ihnen eine gute Zukunft zu gestalten. Hier lohnt ein Blick auf die Geschichte von Architektur und Städtebau in den Städten des Ruhrgebiets, denn die Vorstellung davon ist heute von zwei weitverbreiteten Vorurteilen geprägt: Erstens gibt es eine geradezu groteske Geschichtsblindheit. In fast allen Selbstdarstellungen scheint das Ruhrgebiet überhaupt erst mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert zu entstehen. So enthält beispielsweise die neueste Publikation Zeit-Räume Ruhr, die in umfassender Weise „Erinnerungsorte des Ruhrgebiets“ thematisiert, nicht einen einzigen Ort, der älter als 1850 wäre (Berger et al. 2019). Vergessen wird bei einem solchen Vorgehen die bedeutende mittelalterliche Geschichte der freien Reichs- und Hansestädte am Hellweg, der Klöster und Abteien, der frühneuzeitlichen Herrensitze und Wasserschlösser oder des bürgerlichen Unternehmertums in Zeiten der Aufklärung. Zweitens ist da die Ansicht, dass das Ruhrgebiet sich vor allem durch seine Zwischenräume, Infrastrukturen, Industrieanlagen und seinen Netzcharakter auszeichne, der es von anderen Städten und Stadtregionen grundsätzlich unterscheide. Auch hier ist das Buch Zeit-Räume Ruhr symptomatisch: Von 50 Erinnerungsorten hat nur ein einziger einen tatsächlich innenstädtischen Charakter, das Bochumer Schauspielhaus. Völlig verloren gehen bei dieser Ansicht die zahlreichen Kernstädte und Ortskerne mit ihren spezifischen © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_45
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architektonischen und städtebaulichen Qualitäten – und das, obwohl keine andere Region in Deutschland so stark von Architektur und Städtebau geprägt ist wie das Ruhrgebiet. Woher kommt dieser erstaunliche blinde Fleck in der Selbstwahrnehmung, der nicht selten Selbstverachtung oder Selbstüberschätzung auslöst? Haben die Städte des Ruhrgebiets wirklich keine bedeutsame Geschichte vor der Industrialisierung? Sind tatsächlich kaum nennenswerte und anknüpfungsfähige architektonische und städtebauliche Leistungen vorhanden? Sind tatsächlich die Städte des Ruhrgebiets so ganz anders als andere Städte Deutschlands und Europas? Vor diesem Hintergrund scheint es gar reizvoll, einmal eine Architektur- und Städtebaugeschichte des Ruhrgebiets ohne Montan- und Stahlindustrie zu schreiben: Es kämen nicht wenige Bauten und Stadtteile zusammen! Doch es geht nicht darum, das eine gegen das andere auszuspielen. Was ansteht, ist eine Architektur- und Städtebaugeschichte des Ruhrgebiets, die sich aus den Klauen der Montan- und Stahlindustriegeschichte befreit und die ganze Breite, Vielfalt und historische Tiefe der gebauten Umwelt in dieser Region in den Blick nimmt. Ich glaube, dass diese vielfältige Geschichte gerade für die heutigen Probleme und Anforderungen die weitaus fruchtbareren Anregungen und Bezugspunkte geben kann.
Anfänge des Urbanen in Antike, Mittelalter und Neuzeit Was könnten die Konturen einer Architektur- und Städtebaugeschichte des Ruhrgebiets sein, die sich im Streiflicht heutiger Interessen und Fragestellungen, die auf die urbanen Traditionen der Region fokussieren, zeigen? Legt man für eine Definition des Ruhrgebiets das heutige Gebiet des Regionalverbands Ruhr (RVR) zugrunde, so beginnt die städtische Geschichte der Region bereits in der Antike mit der römischen Colonia Ulpia Traiana nahe dem heutigen Xanten. Auf der Westseite des Rheins gelegen, umfasste sie städtebaulich und architektonisch das volle Programm einer römischen Gründungsstadt mit Straßenraster, Stadtmauer, säulenumstandenem Forum, Capitolstempel, Thermen und Amphitheater. Entscheidende Impulse für die Stadtwerdungen im Mittelalter gingen von den karolingischen Pfalzen und Klöstern aus. Duisburg und Dortmund entwickelten sich mit ihren heute nicht mehr vorhandenen Burgen zu bedeutenden Handels- und Produktionsstädten am Hellweg, der Handelsstraße von Brügge nach Novgorod, die bereits im Mittelalter die Orte der Ruhrregion miteinander verband. Als freie Reichsstädte sowie Hansestädte schmückten sie sich mit einem aufwendigen Bauprogramm, zu dem stadtbildprägende Kirchenbauten wie die Salvatorkirche in Duisburg und St. Reinoldi in Dortmund, Rathausbauten wie das älteste steinerne Rathaus nördlich der Alpen in Dortmund von 1240 oder auch Stadtmauern mit ihren Türmen, heute noch in Fragmenten in Duisburg erhalten, zählten.
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Die Stadttradition des Mittelalters: Rathaus Dortmund von 1240 nach der Restaurierung durch Friedrich Kullrich 1899 mit Stadtbibliothek (Stadtarchiv Dortmund).
Das Benediktinerkloster in Werden und das Essener Frauenstift bildeten die Anfänge der Stadt Essen. Die Stiftskirche, heute der Essener Dom, zeigte ihren reichsweiten Anspruch vor allem im Inneren, indem sie in ihrem Westchor keinen geringeren Bau als die Aachener Pfalzkapelle Karls des Großen kopierte. Vom kommunalen Selbstbewusstsein auch kleinerer Städte der Region abseits des Hellwegs zeugen noch heute die spätmittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Rathäuser in Rheinberg, Werne und Hattingen. Zu einem intellektuellen Zentrum entwickelte sich Duisburg Mitte des 16. Jahrhunderts, als Gerhard Mercator für eine neu zu schaffende Universität in die Stadt geholt wurde. Diese wurde schließlich 1655 gegründet und bestand bis 1818, als sie von der preußischen Verwaltung nach Bonn verlegt wurde. Erst in der Bundesrepublik Deutschland wurden wieder Universitäten im Ruhrgebiet geschaffen: 1962 in Bochum, 1968 in Dortmund und 1972 in Duisburg und in Essen.
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Bauaufgaben der Großstadt – Monumentale Rathäuser und Stadtplätze Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt im Zuge der Industrialisierung der Ausbau der Städte und Dörfer im Ruhrgebiet zu Großstädten – ein Prozess, der in verschiedenen Schüben und unterschiedlichen Facetten bis heute anhält. Charakteristisch für diesen Prozess ist nicht allein die ungeheure Ausdehnung der Stadtflächen verbunden mit einem entsprechend ungeheuren Anstieg der Bevölkerung, sondern auch die Differenzierung des Stadtlebens durch vielfältige neue Institutionen und dementsprechende Bauaufgaben. Es ist diese neue Vielfalt der Bauaufgaben, die das eigentliche Großstadtleben ausmacht. Und es ist die absichtsvoll urbane Prägung, mit der diese Bauten eine großstädtische Atmosphäre zu schaffen vermögen (zu einzelnen Städten oder Epochen: Busch 1993; Föhl 2010; Hnilica et al. 2010; Boucsein 2010; Krüssmann 2012; Kroos 2013; Rieniets & Kämmerer 2019; Mühlhofer et al. 2019). Die für die Kommunen zentrale Bauaufgabe war die Errichtung neuer Rathäuser, in denen nicht nur eine schnell wachsende Verwaltung tätig sein konnte, sondern die auch dem neuen großstädtischen Status der Kommune Ausdruck verleihen sollten (Mai 1982). So gaben sich die Städte des Ruhrgebiets als Großstädte ein neues monumentales Herz. Sie bauten repräsentative Rathäuser mit Plätzen (Jager & Sonne 2016). Bereits 1874 lobte die Stadt Essen einen Wettbewerb für einen monumentalen Rathausneubau aus, der 1878–1888 nach den Plänen von Peter Zindel und Julius Flügge errichtet wurde. Es nahm mit seinen neugotischen Formen die mittelalterliche Geschichte auf und war eines der ersten großen Rathausprojekte des Kaiserreichs. Zuvor war schon 1842 das mittelalterliche Rathaus durch einen klassizistischen Neubau ersetzt worden, der seinerseits nun dem Neubau zum Opfer fiel. Nach dem Zweiten Weltkrieg sollte Essen diese Innovations- und Zerstörungsgeschichte in geradezu grotesker Weise fortschreiben: Das bereits wieder aufgebaute und genutzte historistische Rathaus wurde verkauft und abgerissen. Stattdessen errichtete sich die Kommune 1963–1979 einen modernistischen Neubau, der zwar einerseits als gesichtsloses Bürohaus in Anlehnung an die Architektur Mies van der Rohes der Verwaltungssitz jedes beliebigen Großunternehmens sein könnte, zugleich aber durch seine schiere Größe und Höhe doch unmissverständlich die Prädominanz seiner Nutzerin zum Ausdruck bringt. Vergleichsweise bescheiden, aber dennoch paradigmatisch, fielen die Baumaßnahmen zur Erweiterung des Rathauses in Dortmund aus: bescheiden, weil kein monumentaler Neubau geplant wurde, paradigmatisch, weil dezidiert an die Stadtgeschichte angeknüpft wurde. Zum einen renovierte Friedrich Kullrich 1899 das mittelalterliche Rathaus mit einer platzwirksamen Rekonstruktion eines mittelalterlichen Treppengiebels und ergänzte es um einen Bau für die Stadtbibliothek, zum anderen entwarf er als Rathauserweiterung das Stadthaus mit einem repräsentativen Neorenaissancegiebel an der südlichen Einfallstraße der Stadt (Hnilica 2014). Auch in Dortmund setzte sich die Rathaus-Baugeschichte mit wachsenden Ansprüchen im 20. Jahrhundert fort. Kullrichs Stadthaus wurde 1928 von Wilhelm Delfs erweitert durch einen massiven Backsteinbau mit geböschtem Natur-
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steinsockel, dessen Turm zugleich Rathausturm und Bürohochhaus ist. Südlich des Alten Stadthauses entstand 1954 das Neue Stadthaus, das als zehngeschossiges Zeilenhochhaus am Wall und der neu durchgebrochenen Kleppingstraße die Stadtbesucher grüßt. Zwischen beiden Bauten vermittelt seit 2002 die gläserne Berswordthalle. Das Ensemble liegt am erst 1989 geschaffenen Friedensplatz, der Dank seiner anliegenden Bauten heute Dortmunds eigentlicher Rathausplatz ist. Ehemals bebaut, erhielt die Kriegsbrache erst mit dem Neubau des Rathauses von Dieter Kälberer ihre Form als städtischer Platz. Mit seinem zeichenhaften Torgerüst bildet der sandsteinverkleidete Kubus des Rathauses die westliche Begrenzung des Platzes. Am Friedensplatz stehen somit fünf Rathausgebäude, die über einen Zeitraum von gut 100 Jahren entstanden sind. Das mittelalterliche Rathaus am Alten Markt hatte man trotz seiner Bedeutung als ältestes steinernes Rathaus nördlich der Alpen 1955 als Kriegsruine sang- und klanglos abgerissen. Ein in seinem urbanen Anspruch markantes Beispiel bildet das Rathaus in Herne mit seinem Rathausplatz. Mit der Eingemeindung neuer Bezirke 1908 bestand für die Stadt Herne die Notwendigkeit zu einem größeren Rathausgebäude. Noch im selben Jahr wurde deshalb ein Wettbewerb ausgeschrieben. Nach längerem Prozedere wurde schließlich 1910 Wilhelm Kreis mit dem Entwurf des Baus beauftragt, der 1912 fertiggestellt wurde (Nerdinger 1994). Der Bau von Kreis, der mit seiner Backsteinfront und seinem giebelbekrönten Mittelrisalit an Münsterländer Schlossbauten erinnerte, war vor allem durch den Turm als Rathaus ausgewiesen. Zentral vor ihm war von Beginn an ein Platz als „Marktplatz“ (so der ursprüngliche Name) und neues öffentliches Zentrum der Stadt konzipiert, der heutige Friedrich-Ebert-Platz. Die seitlichen Platzwände wurden in der Folge durch weitere öffentliche Bauten geschlossen: im Süden durch das Amtsgericht 1914–1919, im Norden durch das Polizeidienst- und Verwaltungsgebäude 1927–1929. Über den stilistischen Wandel vom Neubarock zur monumentalen Sachlichkeit sind alle drei Bauten aber durch die Verwendung von Backstein zu einem Ensemble verbunden; der Platz wiederum erhält durch die hohen Wandanteile der Fassaden trotz des fehlenden, ursprünglich aber geplanten östlichen Platzabschlusses eine geschlossene Wirkung (Hegemann & Peets 1922, p. 24). In seiner großstädtischen Monumentalwirkung mit den Rathäusern von Schöneberg oder Spandau vergleichbar ist das Rathaus der Stadt Buer (seit 1928 Stadtteil von Gelsenkirchen), das 1910–1912 nach den Plänen des Regierungsbaumeisters Josef Peter Heil errichtet wurde (Stadt Gelsenkirchen 2016, S. 68–71). Im Jahr 1909 war ein Wettbewerb vorausgegangen, dessen Ergebnisse aber verworfen worden waren. An einer Blockecke gelegen spart der Baukörper geschickt einen Vorplatz aus, um die architektonische Wirkung des Gebäudes zu steigern. Die Tiefen- und Höhenstaffelung wird bekrönt durch den in der Ecke hinter dem Baukörper aufragenden Rathausturm. Aus dem Jahr 1925 stammt der Entwurf eines Stadtforums, das als architektonisch gefasster Platz dem Rathaus vorgelagert werden sollte.
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Abb. 2
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Kommunale Repräsentation in der modernen Großstadt: Rathaus Buer von Josef Peter Heil 1910–1912 (Ehlgötz 1925).
Aufs engste mit der Stadt verknüpft ist das Rathaus von Mülheim an der Ruhr, das die Architekten Arthur Pfeifer und Hans Großmann 1912–1915 errichteten (Alemann-Schwartz 2008). Sie hatten beim 1908 ausgeschriebenen Wettbewerb den dritten Preis erhalten. Sie teilten die Baumasse in einen Kopfbau, der den dreieckigen, mit arkadengeschmückten Bürgerhäusern umstandenen Rathausmarkt dominierte, und einen seitlichen Bau, der entlang der heutigen Friedrich-Ebert-Straße mit einer Ehrenhofanlage und Rathausturm zur Innenstadt hin vermittelte. Diese klassisch konzipierten Rathausplätze waren Teil eines von Pfeifer & Großmann entworfenen Platzgefüges in der Mülheimer Innenstadt, das auch den Landschaftsraum der Ruhr mit der Stadthalle mit einbezog. Auch das Rathaus von Bottrop, 1914–1916 nach den Plänen von Ludwig Becker errichtet, nutzt die Bauaufgabe des Rathauses, um städtische Plätze zu schaffen. Der Hauptbau des Rathauses mit seinem dahinter aufragenden Turm liegt markant an der Blockecke, tritt jedoch ein Stück zurück, um den Rathausplatz (heute Ernst-Wilczok-Platz) zu schaffen. Durch einen vorspringenden Flügel ist davon der Droste-Hülshoff-Platz abgetrennt. Beide Plätze bildeten zusammen ein Platzgefüge, ganz, wie es Camillo Sitte in seinem Städtebau-Buch gepriesen hatte – heute jedoch durch die tiefergelegte Parkplatzebene am Droste-Hülshoff-Platz gänzlich zerstört. Ebenfalls eine Platzecke bildet das Rathaus in Witten von Franz Heinrich Jennen aus. Er hatte beim 1912 veranstalteten Wettbewerb den zweiten Preis errungen. Der Bau wurde erst nach Kriegsende 1921 begonnen und 1926 nach mehrfachen Planüberarbeitungen
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fertiggestellt (Zirbel 1991). Sein Klassizismus wurzelt in den architektonischen Reformdiskussionen der Vorkriegszeit, zeigt aber zugleich den langen Atem des „Um 1800“-Traditionalismus auch in der Repräsentationsarchitektur der Weimarer Republik. An den horizontalen Bänderungen der Neuen Sachlichkeit eines Erich Mendelsohn, gewürzt mit der expressionistischen Materialschwere des Backsteins, orientiert sich das Hans-Sachs-Haus in Gelsenkirchen, das 1924–1927 nach den Plänen von Alfred Fischer entstand. Als moderne multifunktionale „Großstadtkiste“ vereinigte es zahlreiche private und kommunale Aufgaben von der Verwaltung bis zum Konzertsaal, verzichtete aber mit seinen Dimensionen und dem Merkzeichen des Turms nicht auf großstädtische Repräsentation. Von Fischer stammte ebenfalls das 1928–1929 errichtete Verwaltungsgebäude des SVR in Essen, bei dem es galt, einer übergeordneten Regionalverwaltung einen angemessenen Ausdruck zu geben, ohne den kommunalen Rathäusern Konkurrenz zu machen. Als strenger Verwaltungsbau in steinerner Monumentalität präsentiert sich das Rathaus von Bochum, das 1926–1931 von Karl Roth errichtet wurde (Schlisio 2011). Auch hier war wieder ein Wettbewerb vorausgegangen; die Stadt aber beauftragte den beim Rathausbau in Wuppertal-Barmen so erfolgreichen Architekten Roth mit der Planung. Auch dieser Bau bildet durch das Zurücktreten von der Blockecke wieder einen Vorplatz aus, der dem städtischen Repräsentationsbau die entsprechende Bühne verschafft. Drei große und schlichte Bögen laden zum Betreten des öffentlichen Hofes nach dem Vorbild des Stockholmer Rathauses ein. Ganz sachlich verzichtet der Bau auf einen stadtbildprägenden Turm; nur ein kleiner Dachreiter erinnert im Hof an dieses bauaufgabentypische Bauelement. Als Solitär im Park tritt das neue Rathaus in Oberhausen auf, 1927–1930 nach den Plänen des Stadtbaumeisters Ludwig Freitag entstanden. Der Modernität der aufstrebenden Industriestadt entsprach die Architektur, die die malerisch-kubische Abstraktion der De Stijl-Bewegung mit dem Backsteinexpressionismus der Amsterdamer Schule verband. Doch auch Oberhausen verzichtete nicht auf einen neuen städtischen Repräsentationsplatz, den Friedensplatz. Zunächst war 1904–1907 das Amtsgericht als Monumentalbau mit dominantem Neorenaissancegiebel entstanden. 1924–1927 erfolgte dann die Formung des längsrechteckigen Platzes durch die beiden langgestreckten Randbauten des Stadtbaumeisters Ludwig Freitag, die das Polizeipräsidium, die Reichsbank sowie städtische Ämter beherbergten. Die Formensprache des Backsteinexpressionismus schloss harmonisch an die Backsteinrenaissance des Amtsgerichts an. Durch das Motiv der Blendarkaden war den Bauten ein urbanes Motiv mitgegeben, das den öffentlichen Charakter auch architektonisch unterstreichen sollte. Stadtplatz und Rathaus lagen also in Oberhausen nicht bei-, sondern nebeneinander. Es war geradezu typisch für das öffentliche Bauen der Kommunen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, dass sie sich nicht allein mit neuen Rathäusern öffentliche Monumentalbauten schufen, sondern diese oftmals mit einer Platzanlage verbanden und so den Stadtraum mitgestalteten. Besonders in den aufstrebenden Industriestädten des Ruhrgebiets, die teilweise keine entsprechende historische Rathaus-Platz-Figuration besaßen, ist diese geplante Neuformulierung kommunaler Öffentlichkeit durch die Anlage von Rathaus und Platz zu beobachten. Diese kommunale Monumentalität begann bereits 663
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Abb. 3
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Zentraler Stadtplatz in der Industriestadt: Friedensplatz Oberhausen mit Amtsgericht 1904–1907 sowie Polizeipräsidium, Reichsbank und städtischen Ämtern von Ludwig Freitag 1924–1927 (Stadtarchiv Oberhausen).
im Kaiserreich, setzte sich – oftmals in direkter Projektkontinuität – in der Weimarer Republik fort und fand mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 ein jähes Ende: demokratisch legitimierte Stadtorganisationen sollten im Führerstaat keine Rolle mehr spielen. Gerade diese Rathaus-Platz-Anlagen stellen also bemerkenswerte Beispiele einer Tradition der öffentlich-monumentalen Repräsentationsarchitektur dar, die demokratischen Gemeinwesen diente, durch den Nationalsozialismus beendet und erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts wieder aufgegriffen wurde.
Bauaufgaben der Großstadt – Kult und Kultur Die traditionell höchststehende und aufwendigste Bauaufgabe einer Stadt war der Kirchenbau – dies gilt auch für die neu entstehenden Quartiere der industriellen Großstadt. Die Innenstädte und Dorfkerne pflegten ihre vorhandenen, meist mittelalterlichen Kirchenbauten. Auch nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs wurden sie zumeist traditionsbewusst wiederaufgebaut. Geradezu unzählig sind die Neubauten, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts in den neuen Stadtteilen entstanden und mit ihren Türmen in der Stadtsilhouette die neuen Quartierszentren anzeigten. Bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein
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wurden diese neuen Kirchen fast ausschließlich als neugotische Bauten errichtet, die heute oftmals schon wieder zur Disposition stehen. Paradigmatisch sei hierfür die Dortmunder Liebfrauenkirche genannt. Sie wurde 1881–1883 als neugotische Hallenkirche vom Architekten Friedrich von Schmidt errichtet, der – von der Kölner Dombauhütte herkommend – als Erbauer des Wiener Rathauses internationale Berühmtheit erlangt hatte. Nach ihrer Profanierung wurde sie 2009 zu einem Kolumbarium nach Plänen von Volker Staab umgebaut. Anstelle der Kirchenbänke stehen nun stählerne Urnenbänke, die in würdevoller Nutzung die sakrale Wirkung des Raumes erhalten. Neben den Kirchen erlangten auch die Synagogen um 1900 einen stadtbildprägenden Rang. In Dortmund entwickelte sich der Hiltropwall mit dem Bau der Synagoge durch Eduard Fürstenau (1896–1900) gegenüber der Oberpostdirektion zu einem Stück repräsentativer Ringstraße. Dieser, der aufwendigste Sakralbau Dortmunds entstand als renaissanceartiger Zentralbau mit oktogonaler Kuppel, orientierte sich aber mit seiner gotischen Formensprache an der neugotischen Oberpostdirektion. Damit war er ein typischer Vertreter des eklektischen Historismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts und zeigte selbstbewusst die integrierte Stellung der Dortmunder jüdischen Gemeinde. Der Bau wurde 1938 von den Nationalsozialisten abgerissen. In Essen blieb der von Edmund Körner 1911–1913 errichtete Synagogenbau dagegen dank seiner massiven Bauweise erhalten. Mit seiner archaisierenden Monumentalität, seiner zentralen Lage und seiner Kuppel zeigte er – wie der Dortmunder Bau – die zentrale Stellung der jüdischen Gemeinde in der Stadtgesellschaft des Kaiserreichs an. Kirchenbau blieb auch im 20. Jahrhundert eine zentrale urbane Bauaufgabe. Die Stadtquartiere wurden nach dem Ersten Weltkrieg wie gewohnt mit ortsprägenden Kirchenbauten ausgestattet. An die Stelle der im Historismus beliebten Neugotik traten avantgardistische oder archaisierende Bauten wie die Stahlkirche und die Auferstehungskirche von Otto Bartning in Essen, die Heilig Kreuz-Kirche von Josef Franke in Gelsenkirchen, die NicolaiKirche aus Sichtbeton in Dortmund von Pinno und Grund, St. Mariae Geburt von Emil Fahrenkamp in Mülheim an der Ruhr oder St. Engelbert von Dominikus Böhm in Essen. Doppelgesichtig erscheint der Kirchenbau in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Zum einen proklamiert er einen moralisch-politischen Neuanfang durch das Anknüpfen an ältere Traditionen vor dem Kulturbruch des Nationalsozialismus, wie es sich beispielsweise im Wiederaufbau der Dortmunder Hauptkirche St. Reinoldi durch Herwarth Schulte zeigt (Sonne & Welzel 2016). Im Kontrast dazu stehen kirchliche Neubauten in experimentellen Formen wie die Heilig Kreuz-Kirche von Rudolf Schwarz in Bottrop, die Liebfrauenkirche von Toni Herrmanns in Duisburg oder St. Suitbert in Essen von Josef Lehmbrock und Stefan Polónyi. Wenn auch viele der Nachkriegskirchen heute profaniert, umgenutzt oder gar abgerissen werden: Der Kultbau hat seine zentrale Stellung im Stadtbild keineswegs verloren. Neben der Weiternutzung der meisten Kirchenbauten in den Stadtquartieren entstanden jüngst neue stadtbildprägende Synagogenbauten wie in Duisburg, Gelsenkirchen oder Bochum. Hinzu kommen zahlreiche Moscheebauten, die sich nicht mehr nur in Gewerbegebieten verstecken, sondern mit ostentativem Anknüpfen an osmanische Bautraditionen Kuppel sowie Minarett zeigen und somit im Stadtbild wirksam werden. 665
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Vor allem die Diversifizierung der Kultur und der damit verbundenen Bauaufgaben stellt ein zentrales Merkmal der Großstadt dar. Schon früh beginnen auch die Industriestädte des Ruhrgebiets, sich durch kulturelle Institutionen und die dazugehörigen Bauten eine stadtbürgerliche Kultur zuzulegen. Nicht selten entstanden sie durch Initiativen von kulturbeflissenen Bürgern und Unternehmern. So verdankt etwa das Essener Grillo-Theater seinen Namen dem Stifter Friedrich Grillo, der es 1889–1892 durch den Berliner Theaterarchitekten Heinrich Seeling mitten in der Stadt errichten ließ. Nach Kriegszerstörungen wurde es 1950 in einer reduziert-monumentalen Formensprache nach Plänen von Wilhelm Seidensticker wiederaufgebaut, bevor 1990 Werner Ruhnau den Innenraum umgestaltete.
Abb. 4
Großstadtkultur: Theater Dortmund von Martin Dülfer 1901–1904 (Stadtarchiv Dortmund).
Als Baustein des Dortmunder Wallrings war das 1901–1904 von Martin Dülfer nach einer Initiative der Dortmunder Bürger errichtete Theater konzipiert. Dieser Bau, in dem Dülfer eine ganz neuartige Architektursprache aus der Bauaufgabe mit ihren geschlossenen Wandflächen entwickelte, markiert deutlich die Abkehr vom Historismus und den Willen, einen modernen Baustil für die Großstadt zu finden. Tatsächlich stellte Dülfers Bau ein ganz frühes Beispiel der Reformarchitektur dar, die dann 1907 durch die Gründung
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des Deutschen Werkbundes weite Verbreitung finden sollte. Von Dülfers Bau lassen sich Wirkungen etwa auf Oskar Kaufmanns Theaterbauten in Berlin nachweisen. Umso trauriger ist es, dass dieser durch den Krieg nur leicht zerstörte, architekturgeschichtlich so bedeutsame Bau nach dem Krieg nicht repariert wurde. Nur noch einige innere Mauerzüge stecken im heutigen Opernhaus – unsichtbar und verkannt. Dieses wiederum entstand 1966 mit spektakulärer Betonschale als ostentativer Neubeginn nach Plänen von Heinrich Rosskotten. Von Dülfer stammt ebenfalls das 1911–1912 erbaute Theater in Duisburg. Im Unterschied zum archaisierenden Monumentalismus in Dortmund gibt es sich klassisch gezähmt: weniger das Dionysische, wie es die Pantherfiguren auf dem Dortmunder Theater beschworen, als vielmehr das Apollinische war hier zum Leitbild einer zivilisierten Stadtkultur geworden. Auch Bochum erhielt noch im Kaiserreich seinen ersten Theaterbau. Das zunächst 1908 von Paul Engler als Varietétheater errichtete Gebäude wurde 1914–1915 von Carl Moritz zum Stadttheater umgebaut. Der Wiederaufbau nach der Kriegszerstörung als Schauspielhaus Bochum erfolgte 1951–1953 nach den Plänen von Gerhard Graubner, der mit diesem Backsteinbau eine elegante Monumentalität schuf, die einerseits einem städtischen Kulturbau Rang und Würde verleiht und andererseits festlich-fröhliche Zugänglichkeit signalisiert. In die eindrucksvolle Tradition ambitionierter Theaterbauten in den Ruhrgebietsstädten reihen sich nach dem Zweiten Weltkrieg das ebenfalls von Graubner errichtete HeinzHilpert-Theater in Lünen, das revolutionäre zentralstädtische Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen von Werner Ruhnau, das Ruhrfestspielhaus in Recklinghausen und schließlich das Aalto-Theater in Essen ein, das nach den Plänen des Altmeisters der modernen Architektur schließlich 1983–1988 von Harald Deilmann errichtet wurde. Zu den zentralen Bildungsinstitutionen einer bürgerlichen Großstadtkultur zählt seit dem 19. Jahrhundert das Museum. Mit höchstem kulturreformerischem Anspruch ließ Karl Ernst Osthaus als Mäzen in der Hagener Innenstadt das Museum Folkwang errichten, ab 1898 durch den Architekten Carl Gérard in späthistoristischem Eklektizismus, ab 1900 durch den Architekten Henry van de Velde in reformorientiertem Jugendstil. Neueste moderne Kunst und vorbildliches Kunsthandwerk wurden dort zur Bildung eines neuen Stils präsentiert und diskutiert. Nach Osthaus’ Tod verkauften seine Erben die Sammlung an eine Gruppe von Stiftern und die Stadt Essen, die dafür durch den Architekten Edmund Körner 1925–1929 einen eigenen Bau errichten ließ. Nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg entstand 1954–1960 ein völliger Neubau, der zum europäischen Kulturhauptstadtjahr 2010 einen von der Krupp-Stiftung finanzierten sachlich-repräsentativen Erweiterungsbau von David Chipperfield erhielt. Eine andere spannende Museumsgeschichte bietet die Stadt Dortmund. Sie ließ 1911 im ehemaligen Oberbergamt am Ostwall ihren ersten Museumsbau, das städtische Kunst- und Gewerbemuseum, mit dem Einbau eines monumentalen Lichthofs durch ihren Stadtbaumeister Friedrich Kullrich herrichten – die wohl früheste Umnutzung eines Gebäudes der Montanindustrie für Kultur im Ruhrgebiet. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Bau als erster Museumsbau in Deutschland 1949–1956 wiederaufgebaut und zeigte als Museum am Ostwall programmatisch moderne Kunst, die von den Nationalsozialisten 667
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als „entartet“ gebrandmarkt worden war. Zum europäischen Kulturhauptstadtjahr 2010 zog diese Sammlung in das neu von Eckhard Gerber ausgebaute Dortmunder U, ein markantes Bierlagerhochhaus, um. Das alte Museum am Ostwall konnte in neuer Funktion als Baukunstarchiv NRW erhalten werden und kann heute die bauliche Kultur des Landes sichern, erforschen, präsentieren und diskutieren. Weitere markante und mit ihrem Bezug auf die Architektur Ludwig Mies van der Rohes programmatisch moderne Museumsbauten sind das Lehmbruck-Museum in Duisburg von Manfred Lehmbruck 1964 oder das Museum Quadrat in Bottrop von Bernhard Küppers 1976. Eine neue Kultursparte bildete in den 1920er-Jahren das Kino. Mitten in Essen, gegenüber dem Dom, erbaute 1928 Ernst Bode die Lichtburg als moderne Großstadtarchitektur, seinerzeit nichts weniger als das größte Kino Deutschlands. Zahlreiche Kinobauten bereicherten in den 1920er- und 1950er-Jahren die Innenstädte im Ruhrgebiet. Eine Baugattung, die gerade in jüngster Zeit einen großen Aufschwung erfährt, ist das Konzerthaus. Anstelle eines bereits 1864 errichteten Veranstaltungssaals entstand 1902–1904 in Essen der Saalbau, in dem beispielsweise Gustav Mahler seine 6. Sinfonie uraufführte. Nach Kriegszerstörungen wurde er 1949–1950 vereinfacht von Walter Engelhardt wiederaufgebaut. Auch in Duisburg kann der Konzertsaal auf eine lange Tradition zurückschauen. Von 1887 stammte der klassizistische Bau der Tonhalle, an dessen Stelle 1957–1962 die Mercatorhalle von Graubner, Stumpf und Voigtländer erbaut wurde. Trotz Denkmalschutz wurde sie 2005–2007 durch den Neubau der Mercatorhalle im CityPalais ersetzt. Die von Hans Großmann und Emil Fahrenkamp 1923–1926 erbaute Stadthalle in Mülheim an der Ruhr wurde als multifunktionaler Veranstaltungssaal auch für Konzerte genutzt. Zuletzt setzten das Konzerthaus Dortmund 2002 und das Anneliese Brost Musikforum in Bochum 2016 architektonische Zeichen eines vollzogenen Strukturwandels hin zur wirtschaftlich vielfältig getragenen Großstadt, zu der auch ein entsprechendes kulturelles Angebot gehört.
Bauaufgaben der Großstadt – Arbeit, Handel und Verkehr Ein Motor der Großstadtentwicklung – im wahrsten Sinne des Wortes – war die Eisenbahn. Sie vervielfachte zum einen die Personen- und Gütermobilität, konzentrierte sie aber zum anderen auf die Haltepunkte. Sichtbarer Ausdruck dessen waren die Hauptbahnhöfe der Städte, die zu den neuen Stadttoren der Industriestadt wurden. Im Unterschied zu alten Flächengroßstädten wie London, Paris, Wien oder Berlin mussten die Bahnhöfe in den Ruhrgebietsstädten nicht als Kopfbahnhöfe am Stadtrand liegen, sondern konnten als Durchgangsbahnhöfe zumeist in unmittelbarer Nähe des Stadtzentrums angelegt werden. Die neuen Bahnhofsbauten wurden somit zumeist Teil der Innenstadtarchitektur. Beispielhaft ist dafür Dortmund mit seinem Anschluss an die Köln-Mindener Eisenbahn und dem Neubau des Bahnhofes 1847; dieser bildete gleichsam den ersten öffentlichen Monumentalbau der Stadt im 19. Jahrhundert. Sein preußischer Rationalismus war durch
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einen turmartigen Mittelrisalit überhöht, der zudem mit Schmuckformen des Burgenbaus im Anspruchsniveau gehoben wurde. Er wurde schon 1910 durch ein neues, monumentaleres Bahnhofsgebäude ersetzt, das den neuen Ansprüchen an einen repräsentativen Empfang in der Großstadt entsprach. Der säulenbestandene halbrunde Mittelbau betonte das öffentliche Monument, die seitlichen Flügel mit ihrer einfachen Kolossalgliederung leiteten zu den privaten Stadtbauten über, mit denen sie ein einheitliches Straßenbild erzeugten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es nicht wiedererrichtet. Immerhin, einige Reste der kraftvollen steinernen Wandgliederung dieses Baus stecken noch im Neubau der 1950er-Jahre und sind in einem seitlichen Gang zu den Schließfächern für den neugierigen Spurenleser erkennbar. Bahnhöfe als Stadtmonumente besitzen heute noch die Städte Hagen, Hamm, Herne, Mülheim, Duisburg und Oberhausen. Der Rest wurde zu funktionalen Haltepunkten, bestenfalls mit Shoppingmall, rückgebaut, bar jeden architektonischen Anspruchs und Raumerlebnisses. Hier warten größte Bauaufgaben für die Bahn. Eine zentrale Bauaufgabe der Großstadt war die Architektur des Handels, insbesondere für die neue Bauaufgabe des Kaufhauses. Wilhelm Kreis errichtete in Dortmund (Warenhaus Althoff, 1910–1911), Essen (Warenhaus Althoff, 1911–1912) und Wuppertal-Elberfeld (Warenhaus Tietz, 1911–1912) prachtvolle Exemplare dieser modernen Gattung (Akgün 2010). Die großstädtische Fassade des Dortmunder Beispiels am Hansaplatz, nach dem Krieg vereinfacht wiederaufgebaut, spielt raffiniert mit der Logik klassischer Architektur: Über den mehrgeschossigen Fenstern sitzen ionische Kapitelle, die die vertikalen Fenstergliederungen wie Kanneluren einer Säule erscheinen lassen. So sieht es aus, als ob nicht die steinernen Lisenen, sondern die gläsernen Fenster das Gesims trügen. Das Essener Bauwerk wurde dagegen trotz seiner imposanten Architektur 2008 abgerissen, um einer belanglosen und stadtbildfeindlichen Shoppingmall Platz zu machen. Unmittelbar mit seinem schon seinerzeit berühmten Vorbild, Alfred Messels Warenhaus Wertheim in Berlin, vergleichbar ist das Warenhaus Hettlage in Dortmund (1912) von Otto Engler. Die potenziell zur unendlichen Reihung in der Straße geeignete Vertikalität der Fassade entsteht zum einen durch kolossale Pfeiler und zum anderen durch die Auflösung der Wandflächen zwischen diesen Pfeilern in Fensterflächen, die wiederum durch kolossale steinerne Streben untergliedert sind. Geschickt ist damit die Vertikalität des Baus in zwei Maßstäben verfeinert ausgedrückt und zugleich trotz großer Wandöffnungen durch die Tiefe sowohl der Pfeiler als auch der Streben der Eindruck einer massiver Straßenwandung in der Seitenansicht erreicht. Ebenfalls eine zentrale Bauaufgabe der Großstadt war die Architektur der Verwaltungsbauten großer Firmen. Im Ruhrgebiet waren dies vor allem die Bauten der Montan- und Stahlindustrie, die nicht nur in peripher gelegenen Industrieanlagen oder Arbeiterwohnsiedlungen, sondern auch in zentral gelegenen Bürogebäuden bauliche Präsenz zeigte. Dortmunds monumentalstes Relikt dieser Zeit bildet das ehemalige Union-Verwaltungsgebäude an der Rheinischen Straße (1916–1921) von Dietrich und Karl Schulze.
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Die urbane Seite der Industriekultur: Union Verwaltungsgebäude in Dortmund von Dietrich und Karl Schulze 1916–1921 im umliegenden Unionviertel (© Matthias Koch).
Bis in viele Details hinein ähnelt es seinem berühmten Vorbild, dem ehemaligen Mannesmann-Verwaltungsgebäude in Düsseldorf (1911–1912) von Peter Behrens, das am Rhein eine steinerne Stadtkante in Abwandlung Schinkelscher Tektonik ausformulierte. Die Anonymität moderner Bürokratie kommt in der scheinbar unendlichen Repetition des ab 1922 errichteten Hauses Ruhrort („Tausendfensterhaus“) in Duisburg von Heinrich Blecken zum Ausdruck. Das 1927–1928 entstandene Baedekerhaus von Ernst Bode in Essen gegenüber dem Dom gibt sich mit seinen Zyklopenmauern eine scheinbar archaische Geschichtlichkeit. Mit dem Verwaltungsgebäude der Emschergenossenschaft in Dortmund setzte der bedeutende Essener Architekt Alfred Fischer 1922–1923 die Tradition der Reformarchitektur mit ihrer vereinfachten kolossalen Fassadenordnung fort. Geschickt schmiegt sich der Bau dem Schwung des heutigen Königswalls an und betont so die Charakteristik des Straßenraums. Diese wurde im 1928–1931 vom regen Dortmunder Architekturbüro Flerus & Konert errichteten danebengelegenen Verwaltungsgebäude der AOK aufgegriffen und so die Idee der Hausfassade als Straßenwandung weitergebaut. Die nunmehr betont horizontale Gliederung unterstreicht den Schwung der Straßenkurve, die steinerne Fassadenverkleidung behält die monumentale Tonalität der Großstadtarchitektur bei. Markant in den Formen des Backsteinexpressionismus wurde das Ruhrwachthaus, heute Bert-Brecht-Haus, in Oberhausen 1928 von Otto Scheib entworfen (Rauhut & Lehmann 2016). Seine städtebauliche
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Lage an einer spitzen Blockecke artikuliert es durch eine Faltung des Baukörpers, der die Spitzigkeit der Lage zum kompositorischen Prinzip erhebt. In den 1930er-Jahren setzen sich repräsentative Verwaltungsbauten bruchlos fort, wie etwa in den Bauten von Emil Rudolf Mewes für den Bochumer Verein oder seinem Dortberghaus in Dortmund. Von einer Realisierung der großen nationalsozialistischen Pläne bleiben die Städte des Ruhrgebiets weitgehend verschont. Die Architektur der 1950er-Jahre weist eine große stilistische Bandbreite auf. Sinnbildlich stehen dafür zwei Bauten in Dortmund, die sich in unmittelbarer Nachbarschaft beäugen. Steinern-streng gibt sich am Hilropwall die Bundesbank von Wilhelm Kreis, während das Gesundheitsamt von Will Schwarz durch geschwungene Formen und farbige Glasmosaike spielerisch daherkommt. Dieser kurze Überblick macht deutlich, dass die Städte des Ruhrgebiets sich im frühen 20. Jahrhundert keineswegs „ganz anders“ als die übrigen Beispiele der „europäischen Stadt“ entwickelt haben und lediglich von Industrieanlagen, Arbeitersiedlungen, Infrastrukturen und Grünzügen geprägt waren. Sie waren zugleich auch Großstädte wie viele andere Städte in Deutschland, Europa und den USA seinerzeit – und sie wollten in ihren Kernen auch solche modernen Großstädte mit einer monumentalen Repräsentationsarchitektur werden.
Bauaufgaben der Großstadt – Stadtquartiere Eine städtebauliche Besonderheit des Ruhrgebiets besteht in der Anlage zahlloser Arbeiterund Angestelltensiedlungen, die meist durch die Industriebetriebe selbst in räumlicher Zuordnung zu den Industrieanlagen und ohne engen Bezug zu den bestehenden Städten und Dörfern geplant wurden. Doch weitaus mehr Bewohner fanden in den kompakten Stadterweiterungsgebieten Platz, die in klassischer Weise als Stadtquartiere mit einem engmaschigen Straßennetz in Blockrandbebauung direkt an die bestehende Stadtbebauung angeschlossen wurden. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurden entsprechende Bebauungspläne in den Städten entworfen, die wie der berühmte Hobrechtplan in Berlin zwischen den bestehenden Ausfallstraßen neue Straßennetze in ortsangepasster Rasterstruktur vorsahen. Darauf entstanden in kontinuierlicher Bebauung bis in die 1920er-Jahre hinein dichte multifunktionale Stadtviertel, wie die Nordstadt, das Kaiserstraßenviertel, Saarlandstraßenviertel, Kreuzviertel und Klinikviertel in Dortmund, das Ehrenfeld oder Griesenbruch in Bochum, das Eltingviertel, das Südviertel oder Rüttenscheid in Essen, Schalke in Gelsenkirchen, die Innenstadt in Oberhausen, das Dichterviertel in Mülheim an der Ruhr oder das Dellviertel, Duissern oder Marxloh in Duisburg. Neben privat errichteten Stadthäusern entstehen dort ab 1900 auch meist genossenschaftlich errichtete Reformblöcke wie der Althofblock, der Kaiserblock oder die Lenteninsel in Dortmund, die ein gesundes großstädtisches Wohnen auch für Arbeiter und Angestellte ermöglichen. Die straßenbegleitende Bauweise mit ansprechenden Fassaden wird bei dieser Typologie beibehalten und somit auch der gefasste Straßenraum; im Inneren bieten diese
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Blöcke aber meist gemeinschaftlich nutzbare Gartenhöfe, die für die Wohnungen eine ruhige und naturnahe Seite im Kontrast zur Straßenseite schaffen. Der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg wird gewöhnlich als urbanistischer Neuanfang interpretiert. Übersehen wurde dabei bislang, dass mit der Wiedereinsetzung von Philipp Rappaport bewusst die Kontinuität zur Zeit vor dem Nationalsozialismus gesucht wurde. Rappaport, von der Stadtbaukunst vor dem Ersten Weltkrieg herkommend, vertrat explizit einen konventionellen Städtebau, der kompakte Stadtstrukturen mit Blockrandbebauung und Mischnutzung vorsah: „Die Anordnung der dreigeschossigen Bauten wird im Allgemeinen in der üblichen Blockform längs bescheidener Straßenzüge erfolgen. Die Anordnung von Zeilenbauten, hintereinander gereiht, hat sich weder hinsichtlich der Zugänge und Leitungen als billiger erwiesen, noch bietet sie sonst irgendwelche städtebaulichen Vorteile. Im Gegenteil erscheinen derartige aufgereihte Zeilenbauten oft hart und unfreundlich. Sie schaffen keine Straßenräume, sondern zugige Engpässe. […] Sie schwimmen im Gelände und bieten kein im Gesamtplan fest verankertes Element. […] Wir wollen – allgemein gesagt – überhaupt nicht ‚siedeln‘, sondern unsere Städte und Ortschaften nach städtebaulichen Gesichtspunkten wieder aufbauen.“ (Rappaport 1946, S. 22)
Tatsächlich wurden viele Quartiere in den Ruhrgebietsstädten nach diesem urbanen Leitbild wiederaufgebaut (Sonne & Wittmann 2018). Wiederaufnahme der Städtebaukonvention bedeutete hier auch Absage an den Traditionsbruch des Nationalsozialismus.
Abb. 6
Kompaktes Stadtquartier als Stadterweiterung der Industriezeit und im Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg: Eltingstraße im Eltingviertel Essen (© Matthias Koch).
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Zur Renaissance des Städtischen heute zählen auch neue Stadtquartiere, die vornehmlich auf ehemaligen innenstadtnahen Industriegebieten entstehen und eine urbanere Konzeption durch dichtere Bebauung und gemischtere Nutzung aufweisen als die Siedlungen der Wiederaufbauzeit. Der Duisburger Innenhafen und das dortige Mercatorviertel oder der Dortmunder Phoenix-See zählen dazu (Nellen et al. 2018).
Die Tradition der Urbanität als Inspiration für die Zukunft Und heute? Diese urbane Tradition des Ruhrgebiets bietet zahlreiche und vielfältige Anknüpfungspunkte, die zur Lösung aktueller Aufgaben Anregungen geben und Zukunftswünsche formen können. Die gesicherte Rechtsstellung der Bürger der mittelalterlichen freien Reichsstädte mit ihrer republikanischen Verfassung ist heute in die Rechte des Staatsbürgers in der Demokratie übergegangen. Gleichwohl, die gelebte demokratische Selbstbestimmung wie auch der städtisch-gesellschaftliche Zusammenhalt stellen immer wieder eine neue Herausforderung dar. Auch die ökonomischen Errungenschaften der mittelalterlichen Hansestädte mit ihrem weltweiten Handel und ihrer schon bemerkenswert diversifizierten Produktion können als Vorbild für heutige Wirtschaftsziele angesehen werden. Schließlich ist die Bildungstradition der Städte, die in der frühen Neuzeit mit Schul- und Universitätsgründungen begann, ein Rückgrat heutiger Stadtentwicklung im Ruhrgebiet. Auch städtebaulich und architektonisch lässt sich so manches „aus der Geschichte mitnehmen“ – um einmal das oberlehrerhafte „Lernen aus der Geschichte“ zu vermeiden. Gerade die bislang unterbelichteten Stadtzentren und kompakten Stadtquartiere, an denen die Ruhrgebietsstädte ebenso reich sind wie viele andere Städte Deutschlands und Europas, bieten die besten Anknüpfungspunkte, um die heutigen zentralen Problemstellungen in Architektur und Städtebau anzugehen: Gesellschaftlicher Zusammenhalt, Klimawandel, Ressourceneffizienz, Wohnraum für alle lauten die offensichtlichsten Stichworte, für die eine kompakte der Stadt der kurzen Wege mit gemischt genutzten und sozial vielfältigen Quartieren mit schönen öffentlichen Räumen die besten Lösungsansätze bietet (Mäckler & Sonne 2019). Insbesondere die antiurbanen Planungs- und Bausünden des letzten Jahrhunderts stellen dabei eine gewaltige Herausforderung für die städtebauliche Kultur der Ruhrgebietsstädte dar. Hätte man die Universitätsgründungen in Bochum und Dortmund nicht als extraurbane monofunktionale Campusanlagen in Autobahnlage gebaut, so könnten sie heute längst Teil eines vielfältig verknüpften Stadtkörpers und der Stadtgesellschaft sein. Noch jüngst hat man in Dortmund die Chance verpasst, den TU-Campus durch eine Stadtallee an die Kernstadt mit einer urbanen Straße anzubinden und stattdessen die B1 als A40 mit Lärmschutzwänden autogerecht und dabei fußgänger- und radfahrerfeindlich ausgebaut. Welch eine Herausforderung wäre es nun, den monofunktionalen und daher wochenendtoten Campus aus seiner splendid isolation durch eine radikale Urbanisierungskampagne 673
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an die anliegenden Stadtquartiere anzubinden: mit multifunktionaler Stadtbebauung, die Wohnen nicht nur im Studierendenwohnheim, sondern im vielfältigen Stadthaus zulässt, dazu Gewerbe, Produktion, Dienstleistung und Handel in der stadtnotwendigen Dichte. Oder das Centro Oberhausen, das als „Neue Mitte“ propagiert wurde und doch nichts weiter als ein weiteres monofunktionales autogerechtes „Neues Zwischendrin“ geworden ist. Städtebaulich, architektonisch, ökologisch und für die Reststadt auch ökonomisch ein einziges Desaster muss man es wohl bis zur Unkenntlichkeit urbanisieren, um einen nachhaltigen Nutzen für die Stadt Oberhausen und die angrenzende Region daraus zu ziehen. Und das heißt: Auflösung der autogerechten Schlaufenerschließung – stattdessen feinmaschige Anbindung an das städtische Straßennetz; Unterwanderung der monofunktionalen Handelsnutzung – stattdessen Einschleusung von Wohn- sowie Produktions- und Dienstleistungsanteilen; Aufsprengen der großflächigen Besitzverhältnisse – stattdessen Einfügung weiterer Besitzer und Teilhaber; Aufbrechen des kurzlebigen Showcharakters – stattdessen Schaffung nachhaltiger öffentlicher Stadträume durch dauerhafte Architekturen und eine bauliche Verknüpfung mit den umgebenden Stadtteilen. Die auch in den Städten des Ruhrgebiets neue Nachfrage nach zusätzlichem Wohnraum, Büroraum und Gewerbeflächen bedeutet für die Zukunft eine einmalige Chance, nicht mehr durch „gegliederte und aufgelockerte“ sowie „autogerechte“ Planungen Land zu zersiedeln, sondern durch kompakte Stadtquartiere Urbanität zu schaffen. Denn im Unterschied zur Stadt des Industriezeitalters mit ihren schmutzigen und lauten Produktionsstätten, die zu einer funktionalen Zonierung im Städtebau führten, braucht die Stadt des vollzogenen Strukturwandels zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft keine gesonderten Zonen mehr, sondern eine möglichst dichte, bunte, funktional und sozial gemischte Stadt. Es müssen also nicht mehr reine Wohngebiete und reine Gewerbegebiete durch Autostraßen voneinander getrennt errichtet werden, sondern gemischte Stadtquartiere. Dies ist eine großartige soziale, städtebauliche und architektonische Chance. Funktionale und soziale Mischung mit möglichst hoher Fußläufigkeit und Fahrradfreundlichkeit lässt sich am besten in einer kompakten und vernetzten Stadtstruktur verwirklichen. Dies fordert ein feinmaschiges und durchlässiges Netz von Stadtstraßen – große Industriebrachen müssen mit Stadtstraßen durchwegt und auf das Maß gewöhnlicher Stadtblöcke gebracht werden; Bahnlinien müssen in passenden Abschnitten überquert werden; und auch Grünzüge dürfen nicht zu städtebaulichen Hindernissen werden, sondern müssen sich in das urbane Straßennetz eingliedern. Die Nachfrage nach Wohn- und Arbeitsraum sollte vorrangig durch gemischt genutzte Stadtquartiere gestillt werden. Die heutigen Anforderungen erlauben wieder eine Mischnutzung in dicht bebauten Quartieren. Diese zeichnen sich durch eine öffentliche Seite der Bebauung am Blockrand aus, die mit ihren ansprechenden Fassaden einen schönen öffentlichen Straßen- oder Platzraum formt. Und durch eine private Seite zum Blockinneren mit Höfen, in denen alle Arten privater Nutzung vom Kleingewerbe bis zum Kleingarten stattfinden können. Diese Stadtquartiere schließen bruchlos an die bestehende Stadt an und nehmen den Charakter bestehender Quartiere auf. Vorbei sind die Zeiten, in denen Wohnsonderzonen einen Gegenpol zur eigentlichen Stadt bildeten. Vorbei auch die Zeiten,
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in denen Arbeiten in Sonderzonen wie Industrieanlagen, Bürostädte oder Gewerbeparks ausgelagert wurde. Wichtig ist: Auch am Stadtrand sollte nicht randstädtisch, sondern normal urban weitergebaut werden – denn nur durch eine Erweiterung der Stadt auf städtische Weise kann eine kompakte Großstadt entstehen. Die schönsten Bauten der Vergangenheit lehren: Die neue Stadtarchitektur muss solide sein. Keine schimmelnden Wärmedämmverbundsysteme, keine klapprigen Blech- und Plastikverkleidungen: Unsolide Konstruktionen sind unökologisch, langfristig unökonomisch und hässlich, kurz: nicht nachhaltig. Stadthäuser brauchen ein alterungsfähiges Material an der Oberfläche, um langfristig haltbar und schön – man könnte auch sagen: geschichtsfähig – zu sein. Für die gewöhnliche Stadtbebauung von bis zu sechs Geschossen ist dafür eine Massivbauweise die beste Lösung: dauerhaft, energetisch langfristig optimal, anbaufähig und somit den Veränderungen der Zeiten anpassbar sowie reichhaltig an der Fassade formbar. Stadtstraßen sind das zentrale öffentliche Gut einer Stadt; Einfallstraßen sind die Visitenkarten einer Stadt. Stadtstraßen dürfen nicht nur unter dem Aspekt der Automobilität gesehen werden: Sie dienen allen Bewegungsarten vom Laufen über das Radfahren bis hin zum Bus- und Bahnfahren. Sie sind ökonomische Räume des Handels. Sie sind gesellschaftliche Räume der Kommunikation. Sie sind politische Räume der Kundgebung. Sie sind Aufenthaltsräume des Flanierens und Besichtigens. Sie werden räumlich durch Hausfassaden gebildet. All diesen Anforderungen müssen Stadtstraßen gleichzeitig genügen. Das höchste Gut einer Stadt sind ihre öffentlichen Plätze mit ihren öffentlichen Gebäuden. Ob Rathaus, Kirche, Marktplatz für die Gesamtstadt oder der Quartiersplatz mit Schule, Kirche, Synagoge oder Moschee im Stadtquartier: Die zentralen Orte, an denen politische, religiöse, gesellschaftliche und kulturelle Werte kulminieren, indem sie gelebt, ausgehandelt und vermittelt werden, verdienen es auch heute, durch höchsten Gestaltungsanspruch geformt und geschmückt zu werden. Aus dem bürgerschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Geist seiner Kernstädte wird das Ruhrgebiet auch architektonisch und städtebaulich fit for future.
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Altes „Bauhaus“ und neue „Industriekultur“, oder Courage zur Transformation Thomas Schleper
Altes „Bauhaus“ und neue „Industriekultur“ Die Urbanistik, insbesondere Siedlungen und Industriequartiere, darf als eines der zentralen Handlungsfelder Christoph Zöpels gelten, der sein Studium in der fachlichen Breite von Philosophie, Recht, Politik und Ökonomie absolvierte und 1980 bis 1985 Minister für Landes- und Stadtentwicklung sowie von 1985 bis 1990 Minister für Stadtentwicklung, Wohnen und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen (NRW) war. Er initiierte in den 1980er-Jahren die leitbildhafte Internationale Bauausstellung (IBA) Emscher Park, die schließlich zwischen 1989 und 1999 unter der Regie seines Büroleiters Karl Ganser realisiert werden konnte. Zöpel wagte Neues mit dem Konzept der erhaltenden Stadterneuerung. Zur weiteren Folge darf man Entwicklungen zählen wie die Gründung der Stiftung Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur (1995), die Route der Industriekultur (1999), die Eintragung des Industriekomplexes Zeche Zollverein in Essen in die Welterbeliste (2001) und das Ruhrgebiet als die soeben zehnjährig jubilierende Europäische Kulturhauptstadt (2010). Christoph Zöpel leistete mit Industriekultur somit einen richtungsweisenden Beitrag zum Strukturwandel – nicht nur im Ruhrgebiet, dort aber als sichtbarstes Exemplum, sondern als international wahrgenommenes Modell (Berger 2018). Es ist nicht ganz unerheblich zu erwähnen, dass ich Christoph Zöpel erstmals im Kontext von praktischer Industriekultur Mitte der 1980er-Jahre begegnet bin. Als Städtebauminister war er letztlich verantwortlich für die damals nicht unumstrittene und gleichwohl Beispiel gebende Umnutzung des ehemaligen Fabrikgeländes der Baumwollspinnerei von Ermen & Engels im oberbergischen Engelskirchen, eines der ersten, zudem preisgekrönten rheinischen Beispiele für den Erhalt eines historischen Ensembles des Industriezeitalters durch eine gemischte Umnutzung (Boeminghaus et al. 1988).1 Vielleicht müsste man – subjektive Befangenheit nicht ausgeschlossen – mit Blick auf Engelskirchen von einer vergleichsweise kleinmaßstäblichen Bewährungsprobe für das folgende Großmodell IBA 1
Ich wurde 1987 der erste Leiter der dortigen ‚Außenstelle‘ des Rheinischen Industriemuseums in der Trägerschaft des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR). Die Außenstelle Solingen war ein Jahr zuvor eröffnet worden. Die hier entwickelten Gedanken gehen auch auf intensive Gespräche mit der ersten Volontärin der Außenstelle, Milena Karabaic, zurück, die jetzige Dezernentin für Kultur und Landschaftliche Kulturpflege des LVR und Vertreterin des LVR im Vorstand des RVDL: „Von Engelkirchen lernen“ (ebenso Karabaic 2020).
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_46
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und für Industriekultur im Ganzen sprechen und alles zusammen als Aufbruchssignal mit katalytischer Wirkung für gewiss anstrengende Strukturwandelprozesse in NRW verstehen. In Engelskirchen haben wir jedenfalls von Beginn an die industriekulturelle Dopplung der denkmalpflegerisch betreuten Neunutzung einer ausgedehnteren, einstmals pionierhaften Fabrikanlage und die Einrichtung eines der ersten Industriemuseen im Rheinland vor uns (Landschaftsverband Rheinland 1987).
Abb. 1
Vormals Industriepionierin auf dem Lande: die nach englischen Vorbildern errichtete Textilfabrik von Friedrich Engels sen., Vater des gleichnamigen Sozialisten und Jubilar des Jahres 2020. Historische Ansicht der Baumwollspinnerei, Postkarte von 1986 nach einer Lithographie von ca. 1890, © LVR
Auch nicht peripher in Sachen Christoph Zöpel, Ehrenmitglied des Deutschen Werkbundes, ist es, das ‚Jahrhundertthema‘ des vergangenen Jahres, das schon zu verhallen droht, hier einzubringen: Bauhaus 100. Zwar geht ‚Bauhaus‘ nicht in Architektur und Städtebau auf, doch hat es als Schule der Gestaltung für die Wohn- und Lebensbedarfe der Industriegesellschaft essenziell mit Industriekultur zu tun. Daran hat insbesondere das Verbundprojekt 100 Jahre Bauhaus im Westen als kooperativer Länderbeitrag von NRW zum Jubiläum angeknüpft. Der Rheinische Verein, von Zöpel seit Juni 2017 präsidiert (zur Geschichte:
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Abb. 2
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Das umgenutzte Zwirnereigebäude ist Teil der denkmalgeschützten Baumwollspinnerei Ermen & Engels, das über dem LVR-Industriemuseum Kraftwerk Ermen & Engels Eigentumswohnungen beherbergt. Rechts im Bild angeschnitten: das Rathaus von Engelskirchen in der ehemaligen Spinnerei von E&E, © LVR)
Zöpel 2019), hat das ambitionierte NRW-Verbundprojekt mit seinem weitreichenden Verbandsorgan als Forum für programmatische Beiträge zum Bauhaus-Thema unterstützt (Hennecke 2018; Schwarz & Bochrath 2018; Hilleke 2018; Schleper 2018a). Meine Absicht ist es nun, die Gelegenheit zu einem Rückblick auf das Erbe des Bauhauses mit Gedanken über die Notwendigkeit einer neuen Agenda oder Charta von ‚Industriekultur‘ zu verknüpfen. Dabei wird vor allem der ‚Bildungswert‘ von Industriemuseen, sozusagen die ‚erbauliche‘ Seite des schillernden Kompositums Industriekultur, angesprochen.2 ‚Bildung‘, der gegenüber ‚Erbauung‘ modernere, aber gleichfalls altmodisch klingende Terminus, steht heute nicht weniger infrage. Natürlich muss auch genauer gesagt werden, was unter ‚Bauhaus‘ zu verstehen ist. Darin bildet sich die Geschichtlichkeit der angeführten Begriffe ab. Zunächst aber zur Industriekultur.
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Industriedenkmalpflege mit ihrer erhaltenden wie rekonstruierenden Praxis verbindet dann die ‚bauliche‘ mit der ‚erbaulichen‘ Industriekultur, was den überwiegend ‚erbaulichen‘ Industriemuseen in Industriedenkmälern sehr zugute kommt. 679
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Die dreifache Herausforderung
Industriekultur, alles andere als ein „trennscharfes akademisches Konzept“ (Rainer Wirtz, zit. nach Albrecht 2014, S. 33), eher eine Querschnittsaufgabe, soll hier zunächst einmal verstanden werden als eine Aktivität des voraussetzungs- und anspruchsvollen Umgangs sowohl mit den materiellen Relikten als auch geistigen und mentalen Traditionen sowie Perspektiven einer Epoche, die, aller postindustrieller Rhetorik zum Trotz,3 noch anhält und programmatisch ihre Zukunft sucht. Industriekultur folgt dabei einer Entwicklungsund Erkenntnisdynamik: Sie umfasst einen weitgefächerten Gegenstandsbereich sowie vielfältige ‚autochthone‘ Reflexionsorgane, etwa in der Gestalt von Industriedenkmalpflege, -architektur, -fotografie, -archäologie, -kunst oder aber Industriemuseen. Diese reflexiven ‚Medien‘ werden selbst wieder zum Gegenstand von (reflexiver) Industriekultur. Prima Vista scheinen sich Bauhaus als Gegenstand und Industriekultur als mögliches Organ seiner Reflexion im Wege zu stehen: Das Bauhaus wollte an der Schwelle zur Moderne explizit die Geschichte überwinden, stand es doch am Beginn einer industriellen Rationalisierungswelle. ‚Industriekultur‘ als neues Fahnenwort im Zeitalter der sogenannten Postmoderne wollte demgegenüber Vergangenheit bedenken und bewährte Traditionen bewahren, um so die Zeitgemäßheit von Geschichte und ihre Bedeutung für die Gegenwart und deren Perspektiven zu belegen. Bei näherem Hinsehen werden die Unterschiede kleiner: Das historische Bauhaus war, seiner Innovationsrhetorik zum Trotz, sehr wohl mit Geschichte und Vorgaben aufgeladen, um in Weimar nur angeblich vom Himmel zu fallen. Genau davon handelt das im Anschluss näher zu betrachtende Bauhaus-Jubiläumsprojekt im Westen. Industriekultur als Bildungsaufgabe könnte heute, so eine im Anschluss zu explizierende These, an die Projekte der 1980er-Jahre anknüpfen, um (weiter) zukunftstauglich zu sein. So treten die Gemeinsamkeiten stärker hervor: Während es im Bauhausjahr auch nicht um einen Stil, sondern um eine Aufbruchsidee und Einstellung ging, so lässt sich Industriekultur auch als eine „Haltung“, „eine Art Lebensgefühl“ beschreiben (Berger 2018, S. 6).4 Bauhaus und Industriekultur werden letztlich mit Errungenschaften eines sozialstaatlichen Gemeinwesens in Verbindung gebracht: mit Bauhaus die Weimarer Verfassung und mit Industriekultur der 1970er-Jahre womöglich die Sozialpartnerschaft eines ‚Rheinischen Kapitalismus‘. Sowohl Bauhaus als auch mittlerweile Industriekultur gelten schließlich als internationale „Markenzeichen“ – und jeweils als „ein weites Feld“ (Kift 2014, S. 14).
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Aktuell wird mit dem Terminus „postindustriell“ der tatsächliche Bruch eines „kognitiven-kulturellen Kapitalismus“ mit dem fordistischen Industrialismus rationalisierter, massenkultureller Uniformierung annonciert (Reckwitz 2019a, S. 135–201). Diesen Bruch, den die Digitalisierung hervorruft bzw. verstärkt, kann man aber auch als einen innerhalb von durch Disruptionen erschütterten Industriegesellschaften beschreiben, somit als einen akuten auch innerhalb der ‚Industriekultur‘. „Industriekultur“ kann als „Kennzeichen eines regionalen Bewusstseins“ im Zuge von gemanagtem „region-building“ verstanden werden (Stiftung für Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur 2017, S. 4).
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Darüber ließe sich mit Christoph Zöpel streiten, einem aufgeklärten Republikaner, der um die zukunftsträchtige Bedeutung von Geschichte als Aufgabe von Bildung in demokratisch verfassten Gesellschaften nicht nur weiß, sondern sich auch um ihren gegenwärtigen Zustand und Stellenwert sorgt (Zöpel 2016). Genau in diesem Kontext möchte ich zu einem kreativen Streit, einem débat d´idée über Bauhaus, Industriekultur und Bildungsarbeit einladen.
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100 Jahre Bauhaus im Westen
Bauhaus im Westen – wie ist das zu verstehen? Ist doch festzuhalten, dass dieser Titel nicht immer begriffen wurde (Rossmann 2018, S. 11. Deshalb drei Antworten darauf, die das Verständnis der innovativen, manche sagen „revolutionären“ Schule für Gestaltung als kulturellen Erbfall von verschiedenen Seiten beleuchten und das Besondere des westlichen Beitrags im Kontext des weltweiten Jubiläums profilieren.
Abb. 3
Landesweit: über 50 Präsentationen zum NRW-Verbundprojekt „Bauhaus im Westen“, © LVR: Katrin Becker (Grafik), Seher Anilgan, Thomas Schleper 681
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Thomas Schleper
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Bauhäusler*innen im und aus dem Westen
Zunächst wird man unter dem Titel 100 Jahre Bauhaus im Westen Beiträge zu Zeugnissen und Spuren ehemaliger Bauhäusler*innen aus dem Westen bzw. Präsentationen derselben an Rhein und Ruhr erwarten. Tatsächlich weist das Veranstaltungsprogramm des westlichen Verbundprojektes auch mehrfach den Namen Mies van der Rohe auf, des aus Aachen stammenden dritten Bauhausdirektors.5 Auch den Namen des Bottroper Josef Albers, langjähriger Schüler und Meister am Bauhaus (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Museum Quadrat Bottrop, bis 12. Januar 2020: Growe 2019), der mit seiner Frau Anni die Reformschule in den USA bekannt machte,6 wird man prominent vertreten finden. Georg Muche und auch Johannes Itten wurden zum großen Thema, vor allem in der ‚Bauhausstadt Krefeld‘, weil hier eine bemerkenswerte Zahl von Bauhaus-Absolvent*innen selbst während des Krieges und auch noch danach für die dortige Seidenindustrie unternehmens- und designstrategisch tätig wurden (Lange & Blumm 2019).7
Abb. 4
Mies, der Star aus dem Rheinland: Kurator Daniel Lohmann, TH Köln, Peter Köddermann, Programmleiter des M:AI NRW sowie Thomas Schleper, LVR-Projektleiter „bauhaus 100 im westen“ (v. l.) vor einem Modell der Ausstellung „Mies im Westen“, LVR, Foto: Uwe Wiese8
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Die Ausstellung Mies im Westen zeigte vom 11. Oktober bis 14. November 2019 im LVR-Landeshaus Projekte und Bauten Mies van der Rohes in NRW. Eine Koproduktion des Museums für Architektur und Ingenieurkunst NRW, der TH Köln, der TH Mittelhessen und der Alanus Hochschule für Kunst und Gestaltung. Stationen vorher waren die Städte Krefeld, Aachen und Essen. Ausstellung Anni Albers (bis 09. September 2018) im K20 in Düsseldorf, anschließend in der Tate Modern London (11. Oktober 2018 bis 27. Januar 2019). Das spannende Wuppertaler Projekt zur kritischen Rezeption von Bauhausideen und deren Folgen entstand unabhängig vom NRW-Verbund: Schriefers 2019. Publikation zur gleichnamigen Ausstellung, veranstaltet vom Institut für angewandte Kunst- und Bildwissenschaften der Bergischen Universität Wuppertal, in Zusammenarbeit mit der Abteilung Industrial Design der Fakultät für Design und Kunst vom 05. Dezember 2019 bis 27. März 2020. Ausstellung und Projekt hatten bewusst nicht den “Bauhäusler“ Mies zum Thema gemacht. Verstand sich doch auch Mies bald nicht mehr als „Bauhäusler“. Auch dies trug zur Befragung
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Das Projekt beleuchtete zudem eher unbekannte Schüler*innen und Begleiter*innen im Schatten der prominenten Herren, etwa die maßgebende Lilly Reich an der Seite von Mies (Lange & Blumm 2019). Das Kölner Museum für Angewandte Kunst (MAKK) widmete sich nicht nur der Keramikkünstlerin Margarete Heymann-Loebenstein, obwohl sie das Bauhaus nach nur einem Jahr wieder verließ, um dann 1923 gemeinsam mit ihrem Mann Gustav Loebenstein die Hael-Werkstätten zu gründen. Die Ausstellung würdigte ihr Werk in Kombination mit den Bühnenentwürfen ihrer unbekannteren Cousine Marianne Ahlfeld-Heymann, die 1923 ebenfalls ans Bauhaus ging (Geschäftsbüro 2018, S. 11; Broschüre MAKK 2019). „Nicht nur Dessau, Weimar und Berlin haben Bauhaus Museen – auch in Steinfurt Borghorst lebt seit sieben Jahren die avantgardistische Schule im ‚HeinrichNeuyBauhausMuseum‘ weiter“, zitiert besagtes Programmheft. Heinrich Neuy studierte in Dessau von 1930 bis 1932, und seinem Erbe ist das Privatmuseum gewidmet, das sich im Bauhausjahr mit der niederländischen Künstlergruppe de Stijl sowie mit der Avantgarde Osteuropas in mehreren Ausstellungen auseinandersetzte (Geschäftsbüro 2018, S. 22f.). Neben diesen ‚biogenetischen‘ Bauhausbezügen finden wir Gleichgesinnte wie Max Burchartz im Ruhrgebiet, Anhänger wie Wilhelm Riphan in Köln, Verwandte im Geiste wie Josef Rings in Essen oder später Sep Ruf mit dem Kanzlerbungalow in Bonn sowohl in Ausstellungen als auch in Publikationen behandelt (Gropp et al. 2019; Scheer 2019); vom Bauhaus hochgeschätzte Nicht-Bauhäusler wie Erich Mendelsohn,9 aber auch widersprüchliche Verwandte einer sogenannten relativierten Moderne, selbst ambivalente Gegner wie Rudolf Schwarz (Wiener 2019, S. 103–133; Breuer 2019), dazu ironische Kritiker und Dekonstruktivisten wie der lange in Köln tätige Allrounder Stefan Wewerka, erhalten ihre Bühnen im Jubiläumsjahr.10 Doch auch die neue Kulturministerin im Lande, das Projekt war sozusagen schon unterwegs, wollte erst überzeugt werden, bevor sie die Schirmherrschaft übernahm und bekundete, „dass die Bauhausbewegung auch im Westen das Bauen und Gestalten beeinflusste“ und gar „diese Einflüsse auf die Zentren der Bewegung zurückwirkten.“11 Wenn der Gewinn der bundesweiten Veranstaltungen in einer Entmystifizierung der Marke Bauhaus zu sehen ist, hat der Westen erklecklich dazu beigetragen: „Eine neue Unübersichtlichkeit. Es gibt keine kanonischen Deutungen mehr“, so rückblickend die Bauhausexpertin Margarete Droste (2020). Dazu half im Westen sicher auch, dass kunst-, design- und architekturhistorische Betrachtungen und Bezüge nicht allein den Kern des komplexen Projektes ausmachten (Schleper 2020).
des „Bauhauses“ als Strömung in der Moderne bei. Seine Bauten wurden in der von Gropius ausgerichteten Ausstellung 1923 im Haus am Horn als Modelle der architektonischen Moderne gezeigt. 10 Ausstellung Stefan Wewerka. Dekonstruktion der Moderne, Kunstmuseum Villa Zanders Bergisch Gladbach (14. Dezember 2019 bis 19. April 2020) sowie den gleichlautenden Katalog. 11 Isabell Pfeiffer-Poensgen, Ministerin für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, Grußwort der Schirmherrin in allen Projektpublikationen. 9
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Thomas Schleper
Bauhaus im Kontext
Weniger konventionell war es, das Bauhausjahr projektprogrammatisch auch über den landläufigen Direktbezug zu Bauhäusler*innen hinaus zu nutzen, um unbefangener nach Ursprüngen, Variationen und Folgen zu fahnden, nach kulturhistorischen Antizipationen, Rahmensetzungen wie Konsequenzen einer Strömung, womöglich einer vor lauter Bauhäusler*innen verdeckten. Das half dabei, das Bauhaus als eine Bewegung der Moderne zu verorten, auch um sie, in Widersprüchen verstrickt, besser zu verstehen und einem breiteren Interessentenkreis zugänglich zu machen. Diese Suche nach dem Relationalen war eine zentralere Intention des Jubiläums im Westen, wohl auch eine konstruktive Provokation, möchte ich meinen. Das Stichwort dazu: industriekulturelle Kontextualisierung. Beginnen wir biografisch: So startete NRW mit Peter Behrens, dem heimlichen Großen, einer der lange Zeit „Unterschätzten“ (Schleper 2018b, S. 41). Ein als Prolog ausgewiesener Programmpunkt war diesem „Alleskönner“ gewidmet, der im Westen aus dem Schlagschatten von Walter Gropius herausgeholt wurde. Behrens darf mit Fug und Recht als wichtiger Wegbereiter und Impulsgeber der industriekulturellen Moderne wie des Bauhauses gelten. Gleich drei Ausstellungen waren ihm deshalb 2018 zu seinem 150. Geburtstag gewidmet: gedacht als ein Fanfarendreiklang zum Auftakt des Bauhausjahres in NRW.
Abb. 5
Nachhaltig genutzte Architekturikone: Peter Behrens entwarf für die Oberhausener Gutehoffnungshütte (GHH) das von 1920–1925 errichtete Hauptlagergebäude. Heute trägt es den Namen „Peter-Behrens-Gebäude“ und wird seit 1998 vom LVRIndustriemuseum als zentrales Schaudepot und Ausstellungshaus genutzt, © LVRIndustriemuseum
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Das Museum für Angewandte Kunst in Köln, das Kaiser-Wilhelm-Museum Krefeld und das LVR-Industriemuseum im Oberhausener Peter-Behrens-Bau stellten seine Pionierrolle als Großvater des industrial design heraus. Bevor Behrens ab 1907 Kreativdirektor des Berliner Unternehmens AEG wurde, hatte er schon wichtige Spuren in Hagen und in Düsseldorf hinterlassen. In Hagen mit dem ersten preußischen Krematorium 1906/07 in einer Form, die den Jugendstil hinter sich ließ und zu einer Sachlichkeit fand, die wegweisend werden konnte. Bevor er sich dann in Berlin Gedanken machte und Konzepte entwickelte, die auch den bezahlbaren Arbeiterwohnungsbau betrafen wie den Bau in vorgefertigten Hausbauteilen, wirkte er als Pionier an der Düsseldorfer Kunstgewerbeschule, wo er Ideen des Vorkurses am Bauhaus vorwegnahm und dabei auch den Besuch seiner Kurse für „Damen“, noch ungewöhnlich für die Kaiserzeit, ermöglichte. Doch Behrens, mit dessen Rezeption Ende der 1970er-Jahre übrigens der Terminus Industriekultur in Fachkreisen die Runde machte (Buddensieg & Rogge 1979; Glaser et al. 1980; Glaser 1981; zur Geschichte des Begriffs: Albrecht 2014), war nicht der einzige im Westen tätige Bahnbrecher bzw. Wegweiser. Mit ihm und neben ihm gilt es, die maßgebende Bedeutung des „Hagener Impulses“ zu beachten, geradezu eine „Brutstätte des Bauhauses“ (Ruhrverband 2019, S. 4): Die Industriestadt Hagen war eines der wichtigsten Zentren für die Reformbewegung, auch des „Werkbundes“, noch vor dem Ersten Weltkrieg. Henry van de Velde, Gründer der Weimarer Kunstgewerbeschule, war ein Berater des in Hagen als Initiator im Mittelpunkt stehenden Mäzens Karl Ernst Osthaus. Neben van de Velde, Behrens und Bruno Taut wirkten J. L. M. Lauweriks – auch ein großer Unterschätzter –, Adolf Loos und August Endell mit, um der „Folkwangidee“ zu folgen, Kunst und Arbeit wie Kultur und Alltag zu verbinden und dabei den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen (Heimsoth 2019). Im Hagener Vortragssaal, konzipiert von Peter Behrens, hielt schließlich Walter Gropius seinen ersten öffentlichen Vortrag über wegweisende Industriearchitektur: 1911, gerade beschäftigt mit dem ersten, zu Unrecht lange nur ihm zugeschriebenen Meisterstück, das mit Adolf Meyer konzipierte Fagus-Werk. Bernd Polster, sein gestrenger Kritiker, suggeriert sogar eine vom zehn Jahre älteren Osthaus ausgehende amouröse Beziehung, die über die Liebe zur Architektur hinausging, was ihn auch deshalb zur „Schlüsselfigur in der Karriere von Gropius“ gemacht habe (2019, S. 111–112; Happel & Schulte 2019; Di Betti et al. 2019). Er verhalf dem jungen mehrmaligen Studienabbrecher jedenfalls nicht nur zu dem Auftrag auf der Werkbundausstellung in Köln 1914, wo dieser seinen zweiten, zunächst für ihn und für die Bauhausidee noch bedeutenderen Wurf nach dem FagusWerk mit Bürogebäude und Maschinenhalle landete. Die erwähnten Bauten dürfen zu den Inkunabeln dessen zählen, was man zur Industriekultur im mittlerweile prominent etablierten Sinne zählen darf.
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Abb. 6
Aus der Ausstellung „nützlich & schön. Produktdesign von 1920–1940“ im Peter-Behrens-Bau des LVR-Industriemuseums Oberhausen: der Opel 4 PS Laubfrosch, © LVRIndustriemuseum, © P.S.Speicher der Kulturstiftung Kornhaus, Einbeck, Foto: J. Hoffmann
Zur weiteren Öffnung des kunsthistorisch eng geführten Bauhausthemas dienten sicherlich auch die jüngeren Analysen zu weiteren modernen Industriebauten, die an Rhein und Ruhr nach dem Ersten Weltkrieg entstanden und den Prinzipien von Rationalisierung und industrieller Effizienz folgten (siehe die rekonstruierte Ausstellung Vorbildliche Industriebauten im Osthaus Museum Hagen, 02. September 2019 bis 12. Januar 2020; Buschmann 2018, 2019). Auch der Siedlungsbau im Rahmen des „Neuen Bauens“ gehört dazu. Es zählte zur Explikationstiefe des Bauhausjubiläums im Westen nicht zuletzt, den politischen Kontext zu thematisieren, gab es doch 2019 nicht zufällig gleich zwei, wenngleich auch sehr unterschiedlich mit Ressourcen ausgestattete Zentenarien zu begehen: das des Bauhauses ganz im Vordergrund und in seinem Schatten das der ersten Deutschen Demokratie, der Weimarer Republik. Der Westen verstand das Bauhaus tatsächlich programmatisch als „Politikum“.12 Kein Wunder: Das Bauhaus entstand in der Übergangsphase nach dem Ersten Weltkrieg, zwischen „Euphorie und Panik“, wie der Historiker Christof Dipper sagt (zit. nach Patzer 2019, S. V1), und benötigte die Weimarer Republik zur Gründung. Es war die Weimarer Verfassung, in der festgeschrieben wurde, von Staats wegen „jedem Deutschen eine ge-
12 Zu den ersten Schritten eines Bauhausverbunds in NRW unter Einbezug der Weimarer Republik: Schleper 2016. Zu den Umsetzungen: die im Düsseldorfer Landtag im Januar 2019 eröffnete Wanderausstellung Weimar im Westen, die fester Programmbestandteil des Verbundprojektes 100 Jahre Bauhaus im Westen war. Dazu die gleichnamige Publikation: Göschl & Paulus 2019; das Bonner Frauenmuseum beteiligte sich mit dem Ausstellungsprojekt Frauenpolitischer Aufbruch (03. Oktober 2018–30. September 2019); das LVR-Niederrheinmuseum Wesel stellte Von Wilhelm nach Weimar (03. Februar–30. Juni 2019) aus; die Webseite Frauen.ruhr.Geschichte thematisierte Auf dem Weg zur Geschlechterdemokratie; das LVR-Freilichtmuseum Lindlar eröffnete am 08. März 2020 die Ausstellung Neue Politik. Frauen auf dem Land; in Euskirchen und Bocholt hieß es Mythos neue Frau. Mode zwischen Kaiserreich, Weltkrieg und Republik (17. Februar–17. November 2019 bzw. 29. März–01. November 2020); Geschäftsbüro 2018, S. 7–8.
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sunde Wohnung und allen deutschen Familien, besonders den kinderreichen, eine ihren Bedürfnissen entsprechende Wohn- und Wirtschaftsheimstätte zu sichern“ (zit. nach Petrick-Löhr 2019, S. 17). Beispiellos war dann der Aufschwung des öffentlich geförderten Wohnungsbaus. Kommunen und Genossenschaften investierten enorme Summen. Von dieser Atmosphäre der öffentlichen Wohnbauunterstützung profitierte auch das Bauhaus und allgemeiner: das Neue Bauen (Gropp et al. 2019).
Abb. 7
Bauhaus und die Republik: Die multimediale Wanderausstellung „Weimar im Westen: Republik der Gegensätze“ wurde an acht Standorten in Rheinaland und Westfalen gezeigt, © LWL
Schließlich musste das Bauhaus nach langen Kämpfen die Fahnen streichen, als die Republik und ihre liberale, wohlfahrtstaatsorientierte Verfassung zerstört wurde. Ihre Protagonist*innen waren gezwungen, Exilstrategien zu entwickeln, viele mussten unter dramatischen Umständen fliehen, manche überlebten die Verfolgung nicht. Dazu nur einige Beispiel von vielen aus dem Verbundkanon des Westens. Auf Seiten der von den Nazis mit Berufsverbot belegten Architekten wurde das Schicksal des Sozialdemokraten Josef Rings und des großbürgerlichen Juden Erich Mendelsohn in einer Wanderausstellung der Synagoge Essen anlässlich des Eröffnungssymposions
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zum Westprojekt gezeigt.13 Das Solinger Zentrum für verfolgte Künste machte Teile des Werkes von Jesekiel Kirszenbaum einer größeren Öffentlichkeit wieder zugänglich. Der im russisch besetzten Polen im Jahre 1900 geborene Künstler ging in den Westen, um in einem Dortmunder Bergwerk Geld für sein 1923 aufgenommenes Studium am Bauhaus zu verdienen. Hier wurde er insbesondere von Klee, Kandinsky und Feininger inspiriert und protegiert, weniger von Gropius. 1933 floh Kirszenbaum nach Frankreich, seine Kunst galt als „entartet“. Sein Pariser Atelier wurde von den Deutschen zerstört. Nur wenige Arbeiten seines Frühwerks sind erhalten. Einige waren in Solingen zu sehen (Die Ausstellung fand unter dem Titel Josekiel Kirszenbaum. Else Lasker-Schüler und der „Sturm“ vom 31. März–05. Mai 2019 im Zentrum für verfolgte Künste in Solingen statt: Sauerwein 2020). Vielen ehemaligen Bauhäusler*innen aus jüdischem Hause erging es schlimmer, was auch in der Kölner Ausstellung über die jüdischen Künstlerinnen Margarete Heymann-Loebenstein und ihrer Cousine Marianne Ahlfeld-Heymann aufgegriffen wurde (zur Ausstellung 2 von 14: MAKK 2019; Shahedali 2019). Um noch eine im Westen auftauchende Bauhausprominenz im Kontext des Politischen zu erwähnen: Paul Klee, der sich 1931 erschöpft vom Bauhaus ab- und der Akademie in Düsseldorf zuwandte, wurde hier von der NS-konformen Presse als Jude bezeichnet, fälschlich, doch wegen seiner Kunst gleichwohl als „entartet“ klassifiziert und entlassen. Er verabschiedete sich 1933 von seiner Arbeitsgruppe mit präziser Ahnung: „Meine Herren, es riecht in Europa bedenklich nach Leichen“ (zit. nach Michels 2015, S. 96) – und muss bis zu seinem Tod 1940 in Zwischenstaatlichkeit verharren: Sein Einbürgerungsgesuch wird aufgrund eines Abkommens zwischen der Schweiz und dem NS-Staat abgelehnt.14 Dies unterstreicht: industriekulturelle, inklusive politikgeschichtliche Rahmensetzungen, sind im Positivem wie Negativem vom ‚Bauhaus‘ bzw. den ‚Bauhäuser*innen‘ – gibt es doch viele Phasen und Konzepte des Schaffens am Bauhaus – kaum zu trennen. Zudem hat im Kontext von Industriekultur die Institution, so nochmals der Historiker Dipper, „das Feld des Politischen erweitert“ (zit. nach Patzer 2019, S. V1). Am deutlichsten wohl an der Architektur als öffentlichste Kunst abzulesen: Lieferte doch der (dazumal nicht nur am Bauhaus praktizierte) „Zeilenbau mit seiner ständigen Wiederholung der gleichen Formen […] der jungen Weimarer Demokratie passende Grundrisse und Fassaden“ (Kohler 2019). Und was damals zustande kam, schuf die „architektonische Kulisse für eine neue Ära […], deren Versprechen bis in den sozialen Wohnungsbau der Gegenwart anhält“ (Schönpflug 2018, S. 115).
13 Siehe zu der außerhalb von NRW auch in Tel Aviv und Jerusalem gezeigten Ausstellung das bildstarke und in Deutsch, Englisch und Hebräisch verfasste Katalogbuch: Gross & Sonder 2018. Ein ganz anderes Exil erlebten die bekannten Bauhausstars in den USA. 14 Siehe die Tagung am 24. und 25. Mai 2019 des Kunsthistorischen Instituts der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und des Fachbereichs Kunstbezogene Wissenschaften an der Kunstakademie Düsseldorf: Die Neue Akademie. Die Kunstakademie Düsseldorf in den Jahren 1919 bis 1933 (Jürgen Wiener, HHU, und Guido Reuter, Kunstakademie).
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Abb. 8
Öffentlichste Kunst: Mit der Wanderausstellung „Neues Bauen im Westen“ zeichnete die Architektenkammer NRW die wichtigsten Entwicklungslinien des Bauhauses aus rheinisch-westfälischer Perspektive nach (Scheer 2019)
Das Konzept der Öffnung des Bauhausbegriffs mittels thematischer Kontextualisierung, via Industriekulturalisierung sozusagen, konnte im Westen sicherlich nicht zuletzt aufbauen auf die institutionellen Strukturen der beiden Landschaftsverbände in Rheinland und Westfalen sowie ihrer nahezu symmetrisch zueinander, breit aufgestellten kulturellen Agenda.
2.3
Bauhausspirit und Design-Courage
Noch ambitionierter war es womöglich, über die Personen und Kontexte auch nach einer aktuell relevanten ‚Philosophie‘ von Bauhaus zu fahnden, sozusagen vom Klischee zur Idee.15 Wenn Reichskanzler Friedrich Ebert in einer Rede vor der Nationalversammlung den „Geist von Weimar“ beschwört, um in Deutschland eine Wende vom „Imperialismus zum Idealismus“ zu vollziehen, verspricht zeitgleich Gropius, mit seinem Weimarer Bauhaus „den Grundstein einer Republik der Geister“ zu legen (zit. nach Polster 2019, S. 242). Vielleicht lässt sich der Bauhausidealismus mit Bezug auf die Realpragmatik des Bedarfs
15 Von einem „ganzheitlichen Konzept für eine bessere Welt“ spricht Monika Grütters, die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, in Vorbereitung auf das Jubiläumsjahr: Geschäftsstelle 2017, S. 3. 689
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an bezahlbarem Wohnraum und mit Blick auf die weltanschauliche Reaktion auf Kaiserreich und Weltkrieg mit Anke Blümm wie folgt übersetzen: „Hinter der Entwicklung […] stand die soziale Utopie einer demokratischen und friedlichen Gesellschaft“ (2013, S. 20). Selbst wenn wir davon ausgehen müssen, dass diese Idee, dieser Geist erst im Nachhinein eine Art Verdichtung erfahren hat, an der die Protagonisten des Bauhauses selbst kräftig gebastelt haben; oder dass das „spektralisierte“ Treiben des Bauhauses womöglich nicht einmal einen wirklich stabilen, geschweige denn widerspruchsfreien Kern besaß (Schmidt 2019a); oder dass dieser, wenn identifizierbar, nicht nur verraten wurde, sondern selbst tyrannisch werden konnte; ja, dass eine vertrackte „Dialektik von Utopie und Enttäuschung“ (Hölscher 2020) am Werke war – und entgegen auch so manch vereinfachendem Rückblick auf das Bauhausjahr, der sich allein auf die dunklen Seiten dieser Dialektik konzentriert (Guratzsch 2020): Das alles kann nicht verdecken, dass das Bauhaus von einer Mission beflügelt war und andere beflügelte, ein begeistertes Team formte, um Prinzipien für die Gestaltung neuer Lebenswelten zu finden und umzusetzen. Warum nun aber vermag der Bauhausgeist, der Spirit, heute noch anzurühren? Ich möchte auf das weit ausholende Jubiläumsmotto des Auftaktsymposions in Essen Die Welt neu denken (Henneke et al. 2018) zurückgreifen und als Kulturwissenschaftler und -manager mit dem Anspruch engagierter Aufklärungsarbeit antworten. Mein Bezugspunkt ist der Appell einer „Dritten Aufklärung“ des Züricher Philosophen Michael Hampe. Nach der ersten, philosophischen der Antike und der zweiten, wissenschaftlichen des 16. bis 18. Jahrhunderts meint die dritte, gegenwärtig akute zunächst einmal die ernüchternde Anerkennung unreiner Mischungs- und Zwischenverhältnisse. Das ist die Absage an das Klischee, die Welt bestehe gemäß dem Konzept der zweiten Aufklärung aus berechenbaren Gesetzmäßigkeiten, derer wir uns nur bedienen müssten. Viele Aufklärer, darunter viele Bauhäusler*innen, haben dies erwartet und sind insofern „kindlichem Wunschdenken“ (Hampe 2018, S. 79) verhaftet geblieben. Wollten sie doch nicht akzeptieren, dass bei allem Planen und Systematisieren immer wieder Zufälligkeiten und Unvorhersehbares ins Spiel kommen – auch Rückschläge (auch Reckwitz plädiert in diesem Sinne für mehr Realismus: 2019b). Gleichwohl, und das ist die zweite Botschaft Hampes, verbleiben, statt Fatalismus und Schicksalsgläubigkeit, noch immer Handlungsoptionen einer „relativen Autonomie“. Die dritte, heute angemessen über sich aufgeklärte Aufklärung verfolgt nämlich die pragmatische Perspektive der Teilhabe, die die verbleibenden Spielräume der Gestaltung nutzt. Sie unterhält eine, sagen wir, machtrelativierte, aber nicht resignierte Weltbeziehung. Sie greift, unter Ausnutzung eines umfassenden Gestaltungsbegriffs, zum Mittel dynamischer, auch künstlerischer Intervention.16
16 Mit dem Titel Zukunftslabor Bauhaus wurde der das Bauhausjahr im Westen abschließende ‚Bildungskonvent‘ mit Vorabendveranstaltung in Bocholt (LWL-Industriemuseum, TextilWerk Bocholt) im März von der Corona-Pandemie ausgebremst. Gleichwohl kam eine Ausstellung mit 17 Schul- und Hochschulprojekten zustande. Sie setzte sich insbesondere mit dem pädagogischen Impetus von Bauhaus im Westen auseinander.
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Dazu müsste sich freilich, so Hampe mit Blick auf die Bildungsarbeit, die anbequemte Position des modernen bzw. postmodernen Diagnostikers und Beobachters mit der des drittaufgeklärten Pragmatikers verbinden. Erst daraus erwachse die Chance des Neuanfangs, die für das historische Bauhaus, wie gehört, ja nicht nur Mythos war, sondern die bis heute ansteckend ausgelassene, auch freche Begeisterung ihrer Absolvent*innen, die u. a. und noch immer aus den zahllos überlieferten Fotos zu uns spricht. Freilich: Zur fälligen Kritik am Bauhaus zählt sicher der von einer allzu eineindeutigen Auslegung inspirierte Funktionalismus „seelenloser Renditearchitektur“ (Köppler 2019), wie er etwa mit den hochschießenden Aufstapelungen Hongkongs in den himmellosen Fotos von Michael Wolf ihre so trostlosen wie faszinierenden Bilder findet.17 Auch Christoph Zöpels Kritik an einer „verheerenden“ Bauhausrezeption in „industrialisierter Massenbauweise“ (X & Zöpel 2009) speist sich aus solchem im Weltmaßstab praktizierten Bauhausrationalismus: „Form follows finance“ (Sommer & Welzer 2017, S. 130). Kritik trifft zudem die romantische Überschätzung von Kunst und Architektur in Bezug auf gesamtgesellschaftliche Gestaltungsmöglichkeiten, wie sie zur Bilanz einer auch vom Bauhaus schief befeuerten Moderne gehört. Doch ist damit das Bauhaus erledigt, sein Optimismus, sein Humanismus und eine visionierte Trias von Schönheit, Wahrhaftigkeit und Güte, die bislang allein der Klassik und der Renaissance zugeschrieben wurde, nur eine aufpoliert hochgejubelte Farce (Finger 2017)? Warum nicht die Aktualität des Bauhausmottos „Die Welt neu denken“ auf die sich einmischenden Radikalität einer Hannah Arendt und ihr Diktum von der „Freiheit, frei zu sein“ beziehen? Gemäß der just wieder in den Fokus gerückten Theoretikerin des Politischen ein Ausweis des Menschseins überhaupt, nämlich der Fähigkeit zum Anfang, damit zum Politischen gegenüber Schicksalsglaube und Verhängnis (Arendt 2018). Diese Humanität des Beginnen-Könnens aber gälte es, in Erwiderung eines nur ästhetisch und kunsthistorisch aufgefassten oder markentauglich jubelnden Zentenariums (Piegsa 2020; Oswalt 2020) ins Blickfeld zu heben. Dringlichkeit stünde außer Frage. Hört man doch von vielen Seiten: „Wir brauchen einen echten Neuanfang“ (Vorwort des Vorstands des Club of Rome: Weizsäcker et al. 2017), der mehr ist, als nur werbestrategisch eingesetzte Zukunftsrhetorik: Fast unbemerkt sterben die Habitate (Müller-Jung 2019). „Unser Haus bricht zusammen“, so auch die irritierend junge Umweltaktivistin Greta Thunberg vor dem Europaparlament (Reuters 2019) und die just im Bauhausjahr „die unangenehmen Wahrheiten“ ausspricht (Carré 2020, S. 9).
17 Siehe die Ausstellung Michael Wolf, Life in Cities, Deichtorhallen. Internationale Kunst und Fotografie, Hamburg, 17. November 2018–03. März 2019. 691
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Abb. 9
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Ein Beginnen-Können: Blick in die Ausstellung „Aufbruch im Westen. Die Künstlersiedlung Margarethenhöhe“, Ruhr Museum, Foto: Deimel + Wittmar
Aufklärung bedarf nicht zuletzt eines Glutkerns: großer Courage und Selbstermutigung. Courage als kognitive wie moralische Radikalität, Hoffnung womöglich als „moralische Verpflichtung“ (Kölner Stadt-Anzeiger 2019). Im Widerspruch zu Kleescher „Glut […] von der Art der Toten und Ungeborenen“ (zit. nach Michels 2015, S. 48) spricht Arendt von „Gebürtlichkeit“ und „Natalität“ (2018, S. 38), vom Mut zur Zumutung der Freiheit, für die Pessimismus und weltfremde Distanz auf unserem Niveau von Wohlstand nur eine, in den flapsigen Worten des Sozialpsychologen Harald Welzer: „schofelige Haltung“ sei (Schmidt 2018, S. 147, 149). Courage gegenüber dem Bauhaus beweist der Architekt und Designer Van Bo Le-Mentzel, der als Spezialist für einfaches Wohnen Schlagzeilen macht: „Das Bauhaus ist heute alt […]. Es ist der falsche Werkzeugkoffer. Man muss jetzt neue Werkzeugkoffer entwickeln.“ Und tatsächlich: Gropius’ Formeln vom „großen Bau“, „Bau der Zukunft“ oder „Baukasten im Großen“ wären – einerseits – großmaßstäblicher zu denken, mit global dimensionierten Herausforderungen zu konfrontieren und insofern Bauhaus gedenkstrategisch nicht als handliches Exempel zu verstehen (Marke Bauhaus), sondern als provokant anspruchsvolles Analogon (Bildungs- und Gestaltungsaufgabe): „Die Menschheit ähnelt gegenwärtig eher einem Elefanten im Porzellanladen als einer Kunsthandwerkerin“ (Hampe 2018, S. 21).
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Mit dieser Arendtschen Blickrichtung hält der Architekt Bo Le-Mentzel das historische überholte Bauhaus für gleichwohl noch aktuell – als Schule des radikalen Beginnens: „diese Radikalität, Bilder zu produzieren, Bilder der Zukunft, ist etwas, zu dem viele Menschen heute nicht mehr so richtig in der Lage sind“ (zit. nach Martin 2019): trotz der Hegemonie eines Kreativitätsparadigmas tonangebender Kreise und des „gesellschaftlichen Regimes des Neuen“ (Reckwitz 2012, S. 38ff). In dem Punkt, so Le-Mentzel weiter, könne man „viel vom Bauhaus lernen. So gesehen ging es unter dem Motto „Die Welt neu denken“ darum, angesichts der gut prognostiziert bevorstehenden – und der bereits eingetroffenen – Katastrophen der Moderne mit der acedia, der „Trägheit des Herzens“ (Benjamin 1981, S. 82), zu brechen. Wo könnte man beherzt ansetzen? Gerade die „produktive Instabilität“ einer nie präzise zu fassenden Bauhausidee, gerade ihre uneingelösten Versprechen erzeugen doch einen „Drang zur Fortführung“ (Oswalt 2019, S. 20). Spätestens an diesem Punkt dürfen wir auf Überlegungen zu einer „Neuen Industriekultur“ zurückkommen.
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Lernen vom Bauhaus? Zur Agenda einer „Neuen Industriekultur“
Das Projekt „Bauhaus im Westen“ hat wie erwähnt und nicht zuletzt das Thema Bauhaus als eines im Kontext von Industriekultur ins Spiel gebracht (Zeitschrift Industriekultur, 3, 2018 mit dem Special „Bauhaus im Westen“; Regionalverband Ruhr 2019 zur Route der Industriekultur). Zum politischen Rahmen und zum Spirit des Bauhauszentenariums gehörte dann auch ein Wertekonnex von Erkenntnis und Interesse: Soll das gleichzeitige Scheitern von Bauhaus und deutscher Republik nicht das letzte Wort sein (Dreyer & Braune 2016), darf mit einem erweiterten Verständnis von Bauhaus, das seinen Spirit aufgreift, auf die Chancen einer weiterentwickelten Industriekultur verwiesen werden – zumal im Westen. Über eine „Neue Industriekultur“ wird hier freilich nicht zum ersten Mal nachgedacht (Günter 2010; Albrecht 2014; Berger 2018). Da trifft es sich, dass darauf abgestimmt auch ‚Bildung‘ im Erdzeitalter des Anthropozäns (Crutzen 2019) mit der Neuvermessung ihres Referenzrahmens begonnen, neu beseelt und begeistert werden muss (Riechelmann 2020; systematisch aus kulturphilosophischer Sicht: Scherer 2020).
3.1
Couragierte Transformationen
Die Industriekultur der geretteten Industriequartiere sowie denkmalgeschützten Fabrikund Siedlungsensembles hat nicht zuletzt mit Christoph Zöpel, seinem Team und gleichgesinnten Mitstreitern in Rheinland und Westfalen Meilensteine gesetzt. Meilensteine, die nicht einer nur abräumenden Tabula-Rasa-Philosophie bzw. „schöpferischen Zerstörung“ (Schumpeter 2020) folgten, sondern den bereits in den 1980er-Jahren mit ökologischen 693
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Argumenten begründeten Versuch bewahrender Umnutzung, also „Re-Use“ und „ReCycle“ dokumentierten und dabei mit demokratischer Perspektivierung zugleich (Spiel-) Räume für öffentliche Nutzungen erweiterten. So wurde anders gedacht, Neues riskiert. Das bleibt höchst aktuell (Schock-Werner 2018, S. 26). Maßgebend war auch § 2 des 1980 verabschiedeten Denkmalschutzgesetzes in NRW, der die Denkmale und deren Erhalt aus einer „auch industriekulturellen Definition“ legitimiert (Zöpel 2019, S. 7).18 Originalton aus der Praxis von Christoph Zöpel zum dazumal nicht unproblematischen Erhalt der monumentalen Zeche Zollverein in Essen 1986: „Da kann man nur entscheiden, das Ding bleibt als Denkmal stehen. Neujahr wurde das öffentlich, und es hieß sofort, der Minister ist verrückt“ (X & Zöpel 2009).
Abb. 10 Bleibt bestehen: UNESCO-Welterbe Zollverein, Entwurf Schupp und Martin Kremmer,
erbaut 1928–1932, Essen, © LVR-ZMB, Foto: Vera Schiemann
An den Konsequenzen des hier grundgelegten Konzeptes der „erhaltenden Stadterneuerung“ wird noch immer gearbeitet. Der Rheinische Verein wird, so wieder Zöpel, die Industriekultur (auch im Saarland), verstärkt begleiten und fördern. Geht es doch nicht nur um Architekturen, sondern auch um „öffentliche Rückgewinnung von Kulturlandschaft“. Her18 Im dort zitierten § 2 heißt es zum öffentlichen Interesse am Erhalt fraglicher „Sachen, Mehrheiten von Sachen und Teile von Sachen“: „Ein öffentliches Interesse besteht, wenn die Sachen bedeutend für die Geschichte des Menschen, für Städte und Siedlungen oder für die Entwicklung der Arbeits- und Produktionsverhältnisse sind und für die Erhaltung und Nutzung künstlerisch, wissenschaftliche, volkskundliche oder städtebauliche Gründe vorliegen.“
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ausragendes Beispiel: „Die Revitalisierung der zur offenen Kloake verkommenen Emscher ist das größte Infrastrukturprojekt Europas“ (Zöpel 2019, S. 15, 17). Am stärksten sichtbar all dies wieder im Ruhrgebiet, bislang: demnächst wohl auch in den riesigen Braunkohlerevieren des Ostens wie des Westens. Perspektivisch geht es Zöpel auch um eine internationale Aufgabenstellung, die entsprechende Projekte in Polen und Frankreich ins Auge fasst. Dabei gilt es weiter, Widerstände zu überwinden, auch hier eine eigene „Dialektik von Utopie und Enttäuschung“ (Hölscher 2020) zu gegenwärtigen. Man spricht von einem Generationenprojekt, soll „Urbanes Grün“ Städte zum Atmen bringen, Hüttenwerke in Oasen verwandelt (Metropole Ruhr 2019, S. 5) oder Bochum das neue München werden (Kessler 2016; Zöpel 2016). Im Siedlungswesen, in der Urbanistik hat in der Tat die Gartenstadtidee der Vorbauhauszeit Konjunktur und folgt den gleichen Gründen wie vor 120 Jahren: starker Zuzug in die Städte, fehlender Wohnraum und explodierende Kosten (Müller 2016). Ein mit dem Bauhaus über das Bauhaus hinausweisendes Verständnis von ‚Gestaltung‘ gehört in diese grenz- und fachüberschreitenden Gedankenkreise von engagierter Industriekultur im Sinne von „Umbaukultur“ (Nagel 2020) oder „Transformation“. Darin enthalten ist ein Umbau- und Weiterbaugedanke, der sich dann aber nicht nur auf denkmalgeschützte Alltagsarchitektur bezieht. Was das Ruhrgebiet betrifft: Wenn mit grünen Technologien viele alte Stahlwerke und Hochofenanlagen ihre Produktionsmethoden umstellen (müssen), werden monumentale Hallenbauten frei. Werden dann Stahlfabriken zu Großgärtnereien und Gemüsefeldern? Werden Sheddächer zu Sonnenfallen oder Solarsegelträger? Steigt man, wie schon dazumal in Engelskirchen, den Fabriken zwecks Wohnraumbeschaffung aufs Dach (Niendorf 2019)? Welche Materialien kommen zum Zuge? Das Bauhaus suchte schon in Dessau die Zukunft nicht allein in Stahl und Glas, sondern experimentierte auch mit Flexibilität und dem CO2-speichernden Holz (Wald 2019). Wenn das Bauhaus sich im Vorkurs mit den Strukturen und Eigenschaften der Stoffe und Materialien, die zur Anwendung kommen sollten, auseinandersetzte, darf man diesen auch als möglichen Anhaltspunkt für heute geforderte ‚Lesbarkeit‘ der eingesetzten Stoffe nehmen. Dafür steht das ‚Transformationsdesigns‘, dem es dabei nicht mehr vorrangig um die Gestaltung von Produkten, Häusern und Städten, sondern um die grundlegend politische Frage nach einer nachhaltigen Wirtschafts- und Lebensweise geht, um Gestaltung als Rahmensetzung für soziale Prozesse. So treten im Rahmen der „Heuristik einer reduktiven, zukunftsfähigen Moderne“ (Sommer & Welzer 2017, S. 18; zu frühen Ansätzen eines „Social Design“: Breuer & Eisele 2018, S. 183ff.) und den Möglichkeiten des „Re-Use“ und des „Up-Cycling“ auch Fragen zu den verwendeten Baumaterialien sowie ihren ästhetisch-ökologischen Eigenschaften in den Vordergrund. Es wird gar Rückbau und Nichtbau erwogen, ein Gestalten durch Weglassen, ein Nichtgestalten gar. Hier lassen sich Überholungen wie Anschlüsse finden in Bezug auf Konzepte des Bauhauses, etwa auf das statusanzeigende Ornament zu verzichten, des Funktionalismus als Reduktion alles Überflüssigen, bis hin zur Maxime eines Mies van der Rohe: „Less is more.“ Wie aber lassen sich die erforderlichen Informationsträger und Wissensfelder der geistes-, natur- und ingenieurwissenschaftlichen Expertisen für eine solche Befähigung 695
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zur Gestaltung im Sinne einer umnutzenden, gar einer „reduktiven Moderne“ (Sommer & Welzer, S. 136 verbinden? Und zwar gemeinsam und im Gemeinsinn? Bietet der neue, dem Geist innovativer Rationalisierung folgende Megatrend der Digitaltechnologien entsprechende Perspektiven? Gerade im Kontext der Gefahren einer rabiat durchgreifenden Digitalisierung wird gegenwärtig nach dem öffentlichen Raum gefragt, nach Orten, an denen solche Themen die Runde machen und ausgehandelt werden könnten (Deutscher Museumsbund 2018). Für all dies, sicher auch für eine entsprechend weitere Novellierung der Bau- und Denkmalschutz-Gesetzgebung, „brauchen wir einen Bewusstseinswandel“ in der Gesellschaft (Sobek 2020, S. 19). An dieser Stelle komme ich auf Bildungsarbeit im Allgemeinen und auf die Industriemuseen im Besonderen zu sprechen, eben auf die ‚erbauliche‘ Seite von Industriekultur. Auch sie ist gerade dabei, das Verhältnis des angestammt Analogen zum innovativ Digitalen auszuloten. Dabei hilft noch einmal eine Rückschau.
3.2
Industriekultur „alten“ und „neuen“ Typs
Was wir unter dem Terminus „Industriekultur“ heute verstehen und praktizieren, ist hierzulande seit Mitte der 1970er-Jahre, wenn nicht früher, maßgeblich von Seiten der Industriefotografie der Düsseldorfer Becherschule, der Denkmalpflege in NRW und der neuen Museumsideen der Landschaftsverbände initiiert und allmählich popularisiert worden. Es mag wie das Bauhaus auch die Industriekultur nur im Plural geben: Doch mit den Gründungen der westfälischen und rheinischen Industriemuseen erlebte sie spätestens in den 1980er- und 1990er-Jahren und in gewissermaßen impliziter Parallele zur Entwicklung der IBA Emscher Park eine beachtliche und viel beachtete Pionierphase. Auch dies ein Politikum: „Mehr Demokratie wagen“ (Willy Brandt in der Rede vor dem Deutschen Bundestag am 28. Oktober 1969, zitiert nach Rauch 2010) und „Kultur für alle“ (Hilmar Hoffmann, 1979, zitiert nach Reichwein 2018) waren die republikanischen Schlüsselworte dieser progressiv verstandenen, kulturpolitischen Mission. Kann man davon noch heute ohne Weiteres sprechen? Man kann m. E. eher Anzeichen eines Trends zur ‚Versäulung‘ beobachten. Die nämlich macht Industriekultur zu einem insgesamt nicht gerade auffallenden Sonderfall innerhalb eines beträchtlich gewachsenen Kulturbetriebs. Auch wenn unter diesen Sonderfall mit Vorliebe beeindruckende Industriebauten und Fabrikensembles sowie deren Kulissenwirkung für eine Zeitphase subsumiert werden, die bestenfalls bis zum 2. Weltkrieg reicht. Wenn die Verbindung von Architektur-, Technik- und Sozialgeschichte für Industriemuseen programmatischer Trumpf war, dann wird dieser heute gern nur den „alten“ Industrien zugerechnet, den „Industriemuseen ‚alten Typs‘“, die noch froh sein können, wenn sie mit lärmenden Transmissionsriemen ausreichend Nostalgie verbreiteten (Wirtz 2002). Das 2010 gegründete Ruhr-Museum möchte wohl zur „Aufbruchstimmung“ auf Zollverein beitragen, aber dabei eben „nicht als klassisches Industriemuseum“ wahrgenommen werden (Ruhr Museum 2019). Leicht werden Folklore und sentimentale Heimatsehnsüchte, die, wohlgemerkt, nicht stets sentimental sein müssten und auch nicht immer sind, bedient
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(Laurin 2019). In diesem Verständnis wird „Industriekultur“, schauen wir nur nach New York, als kulturelles Kapital global verbaut: zur Aurasteigerung mit Inszenierungen „düsterer intellektueller Verruchtheit“ für Investoren in Hochpreissegmenten städtebaustrategisch eingesetzt (Pines 2019), also bloß markentauglich, wie schon am Bauhaus kritisiert. Einen Ausweg sehen manche darin, Industriemuseen vorrangig als Häuser einer breiter aufgestellten Technikgeschichte zu verstehen, um sie derart von anderen Spezialmuseen abzuheben. Man will so selbst Spezialität und solcherart ‚alleinstellungsmerkmalig‘ bleiben. Diese Art der Versäulung durch spartenmuseologische Profilschärfung könnte man freilich auch als ‚Verrat‘ an der eigenen Geschichte deuten. Galten doch die denkmalpflegerisch betreuten Industriemuseen deshalb dazumal als aufregendes Pionierland, weil deren Gründung als Häuser neuen Typs explizit in Frontstellung zu den ‚elitären‘ Häusern der ‚Hohen Kunst‘ wie zur ingenieurmäßigen Technikgeschichte geschah, wie etwa – berechtigt oder auch nicht – dem Deutschen Museum zugeschrieben wurde. Man wollte sich von den dort zelebrierten ‚Meisterwerken der Technik‘ distanzieren wie ohnehin von den vornehmlich höhere Bildungsschichten ansprechenden Kunstmuseen. Auch wenn von den Prunkstücken dieser sich jene durch eine Art ‚werkmeisterlicher‘ Anverwandlung wohl schon wieder zu emanzipieren trachteten. Dieser doppelten Frontstellung der dazumal neuen Museen ging jedenfalls nicht der Impetus voraus, nur ein anderes, vielleicht aktuelleres, weil strukturwandelbedingtes und -informiertes Fachmuseum zu legitimieren, sondern es stand der Anspruch im Raum, endlich fachübergreifende Ganzheitlichkeit und demokratische Zugänglichkeit in Thema und Ansprache in Kombination zu verfolgen. Als vermutete Gräben überwindende ‚Brückentechnologie‘ wurde die dazumal boomende Sozialgeschichte ins Feld geführt und gewissermaßen anwendungsscharf adoptiert (Biermann 1984, S. 43).19 Vielleicht war es auch hilfreich, dass für die damalige Rekrutierung von geeignetem Personal zwecks Erfüllung des sicherlich hehren Anspruchs noch nicht in ausreichendem Maße Studiengänge zur Verfügung standen, die sich auf Technikgeschichte spezialisiert hatten. So fand die Gründergeneration der ersten Industriemuseen – nicht ganz freiwillig, aber entdeckungsfreundlich – leichter und selbstverständlicher zu interdisziplinär gemischten und transdisziplinär operierenden Teams, Arbeitszusammenhängen und Projekten. So sahen sich Vertreter*innen der Volkskunde, Kunst-, Architektur-, Literatur-, Kultur- und Sozialgeschichte, der Historischen Geografie, Archäologie und Pädagogik, von den Vollhistoriker*innen ganz zu schweigen, unter den vielen Dächern der Industriemuseen versammelt. Es ist nicht bloß romantische Verklärung oder ideologisch gefärbte Melancholie zu resümieren: In gewisser Weise herrschte die noch unbefangene Aufbruchsstimmung und zum Teil auch anfangs gänzlich unbeobachtete Freude am Experimentieren, wie wir es dem alten Bauhaus zuschreiben, denn man dachte die Museumswelt neu, um die (erbauliche) Industriekultur zu erfinden, zu beleben und weiterzuentwickeln.
19 Nicht kleinzureden sind die pionierhaften Aktivitäten dazu im Historischen Zentrum Wuppertal und im Ruhrlandmuseum Essen, woraus das Essener Ruhr Museum entstand. 697
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3.3
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New Deal Industriekultur
Weil es noch immer möglich und nötig ist, beherzt Pionieraufgaben zu übernehmen, könnte eine neue Agenda der Industriemuseen einer ambitionierten Industriekultur insgesamt auf die Sprünge helfen: konsequent, radikal im Geiste des Bauhauses zum „Treiber“ werden, auch die „Kultur des wissenden Ignorierens“ zu überwinden und, sei’s drum, pathetisch werden: neue Fragen an Gerechtigkeit und Freiheit zu stellen (Ulrich 2019a). Wie soll das geschehen? Wenn wichtige Fragen sich dadurch auszeichnen, dass es keine sicheren Antworten gibt, so seien im gegebenen Rahmen wenigstens ein paar skizzenhafte Hinweise gegeben. Wie, wo und warum auch immer eine große industriekulturelle Ambition zum Zuge gekommen ist und dann doch wieder abgebremst wurde: Es böten sich längst erneut Anlässe und Perspektiven, Industriekultur wieder als einen umfassenden Begriff für die kulturellen Leistungen und Äußerungen des anhaltenden Industriezeitalters insgesamt und zur reflektierenden Vermittlung desselben zu verwenden. Natürlich nicht, um „das weit verbreitete Bedürfnis nach Überschaubarkeit und Gewissheit“, so der Bundespräsident (Steinmeier 2020), tatsächlich befriedigen zu können, aber als kompetente Suchbewegung in Richtung kollektiver Lösungen. Neue Industriekultur wäre Einsatz für ein gegenströmiges Zusammenführen: In einer in Spezialistentum und Ego-(oder auch Ethno-)Optimierung aufgelösten „Gesellschaft der Singularitäten“ bietet Industriekultur eine Querschnittsplattform mit fachübergreifend historischem Hintergrund20 zur Erkundung möglicher (oder auch wieder zu entdeckender) Gesamtinteressen, für die zur Daueraufgabe gewordene „Arbeit an der Universalität“ (Reckwitz 2017, S. 441; Wolff 2019). Insofern stünde hierbei auch der aufflammende Heimatdiskurs weniger unter dem Motto „Sehnsucht“ als vielmehr „Solidarität“ (Assmann 2019, S. 1) bzw. „Weltbewusstsein“ (Christina Felber, zit. nach Sommer & Welzer 2017, S. 191). In diesem Sinne wäre erst Industriekultur recht eigentlich bildend, verstünde man Bildung als „Relativierung unserer Vorlieben und unserer Selbstgenügsamkeit“ (Ross 2020). Weitergedachte Industriekultur widerspräche der Etikettierung von Kultur in den Kategorien von „low“ und „high“. Sie verlangte schon von Beginn an besondere Mühen in der Kommunikation, der Veranschaulichung, der Erklärung und Erläuterung. Mögen dem auch die alltagstauglichen Umgebungen der komplexen „Tatorte“ (Christiansen 1989) sowie der vor allem durch die Landschaftsverbände und deren Netzwerke operabel gehaltene dezentrale Aufbau der Museen in allen Landesteilen entgegenkommen. Insbesondere zur Kunst bestehen schon seit Längerem keine Berührungsängste, keine Konfrontationsattitüden mehr.21 Dazu besteht auch kein Grund mehr. Es ist die jetzt vielfach ramponierte Kunst, ihre in die Schlagzeilen geratenen Distinktions- und Distributionssysteme, die offenbar nach 20 Programmatisch in diesem Sinn ist auch die Konzeption des Ruhr Museums von 2005, als „Crossover-Projekt“ die klassische Trennung in Sparten wie Natur, Kultur und Geschichte in einem „neuartigen ‚hybriden‘ Museumstyp“ aufzuheben (Aufbaustab 2005, S. 8: Borgelt & Jost 2009, S. 32). 21 Die als hochkulturell bis exzellent taxierten Künste nehmen längst Teil am Kosmos von Industriekultur, wie u. a. Ausstellungen der Völklinger Hütte im Saarland belegen (Urban Art 2019).
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neuen Orten und Bühnen sucht, nach einem „New Deal“ (Timm 2019) bezogen auf Ziele, Institutionen und Publikum, jenseits des White Cube oder der klassischen Konzerthalle – und sie werden womöglich in den Arenen und Arealen der Alltags- und Industriekultur fündig (Heidenreich & Resch 2019; Rauterberg 2015, S. 8, 18, 34; Grefe et al. 2020). Es war schließlich auch die ästhetische Wertschätzung für die Jugendstil-Maschinenhalle Bruno Möhrings von Zeche Zollern in Dortmund, die der Industriedenkmalpflege durch Unterschutzstellung 1969 einen ersten Anschub gab. Jetzt diskutiert man Modelle von Readymades, Land-Art, Fluxus und Minimalismus, um Strategien für zukunftsweisende Nutzungsinnovationen zu reflektieren. Eine „positive Zukunfts-Gestaltungs-Lust“ sollte Kunst und Kultur jedenfalls nicht mehr gegeneinander ausspielen (Blumenreich 2019, S. 18). Denn Neue Industriekultur more futurico müsste es vor allem darum gehen, nicht nur im Modus des vergangenen und gegenwärtigen Geworden-Seins zu fragen, warum es so weit und bis hierhergekommen ist, sondern in den Modus des Werdens zu wechseln, um zu diskutieren, wohin es gehen könnte, sollte, müsste.22 Sie dürfte sich nicht dem „Zynismus“ derer ergeben, die sich ihn leisten können, weil sie „nicht ihre Zukunft zu verlieren haben, sondern allenfalls ihre Privilegien“ (Heinisch 2020). Transformierte Industriekultur, alles andere als ein „accord sans ambition“ (Taillac 2019) und dem Konzept nach auch nicht allein in der Pacht von Industriemuseen,23 würde zum „Bauhaus der Imagination“ (Paul Virillio, zit. nach Blumenreich 2019, S. 19) und deshalb zur Brücke in die Praxis für demokratische Beteiligungsprozesse zwecks nachhaltiger Gestaltung von Lebensräumen. Hier wäre auch – bei allem Weltbewusstsein – die kommunale Ebene direkt anzusprechen, ginge es um konkrete Projekte der Stadtteilentwicklung und Regionalplanung (Borries 2019). All dies zielt auf eine progressive „Entmusealisierung“ von Industriekultur im Kontext neuer Relevanzen. Eine neue Charta Industriekultur mit neuem Werkzeugkasten folgte in derart modernisierter ‚Erbaulichkeit‘ der Agenda 2030 des Deutschen Kulturats: „Kulturelle Bildung ist ein Schlüssel zur Demokratie“ (Ziel Nr. 4; Deutscher Kulturrat 2019, S. 30).24 Es wäre zudem ein Beitrag zum aktuellen Diskurs über die infrage stehende Rolle des altehrwürdigen Museums, über die soeben weltweit gestritten wird: Museen sind nicht bloß Aufbewahrungsorte ausgesucht schöner oder außer Funktion geratener Gegenstände, die für den Augenschein der Öffentlichkeit gefällig hergerichtet werden. Sie sind „demokratisierende, inklusive und 22 Albrecht verbindet diese Perspektivierung mit der Entwicklung von „moderner Technikgeschichte“, „Industriearchäologie“ und „Industriekultur“ (2014, S. 33, 45). Müssen wir einen neuen Namen finden, wenn mit ‚Industriekultur‘ immer nur Altes und Vergangenes verbunden wird und nicht der Aufbruch an Orten wie Dortmund und Bochum? Das erwägt Heike Döll-König, Geschäftsführerin von Tourismus NRW (Metropole Ruhr 2020, S. 5). 23 Wie z. B. die Ausstellung des Museums Folkwang in Essen: Der montierte Mensch, 08. November 2019–15. März 2020. 24 Daraus sei weiter zitiert: „Kunst und Kultur sind prädestiniert für diese Veränderungsprozesse, auch hier geht es darum, Neues zu wagen, Grenzen zu überschreiten und das Unbekannte zu erkunden. Kunst und Kultur verkörpern eine Haltung und liefern den Raum, in dem Bilder und Symbole der Nachhaltigkeit entstehen können. Sie fördern die Fähigkeit zum Perspektivwechsel und zur Empathie.“ 699
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polyphone Räume für kritischen Dialog über die Vergangenheit und die Zukünfte“, so eine im internationalen Museumsrat (ICOM) nun diskutierte Formulierung, die als Ziel angibt, „zur Menschenwürde und sozialen Gerechtigkeit und zum Wohl des Planeten beizutragen“ (zit. nach Bahners 2020, S. 9). Industriekultur bediente dann nicht nur „Kundschaft“, weil sie weniger auf Konsumwünsche, auch nicht auf nur passive „Partizipation“ abzielte, sondern auf den Dialog mit einer engagierten Bürgerschaft (Volkwin 2020, S. 84). Um dem zu genügen, ließe sich eine ‚entsäulte‘ Industriekultur nicht nur als Kulisse für Spektakelveranstaltungen aufbrauchen, nicht als Programmmarginalie für Wirtschaftsförderung verharmlosen oder für lokale bzw. regionalistische Identitätsstiftungen nostalgisch unterfordern. Industriekultur kann mehr, ohne Tourismus zu negieren (zum erfolgreichen Tourismus um und mit „Industriekultur“: Metropole Ruhr 2020; Kotowski 2020), Heimatgefühle zu verletzen oder Spezialkompetenzen innerhalb des weiten Gegenstandsfeldes abzubügeln. Anders als in der realen Bauhaustradition und -rezeption sollte es um die Vermeidung von Distinktion gehen, nicht um ‚Industriekulturindustrie‘, wenn dabei die Beschwörung von historischen Solidaritäten eher neoliberale Deregulierungen befördern und die innovativ-kreative Industrienaturlandschaft nicht für alle da ist (Eiringhaus & Kellershohn 2018).25 Neue Industriekultur verfolgt eine andere Agenda, wird womöglich unbequem, nach innen wie nach außen – kann auch scheitern. Auf die entscheidende Glaubwürdigkeit und Vorbildfunktion nicht zuletzt in Sachen Infrastruktur, Liegenschaften, Gebäudemanagement, Apparaturen und (analogen wie digitalen) Techniken (Stichworte: Energiepass, Up-Cyling, Cradle to Cradle) kann hier nur hingewiesen werden. Unweigerlich spielen auch die Rahmenanforderungen einer New Work in die neue Agenda hinein. Steuerungsmethoden und ein ‚kollektives Arbeiten über Bereichsgrenzen hinaus‘ schafften die notwenigen Freiräume, um den beschriebenen Anforderungen seitens der Mitarbeitenden wie auch ihnen gegenüber gerecht zu werden. Es käme zu einem kreativen, weniger von Hierarchien, gleichwohl Verantwortlichkeiten geprägten Miteinander zwecks Freisetzung von verborgenen Potenzialen, die Kultur einer selbstkritischen, also nicht nur ökonomistisch aufgefassten „Intrapreneurship“ zum Zuge (zur Nutzung und Implementierung von Methoden aus der Intrapreneurschip- und Innovationsforschung: Vorwort bei Niemann & Knapp 2019). Für den allfälligen Systemwandel, es wird auch von „Pfadwechsel“ bzw. „Transformation“ gesprochen,26 wäre Industriekultur aber eine nicht furchtbar einsame Avantgarde. Bibliotheken (Knoche 2018), Theaterwelt und Veranstaltungsmanagement machen nämlich mit Best Practices vor, wie man eine konsequent nachhaltige, eine auf Resilienz abonnierte Kultur vertreten und ins Gespräch bringen kann (Neugart 2019; Grundl 2019; Serota 2019). Es könnten, auch im institutionellen Crossover, in neuen Allianzen und ganz im Sinne der Dritten Aufklärung, Ankerpunkte für experimentelle Heterotopien – das Bauhaus 25 Heinrich Theodor Grütter, der Direktor des Ruhr Museum, bestreitet diese Entwicklung in Bezug auf seine Museumsangebote vehement. 26 Dramatisch sagt es Thomas E. Schmidt: „Zur Klimapolitischen Erzählung gehört die sofortige Umkehr, der sichtbare, substanzielle, wo nicht revolutionäre Neubeginn“ (2019b).
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war eine – entstehen. Deren Vernetzung untereinander zu einem „Mosaik der Zukunft“ (Christian Felber, zit. nach Sommer & Welzer 2017, S. 191) hat womöglich das Zeug dazu, jenseits der großen, nicht selten katastrophalen Utopien, die Welt samt Wirtschaftsweise nicht nur neu zu denken oder neu zu sehen, sondern in „modularen Revolutionen“ im Sinne der Nachhaltigkeit schrittweise und in dynamischen Prozessen tatsächlich umzugestalten (zu „Heterotopie“ und „modularen Revolutionen“: Welzer 2019, S. 185ff.; zur Systemfrage: Ditfurth 2020; Gegenposition: Pennekamp 2020). Auch derart praktisch ist Industriekultur als Politikum zu verstehen.
Abb. 11 Im Konzert: 16 Standorte des Rheinischen und Westfälischen Industriemuseums, ©
LVR: Katrin Becker (Grafik), Seher Anilgan, Thomas Schleper
Die Kultur- und Bildungspolitik im Lande nimmt die Kompetenzen und Potenziale landesweiter Industriekultur (noch) nicht richtig in den Blick. Die beiden Landschaftsverbände, ermutigt durch die Zusammenarbeit im Projekt 100 Jahre Bauhaus im Westen, schicken 701
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sich an, nun wieder die Initiative zu ergreifen und eine neue Wertschätzung der industriekulturellen Potenziale an- und aufzuzeigen (Landschaftsverband Rheinland & WestfalenLippe 2020). Mit ihren 16 Standorten könnten sie auch die mittlerweile schwerindustrielle Schieflage von Industriekultur durch ihren Branchenreichtum relativieren (Albrecht 2014, S. 43f.). Dies dürfte allerdings nicht in Blitzlichtgewittern spektakulärer Aufmerksamkeitserregungen verpuffen. Schon der erforderlichen Synergieeffekte und Spielräume wegen führt zudem nichts an einer synergetischen Gesamtstrategie der Industriekultur aller beteiligter Player vorbei, in und für NRW als dem Industrie(kultur)land in der Republik, das im August 2021 seinen 75. Geburtstag feiert.
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Schlussbetrachtung
Industriekultur fragt nach den religiösen Wurzeln von Arbeitsfleiß und Disziplinierung wie nach den Auswüchsen des Konsumismus in den Wohlstandsgesellschaften und deren auch externalisierte Folgen (Lessenich 2018), nach den neu herausgeforderten und akut (wieder) im Umbruch befindlichen Unternehmenskulturen inklusive. Sie sieht die Welt in der Epoche des Anthropozäns, in der die Trennung von Natur- und Kulturzuständen schwerlich möglich ist, recht hegelianisch als Menschen formendes, veränderbares Menschenwerk (Butler 2020). Sie versteht sich als eine Antwort auf die gewaltigen Herausforderungen, einen notwendigen Neubeginn zu befördern. Methodisch bietet sie alle Voraussetzungen dafür: gräbt industriearchäologisch tief, recherchiert kulturlandschaftlich weit und spekuliert sozialphilosophisch hoch. Sie integriert Denkmalpflege und Städtebau und nimmt die Zuweisung größerer Verantwortlichkeit von Kunst und Kultur für eine zivile Moderne mit gewachsenem Selbstbewusstsein wahr und an. Doch Industriekultur ist sich auch ihrer Grenzen bewusst. Der mit dem Bauhaus und in seiner Konsequenz geweitete Gestaltungsbegriff, der nicht auf Kunststile, auch nicht nur auf Produkte und Prozesse, sondern grundsätzlicher auf Lebensstile abzielt, muss, schon eingedenk historischer Erfahrung von Emanzipationsbewegungen, mit politischen Auseinandersetzungen rechnen. Die avisierte Transformation wird allein mit besten Einsichten, feurigsten Appellen oder auch avanciertester Didaktik nicht zu vollziehen sein. Alle ambitionierte Bildungsarbeit, will sie doch als Impulsgeber oder Katalysator wirken, verkümmert in arbeitsteiliger Funktionalisierung zum nur kompensatorischen Reflexionsformat, wenn Kritik an zukunftsgefährdenden Wirtschaftsformen und Sozialstrukturen samt errungener Machtpositionen, gesicherter Privilegien und beliebter Komfortzonen letztlich ohne Folgen bleibt (Sommer & Welzer 2017, S. 209ff.). Die nicht als Gegenwartsverlängerung fehlgedeutete Zukunft ist ein anstrengendes Eroberungsprojekt des „NeuAnfangen-Könnens“ (Schaper Rinkel 2019), das der Courage bedarf, der „Tapferkeit“, auch des „Mut[es], Angst zu haben“, (Pelluchon 2019, S. 17, S. 53 f.). Als am 10. Januar 2020 auf dem Zechengelände Zollverein auf 10 Jahre Kulturhauptstadt mdem Motto Wandel durch Kultur – Kultur durch Wandel zurückgeblickt wurde,
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stand nicht mehr das „Zauberwort Kreativwirtschaft“ im Fokus, sondern der Klimawandel (Schürmann 2020). Es war der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler, der in der Wende zu einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft „ein neues Verständnis von Wohlstand“ forderte und einen „Abschied […] von liebgewonnenen Konsumgewohnheiten“. Er fügte mit Blick auf die „Große Transformation“ hinzu: „Aber ich sehe darin auch eine Chance, neu zu entdecken, was in unserem Lebewirklich Sinn und Glück stiftet“ (dpa-infocom GmbH 2020). Sofern auch in radikal säkularisierten Zeiten das anthropologisch verankerte Bedürfnis nach Transzendenz, sagen wir schlichter: nach Augen öffnenden, Kollektive bildenden und bindenden Erzählungen, noch in der industriellen Spätmoderne wirksam bleibt (Schleper 2010; zum Selbstwiderspruch der postmodernen Ablehnung großer Erzählungen: Kaube 2020), gibt es dafür eine kaum überbietbare Sinnperspektive: das Narrativ der Parteilichkeit für das sich seit Jahrzehnten vollziehende Drama des Planeten, eines Beitrags zum noch Möglichen für die kosmische Heimat, vielleicht bereits Unwahrscheinlichen, aber hoffentlich doch Notwendenden (Franzen 2020, S. 41ff.; Gegenrede: Heinisch 2020; Wallace-Wells 2019; Ulrich 2019b). Es wäre zugleich eine „Parteilichkeit für die Wirklichkeit“ (Ulrich 2020; Volkmann 2020): Warum also nicht versuchen, das Erbe des alten Bauhauses in Suchbewegungen einer Neuen Industriekultur aufzunehmen und fortzuentwickeln? Sein Enthusiasmus für das Neue, sein Spirit lehrt Geistesgegenwärtigkeit für den rechten Zeitpunkt und Begeisterung zwecks Überführung von Einsicht und Rhetorik in den kategorischen Imperativ gemeinsamen Handelns. Und gern möchte man dabei auch Christoph Zöpel, seine politische Erfahrung sowie fachliche Breite mit Rat und Tat an der Seite wissen.
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Teil 7 Christoph Zöpel
Wegweisende Entscheidungen Norbert Walter-Borjans
Der Name Christoph Zöpel ist für mich untrennbar mit zwei wegweisenden Entscheidungen verbunden, die für industriell geprägte Stadtlandschaften Mitte der 1980er-Jahre geradezu revolutionär waren: massive Investitionen in den öffentlichen Personennahverkehr und die Erhaltung der Industriekultur oder, besser, die Anerkennung alter Industrieanlagen als Kultur. In einer Zeit, als die Philosophie von der „freien Fahrt für freie Bürger“ in zunehmenden Staus, verpesteter Luft und zerschnittenen Siedlungsräumen zur Farce geraten war, lag der konsequente Ausbau von Bus- und Bahnverbindungen zwar nah, aber er hatte immer noch etwas an sich, das uns Deutschen unser liebstes Kind vergällen wollte: das Auto. Für mich als Aktivist in Sachen ökologischer Verkehrspolitik und später dann im Jahr 1986 Mitbegründer des umweltorientierten Verkehrsclubs Deutschland (VCD) war ein Politiker, der unverdrossen für eine Wende in der „autogerechten“ Verkehrspolitik eintrat, ein absoluter Hoffnungsträger. Christoph Zöpel hat die Hoffnungen nicht enttäuscht. Mit seiner Förderung der Industriekultur verhielt es sich nicht anders. Der Zeitgeist drängte nach einer Erneuerung durch Ausradieren von Spuren. Stillgelegte Zechengebäude, Hochöfen und Gasometer galten als Zeichen des Niedergangs. Dass sie das hier und da durchaus narbige, aber auch unverkennbare Gesicht von Regionen ausmachten, sahen nur wenige. Die meisten wollten „Modernes“ – um den Preis der Aufgabe jedweden Wiedererkennungswertes. Erhalten, Erneuern und Umsteuern zugleich, nämlich „erhaltende Stadterneuerung“, mit diesem scheinbaren Widerspruch war ich also vielfach konfrontiert, als ich von der Industrie kommend über die Tätigkeit eines wissenschaftlichen Assistenten am Institut für Verkehrswissenschaft an der Uni Köln 1984 in die Staatskanzlei NordrheinWestfalens wechselte, die damals für das Landesentwicklungsprogramm und den Landesentwicklungsbericht zuständig war. So ergaben sich erste Berührungspunkte zunächst mit dem Ministerium für Landes- und Stadtentwicklung und nach der Landtagswahl 1985 mit dem Ministerium für Stadtentwicklung, Wohnen und Verkehr. Aus diesen ressortbezogenen Kontakten erwuchs im Laufe der Zeit auch eine persönliche Beziehung zum zuständigen Minister Christoph Zöpel. Eine Verbundenheit, für die ich bis heute dankbar bin. Dankbar, weil der intellektuelle Austausch, oft auch die sachliche, ja auch provokative Auseinandersetzung in den über 30 Jahren, die wir uns auf der beruflichen Ebene, in der
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_47
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politischen Zusammenarbeit innerhalb der SPD und im persönlichen Gespräch begegnet sind, immer wieder zu neuen Einsichten und Erkenntnisse Anstoß gab. Christoph Zöpel ein – wie er sich selbst einmal charakterisierte – „leidenschaftlicher Intellektueller, der in die Politik geraten ist“, war als Minister schon deshalb eine Ausnahmeerscheinung, weil er 1978 mit 34 Jahren unter Ministerpräsident Heinz Kühn als Minister für Bundesangelegenheiten das weitaus jüngste Kabinettmitglied war und es bis 1990 unter Johannes Rau auch blieb. Acht Lebensjahre jünger als Christoph erschlossen sich mir einige frühere Stationen seines politischen Wirkens erst nach und nach – aus direkten Begegnungen und aus Erzählungen eines seiner langjährigen Wegbegleiters in den Achtundsechzigern, der später ebenso lange Jahre mein Chef und Vorgänger als Regierungssprecher Johannes Raus war: Wolfgang Lieb. So erfuhr ich, dass Christoph Zöpel aus der Studentenbewegung kommend, in West-Berlin politisiert, unmittelbar nach seinem Abschluss als Diplomökonom an der Ruhr-Universität seinen persönlichen „Marsch durch die Institutionen“ angetreten hatte. Von 1965 bis 1967 war er Bundesvorsitzender des Sozialdemokratischen Hochschulbundes (SHB), danach – während seiner Promotionszeit – ab 1969 Stadtverordneter seiner neuen Heimatstadt Bochum, ab 1972 18 Jahre lang Mitglied des Landtags von Nordrhein-Westfalen und von 1978 bis 1990 Landesminister, danach 15 Jahre Mitglied des Deutschen Bundestags, von 1999 bis 2002 Staatsminister im Auswärtigen Amt. Auch in führenden Ämtern unserer Partei und in unzähligen Mitgliedschaften in nationalen und internationalen Organisationen bis hin zum Exekutivkomitee der Sozialistischen Internationalen hat er seine Spuren hinterlassen. Christoph Zöpel kam von der Wissenschaft und er hat als Politiker bei allem Pragmatismus immer auch eine wissenschaftliche Neugierde behalten und mit Daten und Fakten gegen gängige Vorurteile angekämpft. Gar nicht nach der Art eines eher nach Kompromissen suchenden Politikers hat er oft die Konfrontation in der Sache gesucht. Gegen die nach dem Krieg üblich gewordene Kahlschlagsanierungen in den Städten und den rücksichtslosen Flächenverbrauch setzte er eine behutsame, intelligente und „erhaltende Stadterneuerungspolitik“ durch. Gegen den massiven Widerstand von Bauwirtschaft und Wohnungsbaugesellschaften kämpfte er für ein städtebauliches Denken vom Bestand her, für den Erhalt historischer Stadtkerne, für Denkmalförderung und Nachhaltigkeit. Sätze wie „Abbrechen können wir immer noch“, „lieber kleiner als zu groß“, „Grün in die Stadt“, „mehr Raum für Fußgänger“, „Spielraum für Kinder“, „eine Straße weniger kann mehr sein als eine Straße zu viel“ sind mir bis heute im Ohr. Angesichts solcher Leitgedanken war es geradezu widersinnig, dass Christoph Zöpel in seiner Amtszeit vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss für die Gigantomanie des nach seiner Auffassung unsinnigen, ja sogar technikgrößenwahnsinnigen Bau des Aachener Universitätsklinikums geradestehen musste. Wie ein Politiker, der gegen Hochbau und inhumane bauliche Verdichtung ankämpfte, paradoxerweise in eine Sündenbockrolle gedrängt werden kann, musste er erfahren, als ihm der Kauf von rund 40.000 Wohnungen durch die Landesentwicklungsgesellschaft (LEG) als angeblicher Beweis für sozialdemokratische Kumpanei mit dem in Konkurs gegangenen gewerkschaftseigenen Wohnungsunternehmen
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„Neue Heimat“ ausgelegt wurde. Heute weiß man, dass nicht der Kauf ein Sündenfall war, sondern die Privatisierung dieser Sozialwohnungen nach seiner Zeit als Landesminister. Seine städtebauliche Handschrift kann man in den historischen Stadtkernen vom linken Niederrhein bis hin ins Ostwestfälische bewundern. Historische Stadtkerne, das heißt für Christoph Zöpel nicht nostalgische Idylle oder gar abgestandener Kitsch, sondern zukunftsorientierte Verankerung in der Geschichte. Zu dieser Geschichte gehört für ihn das – wohlgemerkt nicht konservative, sondern demokratische – Preußentum mit seiner Disziplin, aber auch seiner durch die Stein-Hardenbergschen Reformen grundgelegten Selbstorganisation. Die Gründung eines Preußenmuseums in seiner – nach dem ehemals preußischen Gleiwitz und heute polnischen Gliwice – zweiten Heimatstadt Minden und ein Museum, das die preußische Vergangenheit in der Rheinprovinz im Bewusstsein halten sollte, trieb Christoph Zöpel aus geschichtspolitischer Überzeugung voran. Noch weiter, nämlich 400 Jahre zurück in die Geschichte, reicht das Weserrenaissance-Museum im Schloss Brake, das gleichfalls in der Amtszeit des Denkmalpflegers Zöpel entstand. Dass Denkmale auch mit der Moderne verbunden werden können, hat Zöpel am Ende seiner Amtszeit in Nordrhein-Westfalen mit dem Anstoß zur Stiftung Museum Schloss Moyland bewiesen, das später eine der umfänglichsten Sammlungen von Zeichnungen, Malereien und Objekte des niederrheinischen Avantgardisten Joseph Beuys beherbergen sollte. Willy Brandts Forderung aus dem Jahr 1961 nach einem „blauen Himmel über der Ruhr“ blieb für ihn keine Vision, sondern politischer Auftrag, den er mit geradezu preußischer Disziplin, langem Atem, ergebnisorientiert und effizient anging. Der Strukturwandel der „Agglomeration Ruhr“, wie er das „Ruhrgebiet“ bis heute nennt, hin zu einer „ruhrbanen Kulturlandschaft“ ist von ihm in einem Verständnis von Raumordnung als „Instrument der Gesellschaftsreform“ vorangetrieben worden. Mit der von Christoph Zöpel schon in den 80er-Jahren initiierten und später von Karl Ganser geleiteten Internationalen Bauausstellung Emscher Park (IBA) wurden industriekulturelle und landschaftliche Infrastrukturprojekte, bedeutende Orte der Naherholung und der Kultur geschaffen, so etwa die Jahrhunderthalle in Bochum, der Gasometer in Oberhausen oder der Landschaftspark Nord in Duisburg. Die IBA hat weit über das nördliche Revier hinaus internationale Anerkennung gefunden und war ein tragender Grundstein dafür, dass RUHR.2010 zur Kulturhauptstadt Europas wurde. Noch lange nach seinem Ausscheiden aus seinen Ministerämtern kämpft er nach wie vor mit Zahlen und Statistiken als ‚Zivilbürger‘ gegen den Kleinmut und gegen nostalgische Mythen einer Montanregion und für die „Weltstadt Ruhr“, die für ihn von Bonn bis Hamm reicht und die er allzu gern nur noch „Ruhr“ nennen möchte und er leidet daran, dass die „Agglomeration Ruhr“ mit ihren metropolitanen Funktionen, als eine der vielfältigsten und dichtesten Kultur- und Wissenschaftslandschaften ihre Chancen nicht ergreift oder aber, dass der „größten Stadt Deutschlands“ ihr Aufstieg vorenthalten wird. Als Regierungssprecher habe ich Christoph Zöpel einige Male im Kabinett erlebt, wie er mit intellektuell zugespitzten Positionen, kleines Karo verachtend, ungeduldig und leidenschaftlich für seine Stadtentwicklungs-, Wohnungsbau-, Verkehrs- oder Denkmalschutzpolitik gekämpft hat. Ministerpräsident Rau hatte es in seinen Kabinetten nicht immer leicht mit Zöpels Positionen, aber er wusste um die Wichtigkeit unterschiedlicher 715
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Meinungen gerade in einer Regierung mit absoluter Mehrheit. Ich kann mich jedoch selbst bei heftigsten verkehrspolitischen Angriffen nicht daran erinnern, dass Johannes Rau ihm nicht Rückendeckung geboten und ihn bei mancher Kritik nach innen nicht öffentlich verteidigt hätte. Je größer sein Abstand zur nordrhein-westfälischen Politik mit seinem Weggang nach Berlin wurde, desto mehr rühmte Christoph Zöpel die Regierungskunst und Johannes Raus „zivile Humanität“. Christoph Zöpels Zeit als Staatsminister im Auswärtigen Amt unter Außenminister Joschka Fischer bedeutete keine Abkehr von seinem Interesse an Siedlungsräumen samt ihren Herausforderungen und Perspektiven. Für ihn war das Lokale und Regionale immer gleichzeitig auch das Internationale, ja das Globale. Das hat er in seinem Opus magnum Politik mit 9 Milliarden Menschen in einer Weltgesellschaft dargelegt, wo er angesichts der Globalisierung und des Weltbevölkerungszuwachses nach einem notwendigen und möglichen Weg hin zu einem globalen Regieren suchte. Deshalb überrascht es nicht, dass er nach seiner Amtszeit mit 63 Jahren die Chance erhielt, wissenschaftliche Raumplanung und ihren internationalen Kontext zu bündeln. Er nahm eine Professur an der School of Architecture and Built Environment an der German Jordanian University (GJU) in Amman an. Das eröffnete ihm nach eigener Aussage eine nichteuropäische Sicht auf die Entwicklung der Welt und ihrer Städte. Zugleich spannt er den – gefühlt – noch viel größeren Bogen zwischen dem Rheinland und Westfalen. Er ist Vorsitzender des Rheinischen Vereins für Denkmalpflege und Landschaftsschutz und zugleich Honorarprofessor an der Fakultät für Raumplanung der Technischen Universität Dortmund. Mehr Beleg für seine integrative Kraft und für Zukunftsvision ist kaum vorstellbar. Christoph Zöpel ist eine große Persönlichkeit Nordrhein-Westfalens und weit darüber hinaus!
Der letzte Preuße Eine Annäherung an Christoph Zöpel Uwe Knüpfer
„Keine Atomraketen auf das Königsgruber Gelände!“
Wir spielten Straßentheater. In Röhlinghausen Pershing-Raketen einzupflanzen hatte zwar niemand ernsthaft vor, aber die Mächtigen in Stadt und Ruhrgebiet wollten das Areal der stillgelegten Zeche freihalten, für Großes. Für neue Industrien vielleicht, warum nicht für Raketen? Wir dagegen wollten, dass Röhlinghausen endlich einen Park bekäme, die Röhlinghauser Bürgerschaft Luft zum Atmen, der abgehängte Kiez eine Zukunft. Kompolaks Kommunaltheater, das war eine kleine Herner Truppe aus Jusos und Ergrünenden. Wir waren wie lästige Wespen, die einen Riesen umschwirrten. Wir fühlten uns im Recht – und ohnmächtig zugleich. Dann kam Christoph Zöpel. In der unglücklich verstrampelten Gemeindereform von 1975 hatten sich Herne und Wanne-Eickel zusammengetan, um der Eingemeindung nach Bochum zu entkommen. Der Ortsteil Röhlinghausen fand sich im südwestlichen Zipfel dieser ungeliebten Kunststadt wieder. Hundert Jahre lang war hier Steinkohle gefördert worden, bis 1961. Dann wurde die Zeche Königsgrube stillgelegt, und, dem Stil der Zeit entsprechend, bald gründlich vom Erdboden getilgt. „Platt gemacht“, wie man dazu sagte, nicht ohne brüchigen Stolz in der Stimme. Die Röhlinghauser waren nicht gefragt worden, natürlich nicht. Das wäre nicht üblich gewesen. Mehr als zehntausend Menschen lebten – und leben – hier. Anderswo gäbe das eine propere Kleinstadt ab. Nicht jedoch im Ruhrgebiet. Hier dachte man in Megatonnen und in Hunderttausenden. Die Strippen zogen die Erben der Schlotbarone, assistiert von willigen Politikern und Gewerkschaftern. Bergrecht brach alles. Das wusste hier jeder. Doch in den 70er-Jahren regte sich Widerstand, in vielen Winkeln des „Reviers“, zur großen Verwunderung und manchem Ärger der Mächtigen. Die Kinder vieler Kumpels besuchten inzwischen Unis, meist eine der neugegründeten in Bochum, Dortmund, Duisburg oder Essen, und lernten dort zu zweifeln und kritisch zu denken. Kritisches Denken vertrug sich noch nie mit Untertanentum. Ihr links genanntes, im Grunde radikaldemokratisches Denken ging, in Wanne-Eickel, Herne und vielerorts, eine eigenartige Verbindung mit subversiv-stillem lokalem Aufbegehren ein. Manch ein „freigesetzter“ Hauer wunderte sich zwar über die eigenartige Haarpracht und die Wortakrobatik der © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_48
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Jüngeren, fand aber auch, dass es sich nicht gehören sollte, Zechensiedlungen „plattzumachen“, jede Erinnerung an hundert Jahre Untertagemaloche zu tilgen und Ortsteile wie Röhlinghausen darüber abzuschreiben. Nicht lange vor unserem Theaterauftritt am Rande des Königsgruber Geländes – 1980 – hatte in Düsseldorf ein Minister das Ressort gewechselt – seit 1978 war er Minister für Bundesangelegenheiten gewesen. Christoph Zöpel hieß der junge Mann. Er hatte in Bochum (und in Berlin, auch gut) studiert, war gar promoviert, und nun, noch keine vierzig Jahre alt, zuständig für Landes- und Stadtentwicklung in Nordrhein-Westfalen. Wir schrieben ihn an, luden ihn ein. Er sagte prompt zu – und kam. Das allein war eine Sensation. Dass der Minister dann auch noch lobende, höchst akademisch ernsthaft klingende Worte fand für die Idee, das ehemalige Zechengelände zu einem Park umzugestalten und Röhlinghausen ernst zu nehmen, als einen Wohn- und Lebensraum in sich, ja, dass er darin ein Beispiel erkannte für genau das, worum es in der Landes- und Stadtentwicklung jetzt gehen müsse, das versetzte die Stadt- und Montanoberen in eine Art Schockstarre und verlieh dem Widerstand Stärke und Stolz. Zöpels Ministerium gab völlig neue, hierzulande bislang unerhörte Parolen aus. „Lieber kleiner als zu groß“ hieß es dort plötzlich. Small sei beautiful. Stadterneuerung wurde gefördert statt Abriss und Verfall. Ortskerne hieß es zu stärken, ihr Eigenleben zu stützen, statt alle Planung auf ein Zentrum, ein Oberzentrum gar auszurichten wie bislang. Der junge Minister ärgerte sich keineswegs über freche Ideen „vor Ort“, sondern nahm sie auf, lobte und befeuerte die Bereitschaft der Menschen, sich um ihre Nachbarschaften selbst zu kümmern. Das war, die Siedlungsgeschichte des Ruhrgebiets betreffend, nichts weniger als eine Revolution. Bürgerliche Emanzipation war angekommen im Revier. Als in den 1970er-Jahren einige Herner zaghaft Bedenken angemeldet hatten gegen den Abriss des letzten Fachwerkhauses in der Innenstadt – „Ömmes Knapp“ –, wischte der Oberbürgermeister, ein aufrechter Sozialdemokrat, alle Bedenken mit dem Hinweis vom Tisch: „Wir sind doch nicht in Heidelberg.“ Dank Christoph Zöpel bekam Denkmalschutz jetzt aber Bedeutung. Am Ende der vorgegangenen Legislaturperiode war das Denkmalschutzgesetz NRW beschlossen worden, Zöpel wandte es mit seinem Inkrafttreten am 1. Juni 1980 radikal an. Dank ihm schmückt sich heute auch manche Industriestadt mit den gepflegten baulichen Zeugnissen seiner vorindustriellen Geschichte, als wolle sie sagen: Doch, auch wir sind Heidelberg. Für Ömmes Knapp kam Zöpel zu spät. Doch in seiner Hand wurde das Denkmalschutzgesetz zu einem mächtigen Gestaltungsinstrument. Wohl manch ein Bau-, Beton- und PS-Baron an Rhein, Ruhr, Emscher und Lippe hoffte in den frühen 1980er-Jahren, der Düsseldorfer Spuk werde schnell vorübergehen. Schließlich regierte dort, höchst landesväterlich, Johannes Rau und wollte versöhnen, statt zu spalten. Rau dürfte so manchen „gutgemeinten“ Rat gehört haben, seinen radikalen Minister zurückzupfeifen. Er witzelte das auf die ihm eigene nonchalante Weise weg. Zwar durften seine Besucher schenkelklopfend kolportieren, der MP habe von Zöpels „Lustministerium“ gesprochen (für Landes und Stadtentwicklung), dessen Kompetenzen beschnitt er jedoch nicht. Im Gegenteil. Statt Zöpel zu bremsen, wertete Rau dessen Ressort 1985 auf: zum
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Ministerium für Landesentwicklung, Wohnen und Verkehr. Jetzt floss viel Geld. Wer Geld verteilen kann, hat Macht. Verkehrspolitik, das war bis dahin Straßen-, vor allem Autobahnbau gewesen. Zöpel setzte nun, statt auf immer schneller, weiter, größer, auf Entschleunigung. Im Sinne des Wortes. Statt freier Fahrt für Autos überall bremsten bald in Wohngebieten fiese flache Straßenhuckel eilige Pedalritter aus. Bumps sagt man im Englischen dazu. In NRW wurden die verkehrsausbremsenden Hindernisse von manchen „Zöpel“ getauft, gern auch verflucht. Tempo 30 in Städten? Ist der Minister verrückt? Wozu fährt meine Karre 180 Sachen und mehr? Christoph Zöpel sorgte für die Verabschiedung eines Wohnungsgesetzes und schuf damit die rechtliche Grundlage für die Sicherung kommunaler- und genossenschaftlicher Wohnungsbestände. Das Gesetz böte, würde es denn immer angewendet, noch heute die Handhabe, so manche neue Wohnungsnot mindestens zu lindern. In den 1980er-Jahren fanden die Herren der angeschlagenen Montanindustrie die riesigen Wohnungsbestände ihrer Unternehmen eher lästig und wollten sie verschleudern. Zöpel fing Zehntausende ehemaliger Werkswohnungen in der Landesentwicklungsgesellschaft (LEG) auf. Spätere Landesregierungen setzten hingegen auf Privatisierung. So mancher Ex-Minister bereut das inzwischen – und gibt es manchmal sogar zu. So ist das seltene Phänomen zu beobachten, dass ein ehemaliger, seinerzeit bekämpfter und bespöttelter, dann fast vergessener Landesminister Jahrzehnte später parteiübergreifend Achtung genießt. Christoph Zöpels Rat ist, gerade jetzt, da wieder einmal Weichen gestellt werden müssten für kommende Jahrzehnte, im Land, im Bund, in Europa, weltweit, gefragt wie nie. Zumal auch Gegnern dämmert: Da hat einer vor Jahrzehnten schon die Themen benannt, die uns heute noch oder wieder bedrängen, und er hat vorgeführt, wie sich konstruktiv damit umgehen lässt. Da hat einer eben nicht auf Umfrageergebnisse geschielt, nie sein Fähnlein in irgendeine Brise gehängt. Er hat nicht politics als Selbstzweck betrieben, sondern policy gestaltet. Wohl kein Regionalpolitiker, wo auch immer in der Republik, hat so manifeste, nach Jahrzehnten noch wirkmächtige, vielfältige Spuren hinterlassen wie er: in kaum zu zählenden verkehrsberuhigten Stadtteilen und menschengerechten, sorgsam und geschichtsbewusst sanierten Innenstädten zwischen Heinsberg und Höxter, Münster und Bonn, in zwei Preußen-, einem Weserrenaissance- und allerlei anderen Museen, in Form kunstbekrönter und begehbarer Halden, in sanierten alten wie auch in gänzlich neuen, hippen Stadtvierteln wie rund um den Phoenix-See in Dortmund. Und natürlich: auf Zollverein. Bei einem Spaziergang im Corona-verseuchten Frühling 2020 über das ehemalige Zechen- und Kokerei-Areal in Essens Norden grüßt Christoph Zöpel jeden, wirklich jeden der wenigen anderen Passanten, die sich in Pandemiezeiten hierhin getraut haben, mit freundlichen Worten. Und, muss man wohl anfügen, keineswegs in der hoffenden Erwartung, erkannt zu werden. Oberflächliche Eitelkeit ist ihm so fremd wie die kindliche Freude vieler Politiker daran, sich in schweren Dienstlimousinen hin- und herkutschieren zu lassen. Christoph Zöpel ist schon als Minister lieber Bahn gefahren.
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Dass aus Zechen und Hüttenwerken Seen und Parks entstanden und längst Touristenscharen ins ehemals rheinisch-westfälische Industriegebiet locken: ohne ihn wäre das niemals möglich geworden. Kaum auszudenken, was noch alles möglich geworden wäre, an Rhein, Ruhr, Emscher und Lippe, wäre Zöpel länger als zehn Jahre Entwicklungs-, Verkehrs- und Bauminister geblieben. Wo die einen damals nur sterbende Städte rund um verfallende Industrieanlagen sahen, die sich bestenfalls nach China exportieren ließen, und andere von der Wiederkehr zechengleicher Großindustrien träumten wie Monarchisten von der Rückkehr Kaiser Barbarossas, da sah Christoph Zöpel früh die Zukunft des einstigen Industriereviers in einer Anpassung an die entstehende Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft. Immerhin gab es hier schon in den 1980ern mehr Studierende als Bergleute, reichlich preiswerten Wohnraum, eine dezentrale Siedlungsstruktur und viele ungenutzte Gleise, aus denen ein leistungsfähiges öffentliches Nahverkehrsnetz hätte werden können: das Verkehrsnetz einer polyzentralen „Weltstadt Ruhr“ (so auch der Titel eines der Bücher Christoph Zöpels). „Das Wort Weltstadt würde ich zurücknehmen, dafür ist Ruhr, verglichen mit den Millionenstädten in Asien und Afrika wie mit London und Paris zu klein“, sagt Zöpel heute, beim Treffen im Weltkulturerbe Zollverein. Vor zehn Jahren wurde hier, auf Zollverein, die „Metropole Ruhr“ gefeiert. „Essen und das Ruhrgebiet“ waren, ein Jahr lang, Kulturhauptstadt Europas. Auch das wäre unmöglich gewesen ohne Christoph Zöpels Politik. Zur Eröffnungsfeier, hier auf Zollverein, wurde er nicht eingeladen. Im Scheinwerferlicht sonnten sich an einem schneekalten Januartag 2010 andere. Politik kennt keine Dankbarkeit – oder allenfalls gegenüber Verblichenen. Im Jahr 1986 wurde die einstmals größte und modernste Zeche Europas geschlossen und auf Zöpels Betreiben hin im Handstreich vom Land erworben und unter Denkmalschutz gestellt. Damals hielten viele, in Essen, vor allem aber auch in der Landeshauptstadt, mit ihrer Überzeugung nicht hinter dem Berg, nun sei der Minister endgültig abgehoben. Eine solche Riesenfläche mit derart gewaltigen Bauten gleichsam einzufrieren und für so luftiges Gedöns wie Kultur und Freizeit zu öffnen, das war, im Sinne des Wortes, unerhört. Längst aber schmücken sich Stadt und Land mit dem Weltkulturerbe Zollverein, ist der markante Doppelförderturm zum Symbol der propagierten Metropole Ruhr geworden. Ruhr, wie Zöpel Deutschlands noch immer bevölkerungsreichste städtische Agglomeration beharrlich nennt, „Stadt Ruhr“ vielleicht, jedenfalls nicht „-gebiet“ und Metropole noch nicht, hat seit dem Aufbruch der 1980er-Jahre viele Chancen verpasst, letztlich auch jene des Kulturhauptstadtjahres. Christoph Zöpels Schuld ist das gewiss nicht gewesen. Er ist bis heute nicht müde geworden, die hier Lebenden, Verwaltenden, Vielverdienenden und Regierenden auf die besonderen Vorzüge des Standorts mitten in Deutschland und Europa aufmerksam zu machen; in Büchern, Denkschriften, Vorträgen – stets geprägt von imponierender Geschichtskenntnis und gedanklicher Schärfe, geprägt auch von einer stets durchschimmernden Verachtung des Gegenteils: Gedankenfaulheit gepaart mit Geschichtsvergessenheit. Zöpels strenge Brillanz hat noch niemals jedem gut gefallen. Doch ihm auf offener Bühne zu widersprechen, hat sich selten jemand getraut. Lieber wurden hinter seinem Rücken die Messer gewetzt.
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Fast wäre Christoph Zöpel zu einer Art Bürgermeister der Ruhrstadt geworden, 2005, als ein Nachfolger für Gerd Willamowski an der Spitze des Regionalverbandes Ruhr gesucht wurde. Zöpel ließ sich für eine Kandidatur gewinnen, unter der Bedingung, sein Bundestagsmandat behalten zu können. Das wurde hintertrieben. Rückblickend gibt Zöpel vor, das nicht zu bedauern: „Als Verbandsdirektor hätte ich betteln gehen müssen. Das kann ich nicht.“ Der RVR wird von seinen Mitgliedern, den Städten des Ruhrgebiets, notorisch kurzgehalten: auf, dass ja kein RVR-Direktor einen Oberbürgermeister überrage! Zöpel ist überzeugt, dass er als Quasi-Bürgermeister von „Ruhr“ in Verbindung mit seinem Bundestagsmandat „gute Vorträge“ hätte halten und wichtige Veranstaltungen in die „Weltstadt“ hätte holen können. Eben. Inzwischen, da er seinen 76 Lebensjahren zufolge ein Greis und jedenfalls ein Ruheständler sein könnte, wirkt Christoph Zöpel einerseits noch immer jugendlich aufgeräumt, andererseits durchaus duldsamer gegenüber der immer noch und überall wuchernden und nicht selten, gerade im Ruhrgebiet herrschenden, selbstgefälligen Mittelmäßigkeit. Sein Urteil über Agierende, wenn auch nicht über alle, ist milde geworden. Beim Spaziergang über das Zollvereinsgelände merkt er zwar kritisch an, dass die Rolltreppe, die Besucher hochbringen könnte zur obersten Etage des Ruhrmuseums, im Grunde überflüssig sei, ans Denkmal angepappt, aber: nun ja. Der Sogkraft der mentalen Mergelschicht seiner Wahlheimat entzog sich Zöpel in den 90er-Jahren durch eine beherzte Flucht nach Berlin und ins Internationale. Er wurde mit der gleichen Ernsthaftigkeit und Gründlichkeit zum Außen- und Weltpolitiker, mit der er sich zuvor der Landes- und Stadtentwicklung gewidmet hatte. Längst kann er über Polen oder Jordanien kaum weniger kenntnisreich und klischeefrei referieren wie über, zum Beispiel, Westfalen. Lange bevor der Begriff der „Glokalität“ Einzug hielt in die politikwissenschaftliche Betrachtung der Zusammenhänge zwischen weltumspannenden Phänomenen wie Verstädterung, Flucht oder Klimawandel einerseits und kommunalem Geschehen andererseits, dachte, plante und handelte Zöpel glokal – und stets auf der Grundlage eines zutiefst preußischen Verständnisses von Staat und Staatsdienst. Eine zentrale Rolle spielt dabei sein Sinn für geschichtliche Wurzeln und Entwicklungen. „Kenntnis der Örtlichkeit ist Seele des Dienstes.“ Das hat nicht als erster Christoph Zöpel gesagt und exerziert, sondern Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein. Zöpel zitiert ihn gern, den preußischen Reformer. In gewissem Sinne sei der nassauische Adelsherr in preußischen Diensten ja Nordrhein-Westfalens „erster Ministerpräsident“ gewesen. Denn Karl vom und zum Stein puzzelte vor gut zweihundert Jahren allerlei kleine bis winzige, der Französischen Revolution und den ihr folgenden Kriegen zum Opfer gefallene Grafschaften, Stadtstaaten und Fürstentümer mit älteren Hohenzollern’schen Besitztümern so zusammen, dass daraus in den 1820er-Jahren zwei preußische Provinzen werden konnten: Rheinland und Westfalen. Stein baute als Direktor, später als Präsident der Kriegs- und Domänenkammer von Kleve und Mark, ab 1796 als Präsident aller westlicher Besitztümer der Hohenzollern eine Verwaltung auf, die effizient war und selbstbewusst, die sich dem gesamten Staatswesen und 721
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nicht Gruppeninteressen verpflichtet fühlte – und die, wo immer möglich (und natürlich von oben kontrolliert), auf Selbstverwaltung setzte. Seine Idee von Verwaltung unterschied sich drastisch vom Befehlston des Militär- und Agrarstaats Hohenzollern-Preußen, wie er östlich der Elbe gewachsen war und bald mächtig wuchern sollte. In Stein, dem westlichen Preußen, verbanden sich die treibenden aufklärerischen Ideen der antifeudalen, antiklerikalen Revolution mit dem Begehren, die bestehenden feudalen Herrschaftsverhältnisse unbedingt zu erhalten. Schließlich war er selbst „von Adel“, wenn auch von niederem. Monarchie und Adelsherrschaft auf Dauer zu erhalten würde nur gelingen, davon war er überzeugt, wenn die „unteren Schichten“ aktiv Teil hätten am Staatswesen. Das Prinzip der Selbstverwaltung wiederum setzte Volksbildung und Sozialgesetze voraus. Regierend verwalten sollten kundige Fachleute. Den aufblühenden Wissenschaften fiel dabei eine zentrale Rolle zu. Stein setzte, aus dem entlegenen Westen 1806 in Zeiten großer Not nach Berlin gerufen, Fachministerien an die Stelle einer von Günstlingen des Königs besetzten Hofkamarilla; Ministerien, die von Kennern ihrer Materie geführt wurden. Möglich war das allerdings nur im Chaos des Krieges, unter dem Ansturm französischer Truppen. Als Preußen 1808 vorübergehend Frieden mit Napoleon schloss, hatte Stein Berlin schon wieder zu verlassen. Er war denen, die sich eingerichtet hatten in bequemen Strukturen der Macht, mindestens so lästig wie Christoph Zöpel zwei Jahrhunderte später. Aber auch er hatte, in einer kurzen Periode entschiedenen Handelns, eine fruchtbare Saat gesetzt. Preußen sollte, als großer Gewinnler der napoleonischen Kriege, zum effizientesten, anfangs auch multi-ethnischen, in diesem Sinne modernsten Staat des Kontinents werden. Und dann zur Hochburg einer neuen politischen Kraft, der Sozialdemokratie. „Preußen war der bisherige Höhepunkt einer leistungsfähigen Staatlichkeit.“ – In diesem Urteil lässt sich der Sozialdemokrat Zöpel nicht einmal von königlichen Angriffskriegen, Militärklimbim und Junkertum irritieren. Schon seit Friedrich II. (dem „Großen“) habe sich der preußische Staatsapparat als Dienstleister verstanden, mit einem König an der Spitze, der sich als „Erster Diener des Staates“ darzustellen wusste, der auf Französisch parlierte und religiöse Toleranz praktizierte. Und Preußen beherbergte zudem nicht nur einen philosophierenden König, sondern auch, in Königsberg, Immanuel Kant, den Philosophen der Aufklärung als Befreiung des Menschen aus dessen selbstverschuldeter Unmündigkeit. Dies auf alle Menschen zu beziehen, auch auf Besitzlose, wurde hundert Jahre nach Kant das erklärte Ziel sozialdemokratischer Bildungsvereine und Parteien. Im Südosten Preußens, in Schlesien, wurde Christoph Zöpel 1943 geboren, in Gleiwitz, aus dem bald darauf Gliwice werden würde. Im Westfälischen, in den Überresten der preußischen Westprovinzen, wuchs er auf, in Rahden bei Minden. Nordrhein-Westfalen wurde 1946 aus Teilen der Rheinprovinz und der Provinz Westfalen zusammengefügt. Im Rheinland residierte Zöpel als Minister, in Bochum wohnt er bis heute. Seit 2017 präsidiert er, sehr passend, dem Rheinischen Verein für Landschaftspflege und Denkmalschutz, einer der letzten Institutionen, deren Wirkungsraum geografisch übereinstimmt mit der 1946 aufgelösten Rheinprovinz. Insofern dürfte sich Zöpel als letzter Statthalter Preußens im Rheinland verstehen. Dazu passen prächtig Sätze wie dieser: „Zeitplanung ist eines meiner Hobbys.“ Er meint damit Pünktlichkeit.
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„Ich hatte das Glück, in einem Ministerium zu arbeiten, wo ich der zeitlich erste war.“ Zöpel konnte, weil sein Ministerium jung war, Beamte um sich scharen, die seine Ziele und Methoden teilten. Allen voran, aber längst nicht allein, Karl Ganser, den Zöpel an die Emscher schickte wie Friedrich II seine Generäle in die Schlacht. Und der die Internationale Bauausstellung (IBA) Emscher Park über alle rechtlichen und kommunalpolitischen Fallstricke hinweg zu einem glänzenden Erfolg zu führen verstand – mit Können, Schneid und Chuzpe. Wer noch heute, wo auch immer im Lande NRW, einem tüchtigen, weitsichtigen Spitzenbeamten begegnet, liegt selten falsch, wenn er in ihm einen erklärten Zöpelianer erkennt. Zöpelot träfe es vielleicht noch besser. Zöpel hatte nicht nur das Glück, unter einem Ministerpräsidenten zu dienen, der ihn, jedenfalls zehn Jahre lang, schalten und walten ließ, sondern der bis 1995 mit absoluter SPD-Mehrheit regierte. „Nachhaltige Politik verlangt die absolute Mehrheit einer Partei oder eine konstante Koalition über zehn Jahre hinweg“, stellt Zöpel fest, mit Blick auf eher kurzatmige und konzeptfreie Politikbeispiele späterer Jahre, und sie erfordere „Minister, die lange im Amt bleiben.“ Saisonpolitik und die Benutzung von Ministerien als Sprungbretter auf dem Weg zum jeweils nächsten Karriereziel, das ist so wenig preußisch wie die Nutzung politischer Ämter zur persönlichen Bereicherung. Eine preußisch-zöpelianische Katastrophenschutzpolitik in Vor-Corona-Zeiten hätte die mannigfachen frühen Hinweise der Wissenschaft auf die Pandemiegefahren ernstgenommen – und beizeiten womöglich zehn Milliarden Gesichtsmasken im ehemaligen Regierungsbunker im Ahrtal eingelagert, meint Zöpel. Aber er weiß auch: Ein Minister, der das angeordnet hätte, wäre vermutlich für verrückt erklärt worden, in oberflächlich aufgeregten und vergesslichen Zeiten wie diesen. Dass er zehn Jahre (plus zwei als Minister für Bundesangelegenheiten von 1978–1980) regieren und dabei sehr viel Geld ausgeben durfte, in den Jahren vor der Wiedervereinigung, hatte noch einen Grund: Zöpel war nicht über Skandalisierungen zu Fall zu bringen. Versucht worden ist das durchaus. „Aber wir sind eben nicht korrupt gewesen“, die Zöpeloten und er. Auch die Staatshochbauverwaltung war in seiner Verantwortung nie in Skandale verwickelt. Sie wurde nie in eine „public-private partnership“ gezwungen. In der Politik, und gerade in der Baupolitik, wird viel Geld bewegt. „Die Verführung ist erheblich.“ Zöpel weiß das aus eigener, zum Glück, wie er selbst sagt, früher Erfahrung. Mit 26 Jahren, da war er gerade Ratsherr in Bochum geworden, nahm er an einer Besichtigung eines AEG-Werks teil. „Da gab es das Angebot, verbilligt Elektrogeräte zu kaufen. Das kam mir komisch vor.“ Und als er, frisch Minister für Bundesangelegenheiten geworden und in der Not, eine zuvor ungenutzte Dienstwohnung in Bonn zu beziehen, für die Beschaffung von Gardinen im Schlafzimmer, die erforderlich waren, weil die Fenster aus Sicherheitsgründen zuvor umgebaut worden waren, öffentlich gerügt worden ist, „da war mir das eine Lehre: nämlich, nie wieder irgendetwas persönlich Nützliches zu tun, das Gegner zum Anlass nehmen könnten, mich anzugreifen.“ Außerdem habe er sich damals vorgenommen: „Niemals trete ich in ein Vertragsverhältnis mit einem Privatunternehmen.“
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Daran hat er sich gehalten. Wenn ihn Lobbyisten im Ministerium besuchten, „und ich wusste, die wollen was von mir, hatte ich immer zehn Beamte im Raum.“ Das habe gewirkt. Entsprechend kritisch sieht Zöpel die heute nahezu gängige Praxis, politische Lorbeeren und politisch erworbene Kontakte in einer wirtschaftlichen Zweitkarriere zu vergolden. Seine Kritik daran kann durchaus harsch ausfallen – mit einer prominenten Ausnahme. Gerd Schröders Nach-Kanzler-Karriere als Lobbyist sei er „zu billigen bereit“, sagt Zöpel. Schließlich habe (der in fünfter Ehe verheiratete) Schröder „eine größere Menge an Frauen zu versorgen“, wichtiger aber sei, dass die Zusammenarbeit mit Russland, auch die Gaspipeline durch die Ostsee, für Europa zwingend erforderlich seien. Generell habe er große Achtung vor Schröders Lebensweg, aus sozialen Verhältnissen, die einen Aufstieg als unmöglich erscheinen ließen – ihm selbst sei der Hochschulabschluss als Sohn zweier Studienräte in die Wiege gelegt worden. Solch relative Urteilsmilde mag dadurch befördert worden sein, dass Kanzler Schröder dem abgehalfterten Landespolitiker und einfachen Bundestagsabgeordneten Christoph Zöpel 1999 zum Amt des Staatsministers im Auswärtigen Amt verhalf. Seine Staatsministerzeit bis 2002 half und hilft Zöpel, in vielen Teilen der Welt nicht nur für eine nachhaltige, humane Stadtentwicklung zu werben – gern anhand von Beispielen aus NRW, vor allem der revitalisierten Emscher –, sondern auch für ein beherztes Fortschreiten auf dem Weg zu einer Weltgesellschaft, im Idealfall zu einer Weltdemokratie. Friede, schrieb der preußische Denker Immanuel Kant vor rund 250 Jahren, setze voraus, dass sich alle Menschen als Bürger einer Welt begreifen. Ohne viele, viele Zöpeloten wird daraus nichts werden. Das ehemalige Zechengelände im Südwesten Hernes ist heute übrigens der Königsgruber Park, Teil der Route Industrienatur des RVR. Und aus dem im 13. Jahrhundert erstmals erwähnten Röhlinghausen ist nicht nur ein blühender Kiez geworden, sondern, das markiert ein kantiger Stein, offiziell der Mittelpunkt des Ruhrgebiets.
Lieber Christoph Anke Brunn
Lieber Christoph, dies ist ein Freundschaftsgruß, eine kleine Collage unserer politischen Begegnungen, Verbindungen, Parallelen und Entfernungen betrachtet über ein halbes Jahrhundert, zugleich auch als Beispiel für das politische Engagement einer besonderen Alterskohorte. Wir lernten uns 1970 als SPD-Kandidaten zur Landtagswahl kennen. Wir waren die Jüngsten, Jusos, skeptisch beäugte Ausläufer des gesellschaftlichen Aufbruchs der 60erJahre und der 68er-Studentenbewegung auf dem Weg aus den Hochschulen in die Politik, auf dem „Marsch durch die Institutionen“. Dass ich – Jahrgang 1942 – schließlich jüngstes Mitglied der Fraktion wurde, lag daran, dass Du – Jahrgang 1943 – in Bochum Deinen Wahlkreis noch nicht gewinnen konntest, auf die Landesliste angewiesen warst, während ich in Köln direkt gewählt wurde. Als Du 1972 in den Landtag nachrücktest, hattest Du Dich bereits über mehrere Jahre verantwortlich in Berlin im SHB und in Bochum in der SPD und im Stadtrat engagiert und warst noch als MdL dabei, Deinen Doktor zum Thema „Ökonomie und Recht“ zu bauen, was Dir 1973 gelang. Dir wird der Ausspruch zugeschrieben: „Politische Tätigkeit ist die notwendige Umsetzung von theoretischen Erkenntnissen in Politik.“ Dein Weg aus Hochschule und Kommune in die Landespolitik war geradlinig und konsequent. Dein Lebensthema Stadtplanung hast Du angeregt durch Fritz Halstenberg und sein NWP75 bis heute – 2020 – lokal, regional, international verfolgt nach dem Motto: Global denken, lokal handeln. Wenn schon nicht jüngster Abgeordneter, so wurdest Du doch jüngster Minister, als Dich Ministerpräsident Heinz Kühn 1978 als Minister für Bundesangelegenheiten ins Landeskabinett berief. Dort konntest Du bald viele Deiner neuen und mutigen Ideen in die praktische Politik umsetzen. Mein Weg in die Politik war weniger geradlinig, eher Zufällen folgend; denn mein Typ war in der Politik nicht vorgesehen. So wurde ich 1970 am Wahlkampfstand neben meinem Wahlplakat mit der Aufschrift „Anke Brunn – Die Kühn-Garantie“ von interessierten Passanten gefragt, ob ich die Tochter oder die Frau des Kandidaten sei und ob der auch vor Ort sei. Im Studentenparlament war ich nur kurz während der Spiegel-Krise 1962 aktiv. Nach einem Studienjahr in Paris gründete ich in Köln einen Kinderladen, nahm eine familiäre Auszeit in Brasilien und schloss mein Studium als Diplom-Volkswirtin so© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_49
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zialwissenschaftlicher Richtung mit einer Arbeit über das Deutschlandbild der Franzosen ab, einer Sekundäranalyse von Umfragedaten. Im Examen bot mir ein Professor an zu promovieren, meinte jedoch auf meine Rückfrage, ob es dazu eine Stelle gäbe, da ich Geld verdienen wollte: „Wieso, Sie sind doch verheiratet.“ Dennoch erhielt ich eine Stelle – am Institut für Angewandte Mathematik der Universität, gab Kurse in Datenverarbeitung und -analyse und beriet – reichlich autodidaktisch – die damals neuen Nutzer der neuen digitalen Welt. In besonderer Erinnerung für die Naivität der ersten Nutzer dieser Welt bleibt mir ein Doktorand der Medizin, der in meine Sprechstunde kam, einen Packen Lochkarten in der Hand hielt: sämtliche Selbstmörder Kölns; die wollte er auswerten, um Doktor zu werden, aber wie? Ihm konnte ich helfen. Mein Erfahrungshorizont war also vielseitig und weniger zielsicher. In unser beider ersten Legislaturperiode (1970–1975) gehörten wir zu den ersten, aber wir waren nicht die einzigen Juso-Abgeordneten. Auch Reinhard Grätz aus Wuppertal und Günter Meyer zur Heide aus Herford kamen 1970 in den Landtag. Wir waren geprägt durch den gesellschaftlichen Aufbruch der 60er-Jahre. Willy Brandts Aufruf in der Regierungserklärung am 28. Oktober 1969 „Mehr Demokratie wagen“ wollten wir in die Tat umsetzen, an Ort und Stelle, im Landtag von Nordrhein-Westfalen. Auch Gustav Heinemann hatte in seiner Antrittsrede als Bundespräsident am 1. Juli 1969 gesagt: „Nicht weniger, sondern mehr Demokratie – das ist die Forderung, das ist das große Ziel, dem wir uns alle und zumal die Jugend zu verschreiben haben.“ Das nahmen wir wörtlich. Auch im Bundestag gab es Juso-Angeordnete, z. B. Herta Däubler-Gmelin und dazu in anderen Landesparlamenten Klaus Matthiessen in Schleswig-Holstein, Oskar Lafontaine im Saarland, Henning Scherf in Bremen. Unter Moderation von Klaus Matthiessen trafen sich die Juso-Abgeordneten von Zeit zu Zeit, um Erfahrungen aus unserer politischen Praxis auszutauschen. Damals gelang es der SPD – wenn auch unter kräftigen internen Konflikten –, die neue Generation aufzunehmen und ihr programmatisches Angebot, das sie über Jahre erarbeitet hatte, vom „Sozialplan für Deutschland“ über die „Sozialdemokratischen Perspektiven im Übergang zu den siebziger Jahren“ und das „Modell für ein demokratisches Bildungswesen“ so darzustellen, dass junge Leute sich in der SPD wiederfanden. In der 68er-Bewegung, wie sie verkürzt genannt wird, gab es sehr unterschiedliche Strömungen von denen, die eine Abkehr von parlamentarischer Betätigung wollten, von „Blumenkindern“ bis hin zu Anhängern einer Rätedemokratie, aber auch jene, die sich den Marsch durch die Institutionen vorgenommen hatten. Wir als Jusos drängten in die Parlamente, um dort gesellschaftliche Reformen zu erreichen. Rückblickend waren wir das genaue Gegenteil der politischen Bewegung, die sich als AfD neuerdings in den Parlamenten findet. Nicht nur, weil wir jung und von „links“ in die SPD und in die Parlamente kamen, sondern weil wir „mehr Demokratie wagen“ wörtlich nahmen, sie ausbauen, mehr wagen und den notwendigen gesellschaftlichen Wandel demokratisch vorantreiben wollten. Es ging um Teilhabe im weitesten Sinne, Zugang zu Bildung und zu gesellschaftlichen Institutionen, um Mitbestimmung, Demokratisierung der Institutionen und um Frieden. Heute erreicht eine Wutbürgerbewegung mit alten Gesichtern von „rechts“ die Parlamente mit dem erklärten Ziel, die Demokratie mit ihren eigenen Instrumenten zu zerstören. Umso
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wichtiger ist es, den Willen zur Demokratie neu zu festigen. Auch deshalb ist es gut, dass Frank-Walter Steinmeier die Stärkung und gesellschaftliche Verankerung der Demokratie zur wichtigsten Aufgabe seiner Amtszeit als Bundespräsident erklärt hat. Es ist eindrucksvoll, wie viele Reformvorhaben im Bundestag in der Zeit der sozialliberalen Bundesregierung und im Landtag von NRW in der Regierungszeit von Heinz Kühn und Johannes Rau auf den Weg gebracht werden konnten. Im Rückblick wird deutlich, welche wichtigen Neuerungen im Bundestag vom Ehe- und Familienrecht über Reformen des Sozialstaats bis zu BAföG und Sozialhilfe beschlossen wurden. Aber hinter den großen Konflikten um die Ostpolitik, um das Misstrauensvotum, um den Radikalenerlass sind sie leider weniger in Erinnerung geblieben. Auf der Landesebene in NRW lag ein Schwerpunkt der grundlegenden Reformen in der Kulturpolitik, zu der damals selbstverständlich Schule und Hochschule gehörten. Durch den Ausbau des Bildungswesens konnten mehr Menschen ihre Kinder auf bessere Schulen schicken; und die Verheißung des „Aufstiegs durch Bildung“ schien realisierbar. Auch weitere Neuerungen waren tiefgreifend: Gründung von fünf Gesamthochschulen und der Fernuniversität Hagen, Einrichtung von Gesamtschulen, von Lehr- und Lernmittelfreiheit, von Fahrgeldfreiheit, das Weiterbildungsgesetz oder das Kindergartengesetz. Bemerkenswert sind in dieser Zeit aktive, vorwärtstreibende Initiativen des Landtags und die prägende Beteiligung des Parlaments an der Gesetzgebung. Dass eine SPD-Fraktionsführung einen Gesetzentwurf ihrer Regierung am Tag vor der Beratung zurückzog und der Fraktion einen Gesetzentwurf – handgeschrieben von ihren Jugendpolitikern – vorlegte, hat es meines Wissens nur einmal gegeben: als ich zusammen mit Helmut Hellwig das Kindergartengesetz erarbeitet hatte. Unter den Jungen war es Reinhard Grätz, der sich die Kulturpolitik zum parlamentarischen Lebensthema wählte; das Weiterbildungsgesetz 1974 war seine erste große parlamentarische Leistung: nach der Verabschiedung begleitete und überwachte er die Umsetzung so wie später auch das Denkmalschutzgesetz und die Mediengesetzgebung über mehr als zwei Jahrzehnte. Das Weiterbildungsgesetz regelte nicht nur Ausbau und Finanzierung der Weiterbildung, sondern bot für eine Vielzahl von Trägern und Aufgabenstellungen von der politischen Bildung bis zur Familienbildung ein offenes, differenziertes, gut ausgestattetes Angebot an Gestaltungsmöglichkeiten. Trotz aller späteren Sparrunden ist der Kern dieses Gesetzes als Angebot eines „Demokratielabors“ erhalten geblieben. Von der Elterngruppe in Gelsenkirchen-Ückendorf, die sich mit einem Abenteuerspielplatz auseinandersetzte, bis zu den politischen Angeboten des Aktuellen Forums oder den Seminaren der SPDFrauen zur Erarbeitung von Positionen zur Familienpolitik wurde vieles möglich. Auch wenn die klassischen Seminare der Weiterbildung heute nicht mehr so stark nachgefragt sind, muss die Weiterbildung als Angebot lebenslangen Demokratie-Lernens heute wieder neu gedacht werden. Frei nach Oskar Negt: „Demokratie ist die einzige Staatsform, die gelernt werden muss.“ Worin unterschied sich unser Kindergartengesetz vom Entwurf unserer damaligen Regierung? Wir wollten nicht nur einen Beitrag des Landes, der Kommunen und der Träger zum Ausbau und Betrieb von Kindergärten gesetzlich festschreiben, sondern der 727
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Kindergarten sollte einen eigenen Bildungsauftrag im Elementarbereich des Bildungswesens erhalten, schrittweise über zehn Jahre dem Ausbau folgend beitragsfrei werden und eine Elternmitwirkung garantieren. Die Träger sollten einen Rechtsanspruch auf Förderung bekommen, finanzschwache Träger wie Elterninitiativen eine besondere Förderung. Am 21. Dezember 1971 wurde das Gesetz im Landtag einstimmig verabschiedet. In den Folgejahren trug es erheblich zum Ausbau, zur Qualifizierung des Personals sowie zur Vielfalt bei und galt bundesweit als Vorbild. In den 80er-Jahren wurde jedoch der Abbau der Elternbeiträge ausgesetzt, sie stiegen sogar wieder an. Hintergrund war nicht nur die Finanznot der öffentlichen Hand, die der Steigerung von Plätzen und Kosten pro Platz Grenzen setzte, sondern auch ein tiefgreifender Wandel der Auffassung, was öffentlich und was privat zu finanzieren sei. Während es Anfang der 70er-Jahre Konsens war, dass der Ausbau des Bildungswesens eine öffentliche, gesamtgesellschaftliche Aufgabe sei und der Zugang möglichst beitragsfrei, so gab es seit den 80er-Jahren einen politischen Paradigmenwechsel: Zunehmend wurde ausgehend von Entwicklungen in Großbritannien und in den USA Bildung als ein privates, am Markt handelbares und käufliches Gut verstanden und der Kindergarten dem alten Familienbild entsprechend zudem als individueller Luxus berufstätiger Mütter. Erst jüngst, in den letzten zehn Jahren wurde die Beitragsfreiheit der Kindergärten/Kitas vor allem von Sozialdemokraten wieder auf die politische Agenda gesetzt. Nicht nur als jüngste Abgeordnete, sondern auch als eine von gerade einmal drei Frauen in einer Landtagsfraktion mit 95 Mitgliedern hatte ich einen gewissen Exoten- und Alibistatus, wurde zu vielen Veranstaltungen als Beweis dafür entsandt, dass Emanzipation möglich sei, wobei das Gegenteil eher zutraf. Landauf und landab reiste ich mit dem Kindergartengesetz über’s Land, beriet Eltern und Gemeinderäte, und ermunterte zugleich mehr oder weniger aufmüpfige SPD-Frauen. Hinzu kam ein weiteres Thema: Die Reform des § 218. In besonderer Erinnerung bleibt mir eine Podiumsdiskussion in Hagen, organisiert von einer Ärztekammer. Ein führender Ärztefunktionär vertrat im voll besetzten Saal unter großem Beifall die damals herrschende Auffassung, der Schwangerschaftsabbruch müsse strafbar bleiben und begründete dies folgendermaßen: Es ginge nicht an, dass die Frauen nicht mehr bereit seien, „das Maß zumutbaren Leides“ zu ertragen. Ich vertrat die Fristenlösung, erhielt nur wenig zögerlichen Beifall, aber vor der Tür viel Zuspruch und Händeschütteln von Frauen, die niemals gewagt hätten, ihre Meinung offen zu sagen, geschweige denn, ihre persönlichen Erfahrungen vorzubringen. Ein Glück, dass sich die Zeiten und zumal die Gesetze geändert haben. Aber: Wachsamkeit ist angebracht. Nach der Landtagswahl 1975 wurdest Du stellvertretender Fraktionsvorsitzender. Die zentrale Aussage der Regierungserklärung von Heinz Kühn: „Die Sicherung des Erreichten ist das Maximum des Erreichbaren“ war angesichts der Krisen von Kohle und Stahl, auch der Textilindustrie zwar nachvollziehbar, uns Jüngeren aber viel zu defätistisch, zu sehr Schwanengesang. Wir wollten den Strukturwandel gestalten – Dein Thema – und der beginnenden Jugendarbeitslosigkeit mit einer aktiven Arbeitsmarktpolitik und neuen Bildungsangeboten entgegentreten, mein Schwerpunkt in der Jugendpolitik. Zudem arbeitete ich an einem damals neuen Thema: dem Datenschutz. Bei der Beratung des Datenschutzgesetzes stritt ich mich kräftig mit dem Innenminister Burkhard Hirsch, der
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weniger liberal war, wenn es um den eigenen Verantwortungsbereich ging. Er konnte nur schwer ertragen, dass der Datenschutzbeauftragte vom Parlament bestimmt werden sollte. Nachdem sich Johannes Rau gegen Friedhelm Farthmann und Diether Posser als Nachfolger von Heinz Kühn durchgesetzt hatte, warst Du zunächst als jüngstes Kabinettsmitglied Minister für Bundesangelegenheiten. Im Jahr 1980 erhieltest Du das neu geschaffene Ministerium für Stadtentwicklung und ab 1985 wurdest Du Minister für Stadtentwicklung, Wohnen und Verkehr, und konntest mit der Verbindung dieser Kompetenzen tatsächlich Strukturwandel gestalten sowie dem von Reinhard Grätz geprägten Denkmalschutzgesetz Nachdruck verleihen. Im Landtag wurdest Du aber zunächst in einem Untersuchungsausschuss zum Bau des Klinikums Aachen gequält. Im Vergleich zu heutigen großen Bauprojekten war die damalige Kostensteigerung des Aachener Klinikums gering. Dank der beharrlichen Abrechnungskünste Deiner Fachleute wurden offene Forderungen das Landes an den Bund errechnet, so hoch, dass ein Jahrzehnt später in meiner Amtszeit als Wissenschaftsministerin nach der deutschen Vereinigung rund 90 Millionen DM daraus als Eigenanteil des Landes in die Wissenschaftsprojekte des Bonn-Berlin-Ausgleichs eingebracht werden konnten. Das Städtebauförderungsgesetz gab Dir das Instrumentarium und vor allem die Finanzmittel, die Du verbunden mit anderen Förderungen für Deinen vorbildlichen und ganzheitlichen Ansatz nutzen konntest. Das trug im ganzen Land Früchte, besonders sichtbar aber im Ruhrgebiet und wurde unter dem Namen IBA zur Dachmarke eines Masterplans der Erneuerung. Auch wenn Dein Traum der Ruhrstadt nicht Realität wurde, sieht man heute im Ruhrgebiet die stolzen Zeichen der „Weltstadt Ruhr“ – vom Gasometer in Oberhausen bis zur Jahrhunderthalle mit dem umgebenden Landschaftspark auf dem alten Industriegelände in Deiner Heimatstadt Bochum. Heute laden die Emscher-Auen zu einem Spaziergang ein, wo vor 30 Jahren nur eine stinkende Industriekloake war. Als Du 1978 in die Landesregierung wechseltest, wurde ich zur stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden gewählt. Wie neu das war, merkte ich, als ich zu einer der Fraktionsvorsitzenden-Konferenzen anreiste, die Herbert Wehner regelmäßig abhielt, damals im Hamburger Rathaus: Ich setzte mich brav und schüchtern an das Ende eines riesigen Sitzungstisches, Herbert Wehner blickte von seinen Akten auf, kaute an seiner Pfeife und knurrte: „Endlich eine Frau.“ In den Jahren 1980, 1985 und 1990 gewann die SPD dreimal nacheinander mit Johannes Rau die absolute Mehrheit bei den Landtagswahlen. Die Zeiten des Aufbruchs und der Verteilung von Zuwächsen fanden jedoch ihr Ende angesichts der Kosten des Rückbaus von Kohle und Stahl sowie zunehmender Arbeitslosigkeit. Die „geistig-moralische Wende“ der Kanzlerschaft Helmut Kohls führte zu einem Erstarken konservativer und neoliberaler Positionen und zu sichtbaren Beschränkungen etlicher noch neuer Errungenschaften, z. B. der Streichung des Schüler-BAföG und der Aufstiegsfortbildung – bitter angesichts der zunehmenden Jugendarbeitslosigkeit. Umso wichtiger war die von Johannes Rau personifizierte positive Identifikation mit dem Land: „Wir in NRW“. Im Januar 1981 trennten sich unsere Wege für einige Jahre; denn über Nacht wurde ich nach Berlin gerufen, um im Senat des Regierenden Bürgermeisters Hans Jochen Vogel 729
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Senatorin für Familie, Jugend und Sport zu werden. Ein lehrreiches und schwieriges Himmelfahrtskommando, das ich in meinem Leben nicht missen möchte. In Berlin, der damals noch eingemauerten Stadt war der SPD-geführte Senat über politische Fehler und interne Konflikte gestürzt. Hans Jochen-Vogel sollte einen Neuanfang für die Stadtpolitik Berlins auf den Weg bringen. Städtebauliche Misswirtschaft und aggressive Spekulation hatten zu einem mehrere tausend Wohnungen umfassenden Leerstand geführt. Hausbesetzungen waren an der Tagesordnung. Der Versuch, diese mit polizeilichen Maßnahmen zu beenden, hatte zu einem sich aufschaukelnden Katz-und-Maus-Spiel beigetragen und die Probleme verschärft. Mit deutlichen inhaltlichen und personellen Signalen der Erneuerung und mit einer eigenen „Berliner Linie“ im Umgang mit den Konflikten gelang es Hans-Jochen Vogel zunächst, die Stimmung in der Stadt zu wenden, bis wohl einige verunsicherte Traditionalisten in der Polizei die Gelegenheit nutzten, die neue Politik als lasch und gefährlich vorzuführen. Kurz vor dem Osterfest randalierte vor laufenden Kameras ein Schlägertrupp der Besetzerszene ungehindert auf dem Kurfürstendamm und konnte Luxusvitrinen demolieren, während sich die Polizei in die Nebenstraßen zurückgezogen hatte. So wurde der Aufwärtstrend der SPD in Berlin Ostern 1981gestoppt. Nach der Wahl im Mai wechselte die FDP die Koalition. Richard von Weizsäcker als Regierender Bürgermeister setzte wenig später „unsere“ Berliner Linie fort, mit deutlich weniger Gegenwind! Hans-Jochen Vogel wurde Fraktionsvorsitzender im Abgeordnetenhaus und dessen Stellvertreterin. Nach dem Regierungswechsel und der verlorenen Bundestagswahl 1983 ging Hans-Jochen Vogel als Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion nach Bonn. Ich legte mein Mandat in Berlin nieder, schied aus der Politik aus und wechselte als Geschäftsführerin zu einem Verband. Im Jahr 1985 wurde ich in meinem alten Wahlkreis in Köln erneut in den Landtag gewählt und Johannes Rau berief mich zum „Minister“ für Wissenschaft und Forschung. Bis 1990 saßen wir Seite an Seite in der Landesregierung. Du konntest das Thema Klinikum Aachen hinter Dir lassen, gestaltend wirken und die IBA initiieren. Ich fand in Hochschulen und Forschung ein ebenso spannendes wie schwieriges Arbeitsfeld vor. Die Zeiten des Bildungsaufbruchs und -wachstums waren allerdings vorbei. Nicht einmal die Sicherung des Erreichten schien das Maximum des Erreichbaren. Mehr junge Menschen hatten längere, bessere Schulen besucht, wollten studieren, aber der Ausbau der Hochschulen stagnierte. Überfüllung und mangelnde Berufsaussichten belasteten manche Studiengänge, während andere nicht mehr nachgefragt waren und für qualifizierte Berufe der modernen Arbeitswelt Studienangebote fehlten. Die neuen Hochschulen waren noch im Aufbau, während die alten Hochschulen Nachholbedarf hatten. Eindrucksvoll wurde dies für mich bei einem meiner ersten Besuche in Duisburg deutlich: Der Oberbürgermeister empfing mich auf einem Turm mit Konferenzraum und mit viel Brachfläche im Umkreis. Mit einer Mischung von Bedrückung und Stolz zeigte er mir, was gerade alles „platt“ gemacht wurde – hier dieses Industrieteil und dort jenes Schwimmbad. Dann stellte er mir seine baulichen Wünsche für die Hochschule vor, deren Auf- und Ausbau unvollendet war; für ihn war sie die Hoffnungsträgerin für die Zukunft. Ausbau war also notwendig, doch Stagnation und Abbau drohten. Prognosen des Bundes sagten Deutschland für das Jahr 2000 eine Million arbeitslose Akademiker voraus.
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NRW habe zu viele Studienplätze, zu viele Hochschulen, hieß es. Die Schließung einer Gesamthochschule, Wuppertal oder Siegen, wurde ins Gespräch gebracht. Es war ein hartes Ringen notwendig, um den Bestand an Hochschulen und an Personalstellen sowohl zu sichern als auch auszubauen. Sicher hat es Dich amüsiert, wie ich – argumentativ bis an die Zähne bewaffnet – mit dem Finanzminister um meinen Etat stritt, während ich Deine streitbaren Diskussionsbeiträge im Kabinett mit Interesse und Sympathie verfolgte. Johannes Rau als Ministerpräsident war immer fair, manchmal – leidend – geduldig, besorgt, eventuell leicht unterstützend, da es auch um „seine“ Hochschulen ging. Am Ende meiner Amtszeit hatten wir schließlich sechs neue Hochschulen (drei Kunsthochschulen und drei Fachhochschulen) und einige tausend Stellen hinzu gewonnen sowie entbehrliche Stellen umgewidmet, statt sie zu streichen. Zum Glück änderte sich auch bundesweit die Stimmung: Mehr akademisch gebildete Fachkräfte nicht nur im öffentlichen Dienst, in den traditionellen Akademikerberufen und zudem in neuen Berufen würden benötigt und beschäftigt. Das war nun auch Meinung der Bundesregierung. Hochschulen und Forschungseinrichtungen nicht nur als Hoffnungsträger von symbolischem Wert in ihren Städten zu würdigen, sondern auch als Akteure des Strukturwandels in der Landespolitik zu platzieren sowie die Vielgestaltigkeit und regionale Verteilung der Hochschullandschaft als Chance zu nutzen, war mein Ziel. Neue Vorhaben wurden gesucht, neue Initiativen, neues Denken. Deshalb war es für mich faszinierend und höchst anregend, als Karl Ganser mich aufsuchte, um mir die IBA und den Gasometer in Oberhausen vorzustellen – einen Leuchtturm alter Industriearchitektur und zugleich ein Ausstellungsort, um neue Ideen sichtbar zu machen. Ein herausragendes Beispiel für die neue Nutzung alter Industrieflächen bot mir Dortmund: Wo immer passend traten Oberbürgermeister, Rektor der Universität und IHK-Repräsentant gemeinsam auf, um für ein Technologiezentrum zu werben, das auf einem ehemaligem Gelände von Hoesch errichtet werden sollte, nachdem sie bereits ein Fraunhofer-Institut für Logistik eingeworben hatten. Man erhoffte 1000 Arbeitsplätze; das wurde von vielen belächelt. Doch einmal durchgesetzt wurde es mit etlichen tausend Arbeitsplätzen zu einem bleibenden großen Erfolg. Aufgrund solcher Überlegungen haben wir im Wissenschaftsministerium darauf geachtet, dass in die Programme zur Unterstützung des Strukturwandels, die im regionalen Konsens vom Wirtschaftsminister verantwortet wurden, möglichst viele Themen und Vorhaben von Wissenschaft und Forschung aufgenommen wurden. So wurden auch Finanzierungen über die engen Etatvorgaben hinaus möglich. Ein Erfolgsmodell waren in diesem Zusammenhang die Fachhochschulen, die über Forschungsschwerpunkte und sogenannte An-Institute-Kooperationen mit der mittelständischen Wirtschaft eingingen, z. B. im Märkischen Kreis und im Münsterland. In den Kerngebieten der alten Montanindustrien war es schwerer, Erfolge zu erzielen, da im Zuge von Deindustrialisierung und Globalisierung potenzielle Kooperationspartner verschwanden, Betriebe eingestellt, verlagert oder nicht mehr von Personen aus der Region gesteuert wurden. Einige Hochschulen, allen voran die RWTH Aachen, waren zugleich regional engagiert und Lokomotiven für 731
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das ganze Land, während andere ihre Rolle eher universell als lokal sahen. Vielfach musste ich zu meinem Bedauern feststellen, dass gute Ideen und Projekte aus der Wissenschaft nicht ihren Weg zur Realisierung fanden, weil kurzfristiges Denken von Investoren und wirtschaftspolitische Orthodoxie traditioneller Kräfte die Entwicklung ausbremsten. Dass Strukturbrüche Chancen bieten, zeigte sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, als sich die britische Rhein-Armee zurückzog und Standorte der Bundeswehr aufgegeben wurden, zum Kummer vieler Kommunen. Den Gedanken der Konversion, der Umnutzung ehemals militärischer Liegenschaften für zivile Zwecke griff das Wissenschaftsministerium unter dem Motto „Kasernen in Studentenhand“ auf. Die Hochschulen wurden gebeten, interessante Objekte zu prüfen, um die besten dem Finanzminister als Paket zum Kauf vorzuschlagen, was dieser zunächst heftig ablehnte. Trotzdem gelang es, die meisten dieser Wunschobjekte mit kräftiger Unterstützung der lokalen Abgeordneten vom Bund zu vertretbaren Konditionen zu erwerben und viele alte Kasernen für eine räumliche Ergänzung überlasteter Hochschulen von Wuppertal bis Minden und von Detmold bis Soest zu gewinnen. Daneben haben wir Hochschul-Sonderprogramme des Bundes zur Überbrückung der Notlagen überfüllter Hochschulen strategisch – das ganze Land im Blick – strukturbildend eingesetzt. Landesweit und flächendeckend konnten wir damit Informatik, Wirtschaft und sogenannte Bindestrich-Informatik (z. B. Wirtschaftsinformatik) ausbauen – mit bundesweiter Signalwirkung. NRW war Studenten-Importland und Absolventen-Exportland. So konnte die Ruhr-Universität Bochum einige Jahre später feststellen, dass ihre InformatikAbsolventen gute Arbeitsplätze etwa bei Siemens in München fanden. Das stimmte nicht nur froh, denn es signalisierte auch, dass es in NRW hoch qualifizierte junge Menschen gab, die fähig waren, sowohl die Wirtschaft als auch die Gesellschaft der Zukunft aufzubauen. Es fehlte jedoch an den passenden Unternehmen – und das gilt wohl heute noch. Im Umfeld der Hochschulen besteht viel Spielraum für produktive Kooperationen. Ein anderes Beispiel: Am Tag nachdem der Bundestag beschlossen hatte, dass Berlin Hauptstadt werden sollte und neben dem Sitz der Bundesregierung viele Behörden nach Berlin verlegt werden sollten, habe ich mich mit dem Rektor der Universität Bonn, mit Staatssekretär Gerhard Konow und meinen engeren Mitarbeitern zusammengesetzt und überlegt, was zu tun sei. Daraus entstand die Idee der Wissenschaftsstadt Bonn. Ein zentraler Punkt war die Idee der vertikalen Teilung der Regierung: Die in Bonn mit Hauptsitz verbleibenden Ministerien sollten Ankerpunkte für sektorale Cluster bilden, Wissenschaftsstadt mit allen Wissenschaftsorganisationen, Entwicklungs- und Umweltministerium als Partner für UNO-Sekretariate. Hinzu kamen die Mittel aus dem Bonn-Berlin-Ausgleich zur Finanzierung verschiedener Projekte. Dazu gehören die Fachhochschule Rhein-Sieg, die Stiftung caesar, Universitätsinstitute und einige weitere wissenschaftliche Einrichtungen, auch das BICC (Bonn International Institute for Conversion). Ausgehend von Willy Brandts Anregungen sollte es die Erfahrungen von Konversion und Strukturwandel auf nationaler und internationaler Ebene sammeln, die Zusammenarbeit fördern und Friedenspolitik ökonomisch untermauern. Während Du Dich auf Bundesebene mit Friedenssicherung
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durch internationale Verträge befasstest, steuerte das BICC aus NRW Grundlagenwissen zu einschlägigen Verträgen bei, z. B. über Kleinwaffen und Landminen. Immer umstritten, aber letztlich prägend und erfolgreich gelang es, Nordrhein-Westfalen als „dichteste Hochschullandschaft Europas“ zu positionieren. Wie deutlich die Themen Forschung und Hochschulen profilbildend für Innovation und Modernisierung, für den Strukturwandel, für das „Narrativ“ des Landes geworden waren, kann man erkennen, wenn man die Regierungserklärungen von 1985 und 1990 vergleicht. Im Jahr 1985 behandelte Johannes Rau das Thema eher defensiv, fast entschuldigend, 1990 dagegen offensiv und positiv: „Heute bestreitet niemand mehr: Nordrhein-Westfalen ist die dichteste Hochschullandschaft Europas. Diese Investitionen haben sich zu einem zentralen Aktivposten bei der Erneuerung unseres Landes entwickelt. Gut ausgebildete junge Leute sind für die Zukunft unseres Landes von entscheidender Bedeutung. Forschung ist der neue Rohstoff Nordrhein-Westfalens.“
Im selben Jahr bist Du nach zwölf Jahren aus der Landesregierung ausgeschieden, was ich sehr bedauerte. In den folgenden Jahren bis 1998 standen für mich neben Aus- und Umbau von Hochschulen vor allem innere Reformen auf der Tagesordnung. Auch deshalb wurde NRW zu meiner Überraschung und Freude in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung das „Land der institutionalisierten Reformen“ genannt. Bezeichnend dafür waren Programme wie „Hochschule und Finanzautonomie“ und „Aktionsprogramm Qualität der Lehre“. Mit dem „Lise-Meitner-Programm“, einem Habilitationsprogramm für hervorragende Wissenschaftlerinnen und dem „Netzwerk Frauenforschung“ bestehend aus Frauenprofessuren unterschiedlicher Fachrichtungen und Fragestellungen konnten wir gegen zunächst etlichen Widerstand bundesweit einen kräftigen Akzent setzen. Viel Aufmerksamkeit erhielt der Kampf um Studiengebühren. Im Jahr 1970 war die Abschaffung von Studiengebühren so unbestritten wie das Bürgerrecht auf Bildung. Ungefähr 20 Jahre später – 1992 – kam die Gebührenfrage wieder auf die Tagesordnung. Der Wissenschaftsrat brachte mit Thesen zur Entwicklung der Hochschulen Studiengebühren in die Diskussion. Ich habe in meiner Amtszeit dazu eine klare Position eingenommen und erklärt „mit mir nicht“. Dazu habe ich eigene elf Thesen für ein Studium ohne Gebühren formuliert, die heute noch im Netz zu finden sind, und ich war dankbar, dass ich die Unterstützung des Ministerpräsidenten erhielt. Ab 1990 hast Du die Landespolitik noch einige Jahre im SPD-Landesvorstand als stellvertretender Landesvorsitzender begleitet, den Schwerpunkt Deiner Tätigkeit aber im Bundestag, in der Außenpolitik gefunden, nachdem „Deine“ IBA auf dem Weg und in guten Händen war. Wir begegneten uns nun vor allem – wie schon in den Jahren zuvor – in unterschiedlichen Rollen und Funktionen in den Gremien der SPD, auf Konferenzen sowie im Landes- und Bundesvorstand. Das zu kommentieren und aufzuzeigen, mit wem wir uns jeweils herumstritten, würde zu weit führen, zumal wir zwar politisch ähnliche Positionen links von der Mitte vertraten, jedoch in unterschiedlichen Themen und Arbeitszusammenhängen. 733
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Sehr erfreut war ich als damalige mittelrheinische SPD-Bezirksvorsitzende, dass Du bereit warst, in Heinsberg für den Bundestag zu kandidieren. Das war doppelt gut für uns, nicht nur weil Heinsberg einen hervorragenden und erfahrenen Kandidaten für den Bundestag bekam, sondern auch eine Chance, im Bundestag vertreten zu sein. Als stellvertretender Landesvorsitzender brachtest Du einen Listenplatz für die SPD nach Heinsberg; denn der Wahlkreis war nicht direkt zu gewinnen. Heinsberg ist ein ländlicher Kreis an der Grenze zu den Niederlanden und war zu jener Zeit stark geprägt von der Schließung der letzten Zeche Sophia Jacoba und von den Nöten des Kohlerückzugs. Das war für Dich kein neues Thema. So sind wir dort in Wahlkämpfen zusammen über Land gezogen, zu Fuß und per Fahrrad, von ökologisch geführten Bauernhöfen zu kommunalpolitischen Rundgesprächen und Arbeitnehmertreffen. Bei Deiner zweiten Kandidatur für den Bundestag 1995 war es etwas schwieriger. Wir „Mittelrheiner“ wollten Dich nebst Listenplatz erneut ohne Anrechnung. Es gab ein kleines Gefecht zwischen den SPD-Bezirken. Schließlich hat es wie gewünscht geklappt, erst 1995 dank Johannes Rau, dann auch 2000. Dein Wahlkreis war und blieb Heinsberg; und das war gut so. Du konntest Dich weiter der Außen-, Friedens- und Europapolitik widmen sowie dem Strukturwandel und der Stadtentwicklung weltweit. Seit 2005 ging das wieder von der Universität Dortmund aus, während ich als Abgeordnete und zuletzt als Vorsitzende im Haushalts- und Finanzausschuss die Landespolitik begleitete und seit 2010 überwiegend privatisiere. Das Interesse an lokalen und kommunalen Themen hat mich immer begleitet, zumal die Volksvertretung für mich eine Quelle von Inspiration und immer neuen Erfahrungen war. Deshalb habe ich mich auch im Jahre 2000 auf eine wenig aussichtsreiche und letztlich erfolglose Kandidatur als Oberbürgermeisterin in Köln eingelassen. Unsere Politikbiografien verliefen zwar über ein halbes Jahrhundert freundschaftlich parallel und doch sehr unterschiedlich. Was würde ich mir heute als Zukunftsprojekt wünschen und der Landespolitik vorschlagen? Meine Antwort: Warum nicht eine IBA für das rheinische Braunkohlerevier in dem Hexagon zwischen Aachen, Heinsberg, Mönchengladbach, Düsseldorf, Köln und Bonn mit Jülich im Zentrum? Warum nicht alle Kräfte der Wissenschaft, der Kommunen, der regionalen Wirtschaft und der Politik zusammenfassen? Warum nicht Kriterien, Handlungslinien und Vorschläge entwickeln, die vorgesehenen Mittel danach verteilen und die Arbeitsplätze sowie die Lebensqualität der Zukunft in den Blick nehmen? Allerdings würde ich erst einmal möglichst alle infrage kommenden Flächen zumal von der RWE AG kaufen. Spätestens nach 30 Jahren würde ich beginnen, europäische und andere Darlehen durch Verkauf von Liegenschaften zu tilgen. Da ich das nicht mehr erleben werde, brauchen wir weitsichtige junge Menschen, die ihre neuen Ideen und unsere Erfahrungen im Strukturwandel nutzen und die aktuellen Krisen als Chance und Gestaltungsauftrag verstehen.
Sieben Begegnungen mit Professor Christoph Zöpel Krysztof Kafka
Erste Begegnung Herrn Professor Christoph Zöpel kenne ich – das muss ich zugeben – seit relativ kurzer Zeit, seit etwa fünf Jahren. Alles begann im Herbst 2015 im polnischen Gliwice. In dieser Stadt, im früheren deutschen Gleiwitz, besteht eine im Jahr 1945 gegründete Technische Universität – Politechnika Śląska. Es ist die älteste Hochschule Oberschlesiens und zugleich die bisher einzige technisch profilierte staatliche Hochschule dieser Region. Neben vielen Grundlagen- und Ingenieurwissenschaften existiert hier auch die Fakultät Architektur, die Studierende auf dem Gebiet Architektur und Stadtplanung ausbildet. In diesem Fachgebiet sind auch Raumplanung und Raumbewirtschaftung einbegriffen. Professor Zöpel hatte im Herbst 2015 Kontakt mit der TU Gliwice aufgenommen. Es sei zu betonen, dass es einzig und allein seine Initiative war. Die Beweggründe dafür können wir heute nur erahnen, aber es ist anzunehmen, dass einer davon das Interesse des Professors für Fragen der räumlichen Entwicklung postindustrieller Regionen war. Beim ersten Treffen mit Professor Zöpel waren nur Professor Krzysztof Gasidło – Leiter des Lehrstuhls für Stadtplanung und Raumplanung – und Professor Zbigniew Kamiński – Dekan der Fakultät für Architektur – anwesend. Diese erste höfliche Begegnung löste eine Reihe von inhaltlich bedeutsamen Vorgängen und Ereignissen aus. Es ist mir bekannt, dass dies nicht Professor Zöpels erster Besuch in Gliwice war, es hatte zuvor schon einige gegeben. Ich glaube, dass diese Stadt für ihn eine besondere Dimension hat. Hier ist er geboren – im Krankenhausgebäude, das bis heute besteht. Ein einfacher, aber recht ansehnlicher Ziegelbau, von denen es in Gliwice viele gibt – Teil der Geschichte und des Erbes der Vorkriegsstadt Gleiwitz. Das Leben und die Erfahrungen mehrerer Generationen trennen das damalige Gleiwitz vom heutigen Gliwice. Es sind verschiedene Städte. Andere Menschen, andere Geschichten. Ob ein Gefühl für die Stadt einen Einfluss auf die Aktivitäten von Professor Zöpel in Gliwice hatte, ist schwer zu beurteilen. Aber soweit ich ihn kenne – und andere, die ihn besser kennen, werden mir hier wohl zustimmen –, kann ich sagen: Professor Zöpel ist nicht sentimental. Die Stadt seiner frühen Kindheit besteht längst nicht mehr. Ich weiß auch, dass er sich nur wenig an diese Zeit erinnert. Wie viele schlesische Familien musste © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_50
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auch er mit seinen Eltern die Stadt verlassen. Viele Geflüchtete haben später nur selten und ungern über ihre Heimat gesprochen, eben weil dies das Heimweh nur verstärkte. Ich kann mir vorstellen, dass Professor Zöpel mehr als vom Gefühl von einer besonders verstandenen Mission geleitet wurde. Ein wirklicher, ehrlicher Wunsch zu unterstützen, seine eigenen Erfahrungen einzubringen und in Bereichen zu teilen, die er gut kennt, sowie das Bedürfnis, sich mit Raum- und Stadtplanern an der TU und mit Studierenden zu treffen. Der Professor liebt den Kontakt zu Studenten und Studentinnen! Am nächsten Treffen nahmen bereits drei gleichnamige Herren teil: Christoph Zöpel, Krzysztof Gasidło – und der dritte war ich, Krzysztof Kafka. Kurz danach wurde ich zum Vertreter des Dekans und danach auch des Rektors für die Zusammenarbeit zwischen der Schlesischen Technischen Universität in Gliwice und der Technischen Universität Dortmund ernannt. Im Dezember desselben Jahres unterzeichneten die Rektoren beider Universitäten eine Absichtserklärung für die Zusammenarbeit, die von der Fakultät für Architektur auf polnischer Seite und der Fakultät Raumplanung auf deutscher Seite umgesetzt werden sollte. Die in der Erklärung festgelegten Kooperationsbereiche waren: Bildung, Forschung und organisatorische Aspekte an der Universität. Beide Seiten waren sich einig, dass die Zusammenarbeit insbesondere die gemeinsame Forschung, den Austausch von Studierenden und Lehrkräften sowie die Möglichkeit gemeinsamer Diplom- und Doktorarbeiten an beiden Universitäten umfassen würde. Professor Zöpel und ich wurden zu Koordinatoren dieser Zusammenarbeit ernannt. In den nachfolgenden Jahren besuchte Professor Zöpel Gliwice mindestens einmal im Jahr. Während seiner Aufenthalte hielt er Vorlesungen für Studierende der Fakultät für Architektur, die auf großes Interessen der Zuhörerschaft stießen. Ihre Themen waren vielfältig, betrafen jedoch meist die Fragen der wirtschaftlichen und räumlichen Entwicklung postindustrieller Regionen. So sahen die ersten Begegnungen aus – von Angesicht zu Angesicht. In den folgenden Jahren gab es, wie schon erwähnt, mehrere davon. Dabei hatte ich die Möglichkeit, Professor Zöpel in verschiedenen Situationen und Kontexten zu treffen. Diese Begebenheiten würde ich als „Begegnungen“ der anderen Art einordnen – es waren vielmehr Entdeckungen eines Menschen, eines Wissenschaftlers, eines Politikers und eines Universitätsprofessors, die ich im Folgenden als symbolische Begegnungen schildern und zusammenfassen möchte.
Zweite Begegnung – Postindustrielle Regionen Industrieregionen, ihre Geschichte, Gegenwart und Zukunft sind sicherlich Themen, die Professor Zöpel am meisten interessieren. Seine wissenschaftlichen Leistungen und praktischen Erfahrungen deuten darauf hin. Ein zentraler Bereich dieser Aktivitäten ist definitiv das Ruhrgebiet. Es ist die Industrieregion Deutschlands, deren Entwicklung durch den Aufschwung der Schwerindustrie – darunter hauptsächlich Bergbau, Stahlindustrie und Energiewirtschaft – initiiert und stimuliert wurde. Zugleich ist es eine Region, die aufgrund
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ihres Ausmaßes in ganz Deutschland einzigartig ist. Daher sind auch die Probleme, mit denen sie konfrontiert war und ist, für das ganze Land erheblich. Die Transformation und Revitalisierung der gesamten Region finden nun seit mindestens 50 Jahren statt. Die erste Steinkohlenmine wurde im Ruhrgebiet Ende der 1950er-Jahre geschlossen. Im Laufe einiger Jahrzehnte haben sich viele Richtungen und Ideen zur Transformation dieser Region entwickelt und gewandelt. Eine Lösung für viele wirtschaftliche und soziale Probleme war die Förderung nichtindustrieller Wirtschaftszweige: neue Technologien, Dienstleistungen, Kultur und Wissenschaft. Umweltprobleme wurden zur wichtigen Herausforderung, die seit den 1980er-Jahren an Bedeutung gewonnen hat. Die Sorge um die Umwelt, die Wasser- und Luftqualität sowie den Landschaftsschutz erwiesen sich als dringendste Aufgaben. All diese Aspekte verhalfen der Region dazu, ein neues Gesicht zu erlangen und ihr Selbstbewusstsein neu zu entdecken. Die meisten Maßnahmen waren hierbei Pionierarbeit. Die IBA – Internationale Bauausstellung Emscher Park – war das Testgelände für die Suche nach optimalen Projekten und organisatorischen Lösungen. Als Teil dessen wurden Konzepte erarbeitet, sowie Architekturprojekte, Stadt- und Raumplanungsarbeiten durchgeführt. Es fanden auch Wettbewerbe statt. Die IBA-Erfahrungen waren nicht nur in Deutschland bekannt, sondern wurden weltweit diskutiert. Eine der wichtigsten Erfahrungen der IBA war es, die Bedeutung der politischen und sozialen Akzeptanz von Transformationen zu erkennen. Einer der aktivsten Befürworter dieser Aufgabe war Professor Christoph Zöpel (Leary & McCarthy 2013). Bereits in den 1980er-Jahren wurde darauf hingewiesen, dass die Transformation der Region unter Berücksichtigung ihres industriellen Erbes erfolgen sollte. Mitte der 1980erJahre stand dann der Zechenkomplex Zollverein in Essen unter Denkmalschutz und Professor Zöpel selbst spielte in diesem Prozess eine wichtige Rolle. Die Geschichte dieses Komplexes zeigt, wie wichtig das Engagement von Menschen ist, die sich des Wertes des industriellen Erbes bewusst sind, aber auch welche Bedeutung Ausdauer und Kontinuität bei Vorgängen haben, die sich über einen längeren Zeitraum erstrecken. Die Arbeiten zum Schutz und zur Neuentwicklungen von Zollverein-Einrichtungen dauern bis heute an. Die diesbezüglichen Erfahrungen von Professor Zöpel sind hierbei einzigartig. Sie wurden viele Jahre lang gesammelt, in denen es sowohl Erfolge als auch wahrscheinlich Misserfolge gab. Der Professor befasste sich mit der Praxis der Umgestaltung der postindustriellen Region, gleichzeitig wurden die damit verbundenen Fragen aber auch zum Erfahrungsfeld und zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschungsarbeiten. Diese Erfahrungen sind von unschätzbarem Wert und es lohnt sich immer, sie zu teilen. Die Probleme der Transformation von Industrieregionen treten nicht nur im Ruhrgebiet auf. Das Interesse des Professors richtete sich auf die englischen West Midlands und schließlich auch auf das polnische Oberschlesien. Und somit schloss sich auch der Kreis von Professor Zöpels persönlicher Geschichte. Oberschlesien ist eine mit dem Ruhrgebiet vergleichbare Region und es gibt überraschend viele Ähnlichkeiten zwischen ihnen. Beide begannen sich ungefähr zur gleichen Zeit innerhalb desselben deutschen Staates zu entwickeln. Diese auf der Schwerindustrie 737
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basierende Entwicklung hat die räumliche Struktur, die Stadtplanung und die Architektur beider Regionen geprägt. Das Siedlungsnetz beider Regionen basiert auf einem Mosaik verschiedener Einheiten – Städte, Ortschaften und Arbeitersiedlungen. Das Ganze schafft eine komplexe und komplizierte räumliche und funktionale Anordnung. Es gibt jedoch noch viel mehr Ähnlichkeiten – auch im sozialen Bereich. Die Transformation von Oberschlesien begann gleichzeitig mit der politischen und wirtschaftlichen Transformation in Polen, d. h. in den frühen neunziger Jahren, etwa drei Jahrzehnte später als in Deutschland. Es hat sich hierzulande bereits viel getan, aber das Erreichen zufriedenstellender sozialer, wirtschaftlicher und räumlicher Ziele ist noch weit entfernt. Trotz vieler schneller und tiefgreifender wirtschaftlicher Veränderungen bleibt der Kohlebergbau eine wichtige Stütze der Energiewirtschaft der Region und des ganzen Landes. Die Lebensqualität in der schlesischen Region entspricht immer noch nicht den Wünschen und Erwartungen der Einwohner. Polen kann und sollte hierbei auf die weitreichenden Erfahrungen Deutschlands zurückgreifen. Die Zeit ist knapp und es treten bereits neue, ernsthafte Bedrohungen und Herausforderungen auf.
Dritte Begegnung – Flusslandschaften Dank Professor Zöpel schloss sich die Emschergenossenschaft als dritter Partner der Zusammenarbeit zwischen unseren Universitäten an. Diese drei Institutionen organisierten zusammen mit dem Marschallamt der Woiwodschaft Schlesien im Sommer 2018 in Katowice eine Konferenz über die Entwicklung der Flussgebiete. An der Konferenz nahmen Vertreter beider Universitäten, Mitarbeiter der Emschergenossenschaft und eingeladene Gemeinden der Schlesischen Woiwodschaft teil. Die Tagung bat eine weitere Gelegenheit, themenspezifische Erfahrungen auszutauschen. Besonders interessant waren die Präsentationen, die die Erfolge des Emscher-Umbaus und dabei verschiedene Aspekte der wasserwirtschaftlichen Modernisierung zeigten. Nach der Konferenz wurde mit Unterstützung der Stiftung für Polnisch-Deutsche Zusammenarbeit eine zweisprachige Publikation veröffentlicht (Kafka et al. 2019).
Vierte Begegnung – Metropole Wie bereits erwähnt, besuchte Professor Zöpel oft Oberschlesien. Das Ziel seiner Visiten waren Katowice, Gliwice und Sosnowiec. Er traf sich mit einer recht großen Anzahl seiner Bekannten, Kollegen und Freunde. Er wurde an Universitäten, in Ämtern und in der Selbstverwaltung auf Gemeinde- und Woiwodschaftsebene begrüßt. In der lokalen Presse erschienen Interviews (N.N. 2012). Professor Zöpel versuchte, seine Erfahrungen überall zu teilen. Er beteiligte sich auch bereitwillig an der in Polen aktuellen Diskussion über die
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Zukunft der postindustriellen Regionen und ihrer Organisation. Während seiner Aufenthalte in Polen hat der Professor wiederholt auf die Notwendigkeit einer interkommunalen Zusammenarbeit hingewiesen, insbesondere in postindustriellen multizentrischen Gebieten wie Oberschlesien. Er wies darauf hin, dass eine solche Zusammenarbeit notwendig sei, da die Überwindung vieler Probleme nur auf supralokaler Ebene möglich sei und über die Grenzen einer Stadt hinausgehen sollte. Er erwähnte, dass die Zusammenarbeit zwischen den Städten des Ruhrgebiets bereits seit hundert Jahren bestehe, der erste interkommunale Verein im Ruhrgebiet wurde 1920 gegründet. Im Laufe der Jahre mussten einzelne Kommunen lernen, dass die Effizienz des gesamten Verbandes von einer guten Zusammenarbeit zwischen den Städten abhängt, aber auch von größeren Kompetenzen, die von den Städten aus auf die interkommunale Ebene übertragen werden. Die Politik der supralokalen Zusammenarbeit liegt im Interesse der Städte und ihrer Bewohner. Die Kooperationspolitik erfordert jedoch nicht nur Unterstützung von Städten, die einen Teil ihrer Zuständigkeiten bedenkenlos an die Behörden der Metropole übertragen sollten, sondern auch von der Zentralverwaltung, die die Finanzierung supralokaler Projekte unterstützen sollte. Ein solches Vorgehen liegt nicht nur im Interesse der Städte, der Region, sondern des gesamten Landes. Gegenwärtig wurde in Polen offiziell bisher ein Metropolverband – die OberschlesienZagłębie-Metropole – gegründet, der einundvierzig Gemeinden in Oberschlesien und der Region Zagłębie umfasst. Dieser Verband besteht erst seit zwei Jahren, seit Januar 2018. Derzeit liegen nur wenige Erfahrungen bei interkommunaler Zusammenarbeit vor. Die ersten Aufgaben der Oberschlesien-Zagłębie-Metropole beziehen sich auf die Reform oder besser gesagt auf die Schaffung eines kohärenten öffentlichen Kommunikationssystems. Kommunikation und insbesondere öffentliche Kommunikation sind laut Professor Zöpel das Rückgrat der Entwicklung von Metropolregionen. Der zweite wichtige Pfeiler ist seiner Meinung nach die Entwicklung der Hochschulbildung. Er selbst bemerkte, dass es in Oberschlesien inzwischen mehr Universitäten als in Warschau gebe. Dies sei eine Grundlage für die Zukunft der Region.
Fünfte Begegnung – die Universität Universitäten sind Zentren für Innovation, Wissenschaftsentwicklung und Kulturschaffung. Diese Funktionen erfüllen sie sowohl im Ruhrgebiet als auch in Oberschlesien. Ich denke, dass die Universität für Professor Zöpel persönlich auch ein bedeutender Ort ist, weil er dort seine Mission verwirklichen und vor allem andere Menschen treffen kann. Ich konnte beobachten, dass Professor Zöpel gerne Unterricht und Vorlesungen an Universitäten hält. Unsere Zusammenarbeit begann mit einem Universitätsaustausch – zuerst fanden Besuche des Professors an der TU in Gliwice statt, dann kamen meine Aufenthalte und Vorträge in Dortmund hinzu. Es gab auch zwei Studentenbesuche – zuerst fuhren polnische Studierende mit ihren Präsentationen im November 2018 nach Dortmund und dann kamen Studierende der TUD nach Schlesien. 739
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Meiner Ansicht nach war jede dieser Zusammenkünfte für beide Seiten sehr wertvoll. Sie schufen die Gelegenheit, Menschen zu begegnen, die sich für die Entwicklung unserer Regionen engagieren. Die Treffen setzten auch kreatives Denken in Gang – sie ließen die jeweilige Region aus einem anderen Blickwinkel, mit den Augen der Gäste sehen. Sie ermöglichten es, Ähnlichkeiten zwischen dem Ruhrgebiet und Oberschlesien selbst zu entdecken und sich dadurch auch der Unterschiede bewusst zu werden. Ich erinnere mich gut an den Besuch deutscher Studierender in Oberschlesien. Sie kamen mit einem bestimmten Projekt und Plan hierher. Das Thema des Projekts war die Einschätzung der Auswirkungen von Universitätszentren auf die Städteentwicklung. Die Studierenden besuchten in Begleitung des Professors die akademischen Zentren – die TU in Gliwice sowie die Schlesische Universität in Katowice und Sosnowiec. Sie bewerteten und verglichen, wie groß diese Universitäten sind, wie weit ihre didaktischen und wissenschaftlichen Aktivitäten reichen. Sie untersuchten, wie sich die Universität auf den lokalen Arbeitsmarkt und den Wohnungsmarkt auswirkt und welche Folgen dies auf das Leben der Stadt hat. Die Ergebnisse ihrer Arbeit waren äußerst interessant. Aus meiner Sicht ist sich Professor Zöpel der Bedeutung akademischer Zentren wie kaum eine anderer bewusst. In seinen Beiträgen und Vorlesungen machte er mehrfach auf die Bedeutung aufmerksam, die die Gründung der ersten Universitäten im Ruhrgebiet und in Oberschlesien hatte. Die erste Universität in Oberschlesien war die Schlesische Technische Universität. Sie wurde kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, im Jahr 1945 gegründet. Schon vor dem Krieg wurde lange über den Bau einer Technischen Universität im industriellen Oberschlesien nachgedacht. Die Umsetzung der Idee erfolgte jedoch erst nach dem Krieg. Die Erhaltung und der Einsatz der zur Migration gezwungenen Gemeinschaft polnischer Wissenschaftler der Technischen Universität in Lemberg in der heutigen Ukraine war damals ein dringendes Anliegen und schuf einen ersten Impuls dafür. Die erste Hochschule im Ruhrgebiet wurde nur wenig später, 1954 in Essen, gegründet. Die diesbezüglichen Ähnlichkeiten sind überraschend: In beiden Regionen wurden etwa zur gleichen Zeit mehrere Universitäten gegründet. Derzeit zeichnen sich beide Regionen durch ein sehr gut ausgebautes Netz von Universitäten mit unterschiedlichen Profilen aus – technisch, humanistisch und medizinisch, bildende Kunst und Musik. In beiden Regionen sind Universitäten ein anhaltender und starker Impuls für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung. Sie beeinflussen Städteentwicklung und die gesamte Region. Zweifellos war Gliwice eine Stadt, die1945 eine Art Revolution erlebte. Dies resultierte jedoch nicht nur aus der Tatsache, dass sich die geopolitische Situation änderte und die Stadt plötzlich innerhalb der Grenzen Polens lag, sondern auch auf der anderen Seite daraus, dass es danach eine akademische Stadt wurde. Die Position von Gliwice als eines der beiden stärksten Zentren der Region neben Katowice ergibt sich größtenteils aus dieser Tatsache. Die Universität ist sicherlich Professor Zöpels Universum. Hier kann er anderen Wissenschaftlern und vor allem Studierenden begegnen und sich mit ihnen austauschen. Oft habe ich seine guten Kontakte zu Studierenden sehen können. Es muss einfach betont werden: Der Professor mag junge Menschen, mag die Studierenden! Er tritt mit ihnen in den Dialog, diskutiert mit ihnen gern fachliche Themen, ist dabei immer freundlich und
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zuvorkommend, und bewahrt gleichzeitig das nötige Maß an Distanz, die das Verhältnis von Professor und Studierenden kennzeichnen sollte. Im Jahr 2018 besuchte eine große Gruppe polnischer Studierender das Ruhrgebiet und die Technische Universität Dortmund. Hierzu möchte ich eine Episode erwähnen. Die polnischen Gäste nahmen kurz nach ihrer Ankunft und nach der ermüdenden nächtlichen Reise an einem Treffen im Dortmunder Rathaus teil. Der Professor bot allen frische Croissants aus der Bäckerei an, die er besorgt hatte.
Sechste Begegnung – der Mensch Während der Jahre unserer Zusammenarbeit hatte ich die Gelegenheit, Professor Zöpel in Begegnungen mit Vertretern der Behörden, Universitätsangestellten und Studierenden zu sehen. Er war dabei immer offen und bereit für ein ehrliches, sachliches Gespräch. Weniger interessiert war der Professor an Treffen von rein höflicher Natur, vielmehr an denen, die es den Partnern ermöglichten, ihre Ansichten darzulegen und auszutauschen. Der Professor wollte gern Menschen treffen, die bereit waren, seiner Erfahrung zu vertrauen, in Besprechungen würde er jedoch niemals seine Überlegenheit demonstrieren. Er hört immer gespannt zu, was der Gesprächspartner zu sagen hat. Seltener gab es die Gelegenheit, den Professor in persönlichen Situationen zu sehen. Ich war nur einmal bei Herrn Professor Zöpel und seiner Ehefrau zu Hause. Allerdings durfte ich Professor Zöpels Gattin schon früher kennenlernen, bei einem gemeinsamen Besuch in Oberschlesien. Sie ist eine äußerst liebeswerte und fürsorgliche Person, die viel Verständnis und Respekt für die Aktivität ihres Mannes hat.
Siebtes Treffen – die Zukunft Was interessiert Professor Zöpel wohl am meisten? Ich denke, es ist die Zukunft. Der Professor schaut kaum zurück. Er erinnert sich selten an die Vergangenheit in seinem Leben. Er erwähnt seine Kindheit in Gliwice nicht oft, versucht auch nie, in seiner persönlichen Geschichte eine Rechtfertigung für fachliche Entscheidungen und Maßnahmen zu finden. In beruflicher Hinsicht ist es ähnlich. Er ist sich selbstverständlich dessen bewusst, dass die Situation in Schlesien oder im Ruhrgebiet sehr stark von der wirtschaftlichen und politischen Geschichte geprägt ist. Man sollte dies im Gedächtnis behalten und akzeptieren. Wichtiger sind für den Professor jedoch die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft. Und deren gibt es viele. Um diesen Herausforderungen gerecht zu werden, muss man sie gut kennenlernen. Die Rolle und Position, die unsere Industrieregionen in der Phase der rapiden industriellen Entwicklung erreicht haben, ist so auf Dauer nicht zu halten. Professor Zöpel meint, nur 741
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Handelsstädte, insbesondere Hafenstädte, sowie historische Verwaltungszentren, insbesondere Hauptstädte, können ihre Position über lange Zeit behaupten. Mit dem Abbau der Schwerindustrie verlieren Industrieregionen ihre Bedeutung. Ihr Stellenwert – genau wie der einer Stadt, Region oder eines Landes – ist nicht ein für allemal gegeben. Die Aufrechterhaltung der Position erfordert eine kontinuierliche Weiterentwicklung auf konstantem Niveau. Zeiten der Transformation bewirken hierbei eine Umwandlung. Professor Zöpel bemerkt, dass Industrieregionen im Zusammenhang mit wirtschaftlichen Transformationen ihre Bedeutung ebenso verlieren, wie europäische Länder und der gesamte Kontinent seinen Stellenwert im Zusammenhang mit dem globalen wirtschaftlichen und demografischen Wandel verlieren. Diese Veränderung und Transformation erfordert viel Aufwand über viele Jahre. Um sich diesen Erscheinungen zu stellen, müssen wir uns der unumkehrbaren Veränderungen bewusst sein. Es gibt schließlich Probleme, vor denen nicht nur die Einwohner Schlesiens oder des Ruhrgebiets stehen, auch nicht nur die Einwohner Deutschlands oder Polens. Es entstanden inzwischen Herausforderungen globaler Art. Globale demografische, soziale und schließlich ökologische Veränderungen wie der Klimawandel sind eine Herausforderung für die gesamte Menschheit. Wir können sie bewältigen, wenn wir das dementsprechende Bewusstsein stärken und gemeinsame Anstrengungen unternehmen. Dadurch entstehen Aufgaben für Volkswirtschaften, Gesellschaften, Politiker, aber auch Wissenschaftler und professionelle Raumplaner. Was erwartet uns als Nächstes? Ich hoffe auf weitere Begegnungen, auf eine weitere fruchtbare Zusammenarbeit mit Professor Christoph Zöpel. Ich möchte, dass sie sich mindestens so gut wie bisher entwickelt. Es gibt noch viel zu tun. Ich weiß, dass der Professor viel Energie hat, um weitere Aufgaben zu ergreifen. Wir haben bereits Pläne dafür. Es gibt Aspekte, in denen wir uns – mich und den Professor – unterscheiden: Alter, Vergangenheit, Erfahrungen. Das, was uns verbindet – Schlesien, Raumplanung, die Tätigkeit an Universitäten (und schließlich der Vorname) – ist eine gute Basis, um effektiv zusammenzuarbeiten und optimistisch in die Zukunft zu blicken. (Übersetzung: Gabriela Szewiola)
Literatur Kafka, K., Paetzel, U., & Zöpel, Ch. (2019). Wywania ekologiczne w regionach poprzemysłowich – Górny Śląsk i Zagłębie Ruhry Rewitalizacja rzek w aglomeracjach miejskich [Ökologische Herausforderung in den Montanregionen Oberschlesien und Ruhr. Revitalisierung von Flüssen in urbanen Ballungsräumen]. Leary, E. M., & McCarthy, J. (2013). The Routledge Companion to Urban Regeneration. Abingdon: Routledge. N.N. (2012). Prof. Zoepel w rozmowie z Twarogiem: Górny Śląsk jak Zagłębie Ruhry. 02. November 2012. Dziennik Zachodni.
Zur richtigen Zeit am Puls der Zeit Horst Gräf
Wir „Mit-Arbeiter“ im Ministerium hatten den Eindruck, mit Zöpel im richtigen Moment am Puls der Zeit zu sein, in einem neu gegründeten Zukunftsministerium. Ministerpräsident Rau hatte erstmals in der Kabinettgeschichte Nordrhein-Westfalens die regierungspolitische Verantwortung für Kommunales in einem Ministerium für Landes- und Stadtentwicklung gebündelt und Zöpel beauftragt, das politische Konzept für die urbane Erneuerung der Städte und den Erhalt einer lebenswerten Wohnumwelt zu entwickeln sowie der Stadtpolitik einen neuen Rang in der Landespolitik zu verschaffen (Rau 1980). Zöpel hatte mich, zuvor in der Regierungszentrale zuständig für finanzpolitische Koordination und Landesentwicklung, damit beauftragt, das Ministerium organisatorisch und personell aufzubauen, umgehend eine politisch handlungsfähige Administration zur Durchsetzung seines politischen Auftrages zu organisieren, vor allem um die Kooperation von Staatshochbau und Städtebau zum integrierten Instrument der behutsamen Stadterneuerung zu optimieren. Die Umstrukturierung der westdeutschen Industrie- zur globalen Wissensgesellschaft war im Ruhrgebiet mit Gründung von Hochschulen und mit dem Entwicklungsprogramm Ruhr 1968–1973 eingeleitet, aber bis zum Beginn der achtziger Jahre noch nicht in der kommunalpolitischen Ebene angekommen. Kommunalpolitik war der Appendix der Innenpolitik mit Garantie der kommunalen Selbstverwaltung in eigenen Angelegenheiten. Das industriehistorische Erbe der Trennung von Politik und Wirtschaft war weder in der Stadtentwicklung noch in der Kommunalaufsicht überwunden. Autonome Stadtpolitik war begrenzt operabel. Für die Stadtentwicklung der BRD war ungeschrieben prägend, was die DDR mit dem Aufbaugesetz von 1950 in den Grundsätzen des Städtebaues für die Planung und den Bau der Städte gesetzlich festgelegt hatte: „Die Städte werden in bedeutendem Umfang von der Industrie gebaut.“ Die in Planungseuphorie der siebziger Jahren verbreiteten Versuche einer stadtpolitischen Begleitung der Industriepolitik des Landes durch integrierte kommunale Entwicklungsplanung war an der fortwirkenden Dominanz der Montanbetriebe im Grundstücksmarkt und somit im Städtebau, an dem die Integration hemmenden Planungszentralismus durch vertikale verbundene „Fachbruderschaften“ und an der imperialistischen Politikverflechtung durch stadtentwicklungspolitisch unkoordinierte Zweckzuweisungen und Förderprogramme gescheitert. Ebenso gescheitert aber waren auch die in der Staatskanzlei © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_51
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institutionalisierten Versuche des Landes, den anstehenden kommunalen Strukturwandel durch ein räumlich flächendeckendes, zeitlich und finanziell abgestimmtes mittelfristiges Handlungsprogramm der Regierung zu steuern. Friedrich Halstenberg, Chefplaner der Landesregierung, Nestor der nordrhein-westfälischen Entwicklung von Raumordnung und Landesplanung zur integrierten Landesentwicklungspolitik und Initiator des NordrheinWestfalen-Programms 1975, hatte die Staatskanzlei verlassen und 1975 das Finanzressort übernommen. Die Fortschreibung der integrierten Regierungsplanung durch ein zweites Nordrhein-Westfalen-Programm 1980 mit stärkerer Konzentration auf die Stadterneuerung war an der liberalen Planungsgegnerschaft in der sozial-liberalen Koalition gescheitert, aber auch mit der Hinwendung der raum- und politikwissenschaftlichen Steuerungsdebatte zum kooperativen Staat und dem zunehmenden Konfliktpotenzial auf lokaler Ebene nicht mehr vermittelbar. Mit der zunehmenden „Unwirtlichkeit“ der von industrieller Stadtplanungshegemonie und anonymen Bauherrensyndikaten aus ihren historischen Wurzeln gelösten und vom Verlust ihrer sozialen, ökologischen und kulturellen Urbanität geprägten Stadtstrukturen in ihrer „Anstiftung zum Unfrieden“ (Mitscherlich 1969) stand die „Rückeroberung der Stadt durch ihre Bürger“ (Voggenhuber 1988, S. 148) auf der politischen Prioritätenliste. Bürgerinitiativen mobilisierten gegen Flächensanierung und Bodenspekulationen, vor allem gegen den Abriss von Arbeitersiedlungen, nach Ende des Bergbaus nicht mehr benötigte Bergbauinfrastruktur, sondern als renditeorientierter Immobilienbesitz der Bergbauunternehmen Marktfeld von Abriss und stadtentwicklungspolitisch ungesteuertem Wohnungsneubau. Die 1976 auf dem Kongress zur Erhaltung von Arbeitersiedlungen in Gelsenkirchen erhobene Forderung, Städtebau und Wohnungswesen wegen ihrer fundamentalen Bedeutung für die Sozialstruktur in einem eigenen Ministerium zu organisieren und so die horizontale Fragmentierung der landes-, stadtentwicklungs- und hochbaupolitischen Instrumente auf Regierungsebene zu beenden, war in der sozial-liberalen Koalition mit den Vorstellungen des sozialen Koalitionspartners über die innenpolitische Sicherung der kommunalen Freiheit nicht durchsetzbar. Aber es gelang Ministerpräsident Rau, den Paradigmenwechsel zu kooperativem Staatshandeln und zu Urban Government mit der in seiner Regierungserklärung vom 29. September 1978 angekündigten und 1979 durchgeführten Ruhr-Konferenz durch konkrete Projekte zu manifestieren. Wichtigstes Ergebnis war der Anfang 1980 im Landeshaushalt etablierte Grundstücksfonds Ruhr. Er öffnete der Stadtpolitik den bisher nahezu verschlossenen Zugriff auf die industriellen Brachflächen. Die Weichenstellung für eine Konzentration der Landespolitik auf Stadterneuerung und Wohnumfeldverbesserung in kultureller Urbanität war erfolgt. Nachdem die Landtagswahlen im Mai 1980 zur absoluten Mehrheit der SPD und zum Ausscheiden der FDP geführt hatten, konnte Ministerpräsident Rau kommunalpolitische Kompetenzen aus dem Schatten der Innenpolitik und der fragmentierten Ressort-Fachbindungen lösen und ein eigenes Ministerium für Landes- und Stadtentwicklung gründen. Der administrative Aufbau des Ministeriums bedeutete mehr als nur die nach Kabinettumbildung übliche Zusammenfassung bürokratisch funktionierender Fachabteilungen zur Fortsetzung ihrer Arbeit nach eingeübten Ritualen unter einem neuen Firmenschild.
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Erstmals waren die bislang auf Regierungsebene fragmentiert in verschiedenen Ressorts operierenden zentralen kommunalen Rechts- und Förderbereiche konzeptionell auf ein gemeinsames, die „Stadterneuerung in der Industrielandschaft“ (Zöpel 1980) konzentriertes Verwaltungshandeln auszurichten. Für mich war das neue Ministerium die Herausforderung, die im Regierungssystem zur institutionalisierten Bastion des vom politischen Leadership Zöpel zu gestaltenden Wandels der Regierungspolitik von einem bislang in der Bergbau- und Stahlkrise vorwiegend hierarchisch intervenierenden Staat hin zum kooperativen und „lokalen Staat“ der globalen Wissensgesellschaft auszubauen. Dem entsprachen erste Vorgaben Zöpels für die künftige Aufbau- und Ablauforganisation. Erstens war neben den übernommenen Abteilungen Wohnungsbau, Staatshochbau, Bauaufsicht und Bautechnik eine weitere neue Abteilung mit den Bereichen Städtebau, Städtebauförderung, Denkmalpflege, Verkehrsberuhigung, Stadtökologie und Freizeitpolitik als zu etablieren. Karl Ganser wurde Leiter der strategischen Kernabteilung und formierte mit Zöpel die strategischen Ziele für die Stadterneuerungspolitik und die operativen Maßstäbe ihrer Umsetzung nach dem Grundmodell des „Perspektivischen Inkrementalismus“ (Ganser 1991). Zweitens war zur zukunftsorientiert und wissenschaftlich abgesicherten Koordination der für die Stadtpolitik jenseits des Ressorts bedeutsamen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen in der Zentralabteilung eine Gruppe für politische, technische und volkswirtschaftliche Grundsatz- und Forschungsangelegenheiten einzurichten. Drittens forderte Zöpel, die Organisation des Hauses auf perfekt absolute Professionalität des Verwaltungsapparates, rechtliche Sicherheit sowie finanzwirtschaftliche und Prinzipientreue im ministeriellen Backoffice auszurichten. Die Autonomie einer geräuschlos funktionierenden ministeriellen Verwaltung betrachtete Zöpel als zwingende Grundlage seiner politischen Führung. Viertens war es Zöpels Forderung, mithilfe einer entsprechenden Ablauforganisation sicherzustellen, dass in jeder Fachabteilung Klarheit über den konkreten Stand der operativen und strategischen stadtentwicklungspolitischen Ziele präsent bleibt und der Minister jederzeit über das operative Handeln der Fachabteilungen informiert ist. Dabei entsprach der Rückgriff auf die übliche administrative Hierarchie nicht Zöpels politischem Führungsverständnis, sondern dem des persönlichen Austauschs vor jeder seiner Entscheidungen. Montags war Anwesenheitspflicht zur Diskussion über alle anstehenden Probleme in einer abteilungsübergreifenden Lagebesprechung, soweit geboten mit Referenten und Sachbearbeitern. Die Übergänge des Städte- und Wohnungsbaus aus dem Innenministerium, der Landesplanung aus der Regierungszentrale, der Denkmalpflege aus dem Kultusministerium und der Staatshochbauverwaltung aus dem Finanzministerium in das neue Ressort und das darin angelegte Potenzial zur Änderung der landespolitischen Strategie von der flächendeckenden Steuerung zu einer vom „Urban Management“ getragenen projektorientierten Perspektivplanung blieben in der überwiegend auf den Stellenplan des Ministeriums fokussierten haushaltspolitischen Debatte weitgehend unbeachtet (Debatte zum neuen Ministerium in der Lesung zum Nachtragshaushalt 1980: N.N. 1980). Die Notwenigkeit 745
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der Bildung eines Ministeriums für Landes- und Stadtentwicklung blieb unbestritten. Die anfängliche Skepsis der Kulturpolitiker über den Verlust der Denkmalpflege war alsbald der Einsicht gewichen, dass die Denkmalpflege wie in ihren preußischen Anfängen unter Schinkel in der preußischen Oberbaudeputation ressortierend wieder mit der Verantwortung für Staatshoch- und Städtebau verbunden wurde. Denkmalschutz wurde als tragendes Element der erhaltenden Stadterneuerung angesehen. Seine Verzahnung mit der Stadtentwicklungspolitik führte zur Erhaltung und Nutzung des industriellen Erbes in der Entwicklung der Emscherzone zum „Nationalpark der Industriekultur“ (Englert 1999). Raumordnung und Landesplanung wurden mit ihren Kompetenzen zur Steuerung von Freiraumgestaltung, Landschaftsplanung und Umweltschutz als notweniger Faktor der ökologischen und nachhaltigen Stadterneuerungspolitik goutiert. Und für die Ressortzuordnung des Staatshochbaus war die Warnung von Adolf Arndt, es sei ein „Unheil, Bauverwaltung in die Gefangenschaft des Finanzministeriums zu geben“ (1961, S. 27) präsent geblieben. Allein im Übergang der Verantwortung für den Staatshochbau vom Finanzministerium in das Ministerium für Landes- und Stadtentwicklung aber fand die parlamentarische Opposition Angriffsoptionen. Dies nicht in Diskussionen über das stadtentwicklungspolitische Potenzial der staatlichen Bauverwaltung für die Stadtentwicklungspolitik, sondern als willkommene Gelegenheit, mit Zöpel persönlich den nunmehr politisch Verantwortlichen für die Bauzeitverzögerungen und unkontrolliert gestiegene Baukosten im Allgemeinen und insbesondere des Klinikums Aachen in das Visier eines Untersuchungsausschusses nehmen zu können. Zöpel aber sah seine Politik mit einem Untersuchungsgegenstand konfrontiert, für den ihm keine politische Verantwortung angelastet werden konnte. Bauzeitverzögerungen und Kostensteigerungen hatten unter der Ägide ausgerechnet des Finanzressort den Ruf der staatlichen Bauverwaltung lädiert. Bauzeitverzögerungen und Kostensteigerungen beim Klinikum Aachen waren das Ergebnis einer fehlgeschlagenen Privatisierung im Hochschulbau. Bauherrenverantwortung, Planung und Bau des Klinikums waren 1969 der Hochschulbau- und Finanzierungsgesellschaft mbH übertragen worden. Planung und Bau des Klinikums waren somit in seinem städtebaulichen und architektonischen Konzept nicht mehr zu ändern und in übereinstimmendem politischen Konsens nach Auflösung der Hochschulbau- und Finanzierungsgesellschaft durch die Staatshochbauverwaltung in dem bis dahin gestiegenen Kostenrahmen fertigzustellen, obwohl es im Standort außerhalb der Stadt, in der Dimension und der Industriearchitektur diametral dem Konzept Zöpels von erhaltender Stadterneuerung „lieber kleiner als zu groß“ widersprach. Die persönlichen Angriffe der Opposition haben Zöpel in seiner Abneigung gegen jegliche Privatisierung öffentlicher Aufgaben bestärkt. Zur politischen Klärung hat der Untersuchungsausschuss nicht beigetragen, wohl aber zu – wohl auch gewollten – Belastungen der Administration und der Ausrichtung der staatlichen Hochbauverwaltung auf die Ziele der Stadtentwicklung. Ausgerechnet in der Aufbauphase war der Einsatz der staatlichen Hochbauverwaltung als Instrument der Verflechtung von staatlichem und kommunalem Bauen durch Beseitigung der Altlasten und Neuaufbau von Aufbau- und Ablauforganisation gehemmt.
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Für die politische Strategie Zöpel war der Staatshochbau ein zentraler Baustein im Konzept der erhaltenden Stadterneuerung. In keinem anderen Bereich entsprach die Verbindung historischer Dimensionen und Zukunftsorientierung so sehr den politischen Zugängen Zöpels zur Politik wie im Staatshochbau. In keinem anderen Bereich der Stadtentwicklung sind staatliches und kommunales Handeln so sehr verflochten wie im Staatshochbau. Bereits in der Regierungserklärung vom 4. Juni 1980 hatte Ministerpräsident Rau gefordert: „Auch das Land muss bei seinen eigenen Bauten künftig stärker auf das Ortsbild achten.“ Staatshochbauten waren in allen Epochen der Stadtentwicklung ein prägendes Element der Stadtstruktur, in ihrer baukünstlerischen Gestaltung ein sichtbarer Ausdruck der Bedeutung der Städte in der Landesentwicklung und Ergebnis der jeweiligen verfassungsrechtlichen Verflechtungen von sowohl kommunaler als auch staatlicher Baupolitik. Mit ihrem direkteren Zugriff auf Standort und Architektur ist die Staatshochbauverwaltung elementares Führungsinstrument des Staates als Bauherr in der operativen Umsetzung der strategischen Ziele der Landes- und Stadtentwicklungspolitik. Die Staatshochbauverwaltung aber war auf ihren Einsatz als Instrument der von Zöpel konzipierten Stadtentwicklungspolitik nicht vorbereitet. Sie operierte unter der Leitung ihres obersten Baubeamten im politischen und administrativen Umfeld weitgehend eigenständig, selbstbewusst und als autoritär handelndes Staatsunternehmen, von der Überzeugung getragen, in der Nachfolge und mit der Tradition der preußischen Bauverwaltung das Land als staatlicher Bauherr auch in der Demokratie zu repräsentieren (Hallauer 1984, S. 9–10). Zu den Genen der preußischen Staatshochbauverwaltung gehört Stadtentwicklung. Im aufgeklärten Absolutismus waren es die Fürsten, die mit ihren Vorstellungen von Architektur, dem baukünstlerischen Können der preußischen Baumeister und dem bauorganisatorischen Umsetzungsesprit der Staatshochbauverwaltung die Stadtentwicklung geprägt haben. Auch mit Industrialisierung, nach Konstituierung der kommunalen Selbstverwaltung und Demokratie ist der stilbildende Einfluss der Staatsarchitektur auf die Stadtentwicklung durch das private Bauherrensyndikat von Bürgertum und Wirtschaftslobbyisten, Großgrundbesitzern und Terraingesellschaften als Developer der Gründerzeit bis in den Wiederaufbau der zerstörten Städte nicht überlagert worden. In Wahrung der preußischen Tradition hatte die staatliche Bauverwaltung über alle Zeiten hinweg Objektplanung, Baumanagement, Bautechnik immer auf der Höhe der Zeit gehalten. Das aber wurde ihr stadtentwicklungspolitisches Verhängnis in der Epoche zunehmenden Wirtschafts-, Bevölkerungs- und Städtewachstums nach dem Wiederaufbau. In den ersten Nachkriegsjahren war Staatshochbau noch klassisches Bauhandwerk in ablesbaren historischen Stadtstrukturen, getragen von dem Vertrauen auf die Kraft der Demokratie, stadtbildprägende Staatsbauten der Vergangenheit für die eigene Repräsentation zu adaptieren (Battis 1994, S. 9). Nach der Wiederaufbauphase folgte die staatliche Bauverwaltung der Bauwirtschaft in der Priorität industriellen Bauens in Beton, Rasterfassaden und typisierten Großserien jenseits der Innenstädte. Der Staat hatte als Bauherr seine städtebauliche Leitfunktion verloren. Der baukulturelle Blick galt zunehmend weniger der städtischen Kontinuität als vielmehr einer singulären High-Tech-Architektur und somit der Reduzierung staatlichen Bauens auf „Architektur 747
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statt Städtebau“ (Battis 1994, S. 12). Wie die Preußische Bauakademie Schinkels ist das Klinikum Aachen Zeugnis der High-Tech-Architektur und ein Superbau seiner Zeit. Die Preußische Bauakademie aber war in die Stadtlandschaft integrierte, technisch vollendete Baukunst: Schinkel war Architekt und Städtebauer. Das Klinikum Aachen indes ist Solitär vor den Toren der Stadt, ist Architektur ohne Städtebau und gehört zu den herausragenden Symbolen des Urbanitätsverlustes im Staatshochbau. Die Choreografie preußisch Arkadiens mit Harmonie von Staatsarchitektur, Städtebau, Denkmalpflege und Stadtlandschaft war verloren. Es bedurfte nach Zuordnung der Staatshochbauverwaltung zur Stadtentwicklungspolitik eines Paradigmenwechsels in ihrem Selbstverständnis von einer singulär technikbezogenen Konzentration auf das Bauwerk zur stadtgestaltenden Perspektive staatlichen Bauens. Die Entflechtung von bauwirtschaftlichen Zielen und städtischer Kontinuität staatlichen Bauens an Ruhr und Emscher ist im rheinisch-westfälischen Industriegebiet nicht allein dem Staatshochbau anzulasten. Die Flucht aus der Stadt war auch Folge des mangelnden Zugriffs der Stadtpolitik auf die immensen Brachflächen in den Kernen der Bergbau- und Stahlindustrie. Mit dem Grundstücksfonds Ruhr waren die Grundlagen für den Rückzug staatlichen Bauens in die Stadt gelegt. Im Organisationsplan der Staatshochbauverwaltung wurde „Stadtarchitektur und Stadtentwicklung“ als verbindliches Ziel staatlichen Bauens festgeschrieben. Zum endgültigen Paradigmenwechsel bedurfte es weiterer Reformen. Seit Abwicklung der großen Bedarfsdeckungsprogramme der siebziger Jahre vor allem im Hochschul- und Klinikbau hatte sich in der Staatshochbauverwaltung das Selbstverständnis gefestigt, sie repräsentiere im Staatshochbau den Staat als Bauherr und stehe als größtes Architekturbüro des Landes (Flagge 1984, S. 7) mit „architekturschöpfendem Brain-Trust“ im „Wettbewerb mit freien Berufen“ (Pahl 1984, S. 91). Das aber war Grundlage zunehmender und auch berechtigter Kritik am staatlichen Auftraggeber und seinem Dienstleister Staatshochbauverwaltung sowohl aus der organisierten Architekturszene als auch aus der Bauwirtschaft. Die großen Staatsbauprogramme waren erfüllt. Der organisatorisch und personell überdehnte Apparat der staatlichen Bauverwaltung musste optimiert und den Anforderungen Zöpels an die Ziele der behutsamen Stadterneuerung angepasst werden. Auf der Grundlage von Gutachten der WIBERA Wirtschaftsberatungs AG wurden die für Hochschulbau zuständigen Staathochbauämter und Sonderbauleitungen aufgelöst, die Zahl der allgemeinen Staatshochbauämter reduziert, das Personal bedarfsorientiert abgebaut, die Regeln der Kostenplanung, Terminkontrolle und Projektsteuerung optimiert sowie auf der ministeriellen Leitungsebene die bauspezifischen Verwaltungsbereiche mit der Verantwortung für Organisation, Personal, Justitiariat und Haushalt zum Profit-Center Staatshochbau mit ausschließlicher Konzentration auf die Wahrnehmung der staatlichen Bauherrenfunktion zusammengeführt. Die Konzentration auf die Bauherrenfunktion bedeutete für Zöpel nicht Abstinenz der Staatshochbauämter, mit eigenen Architekturkonzepten an Wettbewerben teilzunehmen. Sein Anspruch war, dass staatliches Bauen im architektonischen Formenrepertoire die anthropologischen Grundbedingungen einer behutsamen Stadterneuerung zu erfüllen
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habe: „lieber kleiner als zu groß“. Die publizierten Vorwürfe, dass die Staatshochbauämter bislang in ihrem Zwiespalt zwischen politischem Kostendruck, Bauökonomie und baukultureller Verantwortung „unter Anleitung des Finanzministers“ nicht mehr zustande gebracht hätten als „Behältnisse für anonyme Administratoren, Rechnungshof-Architektur eben“ (Battis 1994, S. 27), war für Zöpel Anlass, die Ergebnisse staatlichen Bauens in Nordrhein-Westfalens seit 1946 einer kritischen Bilanz durch unabhängige Sachverständige unterziehen zu lassen und die Ergebnisse in einer Publikation des Ministeriums als Beitrag zur Auseinandersetzung über die gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen über Demokratie als Bauherr zu veröffentlichen. Die Publikation einer kritischen Bilanz des staatlichen Bauens ohne Zensur und zumal kurz vor einer Landtagswahl erregte journalistische Aufmerksamkeit (Sack 1985): Sie war für Zöpel nicht nur Gebot politischer Transparenz, sondern auch Maßstab der internen Rückbesinnung des Staatshochbauverwaltung auf ihre stadtentwicklungspolitische Verpflichtung und die stadtentwicklungspolitisch gezielte Umgestaltung des Bauhaushaltes. Begonnene Neubauvorhaben waren fertigzustellen. Das Neubauprogramm aber wurde zugunsten der Bauunterhaltung und Denkmalpflege umgestaltet. Mit dem Bau neuer Staatsbauten durfte nur begonnen werden, sofern die Kosten sachgerecht und nicht unter politischem Druck absehbar unrealistisch in den Ressorts der Nutzer etatisiert wurden; sie waren nach genehmigtem Plan und ohne nachträgliche Änderungen im Raumprogramm oder nach Nutzerwünschen zeitgerecht fertigzustellen. Die Praxis der Nutzerressorts, die Durchsetzung ihrer Bauwünsche gegen baufachlichen Rat mit absehbar zu niedrigem Kostenansatz politisch abzusichern, um dann vorhersehbare Kostensteigerungen der Staatshochbauverwaltung anzulasten, war damit in der Verantwortungszeit Zöpels beendet. Unter Zöpel wurde der neue Landtag des Landes Nordrhein-Westfalen demokratiegerecht in Kooperation von Landtag, Landesbauverwaltung und Stadt geplant, kostensicher disponiert, auf dem Stand der Technik gehalten, in transparentem Baumanagement errichtet und mit singulärer Architektur als Dominante der Stadtentwicklung am Rheinufer in Düsseldorf fertiggestellt.
Literatur Arndt, W. (1961). Demokratie als Bauherr. Berlin: Akademie der Künste. Battis, U. (1994). Demokratie als Bauherrin. Berlin: Humboldt-Universität. http://edoc.hu-berlin. de/18452/2187. Zugegriffen: 29. September 2020. Englert, K. (1999). Nationalpark der Industriekultur. 21. April 1999. Die Welt. https://www.welt.de/ print-welt/article570278/Nationalpark-der-Industriekultur.html. Zugegriffen: 29. September 2020. Flagge, I. (1984). In eigener Sache. In I. Flagge (Hrsg.), Architektur des Staates: Eine kritische Bilanz staatlichen Bauens von 1946 bis heute (S. 7–8). Kleve: Niederrheinische Verlagsauslieferung Boss. Ganser, K. (1991). Instrumente von gestern für die Städte von morgen? In K. Ganser, J. J. Hesse & Ch. Zöpel (Hrsg.), Die Zukunft der Städte (S. 54–66), Baden-Baden: Nomos. 749
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Hallauer, F. (1984). Der Staat als Bauherr – Der Staat als Architekt. In I. Flagge (Hrsg.), Architektur des Staates: Eine kritische Bilanz staatlichen Bauens von 1946 bis heute (S. 9–21). Kleve: Niederrheinische Verlagsauslieferung Boss. Mitscherlich, A. (1969). Die Idee des Friedens und die menschliche Aggressivität : 4 Versuche. Frankfurt am Main: Suhrkamp. N.N. (1980). Opposition vermißt die inhaltliche Konzeption SPD: Beseitigung der Wohnungsprobleme Kernpunkt. Debatte über Nachtragshaushalt 1980 und neues Ministerium. 13. Oktober 1980. Landtag intern, 11(20), S. 3–4. Pahl, J. (1984). Staatlicher Hochbau – Ein Stück Architekturgeschichte. In I. Flagge (Hrsg.), Architektur des Staates: Eine kritische Bilanz staatlichen Bauens von 1946 bis heute (S. 91–104). Kleve: Niederrheinische Verlagsauslieferung Boss. Rau, J. (1980). Regierungserklärung. 04. Juni 1980. https://www.landtag.nrw.de//portal/WWW/ dokumentenarchiv/Dokument/MMP09-2.pdf. Zugegriffen: 29. September 2020. Sack, M. (1985). Bitte um Kritik. Die Zeit, 11. https://www.zeit.de/1985/11/bitte-um-kritik. Zugegriffen: 29. September 2020. Voggenhuber, J. (1988). Berichte an den Souverän. Salzburg: Residenz. Zöpel, Ch. (1980). MLS informiert, 2.
Blicke nach innen – enge Mitarbeiter begeben sich auf Spurensuche Hein Arning, Klaus Bussfeld, Ulrich Giebeler, Horst Gräf, Joachim Henneke, Wolfgang Roters, Gerd Seltmann und Ullrich Sierau Hein Arning et al.
Unerwartetes, vielleicht sogar Überraschendes haben alle erfahren, die Anfang der 80erJahre des vergangenen Jahrhunderts, vor vier Dekaden, beruflich eng mit Christoph Zöpel zusammenarbeiten durften. Wir, diese Mitarbeiter, begeben uns auf Spurensuche, nicht (oder nicht vorrangig) aus Gründen der Nostalgie – so schön sie auch ist. Wir glauben, dass vor vier Dekaden etwas Ungewöhnliches passiert ist, das die Gegenwart weiter prägt und für die Zukunft von besonderer Bedeutung ist. Vor allem Letzteres interessiert uns. Das Ungewöhnliche bestand darin, dass es einen Kairos gab: einen Ministerpräsidenten Johannes Rau, der ganz verschiedene Flügel seiner Sozialdemokratischen Partei zu integrieren verstand und innovative Programmansätze förderte, manchmal auch nur duldete, immer aber schützte; einen jungen, nicht unehrgeizigen Minister Christoph Zöpel; ein Team, von klugen Menschen zu einer hoch engagierten Mannschaft zusammengeschweißt, Horst Gräf vorweg; und nicht zuletzt: eine Notwendigkeit, das Auslaufen der traditionellen Industriegesellschaft und den Übergang in eine Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft politisch-programmatisch zu bewältigen, besonders für Nordrhein-Westfalen und ganz besonders für den Raum an Ruhr, Emscher und Lippe. „Ruhr“ nennt Zöpel diese seine Heimat. Nicht Revier, nicht „Gebiet“, nicht „Pott“: einfach Ruhr. Diese Konstellation ist historisch interessant; noch mehr aber ermöglicht sie Maßstäbe für gegenwärtiges und künftiges Handeln, weit über Ruhr und NRW hinaus, sehr weit. Natürlich lassen sich historische Ereignisse nicht wiederholen. Auch günstige personelle Konstellationen sind nicht beliebig herstellbar. Aber die Rahmenbedingungen für innovative, vernunftgeleitete Politik können sichtbar gemacht und – bei entsprechendem politischen Willen – geschaffen werden. Dazu wollen wir beizutragen versuchen. Das Ungewöhnliche bestand vor vier Jahrzehnten weniger in der Tatsache, dass der „Chef“ im neugegründeten „Zukunftsministerium“ für Landes- und Stadtentwicklung nur wenige Jahre älter war als die meisten von uns. Das war für den einen oder anderen sicher gewöhnungsbedürftig. Minister hatten einfach mindestens eine Generation älter zu sein, „Ochsentour“ und Parteikarriere hinter sich. Ein wirkliches Problem wurde es nicht: dank des besonderen Führungsstils „unseres“ Ministers. Offen und zugleich diskret, einfühlsam und zugleich nicht ohne Distanz – mancher nahm eine gewisse fachliche und intellektuelle Überheblichkeit wahr, aber die kannten ihn nicht; auch mitfühlend, immer fürsorglich und © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4_52
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nahezu kameradschaftlich, ohne kumpelhafte Attitüden, die am allerwenigsten – Grundvoraussetzung für Teambildung. Im Übrigen ein Führungsstil, der Provokationen liebte, wo eine Sache vorangetrieben werden sollte, ohne dass Personen angegriffen wurden, selbst wo er selbst von außen massiv persönlich attackiert wurde. Nie haben wir feindlich geführte persönliche Auseinandersetzungen gegen politische Gegner erlebt, dafür umso härtere in der Sache. Das sagt sich leicht. Es war Wirklichkeit. Ein überzeugter Aufklärer: Aufklärung durch Diskurs. Wer Anschauungsmaterial für die Theorie kommunikativer Kompetenz sucht: Hier ist sie zu finden. Keineswegs ohne anfängliche Unsicherheiten auf allen Seiten. Viel musste improvisiert werden: Büros und Büroeinrichtungen mussten erst einmal beschafft werden – man lebte auf Stühlen ohne Schreibtisch; Personal musste vom Nullpunkt an gewonnen werden – auch aus anderen Ressorts; Verfahren mussten eingeübt werden – der Minister ist nicht der Notar von Entscheidungen der Bürokratie, sondern der, der Entscheidungen herstellt und sie sowohl öffentlich als auch gegenüber dem Parlament verantwortet; und Mentalitäten mussten aufeinander eingestellt werden – Tradition trifft auf Innovation. Bis man merkte: Dies ist ein wertebasierter und insofern konservativer Neuerer, ein Preuße mit wissenschaftlicher Neugierde und ausgeprägter Zukunftsverantwortung. Oder: einer, der leidenschaftlich für vernunftgeleitete, langfristig angelegte und zugleich historisch eingebundene Politik streitet, ohne Scheuklappen, aber mit einer eindeutigen Wertehaltung. Das Unperfekte in diesem programmatisch ganz neu konzipierten Haus war eine ungewöhnliche Chance. Es ermöglichte gemeinsames Lernen, ganz anders als in alten „klassischen“ Traditionsressorts mit einem fest gefügten Beamtenapparat. So entstand in den 80er-Jahren das sicher innovativste Ressort der nordrhein-westfälischen Landesregierung mit intensiver und weitläufiger Ausstrahlung in das föderale Regierungssystem der alten Bundesrepublik Deutschland. Ziemlich schnell wichen Unsicherheit und Improvisation einer beachtlichen Professionalisierung, die ihrerseits weiteres strukturelles und auch persönliches Lernen ermöglichte: Einen auf hohem intellektuellen und programmatischen Niveau startenden, höchst anspruchsvollen Minister weiter „reifen“ zu sehen und ihn dabei begleiten zu dürfen, empfanden wir als Privileg. Es war auch nicht der Umstand, dass ein so junger Mann – Zöpel war, als er Minister im Jahr 1978 wurde, gerade einmal 34 Jahre, und zwei Jahre älter, als ihm ein Schlüsselressort, das für Planung, Stadtentwicklung, Wohnen und Bauen in und für Nordrhein-Westfalen, übertragen wurde – dass ein so junger Mann Erfolg hatte; das war uns, die wir mehr oder weniger mit den Erwartungen und Hoffnungen der Nachkriegsgeneration, für andere mehr noch der 68er-Dynamik, gestartet waren, durchaus willkommen, ja auf der Höhe der Zeit. Ein so junger, ambitionierter Minister war für uns nichts Sensationelles. Es war einfach an der Zeit für einen Generationenwechsel. Und für Neues auf dem Fundament des Bestehenden. Unerwartet war, wie dieser neue Minister arbeitete. Wie er führte. Wie er kommunizierte, nach innen wie nach außen. Was seine Werte waren. Und dass er Konflikte nicht scheute. Einen so mutigen Minister haben wir alle nicht erlebt!
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Wenn wir von „wir“ reden, meinen wir den kleinen Kreis der eng mit Zöpel zusammenarbeitenden Menschen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Mitnichten war dies ein „Küchenkabinett“. Im Gegenteil: Wir haben unter/mit keinem anderen Minister gearbeitet, der so unhierarchisch regierte, der Wert darauf legte, die Auffassungen selbst der Referenten, Hilfsreferenten und Sachbearbeiter des ganzen Hauses in persönlichen Gesprächen kennenzulernen, bevor er entschied. Das war manchmal zeitaufwendig, nicht ohne Irritationen von den Abteilungen kritisch beäugt; aber es war unglaublich effektiv, nicht nur in Bezug auf die Entscheidungsqualität; vor allem war es motivierend für (fast) das ganze Haus und wichtig für das Betriebsklima. Ohne diese besondere Führungskultur wären schwierige, ja schwierigste Situationen nicht zu meistern gewesen. Wie viele Küchenkabinette sind schließlich gescheitert, weil das Haus ungenügend eingebunden war? Und wie viele Minister und Ministerinnen haben Lehrgeld bezahlen müssen? Dass ein so junger Mann wie Christoph Zöpel das alles anders machte, war für uns alle eine Offenbarung! Wir engen Mitarbeiter erlauben uns, die distanziert-objektive, wissenschaftlich-beschreibende Methodik, welche die allermeisten historischen, zeitdiagnostischen und zukunftsorientierten Beiträge dieser Publikation auszeichnet, zu erweitern durch subjektive Eindrücke und persönliche Erfahrungen, keineswegs distanzlos und sicher nicht in der Absicht einer Heldenverehrung. Zur Verklärung von Person und Idealisierung der Politik jener Zeit neigt niemand von uns. Auch im Abstand von Jahrzehnten sind allen von uns Komplexität und Dialektik historischer Ereignisse und Prozesse, auch die Persönlichkeitsstruktur von Menschen zu bewusst, um eindimensionale, unkritische Urteile zu fällen. Hier machen die 80er-Jahre, macht auch die Persönlichkeit Christoph Zöpels keine Ausnahme. Das strukturell Neue in der Auffassung von Staat und staatlicher Verantwortung ist es, was sich im Wirken Christoph Zöpels herauszuarbeiten lohnt. Mit anderen Worten: Uns liegt daran, auch und gerade in der Person Zöpels Maßstäbe guten Regierens und vernunftgeleiteter, verantwortungsvoller Politik zu finden und darzustellen, um damit die fachlichen Beiträge dieses Buches zu ergänzen. Was waren die Anstöße für eine neue Politik? Sie erklären sich aus der bemerkenswert großen Reichweite Christoph Zöpels Denken, und zwar in zeitlicher wie in räumlicher Dimension. Selten vereint ein Politiker ein so tiefes historisches Wissen und ein ausgeprägtes historisches Bewusstsein mit dem unbändigen Interesse an Zukunft. Und selten treffen in einer Person das Lokale – akribisch erforscht – und das Globale – ökonomische, soziale, kulturelle und ökologische Dimensionen einer entstehenden „Weltgesellschaft“ – so eindrucksvoll zusammen. Historie und Zukunft: die tiefe historische Verankerung – ein immenses historisches Wissen, das Konzept der „erhaltenden Stadterneuerung“, Preußen, die Geschichte von „Ruhr“, auch die vorindustrielle –, das beeindruckte jeden, der sich auf einen Dialog mit Zöpel einließ. Ulrich Giebeler, in den 80er-Jahren Leiter der Gruppe „Stadterneuerung und Denkmalschutz“, ab 1990 Leiter der Abteilung „Wohnungsbau und Wohnungswesen“, sieht die historische Verankerung Zöpels so:
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Ich hatte das Glück, sieben Jahre in einem Bereich für CZ zu arbeiten, wo sich seine Orientierung an der Geschichte und besonders der Landesgeschichte besonders deutlich zeigen und beweisen konnte: in der Stadterneuerung und im Denkmalschutz. Das kam auch meinem seit Schülerzeiten nie erloschenen starken Interesse an historischen Ereignissen und Zusammenhängen entgegen. Sein Leitbild der erhaltenden Stadterneuerung wurde Grundlage und Richtschnur der Förderrichtlinien, Förderprogramme und Einzelentscheidungen, die ich mit zu verantworten hatte. Das von ihm initiierte Programm „Historische Stadtkerne“ wurde zum markanten Anwendungsfall und Flaggschiff dieser Stadtentwicklungspolitik. Christoph Zöpel ist in die Landesgeschichte als „der“ Denkmalminister schlechthin eingegangen. Das war er, so denke ich, auch im Vergleich zu den hierfür zuständigen Ressorts in anderen Bundesländern. Er hatte 1980 mit dem Inkrafttreten des Denkmalschutzgesetzes dafür gesorgt, dass Denkmalschutz und Denkmalpflege aus der hehren Sphäre der Kultur und des Kultusministers herausgelöst und durch Eingliederung in den handfesteren Bereich des Städtebaus und des Bauministers mit seinen großen Förderetats zu einem kraftvollen Fixpunkt der Stadtentwicklung geworden war. Ich durfte ihn bei der noch im vollen Gang befindlichen Umsetzung des Denkmalschutzgesetzes unterstützen, wo er vor allem aufs Tempo bei der Erfassung und Unterschutzstellung der Denkmäler drückte. In besonderer Erinnerung ist mir geblieben, wie intensiv er sich bei Ministerentscheidungen in den Einzelfall hineinkniete, wenn sich Landeskonservator und kommunale Denkmalbehörde nicht hatten einigen können. Hierzu gehörten häufig auch Ortstermine mit Besichtigung des streitigen Gebäudes. Ein weiteres Beispiel für seine fast penible Arbeit am konkreten Projekt und unter Kenntnis der lokalen Gegebenheiten – getreu dem Motto des Freiherrn vom Stein, dass die Verwaltungskunst mit der Ortskenntnis beginnt. Udo Mainzer nennt die Zöpel-Zeit in NRW die „goldene Zeit“ des Denkmalschutzes. Christoph Zöpel war auch „Museumsminister“. Er nutzte seine Zuständigkeiten für den Denkmalschutz und die Städtebauförderung, um wichtige Etappen und Aspekte der Landesgeschichte für die Nachwelt museal in hierfür besonders geeigneten Monumenten sichtbar und erlebbar zu machen. So durfte ich intensiv und mit besonderer Freude mitarbeiten an der Gründung des Rheinischen und des Westfälischen Industriemuseums in Trägerschaft der beiden Landschaftsverbände, der beiden Preußen-Museen für die Rheinprovinz in der Zitadelle von Wesel und für die Provinz Westfalen in einer Kaserne der Festung von Minden, des Museums der Weserrenaissance in Schloss Brake in Lemgo und des Beuys-Museums in Schloss Moyland in Bedburg-Hau. Nicht zuletzt zeigt auch die Bereitschaft, die Führung des Rheinischen Vereins zu übernehmen, die tiefe Verwurzelung von Christoph Zöpel in der Geschichte unseres Landes mit den sie prägenden Denkmälern und Landschaften. Das Zöpelsche Interesse an der Zukunftsfähigkeit von Staat und Wissenschaft macht Wolfgang Roters, damaliger Persönlicher Referent und später Leiter der Abteilung Stadtentwicklung, an zwei Entscheidungen fest: der Einrichtung einer eigenen ministeriellen Gruppe, die ihm übertragen wurde und sich dezidiert mit der Erforschung von „Zukünf-
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ten“ auch über die Ressortgrenzen hinaus sowie mit der wissenschaftlichen Fundierung ministerieller Entscheidungen befassen sollte. Die empirischen Grundlagen der Landesplanung wurden auf die Höhe der Zeit gebracht, die Bauforschung auf wesentliche Zukunftsfragen konzentriert und – besonders konfliktreich – die Mobilitätsforschung in der Landesregierung ganz neu etabliert. Die andere Entscheidung betraf die Etablierung eines neuen diskursiven und publizistischen Formats: des „Forum Zukunft“. Diskutiert, geforscht und veröffentlicht wurde über Fragen des Staates an die Zukunftsforschung (1987), über Die Zeit – ein Politikfeld der Zukunft (1987), über Wie weit kann und muss der Staat in die Zukunft sehen? (1988), über Technischen Fortschritt und ökonomische Entwicklung (1989), über den Staat der Zukunft (1990) und die Zukunft der Städte (1991). Namhafte Wissenschaftler – Ökonomen, Staatslehrer, Politikwissenschaftler, Sozialwissenschaftler, Technikwissenschaftler, Soziologen, Städtebauer und Zukunftsforscher – diskutierten mit Unternehmern und Gewerkschaftsführern, Bürgermeistern und staatlichen Entscheidungsträgern. Frischer Wind war das, ein ungewöhnliches Format für einen Dialog zwischen Staat und Wissenschaft. Allgemeiner kräftiger Applaus, wenn Zöpel die „Forum Zukunft“-Veranstaltungen mit der koketten Bemerkung beendete, man habe den Eindruck, dem Land mit der Thematisierung von Zukunft nicht geschadet zu haben.
Das Lokale und das Globale Im Jahre 2008 erschien Zöpels umfassende Untersuchung: Politik mit 9 Milliarden Menschen in Einer Weltgesellschaft; dem folgte im Jahr 2014: Weltgesellschaft: Raum – Kommunikation – Herrschaft. Bereits zu Beginn der 80er-Jahre argumentierte Christoph Zöpel bei Vorträgen, in Schriften und auf Parteitagen der SPD regelmäßig mit globalem Blick, wobei der Begriff des Globalen noch keineswegs zum gängigen Vokabular gesellschaftlicher Diskurse gehörte. Wo es um langfristig zu erwartende Wachstumsraten ging, sprach nie der „Nationalökonom“; es klärte immer ein international denkender politischer Ökonom auf. Das galt aber nicht nur für das Darlegen weltweiter Zusammenhänge. Auch vermeintlich „Kleines“, etwa der Erhalt denkmalwerter Häuser oder Siedlungen, oder die Einrichtung von verkehrsberuhigten Zonen und Radwegen wurde zwar immer pragmatisch-konkret (sehr konkret!) behandelt, manchmal unausgesprochen, immer aber mit einer generellen Werterhaltung in einem überlokalen Kontext.
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Theorie und Praxis Neben der zeitlichen und räumlichen Dimension kennzeichnet die Politik Zöpels eine dritte Dimension mit großer Reichweite: das Verhältnis von Theorie und Praxis. Wer ihn argumentieren hört, meint bisweilen, einen verhinderten Wissenschaftler der Extraklasse vor sich zu haben, nicht einen der wolkig-feuilletonistischen Art – ganz und gar nicht! Zu der hält er eine merkwürdige Distanz. Er argumentiert mit Vorliebe anhand konkreter Zahlen und streng empirisch fundierter Zahlenvergleiche. Diese Haltung erleichtert ihm, wissenschaftliches Wissen in seine politische Alltagspraxis zu transferieren. Nie steht er im Verdacht, ein wirklichkeitsfremder Akademiker zu sein, der sich in die Politik verirrt hätte. Zöpel ist nämlich auch ein gewiefter politischer Taktiker. Er weiß Macht zu akquirieren und Macht zu halten. Er ist in der Lage, aus wissenschaftlicher Einsicht heraus Strategien zu entwickeln und vor allem: anhand von Fakten (und die übersetzt in Bilder mit Brötchen und Bier) zu kommunizieren – in ganz unterschiedliche Systeme und Milieus hinein, und für seine Einsichten zu werben. Seine entsprechende Rolle auf den Landesparteitagen der Sozialdemokraten war einzigartig. Kann man sich vorstellen, dass ein Parteitag im Ruhrgebiet dem damals Stellvertretenden Parteivorsitzenden nach einer sehr anspruchsvollen – und sehr langen! – programmatischen Rede zujubelte? Dass er wirtschaftliche Strukturprobleme in Castrop-Rauxel, Herne oder Dortmund sowohl mit den Ansprüchen der anbrechenden Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft als auch mit den sozialpolitischen Grundsatzfragen seiner Partei als auch letztlich mit den sich anzeigenden ökologischen Herausforderungen zu verbinden wusste, überzeugte und begeisterte nicht nur die Programmatikfans der Sozialdemokratie, sondern auch eher Theoriefremde, Konservative, Umweltbesorgte und sozial Engagierte. Hier, nicht nur, aber maßgeblich, begründen sich die fulminanten Wahlsiege der nordrhein-westfälischen Sozialdemokratie; denn Programme und Worte waren ablesbar und konkret erfahrbar an zahlreichen Objekten, Projekten, öffentlichen Plätzen, Denkmälern, Stadtkernen und Wohnsiedlungen. Eine menschenfreundliche Politik wurde immer beliebter. Von heute aus gesehen: Wären die strategischen Ansätze Zöpels – sozialer und ökologischer Umbau der Industriegesellschaft – bereits in den 80er-Jahren mehrheitsfähig gewesen, es hätte nicht die Linken und nicht die Grünen gegeben, dafür eine starke linke Volkspartei. Wir „Mit-Arbeiter“ im Ministerium hatten den Eindruck, zur richtigen Zeit am Puls der Zeit zu sein! Klaus Bussfeld, seinerzeit zuerst Leiter des Ministerbüros, dann Leiter der Abteilung Wohnungspolitik, erinnert sich an das Entstehen einer neuen politischen Strategie:
Vier Anstöße für eine neue Politik Als Christoph Zöpel 1980 sein Amt als Minister im neu geschaffenen Ministerium für Landes- und Stadtentwicklung – aufgrund der Abkürzung MLuSt vom Ministerpräsidenten scherzhaft als Lust-Ministerium tituliert – antrat, war ihm von Anfang an klar, dass ein radikales Umsteuern der Städtebaupolitik überfällig war.
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Nach wie vor waren damals in Nordrhein-Westfalen Flächensanierung und städtebauliche Verdichtung, Abriss alter Bausubstanz und standardisierte Neubebauung Kernbestandteile und unumstößliche Leitlinien jeglicher Planungs- und Baupolitik. Diskussionsanstöße, anders zu denken und anders zu handeln, wurden nicht aufgegriffen, zunehmender Widerstand von betroffenen Bürgern wurde negiert. Noch immer ließ man sich leiten von aus der US-amerikanischen Planungsphilosophie der 50er- und 60er-Jahre übernommenen Schlagworten wie z. B. „great is beautiful“, und selbst die abschreckenden Erfahrungen mit dem Großprojekt Klinikum Aachen, das wegen seiner Komplexität nicht fertig gebaut zu werden drohte, führten nicht zur Besinnung. Christoph Zöpel machte unmissverständlich deutlich, dass es mit ihm einen radikalen Politikwechsel geben werde. Vorbei die Zeiten des überkommenen groß Denkens, groß Planens, groß Bauens! Anstelle von Kahlschlagsanierungen und rücksichtslosem Flächenverbrauch trat eine behutsame, intelligente und erhaltende Stadterneuerungspolitik. Wie aber ließ sich dieser völlig neue Ansatz so zusammenfassen, dass ihn jeder verstand? Und nicht nur das! Wie ließ sich Zustimmung für eine solch fundamentale Neuorientierung gewinnen, die auf erbitterten Widerstand der Bauwirtschaft, der großen Wohnungsbaugesellschaften und natürlich großer Teile der Politik traf? Wie überzeugte man die Bürger und vor allem die unmittelbar Betroffenen im Land, dass der Bruch mit der bisherigen Praxis mittel- und langfristig für alle Besseres bedeuten würde? Christoph Zöpel wusste, dass Worte gefunden werden mussten, die jeder verstand und die zu überzeugen vermochten. Also nahmen wir uns Ende 1980 einen ganzen Tag Zeit, um ein verständliches Vokabular und eingängige Schlüsselbegriffe für die neue Stadterneuerungspolitik zu entwickeln. Die ebenso treffende wie einfache Überschrift für die Gesamtheit dessen, was die Städtebaupolitik der nächsten zehn Jahre ausmachen sollte, ergab sich nach gründlicher Analyse fehlgelaufener Projekte der letzten Jahrzehnte fast von selbst. Recht schnell waren wir uns einig, das passt genau: Lieber kleiner als zu groß! Damit provozierte Christoph Zöpel zunächst einen Aufschrei bei allen, die mit großem Planen und großem Bauen groß geworden waren. Zuallererst die Bauwirtschaft, die Umsatzeinbrüche und Arbeitsplatzverluste prognostizierte. Nicht minder entsetzt äußerten sich Teile der Planungsszene, die weiterhin von ungebremstem Wachstum aller volkswirtschaftlich relevanten Kennzahlen ausging und deshalb Größe für unverzichtbar hielt. Und nicht zuletzt die großen Wohnungsbaugesellschaften, die den wachsenden Wohnraumbedarf nach wie vor mit hoch verdichteten Wohnquartieren befriedigen wollten. Doch schneller als erwartet wuchs die Erkenntnis, dass Christoph Zöpels neue Städtebaupolitik nicht nur neue Qualität für Wohnen und Leben ins Stadtquartier brachte, sondern bei unverändertem Investitionsvolumen auch völlig neue attraktive Tätigkeitsfelder für alle am Bau Beteiligten eröffnete. Wesentlich beschleunigt wurde dieser Prozess des Umdenkens und Umsteuerns durch die Zustimmung und das Engagement einer wachsenden Zahl von Betroffenen und Bürgerinitiativen. Sie erlebten und erlitten unmittelbar, dass die hochverdichteten
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Wohnmaschinen der neuen Stadtquartiere wie Köln-Chorweiler oder Ratingen-West der, wie Christoph Zöpel es gern formulierte, „conditio humana“ nicht gerecht wurden. Wie aber ließ sich dieses Empfinden in einfache Worte fassen, die jeder verstand? Wie ließ sich die künftige Umsetzung der Aufgabe Wohnungsbau griffig und überzeugend beschreiben? Christoph Zöpel näherte sich der Lösung, indem er uns fragte, welche Erwartungen die Menschen denn außer ausreichender Größe und guter Qualität des Wohnraums beim Thema Wohnen hätten. So kamen wir auf die Mutter – altes Familienbild in den 80ern –, die aus dem Fenster im zweiten Stock ihr Kind noch rufen kann und nicht mit dem Fahrstuhl aus dem zehnten Stock herunterfahren muss, um ihm zu sagen, es möge jetzt zum Essen kommen. Ähnlich die etwas gefühlige Vorstellung vom Rentner, der sein Fenster öffnen möchte, um den Geruch von gemähtem Gras oder gefallenem Herbstlaub zu spüren. Etwas abstrakter, aber eigentlich am wichtigsten: Überschaubarkeit als Voraussetzung für gelebte Nachbarschaft und ein funktionierendes Miteinander zu verwirklichen. Aus all diesen und vielen anderen Überlegungen wurde: Kein Haus höher, als ein Baum wachsen kann! Diese Forderung hatte Folgen. Die Wohnungsbauförderungsbestimmungen wurden so geändert, dass Hochhäuser nicht mehr subventioniert wurden. Neue Planungen sorgten in den neuen Stadtquartieren für eine soziale Durchmischung. Ghettobildung durch Konzentration sozialschwächerer Schichten in Neubaugebieten konnte verhindert werden. Der Kern der erhaltenden und behutsamen Stadterneuerungspolitik aber lag im Bestand. Christoph Zöpel verlangte und praktizierte eine umfassende Neubewertung der vorhandenen alten Stadtquartiere. Flächendeckend hatte sich im Deutschland der Nachkriegszeit ein Modernitätsverständnis entwickelt, das allein Abriss und Neubau als zukunftsweisend definierte. Wer wie in Münster seinen Prinzipalmarkt nach alten Fotos nach- und wiederaufbaute, blieb allein und wurde bei den ewig Gestrigen verortet. Deshalb war es ein mühsames Unterfangen, dafür zu werben, die Qualität gewachsener Stadtquartiere zu erkennen und zu erhalten und sie nicht länger dem Verfall als Vorstufe für späteren Abriss preiszugeben, sondern – im Gegenteil – sie zu verbessern, zu renovieren, Baulücken quartiersgerecht zu schließen und – wo erforderlich – neue Nutzungsmöglichkeiten für erhaltenswerte alte Bausubstanz aufzuzeigen. Ohne ein radikales Umdenken und Umsteuern in den betroffenen Städten konnte die neue Städtebaupolitik nicht gelingen. Denn es war weitaus aufwändiger, gewachsene Strukturen zu erhalten und behutsam zu verbessern, als großflächig abzureißen und auf freier Fläche neu zu planen und zu bauen. Aber auch in diesem Politikfeld tat sich Überraschendes. Eine rasch wachsende Zahl von jüngeren Planern und Architekten erkannte Herausforderung und Faszination des neuen Handlungsansatzes. Hinzu kamen zahlreiche Bürgerinitiativen von Betroffenen, die sich engagiert und öffentlichkeitswirksam gegen den geplanten Abriss ihrer Siedlungen wehrten. Immer deutlicher wurde, dass Nachbarschaft, Miteinander und Zusammenhalt im alten „Kiez“ mit seiner identitätsstiftenden Wirkung besser funktionierten als in jeder Neubausiedlung. Wie, so fragten wir uns, ließ sich diese radikale Abkehr von der Wohnungs- und Städtebaupolitik der letzten Jahrzehnte am besten zusammenfassen? Wie konnte man das wachsende Unbehagen an der alten Politik und die immer stärker werdende Zu-
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stimmung für den neuen Ansatz am besten in Worte fassen? Etliche Varianten wurden diskutiert und wieder verworfen, weil wir stattdessen drei Worte mit überzeugender Aussagekraft fanden: Stadterneuerung statt Verfall! Mit dieser programmatischen Aussage wurden in den nächsten zehn Jahren – gefördert vom Städtebauministerium – in ganz Nordrhein-Westfalen Dutzende von Stadterneuerungsprogramme auf den Weg gebracht. Wie nicht anders zu erwarten, gab es dabei Diskussionen, ja auch Streit um den richtigen Weg. Aber gerade dieser breite gesellschaftliche Diskurs war ein weiteres wesentliches Element, gute Ergebnisse noch besser zu machen. Unabhängig von Parteipräferenzen und politischen Mehrheiten wurde die neue Städtebaupolitik von Christoph Zöpel in kürzester Zeit zur unbestrittenen Richtschnur kommunalen Handelns. Kaum einer trauerte noch den gesichtslosen Betonmonstern der Nachkriegszeit nach. Die neu entdeckte Bedeutung eines lebenswerten Wohnumfelds konnte man beim Gang durch die erneuerten alten Stadtquartiere unmittelbar erfahren, eine Wohn- und Lebensqualität, die man nicht mehr missen mochte. Der Prozess des Stadterneuerns und Stadtgestaltens blieb nicht immer friktionsfrei. Aber es entwickelte sich zugleich ein Erfahrungswissen und damit auch ein Lösungspotenzial, wie Konflikte und Probleme gelöst werden konnten. Ein Problem allerdings tauchte immer wieder auf und verweigerte sich Lösungen mit den überkommenen Instrumenten: Was machte man mit einem Denkmal? Schon die Frage, was überhaupt ein Denkmal sei, war kaum zu beantworten. Im landläufigen Verständnis konnten Kirchen und Schlösser Denkmäler sein, also Gebäude jenseits der Alltagswelt, nicht aber profane Bauten, Denkmalbereiche, Industriegebäude, Parkanlagen usw. Hinzu kam, dass selbst dann, wenn ein Objekt als denkmals- und deshalb erhaltenswert eingestuft war, dem Eigentümer oft der Wille und die finanziellen Mittel fehlten, sein Denkmal zu erhalten, geschweige denn denkmalgerecht zu restaurieren. Funktionierende Regelungen für die Vielzahl solcher Fälle gab es nicht. Denn bis 1980 hatte Nordrhein-Westfalen kein Denkmalschutzgesetz! Deshalb sorgte Christoph Zöpel dafür, dass aufbauend auf den existierenden Vorüberlegungen in kürzester Zeit ein Denkmalschutzgesetz NRW erarbeitet wurde, das der Landtag noch im Jahr 1980 verabschiedete. Die durch das Gesetz mit weitreichenden Befugnissen ausgestatteten Denkmalbehörden wussten ihre neuen Möglichkeiten entschlossen zu nutzen und machten sich damit nicht nur Freunde. Viele Eigentümer empfanden ihre Anordnungen und Auflagen als massiven Eingriff in ihre Eigentumsrechte. Kein Wunder, denn zweifellos ist Denkmalschutz, wenn man die finanzielle Förderung einmal außer Acht lässt, für die Denkmaleigentümer vordergründig lästig und tatsächlich mit einigem Aufwand verbunden. Unser Ziel war es deshalb, nicht nur die unmittelbar Betroffenen anzusprechen, sondern bei allen Bürgern in Nordrhein-Westfalen eine neue Sensibilität für Denkmäler als wesentliche Elemente unseres kulturellen Erbes zu entwickeln. Das gelang nicht von heute auf morgen, sondern dauerte einige Jahre. Es begann aber mit der damals von uns formulierten und auch heute noch gern benutzten Aufforderung: Denk mal an das Denkmal!
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Kaum etwas sagt mehr über den Politikstil von Christoph Zöpel aus als sein Umgang mit Gruppen, die sich selbst außerhalb der etablierten Politik sahen und die mit Unverständnis, manchmal mit lautem Protest, vor allem der „alten“ Städtebau- und Wohnungspolitik entgegentraten, und sein zielgerichtet-improvisierender Umgang mit Ungewissheit. Zwei ostwestfälische Geschichten – ist es ein Zufall, dass der Minister in Minden aufgewachsen ist? – stehen dafür: Hein Arning, seinerzeit Persönlicher Referent, danach Leiter der Gruppe für Stadterneuerung, erinnert sich: ein Besuch bei Hausbesetzern. Im Jahr 1985 begleitete ich Minister Zöpel zu einem offiziellen Stadtbesuch in Bielefeld. Der Minister war von der Stadtspitze zu einem Gespräch im Rathaus über Stadterneuerung und Wohnungsbau in Bielefeld eingeladen. Vor dem Rathaus erwartete eine größere Ansammlung von Demonstranten den Minister. Sie protestierten lautstark und auf Spruchbändern gegen den Abriss preiswerten Wohnraums im Bielefelder Westen. Auf einem Spruchband der „Bielefelder Selbsthilfe“, die sich in den vorangegangenen Jahren mit mehreren Hausbesetzungen und zahlreichen anderen Aktionen gegen die Flächensanierungen der Stadt und die damit verbundene Vernichtung preiswerten Wohnraums gewandt hatten, stand zu lesen: „Herr Minister Zöpel! Vor Monaten haben wir Sie zum Gespräch eingeladen. Heute erwarten wir Sie.“ Christoph Zöpel ging auf die Demonstranten zu und führte ein kurzes Gespräch mit ihnen. Zur Überraschung aller verabschiedete er sich mit den Worten „Ich komme Euch gleich mal besuchen.“ In der Besprechung mit der Stadtspitze verkündete Christoph Zöpel seine Absicht, im Anschluss an die Besprechung ein Gespräch mit der „Bielefelder Selbsthilfe“ zu führen und sich vor Ort über die Lage im Bielefelder Westen zu informieren. Die Vertreter lehnten eine Beteiligung an dem Gespräch mit den „Chaoten“ und Hausbesetzern, die sich in den letzten Jahren mit zahlreichen widerrechtlichen Aktionen gegen die Städtebaupolitik der Stadt hervorgetan hätten, ab. Die Polizei hatte starke Sicherheitsbedenken gegen den Besuch des Ministers in dem von den Aktivisten besetzten Haus. Sie empfahlen eine starke Polizeipräsens, um den Minister bei zu befürchtenden Übergriffen schützen zu können. Christoph Zöpel lehnte eine Begleitung durch die Polizei ab. So gingen Christoph Zöpel und ich ausschließlich begleitet von dem Bielefelder SPDLandtagsabgeordneten Heinz Hunger in der Siechenmarschstraße im Bielefelder Westen durch ein Spalier von Demonstranten zu dem besetzten Haus, in dem das Gespräch stattfinden sollte. Das Gespräch fand in einem nur spärlich möblierten Raum statt. Für den Minister wurde eine Sitzgelegenheit beschafft. Ich saß wie die meisten anderen Gesprächsteilnehmer auf dem Teppich. Die Mitglieder der „Bielefelder Selbsthilfe“ trugen ihr Anliegen leidenschaftlich vor. Beleidigungen oder Ausfälle irgendwelcher Art gab es nicht. Christoph Zöpel bedankte sich für die Information und sagte die Prüfung durch sein Ministerium zu. Nach dem Gespräch wurden wir freundlich verabschiedet.
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Gerhard Seltmann, zunächst Leiter des Pressereferats, später Stellvertretender Direktor der Internationalen Bauausstellung Emscher Park, knüpft daran an: Ostwestfälische Geschichten Dienstreisen nach Ostwestfalen waren immer ein besonderes Ereignis. Die Anfahrten dauerten etwas länger, Christoph Zöpel war meist voller Vorfreude auf seine zweite Heimat und erzählte Episoden aus der Regionalgeschichte oder über Begegnungen mit Menschen, die wir dort treffen würden. So sollte es um die Mitte der 1980er-Jahre herum eigentlich auch auf der Reise sein, von der hier zu berichten ist. Eigentlich waren wir es gewohnt, dass beim Überqueren des Teuto völlig unabhängig von der Jahreszeit Schneeregen herrschte oder wenigstens dichter Regen fiel. An jenem Morgen allerdings war das Wetter tatsächlich außergewöhnlich, denn es gab dichten Schneefall von Düsseldorf bis Ostwestfalen. Es schien aussichtlos, einigermaßen pünktlich aus Düsseldorf heraus, nach Bochum hinein und dann weiter bis Bielefeld zu kommen. Als das geklärt war – in Zeiten ohne Handy frühmorgens gar nicht so einfach – setzte sich der Minister in Bochum in den Zug nach Bielefeld, Referent und Fahrer machten sich im Auto auf den Weg. Der erste Termin war ein Vortrag von Christoph an der Bielefelder Universität. Er selbst war selbstverständlich zeitgerecht angekommen; getreu seinem Satz, der uns über Jahre hinweg begleitet hat: „Pünktlichkeit ist eines meiner Hobbys.“ Wir trafen ein, als sein Vortrag gerade beginnen sollte. Der wurde aber sofort wieder unterbrochen. Eine Gruppe junger Menschen kam auf die Bühne und überreichte ihm unter fröhlichem Gelächter ein ausgesprochen großes Lebkuchenhaus. Es handelte sich um ein Dankeschön ehemaliger Bielefelder Hausbesetzer, die Christoph gut ein Jahr zuvor „zu Hause“ besucht hatte und deren Wohnsituation zwischenzeitlich mit seiner Hilfe legalisiert worden war. Inmitten der Gruppe befand sich auch Britta Haßelmann, die heute Erste parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen-Fraktion im Deutschen Bundestag ist und immer noch in diesem Haus wohnt. Das Lebkuchenhaus kam übrigens wohlbehalten in Düsseldorf an. Es stand rund vier Wochen lang im Vorzimmer des Ministers und ist definitiv das einzige Haus gewesen, dessen Abriss in seiner Amtszeit guten Gewissens genehmigt wurde. Unter besseren Witterungsbedingungen erreichten wir dann am Nachmittag den Kreis Höxter. Nach weiteren Terminen endete der Tag mit einem Abendessen, zu dem der damalige Oberkreisdirektor Paul Sellmann eingeladen hatte – ein unterhaltsamer Abend, der sich bis in die frühen Morgenstunden hinzog. Entsprechend still im Wagen war es dann wenige Stunden später bei der Fahrt zum „Wesertag“, wo der Minister als Hauptredner vorgesehen war. In diese Stille hinein sagte Christoph: „Ich habe den Redevorschlag im Hotel vergessen.“ Für eine Umkehr war es zu spät. Es herrschte wieder – diesmal nachdenkliche – Stille, bis die Stimme vom Rücksitz sagte: „Ich könnte ja vielleicht ein Weserprogramm erfinden.“ Nach einigen Minuten des Abwägens, ob man einen Teil der Städtebauförderungsmittel regional binden könnte 761
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und welche inhaltlichen Ziele ein derartiges Programm haben sollte, kamen wir am Veranstaltungsort an. Christoph hat dann aus dem Stegreif eine spannende Rede gehalten, das „Weserprogramm“ zur stadthistorisch-kulturellen Aufwertung der Kommunen mit einem Volumen von 30 Mio. D-Mark verkündet und die überraschten Vertreter aus den anderen Weseranrainerstaaten eingeladen, sich auf ihrem jeweiligen Gebiet mit vergleichbaren Ansätzen anzuschließen. Aus Mitteln des Programms ist zum Beispiel das Mindener „Preußenmuseum“ entstanden, dessen Wiedereröffnung inzwischen für die zweite Jahreshälfte 2020 angekündigt wurde. Als wir nach einiger Zeit wieder im Auto saßen, meinte Christoph: „Nun muss ich wohl schnell Karl Ganser anrufen, damit der Bescheid weiß.“ Das war auch gut so, denn die ersten Kommunalverwaltungen hatten sich schon bei der Abteilung Stadtentwicklung gemeldet, um sich nach den Förderkonditionen zu erkundigen. Wir haben gemeinsam viele Stunden bei Kommunalbesuchen und auf den Fahrten dorthin verbracht. Es gab Zeiten mit dicht aufeinander folgenden Wahlterminen. Dann überwog das Gefühl „wir steigen jetzt in den Wagen und in sechs Monaten wieder aus“. Mehrtätig geplante Ortstermine in Ostwestfalen aber habe ich immer als etwas Besonderes empfunden – und die Erinnerung an diese Reise nimmt dabei einen besonderen Platz ein. „Christoph Zöpel – ein Mann, dem man nicht entkommt“, nennt Joachim Henneke, damals Leiter des Kabinettreferats, seine Erinnerung an einen Chef, dessen Spuren so tief sind, dass sie Maßstäbe für heutige und künftige politische Entscheidungen bilden. Ende September 2018 während eines Kongresses auf Zollverein in Essen: Christoph Zöpel kommt nach einer Podiumsdiskussion von der Bühne herunter auf mich zu, um mit mir ein paar freundliche persönliche Worte zu wechseln. Ich war überrascht, ja fast ein wenig gerührt von dieser empathischen Geste. Hatte ich ihn doch – natürlich in sehr subjektiver Wahrnehmung – während der zehnjährigen Arbeit mit ihm und für ihn in den von ihm geführten Landesministerien eher als kühl und distanziert wahrgenommen, bevor ich vor dreißig Jahren die Tätigkeit bei ihm in der Landesregierung beendete. Zöpel habe ich seinerzeit als einen mit scharfem Verstand ausgestatteten, analytisch denkenden Menschen erlebt, der mit großer Verve und hohem Einsatz sein politisches Handwerk verrichtete. Gelegentlich schimmerte ein geradezu messianischer Eifer und eine Leidenschaft durch, die aber von seiner ausgeprägten Fähigkeit zu politischem Pragmatismus eingehegt und damit ergebnisorientiert kanalisiert wurde. Aus dieser Mischung – starker, inhaltlich unterfütterter Impetus sowie eine gesunde Portion Ehrgeiz gepaart mit pragmatisch-taktischer Klugheit – resultierten schließlich politische Leistungen, deren Spuren wir noch heute wahrnehmen können. Zurück zu meinem Mikrokosmos und Christoph Zöpel: Immer wieder stieß ich in den vergangenen drei Jahrzehnten auf seine vielfältigen Spuren: In den neunziger Jahren bei der IBA-Emscher Park GmbH, deren Gremien ich als kommunaler Vertreter angehörte. Bei meinen Tätigkeiten im arabischen Raum hörte ich von seiner akademischen Arbeit
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in Amman. Schließlich führte uns auch das hundertjährige Bauhausjubiläum wieder sporadisch zusammen. Ein Grundtenor bei Zöpels Wirken bleiben Nachhaltigkeit und Konsistenz. Am 26. November 2019 berichtete die Rheinische Post auf der Titelseite, dass der nordrheinwestfälische Sozialminister Karl-Josef Laumann den Verkauf von 91.000 landeseigenen gemeinnützigen Wohnungen an einen privaten Investor bereue. „Aus heutiger Sicht wäre es besser gewesen, die Wohnungen wären in unserem Eigentum geblieben“, hatte Laumann dem Straßenmagazin Fiftyfifty anvertraut. Na also, das haben wir Zöpelaner – in Memoriam Kauf der NH NRW im Jahre 1989 – doch immer schon gesagt! Ulrich Giebeler hat besonders den Umgang Zöpels mit Mitarbeitern im Gedächtnis: Christoph Zöpel hat bei allen Begegnungen und Besprechungen immer das Gefühl vermittelt, dass dem Mitarbeiter Respekt entgegengebracht wurde, dass man ernst genommen wurde, dass Argumente fair ausgetauscht wurden, dass gemeinsame Entscheidungsfindung und nicht Befehlsempfang angesagt war. Seine Erfolge als Minister sind sicher auch auf diese keineswegs bei allen Ministern übliche Form der Personalführung zurückzuführen. Besonders kennzeichnend war, dass zu Besprechungen über Einzelvorgänge grundsätzlich auch die Sachbearbeiter und keineswegs nur die „Häuptlinge“ eingeladen waren und sich gleichberechtigt zu Wort melden durften und sollten. Wenn er glaubte, sich in einer vielleicht impulsiven Aufwallung im Ton vergriffen zu haben, war für ihn eine Entschuldigung selbstverständliche Pflicht. So wurde erzählt, dass er einmal nach Abbruch eines hitzigen Gesprächs dem herausgehenden Mitarbeiter die Akte hinterhergeworfen, diesen aber am nächsten Tag in seinem Dienstzimmer aufgesucht und um Entschuldigung gebeten hätte.
Respekt vor dem Parlament Wir alle haben einen Minister erlebt, der bemerkenswert einen ungebrochenen Respekt vor den Volksvertretern im Landtag, vor dem Parlament hatte. Für Christoph Zöpel war es fast ein politischer Glaubenssatz, dass ein Ministeramt zur Transparenz gegenüber Parlament und Öffentlichkeit verpflichtet und regelmäßig Rechenschaft über das eigene Tun abzulegen sei, erst recht, wenn es auch um die Verwendung nicht unerheblicher Steuermittel gehe. So hatten die Fachabteilungen in allen wesentlichen Geschäftsbereichen des Ministeriums periodische Tätigkeitsberichte und vor allem auch Förderberichte zu schreiben, die in Broschüren mit Ministervorwort veröffentlicht und auch allen Landtagsabgeordneten zugeleitet wurden: Städtebauförderung, Denkmalförderung, Wohnungsbauförderung, Verkehrsförderung, Grundstücksfonds und anderes mehr. Wir erinnern uns an die fast ungläubigen Reaktionen der Abgeordneten: So viel Transparenz war absolut ungewöhnlich!
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Der Lieblingsgegner der Opposition Zu den aufwühlendsten Ereignissen in unserer gemeinsamen Zeit gehören die ungewöhnlich harten Attacken der Opposition gegen Christoph Zöpel, vor allem gegen ihn. Zwei Untersuchungsausschüsse gegen ihn wurden initiiert; beide hat er glänzend überstanden. An einen erinnert der heutige Dortmunder Oberbürgermeister Ullrich Sierau: Im Rahmen einer Zeitreise erinnere ich mich an meinen Beginn im Ministerbüro von Christoph Zöpel. Konkret hatte ich einen Vertrag ab 01. März 1986, das war ein Samstag und habe dann am 03. März im Ministerbüro meinem neuen Minister die Hand gegeben. Er meinte: „Sie werden schon sehen, was Sie davon haben.“ Das konnte ich zu dem Zeitpunkt noch nicht einschätzen, habe aber dann recht schnell gespürt, dass das ein Minister war, der unheimlich viel Energie hatte, eine Dynamik hatte, einen starken Gestaltungswillen – was nicht allen gefallen hat. Insofern hatte er auch Gegnerinnen und Gegner, und man hat gerade ihm immer gerne das Leben auch ein Stück schwer gemacht. Das war auch so im Zusammenhang mit dem sogenannten LEG-I-Deal. Es ging dabei um die Übernahme der „Neue Heimat-Wohnungen“ durch die LEG Nordrhein-Westfalen. Im Prinzip nichts anderes als Mieterschutz pur! Das Landeskabinett hatte im Februar 1986 beschlossen in einer ersten Tranche etwas 2.400 Wohnungen zu übernehmen – das war der sog. LEG-I-Deal. Das konnte natürlich nicht passieren, ohne dass das Parlament entsprechend über diesen haushaltsrelevanten Sachverhalt informiert wird. Es gab zwei Sitzungen diesbezüglich. Einmal eine Sitzung des Städtebauausschusses und eine Sitzung des Finanzausschusses – beide terminiert am 6. März 1986. Das war nun zufällig mein 30. Geburtstag und ich hatte die Pflicht dem Minister die Taschen in beide Sitzungen zu tragen (eine echte Sherpa-Funktion). Als der jüngste in der Runde war ich derjenige, der die Aktenmobilität sicherzustellen hatte und hab dann also dem Minister diese Unterlagen in die Sitzungen reingetragen. Da es mein 30. Geburtstag war, hatte das natürlich einen besonderen Akzent. Der Minister berichtete dann auch und hat den Landtag zum Thema informiert. Das war ein normaler Vorgang. Der sollte aber etwa ein Jahr später wieder eine besondere Bedeutung bekommen, denn die Opposition hatte den Einsatz eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses (PUA) durchgesetzt, um diesen so ungeliebten Sicherungsvorgang von Wohnungen durch das Land zu torpedieren und zu hinterfragen, um daraus politischen Honig zu saugen. Manche haben das damals als puren Klassenkampf empfunden, weil es natürlich auch gegen die Gewerkschaft ging, aber es ging eben auch gegen das Bündnis zwischen der Landesregierung und der sie tragenden Partei SPD und dem Gewerkschaftsbereich. Da wollte man möglichst Sand ins Getriebe bringen. Bei der Einvernahme Christoph Zöpels zum Sachverhalt im Rahmen dieses Untersuchungsausschusses im März 1987 ergab sich dann eine Fragesituation, die Christoph Zöpel dann etwas – ja – spontan beantwortete. Er wurde befragt von dem CDU-Abgeordneten Hartmut Schauerte aus dem Wahlkreis Olpe, der später noch Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesfinanzministerium wurde. Der Abgeordnete Schauerte fragte sinngemäß, ob sich Christoph Zöpel eine Situation vorstellen könne, in der es eine haus-
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haltsrelevante Entscheidung des Kabinettes ohne Information des Landtags gebe und ob er sich denn sicher sei, dass er im Zusammenhang mit dem LEG-I-Deal die Rechte des Landtags nicht verletzt habe. Das ist jetzt sinngemäß erinnert – der genaue Wortlaut war etwas anders. Christoph Zöpel hat das spontan nicht explizit ausgeschlossen und dadurch für einige Beobachter den Eindruck erweckt, als habe er im Zusammenhang mit dem LEG-I-Deal das Haushaltsrecht des Landes gebrochen. Das führte natürlich zu Aufregungen. Ich weiß noch sehr genau, wie das Faxgerät „überlief“, um die Protokolle der Befragung zu übermitteln. Es war nicht mehr weit zu einer Rücktrittsforderung, und die Opposition forderte, Christoph Zöpel müsse durch den Ministerpräsidenten Johannes Rau entlassen werden. Das war für uns alle ein großer Schock. Gerd Seltmann hat dann die Initiative ergriffen: Wenn wir den Minister noch retten wollten, müssten wir uns jetzt zusammensetzen und die Lage bewerten. Wir trafen uns an einem Samstag – sinnigerweise mangels anderer Räumlichkeiten – in der Ministerbüro-Registratur, die von Jürgen Lustig akribisch geleitet wurde. Der hatte da sehr gute Ordnung in die Unterlagen gebracht. Wir saßen in dem Raum und berieten uns über die Lage. Es kam die Frage auf, ob denn der Minister den Landtag unterrichtet habe oder nicht. Ich antwortete: „Ja, das ist doch völlig klar, natürlich hat er den Landtag unterrichtet. Es ist an meinem 30. Geburtstag gewesen und ich habe ihm die Aktentaschen in die Sitzungen hineingetragen. Deshalb erinnere ich mich noch ganz genau.“ Dann waren alle erst einmal positiv überrascht und fragten: „Hast du einen Beleg dafür?“ Woraufhin ich antwortete: „Ja, da blicke ich gerade drauf. Wir befinden uns in der Registratur und hier sind auch die Akten von den Einladungen zu den beiden Sitzungen zu finden. Und die beiden Sitzungsprotokolle sind hier auch abgeheftet.“ Ich habe dann den Aktenordner genommen, habe die Akte rausgezogen und gesagt: „Hier, das ist der Beleg.“ Da waren alle sehr erleichtert, weil damit bewiesen war, dass Christoph Zöpel kein Haushaltsrecht gebrochen hatte, sondern eben in den Automatismen, die auch im Kabinett vereinbart worden waren, den Landtag unterrichtet hatte. Damit war er de facto „aus dem Schneider“. Wir entwarfen dann eine Rede – alles im März, in der wir den gesamten Sachverhalt erneut aufgearbeitet haben (wie viele Ausschusssitzungen, wie viele und welche Informationen), und dadurch auch noch einmal belegt, dass der Landtag immer beteiligt und immer über die Entscheidungen der Landesregierung informiert worden war. Diese Rede hat Christoph Zöpel dann im Mai 1987 gehalten. Es war eine seiner besten Reden. Aus der Mitte des Landtags wurde durch den CDU-Abgeordneten Pohl aus Köln noch der Zwischenruf platziert: „Dem kann man ja nicht glauben, der würde auch seine Schwiegermutter verkaufen.“ Das hat noch einmal verdeutlicht, welche Stimmung ihm damals entgegenschlug. Aber er hat mit seiner Rede bewiesen und belegt, dass er alles richtig gemacht hatte – sowohl in der Sache als auch verfahrensmäßig, dass also kein Rechtsbruch vorlag. Diese Rede wurde begleitet von einer Rede des damaligen Fraktionsvorsitzenden Friedhelm Fahrtmann, der Christoph Zöpel regelrecht rausgehauen und unterstützt hat. Nach Beendigung dieses Tagesordnungspunktes sind sehr, sehr viele Abgeordnete zu Christoph Zöpel gekommen, haben sich bei ihm dafür entschuldigt, 765
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dass sie an ihm gezweifelt hätten, haben ihm zu seiner Rede gratuliert. Selbst Ministerpräsident Johannes Rau hat in der darauffolgenden Kabinettssitzung gesagt: „Da müssen wir uns wohl bei dem Kollegen entschuldigen.“ Damit war Christoph Zöpel, aber auch der ganze Leitungsbereich des Ministeriums, der mit ihm eben noch viel vorhatte, durch ein Fegefeuer gegangen. Das war eine Katharsis, die uns alle noch enger zusammengebracht hat und die uns dann auch ermutigt hat, immer wieder erfolgreich weitere Projekte (z. B. die IBA Emscher Park) anzugehen. So erfolgreich wie wir bei der Abwehr dieses politischen Angriffes im Rahmen der Arbeit des parlamentarischen Untersuchungsausschusses waren, der übrigens dann mehr oder weniger sang- und klanglos auslief. D. h., es war der Opposition nicht gelungen, hier der Regierung etwas am Zeuge zu flicken. Damals war ich noch ein junger Mann – heute immer wieder mit Konflikten konfrontiert –, aber immer in Erinnerung an diese Zeit und immer bestrebt, niemals noch einmal so etwas Ähnliches wie einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss erleben zu müssen.
Was uns bleibt und was wir weitergeben möchten: Vernunftgeleitete Politik lohnt sich! Sie ist das Gegenmittel gegen das Gift des Populismus. Transparenz ist kein Luxus; sie ist Voraussetzung für gutes Regieren. Achtung vor dem Souverän – Parlament und Öffentlichkeit – ist mehr als ein Stilmittel, denn sie ist demokratische Quintessenz. Mut zu Neuem, auch die bewusst eingesetzte Provokation, sind kein mediales Spektakel, sondern schlicht notwendig. Erhalten und Erneuern ist kein verbaler Kompromiss, auch kein Wegducken vor den Prinzipien von Modernität und Konservatismus; Erhalten und Erneuern haben ihr eigenes Prinzip: die Conditio humana. Die akribische Beschäftigung mit dem Konkreten ist kein reiner Pragmatismus; sie ist der Schlüssel für Glaubwürdigkeit und die Qualität von Entscheidungen. Die Weitung des Blicks: zeitlich (Rück-Sicht und Vor-Sicht) und räumlich (lokal und global) ist nicht akademisch; sie ist Politik ‚auf der Höhe der Zeit‘. Solidarität ist keine Floskel; sie ist ein Überlebenselixier. Politische Programme sind mehr als PR-Aktionen; sie sind Selbstvergewisserungen von Haltungen und Zukunftsversprechen. Wer nach den Bedingungen guten Regierens sucht, nach den Möglichkeiten, Zukunft zurück in die Politik zu bringen, und nach den Chancen, die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu bewältigen, stößt heute auf zahlreiche Anstöße, Initiativen und Impulse. Eine konsistente verantwortungsvolle Symbiose von programmatischer Weitsicht, effektivem Regierungshandeln und aufgeklärter Haltung findet er in Nordrhein-Westfalen in den 80er- und frühen 90er-Jahren, in der Planungs-, Stadtentwicklungs-, Wohnungs-, Bau- und Verkehrspolitik jener Zeit. Und in der Person von Christoph Zöpel.
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Kinder- und Schulzeit 1943–1962 Christoph Zöpel wurde am 4. Juli 1943 in Gleiwitz, Oberschlesien, damals zum Deutschen Reich gehörend, seit März 1945 Gliwice in der polnischen Woiwodschaft Slaskie, geboren. Der Vater, Kurt Zöpel, war Studienrat, er leistete zur Zeit der Geburt als Gefreiter Kriegsdienst in Frankreich, die Mutter Martha Zöpel, geb. Grochla, war Studienassessorin, sie nahm nach der Geburt des ersten Sohnes den Schuldienst nicht wieder auf. Im Mai 1946 erfolgte die Vertreibung der Eltern aus Oberschlesien, der Vertriebenentransport ging nach Westfalen und erreichte die Gemeinde Rahden im damaligen Kreis Lübbecke. Die Wohnungseinweisung ging in das Haus eines bäuerlichen Stuhlfertigungsbetriebs. Direkt nach der Ankunft dort wurde ein Bruder geboren. Fünf ortsansässige verschwisterte Frauen aus der Familie Lammers nahmen sich des Flüchtlingsjungen für Wochen an, das hat sein Verständnis für die Integrationsverpflichtung gegenüber Flüchtlingen für immer geprägt. Kurt Zöpel arbeitete zunächst als Dolmetscher zur englischen Militäradministration bei der Kommunalverwaltung Lübbecke und erhielt dann eine Stelle am Städtischen Mädchengymnasium in Minden/Westfalen. Im Juli 1949 erfolgte der Umzug der Familie nach Minden, die erste Wohnung befand sich in einer vorherigen Artilleriekaserne, die gleichzeitig als Berufsschule genutzt wurde. Sie ist inzwischen Standort des Campus Minden der Fachhochschule Bielefeld. In Minden ergaben sich Erfahrungen mit der kriegszerstörten Stadt und das Miterleben des Wiederaufbaus, insbesondere des romanisch-gotischen Domes und des mittelalterlichen Rathauses. Nach dem Besuch eines katholischen Kindergartens in den Jahren 1949 und 1950 erfolgte die Einschulung in die Domschule, eine katholisch-konfessionelle Volksschule. Im Jahr 1954 wechselte er nach einer Aufnahmeprüfung auf das Staatliche Altsprachliche Gymnasium in Minden/Westfalen. Sprachunterricht gab es in Latein, Altgriechisch und Englisch, Wahlfächer waren Französisch und Hebräisch. Im Jahr 1962 schloss er nach acht Jahren die Gymnasialzeit mit dem Abitur ab.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4
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Studium und studentenpolitisches Engagement an der Freien Universität Berlin 1962–1966 Von 1962 bis 1966 studierte Zöpel an der Freien Universität Berlin, zunächst Philosophie, Germanistik, Geschichte und Publizistik, dann wechselte er zur Volkswirtschaftslehre. Schon 1962 trat er dem Sozialdemokratischen Hochschulbund (SHB) bei, einem damals von der SPD geförderten Studentenverband. Im Jahr 1964 wurde er SHB-Vorsitzender an der FU, sein Stellvertreter war Hans-Günther Rolff, später Professor für Bildungsforschung an der TU Dortmund. Im Wintersemester 1962 kandidierte er erstmals und noch erfolglos für den Konvent, das Studentenparlament der FU. Nach diesen Wahlen ergab sich ein bedeutendes hochschulpolitisches Ereignis: die Abwahl per Urabstimmung des zum Vorsitzenden des Allgemeinen Studentenausschusses (AStA) gewählten Eberhard Diepgen, da dieser Mitglied einer Schlagenden Verbindung war, was nach Überzeugung der Mehrheit der damaligen Studierenden dem demokratischen Selbstverständnis der FU Berlin widersprach. Diepgen wurde später als Kandidat der CDU Regierender Bürgermeister von Berlin. Zöpel beteiligte sich an der Organisation dieser Urabstimmung, wurde bei den nachfolgenden Konventswahlen im Sommersemester 1963 gewählt und Mitglied des AStA als Hochschulreferent. Bei den Konventswahlen 1964 wurde er wiedergewählt und Kulturreferent. Mit ihm im AStA waren u. a. Wolfgang Roth, später MdB und Vizepräsident der Europäischen Investitionsbank, Hertha Däubler-Gmelin, später Bundesjustizministerin, Ernst Elitz, später Intendant des Deutschlandradios. Im gleichen Jahr trat Zöpel, noch in Berlin, der SPD bei, in die Abteilung Steglitz I. Nach seiner Wahl in den Konvent 1965 kandidierte er zum AStA-Vorsitzenden und verlor dabei gegen Wolfgang Lefebvre, Kandidat des von der SPD ausgeschlossenen Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS). Lefebvre wurde von studentischen Korporationen angehörenden, später überwiegend in der CDU herausgehobenen Mitgliedern des Konvents unterstützt, darunter von Klaus Landowsky, später CDU-Fraktionsvorsitzender im Abgeordnetenhaus Berlin. Nach einem halben Jahr wurde Lefebvre abgewählt, 1966 kandidierte Zöpel nicht mehr. Seit 1964 war Zöpel stellvertretender Bundesvorsitzender des SHB, im September 1965 wurde er dann zum Bundesvorsitzenden gewählt, was er bis 1967 blieb. Sitz des Studentenverbandes war Bonn, Geschäftsführer und dann stellvertretender Vorsitzender war Wolfgang Lieb, später Regierungssprecher in NRW und Staatssekretär im Ministerium für Schule, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen. In der Funktion des SHB-Vorsitzenden ergaben sich persönliche Kontakte zu Willy Brandt und Herbert Wehner. Auffallende Positionen des SHB in dieser Zeit waren die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, wohl als erste Organisation im parteipolitischen System, und die Kontaktaufnahme zur FDJ.
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Umzug nach Bochum, Studium und Tätigkeit an der Ruhr Universität 1966–1974 Der Umzug nach Bochum zum Studium an der neu gegründeten Ruhr-Universität erfolgte 1966. Dort heiratete er Barbara Rössler aus Minden, später bis 2009 Richterin am Landgericht Bochum. Sie haben drei Kinder und inzwischen drei Enkelkinder. Von 1966 bis 1969 studierte er an der Abteilung für Wirtschaftswissenschaft Wirtschaftswissenschaften und Öffentliches Recht. Im Juli 1967 wurde er der erste aus Studentenparlamentswahlen hervorgegangene AStA-Vorsitzende mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit im ersten Wahlgang, nach seinem baldigen studienbedingten Rücktritt war er noch Mitglied des Akademischen Senats. Rektor seit November 1967 war Prof. Dr. Kurt Biedenkopf, später CDU-Generalsekretär, Oppositionsführer im Landtag von NRW und dann Ministerpräsident von Sachsen. Bei der Rektoratsübernahme hielt Zöpel die Ansprache namens der Studentenschaft. Im Jahr 1969 schloss er das Studium als Diplomökonom ab. Von 1969 bis 1974 war Zöpel dann Wissenschaftlicher Assistent (mdVb) am Seminar für Angewandte Wirtschaftslehre, am Lehrstuhl Prof. Dr. Peter Meyer Dohm, Abteilung für Wirtschaftswissenschaft. In dieser Zeit war er für kurze Zeit Vertreter der Assistentenschaft in der Fakultätsversammlung. Im Jahr 1973 wurde er zum Dr. rer. oec. promoviert mit der Arbeit Wirtschaftspolitik und Rechtssystem. Ein wissenschaftshistorischer und wissenschaftstheoretischer Beitrag zum Verhältnis von Ökonomie und Recht. Erstgutachter war Prof. Dr. Peter Meyer Dohm, Zweitgutachter Prof. Dr. Walter Rudolf, später Staatssekretär im Justizministerium in Rheinland-Pfalz. Im darauffolgenden Jahr wurde er Akademischer Rat an der Universität Essen, wo er bis Mai 1975 tätig war. Diese Tätigkeit war mit dem nordrhein-westfälischen Beamtenstatus verbunden. Die gesetzliche eingeführte Inkompatibilität von Landtagsmandat und beamteter Tätigkeit beendete diese Anbindung an eine Hochschule, wie zweckmäßig diese Regelung hinsichtlich der Verbindung parlamentarischer und beruflicher Tätigkeit auch sein mag.
Politisches Engagement in der SPD in Bochum und in NRW seit 1966 In Bochum gehört Zöpel bis heute (2020) dem SPD-Ortsverein Vöde-Abzweig an, in dem er 1968 bis 1970 Stellvertretender Vorsitzender war. Im Jahr 1968 wurde er auch Vorsitzender der Jungsozialisten im SPD-Unterbezirk Bochum bzw. Ruhr-Mitte, zu dem damals auch die Städte Herne, Wattenscheid, Wanne-Eickel und Witten gehörten. In den Jahren 1970–1971 war er Stellvertretender Vorsitzender der Jungsozialisten in Nordrhein-Westfalen, Vorsitzender war Manfred Dammeyer, später Fraktionsvorsitzender der SPD im Landtag von NRW und Minister für Bundesangelegenheiten. Erwähnenswert ist, dass er sich 1971 auf Einladung des Siedlungsverbandes Ruhrkohlenbezirk für einen kommunalen Einheitsverband für das ganze Ruhrgebiet aussprach. 771
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Im Jahr 1969 wurde er in den Vorstand des SPD-Kreisverbandes Bochum gewählt, kandidierte 1972 erfolglos als Vorsitzender des SPD-Unterbezirks, wurde aber 1974 gewählt. Nach der kommunalen Neuordnung wurde dieser Unterbezirk aufgelöst, und von 1975 bis 1978 war er der erste Vorsitzende des neugebildeten SPD-Unterbezirks Bochum, der jetzt nur noch die Stadt Bochum, die mit Wattenscheid zusammengeschlossen worden war, umfasste. Nach seiner Ernennung zum Minister schied er aus dieser Funktion aus. Im Jahr 1975 wurde er zum Mitglied des SPD-Landesvorstandes NRW gewählt, im Juni 1977 dann zum stellvertretenden Vorsitzenden, in erfolgreicher Kandidatur gegen Antje Huber, damals Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit, in einem weiteren Wahlgang gewann sie gegen Hans Schwier. Zum Landesvorsitzenden gewählt wurde auf diesem Parteitag Johannes Rau, in Konkurrenz mit Friedhelm Fahrtmann, wobei Zöpel Rau erkennbar unterstützte. Zu diesen Funktionen in der SPD kamen politische Wahlfunktionen, zunächst in Bochum, dann in Nordrhein-Westfalen. Im Jahr 1969 wurde er über die Reserveliste in die Stadtverordnetenversammlung der Stadt Bochum gewählt und 1970 bewarb er sich in Bochum erfolglos um eine Kandidatur für den Landtag NRW, er erreichte dann aber Platz 26 auf der SPD-Landesliste und konnte 1972 in den Landtag nachrücken. Dort wurde er Mitglied des Wirtschaftsausschusses. Mit Annahme des Landtagsmandats legte er das Mandat in der Stadtverordnetenversammlung in Bochum nieder. Für die Landtagswahl 1975 wurde er von der SPD als Kandidat im Wahlkreis 105 Bochum I nominiert, er gewann das Mandat mit 59,6 % der Stimmen. Die SPD-Landtagfraktion wählte ihn zu einem der drei stellvertretenden Vorsitzenden, die beiden anderen waren Hans Schwier, später Wissenschaftsminister und dann Kultusminister in NRW, sowie Franz-Josef Antwerpes, später Regierungspräsident in Köln. Vorsitzender war Dieter Haack, später Justizminister in NRW. Im Februar 1978 trat Friedrich Halstenberg als Finanzminister zurück. Mit ihm blieb Zöpel bis zu dessen Tod eng verbunden. Dessen Nachfolger wurde der vorherige Justizminister Diether Posser, in dieser Funktion folgte ihm die vorherige Ministerin für Bundesangelegenheiten Inge Donnep. Auf intensives Betreiben der SPD in Westfalen, um die westfälische Unterrepräsentanz in der Landesregierung auszugleichen, wurde Zöpel Minister für Bundesangelegenheiten, ernannt von Ministerpräsident Heinz Kühn, als letzter von diesem Ernannter seit 1966. Die Landesregierung war durch eine Koalition von SPD und FDP gebildet. Dienstsitz des Ministers für Bundesangelegenheiten war Bonn. Leitender Beamter des Ministeriums war Ministerialdirigent Werner Weber. Im September 1978 trat Ministerpräsident Kühn – auf Betreiben des SPD-Landesvorstands – zurück, um die Nachfolge kandidierten Johannes Rau und Diether Posser. Rau wurde – wiederum mit erkennbarer Unterstützung Zöpels – gewählt. Im ersten Kabinett Rau blieb er Minister für Bundesangelegenheiten. Im Jahr 1980 kandidierte Zöpel im Wahlkreis Bochum IV und erreichte jetzt 60,3 %. Die SPD erzielte landesweit 48,4 %, die FDP verfehlte mit 4,98 % die 5%-Hürde. So hatte die SPD die absolute Mehrheit der Mandate und konnte allein die Regierung bilden.
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Zöpel wurde nun Minister für Landes- und Stadtentwicklung, mit Zuständigkeiten für Landesplanung, Stadtentwicklung einschließlich Denkmalschutz und Freizeit, Bauordnung, Wohnen und Staatshochbau. In diesem Amt entwickelte er die Konzeption der erhaltenden Stadterneuerung. Im Ressortbereich des Staatshochbaus war er für die Fertigstellung des Klinikums Aachen zuständig; wegen der dort lange vor seiner Zuständigkeit entstandenen Schwierigkeiten wurde er einem Untersuchungsausschuss unterzogen. Im Ressortbereich Landesplanung war er auch für die Braunkohlepläne zuständig, aufgrund seiner prinzipiellen Ablehnung dieser Tagebaue versuchte er weitere Abbaupläne zurückzuhalten. In dieser Amtsperiode initiierte er das Museum der Weserrenaissance im Schloss Brake in Lemgo, es wurde 1985 gegründet. Im Jahr 1985 kandidierte er im Wahlkreis Bochum IV und erreichet 64,0 %. Bei dieser Wahl erreichte die SPD landesweit 52,1 % der Stimmen und konnte so weiter allein die Landesregierung bilden. Zöpel wurde jetzt Minister für Stadtentwicklung, Wohnen und Verkehr. Aufgrund seiner Haltung zum Braunkohlentagebau ging die Zuständigkeit für die Landesplanung in das Ministerium für Umwelt, Raumordnung und Landwirtschaft mit Klaus Matthiesen als Minister. Zöpel bekam die Zuständigkeit für Verkehr, diese hatte zuvor im Wirtschaftsministerium gelegen, mit Ausnahme des Luftverkehrs. Erstmals konnte in NRW Verkehr als Teil von Stadtentwicklung politisch erfasst und administriert werden. Diese Amtsperiode war durch einen monatelangen Konflikt mit der Opposition aus CDU und FDP, einer herausragenden städtebaulichen Entscheidung und drei besonderen Initiativen geprägt. Der Konflikt ging um den Erhalt der Sozialwohnungen der Neuen Heimat. Das gelang mit Übernahme dieser Gesellschaft durch die landeseigene Landesentwicklungsgesellschaft, vor allem mit Unterstützung des Vorstandsvorsitzenden der VEBA, Rudolf von Bennigsen-Förder. Diesen Vorgang begleitete die Opposition durch einen mehr als ein Jahr dauernden Untersuchungsausschuss. Für die städtebauliche Entwicklung Düsseldorfs bedeutsam war die Tieferlegung der Rheinuferstraße und damit die Zugänglichkeit des innerstädtischen Rheinufers. Initiiert hat Zöpel das Preußen-Museum Nordrhein-Westfalen mit Standorten in Minden und Wesel. Es wurde 1990 gegründet. Der Finanzierung des Museums sollte eine Stiftung dienen. Mit dem Niedergang der Zinsen seit Beginn der 2000er-Jahre war diese Finanzierung nicht mehr gegeben und die Stiftung wurde unter Mitwirkung der Landesregierung aufgelöst. Die Museen gingen in die Zuständigkeit der Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen/Lippe über. Der Standort Wesel wurde 2018 in das LVR-Niederrheinmuseum umgewandelt, der Standort Minden wird seit 2014 aufwendig renoviert und soll 2021 wiedereröffnet werden. Im Jahr 1985 initiierte Zöpel die Veranstaltungs- und Publikationsreihe Forum Zukunft, die bis 1992 stattfand. In diesem Zusammenhang begründete er 1990 das Sekretariat für Zukunftsforschung in Gelsenkirchen mit Rolf Kreibich als Direktor. Die Förderung durch das Land wurde 2000 beendet. Das Sekretariat existiert weiter mit zwischenzeitlichem Standort Dortmund und residiert an der Freien Universität Berlin, Rolf Kreibich ist weiterhin Direktor. 773
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Von andauernder Bedeutung wurde die Internationale Bauausstellung IBA Emscher Park, die 1989 begann. Sie wird weiter als das wesentliche Projekt zur Überwindung der montanindustriell entstandenen Defizite in der Agglomeration Ruhr erkannt, sie eröffnete die postmontanindustrielle Entwicklung – 30 Jahre vor der Beendigung des Steinkohlebergbaus im Ruhrgebiet. Staatssekretäre zwischen 1980 und 1990 waren Hans Winter und Heinz Nehrling, zu den Abteilungsleitern gehörten Hans-Jürgen Baedeker, später Staatsekretär der Landesregierung NRW, Klaus Bussfeld, später Oberstadtdirektor in Gelsenkirchen, Karl Ganser, später Direktor der IBA Emscher Park, Horst Gräf, später Staatssekretär in Brandenburg, Fridolin Hallauer und Wolfgang Roters, später Geschäftsführer der Entwicklungs-Gesellschaft Zollverein, sowie Gerhard Hanfland und Dieter Böckenförde. Während seiner Amtszeiten als Minister war Zöpel Mitglied bzw. stellvertretendes Mitglied des Bundesrates, dabei immer stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten. Sein internationales Interesse zeigte sich vor allem in einem engen Austausch mit dem Bauministerium der Russischen Föderation, mit dessen Minister Stanislaw Nikolajewitsch Sabanejew. Kontakte wurden auch zur Volksrepublik China aufgenommen, so mit einer Ausstellung dort über die Stadtentwicklung in NRW und einem Vortrag zur Stadtentwicklung in China vor der Parteihochschule der KPCh. Im Sommer 1989 kündigte er sein Ausscheiden aus der Landesregierung und dem Landtag an, blieb allerdings Stellvertretender SPD-Landesvorsitzender bis 1996. Er hat damit zusammen mit Johannes Rau 19 Jahre lang die SPD in NRW maßgeblich geprägt. Dann kandidierte er nicht wieder, aufgrund seiner mit der Politik der SPD, auch nach Bildung einer Koalition mit den Grünen, unvereinbaren Einstellung zum Braunkohlentagebau. Mit der Ministerfunktion in NRW war „traditionsgemäß“ die Mitgliedschaft in einem Aufsichtsrat des Steinkohlenbergbaus auf Vorschlag der IG Bergbau und Energie verbunden. So war Zöpel seit 1979 Mitglied im Aufsichtsrat der Gewerkschaft Sophia Jacoba in Hückelhoven im Kreis Heinsberg. Die Zeche gehört zum Aachener Revier. Eigentümer war die niederländische Gesellschaft Robeco N. V. Zum 01. Januar 1990 ging sie auf die RAG über. Dem Aufsichtsrat gehörten u. a. Bertold Beitz und Jürgen Rohwedder an. Zöpel schied 1995 aufgrund der unterschiedlichen Auffassungen mit der IG Bergbau und Energie zum Braunkohletagebau, der flächenmäßig den Kreis Heinsberg erreichte, aus dem Aufsichtsrat aus. Die Zeche wurde 1997 geschlossen.
Politisches Engagement in der SPD auf Bundesebene und international Im Jahr 1986 wurde Zöpel in den Parteivorstand der SPD gewählt, Vorsitzender war noch Willy Brandt. Dann erlebte er dessen Rücktritt und Hans-Jochen-Vogel, Björn Engholm und Rudolf Scharping als Vorsitzende. Im Januar 1992 hatte der Vorstand ihn in das dreizehnköpfige Parteipräsidium gewählt, in Konkurrenz mit Rudolf Scharping, ein Jahr
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zuvor war eine solche Kandidatur gegen Gerhard Schröder knapp gescheitert. Nach dem folgenden SPD-Parteitag Ende 1993 wurde er wiedergewählt. Seit 1986 ist er Mitglied der Kommission für Internationale Politik beim SPD-Parteivorstand, von 2002 bis 2005 war er Co-Vorsitzender der Kommission, gemeinsam mit Heidemarie Wieczorek-Zeul. Seit 1999 ist er auch Mitglied der Kommission Europäische Union beim SPD-Parteivorstand. Zwischen 1987 und 1989 war er Mitglied zweier wesentlicher programmatischer Arbeitsgruppen des Parteivorstands, einer für ein neues Grundsatzprogramm unter Vorsitz von Hans-Jochen Vogel und einer zu „Fortschritt 90“ unter Vorsitz von Oskar Lafontaine, mit dem er bis heute persönliche Beziehungen unterhält. Das Grundsatzprogramm, das „Berliner Programm“, wurde 1989 beschlossen, 1990 der Arbeitsbericht zu „Fortschritt 90“ veröffentlicht. Im Jahr 1993 berief ihn Rudolf Scharping in die Kommission „Regierungsprogramm 1994“, das sogenannte „Schattenkabinett“, zuständig für die Politikbereiche Wohnen, Mieten, Verkehr. Wegen Meinungsverschiedenheiten über die Verkehrspolitik – Zöpel setzte sich insbesondere für ein Tempolimit und die Finanzierung des Öffentlichen Personenverkehrs durch Erhöhung der Mineralölsteuer ein – schied er im April 1994 aus der Kommission aus. Im Jahr 1995 leitete er die „Arbeitsgruppe Mitgliederentwicklung“ des SPD-Vorstands, deren Bericht Ende desselben Jahres veröffentlicht wurde. Seit Beginn der 1990er-Jahre vertrat er die SPD im Präsidium der Sozialistischen Internationale (SI), der Vereinigung sozialdemokratischer Parteien weltweit. Sein Engagement galt der Aufnahme der postkommunistischen Parteien aus Osteuropa in die SI, was zur Voraussetzung für deren Integration in die Sozialdemokratische Partei Europas nach der Osterweiterung der EU wurde. Von 2000 bis 2007 war er Vorsitzender des Komitees für Wirtschaft, Gesellschaftlichen Zusammenhalt und Umwelt der SI. Unter seinem Vorsitz entstand das vom Kongress der SI 2003 in São Paulo beschlossene globalpolitische Programm der SI „Governance in a Global Society – The Social Democratic Approach“. In den Jahren 2004 und 2005 war er Mitglied des nur für kurze Zeit gebildeten Exekutivkomitees der Sozialistischen Internationale. In dieser Zeit war Antonio Guterres, später Generalsekretär der UNO, Präsident der SI. Im Jahr 1995 verzichtete er auf eine erneute Kandidatur für den SPD-Parteivorstand. Im November 2001 kandidierte er erfolgreich wieder – ohne vom Vorstand vorgeschlagen zu sein. Parteivorsitzender war jetzt Gerhard Schröder. Im Jahr 2003 wurde er wiedergewählt und erlebte 2004 den Wechsel in der Funktion des Parteivorsitzenden zu Franz Müntefering. Danach wurde er Mitglied der Kommission zur Vorbereitung des nächsten Grundsatzprogramms. Im Jahr 2005 stimmte er im Parteivorstand gegen die vorzeitige Auflösung des Bundestags und kandidierte dann nicht mehr für dieses Gremium, verbunden mit seinem Ausscheiden aus dem Bundestag. Zwischen 2005 und 2008 beriet er die Sozialdemokratische Partei Albaniens bei der Entwicklung eines Regierungsprogramms, in enger Zusammenarbeit mit dem späteren Ministerpräsidenten Edi Rama. 775
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Für 2016–2019 beriefen ihn der Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE), Sergei Stanishev und Generalsekretär Achim Post, zum Special Adviser für Zentral- und Osteuropa.
1990–2005 Mitglied im Bundestag und in der Bunderegierung Im Jahr 1990 kandidierte Zöpel im Wahlkreis Heinsberg, westlichster Kreis der Bunderepublik Deutschland, für den Bundestag. Die Nominierung erfolgte aufgrund der Verbindung zum Kreis Heinsberg mit der Mitgliedschaft im Aufsichtsrat von Sophia Jacoba. Der Wahlkreis war seit 1949 immer von Kandidaten der CDU gewonnen worden. Er erreichte mit 33,12 % bei den Erststimmen und 32,06 % bei den Zweitstimmen gegenüber 55,74 % bzw. 52,89 % für den CDU-Kandidaten. Die Mitgliedschaft im Bundestag gelang über die Landesliste NRW. Im Bundestag wurde er Mitglied im Auswärtigen Ausschuss, damit in der Arbeitsgruppe Außenpolitik der SPD-Bundestagsfraktion, in der er zuständig für die Beziehungen zu den Staaten des Mittleren Ostens war, in dieser Funktion vermittelte er 1993 die erste Einladung Jassir Arafats nach Deutschland. Damit begann sein dauerhaftes Engagement für die Entwicklung in diesen Staaten. Zeitweise war er Stellvertretender Vorsitzender im Ausschuss für die Europäische Union. Im Mai 1993 stimmte er gegen die Grundgesetzänderung zum Asyl-Artikel. Bei Zöpels erneuter Kandidatur im Wahlkreis Heinsberg 1994 erzielte er 35,9 % bei den Erstimmen und 35,4 % bei den Zweitstimmen. Auf der SPD-Landesliste hatte er auf Platz 1 kandidiert. In der neuen Legislaturperiode blieb er Mitglied im Auswärtigen Ausschusses und wurde Vorsitzender der Deutsch-Maghrebinischen Parlamentariergruppe, in dieser Funktion knüpfte er 1997 erste Beziehungen des Bundesstags zum politischen System Libyens. Im Jahr 1998 gelang es ihm bei erneuter Kandidatur im Kreis Heinsberg erstmals seit 1949 für die SPD bei den Erststimmen mehr als 40 % zu erreichen (40,21 %), der Kandidat der CDU fiel mit 49,21 % erstmals unter 50 %. Mit Beginn der Legislaturperiode wurde er Außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, dabei stellvertretendes Mitglied der Nordatlantischen Versammlung. Mitte 1999 wurde er Staatsminister im Auswärtigen Amt mit Zuständigkeit für die Europäische Union. Bundesaußenminister war Joschka Fischer. Diese Funktion war mit der Zugehörigkeit zum Bundeskabinett verbunden, Bundeskanzler war Gerhard Schröder. Zöpel vertrat die Bundesregierung in den Allgemeinen Räten der EU in Brüssel und Luxemburg. Politischer Schwerpunkt in diesen Jahren waren die Beitrittsgespräche mit mittel- und osteuropäischen Staaten. In den meisten dieser Staaten waren postkommunistische, zur Sozialdemokratie orientierte Parteien in den Regierungen vertreten. Intensiv verband er Kontakte zu den jeweiligen Regierungen und Parlamenten mit Kontakten zu diesen Parteien, was ein dauerhaftes Engagement für Entwicklung in diesen Staaten begründete. Er war Vorsitzender des Deutsch-Tschechischen Gesprächsforums. Enge
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persönliche Beziehungen entstanden zu Zoran Djindjic, Ministerpräsident in Serbien und Edi Rama, Ministerpräsident in Albanien. Nach der Bundestagswahl 2002 endete die Tätigkeit als Staatsminister, weder er noch Bundesaußenminister Fischer hielten die weitere Zusammenarbeit für sinnvoll. Im Auftrag der Landesregierung Brandenburg koordinierte Zöpel von 1997 bis 2002 als Wissenschaftlicher Leiter das „Forum Zukunft – Brandenburg 2025 in der Mitte Europas“. Im Jahr 2002 kandidierte er im Kreis Heinsberg letztmals für den Bundestag. Das Ergebnis fiel gegenüber 1998 leicht zurück, 36,8 % bei den Erststimmen, 35,9 % bei den Zweitstimmen. In seiner letzten Legislaturperiode war er wieder Mitglied im Auswärtigen Ausschuss, dabei Vorsitzender des Unterausschusses Vereinte Nationen. Er war Mitglied der deutschen Delegation bei der Interparlamentarischen Union und Mitglied der Parlamentarischen Versammlung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Zwischen 2000 und 2004 war Mitglied des SPD-Fraktionsvorstandes. Gefragt nach den wesentlichen Orientierungen für seine politische Tätigkeiten sagt Zöpel: • die Verbundenheit mit Minden und Ostwestfalen, der Ankunftsregion als Flüchtlingskind, mit dem Preußen-Museum in Minden und dem Weserrenaissance-Museum Brake in Lemgo konnte er dazu Projekte initiieren, die bis heute Bestand haben, • ein Geschichtsverständnis, das sich im Denkmalschutz konkretisiert, • die föderale Struktur der Bundesrepublik Deutschland; es wurde seine Erfahrung, dass staatliche Aufgaben, die mit einem Personaleinsatz verbunden sind, nur von den Ländern ausreichend erfüllt werden können, • ein Verständnis von Europa, das alle osteuropäischen Staaten, einschließlich Russlands einbezieht, • ein Verständnis für die politische Entwicklung der Welt, das Weltbürgerlichkeit erfordert.
Funktionen in Aufsichtsgremien Zöpels Mitgliedschaften in Aufsichtsgremien waren mit seinen politischen Funktionen verbunden: • • • • •
1969–1972 bei den Stadtwerken Bochum, 1980–1985 bei der Bochum Gelsenkirchener Straßenbahn, 1979–1995 im Aufsichtsrat von Sophia Jacoba, 1985–1990 Mitglied im Verwaltungsrat der Deutschen Bundesbahn, 2000–2003 für das Auswärtige Amt im Rundfunkrat der Deutschen Welle.
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Nach Beendigung seiner Amtszeit als Minister verblieb er im Auftrag der Landesregierung in vier Aufsichtsgremien und wurde später in drei berufen: • Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen, Mitglied des Kuratoriums, bis zu dessen Auflösung 2005, • Sekretariat für Zukunftsforschung, Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates bis 2003, • Weserrenaissance-Museum Schloss Brake, Mitglied im Kuratorium bis 2011, • Preußen-Museum Nordrhein-Westfalen, Mitglied im Kuratorium bis 2014, • Investitionsbank NRW, Mitglied des Beirates, 1991–1995, • Stiftung für Türkeistudien und Integrationsforschung, Mitglied des Kuratoriums, 2011–2018, • Nordrhein-Westfalen-Stiftung Naturschutz, Heimat- und Kulturpflege, Mitglied des Stiftungsrates, seit 2018. Für seine Mitgliedschaften und Funktionen in Akademien, Gesellschaften und Vereinen gelten folgende Bezüge: Raumentwicklung, Stadtentwicklung und Denkmalschutz • • • • • • • • • • • • • • • • • • •
Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung (DASL) Akademie für Raumentwicklung in der Leibnitz-Gemeinschaft (ARL) Deutsches Nationalkomitee für Denkmalschutz, 1980–1990, 2002–2005 Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung (ITZ), Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates 1991–2012, Vorsitzender 1995–2012 Deutscher Werkbund Nordrhein-Westfalen, seit 2006 Beirat für Landes – und Stadtentwicklung des Landes Brandenburg, Vorsitzender 1990–1998 Vereinigung für Stadt-, Regional- und Landesplanung e. V. (SRL), seit 1996 Rheinischer Verein für Denkmalpflege und Landschaftsschutz e. V., seit 2017 Vorsitzender Bundesstiftung Baukultur, Mitglied des Konvents, 2016–2018 Freundeskreis Westfälisches Industriemuseum – Landesmuseum für Industriekultur, seit 2004 Museums-Eisenbahn Minden e. V. seit 1995 Förderverein Schloss Bodelschwingh e. V. Dortmund, seit 2018 Vorsitzender Förderverein für das Baukunstarchiv NRW in Dortmund, seit 2012 Schirmherr Verein der Freunde und Förderer e. V. des Westfälischen Museums für Archäologie Herne, seit 2014 Eco-Archiv Natur-Kultur-Reisen-Sport, seit 1990 bis zur Auflösung 2009 Deutsche Gesellschaft für Freizeit, Mitglied des Präsidiums 1992–1997 Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik, seit 2003 Eurosolar, seit 1991 Beraterkreis Stadt, Verkehr und Region an der Universität Trier, seit 1995
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• • • • • • •
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Verkehrswende für NRW, seit 1996 Fritz-Hüser-Gesellschaft, seit 1990 Institut für Soziale Bewegungen/Ruhr-Museum, Beirat „Zeit-Räume Ruhr“, 2015–2017 pro Ruhrgebiet e. V., seit 2008 Bürgergesellschaft Initiative Ruhr Stadt, seit 2008, Mitglied des Beirates seit 2011 Gemeinschaft der Förderer der Deutschen Stiftung Denkmalschutz, seit 2003 Gesellschaft zur Förderung des Preußen-Museums Nordrhein-Westfalen in Minden e. V., seit 1995
Internationale Politik • Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, seit 1991 • Verband für Internationale Politik und Völkerrecht, seit 1991 bis zur Auflösung 2017 • Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen, seit 1991, 2003–2007 Vorsitzender, seit 2013 Mitglied des Präsidiums • Komitee für eine Demokratische UNO, Unterstützer seit 2013 • Deutsche UNESCO-Kommission, Korrespondierendes Mitglied, 2006–2010 • Deutsche Atlantische Gesellschaft e. V., 1991–2015 • Deutsche Vereinigung für Internationales Recht, seit 2006 • Stiftung Weltbevölkerung Fördermitglied, seit 2010 • Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde e. V, seit 2004 • Südosteuropa-Gesellschaft, seit 2005 • Deutsch-Tschechische und -Slowakische Gesellschaft e. V., seit 2003 als Vorsitzender • Deutsch-Polnische Gesellschaft Bundesverband e. V., seit 2012, Mitglied im Kuratorium seit 2019 • Deutsch-Polnische Gesellschaft Berlin e. V., seit 2019 • Deutsch-Moldauisches Forum e. V., seit 2012 • Deutsch-Arabische Gesellschaft e. V., 1991–2002, wieder seit 2019 • Palästina-Forum e. V., seit 2005 als Vorsitzender des Beirats • Deutsch-Marokkanische Gesellschaft e. V., seit 1999 • Deutsch-Jordanische Gesellschaft e. V., seit 2018 • Deutsch-Tunesische Gesellschaft e. V., seit 1997 • Deutsch-Zyprisches Forum e. V, seit 2000 bis zur Auflösung 2015 • Deutsche Orient-Stiftung, Mitglied des Kuratoriums 1993–2006 • Wir für Ruanda, seit 1993 • Economic Initiative for Kosovo, seit 2012 Sozialdemokratie und Gewerkschaften • • • •
Sozialdemokratische Partei Deutschlands, seit 1964 Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, seit 1969 Friedrich-Ebert-Stiftung, seit 2002 Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Mitglied des Beirates seit 1991 779
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• Willy-Brand-Kreis, seit 2006 • aktuelles forum nrw, Mitglied des Beirates seit 2006 • Förderkreis „Dokumentation der Arbeiterjugendbewegung“ des Archivs der Arbeiterjugend, seit 2001 • Sozialistisches Studentenwohn – und Freizeitwerk NRW e. V., Vorsitzender, 1978–1981 • Verein zur Förderung der Demokratie und Völkerverständigung e. V. Bielefeld, seit 1994 Bildungsbiografie • Förderverein des Ratsgymnasiums Minden, seit 1991 • Ernst-Reuter-Gesellschaft der Förderer und Freunde der Freien Universität Berlin e. V., seit 1998 • Gesellschaft der Freund der Ruhr-Universität Bochum e. V., seit 1981, Mitglied des Beirates 1983–1998 • Vereinigung Bochumer Wirtschaftswissenschaftler e. V., seit 2001 Parlamentarische Mandate • Deutsche Parlamentarische Gesellschaft, seit 1991 • Vereinigung ehemaliger Mitglieder des Deutschen Bundestags und des europäischen Parlaments e. V., seit 2006 • Vereinigung ehemaliger Mitglieder des Landtags Nordrhein-Westfalen e. V., seit 1990 • Parlamentarischer Beirat der Freien Berufe, 2000–2005 Wahlkreis im Kreis Heinsberg • Erkelenzer Karnevalsgesellschaft 1832 e. V., 1995–2010 • Europa-Centrum Maas-Rhein, Mitglied des Kuratoriums 1992–1996 • Förderverein Baudenkmal evang. Kirche Hückelhoven e. V., 1995–2004 Wohnort Bochum • Förderverein Zeche Hannover I/II e. V., seit 1991 • Kortum-Gesellschaft Bochum e. V. – Vereinigung für Heimatkunde, Stadtgeschichte und Denkmalschutz, seit 1994 • Kunst- und Museums-Gesellschaft Bochum e. V., seit 2011 • Wohnspitze e. V. Bochum, seit 2019 • Freundeskreis Bochumer Synagoge e. V., seit 2003 • Freundeskries Stiepeler Dorfkirche, seit 2007 • Kuratorium Christuskirche, seit 1998 • Stiftung der Sparkasse Bochum zur Förderung von Kultur und Wissenschaft, Mitglied des Kuratoriums 1990–1992 • Verein der Freunde der Erich-Kästner-Schule e. V., 1986–2006 • Bürgeraktion „Rettet Bochumer Kirchen“, Vorsitzender 2009–2013
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Sonstiges • Kurt-Tucholsky-Gesellschaft e. V., seit 2012 • Vereinigung Deutscher Wissenschaftler e. V., seit 2006 • Bundesverein zur Förderung des Genossenschaftsgedankens e. V., 1992–1997 Vorsitzender, 1997–2015 Präsident • Gesellschaft für Zukunftsgestaltung e. V., seit 1995 • Freundeskreis der Stadt Leipzig, seit 2001 • Projekt „Stadt 2030 – Gemeinsames Leitbild der Europastadt Görlitz/Zgorzlec“, 2001–2003
Wissenschaftliche Tätigkeit seit 2005 Nach Beendigung seiner politischen Funktionen nahm er an mehreren Hochschulen Lehrtätigkeiten auf. Technische Universität Dortmund • SS 2007: Lehrbeauftragter für Internationale Politik am Institut für Politikwissenschaft der Fakultät Humanwissenschaften und Theologie • seit 2007: Lehrbeauftragter an der Fakultät Raumplanung, seit 2009: Honorarprofessor mit Promotionsrecht; es ist zur engen Forschungszusammenarbeit mit Prof. Christa Reicher gekommen. Universität Duisburg-Essen • SS 2009 & WS 2009/2010: Lehrbeauftragter für Internationale Politik Technische Universität Berlin • seit 2017/18: Lehrbeauftragter für das Master-Programm Building Sustainability – Management Methods for Energy Efficiency Technische Universität Gliwice • seit 2017: Lehrbeauftragter an der Fakultät Architektur, mit dieser Fakultät begründete er eine vertragliche Zusammenarbeit. • Diploma for work and enthusiasm for cooperation between Faculty of Architecture of Silesian University of Technology and Technische Universität Dortmund German Jordanian University Amman • seit 2010: Professor an der School of Architecture and Built Environment Ruhr-Universität Bochum • seit 2019: Lehrbeauftragter an der Fakultät für Geowissenschaften
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EBZ Business School – University of Applied Sciences • 2009–2014: Lehrbeauftragter für Real Estate Management Dazu: • Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung (IZT), Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates, 1990–2014 • Zentrum für Mittelmeerstudien an der Ruhr Universität Bochum, Mitglied seit 2013 • Deutsches Institut für Entwicklungspolitik, Associate Fellow, seit 2009 • Verein zur Förderung der Erforschung der europäischen Arbeiterbewegung e. V./Verein zur Förderung des Instituts für soziale Bewegungen e. V., seit 1989
Orden und Auszeichnungen • Verdienstorden des Landes Nordrhein-Westfalen • Verdienstkreuz Erster Klasse der Bundesrepublik Deutschland • Ordre National de Grand Officier de la Legion d’Honneur (Nationalorden zum Großoffizier der Ehrenlegion der Französischen Republik) • Krzyzem Komandorski Orderu Zaslugi Rzeczypospolitej Polskie (Komturkreuz des Verdienstordens der Republik Polen) • Steaua României (Großoffizier des Ordens Stern der Republik Rumänien) • Orden honorary membership of the Xirka Gieh Ir-Republikka Malta • VFA-Bundespreis Goldener Zirkel 1985 der Vereinigung Freischaffender Architekten Deutschlands e. V. • Halstenbergpreis 2018 der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung NRW • Silbernadel des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs
Christoph Zöpel: Publikationen
Bücher 2019 (mit Wolfgang Roters und Gerhard Seltmann). Ruhr. Vorurteile – Wirklichkeiten – Herausforderungen. Essen: Stiftung Mercator.
2008 Politik mit 9 Milliarden Menschen in Einer Weltgesellschaft. Eine Orientierung in Worten und Zahlen. Berlin: vorwärts.
2005 Weltstadt Ruhr. Essen: Klartext.
1994 (mit Peter Conradi). Wohnen in Deutschland. Hamburg: Hoffmann & Campe.
1974 Ökonomie und Recht. Stuttgart: Kohlhammer.
Herausgeberschaften 2018 (mit Iris Bocian). Im Wechsel der Zeit. Friedrich Halstenberg. Planung im Demokratischen Staat – Landesentwicklungspolitik in Nordrhein-Westfalen. Essen: Klartext.
2017 (mit Jan Polivka und Christa Reicher). Raumstrategien Ruhr 2035+. Dortmund: Kettler.
2008 (mit Heiner Monheim). Raum für Zukunft. Zur Innovationsfähigkeit von Stadtentwicklungs- und Verkehrspolitik. 2. überarb. u. erg. Aufl. Essen: Klartext.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4
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2003 Politik in der Weltgesellschaft. Der Sozialdemokratische Weg. XXII Kongress der Sozialistischen Internationale São Paolo, Oktober 2003. Bonn: vorwärts.
2000 (mit Karlheinz Steinmüller und Rolf Kreibich). Zukunftsforschung in Europa. Ergebnisse und Perspektiven. Baden-Baden: Nomos.
1999 Brandenburg 2025 in der Mitte Europas. 2 Bde. Potsdam: SDL.
1997 (mit Heiner Monheim). Raum für Zukunft. Zur Innovationsfähigkeit von Stadtentwicklungs- und Verkehrspolitik. Essen: Klartext. (mit Rolf Kreibich und Karlheinz Steinmüller). Beyond 2000. Zukunftsforschung vor neuen Herausforderungen, SFZ-WerkstattBericht Nr. 20. Gelsenkirchen.
1996 (mit Joachim Jens Hesse und Klaus Dieter Leister). Zukunft und staatliche Verantwortung nach dem Umbruch in Europa (Forum Zukunft 7). Baden-Baden: Nomos.
1995 (mit Edelgard Bulmahn) Multimedia für die Informationagesllschaft, Bonn/Berlin Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie,
1994 (mit Thomas Meyer und Klaus-Jürgen Scherer). Parteien in der Defensive. Köln: Bund. (mit Wolf-Michael Catenhusen). Forschung und gesellschaftliche Verantwortung. Marburg: Schüren.
1993 (mit Wolf-Michael Catenhusen). Forschen für die Zukunft. Marburg: Schüren.
1991 (mit Karl Ganser und Jens Joachim Hesse). Die Zukunft der Städte. Baden-Baden: Nomos (Forum Zukunft, 6).
1990 (mit Jens Joachim Hesse). Der Staat der Zukunft. Baden-Baden: Nomos (Forum Zukunft, 5).
1989 (mit Jens Joachim Hesse und Rolf Kreibich). Zukunftsoptionen – Technikentwicklung in der Wissenschafts- und Risikogesellschaft. Baden-Baden: Nomos (Forum Zukunft, 4).
1988 Technikgestaltung durch den Staat. Bonn: Neue Gesellschaft. Technikkontrolle in der Risikogesellschaft. Bonn: Neue Gesellschaft.
Christoph Zöpel: Publikationen
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(mit Jens Joachim Hesse und Hans-Günter Rolff). Zukunftswissen und Bildungsperspektiven. BadenBaden: Nomos (Forum Zukunft, 3).
1987 (mit Jens Joachim Hesse). Neuorganisation der Zeit. Baden-Baden: Nomos (Forum Zukunft, 2). (mit Jens Joachim Hesse). Zukunft und staatliche Verantwortung. Baden-Baden: Nomos (Forum Zukunft, 1).
1977 Energiepolitik in Nordrhein-Westfalen. Düsseldorf: WI.
Aufsätze / Vorträge / Interviews 2020 Postmontanindustriele Kulturlandschaft Ruhr. In K. Geiß-Netthövel, D. Nellen & W. Sonne (Hrsg.), Vom Ruhrgebiet zur Metropole Ruhr. SVR KVR RVR 1920–2020 (S. 300–313). Berlin: Jovis. Das Welterbe gestalten – Mittelrheintal und Rheinischer Verein. Rheinische Heimatpflege, 2, 83–94. Bernhard Worms zum 90. Geburtstag, Beitrag zu eine Festschrift anlässlich des 90. Geburtstags von Bernhard Worms. März 2020. Konrad-Adenauer-Stiftung. https://www.christoph-zoepel.de/app/ download/14266472632/Bernhard+Worms+zum+90.+Geburtstag.pdf?t=1584440816. Madrid, Mailand, Rom – und Ruhr. Es gab die Region schon vor Kohle und Stahl – und sie wird einer der zehn wichtigsten Wissenschaftsstandorte Europas sein. Interview. 22. Februar 2020. WAZ. https://www.christoph-zoepel.de/app/download/14263205632/WAZ-Interview_Dirksen+22.02.2020.pdf?t=1584440706. Die Herausforderungen an eine bessere, umweltfreundliche Mobilitätspolitik für alle im Verbandsgebiet des RVR, Referat am 22. Februar 2020 in Essen auf der Konferenz Mobilität für alle. Das Mobilitätsentwicklungskonzept Ruhr der Fraktion Die Linke in der Verbandsversammlung des Regionalverbandes Ruhr. https://www.christoph-zoepel.de/app/download/14259278532/202002-22+Verkehrspolitik.pdf?t=1584440706. Über Otto Pick. Für eine Publikation des Institute of International Relations Prague (IIR), Czech Republic. Februar 2020. https://www.christoph-zoepel.de/app/download/14263205132/202002-18+Otto+Pick.pdf?t=1584440706. Migration könnte ein Gewinnerthema werden. Doppelinterview Kurt Biedenkopf / Christoph Zöpel. Die einstigen Visionäre von CDU und SPD empfehlen durchlässigere Grenzen und mehr Tempo beim Klimaschutz. 27. Januar 2020. WAZ. https://www.christoph-zoepel.de/app/download/14263204332/Kessler_Biedenkopf+Januar+2020.pdf?t=1584440706. IBA-Emscher Park – vom Ende des „Ruhrgebiets“ zum Anfang von „Ruhrbanität“. Geschichtskultur Ruhr, 01, 16–21.
2019 The Impact of Global Urbanisation on the Ruhr Agglomeration. In C. Reicher, F. Bayro-Kaiser, H. Jansen & J. Polivka (Hrsg.), Polycentric City Regions in Transformation. The Ruhr Agglomeration in International Perspektive. Zürich: Litt. Zwischenbemerkung. Auf der Festveranstaltung der SPD Bochum zum 75. Geburtstag von Prof. Dr. Bernd Faulenbach & Prof. Dr. Christoph Zöpel am 28. Januar 2019.
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Nulltarif? Wirtschaftliche und politische Fragen des Nahverkehrs. Januar 2019. Kulturraum Paper, 6, hrsg. v. Ch. Zöpel & I. Bocian. https://www.christoph-zoepel.de/app/download/14218106832/ Nulltarif.pdf?t=1584008026. Bewahrung gebauter Kultur – notwendig für Identitäten in Nordrhein-Westfalen. In Verein für Heimatkunde in Krefeld (Hrsg.), Die Heimat. Krefelder Jahrbuch Jahrgang 90 (S. 172–176). Krefeld. https://www.christoph-zoepel.de/app/download/14247594332/Z%C3%B6pel_Festrede. pdf?t=1584440706. Sharing Heritage – bürgergesellschaftliche, staatliche und rechtliche Herausforderungen. Festvortrag auf der Tagung des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz am 27. März 2019 in Frankfurt am Main. https://www.christoph-zoepel.de/app/download/14239487532/DNK-Festrede.pdf?t=1584440706. Die Zukunft postmontanindustrieller Agglomerationen in Europa. In K. Kafka, U. Paetzel & Ch. Zöpel (Hrsg.), Ökologische Herausforderungen in den Montanregionen Oberschlesien und Ruhr. Revitalisierung von Flüssen in urbanen Ballungsräumen (S. 92–101). Städte in Europa – nach Athen hinein durch die Jahrtausende über das 20. in das 21. Jahrhundert. In J. Wekelm (Hrsg.), Die Europäische Stadt zwischen Internationalisierung und Eigenart im Beneluxjahr (S. 11–13). Berlin. Denkmäler sind gebaute Heimat. In Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), Dokumentation des Heimatkongresses vom 17. März 2018 in Münster (S. 22). Am besten geht man zu Fuß. Vortrag zum 25. Jahrestag der Eröffnung des Rheinufertunnels am 6. Dezember 2018. In Landeshauptstadt Düsseldorf. Der Oberbürgermeister (Hrsg.), Die Stadt rückt an den Rhein. 25 Jahre Rheinufertunnel. Düsseldorf. 50 Jahre Dortmunder Raumplanung, Vortrag zum 50-jährigen Bestehen der Fakultät Raumplanung an der Technischen Universität Dortmund am 16.12.2018. In D. Gruehn, Ch. Reicher & Th. Wiechmann (Hrsg.), 50 Jahre Dortmunder Raumplanung. Berlin: jovis. Nulltarif? Wirtschaftliche und politische Fragen des Nahverkehrs. Januar 2019. Kulturraum Paper, No. 6. Hrsg. v. Ch. Zöpel & I. Bocian.
2018 Die westlichen Diplomaten vertrauen zu sehr den USA. Rezension zu S. Gabriel, Zeitenwende in der Weltpolitik. Freiburg im Breisgau: Herder, und W. Ischinger, Welt in Gefahr. Berlin: Econ. 19. Dezember 2018. Rheinische Post, 21. Spatial Strategies Ruhr 2035+ Ruhr – an Urban Landscape with European Cities and Industrial Heritage in a Science Society. Vortrag im Rahmen der Ruhr Lecture der Fakultät Raumplanung der TU Dortmund am 11. Dezember 2018. Vortrag zum 25. Jahrestag der Eröffnung des Rheinufertunnels in Düsseldorf im Rathaus Düsseldorf, 6. Dezember 2018 (unveröffentlicht). Integration: Streitkultur ist Leitkultur. Rezension zu M. Lüders, Armageddon im Orient. Wie die Saudi-Connection den Iran ins Visier nimmt. München: C.H. Beck. 08. November 2018. Rheinische Post, D8. Der Krieg um die Macht in Nahost. Rezension zu A. El-Mafaalani, Das Integrationsparadox. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt. Köln: Kiepenheuer & Witsch. 08. November 2018. Rheinische Post, D8. Die Alternativen zum Westen. Rezension zu S. Weidner, Jenseits des Westens. Für ein neues kosmopolitisches Denken. München Carl Hanser. 26. September 2018. Rheinische Post, 21. Die Zukunft postmontanindustrieller Agglomerationen in Europa. Vortrag auf der Konferenz „Ökologische Herausforderungen in den Bergbauregionen Oberschlesien und Ruhr“ am 13. und 14. Juni 2018 in Katowice, Polen.
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Friedrich Halstenberg – Entwicklungspolitik in der westdeutschen repräsentativen Demokratie. In Ch. Zöpel & I. Bocian (Hrsg.), Im Wechsel der Zeit. Friedrich Halstenberg. Planung im Demokratischen Staat – Landesentwicklungspolitik in Nordrhein-Westfalen (S. 15–40). Essen: Klartext. Planungen für Emscher und Lippe – vor mit und nach Friedrich Halstenberg. In Ch. Zöpel & I. Bocian (Hrsg.), Im Wechsel der Zeit. Friedrich Halstenberg. Planung im Demokratischen Staat – Landesentwicklungspolitik in Nordrhein-Westfalen (S. 355–366). Essen Klartext. Raus aus Montan-Ruhr und rein in die ruhrbane Kulturlandschaft. In D. Nellen, W. Sonne & L. Wilde (Hrsg.), Dortmund bauen – Masterplan einer Stadt (S. 281–328). Berlin Jovis. Migration in Raum und Zeit. In Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung (Hrsg.), Migration im Alltag: Kulturelles Erbe und Wandel in der Planung (S. 36–44). Jahrestagung Mainz 2018. Vorbereitender Bericht. Berlin. Bilanz – Perspektiven trotz Verunsicherung. In Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung (Hrsg.), Stadt denken 2 (S. 95–107). Berlin. Politik in der neuen Unordnung. Rezension zu C. Masala, Weltunordnung. Die globalen Krisen und das Versagen des Westens. München: C.H. Beck. 15. August 2018. Rheinische Post, 21. Extremes Zeitalter der Philosophie. Rezension zu M. Geier, Wittgenstein und Heidegger. Die letzten Philosophen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Juli 2018. Rheinische Post. https://rp-online.de/ kultur/extremes-zeitalter-der-philosophie_aid-23796377. Linkspopuläre als neue Kraft. Rezension zu A. Nölke, Linkspopulär. Vorwärts handeln statt rückwärts denken. Frankfurt am Main: Westend. Mai 2018. Rheinische Post. https://rp-online.de/ kultur/linkspopulaere-als-neue-kraft aid-22755729. The future of 20 million people in the six Western Balkan States. A key question for Europe’s geopolitical future. Foundation for European Progressive Studies. March 2018. https://www. feps-europe.eu/resources/publications/597-the-future-of-20-million-people-in-the-six-westernbalkans-states-a-key-question-for-europe-s-geopolitical-future.html. Der volle Planet. Rezension zu E. U. von Weizsäcker & A. Wijkman, Wir sind dran. Was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen. Eine neue Aufklärung für eine volle Welt. Gütersloh Gütersloher Verlagshaus. Februar 2018. Rheinische Post. https://rp-online.de/kultur/der-volle-planet_aid18985115. Wie die Deutschen sich sehen, Rezension zu J. Almendinger, Das Land, in dem wir leben wollen. Wie die Deutschen sich ihre Zukunft vorstellen. München Pantheon. Januar 2018. Rheinische Post. https://rp-online.de/kultur/wie-die-deutschen-sich-sehen_aid-17666389. How is Social democracy faring in Central and Eastern Europe? Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte. Journal of Social democracy. International Quarterly Edition, 2, 11–15. Wo steht die Sozialdemokratie in Mittel- und Osteuropa. Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte, 1, 30–34.
2017 Farben und Flaggen als Ausdruck vielfältigen Gemeinschaftsgefühls. In R. Fikentscher (Hrsg.), Gemeinschaftskulturen in Europa (S. 164–169). Halle: Mitteldeutscher Verlag. Konzepte zur Entwicklung der Agglomeration Ruhr. In J. Polivka, Ch. Reicher & Ch. Zöpel (Hrsg.), Raumstrategien Ruhr 2035+ (S. 13–36). Dortmund: Kettler. Zukunftswege der Agglomeration Ruhr. In J. Polivka, Ch. Reicher & Ch. Zöpel (Hrsg.), Raumstrategien Ruhr 2035+ (S. 227–261). Dortmund: Kettler. Globale Raumentwicklung und Urbanisierung aus westeuropäischer Perspektive. In Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung (Hrsg.), Komplexität und Unsicherheit – Planung in Zeiten beschleunigten Wandels, Vorbereitender Bericht zur DASL Jahrestagung 2017 in Berlin (S. 94–105). Berlin. Vorwort: Liebe Leserinnen, liebe Leser! In Verein der Freunde und Förderer Barbara-Denkmal e. V. (Hrsg.), Die Heilige Barbara und die Artillerie in Koblenz (S. 7–8). Koblenz: Garwain. 787
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Populismus aus osteuropäischer Sicht. Rezension zu I. Krastev, Europadämmerung. Berlin: Suhrkamp. Dezember 2017, Januar 2018. Rheinische Post. https://rp-online.de/kultur/populismus-aus-osteuropaeischer-sicht_aid-20728515. Der Westen: unkaputtbar. Rezension zu H. A. Winkler, Zerbricht der Westen? Über die gegenwärtige Krise in Europa und in Amerika. München C.H. Beck. 30. November 2017. Internationale Politik und Gesellschaft. Aus meinem Bücherschrank. https://www.ipg-journal.de/aus-meinem-buecherschrank/artikel/der-westen-unkaputtbar-2462/. Die Zerbrechlichkeit des Westens. Rezension zu H. A. Winkler, Zerbricht der Westen? München: C.H. Beck. Oktober 2017. Rheinische Post. https://rp-online.de/kultur/die-zerbrechlichkeit-deswestens_aid-20847709. Ein Schweizer Streiter für die UN. Rezension zu J. Ziegler, Der schmale Grat der Hoffnung. Meine gewonnenen und verlorenen Kämpfe und die, die wir gemeinsam gewinnen werden. München: Bertelsmann. September 2017. Rheinische Post. https://rp-online.de/kultur/ein-schweizer-streiter-fuer-die-un_aid-17973823. Ressentiments helfen nicht weiter. Rezension zu P. Mishra, Zeitalter des Zorns. Frankfurt am Main: Fischer. 21. September 2017. Internationale Politik und Gesellschaft. Aus meinem Bücherschrank. https://www.ipg-journal.de/aus-meinem-buecherschrank/artikel/ressentiments-helfen-nichtweiter-2308/. Der zornige Blick auf den Westen. Rezension zu P. Mishra, Dass Zeitalter des Zorns. Eine Geschichte der Gegenwart. Berlin: Fischer. August 2017. Rheinische Post. https://rp-online.de/kultur/derzornige-blick-auf-den-westen_aid-19566803. Eine andere Geschichte Syriens. Rezension zu M. Lüders, Die den Sturm ernten, Wie der Westen Syrien ins Chaos stürzte. München: C.H. Beck. Juni 2017. Rheinische Post. https://rp-online.de/ kultur/eine-andere-geschichte-syriens_aid-21108175. Wie der Westen Syrien ins Chaos stürzte. Rezension zu M. Lüders, Die den Sturm ernten. München: C.H. Beck. 23. Juni 2017. Internationale Politik und Gesellschaft. Aus meinem Bücherschrank. https://www.ipg-journal.de/aus-meinem-buecherschrank/artikel/wie-der-westen-syrien-inschaos-stuerzte-2119/. Der Verfall Jugoslawiens lag auch an Tito. Rezension zu J. Pirjevec, Tito. München: Kunstmann. Mai 2017. Rheinische Post. https://rp-online.de/kultur/der-verfall-jugoslawiens-lag-auch-antito_aid-20971221. Global Urbanization and its impact on Central and Eastern Europe. Presentation at the Silesian University of Technology. May 2017. Gliwice. Die Große Geschichte. Rezension zu M.-J. Calic, Südosteuropa. Weltgeschichte einer Region. München: C.H. Beck. 19. April 2017. Internationale Politik und Gesellschaft. Aus meinem Bücherschrank. https://www.ipg-journal.de/aus-meinem-buecherschrank/artikel/geschichte-die-grosse-1989/. Die globale Allgegenwärtigkeit des Kriegs. Rezension zu B. Korf & C. Schetter, Geographien der Gewalt. Stuttgart: Borntraeger. Februar 2017. Rheinische Post. https://rp-online.de/kultur/dieglobale-allgegenwaertigkeit-des-kriegs_aid-19254153. Der Nahost-Konflikt ist lösbar. Rezension zu A. Hajjaj, Land ohne Hoffnung? Arabischer Nationalismus, politischer Islam und die Zukunft Palästinas. Paderborn: Schöningh. 07. Februar 2017. Internationale Politik und Gesellschaft. Aus meinem Bücherschrank. https://www.ipg-journal. de/aus-meinem-buecherschrank/artikel/der-nahost-konflikt-ist-loesbar-1819/. Rezension zu P. Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa. Akt. Ausg. Berlin: Suhrkamp. Januar 2017. Rheinische Post. Abschied von der Zwei-Staaten-Lösung. Rezension zu A. Hajjaj, Land ohne Hoffnung? Arabischer Nationalismus, politischer Islam und die Zukunft Palästinas. Paderborn: Schöningh. Januar 2017. Rheinische Post. https://rp-online.de/kultur/abschied-von-der-zwei-staaten-loesung_aid-9220291.
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Global Urbanization: Sustainability and Human Rights. Friedrich-Ebert-Stiftung Amman Office Policy Paper. Amman.
2016 Bildung in der Weltgesellschaft, die eine Wissensgesellschaft ist. In H.-G. Rolff & J. Teichert (Hrsg.), Schulleitung in der Wissensgesellschaft (S. 39–73). Weinheim, Basel: Beltz Juventa. Brief zum Geburtstag. In Th. Schlepper (Hrsg.), Meilensteine der Denkmalpflege und Industriekultur. Eine Auslese zum 80. Geburtstag von Roland Günter (S. 22–25). Essen: Verlag der Heinrich-Heine-Buchhandlung. Phönix in Dortmund. Sozialökonomischer Fortschritt durch ein einzigartiges Stadtentwicklungsprojekt auf dem Weg zur Metropole Ruhr. In D. Nellen, Ch. Reicher & L. Wilde (Hrsg.), Phönix eine neue Stadtlandschaft in Dortmund (S. 88–93). Berlin: Jovis. Gebaute kulturelle Identität – Voraussetzung stadtgesellschaftlicher Integration. In H. von Hesberg, J. Kunow & T. Otten (Hrsg.), Die Konstruktion von Gedächtnis. Zu einer Standortbestimmung von Archäologie in der Stadt. Worms: Wernersche Verlagsgesellschaft (Schriftenreihe des Arbeitskreises Bodendenkmäler der Fritz Thyssen Stiftung, 1). Die Zukunft der industriellen Produktion. Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte, 7(8), 70–73. Putins Weltanschauung. Rezension zu M. Eltchaninoff, In Putins Kopf. Die Philosophie eines lupenreinen Demokraten. Stuttgart: Tropen. Oktober 2016. Rheinische Post. https://rp-online.de/kultur/ putins-weltanschauung_aid-18299097. Die smarten Diktatoren der Internet-Welt. Rezension zu H. Welzer, Die smarte Diktatur: Der Angriff auf unsere Freiheit. Berlin: S. Fischer. August 2016. Rheinische Post. https://rp-online.de/kultur/ die-smarten-diktatoren-der-internet-welt_aid-18561895 Sejm oder nicht Sejm, das ist hier die Frage. Wie Polens demokratische Linke eine Zukunft haben kann. Internationale Politik und Gesellschaft. Kommentar. 25. April 2016. https://www.ipg-journal.de/kommentar/artikel/sejm-oder-nicht-sejm-das-ist-hier-die-frage-1387/. Hilferuf aus Serbien. Die Oppositionsparteien befürchten einen unfairen Wahlkampf, Internationale Politik und Gesellschaft. Kommentar. 31. März 2016. https://www.ipg-journal.de/kommentar/ artikel/sejm-oder-nicht-sejm-das-ist-hier-die-frage-1387/. „Flüchtlinge wollen etwas tun“. Rezension zu K. Kleinschmidt & R. Carstensen, Weil es um die Menschen geht: Als Krisenhelfer an den Brennpunkten der Welt. Berlin: Econ. 01. März 2016. Internationale Politik und Gesellschaft. Aus meinem Bücherschrank. https://www.ipg-journal. de/aus-meinem-buecherschrank/artikel/fluechtlinge-wollen-etwas-tun-1310/. Strategien für ein Zusammenleben mit Menschen, die unerwartet zu uns kommen. Vortrag in der Bibliothek Querenburg am 11. Februar 2016. Unveröffentlichtes Manuskript.
2015 Denkmalschutz – Nachdenklichkeiten 2014. In G. Escher, M. Leyser-Droste, W. Ollenik, Ch. Reicher & Y. Utku (Hrsg.), König Kunde. Handel in der Stadt, Beiträge zur Städtebaulichen Denkmalpflege. Essen: Klartext. Klaus-Jürgen Scherer. Referent des Wissenschaftsforums der Sozialdemokratie 1992 bis 1998. In V. Giebel, Dr. Klaus-Jürgen Scherer, Politikwissenschaftler, Stationen. Berlin. Lernunfähige Straßenbaupolitik gegen betroffene Bürger. In Bürgerforum Gladbeck: Plädoyer für eine bessere Mobilität. Gladbeck. Denkmalschutz als demokratische Aufgabe. In Stiftungsfonds Initiative Scharoun-Kirche (Hrsg.), Die Johannes-Kirche Bochum von Hans Scharoun. Bochum. Erhaltende Stadterneuerung: Praxis in Nordrhein-Westfalen und in der postmontanindustriellen Agglomeration Ruhr. Allgemeines Konzept räumlicher Entwicklung in der urbanisierten Welt.
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In Ch. Reicher & W. Roters (Hrsg.), Erhaltende Stadterneuerung. Ein Programm für das 21. Jahrhundert (S. 161–340). Essen: Klartext. Teaching in Jordan. In D. Jecht (ed.), 10 Years GJU. The German Dimension. Amman. The Impact of Global Urbanization on the Arab Region. Presentation during the Conference: Transformation of Urban Character of Arab Cities Amman, Jordan, 22–24 April 2015. Barbarei im Namen der Zivilisation von der Kolonialzeit bis heute. Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte, 1+2, 35–38. Die Verfügbarkeit des Bodens. der architekt, 1, 56–65.
2014 Sustainable Energy Policy in a Globally Urbanized World. Presentation at the 4th International Conference of Sustainable Development & Urban Construction at the Daneshpajoohan Higher Education Institute Espahan 17. December 2014. „Der Westen“ und Russland. EU-Strategie auf der Basis gemeinsamer wertgebundener Interessen. Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte, 9, 37–40. Jordanien zwischen tribalistischer Gesellschaft und globaler Entwicklung. Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte 12, 12–15. Jordanien – Insel im arabischen Orkan. Die sozialen Disparitäten müssen dringend überwunden werden, Internationale Politik und Gesellschaft. Kommentar. 24. November 2014. https://www. ipg-journal.de/kommentar/artikel/jordanien-insel-im-arabischen-orkan-677/. Gebaute kulturelle Identität – Voraussetzung stadtgesellschaftlicher Integration. Vortrag – einschließlich resümierter Diskussionsbeiträge – bei dem Öffentlichen Symposium des Arbeitskreises Archäologisches Gedächtnis der Städte der Fritz Thyssen Stiftung am 10. Juli 2014 in Köln: Städte und ihre Bodendenkmäler im Rheinland. Energy cooperation between Germany and Iran – a contribution to cooperation and confidence building at bi-national, bi-regional and global levels. Presentation at the Conference “German-Iranian Cooperation: A field for Political Confidence Building?” 24 June 2014, Teheran. Von Uruk zur Metropole Ruhr – im Netz der Metropolen der Welt. Vortrag im Museum für Archäologie des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe in Herne am 13. April 2014. Die Welt wird zur Stadt – Globale Urbanisierung. Vortrag im Studienforum der Volkshochschule Beckum-Wadersloh am 28. Januar 2014.
2013 Gebaute Repräsentanz für das demokratische Nordrhein-Westfalen. In Die Präsidentin des Landtags Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), Der Landtag NRW 25 Jahre am Rhein. „Der neue Landtag als Impuls für die Stadtentwicklung“. Düsseldorf: Selbstverlag. Architektur und Politik. Die gebaute Umwelt im öffentlichen Bewusstsein. werkbund. akademiereihe, hefte 8–12, 11–17. Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg – kulturelle Folgen. In R. Fikentscher (Hrsg.), Integrationskulturen in Europa (S. 187–195). Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag. Flächensanierungen – Erhaltende Stadterneuerung – Zukunft der Stadtkultur. In G. Escher D. Leyser-Droste, W. Ollenik, Chr. Reicher & Y. Utku (Hrsg.), Stadtsanierung in der Stadtentwicklung. Beiträge zur Städtebaulichen Denkmalpflege (S. 66–75). Essen Klartext. Transnationale Parteienkooperationen in der politischen Praxis: Die Sozialistische Internationale im 20. und 21. Jahrhundert. Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen, 46, 97–110. World Development Policy – A challenge for a democratic statehood within the multi-level system. Vortrag zum Einführungsseminar der Stipendiatinnen und Stipendiaten des BundeskanzlerStipendienprogramms und des Internationalen Klimaschutzstipendienprogramms 2013/14, Einführungsveranstaltung der Alexander von Humboldt-Stiftung Bonn. 02. September 2013.
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Freiheit von Not. Ist die Ernährung einer Weltbevölkerung von Milliarden möglich? Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte, 9, 53–57. Freedom from Want. It is possible to feed a global population of nine billion? Neu Gesellschaft. Frankfurter Hefte. Journal of Social Democracy. International Quarterly Edition 4, 2–5. Kolonialismus und Urbanisierung. Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte, 12, 52–54.
2012 Kultur in der Fläche aus der Sicht der Raumentwicklung in NRW. In Kultursekretariat NRW Gütersloh (Hrsg.), Kultur in der Fläche. Beiträge zum kulturpolitischen Diskurs. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Ruhr als Stadt – nicht als Gebiet, Pott oder Revier. Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte, 11, 29–32. Demokratie in den Arabischen Staaten erfordert Wohlfahrtsstaatlichkeit. Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte, 6, 25–28. Global denken. infodienst. Das Magazin für kulturelle Bildung, 103. April 2012 (Gekürzte Fassung von „Kultur in der Fläche aus der Sicht der Raumentwicklung in NRW“). Globalization, Welfare State and Social Justice. Vortrag, Friedrich Ebert Stiftung in San José, Costa Rica, 23. Januar 2012.
2011 Wie Ruhr zur Metropole wird. 14 Antworten. In K. Engel, J. Großmann & B. Hombach (Hrsg.), Phönix flieg! Das Ruhrgebiet entdeckt sich neu (S. 550–564). Essen: Klartext. Where Enlargement Fatigue meets Accession Fatigue. Introductory Proposition bei der 13. Internationalen Parlamentarier-Konferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung: Regional cooperation and EU integration in Cavtat (Kroatien) am 08. Oktober 2011. Von der IBA lernen. Erfahrungen aus der Sicht des zur Zeit der Beschlussfassung Mai 1988 verantwortlichen Ministers der Landesregierung Nordrhein-Westfalen. In Ch. Reicher, L. Niemann & A. Uttke (Hrsg.), Internationale Bauausstellung Emscher Park: Impulse (S. 156–165). Essen: Klartext. Kooperation möglich. Zwischen Agglomeration und Metropole. Ruhr – Stadtlandschaft mit Möglichkeiten einer Metropole Ruhr. polis 01, 64–69. Globale und europäische Demokratie. Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte 5, 45–47. Ruhr und Oberschlesien im Netz der Metropolen Europas. Industrie-Agglomerationen als metropolitane urbane Landschaften, Gliwice – Opole 2011 (Haus der Deutsch-Polnischen Zusammenarbeit). Zaglebie Ruhry i Gorny Slansk w sieci metropoli europejskich. Aglomeracji przemyslowe jako metropolitalne obszary miejskie, Gliwice – Opole 2011 (Dom Wspolpracy Polsko-Niemieckie). Verkehrspolitik in der Metropole Ruhr. Impulsreferat in der Mobilität-Werk-Stadt „Raus aus dem Stau … neue Verkehrslösungen für das Ruhrgebiet“ des Netzwerks Bürgerinitiativen Wege für Essen am 15. Januar 2011 in Essen, Burggymnasium.
2010 Weltentwicklungspolitik – Aufgabe kompetenter und demokratisch legitimierter globaler Staatlichkeit. In E. Deutscher & H. Ihne (Hrsg.), „Simplizistische Lösungen verbieten sich“. Zur internationalen Zusammenarbeit im 21. Jahrhundert. Festschrift zu Ehren von Professor Uwe Holtz. Baden-Baden: Nomos. Roberto Matta: Ohne Titel. In H.-G. Golinski (Hrsg.), 50 Jahre Kunstmuseum Bochum. 50 Meisterwerke betrachtet von 50 Bürgerinnen und Bürgern. Bochum: Bochumer Künstlerbund. European Industrial Agglomerations: Metropolitan Urban Landscapes? Keynote Lecture at the Congress “Our Common Future”. 06. November 2010. Essen. [Europäische Industrieagglomerationen: Metropolitane Urbane Landschaften? Impulsreferat auf dem Kongress „Our Common Future“. 06. November 2010. Essen.] 791
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Der Auftrag an die Region – ein Resümee. Vortrag auf dem Europäischen Zukunftskongress zum Emscher Landschaftspark. Kulturlandschaft der Metropole Ruhr des Regionalverbands Ruhr am 01. Oktober 2010 in Essen. Industrieagglomerationen versus Europäische Stadt – Ruhr: Metropolitane urbane Landschaft. In K. Fehlemann, B. Reiff, W. Roters & L. Wolters-Krebs (Hrsg.), Charta Ruhr. Denkanstöße und Empfehlungen für polyzentrale Metropolen (S. 28). Essen: Klartext (Langfassung auf CD). Denkmalschutz – Erfahrungen mit einer staatlichen Aufgabe im kulturellen Wandel und mit dem Rheinischen Landeskonservator Udo Mainzer. In U. Stevens & U. Heckner (Hrsg.), DenkmalKultur im Rheinland. Festschrift für Udo Mainzer zum 65. Geburtstag (S. 11–16). Worms: Werner. Die Metropole Ruhr – zur Rolle Dortmunds. In H. Börner, E. Lürig, Y. Utku & D. Zimmermann (Hrsg.), Stadtentwicklung in Dortmund seit 1945. Von der Industrie- zur Dienstleistungs- und Wissenschaftsstadt (S. 47–60). Dortmund: Klartext (Dortmunder Beiträge zur Raumplanung. Blaue Reihe 135). Metropolen in der Raumentwicklung Südosteuropas. In Th. M. Bohn & M.-J. Calic (Hrsg.), Urbanisierung und Stadtentwicklung in Südosteuropa vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, 47. Internationale Hochschulwoche der Südosteuropa-Gesellschaft in Tutzing 06.-10.10.2008 (S. 287–306). München, Berlin: Sagner. Scientific Dialogue between Germany and the Middle East: Ruhr Metropolitan Area and Amman Metropolitan Area. In Ch. Reicher, K. Bäumer, M. Tawil, D. Jacob & L. Shaheen (eds.), Planning Spaces through Intercultural Dialogue (pp. 10–13). Essen: Klartext. Weltgesellschaft. In K. H. Petzinka & U. Küppers (Hrsg.), THS. 90 Jahre deutsche Wohnungswirtschaft (S. 246–253). Wuppertal Verlag Müller und Busmann KG Es gibt sie doch: Europäische Parteien. Wirklichkeit jenseits wissenschaftlicher Wahrnehmung. Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte 1/2, 62–64. Ruhr erfüllt metropolitane Voraussetzungen. Unter freiem Himmel. Sonderveröffentlichung von Garten + Landschaft, 13. Wege aus der Krise. Europäische Krisen und Fehlentwicklungen mit besonderem Blick auf Osteuropa und Bulgarien – Konzepte europäischer Sozialdemokratie. Friedrich-Ebert-Stiftung Büro Bulgarien: Analysen März 2010. Sofia, Bonn: FES.
2009 Die Funktionen von Wissenschaft und Politik in der Weltgesellschaft – auf der Grundlage des Konzepts der Nachhaltigkeit und des Rechts auf menschliche Sicherheit. In R. Popp & E. Schüll (Hrsg.), Zukunftsforschung und Zukunftsgestaltung (S. 507–523). Berlin, Heidelberg: Springer. Masterpläne: Demokratie zwischen Ideen und die Legitimation. In P. Bauwens-Adenauer S. U. Soenius (Hrsg.), Der Masterplan für Köln – Albert Speers Vision für die Innenstadt von Köln (S. 15–20). Köln: Greven. Honduras – auf dem Weg in die 70er Jahre. Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte, 12, 11–13. Metropole Ruhr. Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte, 10, 53–56. Neue Weltordnung. Menschenrechte als Grundlage. Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte, 6, 18–21. Masterpläne – Demokratie zwischen Ideen und Legitimation. der architekt, 3, 82–85. Metropole Luxemburg und Regionalentwicklung des Kantons Esch. forum für Politik, Gesellschaft und Kultur, 288, 39–40. Global Economic and Financial Policies 2009 – a Global Social Democratic View. Lecture at a Seminar in the London School of Economic and Political Sciences, Employment Relations and Organisational Behaviour Group Department of Management, in conjunction with the Friedrich-Ebert-Stiftung. London. 06. April 2009. Menschenrechte – universal oder westlich? Vortrag am 31. März 2009 in Münster im Rahmen der Münsteraner Gespräche der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen, Landesverband
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Nordrhein-Westfalen unter dem Titel „Perspektiven: Menschenrechte – eine universale Idee? Für welche Menschenrechte streitet unsere westliche Welt?“ Solun i poslilje Soluna: „Mi Evropljani“ – sposobni i spremi za prijem, Vortrag auf dem Forum der Friedrich-Ebert-Stiftung „Bosna i Hercegovina – 2014“. Sarajewo. November 2008. Veröffentlicht am 09. November 2009.
2008 Regionalisierung – Grundgedanken zu einer besseren (Raum-)Entwicklungspolitik. In H. Monheim & Ch. Zöpel (Hrsg), Raum für Zukunft. Zur Innovationsfähigkeit von Stadtentwicklungs- und Verkehrspolitik (S. 43–56). 2. überarb. u. erg. Aufl. Essen: Klartext. Denkmalschutz – Ein notwendiger Beitrag zu kulturellen Identitäten in einer Demokratie. In B. Aldenhoff et al. (Hrsg.), Denkmalpflege – Städtebau. Beiträge zum 70. Geburtstag von Hiltrud Kier (S. 77–82). Köln: Bachem. Metropolen und ihre Regionen in europäischer Perspektive. Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung: Metropolregionen. Almanach, 38–51. Theoretische Anmerkungen zu demokratischer Politik in der Weltgesellschaft. In E. Bahr (Hrsg.), Weltgesellschaft (S. 41–57). Berlin: vorwärts. Zukunft Stadt: Weltstadt Ruhr. In Ch. Reicher et al. (Hrsg.), Stadtperspektiven (S. 208–218). Stuttgart, Zürich: Krämer. La integracion sudamericana como requisito para la independencia. Nueva Sociedad, 216, 25–34. Alle rasch aufnehmen! Warum ein zügiger EU-Beitritt der östlichen Adria-Anrainer im europäischen Interesse liegt. Internationale Politik, 63(6), 15. Demokratie lebt vom Ansehen der Parlamentarier. 31. Dezember 2008. Frankfurter Allgemeine Zeitung. Menschliche Sicherheit als menschenrechtspolitisches Konzept. Menschenrechte im Ost-West-Konflikt. In SPD (Hrsg.), Gerechtigkeit durch Recht. 60 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte.
2007 The European Union: Development, Challenges and Prospects. Vortrag am Centre for South, Central, South East Asian and South West Studies. New Delhi. 17. Januar 2007. Weltdemokratie. In D. Albers & A. Nahles (Hrsg.), Linke Programmbausteine. Denkanstöße zum Hamburger Programm der SPD (S. 59–63). Berlin: vorwärts. UN-Reform und Friedensicherung im 21. Jahrhundert. In Zentralkomitee der Deutschen Katholiken (Hrsg.), 96. Deutscher Katholikentag Saarbrücken 2006 (S. 673–684). Bonn Butzon & Berecker. Democracia y sociedad mundial: reflexiones desde la socialdemocracia. La Tendencia – revista de analisis politico, 5, Quito. Ruhr – eine Hauptstadt geschichtlicher Kultur von Migration und zivilisatorischer Vielfalt. Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur, 1, 8–9. Stabilna demokratija treba demokratsku desnu i lijevu alternativu. Juni 2007. Argumenti, 17–30.
2006 Social Cohesion in East-Central European Countries and Its Future. The German Perspective. Vortrag auf der Konferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung: „Social Cohesion in East-Central European Countries and Its Future“. 04. Dezember 2006. Prag. A Social Democratic Perspective for Europe including the former Communist States. Vortrag beim Workshop der Friedrich-Ebert-Stiftung: „A Social Democratic Agenda for a Democratic, Just and Prosperous Europe“. 18. November 2006. Chisinau, Moldova. Democracia y sociedad mundial: reflexiones desde la Socialdemocracia. Vortrag bei der FriedrichEbert-Stiftung. 19. Oktober 2006. Tegucigalpa, Honduras.
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Die Linke Zentralamerikas im globalen Kontext. Vortrag auf dem Regionalforum der FriedrichEbert-Stiftung. 12. Oktober 2006. Guatemala City. The European Way of Life: How to Meet the Challenges of the Future? Vortrag auf dem XVI. Economic Forum Krynica. 08. September 2006. Outline for a European Agenda of Work. Keynote Speech, 2nd European Summer University of Work. 02. September 2006. Duisburg. Ruhr Angeles: Metropole in der globalisierten Welt. In D. Bongert & R. Kirchhof (Hrsg.), Bericht aus der Zukunft des Ruhrgebiets. Das Jahr 2031 (S. 29–40). Essen, Bottrop: Pomp. Angebot und Nachfrage. These zur gesellschaftlichen Verantwortung des freien Architekten. Der Architekt, 7–8, 28–33. O perspective social-democrat pentru Europa, inclusive in fostele state comuniste. In Partidul Democrat din Moldova (Hrsg.), Rolul Social Democratiei in Europa de maine (S. 45–53). Chisinau. Zehn Jahre als „Denkmalminister“ mit Paul Arthur Memmesheimer. Denkmalschutz in den 1980 Jahren. In U. Mainzer (Hrsg.), Die Kunst der Denkmalpflege (S. 9–19). Worms: Wernersche (Arbeitsheft der rheinischen Denkmalpflege, 68). Integration in Europa – Voraussetzung für kulturelle Vielfalt. In R. Fikentscher (Hrsg.), Europäische Gruppenkulturen (S. 13–20). Halle: Mitteldeutscher Verlag. Gewaltenteilung im politischen System der Weltgesellschaft. In S. von Schorlemer (Hrsg.), „Wir, die Völker (…)“ – Strukturwandel in der Weltorganisation (S. 147–168). Frankfurt am Main: Peter Lang. Die Staaten Südosteuropas – Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Mazedonien und SerbienMontenegro – auf dem Weg nach Europa. Keynote Speech, „Die Zukunft des Westlichen Balkans“ auf der Internationale Konferenz der Andrassy Gyula Universität Budapest, der Europäischen Kommission und der Friedrich-Ebert-Stiftung. 19. Mai 2006. Budapest. „Ich, nur besser“. Ein Weggefährte erinnert sich an Johannes Rau. Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte, 4, 64–67. Weltweite Migration in Geschichte, Gegenwart und Zukunft. In Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen (Hrsg.), Globale Migration am Beginn des 21. Jahrhunderts: Eine Welt ohne Grenzen? (S. 5–7). Berlin: DGVN (Blaue Reihe, 96).
2005 Die äußeren Beziehungen demokratisch gestalten. In C. Buchheit & K. Wettig (Hrsg.), 50 Gründe für Rot-Grün (S. 165–177). Berlin: vorwärts. Der Sozialstaat – Teil kultureller Identität Europas. In Politische Akademie der Friedrich-EbertStiftung (Hrsg.), Soziale Demokratie in Europa (S. 152–158). Berlin: Politische Akad. der Friedrich-Ebert-Stiftung. Kollektive Identitäten – Assoziationen zu Lutz Niethammer. In J. John, D. van Laak & J. von Puttkamer (Hrsg.), Zeit-Geschichten. Miniaturen in Lutz Niethammers Manier (S. 332–337). Essen: Klartext. Urbanisierung der Agglomeration Ruhr. Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur, 2, 14–19. Global Democracy in the Nexus of Governments, Parliaments, Parties and Civil Society. FriedrichEbert-Stiftung. Dialogue on Globalization, Occasional Papers, 21. Oktober 2005. http://library. fes.de/pdf-files/iez/global/50196.pdf. Zugegriffen: 28. September 2020. Die Sozialistische Internationale und globale Demokratie. Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung, Internat. Politikanalyse. Bonn: FES. http://library.fes.de/pdf-files/id/02869.pdf. Zugegriffen: 28. September 2020.
2004 Die Zukunft des Mittleren Ostens. EINE WELT Informationen (Nord-Süd Info-Dienst), 87, 14–16. Kulturelle Identität als Menschenrecht. Kulturnotizen, 8, 9–12. Politik in der Weltgesellschaft. spw. Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft, 135, 34–37.
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Europas Landschaft – politisch größer, demographisch und sozialökonomisch verschiedener. In Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung (Hrsg.), Neue Landschaften, Almanach (S. 29–39). Friedensmacht in einer multipolaren Weltordnung. Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte 1+2, 34 –39. Links und rechts als demokratische Alternativen globaler Politik. perspektivends, 1, 74–79. Die Ruhrstadt ist keine Vision mehr, sie ist nicht realisierte Notwendigkeit. In Regionalverbandverband Ruhr (Hrsg.), Standorte. Jahrbuch Ruhrgebiet 2003/2004 (S. 19–29). Essen: Klartext. Integrimi ne BE i Europes Juglindore, si domosdoshmeri historike. Europian. Reviste periodike e Ministrise se Integrimit Europian, 3, 9–11 [South-Eastern Europe’s Integration into the European Union as Historical Necessity. European. Periodical Review of the Ministry of European Integration, 3, 5–7.]
2003 Die deutsche Politik in der Irak-Krise. Vortrag auf der Fachkonferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung „Wir im Irak – Wie reagieren die Nachbarn“. 30. Januar 2003. Berlin. Diskurs über den Krieg – demokratisch und global. Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte 3, 21–23. Das Revier verändert seine Gesicht. 12. November 2003. Handelsblatt. Westliche Werte und historische Erfahrungen diesseits und jenseits des Atlantik. Internationale Politik und Gesellschaft Online: International Politics and Society, 3.
2002 Perspektiven der EU-Osterweiterung In DGB-Bezirk Sachsen (Hrsg.): Protokoll bezirkskonferenz DGB Sachsen, Görlitz 02.02. 2002 Dresden DGB-Bezirk Sachsen The German-Czech Relations: Prospects for a Futuzre –Oriinted Approach In www. deutsche aussenpolitik.de: German Foreign Policy in Dialogue Newsletter –Issue 08 (p. 33–37) Trier 2002
2001 Bauen 2025 – Ratschläge an Architekten und Ingenieure. In Architektenkammer Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), 30 Jahre Architektenkammer Nordrhein-Westfalen (S. 16-19) Düsseldorf, Architektenkammer Nordrhein-Westfalen
2000 Die Reform der Europäischen Institutionen vor der Erweiterung: Die Regierungskonferenz 2000. In Walter-Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht (Hrsg.), Verfassungsrechtliche Reformen zur Erweiterung der Europäischen Union (S. 131–140). Baden-Baden: Nomos (Forum Constitutiones Europae, 2). Rede von Staatsminister Dr. Christoph Zöpel anlässlich der Verleihung des Groß-Kreuzes des Bundesverdienstordens an die Botschafterin der Republik Polen, I. E. Prof. Dr. Irena Lipowicz. 21. Juni 2000. Wien.
1999 Westdeutschland und seine Städte seit den 70er Jahren – Grenzen des Wachstums und kulturelle Besinnung. In Deutsches Nationalkomitee für Denkmalschutz (Hrsg.), Auf dem Weg ins 21. Jahrhundert – Denkmalschutz und Denkmalpflege in Deutschland (S. 16–17). Bonn: Dt. Nationalkomitee für Denkmalschutz.
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Visionen zur Stadtentwicklung der Zukunft. In Führungsakademie der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft (Hrsg.), Die Stadt – ein Bündnis für Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Kultur (S. 40–55). Bochum, Führungsakademie der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft e. V. Die politische Relevanz der Raumplanung für unsere Zukunft. In K. M. Schmals (Hrsg.), Was ist Raumplanung? (S. 42–57). Dortmund: IRPUD Über Entstehung und Wirken der IBA Emscher-Park In D. Kurth/ R.Scheuvens/P. Zlonicky (Hrsg.) Laboratorium Emscher Park (S. 19-23) Dortmund IRPUD Wissensproduktion – Wissensvermittlung – Wissensanwendung: Kernaufgabe politischer Steuerung der Länder. In Ch. Zöpel (Hrsg.), Brandenburg 2025 in der Mitte Europas, Bd. 1 (S. 227–230). Potsdam: SDL. Würdigung des Lebenswerks von Fridolin Hallauer. In Landesinstitut für Bauen und Wohnen des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), Staatliches Bauen im Wandel (S. 9–17). Aachen. More of You. Rede zur Verleihung der BDA-Ehrenmitgliedschaft an Karl Ganser. Der Architekt, 8,
Europe and the Middle East Peace Process, in: Mark A. Heller (Ed.): Europe & the Middle East, The Jaffee Center for Strategic Studies, Herzliya, Friedrich Ebert Stiftung, Israel Office, S. 25–33 1998 Global city Berlin – globales Umland Brandenburg? In Berlin Stadtforum globalisierung: Globalisierung. Worin liegen die Chancen? 66. Sitzung des Stadtforums „Globalisierung“(S. 21–32). Berlin Stadtforum Koordinationsbüro/Meuser Architekten Wie global ist Berlin. Berlin-Brandenburg als globale Stadt Region. Stadtforum, 29, 4–5. Das Buch: Neues zum Bodenrecht. Besprechung von Beate und Hartmut Dietrich: Boden – Wem nutzt er? Wen stützt er? Der Architekt, 3, 136. Globalisierung und postindustrielle Städte. Vortrag auf dem Neujahrsempfang der ConsultTeam Unternehmensgruppe. 26. Januar 1998. Duisburg Consult Team Germany´s Role in in International Affairs and Global Economic Interets In D. Dettke (Ed.) The Challenge of Globalization for Germanys Social Democracy (S. 150–163) New York- Oxford Berghahn Books Concepts of Common Securrity and Coordination between the Middle East and Europe, In: S. Hegasy (Ed.) Egyptian and German Perspectives on Security in the Mediteranean (p. 41–48) kairo Friedrich-Ebert-Stiftung Chancen und Realitäten deutscher Politik: Naher Osten – Nordafrika In Auslandsgesellschaft Nordrhein-Westfalen Dortmund e. V. Brücken 2/98S. 51–57)
1997 Wohnen in Deutschland. In H. G. Bell & A. Nahles (Hrsg.), Vor dem Kollaps? Die Zukunft der großen Städte (S. 125–141). Dortmund: spw. Technikwahl als Chance humaner Stadtentwicklung. In K. Burmeister & K. Böhme (Hrsg.), Telematic Cities. Gelsenkirchen: SFZ (Sekretariat für Zukunftsforschung Werkstattberichte, 17). Auch veröffentlicht in: (1996). Fraktion der SPD im Deutschen Bundestag (Hrsg.), Reader. Multimedia – neue Informationstechniken (S. 21–30). Bonn. Der wechselhafte Eigentumsbegriff. Der Architekt, 5, 275–277.
1996 Veränderte Entwicklungsperspektiven nach dem Umbruch in Europa: Grenzen für Vorausschau und langfristiges Handeln. In J. J. Hesse, K. D. Leister & Ch. Zöpel (Hrsg.), Zukunft und staatliche Verantwortung nach dem Umbruch in Europa (S. 13–25). Baden-Baden: Nomos (Forum Zukunft, 7)
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Architektur und Politik – Erfahrungen und Perspektiven. In H. Beu, H. Döring & W. Nathow (Hrsg.), 25 Jahre Architektenkammer Nordrhein-Westfalen (S. 28–35). Düsseldorf, Architektenkammer Nordrhein-Westfalen 3/1996. Bauen 2020 – Chance und Herausforderung für Architekten und Ingenieure. In Bundesverband Deutscher Baumeister, Landesverband NRW (Hrsg.), Zukunftschancen für Architekten und Ingenieure. Düsseldorf, BDV-LV NRW Zum Geleit. Verkehrspolitisches Engagement in einer globalen Zivilgesellschaft. In H. Boes & M. Hesse (Hrsg.), Güterverkehr in der Region (S. 9–23). Marburg: Metropolis. Wann und aus welchen Gründen ist das Moralische für die Politik aktuell? Einige vielleicht widersprüchliche Anmerkungen In Akademie der poltischen Bildung der Friedrich Ebert Stiftung (S. 18-23) Bonn Friedrich Ebert Stiftung
1995 Das Auto. Verkehrsmittel der Zukunft. Quip, 1, 13–14. Arbeitsgruppe „Mitgliederentwicklung“ des SPD-Parteivorstand unter der Leitung von Christoph Zöpel: Abschlussbericht mit Materialien, Bonn SPD-Parteivorstand Die Zukunft der Linken mit einer neuen Generation In V. Grube & B. Zoerner (Hrsg) Kampagnen, Dialoge, Profile (S. 10–29) Dortmund, spw-Verlag
1994 Metropolverkehr aus der Sicht der Politik. In A. Kossak (Hrsg.), Visionen für eine umweltgerechte Gestaltung des Verkehrs in der Metropole Berlin/Brandenburg. Internationales Symposion der Joachim und Hanna Schmidt Stiftung für Verkehr am 3. und 4. November 1994. Berlin. Verdrossenheit, Kommunikationsgesellschaft und Präsidialpartei. In T. Meyer, K. J. Scherer & Ch. Zöpel (Hrsg.), Parteien in der Defensive (S. 7–17). Köln: Bund. Verkehr – Technologie – Ökologie: Spannungsverhältnisse und Zukunftsperspektiven. In R. Nolte & R. Kreibich (Hrsg.), Verkehr und Telematik. Konzepte für eine umweltfreundliche Mobilität (S. 29– 36). Berlin: IZT (Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung WerkstattBericht, 19). Wissenschaftsgesellschaft, Risikogesellschaft, Mediengesellschaft – Die Frage nach der öffentlichen Verantwortung. In W.-M. Catenhusen & Ch. Zöpel (Hrsg.), Forschung und gesellschaftliche Verantwortung (S. 129–138). Marburg: Schüren. Analyse des liberalen Wohnungsbaus. Der Architekt, 11, 602–604.
1993 Forschen für die Zukunft – zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik. In W.-M. Catenhusen & Ch. Zöpel (Hrsg.), Forschen für die Zukunft (S. 148–159). Marburg: Schüren. (mit Klaus Jürgen Scherer): Wissenschaft und Politik, In: K.Blessing: SPD 2000. Die Modernisierung der SPD, (S. 176-185), Marburg: Schüren
1992 Wohnungs- und Städtebau zwischen Markt und Dirigismus. Der Architekt, 9, 409–413. Lokal erfahren, global handeln? StadtBauwelt, 12 (83), 609. Luxus Wohnen. Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte, 6, 519–529. Kunst in der Polis unter den Bedingungen der nachindustriellen Demokratie. Vortrag am 01. Juni 1992 anlässlich des Symposiums „Urban Art“ im Museum Ludwig in Köln.
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1991 Europa im Jahre 2000 – müssen wir unsere Szenarien umschreiben? In O. Schwencke (Hrsg.), Menschenbeben. Neue Aufgaben und Felder der Zukunftsforschung (S. 215–232). Rehburg-Loccum: Evang. Akad. Loccum, Protokollstelle (Loccumer Protokolle, 61). Wirtschafts- und finanzpolitische Autonomie der Länder in einer europäischen Union. In J. J. Hesse & W. Renzsch (Hrsg.), Föderalstaatliche Entwicklung in Europa (S. 141–148). Baden-Baden: Nomos (Schriften zur Innenpolitik und zur kommunalen Wissenschaft und Praxis, 5). Bauen für das Wohnen von Morgen. In H. Beu, N. Rosiny & K. Volkmann (Hrsg.), „Bauen für das Wohnen von Morgen“. Dokumentation des 7. Architektenkongresses Norderney vom 6. bis 7. September 1990 (S. 85–92). Architektenkammer Nordrhein-Westfalken Düsseldorf. Soziale Stadtentwicklung und Wohnbau in den 90er Jahren. In F. Dobusch & J. Mayr (Hrsg.), Kommunalpolitische Perspektiven. Sozialdemokratische Überlegungen einer zukunftsorientierten Gemeindepolitik (S. 179–187). Wien: Orac. Staatliche Verantwortung und Zukunftsgestaltung durch Netzwerke. In K. Burmeister, W. Canzler & R. Kreibich (Hrsg.), Netzwerke. Vernetzungen und Zukunftsgestaltung (S. 93–108). Weinheim, Basel: Beltz (Zukunftsstudien, 2). Die Zukunft der Städte: Perspektiven aus den Erfahrungen der 80er Jahre. In K. Ganser, J. J. Hesse & Ch. Zöpel (Hrsg.), Die Zukunft der Städte (S. 13–31). Baden-Baden: Nomos (Forum Zukunft, 6). Zehn Jahre Minister für Denkmalschutz. In R. Grätz, H. Lange & H. Beu (Hrsg.), Denkmalschutz und Denkmalpflege. 10 Jahre Denkmalschutzgesetz in Nordrhein-Westfalen (S. 27–31). Köln: Rheinland.
1990 Neue Verkehrspolitik. In R. Dreßler (Hrsg.), Fortschritt ’90. Fortschritt für Deutschland (S. 143–160). München: Bertelsmann. Wohnen in den neunziger Jahren. In 1950–1990. 40 Jahre Bielefelder Gemeinnützige Wohnungsgesellschaft m. b. H. Festveranstaltung (S. 17–39). 31. März 1990. Diskussionsbeiträge zum Nachmittagspodium „Ökologische und ökonomische Zusammenarbeit“. In Perspektive Berlin (West) e. V. Deutsches Nationaltheater Weimar/Ideenbüro Berlin (DDR) (Hrsg.), Deutsch-Sein in Europa. Ein Streitgespräch am 11. März 1990 in Weimar (S. 61–104). Leipzig: Forum. Der Staat der Zukunft – Zum Stand der Diskussion. In J. J. Hesse & Ch. Zöpel (Hrsg.), Der Staat der Zukunft (S. 175–194). Baden-Baden: Nomos (Forum Zukunft, 5). Start ins zweite Jahrzehnt. Der neue Verkehrsverbund Rhein-Ruhr. SGK-Forum, L8(1), l–2. Der Staat der Zukunft – Zum Stand der Diskussion. In J. J. Hesse & Ch. Zöpel (Hrsg.), Der Staat der Zukunft (S. 175–194). Baden-Baden: Nomos (Forum Zukunft, 5).
1989 Fortschritt für morgen. In Materialien 5 zum Fachkongreß „Fortschritt für die 90er: Moderne Technik in einer humanen Arbeitswelt“. 19. und 20. September 1989. Darmstadt. Die Erhaltung Technischer Denkmäler in Nordrhein-Westfalen. Der Anschnitt. Zeitschrift für Kunst und Kultur im Bergbau, 41(2–4), 65–69. Soziale Innovation in Städten. In Ministerin für die Gleichstellung von Mann und Frau des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), Frauen und Stadterneuerung. Dokumentation der Tagung in Hilden vom 16. August 1989 (S. 11–25). Fragen der Stadt- und Verkehrsentwicklung. Rede vor der Parteihochschule der Kommunistischen Partei Chinas in Beijing am 11. April 1989. Unveröffentl. Manuskript. Technischer Fortschritt und ökonomische Entwicklung. In J. J. Hesse, R. Kreibich & Ch. Zöpel (Hrsg.), Zukunftsoptionen – Technikentwicklung in der Wissenschafts- und Risikogesellschaft (S. 13–23). Baden-Baden: Nomos (Forum Zukunft, 4).
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1988 Wiedergelesen: Die Zukunft hat schon begonnen. Festschrift. 1. Versuch. Robert Jungk 75. Stadtökologie – Einblicke in einen Prozess. In J. Frerichs et al. (Hrsg.), Jahrbuch Arbeit und Technik in Nordrhein-Westfalen (S. 95–104). Bonn: Neue Gesellschaft. Die Zukunft alter Industriegebiete. In Der Minister für Stadtentwicklung, Wohnen und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), Internationale Bauausstellung Emscher-Park. Werkstatt für die Zukunft alter Industriegebiete. Dokumentation der Auftaktveranstaltung am 16.12.1988 in Gelsenkirchen (S. 32–40). Verkehrspolitische Rede. In Verband öffentlicher Verkehrsbetriebe (Hrsg.), Jahrestagung ’88 (S. 13–18). Düsseldorf. (mit Wilgart Schuchardt). Politik und Technik – eine Zwischenbilanz aus sozialdemokratischer Sicht. In Ch. Zöpel (Hrsg.), Technikgestaltung durch den Staat (S. 11–36). Bonn: Neue Gesellschaft. Technikbeherrschung – eine Einleitung. In Ch. Zöpel (Hrsg.), Technikkontrolle in der Risikogesellschaft (S. 7–17). Bonn: Neue Gesellschaft. Wie weit kann und muss der Staat in die Zukunft sehen? In J. J. Hesse H.-G. Rolff & Ch. Zöpel (Hrsg.), Zukunftswissen und Bildungsperspektiven (S. 13–33). Baden-Baden: Nomos (Forum Zukunft, 3). Festvortrag zu 40 Jahre Gemeinnützige Wohnungsgesellschaft mbH Castrop-Rauxel am 23.11.1988. In Gemeinnützige Wohnungsgesellschaft mbH Castrop-Rauxel (Hrsg.), 40 Jahre GEWO CastropRauxel 1948–1988. Castrop-Rauxel. Erneuerung der alten Industrieregion Ruhrgebiet – Bilanz, Perspektiven, Fragen. In Institut für Landes- und Stadtentwicklung (Hrsg.), Innovationen in alten Industriegebieten. Beiträge zum 1. Wissenschaftstag des ILS am 10. und 11. Dezember 1987 (S. 73–87). Dortmund ILS-Taschenbücher
1987 Verteilung von Arbeit und Einkommen. Unveröffentlichtes Manuskript (=Arbeitspapier für die Wirtschafts- und Finanzpolitische Kommission des SPD-Parteivorstandes). Dezember 1987. Geschichte und Zukunft des Bauens in Nordrhein-Westfalen. Festvortrag anlässlich des 90. Gründungstages der Königlich-Preußischen Baugewerkschule für Elberfeld-Barmen vor den Fachbereichen Architektur und Bautechnik der Bergischen Universität Gesamthochschule Wuppertal am 21. Oktober 1987. In BUG Wuppertal (Hrsg.), Festschrift zum 90. Gründungstag der Königlich-Preußischen Baugewerkschule (S. 24–34). Die Zeit – ein Politikfeld der Zukunft. In J. J. Hesse & Ch. Zöpel (Hrsg.), Neuorganisation der Zeit (S. 11–29). Baden-Baden: Nomos (Forum Zukunft, 2). Stadtentwicklung und Einzelhandel. Rede anlässlich der ordentlichen Mitgliederversammlung der Landesarbeitsgemeinschaft der Mittel- und Großbetriebe des Einzelhandels in NordrheinWestfalen am 26. März 1987 in Düsseldorf. In Der Minister für Stadtentwicklung, Wohnen und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), MSWV informiert 8. Diskussionsbeiträge zu den Expertengesprächen zum freizeitpolitischen Handlungsbedarf I: Freizeit Arbeit & zum freizeitpolitischen Handlungsbedarf II: Freizeit und Lebensraum. In Deutsche Gesellschaft für Freizeit (Hrsg.), Freizeitpolitik als Gesellschaftspolitik. Deutscher Freizeitkongreß 1987. Dokumentation (S. 27–43, 53–63). Erkrath: DGF. Fragen des Staates an die Zukunftsforschung. In J. J. Hesse & Ch. Zöpel (Hrsg.), Zukunft und staatliche Verantwortung (S. 13–44). Baden-Baden: Nomos (Forum Zukunft, 1). Zeitpolitik und Stadtentwicklung. Deutsches Architektenblatt, 19, 999–1002. Freizeitpolitik als soziokulturelle lnnovationsstrategie im Umbruch der Arbeitsgesellschaft. Freizeitpädagogik, 9(3–4), 97–113. (mit Wolfgang Roters). Politik in den Städten – aus Landessicht. In J. J. Hesse (Hrsg.), Zur Situation der kommunalen Selbstverwaltung heute (S. 127–141). Baden-Baden: Nomos.
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1986 Gleichberechtigung im Stadtverkehr. In SPD-Fraktion im Rat der Stadt Köln (Hrsg.), Gleichberechtigung im Stadtverkehr. Tagungsband des verkehrspolitischen Kongresses der SPD-Fraktion im Rat der Stadt Köln vom 28.11.1986 (S. 1–17). Köln: SPD. Welches Städtebaurecht ist für eine soziale und ökologische Stadtentwicklung notwendig? In P. Klein (Hrsg.), Die Wiederkehr der Städte. Städtebaukongreß der SPD am 8. und 9. Oktober 1986 in Hamburg, Sondernummer der „Demokratischen Gemeinde“ Dezember 1986/Januar 1987 (S. 162–168). Bonn: vorwärts. Wirtschaftspolitische Aussagen im Zusammenhang der politischen Strategie der SPD. Unveröffentlichtes Manuskript. Verkehrspolitik für eine menschengerechte Stadt. In Der Minister für Stadtentwicklung, Wohnen und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), MSWV informiert 9; ebenfalls enthalten in: O. Schwencke (Hrsg.), Verkehrsplanung für eine menschengerechte Stadt (S. 250–278). Rehburg-Loccum: Evang. Akad. Loccum (Loccumer Protokolle, 5).
1985 Offene Probleme des Wirtschaftsprogramms: Wachstum und Verteilung (=Unveröffentlichtes Manuskript Oktober 1985); Teilabdruck in der Frankfurter Rundschau vom 26.10.85, S. 5 Auto in der Stadt. In ADAC Westfalen-West e. V. (Hrsg.). Verkehrs-Forum 85 – Dokumentation. Grundzüge der Verkehrspolitik und ihre Handlungsschwerpunkte. Rede des Ministers für Stadtentwicklung, Wohnen und Verkehr vor dem Verkehrsausschuss des Landtages NRW am 12. MSWV Kurzinformation 1. Freie Räume sichern. 31. Juli 1985. Frankfurter Rundschau, 174, 4. Gedanken zur Architektur. Rede anlässlich der Entgegennahme des „Goldenen Zirkels“ der Vereinigung der freischaffenden Architekten Deutschlands am 09. Mai 1985 in Mönchengladbach. In Der Minister für Stadtentwicklung. Wohnen und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), MSWV informiert 1.
1984 Stadtentwicklung in Nordrhein-Westfalen – Bilanz und Ausblick 1984. Unveröffentlichtes Manuskript. Ende 1984. Die Landes- und Stadtentwicklung aus nordrhein-westfälischer Sicht. Die Weser. Zeitschrift des Weserbundes e. V., 5/6, 53–56. Beiträge der Landes- und Stadtentwicklung für den Weserraum. Eröffnungsvortrag zum Wesersymposion „Aktuelle Probleme der räumlichen Entwicklung des Weserraumes“. Die Weser. Zeitschrift des Weserbundes e. V., 5/6, 5–9. Freizeitpolitik in Nordrhein-Westfalen. In SPD-Landesvorstand Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), Sinnvolle Freizeit für alle (S. 30–45). Düsseldorf: PD-Landesvorstand Nordrhein-Westfalen, Komm. Freizeitpolitik u. Sport. Städtebauliche Qualität – Voraussetzung für neue Baunachfrage. Rede auf der Vertreterversammlung der Architektenkammer Nordrhein-Westfalen am 8. März 1984. Unveröffentl. Manuskript. Grußworte im Namen der Landesregierung und Ausführungen über „Fragen der Regionalentwicklung und Regionalpolitik in Nordrhein-Westfalen“. In 44. Deutscher Geographentag Münster 24. bis 28. Mai 1983: Tagungsbericht und wissenschaftliche Abhandlungen. Paderborn: Schöningh.
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1983 Konzeption einer problemorientierten Wohnungspolitik auf empirischer Grundlage. In A. Evers, H.-G. Lange & H. Wollmann (Hrsg.), Kommunale Wohnungspolitik (S. 12–26). Basel, Boston, Stuttgart: Birkhäuser. Anmerkungen zur neuen Landesbauordnung und zur Versuchsklausel in Nordrhein-Westfalen. Wir bauen, Bauindustrie Report, 6(1982J83), 52–54. Die menschliche Stadt der Zukunft. Daseinsvorsorge der Politik. Düsseldorf (Presse- und Informationsamt der Landesregierung Nordrhein-Westfalen, Dokumente und Meinungen, 4). Freizeitpolitik als öffentliche Aufgabe. In Sozialdemokratische Gemeinschaft für Kommunalpolitik in Nordrhein-Westfalen: SGK-Fachtagung Freizeitpolitik in der Kommune am 3. September 1983 (S. 5–12). Dortmund. Denkmalschutz am Ende des 20. Jahrhunderts. Rheinische Heimatpflege, 20(1983), 241–253. Landesplanung und Städtebau in den 80er Jahren. In Landesplanung und Städtebau in den 80er Jahren, Aufgabenwandel und Wechselbeziehungen. Ergebnisse der gemeinsamen Wissenschaftlichen Plenarsitzung 1982 der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung und der Akademie für Raumforschung und Landesplanung in Dortmund (S. 11–20). Hannover: Vincentz (Veröffentlichungen der Akademie für Raumforschung und Landesplanung. Forschungs- und Sitzungsberichte, 152). Stadtpolitik am Ende des 20. Jahrhunderts. MLS informiert 8 (Minister für Landes- und Stadtentwicklung des Landes Nordrhein-Westfalen; zuerst erschienen in: P. Klein (Hrsg.), Sozialdemokratische Kommunalpolitik im Schatten Bonns. Eine kommunalpolitische Dokumentation (S. 120–144). Bonn: vorwärts.)
1982 Stadterneuerung und Wohnungsbau geben dem Ruhrgebiet neues Profil. Ruhrgebiet aktuell, 1, 11–13. Wohnungspolitik in den 80er Jahren als politische Aufgabe. In Gemeinnützige Wohnstätten-Gesellschaft Münsterland m. b. H. (Hrsg.), Gemeinnütziges Bauen – eine Zwischenbilanz nach 60 Jahren (S. 9–17). Münster. Landes- und Stadtentwicklungspolitik für die Ballungsräume in Nordrhein-Westfalen. In Akademie für Raumforschung und Landesplanung (Hrsg.), Planungsprobleme von Ballungsräumen dargestellt an Beispielen aus Nordrhein-Westfalen und England (S. 7–17). Hannover: Akad. für Raumforschung u. Landesplanung (Arbeitsmaterial, 62). Die Stadt am Ende des 20. Jahrhunderts – Analyse der Gegenwart und Programm für die Zukunft. 07. Juni 1982. Frankfurter Rundschau, 129, 14–15. Staatliche Wohnungspolitik in der Krise? Welche Konsequenzen müssen Sozialdemokraten in Bund, Ländern und Kommunen ziehen? In Sozialdemokratische Gemeinschaft für Kommunalpolitik (Hrsg.), Informationsdienst. Januar 1982, 15–26.
1981 Über einige Hintergründe der aktuellen Staatsverschuldungsdebatte. In D. B. Simmert & K D. Wagner (Hrsg.), Staatsverschuldung kontrovers (S. 224–231). Köln: bpb. Grenzüberschreitende Raumordnung und Landesplanung im Weserraum (Rede vor dem Wesertag 1981 in Minden). Die Weser. Zeitschrift des Weserbundes e. V., 2(11), 23–27. Perspektiven der Wohnungspolitik in Nordrhein-Westfalen. In Beschlußprotokoll über die 5. ordentliche Landeskonferenz der Arbeitsgemeinschaft für Städtebau- und Wohnungspolitik in Nordrhein-Westfalen am 21. November 1981 in Leverkusen, S. 2–30.
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Anhang
1980 Regionale Strukturpolitik braucht ein breites Fundament. Probleme und Problemlösungen in alten Industriegebieten. Ruhrgebiet aktuell, 3(6), 1–3. Zur Zukunft älterer Industrieregionen. Dokumente und Meinungen, 3, hrsg. v. Presse- und Informationsamt der Landesregierung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf. Die Zukunft des Ruhrgebiets als Politische Aufgabe. In R. Koschnitzke & E.-A. Plieg (Hrsg.), Ruhrgebiet heute (S. 42–64). Bochum: Brockmeyer (RUB-Winter, 7).
1979 Entwicklungshilfe für Zentren. Traditionelle Industriegebiete fördern. 20. Juni 1979. Frankfurter Rundschau, 140, 13. Hilfe für strukturschwache Gebiete. Ein Konzept zur gezielten Förderung von Arbeitsmärkten. Sozialdemokratischer Pressedienst Wirtschaft, 34(7), 5–8.
1978 Fremdenverkehrspolitik aus der Sicht der Länder. In Grundsätze und Leitlinien für eine Sozialdemokratische Fremdenverkehrspolitik. Bericht über die Arbeitstagung sozialdemokratischer Kurdirektoren und Fremdenverkehrsfachleute am 17/18. November 1978 in Bonn, S. 22–32. Vom Werden einer Identität. Porträt einer „handlungsfähigen Region“. 12. Oktober 1978. Vorwärts, 41, 17–18. Wer arbeiten will, soll arbeiten können. Strategien zur Lösung der Arbeitsmarktprobleme. Sozialdemokratischer Pressedienst Wirtschaft, 3(58), 4–6.
1977 Die Energiediskussion – ein Lehrstück über Ökonomie, Technik und Demokratie. In M. Krüper (Hrsg.), Energiepolitik. Kontroversen – Perspektiven (S. 54–64). Köln: Bund. Thesen zur Energiepolitik in Nordrhein-Westfalen. In Ch. Zöpel (Hrsg.), Energiepolitik in Nordrhein-Westfalen (S. 7–19). Düsseldorf: WIV. Für Kohle und Kernkraft aus internationaler Solidarität. 15. November 1977. einheit.
1976 Für Investitionskontrollen. point. Das deutsche Schülermagazin, 3(10), 5. Ziele der Struktursteuerung. In W. Roth (Hrsg.), Investitionslenkung. Ergebnisse einer Diskussion zwischen jungen Unternehmern und Sozialdemokraten zum Problem von Markt und Lenkung (S. 62–68). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
1973 Investitionskontrolle. einblick, 1, Sept. 1973, 14.
1972 Nulltarif? Wirtschaftliche und politische Fragen des Nahverkehrs. Gegenwartskunde, 21(1), 29–38.
1968 Ansprache des Vorsitzenden der Studentenschaft der Ruhr-Universität Bochum zur Rektoratsübergabe. Bochumer Universitätsreden, 4.
Christoph Zöpel: Publikationen
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Kulturraum Paper Seit 2018 geben Christoph Zöpel und Iris Bocian die Kulturraumpaper heraus. Schmidt, A. (2018). Schwerpunkte und Meilensteine des amtlichen Naturschutzes und der Landschaftspflege in Nordrhein-Westfalen von 1971 bis Ende 1998. Ein Zeitzeugenbericht. November 2018. Kulturraum Paper, 3. Hrsg. v. Ch. Zöpel & I. Bocian. Bußmann, L. (2018). Leitbildwechsel der regionalen und sektoralen Wirtschaftsstrukturpolitik in Nordrhein-Westfalen seit den 1960er Jahren. Eine kritische Reflexion in den 2010er Jahren. Dezember 2018. Kulturraum Paper, 5. Hrsg. v. Ch. Zöpel & I. Bocian. Zöpel, Ch. (2019). Nulltarif? Wirtschaftliche und politische Fragen des Nahverkehrs. Januar 2019. Kulturraum Paper, 6. Hrsg. v. Ch. Zöpel & I. Bocian. Schmidt, A. (2020). Klimaveränderungen und Klimapolitik. Februar 2020. Kulturraum Paper, 8b. Hrsg. v. Ch. Zöpel & I. Bocian.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Arning, Hein, Leitender Ministerialrat a.D., Geschäftsführer der Landesentwicklungsgesellschaft NRW a.D. Baranowski, Frank, Oberbürgermeister der Stadt Gelsenkirchen bis 2020 Biedenkopf, Kurt, Prof. Dr., Ministerpräsident des Freistaates Sachsen a.D Bogumil, Jörg, Prof. Dr., Lehrstuhl für öffentliche Verwaltung, Stadt- und Regionalpolitik, Ruhr Universität Bochum Brunn, Anke, Senatorin a.D. für Jugend, Familie und Sport im Senat von Berlin; nordrhein-westfälische Ministerin a.D. für Wissenschaft und Forschung Bussfeld, Klaus, Dr., Oberstadtdirektor der Stadt Gelsenkirchen a.D. Falter, Annegret, Dipl.-Pol., Vorsitzende von Whistleblower-Netzwerk e.V. Garske, Benjamin, M.A., wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fernuniversität Hagen Geisel, Thomas, Dr., Oberbürgermeister der Stadt Düsseldorf bis 2020 Giebeler, Ulrich, Dr. Ministerialdirigent a.D. Gräf, Horst, Dr., Professor für Stadtentwicklung und Stadterneuerung Graubner, David, Institut für Politikwissenschaft der WWU Münster Grütter, Heinrich Theodor, Prof., Direktor des Ruhrmuseums Essen
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Roters et al. (Hrsg.), Zukunft denken und verantworten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31703-4
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Grunow, Dieter, Dr., Prof. (em.) für Politikwissenschaft und Verwaltungswissenschaft an der Universität Duisburg-Essen Hasel Friederike Verena, Dipl. Psych., Journalistin für DIE ZEIT und Buchautorin Henneke, Joachim, Dr., Rechtsanwalt in Düsseldorf Heinze, Rolf G., Dr., Professor für Soziologie an der Ruhr-Universität Bochum Holthoff-Pförtner, Stephan, Dr., Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten sowie Internationales des Landes NRW Holtkamp, Lars, Dr., Professor für Politik und Verwaltung, Institut für Politikwissenschaften an der Fernuniversität Hagen Kafka, Krysztof, Dr. hab., Professor für Raum- und Stadtplanung an der Schlesischen Technischen Universität in Gliwice (Polen), ehem. Stadtarchitekt von Strzelce Opolskie, ehem. Vorsitzender der Regionalen Stadtplanerkammer. Kersting, Norbert, Dr., Professor für Vergleichende Politikwissenschaft – Kommunal- und Regionalpolitik - an der WWU Münster Kessler, Martin, Leiter der Politikredaktion der Rheinischen Post Kipar, Andreas, Dr., Landschaftsarchitekt, Geschäftsführer der Planungsgruppe Land Klein, Stefan, Journalist und Autor Knüpfer, Uwe, Autor und Dozent, Chefredakteur a.D. u.a. des Vorwärts und der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung Kreibich, Rolf, Prof. Dr., Direktor des Sekretariats für Zukunftsforschung (SFZ) an der FU Berlin Lammert, Norbert, Prof. Dr., Präsident des Bundestages a.D., Vorsitzender der KonradAdenauer-Stiftung Lehner, Franz, Dr., Professor (em.) für angewandte Sozialforschung an der Ruhr-Universität Bochum Lipowicz, Irena, Dr., Professorin an der Kardinal-Stefan-Wyszynski-Universität Warschau, ehem. Abgeordnete des Sejm und ehem. Beauftragte für Bürgerrechte
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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Meyer, Dirk, Abteilungsleiter im Bundesumweltministerium Meyer, Thomas, Dr., Prof. (em.) für Politikwissenschaft an der TU Dortmund, stellv. Vorsitzender der Grundwertekommission beim Parteivorstand der SPD Monheim, Heiner, Prof. (em.) für Angewandte Geographie, Raumentwicklung und Landesplanung an der Universität Trier Müller, Hedda, Dr., Ministerin für Natur und Umwelt des Landes Schleswig-Holstein a.D. Müntefering, Michelle, Staatsministerin im Auswärtigen Amt Paetzel, Ulrich, Vorsitzender des Vorstandes der Emschergenossenschaft Post, Achim, Mitglied des Deutschen Bundestages, Stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, Generalsekretär der Sozialdemokratischen Partei Europas Reicher, Christa, Prof. Dr., Lehrstuhl für Städtebau und Entwerfen und Institut für Städtebau und europäische Urbanistik der RWTH Aachen Ringbeck, Birgitta, Ministerialrätin, Koordinierungsstelle Welterbe im Auswärtigen Amt Roters, Wolfgang, Dr., Ministerialdirigent a.D. Roth, Roland, Dr., Professor für Politikwissenschaft am Fachbereich Sozial- und Gesundheitswesen der Hochschule Magdeburg-Stendal Rudolph, Karsten, Dr., Mitglied des Landtags NRW, Professor am Institut für soziale Bewegungen der Ruhr-Universität Bochum Rüttgers, Jürgen, Prof. Dr., Ministerpräsident des Landes NRW a.D. und Bundesminister für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie a.D. Scherer, Klaus-Jürgen, Politikwissenschaftler an der FU Berlin Schleper, Thomas, Prof. Dr., Landschaftsverband Rheinland Schulze, Svenja, Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit Selle, Klaus, Dr., Professor (em.) für Planungstheorie und Stadtentwicklung der RWTH Aachen
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Seltmann, Gerhard, gseProjekte – Büro für Regionalentwicklung – in Dinslaken Siebel, Walter, Dr., Professor (em.) für Soziologie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg Sierau, Ullrich, Oberbürgermeister der Stadt Dortmund bis 2020 Sonne, Wolfgang, Dr., Professor für Geschichte und Theorie der Architektur an der TU Dortmund Tawil, Maram, Dr., German Jordanian University – School of Architecture and Built Environment Thierse, Wolfgang, Präsident des Deutschen Bundestages a.D. Töpfer, Klaus, Prof. Dr., ehem. Exekutivdirektor des Umweltprogramms der Vereinten Nationen, Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit a.D. vom Rath, Dieter, Dr. Ministerialdirigent a.D. Walter-Borjans, Norbert, Dr., Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands Welzer, Harald, Prof. Dr., Mitbegründer und Direktor der Stiftung Futurzwei, Stiftung Zukunftsfähigkeit, und Honorarprofessor für Transformationsdesign an der Europa-Universität Flensburg Wewer, Göttrik, Dr., ehem. Staatssekretär in Niedersachsen, im Bundesministerium des Innern und Staatsrat in Bremen Wollmann, Hellmut, Dr., Professor (em.) für Verwaltungswissenschaft an der HumboldtUniversität zu Berlin Wolters, Friedrich, Architekt und Stadtplaner, Gründungsgesellschafter von Wolters Partner in Coesfeld Zöpel, Christoph, Dr., Minister des Landes NRW a.D., Staatsminister im Auswärtigen Amt a.D., Honorarprofessor der Universität Dortmund, Professor an der German Jordanian University Amman