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German Pages 481 Year 2016
Burkhard Meyer-Sickendiek Zärtlichkeit
Burkhard Meyer-Sickendiek
Zärtlichkeit Höfische Galanterie als Ursprung der bürgerlichen Empfindsamkeit
Wilhelm Fink
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft Umschlagabbildung: Carte du Tendre Illustration aus dem Roman Clélie, Histoire romaine, première partie de Madeleine de Scudéry, Gravur (1653) von François Chauveau
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2016 Wilhelm Fink, Paderborn (Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-5942-8
INHALTSVERZEICHNIS
V ORWORT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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E INLEITUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zärtlichkeit als bürgerlicher Habitus? (S. 18) – Zärtlichkeit als aristokratischer Habitus (S. 25) – Zärtlichkeit als Liebesideal (S. 31) – Zärtlichkeit als Ästhetik (S. 39) – Zärtlichkeit als Theaterkultur (S. 43) – Zärtlichkeit als Didaktik (S. 47) – Die Poetik der Rührung (S. 53)
ERSTER TEIL: DIE ENTSTEHUNG DES ZÄRTLICHEN THEATERS (1650–1740) I. D IE Z ÄRTLICHKEIT
G ALANTEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zur Genese der amitié tendre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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DER
Die tendresse als Kompensation der gescheiterten Fronde? (S. 65) – Die Mode der galanten Rätselspiele als Ursprung der amitié tendre (S. 70) – Der narrative Kontext der Zärtlichkeit: Das erste Buch der Clélie von 1654 (S. 74) – Platonisch oder aristotelisch? Zum philosophischen Grundgedanken der Carte de Tendre (S. 77) – Der Bezug zu Honoré d’Urfés l’Astrée (1607–1627) (S. 81) – Zärtlichkeit und Preziösität: Zur satirischen Verkennung des neuen Ideals (S. 85) – Molière: Les précieuses ridicule (1659) (S. 88) – „so French, so gallant, and so tendre“: John Drydens Marriage à-la-Mode (1671) (S. 92) – Die Gentrifizierung der Gefühle: Drydens Psychologisierung der „town-lady“ (S. 97) – Die Reetablierung der „amour courtois“: Die Liebe zwischen Leonidas und Palmyra (S. 100) – La Cour et la ville, oder: Zärtlichkeit als Indikator einer frühen Gentrifizierung (S. 105)
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II. D IE T RAGÖDIE
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DER
Z ÄRTLICHKEIT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
Von der tragédie tendre zur empfindsamen Herrschertragödie . . . . . . . . . . . 113 Zum Genre des empfindsamen Herrscherdramas: Racines Bérénice (1671) (S. 117) – „La principale règle est de plaire at de toucher“: Racines Poetik der Rührung (S. 122) – Die französische Diskussion um den ‚tendre Racine‘ (S. 127) – Die Adaption der tragédie tendre in England: Dryden’s All for Love, or the World well Lost (1678) (S. 132) – Die Empfindsamkeit der Helden: Antonius und Cleopatra (S. 139) – Die poetisch gerechte Variante der Racineschen ménage à trois: Thomas Otways The Orphan und Nicholas Rowes The Fair Penitent (S. 142) – Nicholas Rowes The Tragedy of Jane Shore (1714) (S. 149) – „la seule tragédie tendre que j’aie faite“: Voltaires Zaire (1732) (S. 154) – „Zaire, vous pleurez?“: Voltaires Poetik der Rührung (S. 160) – Die Rezeption der empfindsamen Herrschertragödie in Deutschland (S. 165) – Theodor Johann Quistorp: Aurelius, oder das Denkmaal der Zärtlichkeit (1743) (S. 170) – Ephraim Benjamin Krüger: Mahomed der IV (1744) (S. 173) – Staatsräson aus Zärtlichkeit: Schlegels Tragödie Canut (1746) (S. 177)
III. D IE K OMÖDIE
DER
Z ÄRTLICHKEIT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
Von der sentimental comedy zum Rührstück Johann Elias Schlegels . . . . . . 185 Erste Voraussetzung der sentimental comedy: Die Diskussion um die höfliche Satire (S. 187) – Zweite Voraussetzung der sentimental comedy: Jeremy Collier und die Diskussion um die poetische Gerechtigkeit (S. 192) – „the mutual sorrow between an only child and a tender father“: Richard Steeles The Lying Lover (1703) (S. 195) – Beschämen in der sentimental comedy: Colley Cibbers The Careless husband (1704) (S. 199) – Die kontrastierende Handlung um Betty Modish (S. 203) – Zärtliches Beschämen I: Richard Steeles The tender husband (1705) (S. 206) – Zärtliches Beschämen II: Johann Elias Schlegels Triumph der guten Frauen (1748) (S. 210)
IV. D IE T RAGIKOMÖDIE
DER
Z ÄRTLICHKEIT . . . . . . . . . . . . . . . . 215
Von der comédie larmoyante zum Rührstück Christian Fürchtegott Gellerts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Die zärtliche Regung der Stoiker: Regnards Democrite (1700) und Destouches’ Les philosophes amoureux (1730) (S. 220) – Die Neudeutung der Rührung: Destouches Le Glorieux (1729/32) (S. 226) – Die zarte Genese der amour naissant: Marivaux’ Le jeu de l’amour et du hazard (1730) (S. 231) – Die Verbürgerlichung der comédie larmoyante: Nivelle de La Chaussées Le préjugé à la mode (1734) (S. 236) – „O mère la plus tendre et la plus adorable!“: La Chaussées
INHALTSVERZEICHNIS
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Mélanide (1741) (S. 239) – Die Rezeption der comédie larmoyante in Deutschland (S. 244) – Gellerts Rührstück Die zärtlichen Schwestern (1747) (S. 249) – Von der Konvenienz- zur Liebesehe? Die Heiratspolitik der zärtlichen Schwestern (S. 253) – Von der comédie larmoyante zur comédie attendrissante: Voltaires Nanine (1749) (S. 256) – „Pro commoedia commovente“ (1751): Gellerts Theorie des rührenden Lustspiels (S. 263)
ZWEITER TEIL: DAS ENDEN DES ZÄRTLICHEN THEATERS (1740–1780) I. D IE K RISE
DER
Z ÄRTLICHKEIT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
Lessings Weg von der Miss Sara Sampson zur Emilia Galotti . . . . . . . . . . . 271 Der 17. Literaturbrief, oder: Lessing, Voltaire und die Krisendiagnose der Zärtlichkeit (S. 275) – Lessings Adaption des „Moral sense“ von Shaftesbury und Hutcheson (S. 282) – Beschämung: Der „test of ridicule“ in Lessings Der Freigeist (S. 286) – Scham, Grazie und Zärtlichkeit in der Schauspieltheorie der Zeit (S. 290) – Die Dramatisierung der zärtlichen Didaktik: Miss Sara Sampson (S. 296) – Der Einfluss von Voltaires Nanine: Zärtlichkeit als tragische Beschämungsvermeidung (S. 299) – Zur Vorlage der Miss Sara Sampson: Die aristokratische Welt in der comedy of manners (S. 304) – Lessings Briefwechsel mit Nicolai und Mendelssohn: Dokument einer Theorie des Bürgerlichen Trauerspiels? (S. 307) – Die Radikalisierung der Rührung: Mendelssohns Briefe über die Empfindungen (S. 312) – Von Shaftesbury zu Dubos und Voltaire: Lessings Neudeutung des Mitleids in der Hamburgischen Dramaturgie (S. 319) – Eine tragédie tendre: Voltaires Zaire als Vorlage der Emilia Galotti (S. 325) – Das „Haus der Freude“ und das Sérail. Eine These zur „Halsstarrigkeit“ der religiösen Tugend (S. 331) – Emilia Galotti: Bürgerliche Tragödie oder „Hoftrauerspiel im Conversationstone“? (S. 333) – Lessings Stellung in der literarischen Empfindsamkeit (S. 337)
II. D IE Ü BERWINDUNG
DER
Z ÄRTLICHKEIT . . . . . . . . . . . . . . . . . 341
Rousseau und das Drama des Sturm und Drang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Die Krise des Theaters: Rousseaus Lettre à d’Alembert von 1758 (S. 344) – Das zärtliche Theater als drohendes Entfremdungsmedium (S. 347) – Weibliche Koketterie: Vom Brief an d’Alembert zur „Sophie“ im Emile (S. 350) – Die Reaktionen auf den Brief an d’Alembert (S. 353) – Die Genese des bürgerlichen Tugendrigorismus: Ein Effekt der Rousseau-Rezeption? (S. 354) – Eine rousse-
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INHALTSVERZEICHNIS
auistische Tragödie: Friedrich Maximilian von Klingers Das leidende Weib (1775) (S. 357) – Ein neues Theater, mit und gegen Rousseau: Louis-Sébastien Merciers Neuer Versuch über die Schauspielkunst (1776) (S. 360) – Wagners Die Kindermörderinn (1776) (S. 363) – Wagners rousseauistische Deutung der Scham (S. 369) – Wagners Überwindung der poetischen Gerechtigkeit (S. 374) – Die rousseauistische Didaktik des Magisters (S. 379) – Drei Selbstmörderinnen aus bürgerlichem Hause: Sprickmanns Eulalia, Möllers Henriette, Brandes’ Ottilie (S. 382)
III. D IE R EKONSTRUKTION
DER
Z ÄRTLICHKEIT . . . . . . . . . . . . . 389
Zur Komödie von Jakob Michael Reinhold Lenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Der Nobilitierungsgedanke in Lenzens Der Hofmeister oder Vortheile der Privaterziehung (S. 394) – Die Liebe der Mätresse: Lenzens Tragikomödie Die Soldaten (1776) (S. 401) – Die Beziehung von Lenz zu Sophie von La Roche (S. 406) – Lenz, La Roche und der „weibliche Habitus“ (S. 411) – Die Mätresse im Roman der Empfindsamkeit: Das Fräulein von Sternheim und Pamela Andrews (S. 413) – Marie Wesener und die Gräfin La Roche (S. 418) – Die „Pflanzschule für Soldatenweiber“: Über die fehlende Mätressenkultur des Militäradels (S. 420)
IV. J ENSEITS
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Z ÄRTLICHKEIT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425
Zum Tugendrigorismus des Bürgerlichen Trauerspiels seit Schiller. . . . . . . . . 425 Kabale und Liebe als Entdeckung der romantischen Liebe (S. 428) – Schillers Ausgangspunkt: Die Kritik der Zärtlichkeitsmode in Gotters Mariane (1776) und Gemmingens Der deutsche Hausvater (1780) (S. 432) – Kabale und Liebe als Satire: Schillers Bekenntnis zur poetischen Gerechtigkeit (S. 436) – Jenseits von Rührung und Mitleid: Schillers Rückkehr zur Dramaturgie der Bewunderung (S. 440) – Jenseits der Zärtlichkeit: Zum Bürgerlichen Trauerspiel im 19. und 20. Jahrhundert (S. 443) – Das Theater der Zärtlichkeit: Historisches Intermezzo oder Vorform des Melodramas? (S. 448)
L ITERATURVERZEICHNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 N AMENSREGISTER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473
VORWORT
Das vorliegende Buch zur Theatergeschichte der Zärtlichkeit ist der letzte Teil eines umfangreicheren Forschungsprojektes, das auf der Grundlage eines HeisenbergStipendiums der Deutschen Forschungsgemeinschaft zwischen 2013 und 2015 realisiert wurde. Es steht zudem in einem sehr engen Bezug zu den Forschungsfragen des ehemaligen Exzellenz-Clusters „Languages of emotion“ der Freien Universität Berlin, an dem ich seit Ende 2008 tätig gewesen bin. Die „Area B“ dieses Clusters trug den Titel „Affektpoetik in den Künsten und Kunst-bezogenen Diskursen“, einen ähnlichen Schwerpunkt verfolgen jene Arbeiten bzw. Monographien, die ich den letzten zehn Jahren zum Thema Affektpoetik veröffentlicht habe. Der ursprüngliche Ansatz meiner eigenen Affektpoetik von 2005 – literarische Gattungen als Medien spezifischer basaler Emotionen bzw. Affekte zu begreifen – ist im Rahmen der Diskussionen zum „emotional turn“ auch durchaus kritisch diskutiert worden, insbesondere angesichts der Ausblendung der Rezeptionsebene zugunsten einer Konzentration auf die produktionsästhetische Dimension. Vor dem Hintergrund der Arbeit am Cluster hat sich daher der Ansatz etwas verändert bzw. ausdifferenziert, insofern meine späteren Arbeiten zum literarischen Sarkasmus, zur Kulturgeschichte des Grübelns oder zum „Lyrischen Gespür“ den affektpoetischen Ansatz im Sinne einer Untersuchung einzelner Affekte wie Angst, Trauer oder Begeisterung durch eine breitere literaturpsychologische Perspektive ergänzten. Zudem wurde der ursprünglich gattungstheoretische Fokus im Sinne der Untersuchung einzelner literarischer Genre wie dem Märchen, der Elegie oder der Hymne durch eine auf Medien der Literatur hin fokussierte Fragestellung erweitert: Untersucht wurde also der Sarkasmus in der modernen Publizistik (Was ist literarischer Sarkasmus?, 2009), die Kognition des Grübelns in der romantischen und nachromantischen Erzählung (Über die Faszination des Grübelns, 2010) oder das Vermögen des Gespürs in der modernen und postmodernen Lyrik (Lyrisches Gespür, 2012). Auch die vorliegende Studie analysiert mit dem Theater der Aufklärung ein Medium der Literatur, und mit der Zärtlichkeit keine basale Einzelemotion, sondern eine emotionale Kompetenz, die im Unterschied zu einzelnen Affekten auch von großer ethischer Relevanz ist. Damit ist der alte Ansatz der Affektpoetik nicht aufgegeben, sondern eher literaturpsychologisch ergänzt. Für hilfreiche Gespräche, die die vorliegende Arbeit allererst ermöglichten, danke ich vor allem Jörn Steigerwald. Zudem gilt mein Dank Simon Bunke und dessen Forschergruppe, Leonhard Horowski und dem Kolloquium an Ute Freverts Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Stefan Willer und dem ZfL-Kolloquium, sowie der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die die Druck-
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VORWORT
legung dieser Studie finanzierte. Widmen möchte ich das Buch Yvonne und Nikolas. Berlin, im Januar 2016
Burkhard Meyer-Sickendiek
EINLEITUNG
Das vorliegende Buch stellt die erste kulturvergleichende Studie zur Begriffs- und Literaturgeschichte der Zärtlichkeit dar. Es leistet damit einen kritischen Beitrag zur Erforschung der sogenannten Empfindsamkeit, deren Prämissen in dieser Studie vor dem Hintergrund einer komparatistischen Perspektive neu überdacht werden. In seinem überaus einflussreichen mehrbändigen Standardwerk mit dem schlichten Titel Empfindsamkeit von 1974 ging Gerhard Sauder davon aus, dass „die Empfindsamkeit eine spezifisch bürgerliche Tendenz [habe] und im Zusammenhang mit der Emanzipation des Bürgertums im 18. Jahrhundert zu sehen sei.“1 Mit dieser Definition orientierte sich Sauder an der alten These Fritz Brüggemanns vom „Anbruch der Gefühlskultur in den fünfziger Jahren“ des 18. Jahrhunderts, im Zuge derer nach Brüggemann „der bürgerliche Tugendbegriff mit dem sentimentalen Gefühl durchsetzt“ werde.2 Dass diese Identifikation der Empfindsamkeit als Epoche einer genuin bürgerlichen Gefühlskultur3 problematisch ist, verdeutlicht ein Blick auf die Kategorie der Zärtlichkeit, die in beiden Studien eine zentrale Funktion innehat.4 Sie kennzeichnet bei Sauder eine erste Phase der Empfindsamkeit bzw. die „erstmals deutlich zutage tretende empfindsame Tendenz“, wobei Sauder als „akzeptable Datierung“ dieser ersten Phase einer zärtlichen Empfindsamkeit im Anschluss an Brüggemann „das Jahrzehnt 1740-50“5 vorschlug. Dank neuerer französischer Studien zur Geschichte der Liebesehe (mariage amoureux) im Frankreich des frühen 16. und 17. Jahrhunderts, wie sie insbesondere die Historiker Jean-Louis Flandrin und in der Folge Maurice Daumas vorleg1 Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. Bd.1: Voraussetzungen und Elemente. Stuttgart 1974, S. 50. 2 Fritz Brüggemann: Reihe Aufklärung (Bd. 7): Der Anbruch der Gefühlskultur in den fünfziger Jahren, Leipzig 1935, S. 8ff. 3 Vgl. dazu etwa den Sammelband: Gefühlskultur in der bürgerlichen Aufklärung, hg. v. Achim Aurnhammer, Dieter Martin und Robert Seidel, Tübingen 2004, der in der Einleitung als zentrales Anliegen ausgibt, im Anschluss an Sauder „der „Emotionalisierung privater Bindungen und der bürgerlichen Gefühlskultur entscheidende Aufmerksamkeit“ zukommen zu lassen, ebd., S. 3. Ähnlich heißt es 2004 bei Inge Stephan: „Im Zusammenhang mit der Ablösung der höfisch-feudalen Ordnung und der Herausbildung der modernen bürgerlichen Gesellschaft entsteht die bürgerliche Kleinfamilie als Stätte materieller und psychischer Reproduktion. In der Intimität der bürgerlichen Familie entsteht jene bürgerliche Gefühlskultur, mit der das Bürgertum seine moralische Überlegenheit über den Adel begründete und in deren Namen es seine ökonomische und politische Emanzipation forderte.“ Die Familie sei also „der Ort bürgerlicher Empfindsamkeit, die gegen die öffentliche Sphäre des Hofes und die feudale Unmoral gesetzt wird.“ Vgl.: Inge Stephan: „So ist die Tugend ein Gespenst“, in: Dies.: Inszenierte Weiblichkeit: Codierung der Geschlechter in der Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 2004, S. 31. 4 Vgl. Sauder: Empfindsamkeit: Voraussetzungen und Elemente, a. a. O., S. 193 ff., wo die zentrale gesellschaftliche Bedeutung von Zärtlichkeit, d.h., die „Stilisierung der Zärtlichkeit zur moralischen Tugend überhaupt“, ebd. S. 195, dargelegt wird. 5 Ebd., S. 234.
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EINLEITUNG
ten, wissen wir heute um die Problematik dieser für die Forschung zum 18. Jahrhundert äußerst einflussreichen Datierungen Sauders. Flandrin untersuchte die Positivierung der innerehelichen Sexualität zu Beginn des 17. Jahrhunderts, die sich um diese Zeit zunehmend von der Augusteischen Gnaden- und Sündenlehre zu lösen und zu emanzipieren begann. Im Anschluss an Flandrin entwickelte Daumas seine Genealogie einer tendresse amoureuse, der Entstehung von zärtlicher Liebe geprägter ehelicher Verbindungen zwischen den Geschlechtern, die er auf den gleichen Zeitraum datierte. Ab Mitte des 17. Jahrhunderts fokussieren Abhandlungen über die Ehe also weniger die Vorschriften sexueller Praktiken als vielmehr die emotionale Beziehung zwischen Mann und Frau.6 Verschiedene Faktoren verbessern das Bild der Ehe, die insbesondere gegen Ende der Herrschaft von Louis XIII. (1601–1643) zunehmend zu einer „Liebe als Passion“7 im Sinne einer Liebesehe wird, also unter das Vorzeichen der Zärtlichkeit rückt.8 Was wir noch heute in den westlichen Industriestaaten mit den Begriffen der Liebe bzw. der Liebesbeziehung assoziieren, ist also ein „relatively recent phenomenon, emerging with the development of a sense of self over the past few hundred years“.9 Schon im 17. Jahrhundert entwickelt sich in Frankreich demnach eine grundlegende Umdeutung von Liebe und Ehe: „Die alte Gesellschaft“, so formuliert es Jean Louis Flandrin, „unterschied sich von der unseren ganz erheblich, insofern die Heirat dort in der Regel keine Liebesbeziehung absegnete, sondern eine Familienangelegenheit: einen Vertrag, den zwei Menschen nicht zu ihrem Vergnügen, sondern nach dem Ratschluß der beiden Familien und zu deren Nutzen geschlossen hatten.“10 Neben dieser Enttabuisierung der innerehelichen Sexualität ist es zudem der langsame Fortschritt der Frauen als alter ego in der Paarbeziehung, die nach Daumas als Ursprung der modernen Familie bzw. als deren Neugründung auf einem emotionalen Fundament anzusehen ist.11 Eine der wichtigsten Studien zur Tragödie im 17. Jahrhundert – Carine Barbafieris Atrée et Céladon – betonte zudem, dass diese Entwicklung als elementare Voraussetzung für die empfindsame Gefühlskultur der Epoche der ‚Galanterie‘ anzusehen sei:
6 Maurice Daumas: La tendresse amoureuse XVIe-XVIIIe siècles, Paris 1996. 7 Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt am Main 1982. 8 Daumas untersucht diese Entwicklung anhand acht verschiedener Indikatoren: a) Les rituels de la séduction; b) Les gestes de l’intimité; c) Les embarras de l’idéal amoureux; d) l’amitié plus forte que l’amour; e) Ce que disent les lettres; f ) l’emergence du sentiment feminine; g) La famille, creuset de l’amour-tendresse; h) Les mutations de l’identité amoureuse; vgl.: Daumas: tendresse amoureuse, a. a. O. 9 Susan S. Hendrick; Clyde Hendrick: Romantic love. Sage series on close relationships, Newbury Park 1992, S. 25. 10 Jean-Louis Flandrin, Das Geschlechtsleben der Eheleute in der alten Gesellschaft. Von der Kirchlichen Lehre zum realen Verhalten, in: (Hg.): Philippe Aries; Andre Bejin, Die Masken des Begehrens und die Metamorphosen der Sinnlichkeit. Zur Geschichte der Sexualität im Abendland, Frankfurt am Main 1984, S. 159. 11 Maurice Daumas: La sexualité dans les traités sur le mariage en France, XVIe-XVIIe siècles, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine (2004), T. 51e, No. 1, S. 7–35.
EINLEITUNG
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La tendresse en revanche, si elle désigne le raffinement du coeur, se situe explicitement du côté des relations amoureuses. Le terme de tendresse, après avoir désigné dans un sens concret le caractère de ce qui se laisse facilement entamer (‚pain tendre‘), se spécialise en effet au XVIIe siècle, en particulier sous l’impulsion de Voiture, pour s’appliquer au domaine des sentiments. La personne tendre est celle qui est sensible aux sentiments d’amitié, d’amour, de compassion, sans que le terme cesse pourtant de signifier, dans une acception plus péjorative, douillet, délicat. À l’entrée tendresse, Richelet ne signale néanmoins que le sens d’amitié, d’amour, car le ‚mot ne se dit bien qu’au figuré dans la langue ordinaire.’12
Diese Rückdatierung der Empfindsamkeit auf die Epoche der Galanterie ist in der Romanistik eine Selbstverständlichkeit: Nach Delphine Denis begannen die „Inventions de Tendre“ im Sinne eines neuen Intimitäts- und Freundschaftsideals gar schon im sechzehnten Jahrhundert und kämen im siècle classique zu vollem Bewusstsein.13 Ähnlich identifizierte Cécile Lignereux im Anschluss an die Studien von Daumas eine „écriture de la tendresse au XVIIe siècle“ am Beispiel der Briefe der Mme de Sévigné und wertete in diesem Zusammenhang die Kategorie der Zärtlichkeit als doppelte Modulation zwischenmenschlicher Beziehung, welche einerseits mit einem Misstrauen gegenüber den alten Leidenschaften, andererseits mit einer emotionalen und sentimentalen ästhetischen Verfeinerung der Galanterie verbunden gewesen sei.14 Aber auch ältere Studien einer deutschsprachigen Romanistik ließen die Epoche der Empfindsamkeit bereits im amourösen und moralischen Diskurs des 17. Jahrhunderts15 beginnen und äußerten in diesem Zusammenhang Bedenken hinsichtlich der „Bürgerlichkeitsthese“.16 Gleiches gilt zweifellos auch für die anglistische Forschung, so etwa hatte Jochen Barkhausen eine ähnliche Entwicklung im England vor und nach der glorious revolution ausgemacht: „Die Entstehung und Weiterentwicklung der Empfindsamkeit“, so Barkhausen, „vollzogen sich in England früher und unter weitgehend anderen sozialen und politischen Voraussetzungen als in Deutschland.“17 In der Germanistik sind diese Datierungen und deren soziogische Konsequenzen jedoch nach wie vor äußerst umstritten, ja beinahe ein Tabu. So etwa verwies Peter Michelsen angesichts des französischen Romans in der zweiten Hälfte des 12 Carine Barbafieri: Atrée et Céladon. La galanterie dans le theater tragique de la france classique (1634–1702), Rennes 2006, S. 28. 13 Delphine Denis: Les Inventions de Tendre, in: Intermédialités. Histoire et théorie des arts, des lettres et des techniques, 4 (2004), S. 45–66. 14 Cécile Lignereux: Une écriture de la tendresse au XVIIe siècle: pour une étude stylistique des lettres de Mme de Sévigné, 2009. 15 Frank Baasner: Der Begriff ‚sensibilité‘ im 18. Jahrhundert. Aufstieg und Niedergang eines Ideals, Heidelberg 1988, S. 42–68. 16 Werner Wolf: Ursprünge und Formen der Empfindsamkeit im französischen Drama des 18. Jahrhunderts: Marivaux und Beaumarchais, Frankfurt 1984, S. 1–10; Klaus Dirscherl: „Von der Herrschaft der Schönheit über unsere Gefühle“. Elemente einer sich formierenden Ästhetik der senibilité (Fénelon, Crousaz, Dubos), in: Sebastian Neumeister (Hg.): Frühaufklärung, München 1994, S. 383–413. 17 Jochen Barkhausen: Die Vernunft des Sentimentalismus: Untersuchungen zur Entstehung der Empfindsamkeit und der empfindsamen Komödie in England, Tübingen 1983, S. 84ff.
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EINLEITUNG
17. Jahrhunderts sowie dem Drama Racines und der Oper Quinaults auf die „meist höfische[n] Voraussetzungen des Zustandekommens einer empfindsamen Kultur“18. Michelsen tat dies jedoch bezeichnender Weise in aller Vorsicht, d. h. nur in Form einer Fußnote, die dennoch eine der wichtigsten Fußnoten in der Forschungsgeschichte der Aufklärung darstellen dürfte: Es handelt sich indes bei der Behauptung Sauders, „daß die Empfindsamkeit eine spezifisch bürgerliche Tendenz [habe] und im Zusammenhang mit der Emanzipation des Bürgertums im 18. Jahrhundert zu sehen sei“ (S. 50), um eine Vorentscheidung, die eine Frucht soziologischer Theoreme sein dürfte, deren Richtigkeit anhand von Analysen der Phänomene erst hätte erwiesen und überprüft werden müssen, anstatt einfach vorausgesetzt zu werden. Auf jeden Fall passen die Vor- und Frühstufen der Empfindsamkeit im 17. und 18. Jahrhundert in das von Sauder entworfene Bild partout nicht hinein; er klammert ihre Behandlung daher auch weitgehend aus. Daß die Vertreter des Epikuräismus in Frankreich „überwiegend Aristokraten“ waren und in England „meist auf die Adligen beschränkt“ blieben (S. 96f.), räumt Sauder zwar ein, aber ohne dieser Tatsache weitere Beachtung zu schenken. Bei größerer Aufmerksamkeit hätte er jedoch in dieser Richtung noch weit mehr finden können. Auch ist Max Frhr. von Waldbergs reich dokumentierte These, daß in französischen Romanen der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts eine große Zahl sentimentaler Zeugnisse vorliegen, natürlich durch die lakonische Bemerkung sachlich nicht zu widerlegen, „neuere französische Arbeiten“ seien in dieser Hinsicht „zurückhaltend“ (S. 232). Die „Lettres Portugaises“ oder Romane wie die der Madame Lafayette mit ihrer „science du coeur“ sind schließlich nicht aus der Welt zu schaffen! Auch im Bereich des Dramas und — und von Literaturhistorikern meist übersehen — der Oper (z. B. Quinault) hat sich eine reiche, wenn auch in Hinsicht psychologischer Analyse noch relativ unkomplizierte Gefühlskultur gebildet. In diesem Zusammenhang dürfte man auch die italienische Literatur nicht vergessen (deren Vorhandensein Sauder gar nicht in Rechnung stellt), besonders deren musik- und melodramatischen Werke, die auch in Deutschland allenthalben an den Höfen aufgeführt wurden. […] Bedenkt man diese und andere, meist höfische Voraussetzungen des Zustandekommens einer empfindsamen Kultur, so wird man die im deutschen Bürgertum des 18. Jahrhunderts in mehreren Wellen heranbrandende Empfindsamkeitsbewegung soziologisch anders deuten müssen, als Sauder es tut. Ihre Träger sind nicht das Bürgertum, sondern die nicht-arbeitenden Teile der Gesellschaft: die ‚Frauenzimmer‘, die Literaten und die jeunesse dorée. Daraus erklärt sich auch das Ausmaß der Kritik an der Empfindsamkeit, die vielfältigen Polemiken und Harmonisierungsversuche aus den Kreisen des Bürgertums, das seine Ideale im Erwerbssinn, in biederer und tugendhafter Lebensführung sah und daher die einer entsprechenden Lebenspraxis unzuträglichen heftigen Empfindungen möglichst zu dämpfen und auf ein der Gesellschaft annehmbares Mittelmaß zu reduzieren suchte.19
18 Peter Michelsen: Der unruhige Bürger. Studien zu Lessing und zur Literatur des achtzehnten Jahrhunderts, Würzburg 1990, S. 34. Michelsen verweist etwa auf eine Studie Leonard Forsters, welcher an einem historischen Beispiel überzeugend dargetan habe, „daß von der Gefühlswelt der Oper und vom Petrarkismus aus auch direkte Einwirkungen in persönliche Lebensbezüge (von Adligen) stattgefunden haben.“ Vgl.: ebd. 19 Ebd., S. 33f.
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Michelsen verwies bezüglich dieser weitreichenden These u.a. auf einen Aufsatz Dieter Borchmeyers über Staatsräson und Empfindsamkeit, in welchem Borchmeyer im Anschluss an Jürgen von Stackelberg die These vertrat, dass „das Drama Racines bereits als frühe – noch spezifisch höfisch-aristokratische – Erscheinungsform der Empfindsamkeit“20 zu verstehen sei. Es gibt also, um die Thesen Borchmeyers, Stackelbergs und Michelsens zuzuspitzen, eine Kultur der Empfindsamkeit bereits in der Epoche des französischen siècle classique.21 Das vorliegende Buch unternimmt erstmals den Versuch, die Literaturgeschichte dieser ‚europäischen‘ Empfindsamkeit am Beispiel des französischen, englischen und deutschen Theaters des 17. und 18. Jahrhunderts systematisch zu rekonstruieren. Dabei teilt es mit Delphine Denis die These vom 17. Jahrhundert als dem Ursprung der Empfindsamkeit gemäß der Begriffsgeschichte der Zärtlichkeit, die nach Denis nicht erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts, sondern spätestens 1654 mit dem ersten Band des Clélie-Romans der Madeleine de Scudéry einsetzt.22 In diesem Roman ist jene berühmte, von dem französischen Maler François Chauveau gravierte Carte de Tendre abgebildet, die in der Folge die Grundlage der Zärtlichkeitsdiskurse des 17. und 18. Jahrhunderts darstellte. Dies zu bemerken ist nicht ganz unwichtig, wenn man Sauders Grundthese einer genuin bürgerlichen Empfindsamkeit bedenkt. Denn der Ausgangspunkt des Scudéryschen Zärtlichkeitsideals ist der innerhalb des noblesse de robe, dem neuartigen französischen Amtsadel zur Zeit des Ancien Régime entstandene galante Diskurs, dessen Wirkkraft sich keineswegs nur auf das von der Nachwelt des 17. und 18. Jahrhunderts eher spöttisch kommentierte „Preziösentum“, sondern auch und vor allem auf das neue, in der gehobenen Salonkultur der Madeleine de Scudéry entwickelte Ideal der Zärtlichkeit erstreckte.23 Die tendresse ist ein Privileg der gehobenen Gesellschaft, der „personnes qui ont l’âme noble“, wie die berühmte Definition aus dem ersten Band des Clélie-Romans betont: Mais pour bien définir la tendresse, je pense pouvoir dire que c’est une certaine sensibilité de cœur, qui ne se trouve presque jamais souverainement, qu’en des personnes qui ont l’âme noble, les inclinations vertueuses, et l’esprit bien tourné, et qui fait que, lorsqu’elles ont de l’amitié, elles l’ont sincère, et ardente, et qu’elles sentent si vive20 Dieter Borchmeyer: Staatsräson und Empfindsamkeit. Johann Elias Schlegels ‚Canut‘ und die Krise des heroischen Trauerspiels, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 27 (1983), S. 154–171, hier S. 170. Borchmeyer bezieht sich dabei auf den Aufsatz von: Jürgen Stackelberg: Der Briefroman und seine Epoche. Briefroman und Empfindsamkeit, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte I (1977), S. 293–308, hier S. 301. 21 Evelyne Méron fand diese Empfindsamkeit gar schon in den Dramen Corneilles, vgl. dazu: Evelyne Méron: Tendre et cruel Corneille: le sentiment de l’amour dans le Cid, Horace, Cinna, et Polyeucte, Paris 1984. 22 Denis: Les Inventions de Tendre, a.a.O., passim. Vgl. zur Begriffsgeschichte auch: Astrid von der Lühe: Zart; zärtlich, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, Sp. 1149–1155. 23 Vgl. zur Unterscheidung Jean-Michel Pelous: Amour précieux, Amour galant (1654–1675). Zur Datierung vgl.: Maurice Daumas: La Tendresse amoureuse XVIe-XVIIIe siècles, Paris, Perrin, 1996, der die Genese des zärtlichen Liebescodes mit dem Ende der Regierungszeit von Louis XIII. verknüpft.
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ment toutes les douleurs, et toutes les joies de ceux qu’elles aiment, qu’elles ne sentent pas tant les leurs propres. C’est cette tendresse qui les oblige d’aimer mieux être avec leurs amis malheureux, que d’être en un lieu de divertissement; c’est elle qui fait rendre les grands services avec joie, qui fait qu’on ne néglige pas les petits soins, qui rend les conversations particulières plus douces que les générales, qui entretient la confiance, qui fait qu’on s’apaise aisément, quand il arrive quelque petit désordre entre deux amis, qui unit toutes leurs volontés, qui fait que la complaisance est une qualité aussi agréable à ceux qui l’ont, qu’à ceux pour qui on l’a, et qui fait enfin toute la douceur, et toute la perfection de l’amitié.24
Die im Anschluss an diese Definition angefügte Carte de Tendre aus dem ersten Band verzeichnet ein imaginäres Land, welches sich ‚Tendre‘, also Zärtlichkeit nennt. Es hat in seiner äußeren Form Ähnlichkeiten mit den Umrissen Frankreichs, ist also von einem langen Fluss durchzogen, der an die Loire denken lässt, und der mit seinen ansiedelnden Dörfern und abzweigenden Flusswegen die Etappen einer zärtlichen Liebesfreundschaft symbolisieren soll. Zudem ist es im Westen durch ein dem Atlantik gleichendes Meer der Feindseligkeit (Mer d’Inimitié), im Norden durch ein dem Ärmelkanal entsprechendes Meer der Gefährdung (Mer Dangereuse), und im Osten durch einen See der Gleichgültigkeit (Lac d’Indiference) abgegrenzt. ‚Tendre‘ ist jedoch nicht nur der Name dieses Landes, sondern auch derjenige seiner drei Hauptstädte, die an drei Abzweigungen des Flusses siedeln und mit ihren Namen drei Grundelemente der ‚Tendresse‘ unterscheiden: „La tendresse d’inclination“ betont das Element der Zuneigung, „la tendresse d’estime“ dasjenige der Wertschätzung, und „la tendresse de reconnaissance“ dasjenige der Dankbarkeit. Schließlich sind die verschiedenen Distanzen auf der Karte in Freundschaftsmeilen, also in „Lieues d’Amitié“ gemessen.25 Die Karte beschreit eine Logik der Grenzziehung: Wen die Zärtlichkeit über die Dankbarkeit, die Wertschätzung und die Zuneigung hinausführt, der landet entweder im westlich gelegenen Meer der Feindseligkeit, im östlichen See der Indifferenz oder aber Richtung Norden in der unbekannten Welt gefährdender Leidenschaften. Der durch den Flusslauf dargestellte goldene Mittelweg der Zärtlichkeit dient also zur Orientierung und Festigung zärtlicher Freundschaften. Dass diese auf Dankbarkeit, Wertschätzung und Zuneigung aufbauen, das Meer der Feindschaft links und den See der Indifferenz rechts liegen lassen sollte, ist wohl im Sinne der Nikomachischen Ethik des Aristoteles zu verstehen, nach welcher es im sozialen Miteinander darum gehe, den Mittelweg zu finden, also die Extreme zu vermeiden. Freilich kann dieser Fluss der Zuneigung letztlich in das gefährliche Meer münden, an dessen Ufer sich eine unbekannte Welt – womöglich der Leidenschaften – eröffnet. Aber es gibt eben darum die Unterscheidung zwischen den Flüssen der Zärtlichkeit – unterteilt eben in Dankbarkeit, Wertschätzung und Zuneigung –, und den entsprechenden, also an den Flüssen angesiedelten drei Dör24 Mlle de Scudéry: Clélie, histoire romaine [1654–1660], hg. v. Delphine Denis, Paris 2006, S. 74. 25 Vgl. grundlegend: Doris Kolesch: Performanzen im Reich der Liebe: Die ,Carte de Tendre‘ (1654), in: Erike Fischer-Lichte (Hg.): Theatralität und die Krisen der Repräsentation. Stuttgart, Weimar 2001, S. 62–82.
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Abb. 1: ‚Carte du Tendre‘, Illustration aus dem Roman Clélie, Histoire romaine, première partie de Madeleine de Scudéry, Gravur (1653) von François Chauveau
fern. Man sollte sich mit dem neuen Freundschaftsbund in einem dieser drei Dörfer niederlassen, ohne im Meer der unbekannten Leidenschaften, der Feindseligkeit oder der Gleichgültigkeit zu landen: In diesem Sinne beschreibt das Zärtlichkeitsideal der Madame de Scudéry eine äußerst einfühlsame, ja empfindsame Form der Verhaltensreglementierung. Diese Verhaltensreglementierung markiert soziale Unterschiede, über deren Vorzeichen – aristokratisch oder bürgerlich – in diesem Buch zu befinden ist. Um dieses Distinktionsprinzip theoretisch greifbar zu machen, orientieren wir unsere Frage nach der Kulturgeschichte der Zärtlichkeit in diesem Buch am Konzept eines „emotionalen Habitus“, wie ihn Eva Illouz unter Bezug auf die Sozialtheorie Pierre Bourdieus26 entwickelte.27 Um neben den sozialen Distinktionsmechanismen dieses Habitus auch dessen historische Dynamik zu erfassen, werden wir vor allem Norbert Elias’ Begriff des „psychischen Habitus“ hinzuziehen, wie dieser in seinen einschlägigen Studien zum „Zivilisationsprozess“ bzw. den „Studien über die Deut-
26 Zum Begriff des Habitus vgl. insgesamt: Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main 1982. 27 Eva Illouz: Cold Intimacies: The Making of Emotional Capitalism, Cambridge 2007, S. 62–73.
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schen“ verwendet wurde.28 Die in diesem Buch entfaltete Kulturgeschichte der Zärtlichkeit fokussiert diesen Begriff also sowohl als Distinktionsprinzip wie auch als historische Dynamik einer an den Habitus gekoppelten „Gefühlsgemeinschaft“. Die Frage ist nur: Grenzte sich das Bürgertum der Aufklärung durch seine Empfindsamkeit von den adligen Oberschichten ab? Oder müssen wir die ‚bürgerliche Empfindsamkeit‘ vielmehr als Resultat einer Mimesis begreifen, die eine schon von der Aristokratie des 17. Jahrhunderts entwickelte galante Empfindsamkeit importierte?29 Wie genau sich diese Frage nach dem geschichts- und klassenspezifischen Vorzeichen der Zärtlichkeit mit dem Habituskonzept Bourdieus beantworten lässt, hat wohl am konzisesten der Historiker Hans-Ulrich Wehler formuliert: Da der Bourdieusche Habitus immer klassenspezifisch eingeprägt ist, taucht sogleich, wenn man ihn um die Gefühlsmatrix erweitert, die Frage auf, ob soziale Klassen auch emotionale Klassen bilden. Schafft der gemeinsame emotionale Habitus Gefühlsgemeinschaften, die durch eine tendenziell ähnliche Disziplinierung, Privilegierung und Äußerung von Affekten geprägt sind?30
Zärtlichkeit als bürgerlicher Habitus? Bisher wurde die Wirkkraft des Scudéryschen Zärtlichkeitskonzeptes im deutschsprachigen Raum ausschließlich, wenngleich mittlerweile ausgesprochen umfangreich am Genre des um 1700 in Deutschland entstandenen galanten Romans bei Autoren wie August Bohse oder Christian Friedrich Hunold untersucht.31 Das vorliegende Buch rekonstruiert dagegen die Geschichte der Zärtlichkeit im europäischen Theater des 17. und 18. Jahrhunderts, welches aufgrund der Karriere der tendresse amoureuse signifikante Transformationen sowohl im Bereich der Tragödie 28 Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation, Frankfurt am Main 1976, passim; ders.: Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2005. 29 Vgl. zu dieser zentralen These: Burkhard Meyer-Sickendiek: Zärtlichkeit. Zu den aristokratischen Quellen der bürgerlichen Empfindsamkeit, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 2 (2014), S. 206–233. 30 Hans-Ulrich Wehler: Umbruch und Kontinuität. Essays zum 20. Jahrhundert, München 2000, S. 264. 31 Vgl. Herbert Singer: Der galante Roman, Stuttgart, 1961; ders.: Der deutsche Roman zwischen Barock und Rokoko, Köln/Graz, 1963; Thomas Borgstedt: ‚Tendresse‘ und Sittenlehre. Die Liebeskonzeption des Christian Thomasius im Kontext der ‚Preciosité’ – mit einer kleinen Topik galanter Poesie, in: Vollhardt, Friedrich (Hg.). Christian Thomasius (1655–1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Tübingen 1997, S. 405–428; Olaf Simons: Marteaus Europa, oder, Der Roman, bevor er Literatur wurde: eine Untersuchung des Deutschen und Englischen Buchangebots der Jahre 1710 bis 1720, Amsterdam 2001; Florian Gelzer: Konversation, Galanterie und Abenteuer. Romaneskes Erzählen zwischen Thomasius und Wieland, Tübingen 2007; Jörn Steigerwald: Galanterie. Die Fabrikation einer natürlichen Ethik der höfischen Gesellschaft (1650–1710), Heidelberg 2011; Dirk Rose: Conduite und Text: Paradigmen eines galanten Literaturmodells im Werk von Christian Friedrich Hunold (Menantes). Berlin/New York 2012.
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(von Racine über Voltaire bis hin zu Johann Elias Schlegel und Lessing) als auch der Komödie (von Dryden über die sentimental plays bei Steele und Cibber, die comédie larmoyante von Destouches, Marivaux und La Chaussée bis hin zu Gellerts rührendem Lustspiel) durchläuft.32 Dieser komparatistische Blick auf die Entstehungsgeschichte des ‚zärtlichen Theaters‘ ist als kritische Überprüfung vor allem jener Forschungsmeinung zu verstehen, die den empfindsamen Theaterwandel im Deutschland des 18. Jahrhunderts erst mit der Genese des Bürgerlichen Trauerspiels einsetzen lässt. Erinnert sei diesbezüglich an jene Kontroverse aus den späten 1960er Jahren, deren Urheber Lothar Pikulik bis heute gewissermaßen unter wissenschaftlicher Quarantäne steht. In seiner 1966 veröffentlichten Studie ‚Bürgerliches Trauerspiel‘ und Empfindsamkeit machte Pikulik die Beobachtung, dass das Bürgerliche Trauerspiel in seinen prominentesten Beispielen sein Personal aus dem Adel gewann: Von siebzehn untersuchten Trauerspielen vollzögen lediglich drei die Lösung von der in der klassischen Tragödie geltenden aristotelischen Ständeklausel, d.h. dem heroischen Trauerspiel. Der Terminus Bürgerliches Trauerspiel sei daher irreführend, denn dieses Genre handle „nicht vom Bürger oder sonst einer sozialen Schicht [...], sondern von allgemein menschlichen Funktionen.“33 Überaus provokant war die Zuspitzung Pikuliks: Das epochale Phänomen der ‚Empfindsamkeit‘ sei angesichts dieser Beobachtung eine „im Kern unbürgerliche Erscheinung“34. Dieser Ansicht ist schnell und ausgesprochen vehement widersprochen worden. Die bis heute im Grunde maßgebliche Replik Peter Szondis betonte umgehend, dass das Bürgerliche Trauerspiel sehr wohl als Medium der Identitätssuche des aufsteigenden Bürgertums zu verstehen sei. Szondi führte die Genese des empfindsamen Theaters aus dem Bürgertum auf den Umstand zurück, dass die „bürgerliche Kleinfamilie“ ihre politischen Konflikte mit dem Adel „in Tränen der Rührung und der Klage ersticke.“35 Der für Szondi wichtigste Beleg dieser ‚Verbürgerlichung‘ der Empfindsamkeit war bekanntlich die von Jürgen Habermas im Strukturwandel der Öffentlichkeit dargelegte „Innerlichkeit bürgerlichen Familienlebens“, die „Privatsphäre im bürgerlichen Sinne“36, welcher im 18. Jahrhundert 32 Frank Baasener: Der Begriff der ‚sensibilité‘ im 18. Jahrhundert. Aufstieg und Niedergang eines Ideals, Heidelberg 1988. 33 Lothar Pikulik: Bürgerliches Trauerspiel und Empfindsamkeit, Köln, Graz 1964, S. 170ff. Vgl. auch ebd., S. 6ff. 34 Ebd., S. 170. 35 Peter Szondi: Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert. Studienausgabe der Vorlesungen Band 1, Frankfurt am Main 1974, S. 99f. 36 „Der städtische Adel freilich, besonders der für das übrige Europa maßgebende der französischen Hauptstadt, hält weiterhin ‚Haus‘ und verpönt die Innerlichkeit bürgerlichen Familienlebens. Die Geschlechterfolge, zugleich Erbfolge der Privilegien, wird durch den Namen allein ausreichend garantiert; dazu bedarf es nicht einmal des gemeinsamen Hausstandes der Ehepartner, die oft genug ihr eigenes ‚hôtel‘ bewohnen und sich zuweilen in der außerfamilialen Sphäre des Salons häufiger treffen als im Kreis der eigenen Familie. Die maîtresse ist Institution und dafür symptomatisch, daß die fluktuierenden, gleichwohl streng konventionalisierten Beziehungen des ‚gesellschaftlichen Lebens‘ eine Privatsphäre im bürgerlichen Sinne nur selten erlauben. Verspielte Intimität, wo sie dennoch zustande kommt, unterscheidet sich von der dauerhaften Intimität des neuen Familienlebens. Diese hebt sich andererseits gegen die älteren Formen großfamilialer Ge-
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nach Habermas ein konstant bleibender Öffentlichkeitssinn der Aristokratie opponiere. Zugleich deutete Szondi mit Hilfe Max Webers die Empfindsamkeit als kompensatorischen Nebeneffekt einer sich im puritanischen Bürgertum Englands erstmals entfaltenden „protestantischen Ethik“. Entsprechend untersuchte Szondis komparatistischer Ansatz genuin ‚bürgerliche‘ Dramen, und zwar zunächst George Lillos The London Merchant von 1731, später dann Denis Diderots Le Fils naturel (1757) und Le Père de famille (1758). So verlegte Szondi die Ursprünge der Empfindsamkeit nicht nur ins englische Finanzbürgertum; er ging zudem davon aus, dass die Empfindsamkeit, indem sie aus dem englischen in das französische und deutsche Bürgertum importiert wurde, einem Funktionswandel unterlag. Aus der Reaktion auf die Ohnmacht der Triebe, zu der die innerweltliche Askese den Bürger um seiner politischen und sozialen Macht willen zwang, wird sie auf dem Kontinent zur Reaktion auf die politische und soziale Ohnmacht selbst.37
Aus dieser doppelten Perspektive – Habermas und Weber – entwickelte sich also die später so kontrovers diskutierte „Fluchtthese“. Denn im Anschluss an Peter Szondi lieferte Gerd Mattenklott mit Blick auf Lessing das analoge Argument, dass die politische und soziale Ohnmacht des Bürgertums im Trauerspiel des 18. Jahrhunderts in der Mitleidsästhetik im Gefolge Lessings ihre genuine Begründung gefunden habe. Die Identifikation und das Mitempfinden der Zuschauer würden demnach in der Tragödie durch eine die bürgerlichen HeldInnen kennzeichnende Schuldsuche im Inneren des Menschen erreicht, wohingegen die gesellschaftlichen Mechanismen tragischer Unglücksfälle eher vernachlässigt würden.38 Empfindsamkeit wurde so zum Ausdruck einer bürgerlichen Flucht ins Private, Peter-André Alt sprach diesbezüglich von Szondis These einer im Bürgertum sich manifestierenden „Introversion angesichts der unverrückbar scheinenden Herrschaftsverhältnisse der feudalabsolutistischen Gesellschaftsordnung“.39 Entsprechend entwickelte sich zunehmend das Bürgerliche Trauerspiel zum Genre theatraler Empfindsamkeit, wenngleich diese Deutung schon Mitte der 1970er Jahre in die Kritik geriet. Diese Kritik stellte jedoch keine nachträgliche Rehabilitierung der Beobachtung Pikuliks dar, sondern bezog sich auf die von Habermas, Mattenklott und Szondi ausgehende These, das Bürgertum des 18. Jahrhunderts flüchte vor der sozialen Realität in eine private Innerlichkeit. Erstmals hatte Gerhard von Graevemeinsamkeit ab, wie sie vom ‚Volke‘ noch, besonders auf dem Lande, weit über das 18. Jahrhundert hinaus festgehalten werden und vorbürgerlich auch in dem Sinne sind, daß sie sich der Unterscheidung von ‚öffentlich‘ und ‚privat‘ nicht fügen.“ Vgl.: Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 107f. 37 Szondi: Theorie des bürgerlichen Trauerspiels, a. a. O., S. 146f. 38 Vgl. Gerd Mattenklott: Das Allgemeinmenschliche im Konzept des bürgerlichen Nationaltheaters. Gotthold Ephraim Lessings Mitleidstheorie, in: Gerd Mattenklott, Klaus Scherpe (Hg.): Westberliner Projekt: Grundkurs 18. Jahrhundert. Die Funktion der Literatur bei dern Formierung der bürgerlichen Klasse Deutschlands im 18. Jahrhundert, Kronberg/Ts. 1974, S. 147–188. 39 Peter-André Alt: Aufklärung. Lehrbuch Germanistik, Stuttgart und Weimar 1996, S. 240.
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nitz diese ‚Fluchtthese‘ in einer einflussreichen Studie aus dem Jahre 1975 zu widerlegen versucht. Anhand pietistischer Quellen verdeutlichte Graevenitz, dass die von Habermas ausgehende Kontrastierung von bürgerlicher Innerlichkeit und aristokratischer Öffentlichkeit nicht haltbar sei, da die bürgerliche Privatheit als eine durch Ostentation und Gefallsucht geprägte der repräsentativen Öffentlichkeit des Adels verhaftet bleibe, also nicht im Sinne der Eskapismus-Theorie gedeutet werden könne.40 Vor diesem Hintergrund deutete dann Paul Mog in seiner wichtigen Studie Ratio und Gefühlskultur anhand von Norbert Elias das Entstehen bürgerlicher Rationalität als Kontrafaktur von höfischer Rationalität, verwies also wie Graevenitz auf die enge Bindung der bürgerlichen Privatheit an die Sphäre des Adels: Die gegen die repräsentative Öffentlichkeit des Adels herausgekehrte Privatheit ist keineswegs autonom. Auch in der Phase der Dissoziation [des Bürgertums vom Adel] bleibt die gegen die höfische Welt gerichtete bürgerliche Selbstdarstellung vom Adel abhängig, indem sie als Kontrafaktur des Bekämpften Profil gewinnt.41
In beiden Fällen wurde die von Habermas ausgehende Eskapismus-Theorie, wie sie im Begriff der bürgerlichen Innerlichkeit kulminiert, durch eine komplexere Form der interständischen Interaktion ersetzt. Mit Elias hatte Mog diese interständische Interaktion im Sinne einer „Kontrafaktur des Bekämpften“ verstanden und an zwei Phasen orientiert. In der ersten überwiege die Tendenz zur Angleichung an den Verhaltenscode der sozial Überlegenen: „Die Menschen der aufsteigenden Schicht entwickeln in sich ein ‚Über-Ich‘ nach dem Muster der überlegenen und kolonisierenden Oberschicht.“42 Auf die Assimilationsphase folge dann eine Phase der Dissoziation; aus der Anziehung würde Abstoßung. In „der zweiten Phase, in der die gesellschaftliche Stärke der jeweils unteren Gruppe als eines Ganzen wächst und die der oberen sich verringert, verstärkt sich mit der Rivalität und den Abstoßungstendenzen auch das Selbst- und Eigenbewusstsein beider, die Neigung, das Unterscheidende hervorzukehren und – soweit es die Oberschicht angeht – zu stabilisieren.“43 In der Folge konzentrierte sich die Diskussion entweder auf eine Unterstützung der Habermasschen Habilitationsschrift, so etwa hatte Günter Saße in seiner einflussreichen Studie über „die aufgeklärte Familie“ von 1988 ganz im Sinne Szondis bzw. Habermas „die Familie als den Ort dieser im Privaten sich entfaltenden
40 Gerhard von Graevenitz: Innerlichkeit und Öffentlichkeit. Aspekte deutscher ‚bürgerlicher‘ Literatur im frühen 18. Jahrhundert, DVjS, 49 (1975), Sonderheft 18. Jahrhundert, S. 1–82, hier S. 29f., 32ff., 74ff. 41 Paul Mog: Ratio und Gefühlskultur. Studien zu Psychogenese und Literatur im 18. Jahrhundert, Tübingen 1976, S. 41. 42 Ebd. 43 Ebd., S. 37. Mog bezieht sich damit auf: Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation. Zweiter Band, a. a. O., S. 424.
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Moralität“44 begriffen.45 Oder aber sie richtete sich weiterhin gegen die „Fluchtthese“, ohne jedoch die Beobachtung Pikuliks neu zu verhandeln. So etwa diskutierte Nikolaus Wegmann in seiner Studie über die Diskurse der Empfindsamkeit46 von 1988 den „Diskurs der Empfindsamkeit als polemische Umkehr der höfischpolitischen Interaktionsrationalität“47, sprach also gegen Habermas von einer „politischen Empfindsamkeit“, als deren wichtigstes Element auch Wegmann die Kategorie der ‚Zärtlichkeit‘ ausmachte. Wegmanns „Ausdifferenzierung des Empfindsamkeitsdiskurses unter dem Schlagwort der Zärtlichkeit“48 politisierte diese Kategorie gleich in doppelter Hinsicht: Als „Interaktionsparadigma“49 sowie als „utopische Gesellschaftstheorie“.50 Diese Deutung setzte zwar ein politisches Vorzeichen vor eine nach wie vor gegen die höfische Rationalität gerichtete Idee einer genuin bürgerlichen Empfindsamkeit. Sie blieb jedoch der von Sauder entwickelten These von der bürgerlichen Empfindsamkeit weiterhin verpflichtet, wenngleich Sauder selbst seine These in der Zwischenzeit relativiert, also in die „mittlere Schicht“ des Bürgertums auch den „Landadel“ gerechnet hatte.51 Dennoch aber ging etwa ein Standardwerk wie Victor Smegac‘ Geschichte der deutschen Literatur von 1984 nach wie vor davon aus, dass man „die Empfindsamkeit als bewußte bürgerliche Opposition gegen diese starre Affektverwindung der höfisch-aristokratischen Gesellschaft ansehen“52 müsse. In den 1980er Jahren verfestigte sich diese Tendenz, was zum einen auf den Einfluss der Luhmannschen Systemtheorie, zum anderen auf eine Studie zur „Bürgerlichen Kultur“ zurückzuführen ist, die Friedrich H. Tenbruck 1986 veröffentlichte.53 In dieser wurde das schichtspezifische Konzept, welches in den Diskussionen der 1970er Jahre dominierte, durch eine Theorie der „Verselbständigung“ von Kultur ersetzt. Tenbruck begriff Kultur also als eine „ausgesonderte und verselbständigte Sphäre des allgemeinen Lebens […], in der ‚Kulturgüter‘ in Form von meist schriftlich fixierten ‚kulturellen Objektivationen‘ produziert und vermittelt werden.“ Nach Tenbruck erscheinen die Kultur bzw. einzelne Kulturprodukte also 44 Günter Saße: Die aufgeklärte Familie, Tübingen 1988, S. 24. 45 „Familie ist eines der großen Themen der Aufklärung, das sich einordnet in den umgreifenden Kontext von Öffentlichkeit und Privatheit (Habermas), Politik und Moral (Koselleck), Fremdzwang und Selbstzwang (Elias) und der Entdeckung der Kindheit (Aries).“ Ebd., S. 1. 46 Nikolaus Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit: zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1988. Es ist durchaus bezeichnend, dass weder Sauder noch Wegmann in ihren Studien zur Empfindsamkeit auf Madeleine de Scudérys Carte de Tendre Bezug nehmen, wenngleich beide die Kategorie der Zärtlichkeit umfangreich erarbeiten. 47 Ebd., S. 56–70. 48 Ebd., S. 40–55. 49 Ebd., S. 46. 50 Ebd., S. 50. 51 Vgl.: Ders.: „Bürgerliche Empfindsamkeit“?, in: Rudolf Vierhaus (Hg.): Bürger und Bürgerlichkeit im Zeitalter der Aufklärung, Heidelberg 1981, S. 159. 52 Victor Zmegac: Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Band 1, Königstein/Ts. 1984, S. 116. 53 Friedrich H. Tenbruck: Bürgerliche Kultur (1986), in: Ders.: Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft, Opladen 1989, S. 251–272.
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nicht länger gebunden an „das herkömmlich vorbildliche Muster in standestypischen Lebensformen“, vielmehr sei Kultur „in einen völlig neuen Zustand geraten, indem sie sich selbst laufend hervorbringt und hierdurch ständig erweitert und verändert.“54 Durch diese Formel löste Tenbruck die Kulturprodukte des Bürgertums von deren „ständischer“ Bindung, ganz im Sinne der später von Niklas Luhmann entfalteten Theorie nicht stratifikatorisch, sondern systemtheoretisch ausdifferenzierter moderner Gesellschaften. Zwar ging auch Tenbruck davon aus, dass das Bürgertum als soziale Gruppe „das Hauptreservoir der bürgerlichen Kultur bildete und schon deshalb bilden musste, weil hier die Voraussetzungen zur Teilnahme günstig waren.“55 Dennoch aber sind an dieser „bürgerlichen Kultur“ unterschiedliche soziale Gruppierungen beteiligt, die aus dem Adel wie aus dem Bürgertum stammen.56 Nun gibt es jedoch das nicht ganz unwichtige Problem, dass sich Tenbrucks Beobachtungen auf das Deutschland des 19. Jahrhunderts bezogen, wenngleich sein Konzept der „bürgerlichen Kultur“ auch von der Forschung zur Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert durchaus affirmativ adaptiert wurde.57 Dennoch aber fehlt dem Modell Tenbrucks eine genuine Herleitung dieses Kulturbegriffes aus der ständisch noch sehr offenen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Erst in der jüngeren Forschung sind ab den 1990er Jahren Studien zur Geschichte des Theaters in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden, die die seit Sauder existierenden Argumente der Empfindsamkeitsforschung bezweifelbar werden lassen. Mindestens fünf jüngere Arbeiten wären diesbezüglich zu nennen. Zum einen die 1993 entstandene Studie Albert Meiers über die Dramaturgie der Bewunderung, die erstmals sehr systematisch die stereotype Polarisierung von rationalistisch orientierter Heldentragödie Gottschedscher Prägung einerseits und genuin bürgerlich-empfindsamem Trauerspiel in der Folge Lessings andererseits auflöste, also den Nachweis erbrachte, dass das klassizistische Tragödienmodell, in welchem die Kategorie der Bewunderung im Zentrum stand, auch nach dem vermeintlichen Siegeszug des bürgerlichen Trauerspiels bzw. der Lessingschen Mitleidspoetik weiterhin wirkungsmächtig geblieben war.58 Zum zweiten die 1994 veröffentlichte Studie Heide Hollmers über die Originaltrauerspiele in Gottscheds Deutscher Schaubühne, in deren Zentrum die Interpretation der insgesamt zehn Originalbeiträge deutschsprachiger Dramatiker stand, die ihrerseits auf die unterschiedlichen Realisationen der Gottschedschen Wirkungspoetik hin untersucht wurden.59 Stellten Meier die Kategorie der Bewunderung und Hollmer das „Fehler 54 55 56 57
Ebd., S. 252. Ebd., S. 268. Ebd., S. 261. Vgl. dazu: Die Einleitung des wichtigen Sammelbandes: Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert, hg. v. Hans Edwin Friedrich, Fotis Jannidis und Marianne Willems, Tübingen 2006, S. XXXI – XXXVIII. 58 Albert Meier: Dramaturgie der Bewunderung. Untersuchungen zur politisch-klassizistischen Tragödie des 18. Jahrhunderts, Frankfurt am Main: Klostermann 1993. 59 Heide Hollmer: Anmut und Nutzen. Die Originaltrauerspiele in Gottscheds ‚Deutscher Schaubühne‘, Tübingen 1994.
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und Vorbild-Modell“60 Gottscheds in den Vordergrund ihrer Untersuchung, so rückte die 2002 entstandene Studie von Caroline Torra-Mattenklott die in der Forschung zum 18. Jahrhundert bisher in der Tat etwas vernachlässigte „Metaphorologie der Rührung“ ins Zentrum.61 Ziel der kulturwissenschaftlich orientierten Studie Torra-Mattenklotts war der Nachweis, dass die Poetik der Rührung keineswegs nur als Teilelement einer rhetorischen movere-Tradition zu verstehen sei, sondern ab dem mittleren 18. Jahrhundert zunehmend eine theoretische Herausforderung darstellte, insofern die ästhetischen Theorien etwa Baumgartens, G. F. Meiers, Sulzers oder schließlich Herders physikalische Prinzipien heranzogen, um die Kategorie der Rührung im Sinne eines mechanischen Erklärungsmodells neu zu fundieren. Viertens untersuchte die 2005 erschienene wichtige Arbeit von Wolfgang Lukas mit dem Titel Anthropologie und Theodizee den „Moraldiskurs“ im deutschsprachigen Drama der Aufklärung. Der Ausgangspunkt von Lukas war ein letztlich anthropologischer, also die Diskussion um die menschliche Natur, die Bestandteil des Moraldiskurses wird und für die Lösung des sich verschärfenden Theodizeeproblems instrumentalisiert worden sei. Und schließlich wäre die 2009 veröffentlichte Arbeit von Wolfgang Ranke mit dem Titel Theatermoral zu nennen, die sich ebenfalls mit der heroischen Tragödie der deutschen Aufklärung von Gottsched bis Lessing befasst.62 Ranke fragt nach der Art und Weise, wie in den Trauerspielen Gottscheds, Schlegels und Cronegks die tragédie classique moraldidaktisch adaptiert und transformiert wird, und richtet sein Augenmerk auf das dabei zutage tretende Spannungsverhältnis zwischen der zu illustrierenden dogmatischen Moral und den Konventionen dramatischer Rede und Szenengestaltung in der heroischen Tragödie. Ranke deutet dabei Lessings Einakter Philotas als eine kritische Replik auf die in den Beispielen seiner Vorgänger seit Gottsched zutage tretende ‚Theatermoral‘. Der Begriff der Theatermoral geht auf Moses Mendelssohn zurück, der im Briefwechsel mit Lessing und Nicolai eine Theorie der speziell differenten ‚Sittlichkeit‘ des Theaters entwickelt. Ranke weist den Einfluss dieser Theorie auf die heroische Tragödie der frühen Aufklärung nach, begreift jedoch Lessing nach wie vor als ersten Opponenten zu diesem sich verändernden moralphilosophischen Diskurs. Dagegen gliederte Wolfgang Lukas die von ihm untersuchten Dramen der Aufklärung – womit sowohl Komödien als auch Tragödien gemeint sind – in ein dreiphasiges Entwicklungsmodell: Auf eine rationalistische Frühphase zwischen 1730 und 1745 folge eine „relativ eigenständige“ fühaufklärerisch-empfindsame Übergangsphase (1745–1750) – zugleich die „Blütezeit der deutschsprachigen Lustspielproduktion“63 –, die von einer Phase „emotionalistischer Transformationen“ (1750–1770)
60 Ebd., S. 79f. 61 Caroline Torra-Mattenklott: Metaphorologie der Rührung. Ästhetische Theorie und Mechanik im 18. Jahrhundert, München 2002. 62 Wolfgang Ranke: Theatermoral: moralische Argumentation und dramatische Kommunikation in der Tragödie der Aufklärung, Würzburg 2009. 63 Wolfgang Lukas: Anthropologie und Theodizee. Studien zum Moraldiskurs im deutschsprachigen Drama der Aufklärung (ca. 1730–1770), Göttingen 2005, S. 116.
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im Zeichen der Empfindsamkeit abgelöst wird.64 Was die Studie von Lukas gegenüber den genannten Klassikern zum Drama der Aufklärung von Szondi bis hin zu Alt vor allem überzeugend darlegte, das sind die engen Beziehungen zwischen dem Drama der Frühaufklärung und demjenigen der Empfindsamkeit. Sicherlich betont auch Lukas, dass erst die empfindsame Dramatik durch Überformung älterer, frühaufklärerischer Modelle aus der Normenkrise Konsequenzen zieht, welche die nach 1745 entstandenen Texte noch durch Zurückbiegung des Konfliktverlaufs ins überlieferte Tugendsystem zu vermeiden suchen. Aber entscheidend ist, dass gerade angesichts dieser Herleitung des empfindsamen Dramas aus dessen schon in den 1740er Jahren einsetzender Vorgeschichte die alte Idee vom bürgerlichen Trauerspiel als dem genuinen Genre einer empfindsamen bürgerlichen Schicht nicht länger haltbar erscheint.65 Denn am Beispiel einzelner Dramen aus der Schaubühne Gottscheds sowie bei Schlegel oder Justus Möser kam Lukas zu dem wichtigen Befund, dass schon im Herrscherdrama der 1740er Jahre wichtige Elemente theatraler Empfindsamkeit entfaltet wurden, nicht erst im bürgerlichen Trauerspiel der 1750er Jahre. Insofern aber rückte bei Lukas erstmals eine aristokratische Geschichte der zärtlichen Empfindsamkeit in den Blick.
Zärtlichkeit als aristokratischer Habitus Erst sehr zögerlich ist in der Empfindsamkeitsforschung jene von Habermas im Strukturwandel der Öffentlichkeit beschriebene These von der „Innerlichkeit bürgerlichen Familienlebens“ bzw. der „Privatsphäre im bürgerlichen Sinne“66, welcher im 18. Jahrhundert ein konstant bleibender Öffentlichkeitssinn der Aristokratie opponiere, nicht nur im Sinne Graevenitz‘, Mogs oder Wegmanns umcodiert, sondern grundlegend relativiert worden.67 Die schichtspezifische Polarisierung 64 Ebd., S. 195. 65 Der analytische Zentralbegriff von Lukas ist derjenige der Konfliktverdopplung oder Subsitution: Wie bereits die früheren Beispiele den äußeren (außenpolitischen) Konflikt durch einen bedrohlicheren inneren (innenpolitischen, intrafamilialen) ersetzen bzw. überlagern – wozu Lukas im Anhang der Arbeit zwei strukturierende Übersichten der Figurenkonstellationen in Tragödien und Komödien präsentiert (S. 357–364) –, wird in den folgenden Texten tendenziell die normativ-politische Thematik durch genuin psychologische Konflikte ersetzt, die verstärkt die menschliche ‚Natur‘ (und damit eine antiintellektualistische Dimension) ins Spiel bringt. Dem entspricht eine „weitere Interiorisierung“ (S. 347) des konstitutiven Konfliktschauplatzes in den Dramen nach 1745, in denen das verbindliche System der Tugenden, so sehr auch die Handlungsführung sich um narrative Vereindeutigung und Kontingenzabwehr (vgl. S. 144) bemüht, mit sich selbst in Widerspruch gerät: Es ist die Emotionalität der figurierten Subjekte, die zunehmend als dominante Appellationsinstanz statuiert wird. Für Lukas markiert diese Verinnerlichung eine „anthropologische Wende“ (S. 348), die ein Reflexivwerden nicht nur der diesen Konflikt austragenden Texte, sondern der Aufklärung überhaupt dokumentiert. 66 Vgl.: Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 107f. 67 Meyer-Sickendiek: Zärtlichkeit. Zu den aristokratischen Quellen der bürgerlichen Empfindsamkeit, a.a.O., S. 208ff.
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schien nicht nur mit Blick auf die Beobachtung Pikuliks zum Bürgerlichen Trauerspiel, sondern auch etwa mit Blick auf andere Medien der Empfindsamkeit zunehmend fragwürdig. So etwa erscheint in den Moralischen Wochenschriften als eigentlicher Vertreter des weltanschaulichen Tugendideals der Landedelmann, weshalb Wolfgang Martens schon 1968 betonte, dass sich „Bürgertum und Landadel […] in den Wochenschriften […] immer wieder erstaunlich nahe“68 seien. Mehr noch: „Während der Adel, und insbesondere der Landadel, nach allen Voraussetzungen ‚tugendfähig‘ ist wie das bessere Bürgertum, sind es die unteren Stände (noch) nicht, und insofern ist die Tugend für die Wochenschriften in der Tat ‚klassengebunden‘. Bezeichnend, daß denn auch der Maßstab dieser Tugend den Vertretern des Volks gegenüber nicht angewendet wird.“69 Seit der erwähnten Selbstkorrektur Sauders70 wurde zunehmend zur „mittleren Schicht“ des Bürgertums des 18. Jahrhunderts auch der „Landadel“ gerechnet.71 Die Formel von der „Uminterpretation der sogenannten aristotelischen Ständeklausel“72 ist aber dennoch bis heute Grundbestand der germanistischen Empfindsamkeitsforschung, wie auch der Einfluss der domestic tragedy Lillos und Moores eher genannt wird denn derjenige etwa Cibbers, Steeles, La Chaussées oder Destouches’. Peter Szondis Theorie des bürgerlichen Trauerspiels bleibt also nach wie vor die wohl wichtigste Matrix, wenngleich Bengt Algot Sorensen bereits 1983 deutlich bemerkte, dass die „Verlegenheit einiger Literarhistoriker angesichts der Tatsache, daß so viele ‚bürgerliche‘ Trauerspiele in einem adligen Milieu angesiedelt sind […], grundlos [ist], da es ausschließlich um privat-
68 Wolfgang Martens: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen moralischen Wochenschriften, Stuttgart 1968, S. 381f. 69 Ebd., S. 384. 70 Gerhard Sauder: „Bürgerliche Empfindsamkeit“?, in: R. Vierhaus: Bürger und Bürgerlichkeit im Zeitalter der Aufklärung, Heidelberg 1981, S. 159. 71 Vgl. dazu: Hans Edwin Friedrich, Fotis Jannidis und Marianne Willems (Hg.): Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert, Tübingen 2006, Einleitung, S. XXXIff; sowie: Dieter Hein/Andreas Schulz (Hg.): Bürgerkultur im 19. Jahrhundert. Bildung, Kunst und Lebenswelt, München 1996, Einleitung, S. 13. Dass dieser Begriffserweiterung dem historischen Wortgebrauch angemessener ist, zeigt etwa Gottscheds Critische Dichtkunst: „Denn ahmet das Trauerspiel die vornehmste Classe der Menschen, ich meyne das Leben der Könige und Fürsten nach; so schildert das Lustspiel den Mittelstand der Welt, an Adel und Bürgern ab.“, vgl.: Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. 12 Bände, Band 6,2, Berlin und New York 1968–1987, S. 573. Eben dieser Mittelstand aus Adel und Bürgern geht von der Definition des Lustspiels ein in die Definitionen des Trauerspiels, etwa in Johann Gottlob Benjamin Pfeils Abhandlung zum Trauerspiel von 1755: „Man wähle die handelnden Personen niemals aus dem Pöbel. [...] Kein Schneider, kein Schuster ist einer tragischen Denkungsart fähig. Es giebt einen gewissen Mittelstand zwischen dem Pöbel und den Großen. Der Kaufmann, der Gelehrte, der Adel, kurz, Jedweder, der Gelegenheit gehabt hat, sein Herz zu verbessern, oder seinen Verstand aufzuklären, gehöret zu denselben. Aus dieser Klasse müssen wir die Charaktere der handelnden Personen hernehmen. Diese Leute sind jederzeit desjenigen Grades der Tugend und des Lasters fähig, den die tragische Schaubühne erfodert, wenn sie ihre Absicht erreichen will.“ Zitiert nach: Johann Gottlob Benjamin Pfeil: Lucie Woodvil: ein bürgerliches Trauerspiel in fünf Handlungen (1756), hg. v. Dietmar Till, Hannover 2006, S. 107. 72 Helmut Arntzen: Die ernste Komödie: das deutsche Lustspiel von Lessing bis Kleist, München 1968, S. 9.
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menschliche Konflikte einer familialen, nicht öffentlichen Lebensform ging, die man sowohl im niederen Landadel als im höheren Bürgertum zu finden meinte.“73 Die Ursprünge empfindsamer Zärtlichkeit liegen jedoch keineswegs im Landadel, sondern in der aristokratischen Salonkultur im Frankreich des 17. Jahrhunderts. Dies verdeutlichte schon die Studie Frank Baasners zur Begriffsgeschichte der Empfindsamkeit bzw. der sensibilité, nach welcher erstmals die Madeleine de Scudéry den esprit (Sitz der Vernunft) und das coeur (Sitz der sensibilité) als „zwei sich gegenseitig ergänzende Teile des vollkommenen ami tendre“ verstand.74 Unter Berufung auf Baasner betonte zudem Klaus Dirscherl nachdrücklich, dass „mit dieser Fundierung der aufklärerischen sensibilité im amourösen und moralischen Diskurs des 17. Jahrhunderts ihre ursprüngliche Bindung an die aristokratische Gesellschaft und ihr honnetete-Ideal offenkundig“ werde. Zumindest für Frankreich müsse daher die von Sauder formulierte und auch etwa von Peter Bürger wiederholte „‚Bürgerlichkeitsthese‘, die sensibilité als ein Ideologem der aufsteigenden Bourgeoisie versteht, relativiert werden.“75 Jürgen von Stackelberg sprach gar explizit von einer „aristokratisch-heroische[n] Form der Empfindsamkeit“ und verwies hinsichtlich einer „soziologischen Erklärung“ auf die Zivilisationstheorie von Norbert Elias, nahm also „die Zwänge der Versailler Hofgesellschaft“ zum Ausgangspunkt. Diese schon bei Racine zu beobachtenden Zwänge hätten nach Stackelberg „im Sinne einer Kompensationserscheinung zum Tränenkult der Spätklassik geführt“. Es handele sich also um die „Erfüllung geheimer, weitgehend unterdrückter Bedürfnisse im Medium der Literatur, um ‚Ersatzbefriedigungen‘ für das durch die Beargwöhnung bei Hofe frustrierte Gefühlsleben der Versailler Adelsgesellschaft.“76 Natürlich ist Elias’ Studie Über den Prozess der Zivilisation auch in der umfangreichen Forschung zur deutschsprachigen Literatur des 18. Jahrhunderts bereits 73 Bengt Algot Sorensen: Herrschaft und Zärtlichkeit. Der Patriarchalismus und das Drama im 18. Jahrhundert, München 1984, S. 47. 74 Vgl: Frank Baasner: Der Begriff ‚sensibilité‘, a.a.O., S. 48. Wir können gar davon ausgehen, dass aristokratische Quellen auch hinsichtlich der Genese der modernen Familie relevant sind, wenngleich man in der germanistischen Forschung seit Jürgen Habermas das Privat-Familiäre stets als eine genuin bürgerlich geprägte Sphäre begriffen hat. Diese Sphäre hatte jedoch ihren Ursprung offenkundig ebenfalls in den aristokratischen Oberschichten der beiden Kulturnationen England und Frankreich. Beispielsweise zeigte Philippe Ariès in seiner klassischen Studie zur Entwicklung der Kindheit, dass die moderne Idee der Familie in Frankreich noch bis ins 17. Jahrhundert „was limited to the well-to-do classes, those of the notabilities, rural or urban, aristocratic or middleclass, artisans or merchants. Starting in the eighteenth century, it spread to all classes and imposed itself tyrannically on people’s consciousness.“ Vgl.: Philippe Aries: Centuries of Childhood: A Social History of Family Life. New York 1962, S. 406. Vgl. dazu auch: David Hunt: Parents and children in history: the psychology of family life in early modern France, New York 1972, S. 36. Ähnliches bemerkte Lawrence Stone für die Entwicklung der modernen Familie im England des gleichen Zeitraums: „the new family type began as early as the mid-seventeenth century, and [it] was taken by the mercantile and professional upper bourgeoisie and by the squirarchy“. Vgl.: Lawrence Stone: The family, sex and marriage in England 1500–1800, London 1977, S. 415. 75 Klaus Dirscherl: „Von der Herrschaft der Schönheit über unsere Gefühle“. Elemente einer sich formierenden Ästhetik der sensibilité (Fénelon, Crousaz, Dubos), in: Neumeister: Frühaufklärung, a.a.O., S. 383–413, hier S. 385. 76 Stackelberg: Der Briefroman und seine Epoche, a. a. O., S. 301.
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mehrfach herangezogen worden. Auf Paul Mogs Arbeit über Rationalität und Gefühlskultur wurde bereits verwiesen, daneben wären etwa Reiner Wilds Studie Literatur im Prozeß der Zivilisation77 von 1982, Manfred Beetz Habilitationsschrift über Frühmoderne Höflichkeit78 von 1992, Matthias Luserkes Habilitationsschrift über Die Bändigung der wilden Seele79 von 1995, Peter Hesselmanns Habilitationsschrift Gereinigtes Theater80 von 2002 sowie natürlich Jörn Steigerwalds grundlegende Studie zur Galanterie von 2011 zu nennen.81 Zwar entstanden vier dieser wichtigen fünf Studien nach Hans Peter Duerrs voluminöser Kritik namens Der Mythos vom Zivilisationsprozeß, dessen erste drei Bände Nacktheit und Scham (1988), Intimität (1990) und Obszönität und Gewalt (1993) eine fundamentale, wenngleich nicht unumstrittene Widerlegung der Eliasschen Zivilisationstheorie anstrebten. Dennoch setzen auch Beetz, Luserke, Hesselmann und Steigerwald eine bestimmte Form des Zivilisationsprozesses voraus, der sich als Genese einer höfischen Komplementierkunst, als ‚Bändigung einer wilden Barockseele‘, als eine – von Gottsched forcierte – Reinigung des Theaters von den grobianischen Derbheiten des 17. Jahrhunderts oder als „Fabrikation einer natürlichen Ethik der höfischen Gesellschaft“82 umschreiben ließe. Allerdings sind die Befunde teils widersprüchlich: So etwa hatte Matthias Luserke nachzuweisen versucht, dass durch die in der Tragödie signifikante Darstellung von Leidenschaften und deren kathartischer Bereinigung eine Disziplinierung von Affekten im Sinne Elias’ vorläge. Dagegen ging jedoch Manfred Beetz davon aus, dass die Frühmoderne Höflichkeit in der Epoche des Barock weit ausgeprägter und dominanter denn im 18. Jahrhundert war, eine Beobachtung, die Beetz dazu brachte, einen „Prozeß der Informalisierung im frühen 18. Jahrhundert“83 anzunehmen, also die bekannte Informalisierungsthese von Elias um gute 100 Jahre zurückzudatieren. Etwas einheitlicher scheint der Befund, wenn man die Forschung zur Galanterie in den Blick nimmt, die in Frankreich vor allem seit den grundlegenden Studien von Alain Viala ins Zentrum des wissenschaftlichen Interesses am 17. Jahrhundert gerückt ist.84 In der deutschsprachigen Forschung wurde die französische Galanterie bzw. deren Adaption im Deutschland um 1700 schon in älteren Arbeiten von
77 Reiner Wild: Literatur im Prozeß der Zivilisation. Versuch einer theoretischen Grundlegung der Literaturwissenschaft, Stuttgart 1982. 78 Manfred Beetz: Frühmoderne Höflichkeit. Komplimentierkunst und Gesellschaftsrituale im altdeutschen Sprachraum, Stuttgart 1992. 79 Matthias Luserke: Die Bändigung der wilden Seele. Literatur und Leidenschaft in der Aufklärung, Stuttgart 1995. 80 Peter Hesselmann: Gereinigtes Theater? Dramaturgie und Schaubühne im Spiel deutschsprachiger Theaterperiodika des 18. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2002. 81 Jörn Steigerwald: Galanterie. Die Fabrikation einer natürlichen Ethik der höfischen Gesellschaft 1650–1710. Heidelberg 2011. 82 Ebd. 83 Beetz: Frühmoderne Höflichkeit, a.a.O., S. 301. 84 Alain Viala: La France galante. Essai historique sur une catégorie culturelle, de ses origines jusqu’à la Révolution, Paris 2008.
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Arnold Hirsch, Herbert Singer oder Norbert Miller untersucht.85 Im Anschluss an Studien von Olaf Simons86, Niels Werber87 oder Stephan Kraft88 hat jedoch vor allem Florian Gelzers Studie zum „Romanesken Erzählen zwischen Thomasius und Wieland“ Wesentliches zu deren Erkenntnis beigetragen.89 Gelzer definierte das ‚Galante‘ als ein „ästhetisches Konzept“90, das sich im Genre des Romans manifestiere, aber aus einem Verhaltensdiskurs bzw. einer Form der Sprachkritik hervorgegangen sei. Gelzer verwies diesbezüglich auf die französische Komplimentier- und Verhaltenskunst der Salons, die in Deutschland mit einiger Verzögerung um 1700 in der Aufklärungsphilosophie des Christian Thomasius, also in einem primär universitären Umfeld bekannter wurde.91 Die „Kunst, Komplimente zu machen“, verbände galante Verhaltensdiskurse und kritische Sprachreflexion bzw. Rhetorik, was Gelzer am Beispiel galanter Verhaltensbücher und sprachkritischer Poetologien belegt. Wenn in diesen zur Illustration des ‚angemessenen‘ Verhaltens oder der ‚richtigen‘ Konversation immer wieder narrative Sequenzen eingefügt werden92, dann bezeuge dies, wie ein „galantes Verhaltens- und Kommunikationsideal“ schließlich auch die narrative Gestaltung der Romanliteratur beeinflusse.93 Während auch in anderen Studien die Galanterie primär auf einen „Stil“ konzentriert94 oder als „Diskurs“ beschrieben wurde95, deutete Jörn Steigerwald die Galanterie als eine Ethik, genauer: als eine „natürliche Ethik der höfischen Gesell85 Arnold Hirsch: Bürgertum und Barock im deutschen Roman. Köln, Graz 1934; Herbert Singer: Der deutsche Roman zwischen Barock und Rokoko, Köln, Graz 1963; Norbert Miller: Der empfindsame Erzähler. Untersuchungen an Romananfängen des 18. Jahrhunderts. München 1968. 86 Olaf Simons: Marteaus Europa oder Der Roman, bevor er Literatur wurde. Eine Untersuchung des deutschen und englischen Buchangebots der Jahre 1710–1720, Amsterdam/Atlanta 2001. 87 Niels Werber: Liebe als Roman. Zur Koevolution intimer und literarischer Kommunikation, München 2003. 88 Stephan Kraft: Geschlossenheit und Offenheit der „Römischen Octavia“ von Herzog Anton Ulrich, Würzburg 2004. 89 Florian Gelzer: Konversation, Galanterie und Abenteuer. Romaneskes Erzählen zwischen Thomasius und Wieland. Tübingen 2007. 90 Ebd., S. 71. 91 Auch Norbert Elias unterscheidet dezidiert zwischen den fortschrittlichen Kulturen England und Frankreich und einem eher rückschrittlichen Deutschland, welches angesichts der verheerenden Folgen des 30jährigen Krieges seit dem 17. Jahrhundert niemals jene Formen einer absolutistischen Hofkultur entwickelte, wie sie parallel in England und Frankreich als den kulturell führenden Nationen Westeuropas entstanden. Anders gesagt: Der Zivilisationsprozess ist in Westeuropa ein keineswegs homogener Prozess, der sich in diesen führenden drei Ländern vergleichbar stark entfaltet hätte. Beispielhaft für diesen Prozess sind im Grunde nur England und Frankreich: „Es bildet sich da am Hofe eine Art von Gesellschaft“, so heißt es im zweiten Teil vom Prozess der Zivilisation, die „in Deutschland fast nie, allenfalls in ihrer Weimarer End- und Übergangsform, zu ganz zentraler und entscheidender Bedeutung gelangt ist.“ Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Zweiter Band: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, Frankfurt am Main 1976, S. 4. 92 Gelzer: Konversation, Galanterie und Abenteuer, a.a.O., S. 116ff. 93 Ebd., S. 51 94 Der galante Stil, 1680–1730. Hg. von Conrad Wiedemann. Tübingen 1969. 95 Der galante Diskurs. Kommunikationsideal und Epochenschwelle. hg. v. Thomas Borgstedt und Andreas Solbach, Dresden 2001.
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schaft“ bzw. als eine „Liebesethik“, die auf eine „umfassende Neuordnung der Geschlechterbeziehungen“ abziele.96 „Die Konzeption der Galanterie“ wird von Steigerwald mit dem Begriff der „Fabrikation“ erklärt, den schon Peter Burke in seiner Studie zu Ludwig XIV. entwickelt hat.97 In diesem Sinne entwirft Steigerwald die Galanterie als ein hauptsächlich fiktional vermitteltes „gesellschaftsverbindendes und identitätsstiftendes Konzept“, das innerhalb der höfischen Gesellschaft auf Distinktion abziele.98 Dabei fokussiert auch Steigerwald primär den Roman, bemerkt jedoch eine für unsere Frage wichtige deutsch-französische Differenz, da die höfische Gesellschaft in beiden Ländern Norbert Elias zufolge gerade in diesem Punkt unterschiedliche Konfigurationen ausbilde: „eine Zentrierung auf ‚la cour et la ville‘ in Frankreich und eine Universität und Hof verbindende Kultur in Deutschland.“99 Aus französischer Perspektive müsse dieser speziell für Thomasius charakteristische akademische Zugriff paradox erscheinen, da bereits der Ort, der Vorlesungssaal, aber auch die Diskursform, die Vorlesung, dem eigenen Verständnis entgegenstehen, das der Galanterie den Salon und das Gespräch zuordnet.100 Im Unterschied zu diesen den galanten Roman fokussierenden Arbeiten hat Doris Kolesch die höfische Kultur unter Ludwig XIV. in ihrer Auswirkung auf das Theater des 17. Jahrhunderts untersucht. Dieses Theater begriff Kolesch als „Theater der Emotionen“, das aus dem höfischen „Gefühlsmanagement“ unter Ludwig dem XIV. hervorgegangen sei: „Der ‚Theater-Staat‘ Ludwig des XIV.“ wird von Kolesch also „zum ersten Mal in umfassender Weise mit den Positionen und Vorstellungen zeitgenössischer Theatertheoretiker korreliert.“101 Die „höfische Emotionalität“ zeigt sich nach Kolesch als Teil einer Machtinszenierung etwa in den Memoiren Ludwigs XIV., in den von ihm veranstalteten höfischen Festen oder der Gartenarchitektur von Versaille. Eine vergleichbar streng reglementierte bzw. rational funktionalisierte Emotionalität finde sich dann etwa auch in François Hédelins ‚pratique du thêatre‘ von 1657. Dabei fokussiert die Arbeit von Kolesch vor allem körperliche Aspekte der „höfischen Emotionalität“: Etwa das Paradox der „berührungslosen Berührung“, mittels derer das Publikum quasi seelisch berührt wird. Insgesamt kommt Kolesch so zu dem wichtigen Befund, dass jene von Elias untersuchte „höfische Rationalität“ im Sinne der Studie zum Prozess der Zivilisation um diese „höfische Emotionalität“ zu erweitern sei, wobei zweiteres jedoch nicht „als Gegenpol, sondern als integraler Bestandteil höfischer Rationalitätsstrukturen aufgefaßt werden muß.“102 In ähnlicher Weise leitete übrigens schon Peter-André 96 Jörn Steigerwald: Galanterie. Die Fabrikation einer natürlichen Ethik der höfischen Gesellschaft (1650–1710). (Neues Forum für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft 41), Heidelberg 2011, S. 12. 97 Peter Burke, The Fabrication of Louis XIV. New Haven London 1992. 98 Steigerwald, Galanterie, a.a.O., S. 20. 99 Ebd., S. 41. 100 Ebd. 101 Doris Kolesch: Theater der Emotionen: Ästhetik und Politik zur Zeit Ludwigs XIV, Frankfurt am Main 2006, S. 17. 102 Ebd., S. 55.
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Alt die Melancholie als epochentypische Affekthaltung der Empfindsamkeit mit Elias aus einer „spannungsvollen Verinnerlichung des gesetzhaften Tugendanspruchs“103 ab. Wir werden unsere Studie zur Geschichte der Zärtlichkeit daher ebenfalls an Norbert Elias orientieren, jedoch weniger an dessen Prozess der Zivilisation, sondern vor allem an Die höfische Gesellschaft. Denn in diesem wichtigen Text liefert Elias ein Erklärungsmodell, das die Genese der Zärtlichkeit meines Erachtens am besten erklären kann, wie nun zu zeigen ist.
Zärtlichkeit als Liebesideal Die Liebesehe gilt in der modernen Forschung spätestens seit den genannten Studien von Flandrin bzw. den hinlänglich bekannten system- und diskurstheoretischen Überlegungen Niklas Luhmanns zur modernen „Liebe als Passion“104 als ein „relatively recent phenomenon, emerging with the development of a sense of self over the past few hundred years“105. Vor diesem Bruch war eine Heirat weniger das Resultat einer Liebesbeziehung denn vielmehr eine „Familienangelegenheit: ein Vertrag, den zwei Menschen nicht zu ihrem Vergnügen, sondern nach dem Ratschluß der beiden Familien und zu deren Nutzen geschlossen hatten.“106 Eine darüber hinausgehende Berücksichtigung persönlicher Neigungen bei der Gattenwahl erschien als Problem, als triebhaftes Verhalten, das als Gefährdung der Pflichten gegen die Familie und Gott angesehen wurde.107 Zwar lässt sich im Minnesang und den mittelalterlichen Ritterromanen allmählich eine Aufwertung der Frau zur Erzieherin des Mannes in der höfischen Kultur beobachten, dennoch aber dominiert 103 Vgl: Alt: Aufklärung, a.a.O., S. 241. 104 Vgl. als grundlegende Arbeiten: Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt am Main 1982; Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt am Main 1988 und die Diskursdefinition Nikolaus Wegmanns, der sich auf Foucault und Luhmann bezieht, ohne deren divergierende Theoriegebäude zu übernehmen: Nikolaus Wegmann, Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1988, S. 13. 105 Susan S. Hendrick, Clyde Hendrick: Romantic love. Sage series on close relationships, Newbury Park 1992, S. 25. 106 Jean-Louis Flandrin, Das Geschlechtsleben der Eheleute in der alten Gesellschaft. Von der Kirchlichen Lehre zum realen Verhalten, in: Philippe Aries, Andre Bejin (Hg.): Die Masken des Begehrens und die Metamorphosen der Sinnlichkeit. Zur Geschichte der Sexualität im Abendland, Frankfurt am Main 1984, S. 159. 107 Diese Einstellung zum Umgang der Ehepartner lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen, wie Paul Kluckhohn nachwies, vgl.: Paul Kluckhohn: Die Auffassung der Liebe in der Literatur des 18. Jahrhunderts und in der deutschen Romantik, Halle 1922. Nach Kluckhohn bezeichnet der Begriff der ‚ehelichen Liebe‘ in der Antike eine heterosexuelle Beziehung zum Zweck der Fortpflanzung. Eheliche Liebe wird gering geachtet und von der himmlischen Liebe abgegrenzt. Dies gründet sich weniger auf sexualfeindliche Tendenzen als auf eine prinzipielle Geringschätzung der Frau. Sexualität mit Knaben hingegen ist z. B. für Plato himmlische Liebe, Aristoteles stellt die Männerfreundschaft über die Liebe zwischen Mann und Frau, und in Plotins Hierarchie sexueller Praktiken stehen unter den heterosexuellen Paaren nur noch solche, „die auf naturwidrige Weise zeugen wollen“, vgl. Kluckhohn, a.a.O., S. 5.
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weiterhin die abwertende Gleichsetzung von ehelicher Liebe und Sexualität.108 Vor diesem Hintergrund datierte Luhmann die moderne Liebe auf den im 17. Jahrhundert einsetzenden „Übergang von Galanterie zur Freundschaft“, dem eine „Freiheit zur Liebe“ entspreche, aus welcher sich die „Leitdifferenz plaisir/amour“, aber auch die Umcodierung des Begriffes der Passion hin zu einer „Rhetorik des Exzesses“ bzw. einer „Erfahrung der Instabilität“ entfalte. Luhmann illustrierte diesen Liebesbegriff u.a. am Beispiel des Hirtenromans d’Urfés109, und zog zudem den galanten Liebesbrief sowie die preziöse Salonkonversation als Beispiele für die Verzahnung von Liebesverhalten und Liebesliteraturlektüre hinzu. So identifizierte Luhmann diese neue Art der Liebe bekanntlich als „symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium“, also als eine neuartige „Codierung von Intimität“. Problematisch an dieser äußerst einflussreichen Arbeit Luhmanns ist aus heutiger Sicht die binäre Unterscheidung zwischen vernünftiger und romantischer Liebe. Im Gegensatz dazu wies Günter Saße in seiner Studie über Die Ordnung der Gefühle nach, dass im Verlauf des 18. Jahrhunderts nicht zwei, sondern vielmehr drei einander ablösende Konzepte von Liebe zu beobachten seien: die vernünftige Liebe, die zärtliche Liebe und die romantische Liebe.110 Jene zärtliche Liebe findet sich etwa in Gellerts Die zärtlichen Schwestern, die natürlich von jenem etwa in Friedrich Schlegels Lucinde-Roman angelegten romantischen Liebesideal einer regelrechten Verschmelzung zweier Ehepartner unterschieden werden muss.111 Die zärtliche Liebe datiert zeitlich eher auf das Ende des 17. und den Anfang des 18. Jahrhunderts, und sie ist eine Art Vorstufe zu jener seit der Romantik bekannten modernen Liebesehe, markiert also das Interim zwischen vernünftiger Konvenienz- und romantischer Liebesehe.112 Allerdings sah schon Luhmann eine Art Vorstufe der modernen Liebesehe in jener Akzeptanz außerehelicher Beziehungen in den adligen Kreisen im Frankreich des 17. Jahrhunderts angelegt: Hier entstand die Semantik des galanten Diskurses113, der den privaten Umgang der Liebenden durchsetzt,114 die Bedeutung sinnlicher Bedürfnisse betont und das komplexe Spiel von Widerstand und Verführung einführt. Dieser galante Liebesdiskurs stehe jedoch zu Beginn in einem tendenziellen Gegensatz zur romantischen 108 Solche Tendenzen schließen abweichende Meinungen nicht aus, die sich beispielsweise auf Augustinus berufen können, der das Moment der freundschaftlichen Vereinigung in der Ehe erwähnt; vgl. Kluckhohn, a.a.O., S. 6f. 109 Luhmann: Liebe als Passion, a.a.O., S. 64. 110 Günter Saße: Die Ordnung der Gefühle: das Drama der Liebesheirat im 18. Jahrhundert, Darmstadt 1996, S. 13–58. 111 Vgl. den Überblick zur neueren Forschung bei: Julia Bobsin, Von der Werther-Krise zur LucindeLiebe. Studien zur Liebessemantik in der deutschen Erzählliteratur 1770–1800, Tübingen 1994, S. 12–15 und S. 23–75. Vgl. zur soziologischen Lage: Ulrich Beck; Elisabeth Beck-Gernsheim, Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt am Main 1990. 112 Burkhard Meyer-Sickendiek: Die ‚tendresse amoureuse‘. Zur Liebesdidaktik des empfindsamen Theaters, in: Weimarer Beiträge 2 (2014), S. 521–536. 113 Vgl. zum galanten Diskurs: Niklas Luhmann, a.a.O., Kapitel 4 und 5. 114 In „älteren Gesellschaftssystemen sind komplexe Beziehungsnetze bezeichnend, die [...] ein Privatleben und einen Rückzug in Zweierbeziehungen blockieren.“ Luhmann, a.a.O., S. 38.
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Liebesehe, da sich diese neue Liebessemantik in den Beziehungen französischer Aristokraten zu ihren Geliebten entfalte. Die neue „Freiheit zur Liebeswahl“ beträfe also primär „verheiratete Personen und außereheliche Beziehungen.“115 Die Idee galanter Zärtlichkeit stellt zwar einerseits das Zwischenglied zwischen alter Konvenienz- und romantischer Liebesehe dar, realisiert sich aber andererseits im Zeitalter dieses Übergangs primär in außerehelichen Beziehungen. Oder, wie Luhmann wunderbar ironisch pointiert: „Mit der Ehe beginnt die Freiheit.“116 Wir werden diese sehr zutreffende These Luhmanns beim Wort nehmen, indem wir als wichtigste historische Protagonistin dieser außerehelichen Zärtlichkeit die Figur der Mätresse ins Zentrum unserer Studie rücken. Damit schließen wir zugleich an die Studien von Norbert Elias an, der in Die höfische Gesellschaft die historischen Akteure dieser neuen Liebe in den Blick nahm: Neben dem Fürst oder dem König sowie dem neuartigen Amtsadel verknüpfte schon Elias die moderne Liebesidee vor allem mit der Entwicklung der Mätresse von der herausragenden Geliebten in der Renaissance hin zur politischen Karrierefrau im Absolutismus. Elias’ Beispiel ist die Marquise de Maintenon, die Ludwig XIV. 1684 in zweiter Ehe heiratete, und deren großer Einfluss am Hof bekannt ist. An dieser illustrierte Elias seine Theorie der Günstlingspolitik des Königs: Ludwig XIV. stützte sich „auf solche Menschen, welche ihre Stellung am Hofe ihm und ihm allein verdankten, und die völlig ins Nichts fielen, wenn er sie fallen ließ, also vor allem auf die Maîtresse, auf die Minister und auf die Bastardsöhne.“117 Im Zuge der Disziplinierung des alten Wehrstands bzw. Schwertadels kommt also der Nobilitierung der Maîtresse des Königs eine durchaus strategische Funktion zu. Die Kinder des Königs mit seiner Mätresse waren eine Elitegruppe am Hof, die den alten hohen Adel in Schach hielt, der seinerseits dafür sorgte, dass diese Bastardsöhne und deren Mutter sowie weitere Günstlinge nicht übermächtig wurden. Dieses Spannungsgleichgewicht zwischen dem noblesse d’epee und dem noblesse de robe verhinderte nach Elias, dass der Adel sich als Schicht gegen den König solidarisierte118, wurde er doch durch diesen sogenannten „Königsmechanismus“ strategisch entmachtet.119 Vor diesem Hintergrund muss man jene „Soziogenese der aristokratischen Romantik“ sehen, die Elias im Absolutismus als eine Gegenbewegung entstehen sah und am Beispiel von Honoré d’Urfés zwischen 1607 und 1627 in drei Teilen erschienenem Schäferroman l’Astrée gedeutet hat. Diese „aristokratische Romantik“ – den passenderen Begriff der Galanterie verwendet Elias eigentümlicherweise nicht – sei als eine Art „Protest gegen die Verhofung“ entstanden, ginge jedoch nicht vom alten Schwertadel, sondern vom noblesse de robe aus. Die robes reagierten auf die Zwänge am Hof mit der Erfindung einer neuartigen Romantik, wie können präziser sagen: einer Empfindsamkeit. Das empfindsam-romantische „Lie115 116 117 118 119
Luhmann: Liebe als Passion, a.a.O., S. 60. Ebd. Elias: Die höfische Gesellschaft, a.a.O., S. 183. Ebd., S. 182. Ebd, S. 182ff.
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besideal“, welches in den diversen Episoden und Geschichten des Romans von d’Urfé zum Ausdruck käme, sei das Ideal „einer schon halb verhöflichten Mittelschicht der Aristokratie […]. In einer aristokratischen Fassung findet man hier eine Form der Liebesbeziehung, die mit dem romantischen Liebesideal der späteren bürgerlichen Literatur recht eng verwandt ist.“ Genauer heißt es in seinem Kommentar zu Urfés Astrée: Das Wort ‚Liebe‘, wie es heute gebraucht wird, läßt uns oft vergessen, daß es sich bei dem in der europäischen Tradition immer von neuem als Modell der Liebesbeziehungen betrachteten Liebesideal um eine Gestaltung der affektiven Bindung von Mann und Frau handelt, die in hohem Maße durch gesellschaftliche und persönliche Normen bestimmt ist. In der ‚Astrée‘ begegnet man dieser Affektmodellierung als Ideal einer schon halb verhöflichten Mittelschicht der Aristokratie. Die Liebe des Romanhelden Celadon für die Heroine, für Astrée, ist nicht einfach ein leidenschaftliches Begehren eines Mannes nach dem Besitz einer bestimmten Frau. In einer aristokratischen Fassung findet man hier eine Form der Liebesbeziehung, die mit dem romantischen Liebesideal der späteren bürgerlichen Literatur recht eng verwandt ist. Es handelt sich um eine leidenschaftliche gegenseitige Gefühlsbindung eines einzelnen unverheirateten jungen Mannes und einer einzelnen unverheirateten jungen Frau, die ihre Erfüllung nur in der Heirat beider finden kann und die in höchstem Maße exklusiv ist.120
Die Mätresse ist die vielleicht wichtigste Protagonistin dieser „aristokratischen Romantik“ und des von dieser entwickelten Liebesideals. Sie steht im Zentrum einer den Liebescode neu denkenden Aristokratie, die sich an den Höfen zunehmend zu etablieren, und die überkommenen Ideale des Schwertadels durch eine neuartige Gefühls-, Liebes- und Freundschaftsethik zu ersetzen begann. Man darf den Status der Mätresse im siècle classique also keinesfalls auf den einer Prostituierten oder reinen Geliebten reduzieren, sondern muss in deren Position viel eher eine Art „Hofamt“121 sehen, wie später auch Helga Möbius in ihrer Studie zur Frau im Barock betonte.122 Der Begriff der maîtresse en titre macht dies deutlich, denn während die Mätresse im 17. Jahrhundert noch schlicht die maîtresse du Roi hieß, bekam sie in der Mitte des 18. Jahrhunderts einen offiziellen Titel: maîtresse déclarée oder eben maîtresse en titre.123 Deren Position ist im absolutistischen Frankreich des 17. Jahrhunderts mitunter höher denn diejenige der Fürstengattin gewesen. Maîtresse en titre wurde die tatsächliche oder vorgebliche Geliebte eines Königs freilich erst dann, wenn sie offiziell der Königin am Hof vorgestellt worden war. Sie bekam 120 Ebd., S. 380. 121 Helga Möbius: Die Frau im Barock, Leipzig 1982, S. 158f. 122 Damit ist freilich nicht gemeint, dass die Mätresse ein Amt im heutigen Sinne ausübt. Im 17. und 18. Jahrhundert war die Bürokratie ja weit weniger reglementiert als heute; Aufgaben und Befugnisse der meisten Amtsinhaber waren nicht eindeutig festgelegt. Viele Ämter in der Verwaltung waren das persönliche Eigentum einer Familie, insofern war die Vorstellung, dass eine Mätresse ein Amt innehatte, an den Höfen des Absolutismus keineswegs ungewöhnlich. 123 Vgl. dazu: Caroline Hanken: Vom König geküsst. Das Leben der großen Mätressen, Berlin 1996, S. 107; sowie: Andrea Weisbrod: Von Macht und Mythos der Pompadour. Die Mätressen im politischen Gefüge des französischen Absolutismus, Königstein/Taunus 2000, S. 284.
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eine Wohnung und jährliche Zahlungen aus der Hofkasse124 und sollte als schöne, gebildete, geistreiche Gastgeberin125 den Hof zum beachteten Mittelpunkt des Landes machen. Insofern also ist auch die Salonkultur des 17. Jahrhunderts an die Figur der Mätresse als einer sozialen Aufsteigerin gebunden. Nach Andrea Weisbrod setzt diese Karriere der Mätresse um 1650 ein und endet mit der französischen Revolution126: Ein Zeitraum, der präzise mit der Datierungsphase der zärtlichen Liebe im Sinne Saßes bzw. der tendresse amoureuse im Sinne Daumas’ übereinstimmt. Dabei reicht der soziale Spielraum der Mätresse nach ihrer Nobilitierung vom Status einer Frau in ungefestigter Standesposition zwischen Bürgertum und niedrigem Adel bis zur Heirat mit einem König: Louise de La Vallière (1664–1683) wurde 1661 die erste Mätresse Ludwigs XIV., ihr folgte von 1667 bis 1681 die Francoise-Athnénais de Montespan (1641–1710), von 1676 bis 1677 dann die Marie-Isabelle de Ludres (1648–1726), von 1679 bis 1680 die Marie-Angelique de Fontanges (1661–1681) sowie schließlich die Madame de Maintenon (1635–1719), die die Position der Mätresse von Madame de Montespan übernahm und nach dem Tod der Königin Marie-Thérèse die morganatische Ehefrau Ludwigs wurde. Dass die Mätressen eine eminent wichtige Rolle am absolutistischen Hof spielten und dort erfolgreiche Karrieren durchliefen,127 lässt sich später auch am Beispiel Ludwigs XV. beobachten.128 Louise Julie de Mailly-Nesle (1710–1751) war von 1737–1739 die erste Mätresse Ludwigs XV., ihr folgte die Marquise de Vintimille (1712–1741), die Duchesse de Lauraguais (1714–1769), die Duchesse de Châteauroux (1717–1744), die 1742 Mätresse und 1743 von Ludwig XV. in den Herzogstand erhoben wurde, dann die berühmte Madame de Pompadour (1721–1764), die es als Ludwigs Mätresse bis in den Adelsstand schaffte, sowie schließlich von 1769 bis zum Tode Ludwigs im Jahre 1774 die Madame du Barry (1743–1793). Insbesondere die Arbeiten Patricia Howards zu den Libretti Philippe Quinaults konnten zeigen, wie sehr diese Karriere der Mätresse mit der Karriere des empfindsamen Theaters im 17. Jahrhundert verknüpft ist: „Quinaults libretti, then, constitute nothing less than a school for royal mistresses.“129 In der Tat war die während 124 G. Hoffmann, Constantia von Cosel und August der Starke, S. 130. 125 „La femme du monde la plus parfaite“ nannte der sächsische Premierminister Flemming die Gräfin Cosel, In: G. Hoffmann, Constantia von Cosel und August der Starke, S. 237. 126 „Offizielle Mätressen finden sich an den absolutistisch ausgerichteten Höfen des Ancien Regime. Mit der französischen Revolution und den veränderten Herrschaftsstrukturen verschwinden sie, und wenn es sich bei den Frauen späterer Zeiten, die außereheliche Beziehungen unterhielten, um ‚Geliebte‘, ‚Kurtisanen‘ oder anderes gehandelt hat, so waren sie jedenfalls keine offiziellen Mätressen, denn dieser Titel ist eindeutig an politische Funktionen in einem speziellen Herrschaftssystem geknüpft. Der Hof als Wirkungsort der Mätresse erfordert ebenfalls eine genaue Bestimmung.“ Vgl.: Weisbrod: Macht und Mythos der Pompadour, a.a.O., S. 19. 127 Gabriele Hoffmann: „Die vollkommenste Frau von Welt“ – die Gräfin Cosel und andere Mätressen In: Frauen machen Geschichte. Bergisch Gladbach 1991, S. 184–208. 128 Thomas Kuster: Aufstieg und Fall der Mätresse im Europa des 18. Jahrhunderts. Versuch einer Darstellung anhand ausgewählter Personen, Nordhausen 2003. 129 Patricia Howard: Quinault, Lully and the Précieuses: Images of Women in Seventeenth-Century France, in: Cecilia Reclaimed: Feminist Perspectives on Gender and Music, hg.v. Susan Cook &
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der ‚Amtszeit‘ der Madame de Montespan, die dem König insgesamt sechs Kinder gebahr, entstandene Oper Jean-Baptiste Lullys bzw. die Libretti Philippe Quinaults sehr von der Mätressenkultur am Hof geprägt.130 Eine Anekdote mag die These Howards zu bestätigen: Lullys Oper Psyché von 1671 feierte die Madame des Montespan, weil sie zu Beginn der 1670er Jahre noch die Favoritin und offizielle Mätresse Ludwigs XIV. war. Dagegen findet sich in der Isis, die im Januar 1677 auf die Bühne kam, ein wohl satirisches Portrait. Quinault schrieb das Stück Ende 1676, zu einem Zeitpunkt also, als die Madame de Montespan kurzzeitig erkennen musste, dass ihr die junge Madame de Ludres in der Gunst des Königs den Rang abgelaufen hatte. Nun erkannte sich eben diese Madame de Montespan in Quinaults wütender Göttin Juno wieder, ebenso wie sie die Mademoiselle de Ludres, die aktuelle Mätresse Ludwigs XIV. in der Nymphe Io wiederzuerkennen meinte, die in dieser Oper die Gunst Jupiters zu erlangen hoffte. Dies hatte die empörten Proteste der Montespan zur Folge und führte schließlich, d. h. zwischen 1677 und 1678, zu einer zweijährigen Verbannung des Librettisten Quinault sowohl vom Theater als auch vom Hof, woraufhin Lully noch einmal gemeinsam mit Corneille die Oper Psyché inszenierte: Quasi um die Wogen zu glätten.131 Noch deutlicher werden die Bezüge des empfindsamen Theaters zur neuen Kultur der Mätresse mit Blick auf die tragédie tendre Racines, also die Tragödie Bérénice von 1671. Auch in diesem Drama existiert ein ähnlich pikanter Hintergrund, wie das folgende Zitat Voltaires verdeutlicht: Un amant & une maitresse qui se quittent ne sont pas sans doute un sujet de tragédie. Si on avait proposé un tel plan à Sophocle ou à Euripide, ils l’auraient renvoyé à Aristophane. L’amour qui n’est qu’amour, qui n’est point une passion terrible et funeste, ne semble fait que pour la comédie, pour la pastorale, ou pour l’églogue. Cependant Henriette d’Angleterre, belle-sœur de Louis XIV, voulut que Racine et Corneille fissent chacun une tragédie des adieux de Titus et de Bérénice. Elle crut qu’une victoire obtenue sur l’amour le plus vrai et le plus tendre ennoblissait le sujet, et en cela elle ne se trompait pas; mais elle avait encore un intérêt secret à voir cette victoire représentée sur le théâtre; elle se ressouvenait des sentiments quelle avait eus longtemps pour Louis XIV, et du goût vif de ce prince pour elle.132
Voltaires Kommentar betont zum einen, dass in der Bérénice Racines die historisch wohl erste tragédie tendre vorlag: Die Tragödie dramatisiere eine „amour le plus vrai et le plus tendre“133. Zudem betont Voltaire, dass diese Tragödie von 1670 aus einer
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Judy Tsou, University of Illinois Press, 1994, S. 70–89, hier S. 82. Vgl. auch: Dies.: The Positioning of Women in Quinault’s World Picture, in: J.-B. Lully: Actes du Colloque St-Germain-enLaye Heidelberg 1987, hg.v. J. de la Gorce und H. Schneider, Laaber 1990, S.193–199. Vgl. dazu: Patricia Howard: The Influence of the Précieuses on Content and Structure in Quinault’s and Lully’s Tragédies Lyrique, in: Acta Musicologica 63 (1991), S. 57–72. Vgl. dazu auch: Buford Norman: Quinault, librettiste de Lully: le poète des grâces, Paris 2009, S. 179–182. Oeuvres complètes de Voltaire, avec notes, préfaces, avertissemens remarques historiques et littéraires, Paris 1829, S. 373. Ebd.
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Preisaufgabe hervorging, die Henriette von England, Schwägerin Ludwigs des XIV., sowohl Corneille als auch Racine vorschlug.134 Die Pikanterie, die sich hinter diesem Auftrag erkennen ließ, ist wohl in der Tat mehr als nur ein Gerücht: Nach Voltaire sei der Henriette Interesse für diese Geschichte einer Trennung des Kaisers Titus von seiner Geliebten, der judäischen Königin Bérénice, aus einem persönlichen Motiv hervorgegangen, fand doch der junge und früh verheiratete Ludwig der XIV. Gefallen an seiner jugendlichen Schwägerin Henriette. Diese Verbindung war wahrscheinlich auch mehr als nur eine freundschaftlich-platonische, weshalb Voltaire an dieser Stelle davon ausging, Henriette habe echte Gefühle für Ludwig gehabt. Umgekehrt behauptet Bettina Knapp in einer älteren Studie zu Racine, dass dieser durch die Konvenienzehe der Henriette mit deren Cousin Philippe I. de Bourbon, dem Bruder König Ludwigs XIV., zu seiner Bérénice inspiriert wurde, insofern auch die Henriette ihre Ehe aus reiner Staatsraison einging.135 Dass der Figur der Mätresse in der Genese der tragédie tendre eine entscheidende Rolle zukam, zeigt sich jedoch nicht allein anhand von Racines Bérénice und Quinaults Psyché. Diese Tendenz setzt sich fort im englischen Drama der Empfindsamkeit: Denken wir an die verwaiste Monimia aus Thomas Otways Blankverstragödie The Orphan, or the unhappy marriage von 1680, Aphra Behns The City Heiress von 1682 – eine deutliche Aufwertung der stereotypen Figur der berechnenden Mätresse zu einer empfindsamen Frau –, oder die historische Heldin Jane Shore aus Nicholas Rowe Blankverstragödie The tragedy of Jane Shore von 1714. Gerade Rowes Jane Shore ist eine typisch empfindsame Frauentragödie im Sinne der das Bürgerliche Trauerspiel prägenden she-tragedies, andererseits jedoch als historische Figur eine Vorläuferin jener berühmten Mätressen des französischen siècle classique, also ebenfalls eine Mätresse des Königs: Die Beziehung der historischen Jane Shore zu Eduard IV. von England dauerte bis zu seinem Tod 1483, auch wenn sie keine der Madame de Pompadour vergleichbar etablierte und mächtige Position inne hatte, sondern letztlich ihren gesamten Besitz verlor. Aus dieser Tradition geht wiederum Voltaires Tragödie Zaïre hervor: Das Drama einer Europäerin christlicher Herkunft, die als junges Mädchen am mohammedanischen Hof in einem Harem versklavt wird und sich in den jungen Sultan Orosmane verliebt, der sie heiraten möchte, aber dann aus unbegründeter Eifersucht ermordet. Wir wissen, dass Voltaire mit seiner Zaire an dem von Racine geprägten Genre partizipierte: „c’est la seule tragédie tendre que j’aie faite“, so schrieb Voltaire in einem Brief an den Herausgeber der Zeitschrift Mercure, Antoine de la Roque. Dass Voltaire in dieser Tragödie eine potentielle Mätresse des Sultans zur Titelheldin machte, erklärt sich also aus der Tatsache, dass schon bei Racine eine Mätresse
134 Zur Frage, inwiefern Corneille und Racine unabhängig voneinander von Henriette d’Angleterre zur Bearbeitung des Berenike-Stoffes gedrängt wurden, vgl.: G. Brereton: Jean Racine. A Critical Biography [ 1951], Nachdruck London/New York 1973, passim; sowie: Pierre Corneille: Œuvres complètes, Bd. 3, hg.v. G. Couton, Paris 1987, S. 1607f., S . 1613–1615. 135 Bettina Knapp: Jean Racine: mythos and renewal in modern theater, Alabama 1971, S. 108.
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Heldin der Tragödie war: eine nach Ansicht Voltaires bei Sophokles und Euripides undenkbare Vorstellung. Voltaire sah in der Zärtlichkeit auch deshalb einen spezifischen Ausdruck abendländischer Zivilisiertheit, die nicht zuletzt auf den versittlichenden Einfluß der Weiblichkeit in der Gesellschaft zurückzuführen sei: „Les Orientaux n’ont point de délicatesse, parce que les femmes ne sont point admises dans la société“.136 Die rührende Tragödie des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts reagierte also auf eine zunehmend prominent werdende Figur der höfischen Welt und machte diese zur Hauptfigur einer neuen Form von Empfindsamkeit: die Mätresse. Aus einer ‚germanistischen‘ Perspektive sind diese Zusammenhänge freilich eher überraschend, insofern das deutschsprachige Drama der Empfindsamkeit bzw. das Bürgerliche Trauerspiel die Mätresse ja nur als negativ besetzte Gegenfigur zur eigentlichen Heldin, der tugendhaften bürgerlichen Tochter, kennt: Denken wir an die Marwood aus Lessings Miss Sara Sampson, an die Gräfin Orsina aus Lessings Emilia Galotti, oder an die Lady Milford aus Schillers Kabale und Liebe.137 Im deutschsprachigen Drama der Empfindsamkeit kommt es also zu einer einflussreichen Umdeutung. Dies zeigt allein der sprechende Name der ersten Mätresse des bürgerlichen Trauerspiels: Das englische ‚to mar‘ und ‚would‘ machen aus Lessings Marwood eine Figur, die im Unterschied zu Jane Shore und Zaire gern schaden würde. Diese Anspielung wurde bekanntlich schon in William Congreves Restaurationskomödie The Way of the World von 1700 verwendet, Lessings Quelle für seine Marwood liegt also noch vor der Genese der neuen Empfindsamkeit, was die Negativität der Figur erklären dürfte.138 Etwas positiver gestaltet ist die Gräfin Orsina, die ehemalige Mätresse des Prinzen aus der Emilia Galotti. Auch die Gräfin will ihren Ex-Geliebten, den Prinzen Hettore, zurückgewinnen, agiert also aus gekränkter Ehre und Enttäuschung über die Zurückweisung des Prinzen. Sie fungiert jedoch im Unterschied zur Marwood auch als kritische Instanz. Vom Diener Marinelli für verrückt erklärt, lautet ihr passender Kommentar zum Leben am Hof: „Wer über gewissen Dinge den Verstand nicht verlieret, der hat keinen zu verlieren.“139 Während Lessings Mätressenfiguren jedoch letztlich dem alten Image aus der Restaurationskomödie William Congreves verhaftet bleibt, findet bei Schiller eine Art Aktualisierung dieses sozialen Phänotyps statt. Die Lady Milford aus Kabale und Liebe ist wohl eine Anspielung auf die Franziska von Hohenheim, Mätresse und spätere Gattin des Herzogs Carl Eugen von Württemberg.140 136 Voltaire: Essai sur les mœurs et l’esprit des nations 82 (1769). Oeuvr. compl., hg. I. Moland 12 (Paris 1878) S. 62. 137 Vgl.: Rüdiger Bernhardt: Orsina, Lady Milford und andere Mätressen, in: Kultura, literatura, język: prace ofiarowane Profesorowi Lechowi Kolago w 65. rocznicę urodzin = Kultur, Literatur, Sprache: Festschrift für Herrn Professor Lech Kolago zum 65. Geburtstag, hg.v. Katarzyny Grzywki [et al.]. Warszawa 2007, S. 493–505. 138 Vgl. dazu: Peter Paul Kies: The Sources and Basic Model of Lessing’s Miss Sara Sampson, in: Modern Philology 24 (1926), S. 65–90. 139 Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 2, München 1970ff., S. 186. 140 Sybille Oßwald-Bargende: Die Mätresse, der Fürst und die Macht. Christina Wilhelmina von Grävenitz und die höfische Gesellschaft, Frankfurt a. M./New York 2000, S. 14.
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Zärtlichkeit als Ästhetik Die Begriffsgeschichte der Zärtlichkeit bestätigt unsere bisher nur skizzierte These, nach welcher sich im Frankreich des 17. Jahrhunderts erstmals eine Kultur der Empfindsamkeit entwickelte.141 Im Mittelhochdeutschen haben die Begriffe ‚zart‘ und ‚zärtlich‘ nämlich noch eine sehr konkret körperliche Bedeutung, gehen sie doch auf die mittelhochdeutsche Verbalform ‚zarten‘, d.h. ‚liebkosen‘ durch körperliche Berührung, zurück.142 Im von der Reformation geprägten 16. Jahrhundert ist mit dem Begriff zudem noch eine gewisse Weichlichkeit, Üppigkeit, Schwelgerei oder Luxus verbunden, was auch der Lutherbibel zu entnehmen ist, die „zertligkeit vnd wollust“143 etwa in der Übersetzung der Bücher Mose kombiniert. Ähnlich wird in Andreas Hondorfs Promptuarium exemplorum von 1572 auf das „Lacedemonische Gesetz“ verwiesen, demgemäß „die zertligkeit […] für eine Schande“144 gelte, in den Predigten von Cyriacus Spangenberg wird „Zertligkeit, Wollust und Überfluss“145 in einem Atemzug genannt, und auch Nikolaus Selnecker versteht unter der „neundte[n] sünde“ eben die „Zertligkeit, wenn man weichlich sich hielt den leib sallbet/sein schonet nicht arbeitet.“146 Erst mit Balthasar Graciáns Propagierung eines lebenspraktisch ausgerichteten, ingeniösen „Scharfsinns“147, nicht zuletzt im Hinblick auf die feinen Verflechtungen der höfischen Welt, und Blaise Pascals Unterscheidung von „esprit de géométrie“ und „esprit de finesse“ 148 deutet sich in der Frühen Neuzeit die Tendenz an, unter dem Begriff der Zärtlichkeit ein auf Empfindung gründendes Gespür für verborgene Zusammenhänge zu verstehen, wie es schon Blaise Pascal in den Pensées von 1670 formuliert: „il faut un sens bien délicat et bien net pour les sentir, et juger droit et juste selon ce sentiment.“149 Auch La Rochefoucault gilt die „délicatesse“ nun als eine Wahrnehmung des nicht Sichtbaren: „la délicatesse aperçoit les imperceptibles, et le jugement prononce ce qu’elles sont.“150 Im 17. Jahrhundert gewinnt 141 John Hennig: Goethes Begriff ‚zart‘, in: Archiv für Begriffsgeschichte 24 (1980), S. 77–102, hier S. 89. 142 Vgl. die Art. ‚Zart‘, ‚Zärtlich‘ und ‚Zärtlichkeit in: Grimm 15 (1956) S. 283–297, 283; ‚Zärtlich‘, ebd. S. 307; ‚Zärtlichkeit‘, ebd. 307–311. 143 Martin Luther’s Bibelübersetzung, Nach Der Letzten Original-Ausgabe, Erster Theil: Die fünf Bücher Mose’s, Halle 1845, S. 411. 144 Andreas Hondorf: Promptuarium exemplorum, Frankfurt 1572, S. 380. 145 Cyriacus Spangenberg: DieœSechste Predigt Von dem werden Gottes Lehrer. Doctor Martin Luher, Das er ein rechter Pavlvs gewesen: Geschehen im Thal Manßfeldt 1565. den 18. Februarij, Erffurdt 1566, S. 33. 146 Nikolaus Selnecker: Die Propheten : Allen frommen und einfeltigen Christen und Hausvätern zum unterricht und trost in diesen sorglichen letzten zeiten, mit kurtzer Summari und Außlegung verfertiget, Leipzig : Berwald, 1579, S. 76. 147 Balthasar Gracián: Agudeza y arte de ingenio (1648). Obras compl., hg. v. A. del Hoyo (1960) 229f. 148 Blaise Pascal: Oeuvre complètes, hg.v. Louis Lafuma, Paris 1963, S. 576. 149 Ebd. 150 François de La Rochefoucault: Sentences et maximes de morale [Ms. Liancourt] 41 (1664), in Œuvres Complètes, (=Bibliothèque de la Pléiade 24), hg.v. Louis Martin-Chauffier, Paris 1994, S. 345.
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diese verfeinerte Form der Intuition als Ausdruck des Zarten bzw. Zärtlichen über die höfisch-politische bzw. wissenschaftliche Sphäre hinaus auch innerhalb der Ästhetik an Relevanz. Dabei bemerkte schon der Jesuitenpater Dominique Bouhours diese signifikante Ausdehnung des zeitgenössischen Begriffsgebrauchs von ‚délicat‘ und ‚délicatesse‘ von der sinnlichen auf die geistige Sphäre: „Quoy-que delicat, delicatesse, delicatement ayent toûjours esté en usage, on ne s’en est pas toûjours servi comme l’on s’en sert. Un esprit delicat, une raillerie delicate, une pensée delicate; [...]. Il a beaucoup de delicatesse dans l’esprit; il sçait toutes les delicatesses de la langue.“151 Gehören die Begriffe ursprünglich in den Bereich der Esskultur, so gebraucht Bouhours sie wohl erstmals im kunstästhetischen Sinne: „Zart“ („delicat“) nennt er jene kaum wahrnehmbaren Eigenschaften eines Werks152, die ihm über alle Regelhaftigkeit hinaus eine geheimnisvolle Ausstrahlung („je ne sçay quel air tendre & gracieux“) verleihen153, wenn es etwa durch ungewöhnliche Metaphern oder brillante Wendungen den Kenner angenehm überrascht.154 Neben ‚finesse‘ und ‚noblesse‘ steigt ‚délicatesse‘ in der Folge zu den wichtigsten ästhetiktheoretischen Kategorien der französischen Klassik auf.155 Es ist nun kein Zufall, dass Bouhours sich zugleich über den mangelnden ‚bel esprit‘ der Deutschen mokierte: Ein Vorwurf, den Christian Thomasius 1687 in seinem Discours von Nachahmung der Frantzosen zwar zurückwies, ungeachtet dessen aber mit dem Begriff der Nachahmung insofern bestätigte, als seine Nachahmung ja eine kulturelle Überlegenheit der ‚Franzosen‘ voraussetzt.156 Während daher noch in Lohensteins Großmüthiger Feldherr Arminius oder Herrman von 1689 die „Abhärtung der Zärtligkeit fürzuziehen“157 ist, findet sich eine Positivierung der Zärtlichkeit tatsächlich erst bei Thomasius, der sein Denken an aktuellen französischen Vorbildern wie u. a. Bouhours orientierte. Explizit wird diese Umwertung der Zärtlichkeit jedoch erst in seiner Ausübung der Sittenlehre von 1696: 151 Dominique Bouhours: Les entretiens d’Ariste et d’Eugène, Paris 1741, S. 123. 152 Dominique Bouhours: La manière de bien penser dans les ouvrages d’esprit (1687), Amsterdam 1692, S. 158. 153 Bouhours: Les entretiens d’Ariste et d’ Eugène, a.a.O., S. 214. 154 Vgl. Hermann Wiegmann: Die verzögerte Entfaltung des kunsttheoretischen Schönheitsbegriffs und der Begriff der acutezza und delicatesse, in: Ders.: Utopie als Kategorie der Ästhetik: Zur Begriffsgeschichte der Ästhetik und Poetik, Stuttgart 1980, S. 53–61. Ähnliche Definitionen gibt Denis Diderots Art. ‚Délicat‘, in: D. Diderot/J. le R. d’Alembert (Hg.): Encycl., ou Dict. raisonné ... (Paris 1751–80) 4, S. 785. 155 Vgl. P. E. Knabe: Art. ‚Délicatesse/délicat‘, in: Schlüsselbegriffe des kunsttheoretischen Denkens in Frankreich von der Spätklassik bis zum Ende der Aufklärung (1972) S. 156–164; Art. ‚Délicat/ délicatesse‘, in: E. Sourian: Vocab. d’esthét. (Paris 1990), S. 559; J. Barnouw: The beginnings of ‚aesthetics‘ and the Leibnizian conception of sensation, in: P. Mattick Jr. (Hg.): 18th-cent. aesthetics and the reconstruction of art (Cambridge 1993), S. 52–95. 156 Thomas Borgstedt: Tendresse und Sittenlehre. Die Liebeskonzeption des Christian Thomasius im Kontext der Preciosité – mit einer kleinen Topik galanter Poesie, in: Christian Thomasius (1655–1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung, hg.v. Friedrich Vollhardt. Tübingen 1997, S. 405–428. 157 Daniel Caspar von Lohenstein: Großmütiger Feldherr Arminius, Zweyter Theil, Leipzig 1690, S. LI51–LII52.
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Die Zaertligkeit/ deren wir etliche mahl gedacht/ erinnert uns/ daß wir bey derſelben ein wenig ſtille ſtehen. Wir rechnen dieſelbe unter das Laſter/ und zu der Wolluſt: Aber der gemeine Gebrauch ſcheinet uns zu widerſprechen. Weñ man was loben wil/ nennet man es zart und delicat. Wer wolte nicht ein zartes und delicates Frauenzimmer/ einer Weibesperſon vorziehen/die grob von Gliedern und Haut iſt. Eine vornehme Perſon hat gantz eine andere Natur als gemeine und grobe Leute. […] Woraus zu folgen scheinet/ daß die Zartheit und Zärtligkeit kein Laster/ sondern eine sonderliche Vortrefflligkeit sey/ entweder des Weibesvolcks/ oder der Vornehmen/ und sonderlich Hoff-Leute/ die sie für andern gemeinen Leuten haben.158
Allerdings verstand Thomasius unter der Zärtlichkeit primär einen Habitus, also eine „Vortrefflligkeit […] der Vornehmen und sonderlich Hoff-Leute“159. Daher begriff wohl erst Johann Christoph Gottsched die Zärtlichkeit als eine ästhetische Kategorie in dem zuvor erläuterten Sinne. Die Critische Dichtkunst von 1730 verwendete den Begriff im Sinne eines stilistischen Prinzips, das vom eher hölzernen bzw. überladenen Stil der deutschen Barockdichter Lohenstein und Hofmannswaldau positiv abgehoben wird. Hintergrund dieser Überlegungen ist der berühmte Schwulst des Barock, denken wir etwa an Werktitel wie Johann Michael Moscheroschs Wunderliche vnd Wahrhafftige Gesichte Philanders von Sittewalt. In welchen Aller Welt Wesen / aller Mänschen Händel / mit jhren Natürlichen Farben / der Eitelkeit / Gewalts / Heucheley vnd Thorheit / bekleidet: öffentlich auff die Schauw geführet / als in einem Spiegel dargestellet / vnd von Männiglichen gesehen werden. Die Kritik solcher Stilblüten hängt mit einem Geschmackswandel der 1730er Jahre zusammen, vor deren Hintergrund der Barockstil in Gottscheds Critischer Dichtkunst als poetische Unart scharf kritisiert wird. Dem stehen die aus der humanistischen Tradition stammenden Forderungen nach Deutlichkeit und Klarheit entgegen, und zwar insbesondere im Feld der Prosodie. So hatten die „nordlichen Völker, Thracier, Gothen, Kelten und Gallier […] kein so zärtliches Gehör, und verfielen also auch auf dieses künstliche Sylbenmaaß der Griechen und Römer nicht.“160 Eben dies habe sich jedoch geändert: Das Gehör unsrer Landesleute ist im Absehen auf die äußerliche Stücke überaus zärtlich. Kein Mensch liest itzo mehr Lohensteins Gedichte: das macht, sie sind, bey so vielen Gelehrten Sachen, viel zu hart und zu rauh. Selbst Hofmannswaldau ist nicht mehr so beliebt, als er sonst gewesen: das macht, daß er von seinen Nachfolgern, auch in der Reinigkeit der Verse, weit übertroffen worden. Ja diese Zärtlichkeit geht zuweilen so weit, daß man deswegen die allerelendsten Reime, die nur etwas ungezwungen fließen, bey aller ihrer Unvernunft und Niederträchtigkeit der Gedanken, für schön; und hingegen, bey einer kleinen Härte des Ausdruckes, die schönsten Gedichte großer Meister für elend und mager ausruffet.161
158 Christian Thomasius: Ausübung Der SittenLehre, Halle (Saale) 1696, S. 201f. 159 Ebd. 160 Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. 12 Bände, Band 6,1, Berlin und New York 1968–1987, S. 121. 161 Ebd., S. 33f.
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Im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts wird das Zarte bzw. Zärtliche zunehmend in den Horizont des Schönen gerückt, wobei es seine theoretische Bedeutung später vor allem durch die Kontrastierung mit dem Begriff des Erhabenen gewinnt. Stellvertretend für viele sieht Edmund Burke in der „delicacy“162, der Kleinheit und Fragilität, die Bedingung der Schönheit, während das Erhabene unüberschaubar, rauh, wild und ungehobelt sein kann. ‚Délicatesse‘, ‚delicacy‘ oder ‚Zartgefühl‘ bezeichnen also eine neue Empfänglichkeit des Gemüts für gewisse Qualitäten eines Kunstwerks, die in Opposition zu einer Ästhetik des Erhabenen treten, weshalb Schiller in seinen wohl um 1790 entstandenen Gedanken über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst angesichts der Darstellung von schweren und schrecklichen Verbrechen im Sinne einer Ästhetik des Erhabenen die Grenzen dieser Zartheit sieht: „Sobald wir aber anfangen zu zittern, so schweigt jede Zärtlichkeit des Geschmacks.“163 Während Schiller jedoch im Namen einer Ästhetik des Erhabenen argumentieren wird, fokussierte Burke die von ihm theoretisierte Zartheit des ästhetischen Empfindungsvermögens auf die genuine Beschaffenheit kleiner Gegenstände wie „smoothness“164, „gradual variation“165, „elegance“166 und „grace“167, die er mit dem „je ne sais quoi“ Bouhours in Verbindung bringt.168 Die Einflüsse dieser Überlegungen Burkes sind wohl ab 1760 zu beobachten: Während Johann Justinus Gebauers Abhandlung im 129. Stück seiner moralischen Wochenschrift Der Gesellige von 1764 noch „von der zärtlichen Liebe“169 sprach, markiert Ringeltaubes 1765 entstandene Abhandlung Von der Zärtlichkeit wohl erstmals den engen Bezug der Zärtlichkeit zur Empfindung, wenngleich die Abhandlung beide Aspekte gesondert behandelt. Aber Ringeltaube assoziiert die Zärtlichkeit mit einer „sittlichen Empfindung“170, verbindet also – unter Bezugnahme auf Hutcheson – sowohl „sinnliche Empfindung“ und „moralisches Gefühl“ als auch sinnliche und moralische Zärtlichkeit. Entsprechend unterscheidet Ringeltaube die „Gemüthsbewegungen oder Affekte(n)“171 von diesen „sittlichen Empfindungen“ bzw. von einem „sittlichen Geschmack“.172 Ähnlich ist die Zärtlichkeit entgegen der lutherischen Tradition nun in eine „sinnliche“173 und eine „morali162 Edmund Burke: A philosophical enquiry into the origins of our ideas of the sublime and the beautiful, London 1767, S. 218f. 163 Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, Band 5, hg. v. Gerhard Fricke, S. 541. 164 Burke: A philosophical enquiry into the origins of our ideas of the sublime and the beautiful, a.a.O., S. 213. 165 Ebd., S. 214. 166 Ebd., S. 227. 167 Ebd., S. 226. 168 Ebd., S. 227. 169 Johann Justinus Gebauer: Das Reich der Natur und der Sitten. Eine moralische Wochenschrift, Band 5, Halle 1759, S. 140. 170 Michael Ringeltaube: Von der Zärtlichkeit, Leipzig Breslau 1765, S. 12. 171 Ebd., S. 25. 172 Ebd., S. 26. 173 Ebd., S. 45ff.
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sche“174 untersteilt, zweitere beinhaltet etwa die „Zärtlichkeit gegen Gott“, „gegen sich selbst“, gegen andere, gegen Freunde, gegen Feinde und Widersacher, aber auch die „Zärtlichkeit unter Ehegatten, „zwischen Aeltern und Kindern“, die Zärtlichkeit „unter Brüdern“ oder diejenige „des Verfassers gegen seine Leser“.175 In Sulzers Allgemeiner Theorie der Schönen Künste von 1774 wird die Zärtlichkeit zudem wieder zur „Gattung des Kleinen“ gerechnet: „Wer nicht einen feinen zärtlichen Geschmak, eine für jeden sanften Eindruk empfindsame Seele hat, würde sich vergeblich in dieses Feld wagen.“176 Adelungs Grammatisch-kritischem Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart von 1786 kann dann sechs Bedeutungsebenen unterscheiden: 1. Zarte, d. i. feine, Beschaffenheit, ohne Plural; da es denn zuweilen für Zartheit gebraucht wird. Die Zärtlichkeit der Glieder. 2. Die Fertigkeit, jeden, auch schwachen unangenehmen Eindruck von außen leicht zu empfinden; ohne Plural. Die Zärtlichkeit des Körpers, der Gesundheit. 3. Übertriebene Vermeidung aller unangenehmen Eindrücke von außen; ohne Plural. 4. Hoher Grad der Liebe; auch ohne Plural. Viele Zärtlichkeit gegen jemand äußern, empfinden. 5. Die Fertigkeit, leicht einen hohen Grad der Liebe zu empfinden; gleichfalls ohne Plural. 6. Als ein Collectivum, ein äußeres Merkmahl der Zärtlichkeit; mit dem Plural. Sie weiß uns ihre Zärtlichkeiten kostbar zu machen.177
Zärtlichkeit als Theaterkultur Glaubt man Carine Barbafieri, die in ihrer erwähnten Studie Atrée et Céladon die Geschichte der Galanterie im absolutistischen Frankreich von 1634 bis 1702 untersuchte, dann blieb diese neue Empfindsamkeit zunächst auf die dem Hof verpflichteten und vom Hof protegierten Kunstformen der Tragödie und der Oper beschränkt.178 Dank der Arbeit Barbafieris wissen wir zudem um die Schwierigkeit, das neue Paradigma einer höfisch-galanten Gefühlskultur der Zärtlichkeit mit dem Genre der heroischen Tragödie zu verbinden, stellte dies für die Zeitgenossen doch eine höchst problematische Umdeutung des Genres dar. Angesichts der Tradition der heroischen Tragödie schienen deren historische Stoffe kaum kompatibel mit dem neuartigen Paradigma einer höfisch-galanten Gefühlskultur. Um es konkret zu machen: Durfte Racine die Geschichte des römischen Kaisers Titus auf eine private Liebesaffäre reduzieren, und diese dann in Form einer Tragödie zur Darstellung bringen, wie es in der Bérénice von 1670 geschah? Das Urteil etwa Voltaires bzgl. dieser Frage ist ebenso symptomatisch wie unmissverständlich: 174 175 176 177
Ebd., S. 88ff. Ebd., S. 109ff. Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste Band 2, Leipzig 1775, S. 37. Johann Christoph Adelung: Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. Fünften und letzten Theils Erste Hälfte, von W-Z, Leipzig 1786, Sp. 336. 178 Carine Barbafieri: Atrée et Céladon, a.a.O., S. 18–34.
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Un amant & une maitresse qui se quittent ne sont pas sans doute un sujet de tragédie. Si on avait proposé un tel plan à Sophocle ou à Euripide, ils l’auraient renvoyé à Aristophane. L’amour qui n’est qu’amour, qui n’est point une passion terrible et funeste, ne semble fait que pour la comédie, pour la pastorale, ou pour l’églogue.179
Voltaires Kritik beruft sich auf den Abbé Saint-Évremont, der an Racines Bérénice gleichfalls bemängelte, dass diese weder die aristotelische ‚terreur‘ und ‚compassion‘ noch die ‚admiration‘ Corneilles beim Zuschauer hervorrufe. Man könne die Bérénice also nur dann genießen, wenn man von diesen Grundregeln der Tragödie absehe, weshalb Évremont bezweifelte, dass es sich hier um eine echte Tragödie handle. Damit ist jedoch das große Problem der Zärtlichkeit präzise benannt: In welchem Genre ist diese eigentlich inszenierbar? Denn die identische Debatte wiederholte sich auch im Komödiengenre, nachdem um 1700 in England die sentimental comédy und als deren Folge um 1730 die comédie larmoyante die tendresse amoureuse aufführte. Denn nun betonten Kritiker wie etwa der Franzose Pierre Mathieu Martin de Chassiron umgekehrt, dass die tendresse amoureuse der antiken Komödie, also Plautus und Terenz, unbekannt war. Die Kulturgeschichte der Zärtlichkeit bzw. die Karriere der tendresse amoureuse führt also zu äußerst kontrovers diskutierten Transformationen sowohl im Bereich der Tragödie – von Racine über Voltaire bis hin zu Johann Elias Schlegel und Lessing – als auch der Komödie – von Dryden über die sentimental plays bei Steele und Cibber, die comédie larmoyante von Destouches, Marivaux und La Chaussée bis hin zu Gellerts rührendem Lustspiel. Die Gattungsgrenzen lösen sich auf, weil beide Genres nun eine gemeinsame Thematik haben: Die Zärtlichkeit als neuwertiges soziologisches Phänomen einer in die Epoche der Liebesheirat eintretenden Neuzeit. Und während die Tragödie bis dato dem Wirkungsprinzip der Bewunderung bzw. der aristotelischen Katharsis, und die Komödie dem Lachen zugeordnet war, führen die Inszenierungen der Zärtlichkeit in beiden Genres zu einem neuartigen und keinesfalls unproblematischen Wirkungsprinzip des Theaters: Der Rührung. Rührend, weil zärtlich ist etwa a) … die erstmals von Tränen begleitete Trennung zweier sich Liebender, die sich aufgrund ihres öffentlichen Amtes bzw. politischer oder konfessioneller Umstände zu einer Auflösung ihrer Liebesbeziehung gezwungen sehen, wie dies in der empfindsamen Herrschertragödie, also etwa in Racines Bérénice (1670), Drydens All for Love (1678) oder später auch in Voltaires Zaire (1732) der Fall ist. b) … der von plötzlicher Empfindsamkeit geprägte Gesinnungswandel des Stoikers bzw. Misantropen im Sinne von Regnard (Democrite) und Destouches (Les philosophes amoureux), hinter dem sich die „Ehefeindlichkeit des RégenceAdels“180 erkennen lässt, der in Destouches’ Le Glorieux durch die glückliche Fügung der Liebe in ähnlicher Weise therapiert wird. 179 Oeuvres complètes de Voltaire, avec notes, préfaces, avertissemens remarques historiques et littéraires, Paris 1829, S. 373. 180 Vgl. dazu: Antoine Adam: Au temps de Crébillon, in: Studie in Onore die Italo Siciliano, Firenze 1966, S. 1–7.
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c) … die Empfindung der frisch Verliebten im Sinne von Marivaux’ Spiel der Liebe und des Zufalls: Hier wird die in Adelskreisen noch dominante Konvenienzehe quasi in eine Liebesehe überführt, insofern die Versprochenen (Silvia und Dorante) durch einen jeweiligen Rollentausch mit ihren Bediensteten in der Lage sind, den bzw. die Auserwählte in cognito kennenlernen und lieben zu können. d) … die Empfindung der geläuterten, in den Hafen der Ehe zurückkehrenden Ehepartner im Sinne der sentimental comedy (Steele, Cibber): Hier wird das alte Vorurteil des Adels, Ehe und Liebe seien unvereinbar, erstmals ad absurdum geführt bzw. geläutert. e) … die Empfindung der Waise, die sich belohnt findet durch die unerwartet noble Abstammung, wie es z. B. bei Destouches (Le Glorieux), Dryden (Marriage à la Mode), oder Voltaire (Nanine) der Fall ist. f ) … die Empfindung der lange getrennten, per Zufall versöhnten Ehepartner wie in La Chaussées Mélanide. In der Mélanide dominiert aber auch die zärtliche Liebe zwischen Mutter und Sohn, eine wiederum für das empfindsame Theater in Deutschland entscheidend wichtige Verlagerung der tendresse von der zwischengeschlechtlichen auf eine innerfamiliäre Ebene. g) … die Empfindung der zärtlich besorgten Väter (Lessing), Brüder (Johann Elias Schlegel) oder Schwestern (Gellert): eine Besonderheit des deutschen Theaters, das an die Stelle der zwischengeschlechtlichen tendresse im Sinne des französischen siècle classique die von La Chaussées Mélanide vorgeprägte innerfamiliäre Zärtlichkeit setzt. In allen Fällen steht der geglückten Liebe etwas im Wege, und zwar in der Tragödie primär das politische Amt, und in der Komödie primär die Tradition der Konvenienzehe. Die Zärtlichkeit scheitert also zumeist an gesellschaftlichen Vorurteilen, Standeshürden oder familiären Vorbehalten. Es dauerte jedoch bis weit in die Mitte des 18. Jahrhunderts, ehe diese Umbrüche poetologisch akzeptabel erschienen. Im Grunde hat erst Bernard Le Bouvier de Fontenelle in der Allgemeinen Vorrede seiner Werkausgabe von 1752 diese Gattungstransformationen vorbehaltlos bejaht. Demnach sei das Fesseln (attacher) Thema der Tragödie und werde durch das Große, Edle und Seltene erwirkt, das Rühren (émouvoir) dagegen Thema der Komödie und werde u.a. durch das Mitleidenswürdige (pitoyable) und Zärtliche (tendre) erwirkt. Allerdings sei das Seltene, Mitleidenswürdige und Zärtliche auch in der Tragödie denkbar, könne also in beiden Genres vorkommen, was Fontenelle u.a. mit Blick auf Racine betont: „Racine n’y a eu guére non plus que le pitoyable & tendre, qui lui ont parfaitement réussi; & on se l’est beaucoup plus souvent proposé pour modelle que Corneille.“181 Daneben verweist Fontenelle zudem auf die Tragödien Nicholas Rowes, insbesondere die 1703 entstandene Tragödie The Fair Penitent, die wohl erste tragédie tendre in England. Anders gesagt: Die Ursprünge der Zärtlichkeit als einem Motiv des Theaters liegen in der empfindsamen Herrschertragödie. 181 Fontenelle: Œuvres complètes, Band 3, S. 441.
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Dieser neue Ton zärtlicher Rührung hat freilich ganz unterschiedliche Auslöser: In der französischen Komödie basiert der Effekt der Rührung vor allem bei Voltaire, Marivaux, La Chaussée und Destouches auf der Überwindung der in gewissen Adelskreisen nach wie vor gängigen Trennung von Ehe und Liebe: La Chaussées Le préjugé à la mode von 1735 ist gewissermaßen die Summa dieses Wandels. Schon in der britischen Komödie wird die Zärtlichkeit innerhalb der Ehe, also zwischen den bereits verheirateten Partnern neu belebt. Dagegen ist im deutschen Lustspiel bzw. dem bürgerlichen Trauerspiel die Liebe zwischen den Ständen undenkbar, das Zärtlichkeitsmotiv also eher auf innerfamiliäre denn zwischengeschlechtliche Beziehungen fokussiert. Der philosophische Begriffsgebrauch bestätigt diese Differenz: So steht in der Encyclopédie ‚tendresse‘ gleichbedeutend mit ‚sensibilité‘, wenn diese als eine „disposition tendre & délicate de l’âme, qui la rend facile à être émue, à être touchée“182, gefasst und Zärtlichkeit zum Signum des Zeitalters erklärt wird. Ähnlich heißt es in Antoine Furetière dictionnaire universel von 1690: „la délicatesse de ce siecle a renfermé ce mot [sc. tendresse] dans l’amour & dans l’amitié.“183 Dagegen rückt die zwischengeschlechtliche Zärtlichkeit in den anonym verfassten Gedanken von der Zärtlichkeit von 1755 hinter die innerfamiliäre Zärtlichkeit: „Nur drey Arten von Gegenständen sind für unsere Zärtlichkeit gemacht; Personen die das Recht des Bluts mit uns vereiniget; eine Geliebte, und Freunde.“184 Es gibt also trotz aller Affinitäten auch Differenzen zwischen der in den französischen Komödien der Frühaufklärung bzw. dem Drama der tragédie classique entwickelten tendresse amoureuse – etwa bei Racine und Voltaire oder bei Destouches, Marivaux oder La Chaussée – einerseits, und dem Zärtlichkeitsdiskurs in den deutschsprachigen Dramen zwischen 1740 und 1770 andererseits.185 Es handelt sich also nicht um ein identisches, wohl aber um ein tradiertes, also im 17. Jahrhundert entwickeltes und im 18. Jahrhundert importiertes und im Zuge des Importes zugleich neu interpretiertes Phänomen. Zu bedenken ist, dass der von Daumas entwickelten Kategorie der tendresse amoureuse tendentiell eine ältere bzw. vorempfindsame Bedeutung von ‚Zärtlichkeit‘ innewohnt, die aus Sicht des 18. Jahr182 Vgl. den Artikel ‚Sensibilité, (Morale)‘, in: Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Mis en ordre & publié par M. Diderot, de l’Académie Royale & des BellesLettres de prusse; & quant à la Partie Mathematique, par M. d’Alembert, de l’Academie Royale des Sciences de Paris, de celle de Prusse, & de la Societé Royale de Londres, Band 15, Paris 1751– 1780, S. 52; G. Girard differenziert zwischen aktiver „tendresse“ und passiver „sensibilité“: „la tendresse est une sensibilité agissante“: Art. ‚Sensible. Tendre‘, in: Synonymes françoises (Paris 1780) 2, 46–50, 48; vgl. auch: Art. ‚Amitié. Amour. Tendresse. Affection. Inclination‘, a.a.O. S. 1, S. 41–45, S. 43. 183 Art. ‚Tendre, tendrement, tendresse‘, in: Diderot, d’Alembert (Hg.): Encyclopédie Bd. 16, a.a.O., S. 130. 184 Gedanken von der Zärtlichkeit, in: Der Freund, Bd. 2, Oettingen 1755. 185 Zur Rolle Marivaux’ im Kontext der Genese der Empfindsamkeit vgl.: Werner Wolf: Ursprünge und Formen der Empfindsamkeit im französischen Drama des 18. Jahrhunderts: Marivaux und Beaumarchais. Ein Beitrag zur Funktionsgeschichte, Frankfurt am Main/Bern/New York/Nancy 1984.
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hunderts nicht selten als Zeichen verkappter Wollust, nervlicher Schwäche oder auch Affektiertheit kritisiert wurde, wie unser begriffsgeschichtlicher Rekurs zeigte. Auch Christian Thomasius hob diese auf Luther zurückgehende negative Bedeutung von ‚zart und delicat‘ hervor, die Indizien einer dem Sinnlichen verhafteten, verwöhnten und lasterhaften Gesinnung seien, wie sie speziell die höfischen Sitten kennzeichne: Sich zart machen/Oder zärtlich seyn/ ist nichts anders/ als zu erkennen geben / daß man wollüstig sey/ und daß das Hery starck an der Wollust hange/ und allbereit in einem hohen Grad darinnen verdorben sey.186
Die Rezeption der Zärtlichkeitsidee in der deutschen Empfindsamkeit beginnt entsprechend mit einer „Entsexualisierung dieses Begriffs“187, wie schon Wolfgang Lukas mit Recht betont. Dies verdeutlicht jene neuartige Beziehungskonstellation, insofern weniger die zwischengeschlechtliche Affektbeziehung im Sinne etwa de Carte de Tendre, der Liebestragödien Racines und Voltaires oder der comédie larmoyante etwa bei Marivaux, Destouches oder la Chaussée, sondern vielmehr die innerfamiliäre Affektbeziehung – etwa bei J. E. Schlegels Canut, Lessings Miss Sara Sampson, Gellert Zärtliche Schwestern oder auch einschlägigen Dramen der Schaubühne – von Zärtlichkeit geprägt ist. Allerdings verweist schon Frank Baasner in seiner wichtigen Studie zum Begriff der sensibilité im 18. Jahrhundert anhand von Dramen Nivelle de La Chaussées oder Voltaires auf „einen größeren Bereich zärtlicher Zuneigung, der vor allem Familienmitglieder einschließt.“188 Neben der Dichothymie von Galanterie und Empfindsamkeit – also der Differenz von zwischengeschlechtlicher vs. innerfamiliärer Affektivität – gibt es also auch eine Schnittmenge dieser Epochen. Diese werden wir im Folgenden um eine weitere ergänzen, wenn wir nunmehr die Zärtlichkeit als eine Form der Didaktik in den Blick nehmen.
Zärtlichkeit als Didaktik Die vorliegende Studie fragt nach dem Verhältnis von Galanterie und Empfindsamkeit, zwei Epochen, die im Begriff der Zärtlichkeit eine bisher kaum je untersuchte gemeinsame Schnittmenge besitzen. Man geht ja insbesondere in der germanistischen Forschung bis heute davon aus, dass die Galanterie von einer künstlich-galanten Affektiertheit dominiert war, die von der aufrichtigen Affektivität der Empfindsamkeit zu unterscheiden sei. Man trennte also zwischen der übertriebenen oder prätendierten ‚Empfindelei‘ und der echten Empfindsamkeit. Diese fragwürdige These einer künstlichen bzw. affektierten Galanterie hat ihren Ur186 Vgl.: Christian Thomasius: Von der Artzeney Wieder die unvernünfftie Liebe, und der zuvorher nöthigen Erkäntniß Sein Selbst. Oder: Ausübung der Sitten-Lehre, 9. Hauptstück: Von der Wollust und denen daraus fließenden Untugenden, Halle 1696, S. 201ff. 187 Vgl. Lukas, a. a. O., S. 120. 188 Frank Baasner: Der Begriff ‚sensibilité‘ im 18. Jahrhundert. Aufstieg und Niedergang eines Ideals, Heidelberg 1988, S. 76.
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sprung in Molières Les précieuses ridicules. Molières lächerliche Preziösen Megdalon und Cathos, ihrerseits Tochter bzw. Nichte des Patriarchen Gorgibus, weisen jene Bewerber, die Ihnen Gorgibus zum Zweck der Heirat vorstellt, eben deshalb ab, weil diese nicht im Sinne der Scudéryschen Carte de Tendre galant um Zuneigung warben, sondern mit der Tür ins Haus fielen und ohne jedes zärtliche Vorspiel ihren Heiratsantrag unmittelbar vortrugen: Eben dieses vermeintlich provinzielle Gebahren identifiziert die Komödie Molières als „preziös“. Mit dem Begriff der Zärtlichkeit ist im Zeitalter der Galanterie jedoch etwas anderes denn ein preziöses Gehabe gemeint. Zärtlichkeit und Galanterie sind vielmehr Bestandteile einer „natürlichen Ethik“, wie Jörn Steigerwald in seiner Studie zur Galanterie zeigen konnte.189 Galante Zärtlichkeit müssen wir demnach als Form einer Didaktik verstehen, deren Ziel die Mäßigung von durch extremes Fehlverhalten geprägter Mitmenschen, und deren Mittel das Prinzip der Läuterung bzw. der Beschämung ist: Denken wir nur noch einmal an die Carte de Tendre und deren Plädoyer für die Mäßigung im Sinne der Nikomachischen Ethik des Aristoteles.190 Das vorliegende Buch macht daher den Vorschlag, eine Schnittmenge zwischen Galanterie und Empfindsamkeit anzunehmen, und zwar in einer beide Epochen prägenden Didaktik der ‚Beschämung‘: Wenn ernstzunehmende Gesten der Zärtlichkeit auf der Bühne des 17. und 18. Jahrhunderts zum Ausdruck kommen, dann beschämen sie häufig denjenigen, auf den sie sich richten. In eben dieser wohlwollenden Beschämung liegt die genuin didaktische Funktion der Zärtlichkeit.191 Diese Kategorie der Beschämung bzw. des ‚shaming‘ entwickeln wir aus einem theoretischen Hintergrund, der dem Diskurs der restorative justice, also dem Ende der 1980er Jahre entstammt und auf das Werk des australischen Kriminologen John Braithwaite zurückgeht. In seinem äußerst einflussreichen Buch Crime, Shame and Reintegration von 1986 unterscheidet Braithwaite zwischen zwei verschiedenen Formen des shaming, die beide als Alternativen einer klassischen Strafgerichtsbarkeit verhandelt werden.192 „Stigmatization“ ist desintegrierend ausgerichtet und stülpt dem Täter einen kriminellen „master status“ über193, d. h. nicht nur die Handlung wird als „kriminell“, sondern der Betroffene selbst in seiner ganzen Persönlichkeit unwiderruflich als ‚Krimineller‘ etikettiert. Dagegen liegt beim reintegrative shaming der Fokus der sozialen Missbilligung allein auf der kriminellen Handlung, während das Individuum als eine im Kern ‚gute‘ Person respektiert wird, die es mit der Gemeinschaft wieder zu versöhnen gilt.194 Dies wird dadurch erreicht, dass im Anschluss an die Missbilligung des kriminellen Vergehens ein
189 Steigerwald: Galanterie, a.a.O. 190 Meyer-Sickendiek: Die ‚tendresse amoureuse‘. Zur Liebesdidaktik des empfindsamen Theaters, a.a.O., S. 521ff. 191 Burkhard Meyer-Sickendiek: Zur Didaktik der Beschämung im Theater der Empfindsamkeit, in: Simon Bunke (Hg.): Gewissen zwischen Gefühl und Vernunft, Würzburg 2014, S. 285–302. 192 John Braithwaite: Crime, Shame and Reintegration, Cambridge 1986. 193 Ebd., S. 12. 194 Ebd.
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Zeremoniell der Vergebung und der sozialen Wiedereingliederung vollzogen wird. Dieses Zeremoniell ist in Deutschland unter der Formel des ‚Täter-Opfer-Ausgleichs‘ bekannt, es setzt voraus, dass der Täter zuvor das begangene Unrecht bekennt und nunmehr Scham und Reue zeigt. Nach Braithwaite ist die reintegrative Wirkung des shaming dann am wahrscheinlichsten, wenn es in einem Setting von Beteiligten mit hoher sozialer Interdependenz stattfindet.195 Eine solche Sozialstruktur verortet er in kommunitaristischen Gemeinschaften, in denen die Beziehungen zwischen Individuen durch gegenseitige Hilfe und Vertrauen geprägt sind und in denen die Loyalität zur Gruppe persönlichen Interessen vorgeht.196 Den historischen Ursprung dieser reintegrativen Form des shaming sah Braithwaite im englischen Viktorianismus des 19. Jahrhunderts.197 Ich gehe dagegen davon aus, dass die integrative Didaktik des Beschämens sich schon gegen Ende des 17. Jahrhunderts finden lässt, ihren Ursprung im britischen Adel bei Autoren wie Locke, Shaftesbury, Cibbers, Steele oder Addison hat und von dort aus auf die zuvor erläuterte Umcodierung der Komödie hin zum Rührstück und schließlich zum bürgerlichen Trauerspiel fortwirkte. Der historische Ursprung des reintegrative shaming lässt sich meines Erachtens also im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert verorten und als zärtliches bzw. ‚wohlwollendes Beschämen‘ später auch bei Gellert, Schlegel und Lessing finden. Beschreiben lässt sich mit Braithwaites Modell des reintegrative shaming also eine unter dem Vorzeichen der tenderness stehende Form der Konfliktbewältigung, die sich gegen Ende des 17. Jahrhunderts in den verschiedensten Feldern sozialer Interaktion, also von der Kindererziehung über die Ehe bis hin zur politischen Auseinandersetzung zwischen Fürst und Untertan nachvollziehen lässt, und deren entscheidendes Prinzip die zärtliche Beschämung und Besinnung der – im Sinne der Carte de Tendre – vom goldenen Mittelweg der Tugend abgekommenen Zeitgenossen ist: Sei dies das störrische Kind, der untreue Ehepartner, der religiöse Eiferer oder der rebellische Untertan. Der Ursprung dieser für die Empfindsamkeitsdiskurse des 18. Jahrhunderts ausgesprochen wichtigen Didaktik des wohlwollenden Beschämens liegt in der Erziehungslehre John Lockes.198 Schon in seinem Essay Concerning Human Understanding von 1690 gründete John Locke seine neue Theorie des Geistes unter anderem auf die berühmte These, nach welcher Gott den Geist als tabula rasa, als ‚unbeschriebenes Blatt‘ entworfen hat, was letztlich besagt, es gebe keine angeborenen Charaktereigenschaften wie gut oder böse. Seine 1692 entstandene Abhandlung Some Thoughts concerning education lässt sich als Anweisung lesen, wie man einen solchen ‚leeren‘ Geist erziehen könne. Die Abhandlung richtet sich explizit an den Stand des Gentry, also an den Landadel bzw. das gehobene Bürgertum, sie ist als 195 196 197 198
Ebd., S. 14. Ebd. Ebd., S. 114. Meyer-Sickendiek: Zur Didaktik der Beschämung im Theater der Empfindsamkeit, a.a.O., S. 288ff.
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Empfehlung an Eltern aus höheren Schichten zu verstehen, ihre Kinder mit Hilfe eines Hofmeisters zu „gentleman“ zu erziehen. Wir haben es also mit einem „treatise of education, suited to our English gentry“ zu tun, Ziel der Schrift sei es, „that young gentleman should be put into [...] the best way of being formed and instructed“.199 Schon die 1708 entstandene erste Übersetzung des Textes ins Deutsche betont diese Adressierung junger Adliger: Des Herrn John Locke Gedanken von Erziehung junger Edelleute200, so der Titel. Die in diesem Zusammenhang entworfenen Briefe Lockes richteten sich anfangs an einen Freund, Herrn Edward Clarke von Chipley, später erst wurde daraus die Abhandlung Some Thoughts concerning education. In dieser Abhandlung tritt Locke zunächst einmal als Kritiker der Verzärtelung in Erscheinung, wie vor allem das erste Kapitel dieses Buches zeigt. In den Überlegungen zur körperlichen Erziehung geht es um eine bestimmte Form der Abhärtung des Körpers, etwa durch kaltes Wasser. Entsprechendes findet sich im zweiten Block, dessen grundlegender Tenor ebenfalls darin besteht, Kinder nicht zu Verhätscheln bzw. zu Verzärteln. Hier solle nicht die körperliche Abhärtung, sondern das gezielte Beschämen der Kinder eine Verzärtelung derselben vermeiden, insofern es eine ‚innere Zucht‘ forciert. Nun tritt diese Didaktik des Beschämens jedoch, und dies ist entscheidend, an die Stelle der körperlichen Gewalt, ersetzt also jenes zuvor weit bekanntere Züchtigungsprinzip der Erziehung: Vor dem Schlagen der Kinder rät Locke unmissverständlich ab. Eine solche ‚Art sklavischer Zucht‘ erzeuge ihrerseits nur eine sklavische Wesensart, aber eben kein tugendhaftes Verhalten. Man müsse sich lösen vom alten Konzept der Prügelstrafe, und dem Kind stattdessen „Bescheidenheit und Scham“ (modesty and shame) lehren, denn so würden sie „bald dahin gelangen, einen natürlichen Abscheu gegen das zu empfinden, wovon sie einsahen, daß es sie bei jedermann gemieden und verachtet machen“201 könne: „Ingenuous Shame, and the Apprehensions of Displeasure, are the only true restraint: These alone ought to hold the Reins, and keep the Child in order.“202 Wenn nämlich den Schlägen des Kindes nicht eine eingehende Beschämung entspricht, dann werden auch die Schläge funktionslos, leicht zu vergessen, und wirken infolge der Gewöhnung zudem auf Dauer nicht mehr beängstigend: I guess there would be little need of blows or chiding: their own ease and satisfaction would quickly teach children to court commendation and avoid doing that, which they found every body condemned, and they were sure to suffer for, without being chid or beaten. This would teach them modesty and shame; and they would quickly 199 John Locke: Some Thoughts concerning education, in: The Works of John Locke. A new Edition, corrected. In ten volumes, vol. IX, Aalen 1963, S. IV. 200 Des Herrn John Locke Gedanken von Erziehung junger Edelleute/ Aus dem Englischen/ und zwar der vollständigsten Edition übersetzt/ und mit Anmerkungen/ zugleich auch durchaus mit Titulen derer Materien versehen von Seb. Gottfr. Starck, Greiffswald/ bey Johann Wolffgang Fickweiler. Ao. 1708. 201 Meyer-Sickendiek: Zur Didaktik der Beschämung im Theater der Empfindsamkeit, a.a.O., S. 289. 202 Locke: Some Thoughts concerning education, a. a. O., S. 19.
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come to have a natural abhorrence for that, which they found made them slighted and neglected by every body.203
Wenn das Schlagen der Kinder zu vermeiden bzw. durch gezielte Formen der Beschämung zu ersetzen ist, dann zeugt dies durchaus von einer gewissen Zärtlichkeit. Es ist daher kein Zufall, dass Locke auch positiv von einer Spielart der Tenderness spricht, und zwar von jener Tenderness, die aus einem Sinn für Scham und Beschämung hervorgehe. Kinder sollten abgehärtet werden, aber ein Sinn für Scham als Zeichen der Zärtlichkeit solle dennoch bleiben: They should be harden’d against all Sufferings, especially of the Body, and have no Tenderneß but what rises from an ingenuous shame, and a quick Sense of Reputation.204
In ihrer Begriffsgeschichte der Ehre haben Werner Conze und Reinhart Koselleck den Prozess einer Verinnerlichung des Ehrbegriffes auf den „Puritanismus und Pietismus“ datiert, und wesentlich auf John Locke zurückgeführt.205 Zudem hatte Heinz D. Kittsteiner in seiner bekannten Studie über Die Entstehung des modernen Gewissens auf die Rolle John Lockes verwiesen, mit dessen „Gedanken über Erziehung“ sich „das Schwergewicht der Strafe von der körperlichen Gewalt auf die Einwirkung im Gewissen“ verlegt habe.206 In der Begriffsgeschichte der Ehre sowie der Begriffsgeschichte des Gewissens ist die wichtige Rolle John Lockes also bereits betont worden, neben zahlreichen Übersetzungen207 bezeugen diesen Einfluss Lockes vor allem die Moralischen Wochenschriften: Sowohl Gottscheds Die Vernünfftigen Tadlerinnen und Der Biedermann als auch der Hamburger Patriot208 empfahlen die Lektüre von Lockes On Education. In der Wochenschrift Die vernünftigen Tad203 Ebd. 204 Ebd., S. 49. 205 Geschichtliche Grundbegriffe: historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band 2: E-G, Stuttgart 1975, S. 24. 206 Heinz D. Kittsteiner. Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt am Main 1995, S. 371ff. 207 Die rasche Verbreitung der Lockeschen Abhandlung in Deutschland beginnt 10 Jahre nach dem Erscheinen des Originals: Die Abhandlung wurde unter dem Titel De l’Education des enfants zunächst mehrfach ins Französische übersetzt, in Deutschland beginnt seine Popularisierung im Jahr 1708 mit den beiden zeitgleichen Übersetzungen von Sebastian Gottfried Starcks schon erwähnter Übersetzung Des Herrn John Locke Gedanken von Erziehung junger Edelleute sowie Gottfried Olearius’ Herrn Johann Locks Unterricht von Erziehung der Kinder aus dem gleichen Jahr, die im Jahre 1729 eine Neuauflage erfuhr. Später folgte dann Johann Joachim Schwabes Übersetzung Herrn Johann Lockens Gedanken von Erziehung der Kinder von 1761, Carl Siegmund Ouvriers John Locke, Esq. über die Erziehung der Jugend under den höheren Volksklassen von 1787 und Ludwig Eberhard Gottlob Rudolphi Handbuch der Erziehung Aus dem Englischen des John Locke Übersetzt von 1787. 208 In der sogenannten „Frauenzimmerbibliothek“ in der No. 8 vom 24. Februar 1724 des Hamburger Patrioten wird eine französische Übersetzung der Thoughts concerning Education aufgeführt, vgl.: Wolfgang Marten: Der Patriot: nach der Orig.-Ausg. Hamburg 1724–26 in 3 Textbd. hg. v. Wolfgang Marten, Band 4: Kommentarband, Berlin 1984, S. 63. Vgl. hierzu bereits grundlegend F. Andrew Brown: On Education. John Locke, Christian Wolff and the „Moral Weeklies“, in: University of North Carolina Publications in Modern Philology 36 (1952), S. 149–170.
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lerinnen wird Lockes „Tractate von der Kinderzucht“ im Februar 1726 als ein „herrliches Büchlein“ gepriesen, und überdies in einem Atemzug mit Quintilians Kritik an der „Verzärtelung der Jugend“ genannt.209 Doch wie steht es mit der Wirkkraft der Lockeschen Abhandlung im uns interessierenden Genre der Komödie? Die Einflüsse finden sich im Übergang von der Restaurationskomödie des ausgehenden 17. Jahrhunderts hin zur sentimental comedy des frühen 18. Jahrhunderts, also bei den wohl wichtigsten Dramaturgen der Tenderness, Colley Cibbers und Richard Steele. Zu nennen ist vor allem Cibbers 1704 erschienene Komödie The Careless Husband, die als Vorlage von Steeles ein Jahr später entstandener Komödie The tender husband gelten kann. In beiden Komödien ist die Tenderness eben jene Form der Zärtlichkeit, die die Lockesche Erziehungslehre als eine Didaktik des wohlwollenden Beschämens junger Aristokratenkinder beschrieb: „a Tenderneß [that] rises from an ingenuous shame, and a quick Sense of Reputation.“210 Dies zeigt insbesondere Colley Cibbers Komödie The Careless Husband, denn deren Thema ist der gelungene Versuch einer Ehefrau, ihren auf moralischen Abwegen sich befindenden Gatten durch weibliches Taktgefühl wieder zu disziplinieren. Aber auch die Komödien Regnards, Destouches’ oder die tragédie tendre Voltaires zeugen von dieser Beschämung, bei welcher die zärtlich-empfindsame Geste in der Lage ist, Heiden in Christen (Voltaires Zaire) oder Stoiker in liebevolle Ehemänner zu verwandeln. Eine ähnliche Didaktik der Beschämung findet sich in Deutschland erstmals in der empfindsamen Herrschertragödie, so etwa in Johann Elias Schlegels 1746 entstandenem Trauerspiel Canut. Wie drei Jahre später das Trauerspiel Arminius des Osnabrücker Juristen und Staatsmannes Justus Möser, so repräsentiert auch der Canut Johann Elias Schlegels die Gattung des aufgeklärten Fürstendramas in deutscher Sprache. Beider Tragödien Thema ist die Darstellung eines Fürsten, der „mit unerwarteter und göttlich freyer Güte/ Das Harren treuer Furcht, der Rache schwer Gemüthe/ Rührt, tröstet und beschämt“211, wie es bei Möser heißt. Im aufgeklärten Fürstendrama wird also – anders als im absolutistischen Drama – die Figur des politischen Widersachers nicht mehr durch äußeren Zwang reglementiert, sondern ganz im Gegenteil durch den gütigen Verzicht des Souveräns auf derlei Repressalien. Dies aber geschieht im Namen einer Strategie der Beschämung, die dann entstehen soll, wenn der Fürst dem intriganten Machtstreben einzelner Untertanen mit Güte und Milde begegnet: „Glaub, ich will, um den Trutz des Ulfo zu bezähmen,/ Ihn an der Strenge Statt durch Güte nur beschämen.“212 Vor diesem Hinter209 Die vernünftigen Tadlerinnen. Der andre Theil, Hamburg 1748. 210 Vgl. Locke, Some thoughts concerning education, a.a.O., S. 49. 211 Justus Möser: Arminius: Ein Trauerspiel, S. 21. Arminius muss sich darin nach dem Sieg über Varus mit den germanischen Fürsten auseinandersetzen, die sich gegen sein Vorhaben, ein ‚modernes‘ aufgeklärtes Königtum einzuführen, stellen. Sie bangen um den Verlust ihrer ererbten germanischen Freiheit und wollen sich keiner Zentralgewalt beugen. Arminius wird letztlich von seinem Widersacher Sigest hinterrücks ermordet. Arminius verkörpert den wahren Patriotismus und steht für ein aufgeklärtes Königtum, in dem der Fürst ein „Knecht des Volkes“ ist. 212 Schlegel: Canut, S. 39.
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grund kam Moses Mendelssohn in seinen Briefen über die Empfindungen dann zu jener Gleichung, die unser Zusammenspiel von Scham und Zärtlichkeit mehr als deutlich unterstreicht: „Schamröte und Bescheidenheit sind moralische Schönheiten, und Anzeigen einer sanften Gemütsbeschaffenheit und zärtlicher Empfindung.“213
Die Poetik der Rührung Eng verknüpft mit der in dieser Studie untersuchten Geschichte der Zärtlichkeit ist eine dieser Geschichte unmittelbar entsprechende Kategorie, welche für die frühe Empfindsamkeit unverzichtbar ist und insbesondere in den Theaterdiskussionen der 1740er Jahre im Mittelpunkt steht: die Kategorie der Rührung. Wir werden in dieser Studie zwei entscheidende Diskurse zu verfolgen haben, an denen sich diese Assoziation von Rührung und Zärtlichkeit entfaltete: zum einen die Diskussion um die Transformation der Komödie hin zu einer ‚rührenden‘ Form, die insbesondere in der von Voltaire geprägten Gattung der comédie attendrissante ihren Höhepunkt erreicht, und die dann in Deutschland zur Vorlage der Theorie des ‚rührenden Lustspiels‘ wurde. Und zum anderen die Diskussion um die Transformation der Tragödie hin zur tragédie tendre, die natürlich schon bei Racine entwickelt, aber dann ebenfalls bei Voltaire zum Genre ausgearbeitet wird. Beide Transformationen entstanden jeweils vor dem Hintergrund der soziologischen Genese einer tendresse amoureuse, die sich einerseits in der Tragödie Racines bzw. Voltaires, andererseits in der Komödie bei Destouches, Marivaux und La Chaussée niederschlug. Eben diese Transformationen führen zu Diskussionen und Kontroversen, welche wir angesichts unserer Frage nach der Genese einer Poetik der Zärtlichkeit genauer zu untersuchen haben: Die 1719 mit den Réflexions critiques sur la poésie et sur le peinture des französischen Abbé Jean Baptiste Dubos einsetzende Diskussion bzgl. der Rührung in der Tragödie, die sich insbesondere auf die Tragödien von Corneille und Racine bezog.214 Und die 1749 mit den Réflexions sur le comique-larmoyant des Franzosen Pierre Mathieu Martin de Chassiron einsetzende Diskussion um die Rührung in der Komödie, die sich insbesondere auf die Komödien von Pierre Claude Nivelle de La Chaussée bezog und vor allem dessen Komödie Mélanide zum Gegenstand hatte. Freilich ist die mit Racine einsetzende Erneuerung der Tragödienform schon um 1675 durch den Begriff der Rührung umschrieben: „Les comédies de M. Racine ont quelque chose de fort touchant, et ne manquent guère d’imprimer les passions qu’elles représentent.“215, so formuliert es Dominique Bouhours in seinen re213 Moses Mendelssohn: Ästhetische Schriften, Ästhetische Schriften. Mit einer Einleitung und Anmerkungen hg. v. Anne Pollok, Hamburg 2006, S. 117. 214 Vgl. dazu: Klaus Dirscherl: Von der Herrschaft der Schönheit über unsere Gefühle, a.a.O., S. 407. 215 Bouhours: Remarques novelles sur la langue francaise, 1675, S. 93.
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marques nouvelles sur la langue francaise. Zudem hatte schon Boileau in seiner Dramenpoetik den Hinweis gegeben: „Le secret et d’abord de plaire et de toucher“, wie es im dritten Gesang seiner l’art poétique heißt. Ihren eigentlichen Höhepunkt erreichte diese Diskussion jedoch erst in den 1710er Jahre bei Fénélon, Crousaz und Dubos, wie Klaus Dirscherl nachdrücklich gemacht hat.216 Diese neuartige „Herrschaft der Schönheit über unsere Gefühle“217 etablierte insbesondere der Abbé Jean Baptiste Dubos, dessen Kritische Reflexionen über Poesie und Malerei durch ihren enormen Einfluss auf die Entwicklung des Theaters und der Musik zweifellos einen Wendepunkt in der Ästhetiktheorie der Aufklärung darstellen. Entscheidend für diesen Paradigmenwechsel ist die zentrale These dieser Abhandlung: Kunst solle nicht nur schön sein, sondern vor allem die Herzen rühren: Le sublime de la poésie et de la peinture est de toucher et de plaire, comme celui de l’éloquence est de persuader. Il ne suffit pas que nos vers soient beaux, dit Horace en style de législateur, pour donner plus de poids à la décision; il faut encore que ces vers puissent remuer les cœurs et qu’ils soient capables d’y faire naître les sentiments qu’ils prétendent exciter.218
Diese „remuement des cœurs“, diese „sensibilité“219 erklären die sensitive Erfahrung bzw. das Gefühl erstmals zu einem ästhetischen Prinzip an sich. Dubos ist insofern mit seinen réflexions critique der theoretische Begründer der Empfindsamkeit, auf den sich Voltaire und Diderot, und in Deutschland vor allem Breitinger und Bodmer beziehen, wenn es um diese neue Gefühlsästhetik geht. Und natürlich sind die Überlegungen Dubos wiederum äußerst wichtig für Nicolais Abhandlung vom Trauerspiele, die ebenfalls ein entschiedenes Plädoyer für die Rührung darstellt. Doch nicht nur Nicolai betonte, dass Dubos den wahren Grund „alles Vergnügens [sein], das wir aus den schönen Wissenschaften schöpfen“220, formuliert habe: „Ist nicht daher derjenige unsers Beyfalls gewiß, dem es gelingt uns zu rühren?“221 Mit Dubos ist auch die in den 1750er Jahren so wichtige Frage nach den vermischten Empfindungen verbunden, also das „Süße in den negativen Leidenschaften“, das als „Stärke der Bewegung“ begriffen wird. Sie ist charakteristisch für die „Leidenschaften“, die das Trauerspiel hervorbringt: „unser Geist wird gerühret, er empfindet auch Schmerz“222. Dubos ist also auch für Moses Mendelssohns Theorie der vermischten Empfindungen, wie sie in dessen Briefen über die Empfindungen von 1755 formuliert ist, der wichtigste Referent.223 Die Rezeption Dubos’ in Deutsch216 Klaus Dirscherl: „Von der Herrschaft der Schönheit über unsere Gefühle“, a.a.O., S. 383–413. 217 Ebd. 218 Ich zitiere nach dem Reprint der Ausgabe: Jean Baptiste Dubos: Reflexions critique sur la poesie et sur la peinture, 3 Bde., Paris 1770, Reprint Genf 1982; Band II, S. 1. 219 Ebd. 220 Zitiert nach: Lessing: Werke. Band 4, a.a.O., S. 224. 221 Friedrich Nicolai: Abhandlung vom Trauerspiele, in: Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste. 1. Band, 1. Stück. Leipzig 1757. S. 20. 222 Ebd., S. 21. 223 Im dreizehnten Brief, den der Protagonist Palemon an Euphranor schreibt, verweist dieser auf Dubos’ „unzählige Beyspiele von Ergötzlichkeiten ganzer Nationen, an welchen die Grausamkeit
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land verdeutlicht freilich, dass sich mit der Rührung auch Kontroversen verbinden: Insbesondere die Frage, ob und inwiefern der Erregung von Gefühlen und Empfindungen per se eine moralische Qualität beanspruchen kann? Ist die Erregung der Leidenschaft der Endzweck oder bloß ein Mittel der Kunst? Mit Dubos und in der Folge Nicolai scheint sich also eine „moralisch indifferente Behandlung der Empfindungen in der Dichtung“ formiert zu haben, wie schon Peter Michelsen nachdrücklich betonte.224 Mit der Rührung verbindet sich aber auch ein genuin innerästhetisches Problem, die Gattungsdifferenz von Komödie und Tragödie betreffend. Die Diskussion beginnt mit Pierre Mathieu Martin de Chassiron und dessen 1749 veröffentlichten Reflexions sur le Comique-larmoyant: Eine ebenfalls fundamentale Kritik, die sich ihrerseits auf den 1741 verfassten Lettre sur Mélanide des Franzosen F.-G. Merigot, also auf Nivelle de La Chaussées Komödie Mélanide bezog.225 Nach Ansicht Voltaires wurde das von Chassiron kritisierte Motiv der Comique-larmoyant sogar schon in der Tragödie des 17. Jahrhunderts entwickelt: „dans notre nation la tragédie a commencé par s’approprier le langage de la comédie“226, wie es im Vorwort von Voltaires Tragikomödie Nanine heißt. Auch in diesem Fall findet eine vergleichbare Diskussion in Deutschland statt, die mit Christian Fürchtegott Gellert 1751 entstandener Abhandlung über das rührende Lustspiel unter dem Titel Pro comoedia commovente einsetzt. Während demnach die Affekte des Mitleidens und Schreckens der Tragödie angehören; und das Lustige und Lächerliche für Komödie und Farce kennzeichnend sind, ist in mittlerer Stellung das Zärtliche und Mitleiderregende bzw. die tendresse zu verorten. Anders gesagt: Eine Komödie rührt dann, wenn sie „eine tugendhafte, gesetzte und außerordentliche Liebe vorstellet“.227 Daraus folgt die Frage: „Was ist aber nun zwischen der Liebe, welche die Tragödie anwendet, und derjenigen, welche die Komödie braucht, der Unterscheid?“228 Die Antwort liegt in der in der Tragödie vorhandenen Form des „heroischen“, der „lärmenden“ und der „verzweifelnden“ Liebe; dagegen steht in der Komödie „eine angenehm unruhige Liebe, welche zwar in verschiedene Hindernisse und Beschwerlichkeiten verwickelt wird, die sie entweder vermehren oder schwächen, die aber alle glücklich überstiegen werden.“229 Umgekehrt wiederum gilt, „daß nicht jede Liebe, besonders die zärtlichere, sich für [die Tragödie] schickt“230. Wie einflussreich diese Assoziation von Rührung und zärtlicher Liebe in der Folge ist, verdeutlicht etwa der Artikel über die Rührung aus Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste:
224 225 226 227 228 229 230
mehr Anteil gehabt zu haben scheinet; als die Menschlichkeit.“ Lessing, Mendelssohn, Nicolai: Briefwechsel über das Trauerspiel, a. a. O., S. 143. Peter Michelsen: Die Erregung des Mitleids durch die Tragödie, in: DVjs 40 (1966), S. 557. F. G. Merigot: Lettre sur Mélanide et sur le jugement qui en a été porté dans le temple de la critique par MM. Despréaux, de Fénelon, Racine, Molière et de La Mothe [Edition de 1741]. Œuvres complètes de Voltaire, Band 3: Notice sur Voltaire. Théatre, Paris 1859, S. 2. Zitiert nach: Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 4, München 1970 ff., S. 39. Ebd., S. 40. Ebd. Ebd.
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Rührend. (Schöne Künste) Eigentlich wird alles, was leidenschaftliche Empfindung erwekt, rührend genennt und in diesem allgemeinen Sinne wird das Wort in dem folgenden Artikel genommen; hier aber halten wir uns bey der besonderen Bedeutung desselben auf, nach welcher es blos von dem genommen wird, was sanft eindringende und stillere Leidenschaften, Zärtlichkeit, stille Traurigkeit, sanfte Freude u. d. gl. erweket. Denn in diesem Sinne wird es genommen, wenn man von Gedichten, von Auftritten, von Geschichten sagt, sie seyen rührend.231
Wir werden diese mit Dubos beginnende Poetik der Rührung bis hin zu jenem Punkt verfolgen, an welchem sie durch Gotthold Ephraim Lessing und dessen Mitleidsdramaturgie zunehmend radikalisiert wird. Lessings Therorie des Mitleidens soll also nicht wie in der Forschung sonst üblich aus der Tradition des britischen moral sense, sondern aus der französischen Diskussion einer Poetik der Rührung abgeleitet werden. Dass Lessing diese Diskussion nicht nur sehr genau kannte, sondern zur Grundlage der Mitleidspoetik machte, zeigt sein berühmter, den Briefwechsel über das Trauerspiel eröffnender Brief an Friedrich Nicolai vom 29. November 1756. In diesem werden „drey Grade des Mitleids“ unterschieden – „Rührung, Thränen, Beklemmung“ –, was Lessing wie folgt erläuternd: Rührung ist, wenn ich weder die Vollkommenheiten, noch das Unglück des Gegenstandes deutlich denke, sondern von beyden nur einen dunkeln Begriff habe; so rührt mich z. E. der Anblick jedes Bettlers. Thränen erweckt er nur dann in mir, wenn er mich mit seinen guten Eigenschaften so wohl, als mit seinen Unfällen bekannter macht, und zwar mit beyden zugleich, welches das wahre Kunststück ist, Thränen zu erregen.232
Lessing ist ein später Theoretiker der Rührung und der Zärtlichkeit, und schon diese graduelle Steigerung des Mitleidens lässt erahnen, dass es Lessing letztlich um eine Radikalisierung, ja Überwindung der Rührung ging. Eine Steigerung der zärtlichen Rührung ist im Brief an Nicolai schon im Begriff des „weinenden Mitleids“ angelegt, das eben dann entsteht, wenn sowohl die moralische Vollkommenheit als auch das Unglück eines tragischen Helden ersichtlich wird. Die Lessing wichtige Mischung aus Unglück und moralischer Vollkommenheit kann jedoch in ein weiteres Extrem führen, welchem dann jegliche rührende Qualität fehlt: Der dritte Grad des Mitleids, den Lessing im Begriff der Beklemmung angelegt sieht. Dieser in der Forschung zu Lessing bisher nur höchst selten theoretisierte Wirkungseffekt der Beklemmung entsteht in jenem Moment, wenn sich das Schicksal des moralisch vollkommenen Bettlers in seiner Tragik radikalisiert:
231 Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter aufeinanderfolgenden, Artikeln abgehandelt, Zweiter Theil, Leipzig 1775, S. 545f. 232 Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 4, München 1970 ff., S. 176.
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Er wird überall schimpflich abgewiesen; unterdessen nimmt sein Mangel zu, und mit ihm seine Verwirrung. Endlich geräth er in Wuth; er ermordet seine Frau, seine Kinder und sich. — Weinen Sie noch? — Hier erstickt der Schmerz die Thränen, aber nicht das Mitleid, wie es die Bewundrung thut.233
Lessings Tragödienwerk werden wir in dieser Studie erstmals als eine systematische Radikalisierung der Dubos’schen Poetik der Rührung diskutieren, insofern er diese in der Miss Sara Sampson in Richtung Mitleidspoetik, in seiner Emilia Galotti hingegen in Richtung einer Tragödie der Beklemmung weiterentwickelte. Lessings Bürgerliches Trauerspiel Emilia Galotti entfaltet eine Polarisierung von Aristokratie und Bürgertum, die im Dienste dieser bisher kaum bemerkten Dramaturgie der Beklemmung steht, und welche sich im Drama des Sturm und Drang zunehmend verfestigt. Mit dieser Vollendung des Bürgerlichen Trauerspiels beginnt jedoch – entgegen der einflussreichen These Sauders von der bürgerlichen Empfindsamkeit – das eigentliche Ende der Empfindsamkeit. Der schon von Lessing angedeutete Tugendrigorismus des Bürgertums verfestigt sich im Sturm-und-Drang-Drama der 1770er Jahre, wie allein Leopold Wagners Die Kindermörderin von 1776 verdeutlicht, in welchem die rigide Moral des Vaters die eigentliche Ursache für die aus einem Schuldkonflikt resultierende Mordtat der jungen Mutter Evchen Humbrecht darstellt. Mit dem ersten genuin Bürgerlichen Trauerspiel, mit Lessings Tragödie Emilia Galotti also, transformiert sich jedoch nicht nur die Dramaturgie der Rührung in jene Dramaturgie der Beklemmung. Zugleich transformieren sich die zärtliche Didaktik und deren wichtiges Element der Scham. Denn die reintegrative Idee der Beschämung, die in der britischen sentimental comedy, im aufgeklärten Fürstendrama Schlegels und Mösers, im Rührstück Gellerts oder in Lessings Frühwerk nachweisbar ist, gerät mit dem Drama des Sturm und Drang an ihr Ende. Lessing markiert insofern also auch das Ende der Zärtlichkeitsdidaktik, die schon im Drama Friedrich Schillers nurmehr als Zwang verstanden werden kann: „Daß die Zärtlichkeit noch barbarischer zwingt als Tyrannenwut“, so lautet der wahrlich beklemmende Kommentar der Luise Millerin.
233 Ebd.
ERSTER TEIL: DIE ENTSTEHUNG DES ZÄRTLICHEN THEATERS (1650–1740)
I.
DIE ZÄRTLICHKEIT DER GALANTEN:
Zur Genese der amitié tendre Wir haben den Ursprung der Zärtlichkeitsidee entgegen weitreichender Datierungen der germanistischen Forschung im Frankreich des 17. Jahrhunderts angesetzt: Sie geht zurück auf die Salonkultur der Madeleine de Scudéry, also auf die von Renate Baader so genannte „weibliche Aufklärung“ des 17. Jahrhunderts, welche sich in der Salonkultur in der Nachfolge der Catherine de Rambouillet entfaltete.1 Sie steht zudem in unmittelbarem Bezug zu jener von Norbert Elias am Beispiel des frühneuzeitlichen Schäferromans untersuchten „Soziogenese der aristokratischen Romantik“, die wiederum als äußerst komplexe Gegenbewegung zu einer zunehmenden „Verhofung“ des Adels im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts zu sehen sei. Nach Elias basierte diese am Beispiel von Honoré d’Urfés zwischen 1607 und 1627 entstandenem Schäferroman l’Astrée untersuchte aristokratische Romantik auf einem Widerstand gegen die „Verhofung des Kriegeradels“2, ein Widerstand, den Elias bekanntlich als Kompensation der höfischen Kultivierung des Selbstzwangs und der Affektkontrolle begriff. Dahinter stehen jedoch zugleich, wie Elias insbesondere in der Studie Die höfische Gesellschaft akribisch untersuchte, komplizierte Dynamiken und Machtbalancen, die sich aus dem historischen Prozess der Staatenbildung erklärten, der wiederum die Verhofung als zunehmende Entmachtung des alten Ritter- und Schwertadels durch eine aufsteigende, am Hof verbeamtete Aristokratie verstand. Diese Prozesse entwickelte Elias vor dem Hintergrund der politischen Herrscherstrategien des Absolutismus im siècle classique. Er deutete den Absolutismus also als Kulminationspunkt zweier antagonistischer Mechanismen, und zwar den Aufbau einer zentral-staatlichen Autorität einerseits, die zunehmende Marginalisierung des alten Schwertadels andererseits. Diese Entwicklung steuerte im 17. Jahrhundert auf eine Konfrontation zu, welche sich vor allem in der Fronde um 1650, also den Aufständen des hohen Adels und der städtischen Juristen ausdrückte. In dieser Situation sei Ludwig XIV. eine einmalige Ausbalancierung der verschiedenen Kräfte und Gruppen der Aristokratie gelungen, ein sogenannter „Königsmechanismus“. Ludwig machte den alten Schwertadel durch ruinöse Repräsentationsverpflichtungen finanziell von sich abhängig, und schob die eigentlich politische Macht systematisch den bürgerlich geborenen Mi1 Renate Baader: Die verlorene weibliche Aufklärung – Die französische Salonkultur des 17. Jahrhunderts und ihre Autorinnen, in: Hiltrud Gnüg (Hg.): Frauen Literatur Geschichte, Stuttgart u.a., 1999. S. 52–71. 2 Elias: Die höfische Gesellschaft, a. a. O., S. 320ff.
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DIE ENTSTEHUNG DES ZÄRTLICHEN THEATERS
nistern und Bürokraten zu. Aus dieser Gruppe entwickelte sich nach Elias jene noblesse de robe, also der aus dem Bürgertum hervorgegangene Amts- bzw. Justizadel, den Elias als eine „Zweifrontenschicht“ inmitten des Kräftefeldes aus altem Schwertadel und drittem Stand, also dem Bürgertum, ansiedelte.3 Die absolutistische Staatenbildung im Sinne jener schon im Prozess der Zivilisation untersuchten Verhofung ist also die Gegenfolie, vor deren Hintergrund sich dieser sehr komplexe Prozess der „Soziogenese der aristokratischen Romantik“ vollzogen hätte. Die in der Astrée entfalteten Liebesgeschichten sind also das „Ideal einer schon halb verhöflichten Mittelschicht der Aristokratie“; eine These, die Elias in zweierlei Hinsicht genauer ausdifferenziert. Zum einen sei dem „künstlichen Leben der höfischen Oberschicht“ durch diese aristokratische Mittelschicht „das 3 Der Ausdruck Noblesse de robe bezeichnet den französischen Amtsadel zur Zeit des Ancien Régime. Adelig kraft ihres Amtes, im Gegensatz zum Geburtsrechts- /Schwertadel (noblesse d’épée). Zu dieser sozialen Schicht zählten alle adeligen Angehörigen staatlicher Behörden, insbesondere im Finanz- und Rechtswesen. Da diese Adeligen oft eine universitäre Ausbildung besaßen, trugen sie auch darauf hinweisende Talare oder Roben, was ihrer Gruppe den Namen gab. Noch bis Ende des 17. Jahrhunderts waren die Angehörigen der noblesse de robe sehr oft von bürgerlicher Herkunft und hatten ihren neuen Stand durch den Erwerb von Ämtern im staatlichen Finanzund Rechtswesen erlangt. Mit der Ausweitung der staatlichen Finanz- und Rechtsverwaltung wurde eine umfangreiche funktionale Elite notwendig, die im Wesentlichen nur von Bürgerlichen gestellt werden konnte, da der französische Adel in der Regel über keine universitäre Qualifikation verfügte. Neben der Berücksichtigung des bürgerlichen Leistungs- und Bildungsethos, das sich hier an entscheidender Stelle durchsetzte, hatte die Förderung der noblesse de robe durch die Monarchie nach Ansicht von Elias politische Gründe und zielte auf die Festigung der absolutistischen Herrschaft. Nach Elias verdrängte vor allem Ludwig XIV. den alten Adel systematisch aus der geburtsrechtlichen Herrschaftsteilhabe und besetzte die meisten Ämter mit Männern, die in seiner Schuld standen und sein Vertrauen genossen. Während diesen aufgrund von Herkunft und Abhängigkeit klare Grenzen für ihre politischen Ambitionen gesetzt waren, wurde der alte Adel am Königshof (Versailles) konzentriert und in die Rolle von Hofmännern und Hofdamen zurückgewiesen. Der noblesse de robe konkurriert nach Elias also mit dem noblesse d’épée (Schwertadel), der sich aus Adeligen in militärischen Funktionen zusammensetzte und sich im Bewusstsein der oft bürgerlichen Ursprünge der noblesse de robe als Hort des alten Adels und der Tradition verstand. Gleichwohl gab es eine Durchlässigkeit zwischen den beiden Adelsgruppen, und Söhne aus Familien der noblesse de robe konnten durchaus militärisch Karriere machen, wie etwa Louis-Charles-Auguste Fouquet de Belle-Isle, der als Enkel des französischen Finanzministers Nicolas Fouquet selbst zum Marschall von Frankreich aufstieg. Zu einer differenzierteren Analyse dieser Prozesse, die teilweise als Revision der Thesen von Elias zu lesen ist, gelangt die jüngst erschienene Arbeit von Leonhard Horowski mit dem Titel: Die Belagerung des Thrones: Machtstrukturen und Karrieremechanismen am Hof von Frankreich 1661–1789. Diese erste systematische Untersuchung des gesamten höheren Hofpersonals von Versailles widerlegt die Idee einer Entmachtung des Adels durch den König. Nach Horowski resultierte die Machtposition des Hofadels nicht nur aus komplexen familiären Strategien, sondern schuf auch ein dauerhaftes dynastisches System ideologieloser Hofparteien, vgl.: von Leonhard Horowski: Die Belagerung des Thrones: Machtstrukturen und Karrieremechanismen am Hof von Frankreich 1661–1789, Ostfildern: Vorbecke 2012. Zudem basiere das Günstlingssystem unter Ludwigs XIV. auf einem sehr komplexen Verhältnis von Favoritenstatus und Amtsinhabe, welches als Günstlingssystem unter Ludwig XIV. nicht verschwand, sondern sich lediglich wandelte und dann in einer festen Form gerann, in der es praktisch bis zum Ende des Ancien Régime bewahrt werden sollte, vgl.: Ders.: Das Erbe des Favoriten. Minister, Mätressen und Günstlinge am Hof Ludwigs XIV., in: Jan Hirschbiegel und Werner Paravicini (Hg.): Der Fall des Günstlings. Hofparteien in Europa vom 13. bis zum 17. Jahrhundert (Residenzenforschung, 17), Ostfildern 2004, S. 77–125.
DIE ZÄRTLICHKEIT DER GALANTEN
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einfache und natürliche Leben der Schäfer gegenübergestellt“. Und zum anderen sei das „Schäferleben […] hier bereits das Symbol der Sehnsucht nach einer Art von Leben, die nicht verwirklichbar ist.“4 Es handelt sich also um ein utopisches Liebeskonzept, welches sich in einer „aristokratischen Mittelschicht“ der noblesse de robes entwickelt: Es ist dieses Liebesethos, das d’Urfé als Ethos der Schäfer und Schäferinnen, also einer mittleren Adelsschicht, die sich, obwohl sie selbst bereits auf dem Weg der Verhofung und in hohem Maße zivilisiert ist, gegen die Verhofung und die wachsenden Zivilisationszwänge wehrt, den freieren Liebessitten der herrschenden höfischen Aristokratie entgegenstellt.5
Wir werden im Anschluss an Elias auch die Genese der amitié tendre als eine Gegenbewegung verstehen, die sich gegen die „wachsenden Zivilisationszwänge“ am Versailler Hof etablierte, also eine arkadische Idyllenwelt aus Schäfer- und Eklogenmythos ins Frankreich des 17. Jahrhunderts projezierte, um so das Leben am Hofe mit einer empfindsam-romantischen Gegenwelt zu kontrastieren. Diese Prozesse „gesamtgesellschaftlicher Machtverlagerung“ mit ihren im Zeitalter des ancient regime zu beobachtenden „Kämpfen zwischen den Königen und dem FeudalAdel“, welche Elias mit Blick auf die Regentschaft Ludwigs XIV. und den Versailler Hof untersuchte, begleiten demnach auch die Genese der Zärtlichkeit, freilich in einem sehr komplizierten Sinne. Vereinfachend könnte man auch diese als eine Kompensation begreifen, entstanden während der zunehmenden Entmachtung des alten Schwertadels, dessen Einfluss im Zuge der antihabsburgischen Politik der Bourbonen und ihren Ministern Richelieu und Mazarin zunehmend verloren ging, bis er sich unter Ludwig XIV. in einen von der Gunst des Königs abhängigen Hofadel am glänzenden Hof von Versailles verwandelte. Andererseits jedoch artikuliert sich in dieser Idee der Zärtlichkeit eine Oppositionshaltung des französischen Amtsadels gegenüber dem alten, auf Werte des überkommenen Wehrstandes setzenden Schwertadel, auch und vor allem im Kontext des Spannungsgefüges, wie es am Versailler Hof vorherrschte: Wenn man von Adligen spricht, kann man diesen Begriff („Mittelschichten“) nur zögerlich gebrauchen. Man kann das Gemeinsame solcher Schichten am besten dadurch zum Ausdruck bringen, daß man von Zweifrontenschicht spricht. Sie sind einem gesellschaftlichen Druck von oben ausgesetzt, von Gruppen, die größere Macht, größere Herrschafts, Autoritäts- und Prestigechancen besitzen als sie selbst, und einem Druck von unten, von Gruppen, die ihnen zwar an Rang, Autorität und Prestige unterlegen sind, die aber als Machtfaktor im gesamten Interdepenzgeflecht der Gesellschaft nichtsdestoweniger eine erhebliche Rolle spielen. Sie selbst mögen wohl die Zwänge, denen sie sich ausgesetzt fühlen, in erster Linie als Zwänge erleben, denen sie auf Grund der größeren Machtchancen der sozial über ihnen Stehenden, der erstrangigen Schicht, ausgesetzt sind. Das ist, wie man sah, die Ausrichtung des ideologi-
4 Elias: Die höfische Gesellschaft, S. 384f. 5 Ebd., S. 382.
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schen Kampfes, den d’Urfé in seiner „Astrée“ gegen die herrschende Schicht des Hofes, gegen die höfisch-aristokratische Oberschicht führt.6
Wie außerordentlich erhellend und bedeutsam diese von Elias erarbeitete Konstellation einer die „aristokratische Romantik“ repräsentierenden „Zweifrontenschicht“ gerade für das Werk der Madeleine de Scudéry ist, zeigen deren enorme Sympathien für die sogenannten Frondeure, also die adligen Repräsentanten des französischen Parlaments wie etwa den „großen Condé“, die Duchesse de Longueville oder die Marquise de Rambouillet. Dieses Parlament setzte sich aus den Pairs, also dem seit dem 13. Jahrhundert politisch privilegierten Hochadel zusammen, deren Fronde sich in den späten 1640er Jahren gegen die Regentschaft Anna Maria Mauricia von Spaniens richtete, besser bekannt unter dem Namen Anna von Österreichs. Während die Madeleine de Scudéry an ihrem ersten großen Cyrus-Roman schrieb, protestierte das Parlament im Anschluss an den Krieg Frankreichs gegen die Spanier und Habsburger in der Fronde parlementaire (1648–1649) gegen die Kriegssteuererhebung der Regentin und für ein stärkeres Mitspracherecht, später folgte die fronde des princes (1650–1652), durch die die „Prinzen von Geblüt“ ebenfalls versuchten, ihren Einfluss auf die Regierung der Regentin zu verstärken. Madeleine de Scudéry, die als Tochter von Georges de Scudéry der urbanen Oberschicht aus Kleinadel, Amtsadel, Parlaments- und Stadtbourgeoisie zuzuordnen ist7, liefert also mit ihren Samstagsempfängen, den ‚Samedis‘, der Hocharistokratie nach der gescheiterten Fronde einen Ort des Rückzugs, aber auch der kontroversen Diskussion. Nach Stephanie Bung lassen sich daher die „Spannungen, die in den Texten rund um die Carte de Tendre thematisiert werden, […] als die Fiktionalisierung eines Diskurses betrachten, der insbesondere nach der Fronde das Leben der politischen Akteure am französischen Hof beherrschte.“8 Im Cyrus-Roman wird auf die Fronde als einer politischen Opposition der Aristokratie gegen die fremde und vergleichsweise schwache Regentin Anna von Österreich vor dem Hintergrund der Taten und der Liebe des persischen Königs Cyrus angespielt, in der Clélie wird darauf anhand der Geschichte von der Befreiung Roms durch den Helden Aronce, Sohn eines von Feinden entmachteten etruskischen Königs, Bezug genommen.9 Bezeichnenderweise entwickelte die Madeleine de Scudéry die Idee der amitié tendre erst gegen Ende dieser Fronde, also im Schlussteil ihres ersten heroisch-galanten Abenteuerromans Artamene, ou Le Grand Cyrus, der zwischen 1649 und 1653 entstand: In der letzten Binnenerzählung des zehnten Bandes entstand erstmals die neue Thematik von Freundschaft und Liebe, also jene Liebeskonzeption, die Renate Büff als ein „Modell gestufter Formen der Freund6 Ebd., S. 387f. 7 Renate Kroll: Femme poète. Madeleine de Scudéry und die ‚poésie précieuse‘, a.a.O., S. 152. 8 Stephanie Bung: Spiele und Ziele. Französische Salonkulturen des 17. Jahrhunderts zwischen Elitendistinktion und belles lettres, Tübingen 2013, S. 295. 9 Vgl. dazu auch das Kapitel: ‚The Fronde and Madeleine de Scudéry‘, in: Jacqueline Broad, Karen Green: A History of Women’s Political Thought in Europe, 1400–1700, Cambridge 2009, S. 180–198.
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schaft“ definierte.10 Allerdings scheint es angesichts neuerer historischer Forschung durchaus fragwürdig, wollte man die Idee der amitié tendre aus einem Bewusstsein des Scheiterns ableiten, also als Indiz der zunehmenden Resignation einer gesellschaftlichen Elite verstehen. Zwar versuchten in der fronde des princes zwischen 1650 und 1652 die „Prinzen von Geblüt“, Einfluss auf die Regierung der Regentin Anna von Österreich auszuüben. Von einer „Domestizierung“ bzw. „Entmachtung“ des Adels angesichts des Scheiterns dieses Versuches zu sprechen, scheint jedoch unangemessen. Denn auch nach der Fronde wurde der Hofadel weder domestiziert noch entmachtet, sondern blieb – dank der Monopolisierung der höchsten und wichtigsten Hofchargen – im nächsten Umkreis des Königs verankert, wie Leonhard Horowski nachdrücklich und überzeugend belegte.11 Daher sollte man die tendresse der Galanten nicht als Kompensationsversuch verstehen. Allenfalls ließe sich vielleicht von einer „Zivilisierung zerstörerischer Affekte“ sprechen, insofern die Galanterie ein „friedfertiges, harmonisches Miteinander prinzipiell Gleichberechtigter“12 bezeichnet, wie Ruth Florack und Rüdiger Singer im Anschluss an Alain Viala betonten, der diesen politischen Aspekt gerade angesichts der Fronde hervorhob.13 Aber weitaus entscheidender ist, dass das neue Ideal einer für den politischen Machterhalt des Amtsadels wichtigen Abgrenzungsbestrebung gegenüber dem einfachen Bürgertum dient. Eben darum werden wir die Idee der Zärtlichkeit als Liebes- und Freundschaftideal einer sozialen Welt verstehen, deren politische Lage mit dem von Elias geprägten Begriff der „Zweifrontenschicht“ relativ präzise beschrieben ist.14
Die tendresse als Kompensation der gescheiterten Fronde? Wie sehr der Cyrus-Roman auf die Fronde bezogen ist, zeigt dessen Status als Schlüsselroman, also ein Blick auf dessen Helden. Titelheld Cyrus trägt die Züge des großen Feldherrn Louis II. de Bourbon, dem sogenannten Prince de Condé, dem Anführer der adeligen Opposition gegen Kardinal Mazarin. Seine spätere Geliebte, die zunächst unerreichbare Königstochter Mandane, ist nach Einschätzung 10 Renate Büff: Ruelle und Realität. Presiöse Liebes- und Ehekonzeptionen und ihre Hintergründe, Heidelberg 1979, S. 151. 11 Horowski: Die Belagerung des Thrones, a.a.O., S. 32–53. 12 Ruth Florack, Rüdiger Singer: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Die Kunst der Galanterie: Facetten eines Verhaltensmodells in der Literatur der frühen Neuzeit, Berlin Boston 2012, S. 4. 13 Alain Viala: La France galante, a.a.O., S. 180–191. 14 „Was man im Falle der ‚Astrée‘ sieht, das Verlagen nach einem einfacheren Leben, ist das Verlangen einer gehobenen Schicht, die sich selbst als zweitrangig, als von einer höher rangierenden Schicht beherrscht, erkennt und sich zugleich betont und bewußt als gehobene und privilegierte Schicht von den niedriger rangierenden Schichten abhebt. Im Falle von bürgerlichen Schichten in dieser Lage spricht man gewöhnlich von ‚Mittelschichten‘. Wenn man von Adligen spricht, kann man diesen Begriff nur zögernd gebrauchen. Man kann das Gemeinsame solcher Schichten am besten dadurch zum Ausdruck bringen, daß man von Zweifrontenschichten spricht.“ Vgl.: Elias, höfische Gesellschaft, a. a. ., S. 387.
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von Alain Niderst der historischen Anne Geneviève de Bourbon-Condé, Tochter von Heinrich II. Prince de Condé und dessen Frau Charlotte-Marguerite de Montmorency nachempfunden, die durch ihre Heirat mit Henri II. d’Orléans-Longueville zur Herzogin von Longueville wurde und der der Cyrus-Roman sowie der Clélie-Roman gewidmet ist.15 Die Figur des Théodame aus dem Grand Cyrus ist dem französischen Literaten und Gründungsmitglied der Académie française, Valentin Conrart nachgebildet, die Figur des Crysile bezieht sich auf den französischen Sänger und Komponisten Pierre Guédron, die Cléomire stellt ein Portrait der großen französischen Salondame Catherine de Rambouillet dar, deren Nichte Julie d’Angennes, Tochter des Marquis de Rambouillet und der Catherine de Vivonne, wird im Roman in der Philonide portraitiert, die Figur der Zénocrite ist der französischen Aphoristikerin Anne-Marie Bigot de Cornuel nachempfunden, der Diplomat Pierre de Villars wird in der Figur des Orondate dargestellt, und schließlich habe sich die Madame de Scudéry in der im 10. Band von Le Grand Cyrus auftretenden Sapho selber ein Denkmal gesetzt.16 Im Unterschied zu den von Elias als Beispiel eines neuartigen Liebesideals diskutierten Schäferromanen d’Urfés ist die Welt der Scudéry-Romane also keineswegs eine utopisch-bukolische Gegenwelt. Vielmehr handelt es sich um ein historisch verschlüsseltes Portrait einer politisch sehr stark engagierten Generation, die sich größtenteils aus Vertretern des französischen Amtsadels zusammensetzt. Die Differenz zum Clélie-Roman besteht nun keinesfalls darin, dass hier ein kompensatorischer Rückzug ins Private oder eine Distanzierung von den heroischen Idealen des Grand Cyrus vorliegt, wie Renate Büff in ihrer Studie suggerierte, die die Zärtlichkeit als Indikator einer regelrechten Flucht der Preziösen ins Private als Reaktion auf die gescheiterte Fronde deutete.17 Eine solche Deutung verkennt die Gemeinsamkeit der beiden Romane, die als Schlüsselromane sowohl die Welt der Fronde als auch die Welt der samedis zugleich abbilden und in der Verschlüsselung verrätseln, wie Renate Baader betonte.18 Die Zärtlichkeit resultiert daher weniger aus einer Flucht ins Private, denn vielmehr aus einer noch genauer zu bestimmenden Spielkultur des grande siècle, deren Stellenwert für die Salons vor allem Stephanie Bung unterstrich.19 Daher tauchen bereits verschlüsselte Figuren des 15 Alain Niderst: Madeleine de Scudéry, Paul Pellisson et leur monde, Paris 1976, S. 527f. 16 Ebd. 17 „Die Preziösen haben mit der Gründung einer Gesellschaft in der Gesellschaft einen Fluchtversuch unternommen, ohne in ihrem selbstgeschaffenen Asyl tatsächliche Befreiung zu finden. Sie übertragen die Gesetze der Außenwelt auf die ruelle, wobei sie lediglich die Rollenverteilung umkehren. Der Rollentausch wird jedoch nicht konsequent durchgeführt. Die Frauen fühlen sich dem Mann letzlich immer noch unterlegen und sind von seinen Huldigungen und seiner freiwilligen Unterwerfung so abhängig, daß die Scheinüberlegenheit, die sie im Salon genießen, sie weitgehend für ihre faktische Inferiorität entschädigt.“ Vgl.: Büff: Ruelle und Realität, a.a.O., S. 136. 18 Renate Baader: Dames de Lettres. Autorinnen des preziösen, hocharistokratischen und „modernen“ Salons (1649 – 1698): Mlle de Scudéry – Mlle de Montpensier – Mme d’Aulnoy, Stuttgart 1986, S. 94. 19 Bung: Spiele und Ziele, a.a.O.
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Cyrus-Romans auch in der Clélie wieder auf: Die Figur des ‚galant homme‘ Herminius, also einem der beiden wichtigen Adressaten für das in der Carte de Tendre entfaltete Liebes- und Freundschaftsideal, ist als Portrait des Autoren Paul Pellisson zu lesen, der bereits in der Gestalt des ‚Acante‘ in Artamène, ou le grand Cyrus portraitiert wurde. Die Figur des Amilcar stellt den Autoren Jean François Sarrazin dar, die Protagonisten Scaurus und Lyriane sind Paul Scarron und seiner Frau, der Mme de Maintenon, nachempfunden, und in der Figur der Clélie hat sich Madeleine de Scudéry nach Einschätzung von Niderst erneut selbst verewigt. Zudem gehen erneut die Vertreter des Adels in diesen Roman ein: Louis d’Arpajon, ein bedeutender General unter Ludwig XIII, wird im Clélie-Roman im Prinz d’Agrigente portraitiert, Robert Arnauld d’Andilly, französischer Finanzberater am Hof der Medici, in der Figur Timante, Parthenie ist die Mme de Sablé, und auch die Marquise de Sévigné, eine Angehörige des französischen Hochadels, geht in der Figur der Prinzessin Clarinte ein in den Clélie-Roman.20 Während im Grand Cyrus also öffentliche Figuren aus dem Hôtel de Rambouillet in einer orientalisch drapierten Verschlüsselung dargestellt sind, stehen in der römisch eingekleideten Clélie die im ‚Salon‘ der Scudéry selbst verkehrenden Personen im Mittelpunkt. Die Differenz zwischen dem Cyrus- und dem Clélie-Roman besteht zudem weniger in einer privatistischen Lösung vom politischen Impuls, denn vielmehr in der vorsichtigen Distanzierung einer im Cyrus-Roman noch sehr dominanten väterlichen Fixierung auf die Konvenienzehe. Wenn sich die Protagonistinnen im Grand Cyrus gegen die Liebe entscheiden, „dann ist dieser Verzicht fast immer mit einer vernunftbetonten, freiwilligen Unterordnung unter den Willen des Vaters verbunden, der die gesellschaftliche Ordnung repräsentiert“21, wie Gerhard Penzkofer an mehreren Beispielen belegt: „Wenn der Vater es will, heiratet Telesile nicht den geliebten Thimocrate, sondern den verhaßten Menecrate.“22 Diese den Grande Cyrus dominierende Heiratspolitik lässt sich historisch mit Leonhard Horowski auch dadurch erklären, dass Angehörige des Justizadels durch Heirats- und Klientelverbindungen in den Schwertadel aufsteigen konnten, und sich dann zunehmend vom Justizadel abgrenzten, also auch fortan keine „justizadeligen Ämter“ mehr bekleideten.23 Allerdings werden erste Zweifel an diesem Diktum des Vaters nach Ansicht Penzkofers bereits „in der zweiten Hälfte von Artamène ou le Grand Cyrus“ formuliert, dann aber vor allem im Clélie-Roman, der nicht das „väterliche Gesetz“ bzw. „die liebesfeindliche ‚gloire‘, sondern das Glück der Frauen“24 in den Vordergrund rückt, wie Penzkofer in Anlehnung an Renate Baader bemerkt, die in ihrer Studie über die Dames de lettres eine ähnliche Verweigerung erotischer Bindungen in den Mittelpunkt rückte: 20 Alain Niderst: Clélie, du roman baroque au roman moderne, in: Actes de Baton Rouge, Hg. S. A. Zebouni, 1986, 311–319. 21 Gerhard Penzkofer: „L’ art du mensonge“. Erzählen als barocke Lügenkunst in den Romanen von Mademoiselle de Scudéry, Tübingen 1998, S. 198. 22 Ebd. 23 Horowski: Die Belagerung des Thrones, a.a.O., S. 54–74. 24 Penzkofer: „L’ art du mensonge“, a.a.O., S. 199.
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Von einigen Protagonistinnen ihrer Binnennovellen, vor allem von Sapho (Artamène ou le Grand Cyrus, Bd.10), lässt [Madeleine de Scudéry] die Gründe für einen Eheverzicht differenziert darlegen. Es ist die schon genannte Verbindung von Freundschaft, Kultur und Gespräch, in der weibliche Subjektwerdung bis ins Alter gesichert ist und die, als den Frauen bislang verschlossene, unentfremdete und selbstbestimmte Existenz, den verständlichen Reiz des Neulands hatte. Die gültige Norm weiblicher Schicklichkeit verlangte freilich den Verzicht auf die erotische Erfüllung. Dem liebenden Mann ist es aufgegeben, in asketischer Selbstbindung, sich in Heiratsverweigerung und ein ‚unbegehrliches Lieben‘ zu fügen und mit dem geheimen Triumph des ‚verborgenen Liebhabers‘ sich zu bescheiden, um dergestalt die auf der Frau lastenden Gebote und Beschränkungen mitzutragen.25
Mit dieser Einschätzung Renate Baaders wird ein wichtiger Aspekt unseres Thema deutlich: Die Frage nach der weiblichen Verweigerung männlicher Avancen, die im Cyrus-Roman noch vom Vater disktiert wurde, in der Clélie hingegen auch von den Protagonistinnen selbst artikuliert wird und als eine Art Ethik der Entsagung zweifellos auch der Carte de Tendre zugrunde liegt. Ein regelrechter Eheverzicht, wie er im obigen Zitat beschrieben ist, wird zwar im letzten Band des Cyrus-Romans vom alter ego der Madeleine de Scudéry, also der Sapho beschrieben. Aber klar ist auch, dass die amitié tendre zwischen Aronce und Clélie letztlich in der Ehe mündet. Sapho und Phaon, die beiden Liebenden aus dem 10. Band des Grande Cyrus, befolgen also noch nicht die in der Carte de tendre verzeichneten Regeln der amitié tendre. Ihre Beziehung stellt das Ideal der amour pure dar: eine dauerhafte Liebe, die mit der Zeit stärker wird, eine ausschließliche und reine Herzensbindung, in der die Partner völlig ineinander aufgehen: Ils se disoient toutes leurs pensées: ils les entendoient même sans se les dire: ils voyoient dans leurs yeux tous les mouvemens de leure coeures & ils y voyoient des sentimens si tendres, que plus ils se connoissoient, plus ils s’aimoient.26
Zugleich wird diese Liebe durch kleine Streitereien und Scheingefechte stets neu erprobt, der Friede zwischen beiden ist nicht so dauerhaft, daß er zur Gewöhnung und Abstumpfung führen könnte. Insofern liegt die Differenz auch darin, dass die Clélie zwar weitgehend dem von Artamène ou Le Grand Cyrus repräsentierten heroisch-galanten Erzählmodell folgt, dieses aber durch zahlreiche narrative Porträts einer ausführlich geschilderten Salongeselligkeit ergänzt, die sich in einer spielerischen Form der Konversation einer bunten Themenvielfalt widmet, in deren Zentrum die Liebe und deren verschiedensten Spielarten im Sinne einer Liebeskasiuistik stehen.27 Deutlich wird diese spielerische Art der Interaktion vor allem im Umgang der Sapho alias Scudéry mit Paul Pellisson, der ein Bindeglied zwischen Cyrus- und Clélie-Roman darstellt, zugleich aber als erster und eigentlicher Adres-
25 Baader: Dames de lettres, a.a.O., S. 54. 26 Cyrus 10.Teil 2.Buch, S. 854f. 27 Dass dies ein Erbe des höfischen Romans ist, zeigt die Arbeit von Ilse Nolting-Hauff, Die Stellung der Liebeskasuistik im höfischen Roman, Heidelberg 1959.
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sat der amitié tendre bzw. der Carte de Tendre gelten kann, wie schon Renate Büff betonte: Sapho hatte ihm [= Acante alias Paul Pellisson, B.M.S.] eine Frist von sechs Monaten auferlegt, nach Abschluß derer sie über seine Würdigkeit, ihr ‚tendre ami‘ zu werden, befinden wollte. Die Idee zur ‚Carte de Tendre‘ entsteht, als Sapho ihn als zu ihren ‚particuliers amis‘ gehörend bezeichnet. Acante erkundigt sich daraufhin, wie weit es von ‚Particulier‘ nach ‚Tendre‘ sei. Dieser Gedanke wird ausgesponnen und geht als allegorische Karte der Landschaft ‚Liebe‘ in die ‚Clélie‘ ein. (Auf der endgültigen Karte erscheint ‚Particulier‘ nicht.) Nach Ablauf der sechs Monate teilt Sapho Acante mit, er befinde sich nicht in ‚Tendre‘, sondern „un peu en deca de ‚Sincérité‘, und nie sei ein Liebender so nahe bei Tendre gewesen wie er.28
Nach Stephanie Bung habe diese Initiationsreise, die Pellisons alter ego Alcante auf dem allegorischen Spielfeld der Carte de Tendre unternimmt, vor allem die Aufgabe, „Sapho alias Madeleine de Scudéry mit den diskursiven Instrumenten traditioneller Liebesdiskurse davon zu überzeugen, dass er den Preis ihrer Freundschaft höher ansetzt als denjenigen des amour passion.“29 Aufgrund eben dieser Entstehungsgeschichte wäre es falsch, die tendresse mit dem von Niklas Luhmann entwickelten Begriff der amour passion gleichzusetzen, stellen diese beiden Kategorien doch einen Gegensatz dar.30 Der entscheidende Unterschied, auf den Maurice Daumas wie auch Renate Büff verwiesen, liegt in der Genese eines „sentiment feminin“31, angesichts dessen die „amour passion“ als eine „typisch männliche Eigenschaft“ angesehen werde, die zumindest mit Blick auf das französische siècle classique „für die Frau nicht akzeptabel ist, auch wenn sie gelegentlich nicht verhindern kann, dass diese Liebe von ihr Besitz ergreift.“32 Diese Tendenz sei neben dem Clélie-Roman der Scudéry noch weit deutlicher in des Abbé Michel de Pures La Précieuse ou le Mystère des Ruelles von 1656 nachweisbar. Insofern ist die „preziöse Revolte“, von der Büff in diesem Zusammenhang spricht, weniger eine Flucht oder Kompensation denn vielmehr eine genuin weibliche Revolte der neuen Frauen am Hof. Sie richtet sich gegen die eher männlich codierte Tendenz, zur Realisierung der amour passion gegenüber der Frau auch männliche Stärke im Sinne einer physischen Überlegenheit einzusetzen, deren genauere Beschreibung sich insbesondere in zahlreichen „preziösen Eheklagen“ zeige. Wir haben die tendresse also als weibliche Thematik von der eher männlich codier28 Büff: Ruelle und Realität, a.a.O., S. 167f. 29 Bung: Spiele und Ziele, a.a.O., S. 305. 30 Luhmann selbst verweist übrigens in Liebe als Passion auf bestimmte, für die Genese der passionierten Liebe relevante „Verhaltensmaximen […], die für das Verhalten der Angehörigen einer bestimmten Schicht allgemein vorgesehen sind. Dieser Hintergrund einer noch schichtspezifisch gebundenen Geselligkeit und einer dadurch vermittelten Sicherheit ermöglicht und trägt gleichwohl die Ausdifferenzierung von Liebesbeziehungen und damit das Bezugsgeschehen für die Ausdifferenzierung des Code. In der Astrée erscheint er als Muße. Aber auch später noch gelten Adel und vor allem Reichtum als nahezu unerläßliche Voraussetzungen für Liebe.“ Vgl.: Luhmann: Liebe als Passion, a.a.O., S. 66. 31 Daumas: Tendresse amoureuse, a.a.O., S. 151ff. 32 Büff: Ruelle und Realität, a.a.O., S. 140.
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ten amour passion zu unterscheiden, was auch und gerade die dem 1654 erschienenen ersten Band des Clélie-Romans beigefügte Carte de Tendre nahelegt, die die entscheidende Grundlage dieser neuartigen Gefühlskultur darstellt. Es handelt sich bei dieser Karte um eine allegorisierte Form der Liebesdidaktik, in der unterschiedliche Regionen als Stadien einer Freundschafts- bzw. Liebesbeziehung fungieren, die bis zu jener innigsten Stufung der ‚tendresse‘ reichen.33 Die Karte ist als Liebesmodell eingebunden in die Narration des gesamten Romans, der die Liebesgeschichte zwischen Clélie und Aronce schildert, die durch ein Erdbeben sowie eine anschließende Entführung der Clélie an ihrem Hochzeitstag voneinander getrennt werden und erst am Ende des mehrbändigen Romans wieder zueinander finden. Einer amour passion folgt demnach nicht Aronce in seiner Liebe zur Clélie, sondern vielmehr der gewaltsame Entführer Horace, der seinerseits „hartnäckig an dem Konzept des amour passion festhält und nicht bereit ist, zugunsten der amitié tendre auf seine Vorstellung der Liebe zu verzichten.“34 Aber noch ein zweites wesentliches Argument gegen die ‚männliche‘ amour passion ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen: Die Tatsache nämlich, dass diese Form der Leidenschaft in genau jenem Moment erlischt, in welchem der Mann sein Ziel erreicht, also von der Begehrten Besitz ergriffen hat. Die amitié tendre ist also weniger eine politische Kompensation, denn vielmehr ein didaktisches Modell, nach welchem sich die Liebe und zärtliche Freundschaft zwischen den Geschlechtern auf Dauer stellen lässt. Sobald die Frau die amour passion des Mannes akzeptiert, läuft sie Gefahr, die leidenschaftliche Liebe des Mannes genau in jenem Moment zu verlieren, in dem sie diese erwidert. Nur dann, wenn die amour passion des Mannes in ständiger Schwebe bleibt, lässt sich zwischen den Geschlechtern eine solche Liebe etablieren, und eben diese Schwebe gewährleistet die Idee der Zärtlichkeit. Sie schützt die adlige Dame des 17. Jahrhunderts vor Enttäuschungen und bindet den adligen Mann an die Einhaltung gewisser Regeln, die mit der Akzeptanz dieses neuartigen Liebesbegriffes verbunden sind.
Die Mode der galanten Rätselspiele als Ursprung der amitié tendre Die Genese der Zärtlichkeit datiert auf die Phase des Regierungsantritts Ludwigs XIV., der mit seinem dreizehnten Lebensjahr im Jahre 1651 die Regentschaft seiner Mutter Anna von Österreich übernahm, sie entsteht also in den Salons und Höfen des ‚grand siècle‘. Diese Entstehung einer Salonkultur des Absolutismus erklärt sich aus der Präsenzpflicht des Adels am Hof des Königs, welche die Aristokratie dazu veranlasste, ihre ländlichen Herrschaftsdomänen in der Provinz zu verlassen. So entstanden in Paris bis 1661 zahlreiche Adelspalais als schöngeistige Zirkel und Foren einer neuen Geselligkeitskultur, die sich dann im Austausch mit 33 Madeleine de Scudéry: Clélie. Histoire romaine 1, Paris 1654–60, S. 394ff.; vgl. hierzu: J. S. Munro: Mlle de Scudéry and the carte de tender, Durham 1966. 34 Bung: Spiele und Ziele, a.a.O., S. 285.
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bürgerlichen Lebensformen zum literarischen Salon oder zur sogenannten „ruelle“, einem Schlafgemach bzw. ‚Kämmerlein‘ entwickelten. Der wichtigste Salon dieser Art ist zweifellos das ‚Hôtel‘ der Catherine de Rambouillet, ein „Chambre bleue“, also ein mit blauer Seide ausgestattetes Zimmer, das von 1620 bis 1648, also bis zum Ausbruch der Fronde, ein wichtiges Forum der höheren Gesellschaft aus Politik, Literatur und Kunst darstellte. Von dem in diesem Salon kultivierten Leben sollen uns im Folgenden vor allem jene den Habitus dieser Gesellschaft eindrücklich dokumentierenden, geistreichen Konversationsspiele bzw. divertissemens interessieren, die den von Georg Philipp Harsdörffer seit 1641 mehrbändig edierten Frauenzimmer-Gesprächspielen vergleichbar sind. Deren Ursprünge liegen im ‚Hôtel‘ de Rambouillet, 1642 wurden die dort kultivierten „Jeux de conversation & d’esprit“ von dem Historiker Charles Sorel in dessen Maison des Jeux genauer beschrieben.35 Zu diesen Spielen zählte etwa das „Jeu du mariage“, bei welchem die Herren vortragen sollten, warum sie unter den Frauen die Schöne, Heitere und Reiche eher begehren denn die Häßliche, Melancholische oder Arme. Andere geistreiche Konversationen widmeten sich der spontan zu beantwortenden Frage, ob Lächeln, Tanz, Gesang und Gespräch, oder eher Traurigkeit oder Bescheidenheit, ob eifersüchtige Leidenschaft oder kindhafte Einfachheit, der Schlummer oder die Prunkkarosse das besonders Liebenswerte an einer Frau hervortreten lasse. Umgekehrt hatten die Damen nacheinander alle Gründe dafür anzuführen, die sie veranlassen könnten, einen Kaufmann, einen Financier oder Richter, einen Greis oder einen Jüngling zu heiraten bzw. zu verschmähen. Im Spiel mit dem Titel Jeu des Vertus et des Vices galt es, die nützlichsten Tugenden und verzeihlichsten Laster nennen, im Jeu des folies sollte eine närrische Neigung oder eine imaginäre Ablehnung benannt werden, im Jeu de la Solitude sollte man den Rückzug aus der Welt begründen. Dabei dominierte in diesen Spielen der bon sens, also der gesunde Menschenverstand, der mit Blick auf gesellschaftliche Verwertbarkeit die gefällige Plauderei und Leichtigkeit des Stils jenseits klassischer Regeln über das pedantische Fachwissen erhob. Wie wichtig diese Ausblendung der Pedanterie war, hat der Literaturkritiker Jean Chapelain 1638 in einem Bericht zum Hôtel de Rambouillet vermerkt: „On n’y parle point savamment, mais on y parle raisonnablement, et il n’y a lieu du monde où il y ait plus de bon sens et moins de pédanterie.“36 Ähnlich betonte der für seine mathematische Berechnung von Glücksspielen bekannte französische Edelmann Chevalier de Méré: „Ce qu’on appelle estre sçavant n’y sert que bien peu.“37 35 Der vollständige Titel lautet: „La maison des jeux: Ou se trouvent les divertissemens d’une compagnie, par des narrations agreables, & par des jeux d’esprit, & autres entretiens d’une honneste conversation.“ 36 Émile Magne: Voiture et l’Hôtel de Rambouillet: portraits et documents inedits, Band 2, Paris 1929, S. 89. Auf Deutsch: „Man spricht hier überhaupt nicht gelehrt, sondern mit Verstand, und nirgendwo sonst auf der Welt gibt es mehr bon sens und weniger Pedanterie.“ 37 Œuvres complètes du chevalier de Méré, Band 1, Paris 1930, S. 6. Auf Deutsch: „Was man als gelehrt zu sein bezeichnet, hilft hier nur sehr wenig.“
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Diese spontanen Spiele im Sinne einer kollektiven Improvisation rhetorischer Formen sind als Kleinkunst der Salons auch die Grundlage der Romane der Madeleine de Scudéry, die mit ihren regelmäßigen ‚samedis‘ etwa ab 1648 die Nachfolge der Catherine de Vivonne bzw. des Hôtel de Rambouillet antrat. Auch diese ‚samedis‘, also die wöchentlich im Palais Marais gegebenen ‚Samstagsempfänge‘ der Scudéry, pflegten den geselligen Umgang durch anspruchsvolle Konversation und abwechselnde Spielmoden, wobei die Damen und Schriftsteller eben unter anderem auch die Liebesgeographie im Sinne der ‚Carte de Tendre‘ spielerisch diskutierten. Deren Ausgangspunkt sind eben jene Konversationsspiele im Sinne einer von Renate Baader sogenannten „Mode der galanten Rätsel“, die sich etwa in der Technik der indirekten und anspielungsreichen Beschreibung von Personen, Vorgängen oder psychologischen Zuständen zeigt, wie sie in den Schlüsselromanen der Scudéry umgesetzt ist: In den bereits genannten Protagonisten des Grand Cyrus wird auf Persönlichkeiten aus dem Hôtel de Rambouillet angespielt, dessen politisches Leitbild nach dem Tode Richelieus der Große Condé darstellt, in den Figuren der Clélie hingegen sind teilnehmende Persönlichkeiten der ‚samedis‘ portraitiert und verewigt. Stephanie Bung hat die Logik dieser Spiele und Rätsel insbesondere am Beispiel der 2002 von Alain Niderst, Delphine Denis und Myriam Maitre edierten Chroniques du Samedi herausgearbeitet, einer umfangreichen Sammlung von Briefen, die im Kreis der Madeleine de Scudéry verfasst wurden. Besonders aufschlussreich für unsere Thematik sind dabei jene Briefe, die zwischen Paul Pellisson und Madeleine de Scudéry ausgetauscht wurden und den Beginn ihrer platonischen Freundschaft dokumentieren. Diese Briefe erzählen nach Ansicht Stephanie Bungs die Geschichte einer regelrechten Initiation. Pellisson, dessen Begegnung mit Madeleine de Scudéry den Auftakt der Briefe darstellt, wird also zu einem bestimmten Zeitpunkt der Korrespondenz eine Bewährungsfrist von sechs Monaten auferlegt, während derer er sich der amitié tendre seiner Briefpartnerin als würdig erweisen solle. Im Laufe dieser Zeit, die den narrativen bzw. chronologischen Rahmen vorgibt, in dem auch alle anderen Briefe entstanden sind, dominiert nach Bung das Bild einer Initiationsreise, weshalb Pellisson schließlich um eine Karte bittet, die ihm den Weg nach Tendre weisen solle.38 Dabei agiert Pellison unter dem Pseudonym Acantes, wie umgekehrt die Madeleine de Scudéry den Namen Sapho trägt: Jene verschlüsselte Identität, welche im zehnten Band des Grand Cyrus wiederkehrt. Es geht ihm also im Briefwechsel darum, den Weg nach Tendre und damit zu Saphos Herzen zu finden. Madeleine de Scudéry alias Sapho verspricht nun Pellison alias Acantes, ihm diesen Weg in Form einer Landkarte zu zeichnen: Eine Anmerkung in der Handschrift weise nach Bung darauf hin, dass an dieser Stelle die Carte de Tendre, wie sie dann im ersten Band der Clélie veröffentlicht wurde, eingefügt werden sollte. So führt Acantes unablässiges Werben schließlich zur Entstehung der Carte de Tendre, die ihrerseits weitere Briefe bzw. Texte entstehen lässt, 38 Vgl.: Bung: Spiele und Ziele, a.a.O., S. 304f.
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in denen der Versuch diverser Figuren der Chroniques du Samedi geschildert wird, Aufnahme in Tendre zu finden. Freilich ist die in den Briefen diskutierte Zärtlichkeit eine etwas andere denn die des Clélie-Romans, was mit der Tatsache zu tun hat, dass Paul Pellisson alias Alcante in der Chroniques zudem einer gewissen „belle Alphise“39 den Hof macht, also verliebt ist: Damit jedoch bringt er sich im Briefwechsel um die Möglichkeit, zugleich der „tendre ami“ der Sapho zu sein. Im Briefwechsel findet also eine Einschränkung statt: „vous pouvez avoir de l’amour sans être coupable; mais vous ne pouvez en avoir sans être un peu moins bien avec moi. Vous avez sans doute autant de part à mon estime, que si vous n’étiez point amoureux, et peut-être même un peu plus; mais vous en aurez beaucoup moins en mon affection.“40 Im Brief kann die Sapho einem anderweitig Verliebten demnach nur ihre „estime“, ihre Wertschätzung entgegenbringen. Der estime-Begriff zeigt damit im Briefwechsel eine andere Bedeutungsnuance als im Roman, wo ‚estime‘ eine Vorstufe der ‚affection‘ darstellt. In Saphos Brief markieren estime und affection einen Widerspruch41, wenn ein bereits verliebter Mann sich um die amiti tendre einer anderen Dame bemüht. Bei Scudéry seien die ‚actions heroiques‘ des ‚amant‘ von der Liebe abhängig, aber natürlich auch von der ‚politesse‘, der ‚galanterie‘, der ‚plaisir‘ und jener ‚je ne sais quoi‘, der den ‚commerce‘ der ‚honnetes gens‘ angenehm gestaltet. Umgekehrt gilt aber auch, dass die durch höfische Liebe erworbenen Qualitäten – Gehorsam, Selbstverzicht, Liebesdienst – die Dame zur Belohnung verpflichten. Das zeigt Scudérys Carte de tendre, die den Liebenden nicht nur über tendre sur inclination, sondern auch über tendre sur estime und tendre sur reconnaissance ans Ziel seiner Wünsche führt. Dennoch aber ist der Zärtlichkeit ein Prinzip der Entsagung eingeschrieben: Sie bleibt eine unerfüllbare Leidenschaft, die den Liebenden der überlegenen Dame annähert, wodurch die Liebe als Quell aller Tugenden zum Ursprung einer elitären höfischen Vollkommenheit wird. Es gibt daher in der Forschung die deutliche Tendenz, den Zärtlichkeitsbegriff auf eine platonische Tradition im Sinne der höfischen Liebestopoi zurückzuführen, die liebenden Helden der Chroniques bzw. der Romane der Scudéry also mit Figuren aus Honoré d’Urfés Schäferroman Astrée zu identifizieren. Der Begriff der Zärtlichkeit sei dem39 Chroniques du samedi: suivies de pièces diverses (1653–1654), hg. V. Alain Niderst, Delphine Denis, and Myriam Maitre, Paris 2002, S. 77. 40 Ebd., S. 77. 41 Renate Büff bemerkt dazu: „Im Roman macht die Scudéry jedes tiefere Gefühl vom estime abhängig. In der verspielten Scheinrealität der ‚Samedis‘, die für Sapho zunehmend die Wirklichkeit darstellt, bzw. die mit dem bürgerlichen Leben der freien Schriftstellerin Scudéry eine so enge Verbindung eingeht, daß jede Trennung und Abgrenzung nur willkürlich vorgenommen werden könnte, ist der Vorgang komplizierter. Zwar macht hier wie im Roman erst die Verliebtheit den Mann gesellschaftlich vollgültig, aber der unerhörte Fall, daß ein verliebter Mann sich um die ‚amiti tendre‘ einer anderen bemüht, kommt im Roman nicht vor, ist daher theoretisch nicht ohne weiteres zu klären. Sapho entscheidet, daß sie zwar ihren estime uneingeschränkt aussprechen könne, nicht aber ihre ‚affection‘. Saphos uneingestandene Eifersucht auf ‚Alphise‘ ist stärker als die Theorie zulässt.“, vgl. Büff: Ruelle und realität, a.a.O., S. 167.
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nach einer höfischen Affektordnung verpflichtet, die sich vor Scudéry schon in d’Urfés Astrée verwirkliche, aber letztlich in die neuplatonische Liebesphilosophie, die petrarkistische Lyrik und den höfischen Ritterroman zurückreiche, wie insbesondere Gerhard Penzkofer nachdrücklich betonte.42 Es handle sich also um eine der platonischen Motivierung der Liebessprache im Sinne Ficinos und der Astrée verpflichtete Lehre, die den Gedanken der estime und der amitié tendre vermengt. Wir werden diese Deutung im Folgenden genauer prüfen, dazu aber zunächst den narrativen Kontext der Carte de Tendre skizzieren.
Der narrative Kontext der Zärtlichkeit: Das erste Buch der Clélie von 1654 Der von 1654 bis 1660 erschienene Roman umfasst zehn Bände und erzählt die Liebes- und Trennungsgeschichte von Aronce und Clélie. Dabei ist die Idee der Zärtlichkeit schon im letzten, also 10. Band des Artamène ou le Grand Cyrus in den Gesprächen zwischen Sapho und Phaon umgesetzt, sie wird jedoch im ersten Buch des Clélie-Romans systematisiert. Dieses erste Buch erzählt die Liebesgeschichte zwischen Aronce und Clélie, die im Grunde Stiefgeschwister sind, denn Aronce, der Sohn des von Feinden entmachteten etruskischen Königs Porsenna, wächst als unbekanntes Findelkind bei Clélius, einem vor Tarquinius Superbus nach Karthago geflohenen Römer, und dessen Frau Sulpicie auf, und verliebt sich in deren Tochter Clélie. Clélius favorisiert jedoch Horace, einen Feind des Tarquinius, und willigt in die Hochzeit erst ein, als Aronce seine wahre Identität entdeckt und dem Stiefvater mehrfach das Leben rettet. Die Hochzeit wird von einem schrecklichen Erdbeben unterbrochen, das Horace dazu nutzt, Clélie vom Traualtar weg zu entführen – ohne Glück, denn er verliert seine Geliebte an einen Häscher des Tarquinius, der sie, selbst von Liebe entbrannt, als Geisel gefangen hält. Die Geschichte spielt im Jahre 509 vor Christus in der Landschaft von Capua, sie beginnt mit dem Tag vor der Hochzeit von Clélie und Aronce, und setzt ein mit einer Reflexion über die Verzögerung dieser Ehe, bedingt durch Hochwasserschwemmen, die ein Sturm in einem anliegenden Flußlauf ausgelöst hat. Während Clélies Vater Clélius dennoch fest entschlossen die Hochzeit in den schönen Ruinen durchführen will, ist Bräutigam Aronce von großer Sorge erfasst, da sein Rivale Horace bei der Hochzeit erscheint. Auch Clélie ist durch die Anwesenheit des Horace verängstigt und bittet daher ihren Vater, einen Kampf zwischen den beiden Kontrahenten zu verhindern. In diesem Moment verursacht ein Erdbeben die Trennung der zukünftigen Eheleute, bei welchem Aronce nur knapp dem Tod entgeht und sofort das Leben seiner Braut Clélie zu retten versucht. Als er deren Eltern in einem durch das Erdbeben entstandenen Grab inmitten der verwüsteten und von Asche überzogenen Landschaft wiederfindet, erklärt ihm Clélies Mutter Sulpi42 Gerhard Penzkofer: „L’ art du mensonge“, a.a.O., S. 160f.
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cie jedoch, dass sie Horace mit ihrer Tochter verschwinden sah, woraufhin Aronce sofort mit der zunächst erfolglosen Suche beginnt, entschlossen und bereit, der Geliebten auch in den möglichen Tod zu folgen. Zunächst erfährt Aronce von Stenius, einem Freund von Horace, dass dieser noch am Leben und im Besitz von Clélie ist. Gemeinsam mit seinem Freund Célère verlässt Aronce Capua, und entdeckt an den Ufern des Lago Trasimeno die entführte Braut in einem Boot des Horace, der mit sechs weiteren bewaffneten Männern gegen ein Boot des Prinzen von Numidien, einem Freund des Aronce, kämpft, der dem Horace zu entkommen versucht. Aus der Ferne kann Aronce nicht in den Kampf eingreifen, er wird jedoch später darum gebeten, beim Prinzen von Perugia, Mezentius, für die Ermordung des Verräters Horace um Hilfe zu bitten. Zu diesem Zweck wird er von Sicannus, einem Freund des Célère, auf die ‚Insel der Weiden‘ (Îles des Saules) gebracht. Dort erfährt er, dass auch der Prinz von Numidien ein Rivale in Sachen Clélie ist, und hört einiges bezüglich der politischen Situation in Etrurien, einer antiken Landschaft in Mittelitalien, die das Kerngebiet der Etrusker darstellte. Dort hält Mezentius seine Tochter Galérite und den König Porsena gefangen, den dessen Anhänger befreien wollen, und der sich später als Vater des Aronce entpuppen wird. Zudem beginnt Aronce eine Freundschaft mit der leontinischen Prinzessin Lysimène, die natürlich begierig ist, mehr vom Leben des Aronce, aber auch von der Geschichte der Liebe zwischen Aronce und Clélie zu erfahren. Vor diesem Hintergrund beginnt nun die rückblickende Erzählung des Célère, der auf Wunsch der Lysimène die Geschichte von Aronce und Clélie erzählt. Dabei war Célère ebenso wie Aronce, Horace und Herminius Teil einer Gruppe von jungen Männern, die sich um die schöne und geistreiche Clélie gruppierten. Aus der von Célère erzählten Geschichte geht auch hervor, dass König Porsenna der Vater von Aronce ist, zudem erfahren wir, dass der König Porsenna einst die Tochter des Mezentius namens Galérite heiratete, und später zur politischen Geisel seines Schwiegervaters wurde. Dies erklärt wiederum die Flucht des Aronce, der als gemeinsames Kind von Porsenna und Galérite nach Syrakus segelte, um so dem Gericht des Mezentius zu entkommen. Als sein Schiff unterging, wurde Aronce von Clélius und Sulpicie aufgenommen, die ihren leiblichen Sohn während eines Sturms verloren hatten, Aronce nun nach ihrem verlorenen Sohn benannten und mit nach Karthago nahmen. Vier Jahre später bekamen sie Clélie, zugleich befreundet sich Aronce mit dem jungen Prinzen von Karthago und dem jungen Prinzen von Numidien, weshalb er sich zunehmend von der jungen Clélie entfernt. Schließlich fahren sie zu dritt, begleitet von Hamilkar, einem Freund des Prinzen von Karthago, nach Griechenland und weiter nach Rom, wo der Tyrann Tarquin herrscht, vor dem wiederum Horace floh, der so mit den drei Freunden bekannt wurde, und die drei auf deren Rückreise begleitete. Während der vier Jahre andauernden Rückreise ist Clélie inzwischen eine wunderschöne Frau und Favoritin des Maharbal geworden, der damals die größte Autorität in Karthago genoss. Allerdings zögert ihr in Sachen Heiratspolitik wie gesagt sehr strategisch denkender Vater Clélius, seine Tochter mit dem Maharbal zu verheiraten, da auch der Prinz von Numidien sich in Clélie verliebt hat. Hintergrund
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dieser Überlegungen ist das Fest des Tyrus, an welchem man den Phöniziern einen Teil des eigenen Vermögens und die eigenen Töchter vermacht, um das Bündnis zwischen den beiden Völkern zu feiern. Während dieses Festes treffen nun die heimgekehrten Aronce, Hamilcar und Horace auf Clélie, wobei sich Aronce und Clélie sofort wiedererkennen, auf Anhieb sehr mögen und daher beschließen, sich Bruder und Schwester zu nennen. Clélius wiederum sieht Aronce als seinen Sohn, weshalb er entsprechend in Horace einen Verbündeten sieht, wenngleich Aronce und Horace schon auf dem besten Wege zur Rivalität sind, da beide sich natürlich in Clélie verliebt haben. Sie sind indes nicht die einzigen, denn auch der Prinz von Numidien, der mit Aronce und Horace zum engeren Kreis um Clélie zählt, erklärt dieser seine Liebe. Allerdings lehnt Clélie den Prinzen ab und muss nun gleich zwei enttäuschte Liebhaber, also sowohl den Prinz von Numidien als auch den zornigen Maharbal fürchten. Aronce seinereits verzichtete darauf, Clélie seine Liebe zu gestehen, aus Respekt vor Clélius und Sulpicie, während Horace, der natürlich auch in Clélie verliebt ist, Aronce von seiner Liebe nichts erzählte. Aber die beiden Rivalen sind immer noch Freunde, ja sie erklären sich gar ihre verschiedenen Ansichten über die Liebe: Aronce glaubt an die langsam aufkeimende Liebe der Freundschaft, während Horace an Liebe auf den ersten Blick schwört. Zugleich gesteht Aronce seinem Freund Célère seine durchaus verzweifelte Liebe zu Clélie und beschließt, sein Liebesgefühl zu unterdrücken, was allerdings verfrüht erscheint, den Clélie verweigert sich dem Horace, dem Maharbal und dem Prinz von Numidien, und orientiert sich mehr in Richtung Aronce. Erst nachdem Clélie, Aronce und Horace sowie die Eltern Clelius und Sulpicie vor dem wütenden Maharbal nach Syrakus und schließlich in die vom Onkel Célères regierte Stadt Capua fliehen, scheint sich die Lage aufzuklären. Denn nun erklären sowohl Aronce als auch Horace in einem Brief der Clélie ihre Liebe, ohne freilich dabei in Hassgefühl zu verfallen. Diese ménage à trois verschärft sich indes, als eines Tages Herminius, ein vor den Tarquinern geflohener berühmter Römer und Freund des Horace, nach Capua kommt und sich während eines Treffens mit Sulpicie und Clélie ebenfalls in diese verliebt, wenngleich er mit seinem Herzen weiterhin der Stadt Rom verbunden bleibt. Er bitte nun jedoch die Clélie darum, ihm zu zeigen, auf welche Weise er ihre Freundschaft erlangen könne, woraufhin Clélie in einer größeren Runde, zu welcher neben Herminius auch Aronce, Horace, Célères Freund Fenice sowie Célère selbst zählen, ihre Vorstellung von der Liebe und Freundschaft erläutert, Bezug nehmend auf die Karte der Zärtlichkeit. Diese Karte sendete Clélie dem Herminius, und diese Karte zeigt dann Célère der Lysimène. Die drei auf der Karte verzeichneten Städte namens Tendre-sur-Inclination, Tendre-sur-Estime und Tendre-sur-Reconnaissance beziehen sich also nun auf die drei Bewerber Aronce, Herminius und Horace, und zeigen diesen, wie sie auf ihre je spezifische Weise die zärtliche Freundschaft der Clélie erreichen können. Aronce etwa gilt der kürzeste Weg namens Tendre-sur-Inclination, weshalb er im Rennen um Clélie dem Horace voraus ist. Vor diesem Hintergrund erklärt sich nun auch die Feindschaft zwischen Horace und Aronce, die sich sogleich duellieren, woraufhin Clélius, um ein tragisches Ende
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zu verhindern, auf der Seite des Horace mitkämpft. In diesem Moment wird Aronce, unterstützt durch Herminius, der den Clélius vor den Mördern des Tarquinus rettete, als Sohn des Porsena identifiziert, nachdem ihn zwei der Diener des Königs und der Galérite wiedererkennen. So erhält die Beziehung zwischen den beiden auch für Vater Clelius, dem Vertreter strategischer Konvenienzehen, eine neue Perspektive, denn er gibt sein Einvernehmen. Die Hochzeit der beiden wird am Vorabend der Abreise von Aronce nach Perugia angekündigt, wo Aronce sich mit seinem Vater treffen soll, woraufhin die Geschichte der Célère an die Prinzessin von Leontin endet. In den folgenden Büchern verbinden sich dann Aronces Anstrengungen zur Rettung Clélies mit dem von Livius in Ab urbe condita geschilderten Befreiungskampf Roms gegen die Tyrannei: der Sturz der Tarquinier nach der Ermordung Lucretias, die Wahl von Brutus und Publicola zu römischen Senatoren, die Aufdeckung der tarquinischen Verschwörung, die Heldentaten von Horatius Cocles und Mucius Scaevola, die heroische Tiberdurchquerung Clélies (Cloelias) u.a. sind historische Vorgaben, die Scudéry geschickt mit der Befreiung Clélies verknüpft. Aronce nützt die Vertreibung der Tarquinier wenig, weil der mit Tarquinius verbündete Porsenna seine Macht zurückgewinnt, den Sohn in das Lager von Clélius’ Feinden zwingt und gar sein Leben bedroht, als ein von Tarquinius ausgestreutes Gerücht Aronce eines geplanten Anschlags auf den Vater bezichtigt. Der Konflikt wird erst durch eine politische Wende Porsennas gelöst, der sich, nach erwiesener Unschuld seines Sohnes, gegen Tarquinius stellt und damit nicht nur die Existenz Roms sichert, sondern auch die Liebe zwischen Aronce und Clélie ermöglicht.
Platonisch oder aristotelisch? Zum philosophischen Grundgedanken der Carte de Tendre Zu jenem Zeitpunkt, an dem die rückblickende Erzählung Célères einsetzt, weiß Clélie noch nicht, dass sie Aronce einmal heiraten wird. Auf das Werben ihrer drei genannten Verehrer um ihre Person antwortet sie, indem sie diesen Verehrern eine ganz besondere Freundschaft, eben die amitié tendre, in Aussicht stellt. Auf die Bitte des Herminius, ihr den Weg zu diesem Ort in ihrem Herzen zu beschreiben, fertigt sie also eine allegorische Landkarte an. Diese wird zusammen mit dem Roman veröffentlicht und gibt auf der Ebene der Rahmenhandlung dem Erzähler Célère die Gelegenheit, die nunmehr verräumlichte Liebeskonzeption, die zuvor im Gespräch zwischen Clélie und ihren Verehrern verhandelt wurde, erneut zu erläutern. Dabei ist davon auszugehen, dass die Scudéry die Idee einer Karte mit Dörfern und Flüssen von dem lateinischen Werk Mundus alter et idem adoptierte, welches im 17. Jahrhundert von dem englischen Bischof und Satiriker Joseph Hall geschrieben wurde.43 Georges Mongrédien verwies zudem auf die 1650 in den Poésies des französischen Kolonialisten Pierre Le Moyne zu findende ‚Isle de Purété‘ 43 Joseph Hall: Mundus alter et idem sive Terra Australis antehac semper incognita, London, um 1605.
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als möglicher Vorlage der Carte de Tendre.44 Wie immer dem sei: Die Carte de Tendre illustriert ein imaginären Land, welches sich ‚Tendre‘, also Zärtlichkeit nennt. Dieses Land ähnelt in seiner äußeren Form ein wenig der Form Frankreichs, es verzeichnet verschiedene Dörfer und Wege, die die Etappen einer Liebe darstellen, also jene Schritte, die die drei Verehrer der Clélie zurückzulegen hätten, um deren Herz erobern zu können. ‚Tendre‘ ist einerseits der Name des Landes, andererseits aber auch der Name der drei Hauptstädte des Landes: „Tendre-sur-Inclination“, „Tendre-sur-Estime“, und „Tendre-sur Reconnaissance“. Man kann die Zärtlichkeit der Clélie also erstens über („sur“) die Zuneigung, zweitens über die Wertschätzung, und drittens über die Dankbarkeit bzw. Anerkennung erreichen. Zugleich markieren diese Hauptstätte die drei verschiedenen Arten der ‚Tendresse‘, also eben die ‚tendresse d’inclination‘, die ‚tendresse d’estime‘ und die ‚tendresse de reconnaissance‘: Zärtlichkeit zeigt sich also in allen drei Formen, in der Zuneigung, der Wertschätzung und der Dankbarkeit. An diesen drei verschiedenen Ausprägungen der Zärtlichkeit können die Verehrer sich orientieren, um auf den vorgeschriebenen Stufen ihr Ziel, die amitié tendre der Clélie zu erreichen. Die diesbezüglich zurückzulegende Distanz ist auf der Karte zudem in sogenannten „Lieus d’Amitié“, also in Freundschaftsmeilen angezeigt: Je näher einer der Verehrer der Zärtlichkeit ist, desto niedriger ist die Summe seiner noch zurückzulegenden Meilen. Der direkteste und schnellste Weg führt über den Fluss „Inclination“, der in der Mitte der Karte ohne Zwischenstopp von „Nouvelle Amitié“ nach „Tendre-sur-Inclination“ führt: Cependant, comme elle a présumé que la tendresse qui naît par inclination n’a besoin de rien autre chose pour être ce qu’elle est, Clélie, comme vous le voyez, Madame, n’a mis nul village le long des bords de cette rivière, qui va si vite qu’on n’a que faire de logement le long de ses rives, pour aller de Nouvelle Amitié à Tendre.45
Auf dem Weg über die Zuneigung müssen also keine weiteren Zwischenstationen eingebaut werden, denn die Zuneigung der Geliebten bekommt man entweder geschenkt oder erlangt sie nie, ohne dass man dies beeinflussen könnte. Der Weg nach „Tendre-sur-Estime“ ist dagegen weitaus länger und aufwendiger für den Reisenden. Als erstes, von „Nouvelle-Amitié“ ausgehend, erreicht man „Grand-Esprit“, da es normalerweise ein schöner Geist ist, durch den man einen Menschen überhaupt schätzen lernt. Dann folgen die Orte „Jolis Vers“, „Billets-Galants“ und „Billets Doux“, also Gedichte, Liebesbriefe bzw. ‚süße Zettel‘ als unauffällige Liebeserklärung, und schließlich verschiedene Städte, die Kriterien wie Aufrichtigkeit, Großherzigkeit, Integrität, Großzügigkeit, Respekt, Freundlichkeit und Genauig-
44 „A propos de la Carte de Tendre et de la vogue de la géographie galante au XVII. siècle, nous croyons utile de donner une bibliographie spéciale: Pierre Le Moyne. L’isle de Pureté dans ses Poésies. Paris, 1650, p. 382.“ Zitiert nach: Georges Mongrédien: Madeleine de Scudéry et son salon: d’après des documents inédits, Paris 1946, S. 221. 45 Scudéry: Clélie, a.a.O., S. 400f.
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keit symbolisieren, die einer Wertschätzung („estime“) zu Grunde liegen.46 Eine über die Dörfer Dankbarkeit bzw. Anerkennung verlaufende zärtliche Freundschaft hat hingegen andere Stationen, die von der Selbstzufriedenheit, Unterwerfung, Anwesenheit, Bereitwilligkeit, Sensibilität und Zärtlichkeit über Gehorsam hin zur konstanten Freundschaft führen.47 Gerhard Penzkofer hat unter Bezugnahme auf Niklas Luhmann die hier entfaltete Liebesidee als eine Lösung der an sich paradoxen amour courtois interpretiert. Nach Penzkofer lag der höfischen Liebe vom Mittelalter bis ins 17. Jahrhundert eine paradoxe Prämisse zugrunde, dergemäß in der höfischen Liebe die affektive Erfüllung und Begrenzung der Leidenschaft unabdingbar aneinander gebunden seien. Dieses Paradox sah schon Luhmann, wenn er etwa „Erobernde Selbstunterwerfung, gewünschtes Leiden, sehende Blindheit, bevorzugte Krankheit, bevorzugtes Gefängnis, süßes Martyrium“48 zu jenen Bildern zählt, die bis ins 17. Jahrhundert die doppelte Orientierung der höfischen Liebe zwischen Leidenschaft und Leidenschaftsbeherrschung beschrieben hätten. Paradox sei also die Gleichzeitigkeit von gesellschaftlicher Triebkontrolle und wachsendem affektivem Bedürfnis des Individuums: Eben diese paradoxe Kombination werde in den Romanen Scudérys übernommen. Entsprechend dieser Paradoxie seien in Scudérys Liebeskonzeption „Distanz und Nähe, Gehorsam und Ungehorsam, Sprechen und Schweigen, Erfüllung und Verzicht“49 vereint, die affektive Selbstbeherrschung der Liebenden also zum Liebestabu gesteigert. Paradoxerweise also werde in der Carte de Tendre eine Verletzung des Liebestabus „zugleich verboten und gefordert“, nur „der Verzicht verspricht Erfüllung, Entfernung und Flucht führen zum Ziel, allein 46 „En effet vous voyez que de Nouvelle Amitié on passe à un lieu qu’elle appelle Grand Esprit, parce que c’est ce qui commence ordinairement l’estime; ensuite vous voyez ces agréables villages de jolis Vers, de Billet Galant et de Billet Doux, qui sont les opérations les plus ordinaires du grand esprit dans les commencements d’une amitié. Ensuite, pour faire un plus grand progrès dans cette route, vous voyez Sincérité, Grand Coeur, Probité, Générosité, Respect, Exactitude et Bonté, qui est tout contre Tendre, pour faire connaître qu’il ne peut y avoir de véritable estime sans bonté, et qu’on ne peut arriver à Tendre de ce côté-là sans avoir cette précieuse qualité.“ Vgl.: Ebd. 47 „Après cela, Madame, il faut, s’il vous plaît, retourner à Nouvelle Amitié, pour voir par quelle route on va de là à Tendre sur Reconnaissance. Voyez donc, je vous prie, comment il faut aller d’abord de Nouvelle Amitié à Complaisance, ensuite à ce petit village qui se nomme Soumission, et qui en touche un autre fort agréable, qui s’appelle Petits Soins. Voyez, dis-je, que de là il faut passer par Assiduité, pour faire entendre que ce n’est pas assez d’avoir durant quelques jours tous ces petits soins obligeants, qui donnent tant de reconnaissance, si on ne les a assidûment. Ensuite vous voyez qu’il faut passer à un autre village qui s’appelle Empressement et ne faire pas comme certaines gens tranquilles, qui ne se hâtent pas d’un moment, quelque prière qu’on leur fasse, et qui sont incapables d’avoir cet empressement qui oblige quelquefois si fort. Après cela, vous voyez qu’il faut passer à Grands Services, et que, pour marquer qu’il y a peu de gens qui en rendent de tels, ce village est plus petit que les autres. Ensuite il faut passer à Sensibilité, pour faire connaître qu’il faut sentir jusqu’aux plus petites douleurs de ceux qu’on aime. Après, il faut, pour arriver à Tendre, passer par Tendresse, car l’amitié attire l’amitié. Ensuite, il faut aller à Obéissance, n’y ayant presque rien qui engage plus le coeur de ceux à qui on obéit, que de le faire aveuglément; et pour arriver enfin où l’on veut aller, il faut passer à Constante Amitié, qui est sans doute le chemin le plus sûr, pour arriver à Tendre sur Reconnaissance.“ Vgl.: Ebd., S. 402f. 48 Luhmann: Liebe als Passion, a.a.O., S. 83. 49 Penzkofer: „L’art du mensonge“, a.a.O., S. 168.
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das Schweigen kann verstanden werden.“50 Penzkofer erklärt dies durch die Tradition einer letztlich platonischen Liebesidee, wie sie schon in der Liebesphilosophie des humanistischen Philosophen Marsilio Ficino oder der Lyrik Petrarcas entwickelt wurde: Auf diesen platonischen Grundgedanken der „amour courtoise“ führt Penzkofer die Zärtlichkeitslehre der Scudéry zurück. Mir scheint dies jedoch deren Modernität bzw. Neuwertigkeit nicht genügend zu würdigen. Die Grundidee dieser Liebeslehre lässt sich meines Erachtens nicht über den Neoplatonismus der Renaissance erschließen, sondern eher über den Vergleich zur Nikomachischen Ethik des Aristoteles. Es geht also weniger um eine Überhöhung der Geliebten in eine Sphäre göttlicher Ideale, sondern vielmehr um eine Deutung der Liebe als Form einer Interaktion, deren dauerhaftes Gelingen nur dann funktioniert, wenn man den Mittelweg findet, also die Extreme vermeidet. Diese Extreme sind in der Karte mit dem westlich liegenden Meer der Feindschaft („mer d’inimitié“), dem östlichen See der Gleichgültigkeit („lac d’indifférence“), sowie schließlich dem nördlichen Meer der Gefahren („mer dangereuse“) markiert, hinter dem die Grenzen weitläufiger unbekannter Länder, sogenannter „terres inconnues“ erkennbar werden. Der Karte ist im Flußlauf der Zärtlichkeit ein goldener Mittelweg eingeschrieben, der gemeinsam mit den drei Dörfern der Dankbarkeit, Wertschätzung und Zuneigung im Sinne der aristotelischen mesotes eine Mitte zwischen Übermaß und Mangel, zwischen Feindschaft, Gleichgültigkeit und gefährdender Leidenschaften markiert. Freilich kann der Fluss der Zuneigung letztlich in das gefährliche Meer münden, an dessen Ufer sich eine unbekannte Welt der Leidenschaften eröffnet. Aber es gibt eben darum die Unterscheidung zwischen den Flüssen der Zärtlichkeit – unterteilt eben in Dankbarkeit, Wertschätzung und Zuneigung –, und den jeweils an den Flüssen angesiedelten drei Dörfern. Man könnte sich also, dies scheint die Karte anzudeuten, mit dem neuen Freundschaftsbund in jedem dieser drei Dörfer niederlassen, ohne schließlich im Meer der unbekannten Leidenschaften zu münden. Die Idee der Zärtlichkeit zeugt daher von einer gewissen Vorsicht vor einem zu schnellen Ausufern in die Gefilde der Leidenschaft: Eine Form der Entsagung, um einem Kennenlernen die Möglichkeit zur Entfaltung echter, auf Dankbarkeit, Wertschätzung und Zuneigung basierender Freundschaft zu geben. Wie wichtig die adäquate Deutung des philosophischen Gehaltes der Zärtlichkeitslehre ist, zeigen die Konsequenzen, die damit verbunden sind. Mir scheint folgende Regel erkennbar: Je platonischer man diese Zärtlichkeitslehre interpretiert, desto schneller sieht man in Scudérys alter ego, der Sapho bzw. der Clélie, eine vergeistigte, entrückte Geliebte im Sinne des Neuplatonismus, die den Leib als Last, als Gefängnis, ansieht, den man verlassen muss, um zum Licht zu gelangen. Weder Sapho noch Clélie gleichen jedoch jener unerreichbaren Geliebten, wie sie beispielsweise in den 1470 entstandenen Canzoniere Francesco Petrarcas die Figur der Laura darstellt. Vielmehr scheint der Carte de Tendre eine gewisse Pragmatik bzw. Ethik eingeschrieben, die auch Renate Baader in ihren Arbeiten hervorhob: 50 Ebd.
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Jörn Steigerwald sprach diesbezüglich wie bereits eingangs erläutert von einer „natürlichen Ethik“51. Dergemäß verbinde bzw. orientiere die Zärtlichkeitslehre die Liebesfreundschaft eines Paares, nicht eines einzelnen Verehrers. Die Carte de Tendre weise jedoch dem Liebenden verschiedene Wege zu dieser Tendresse: „Wo nicht der breite Strom der Zuneigung zu dem Göttergeschenk der natürlichen Tendresse führt, krönen Wertschätzung (‚estime‘) oder Dank einen bewussten und willentlichen Aufstieg des Mannes über die topographischen Haltepunkte der Bewährung, die zugleich eine zeitliche ist.“52 Zudem beinhalte die ‚amitié tendre‘ neben diesen orientierenden Regulativen für die Liebenden alle „Momente einer ritterlich-aristokratischen und cartesianisch-rationalistischen Ethik“, deren entscheidender Grundgedanke sei jedoch die Nachhaltigkeit der zärtlichen Liebe, also das von Baader sogenannte „eheliche Glück eines Paares“, das die „Trias der Vollendung – ‚estime‘/‚amitié tendre‘/‚amour parfaite‘ zur Bedingung habe.53
Der Bezug zu Honoré d’Urfés l’Astrée (1607–1627) Es ist in der Forschung mehrfach betont worden, dass Scudérys Liebesbegriff eine Art der Affektmodellierung darstellt, die ihrerseits auf Honoré d’Urfés zwischen 1607 und 1627 herausgegebenen Schäferroman L’Astrée. Où par plusieurs histoires et sous personnes de bergers et d’autres sont déduits les divers effets de l’honneste amitié zurückgeht. Die in diesem Roman dargelegten verschiedenen Wirkungen ehrsamer Freundschaft (= „divers effets de l’honneste amitié“) sind bekanntlich schon im Rahmen der ‚samedis‘ vom Kreis der Scudéryschen Gesellschaft nachgespielt worden: „Am Modell der Astrée“, so betonte Renate Baader, „erörterte die gesellige Runde Fragen der erotisch-psychologischen Kasuistik, schulte sie sich in Distinktion oder Antithesen, dem schnellen unerwarteten Einwand und dem, was ab Mlle de Scudéry ‚Anatomie des Herzens‘ heißen wird.“54 Einen etwas anderen Schwerpunkt setzte hingegen Gerhard Penzkofer, der im Zärtlichkeitsbegriff der Scudéry wie gesehen eine der letzten Aktualisierungen des „amour courtois“ angelegt sah, die über d’Urfé hinaus bis zur höfischen Dichtung des Mittelalters zurückführe. Penzkofer sah also in der Clélie wie in der Astrée den Einfluss der auch für Petrarca und Ficino wichtigen Philosophie Platons, deren ausgeprägtes Abstraktionsvermögen auch der Roman d’Urfés reproduziert. Zudem lägen die Ursprünge von d’Urfés ‚Hoher Schule der Galanterie‘ in den italienischen, spanischen und französischen Schäferromanen Tassos, Guarinis, Boccaccios, Montemayors, Sannazaros, Cervantes’ und Pasquiers, aber auch in Rodríguez de Montalvos Ritterroman Amadís de 51 Steigerwald: Galanterie, a.a.O., S. 47–64. 52 Renate Baader: „Heroinen der Literatur. Die französische Salonkultur im 17. Jahrhundert“, in: Bettina Baumgärtel und Silvia Neysters (Hg.): Die Galerie der Starken Frauen. Regentinnen, Amazonen, Salondamen, München 1995, S. 45. 53 Ebd., S. 45. 54 Renate Baader: „Madame de Sevigne, Correspondance (1646–1696)“, in: Dies. (Hrsg.): 17. Jahrhundert: Roman, Fabel, Maxime, Brief. Tübingen 1999, S. 227.
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Gaula und den Novellen aus dem Heptaméron der Marguerite de Navarre. Penzkofer sah den Einfluss jedoch eher in einer Liebe im Sinne des Dienstes für eine ungnädige oder unerreichbare Liebesherrin: So wie d’Urfé’s Held Céladon aufgrund einer Verleumdung von der geliebten Astrée verbannt wurde und erst nach diversen harten Prüfungen ihre Gunst zurückgewinnt, so sei Aronce auf der Suche nach der Liebe zur Clélie einer vergleichbaren „freiwilligen Unterordnung und Selbstentfremdung des Mannes“55 ausgesetzt. Renate Baader hingegen sah den Einfluss eher in den diversen Binnengeschichten der Astrée, in denen etwa ein Silvandre um eine Diana seufzt, ein Hylas sich seiner Flatterhaftigkeit in der Liebe rühmt, ein weiser Druide namens Adamas sich unermüdlich durch gute Worte und hilfreiche Dienste hervortut: Diese Geschichten illustrierten die in den ‚samedis‘ behandelten Fragen der Liebespsychologie: „Für beredtes Argumentieren, schnelle und geistreiche Einwände und Antworten, für Dialogführung und die Unterhaltung im größeren Kreise war der Roman ein an Beispielen reiches Modell. Anklage, Verteidigung, Gegenrede und Schiedsspruch des Gerichts führten die kasuistische Erörterung der Liebesproblematik vor und schulten im dialektischen Debattieren.“56 Die verzweigten Handlungen und ausführlichen Diskussionen der Astrée, in denen diverse Schäfer und Schäferinnen die verschiedenen Wirkungen der Liebe erörtern, werden also in den Salons als Liebeskasuistik nachgespielt und so zum Sujet des Scudéryschen Romans. So erkläre sich der Hang zum Ethos des Mittelalters: Heroische Abenteuer und ritterlicher Minnedienst, Verfeinerung der Sitten, Reinheit, Beständigkeit des Gefühls und Unabhängigkeit von Stimmungen und Ereignissen sind die Ideale, für die d’Urfé in leicht moralisierendem Ton plädiert. Als umfassende theoretische Erörterung der Fragen der Liebe wurde der Roman in der Folge zum galanten Lehrbrevier der Salons: eine Art literarisches Modell der galanten divertissemens. Wie einflussreich die Astrée gerade für den Clélie-Roman ist, zeigt allein der Verleich zum Frontispiz: Ist doch der Roman d’Urfés im Unterschied zu seinen italienisch-spanischen Vorbildern nicht in einer arkadischen Idylle, sondern im 5. Jahrhundert n. Chr. in der Landschaft des Forez am Oberlauf der Loire angesiedelt, was dem Kenner der Carte de Tendre natürlich sehr vertraut erscheinen dürfte (vgl. Abb. 2, S. 83): Deutlich lässt sich hier erkennen, dass das Frontispiz der Astrée eine Vorlage für die Carte du Tendre darstellt (Vgl. Abb. 1, S. 17), insofern beide Karten die Liebesbeziehungen an einem Flusslauf ansiedeln. Wir erkennen aber auch, dass jene Didaktik der Zärtlichkeit im Sinne der Nikomachischen Ethik des Aristoteles nur in der Carte Du Tendre angelegt ist: Hier dient der Flusslauf nicht als Schauplatz diverser Liebesgeschichten, sondern illustriert einen goldenen Mittelweg im erläuterten Sinne. Im Clélie-Roman der Scudéry geht es also nicht allein um jenes in Honoré d’Urfés Schäferroman Astrée vorgeformte Liebesmodel, bei welchem private Glückserfüllung, wechselseitige Zuneigung, Gefühlsintimität und emotionale Authentizität im Zentrum stehen. Angesichts dieser aristotelischen Logik der Carte du 55 Penzkofer: L’art du mensonge, a.a.O., S. 163. 56 Baader: Dames de lettres, a.a.O., S. 54.
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Abb. 2: ‚Astree et Celadon‘, Illustration aus der Astrée von Honore d’Urfé, Gravur (1607) von Daniel Rabel
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Tendre sind daher zwei Deutungsansätze zu kritisieren, die beide eine zu radikale bzw. kritische Deutung der tendresse entwickelten. Zum einen derjenige Renate Büffs, die einen vermeintlichen Konformismus der Scudéry angesichts der den Frauen des Zeitalters gesetzten engen Grenzen kritisierte57, zum anderen derjenige von Jean-Michel Pelous, der ganz im Gegenteil von den „Leiden des vollkommenen Liebhabers“ sprach, welcher durch den „code tendre“ zu Verzicht und demütigender Selbstverleugnung gezwungen sei, also die Frau als „Herrin des Mannes“ und Herrscherin eines „latent matriarchalischen“ Reiches ansah, deren Liebesverweigerung „tyrannisch“ im Sinne eines weiblichen Imperialismus zum Einsatz komme.58 Mir scheint dagegen der aristotelische Mittelweg der beste: Die galante Färbung, die eine Freundschaft durch die tendresse erhält, steigert das Vergnügen beider Geschlechter an einer im Vergleich zur amour-passion angenehm-ungefährlichen Form der Zuneigung. Durch die Galanterie wird die Freundschaft interessant („divertissante“), eine spielerisch den Ernst der „amour-passion“ nachvollziehende Beziehung zwischen zwei Menschen verschiedenen Geschlechts, die das Geschlechtliche ausklammert, es andererseits aber durch die spezielle Rollenverteilung und den – stets in den Grenzen der „bienseance“ bleibenden – Flirt ständig evoziert. Die Partner in diesem Spiel müssen einander an Geist, Seelenadel und politesse ebenbürtig sein, die Gleichheit dieser Qualitäten sichert das Bestehen der ‚amitié‘. Die tendresse ihrerseits verlangt von den Partnern, dass sie auch in dieser entsexualisierten Beziehung die Rolle der Frau bzw. des Mannes spielen und sich der zwischen ihnen bestehenden Unterschiede bewusst bleiben. Intellektuelle und gesellschaftliche Gleichwertigkeit, die in den meisten Fällen beiderseits nur gespielt ist, überlagert diese Gegensätze nicht. Amitié tendre kann zwischen mündigen und gleichberechtigten Partnern, die beide das gleiche Maß an Engagement einzusetzen bereit sind, nicht existieren; sie spielt sich stets zwischen dem werbenden und dienenden Mann und der passiveren, die Huldigungen akzeptierenden Frau ab. Das Liebeskonzept erschöpft sich also keineswegs in Ziererei und Koketterie, wie Molière unterstellen wird. Vielmehr ist es der Ausgangspunkt eines umfassenden kulturellen Wandels, in dem die aristokratische ‚ethique de la gloire‘ Corneillescher Prägung durch eine stärkere Betonung individueller Glücks- und Liebeserfüllung ersetzt wird59: Eine Entwicklung, die in allen Konsequenzen erst von der Bewegung der Empfindsamkeit reflektiert und adaptiert wird, wie in diesem Buch noch zu zeigen ist.
57 Büff: Ruelle und Realität, a.a.O., S. 122–136, S. 160. 58 Jean-Michel Pelous: Amour précieux, amour gallant (1654–1675). Essai sur la representation de l’amour dans la literature et la société mondaines. Paris 1980, S. 45–57. Vgl. zur Kritik an Pelous auch: Renate Kroll: Femme poète, a.a.O., S. 267f. 59 Zur Auflösung der heroischen „gloire“ vgl. grundsätzlich: Paul Bénichou: Morales du Grand Siècle, Paris 1948, nouvelle édition coll. Idées, Paris 1973, S. 155–181. Zum Motiv der „gloire“ bei Mlle de Scudéry vgl. vor allem: Chantal Morlet-Chantalat: La Clélie de Mademoiselle de Scudéry. De l’épopée à la gazette: un discours féminin de la gloire, Paris 1994, S. 447–547.
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Zärtlichkeit und Preziösität: Zur satirischen Verkennung des neuen Ideals Schon 1652 taucht in Frankreich die Bezeichnung „Précieuses“ als kritische Bezeichnung eines sozialen Modephänomens auf, und zwar in der Épitre chagrine, die Paul Scarron an den Maréchal d’Albret richtete. Die zweite satirische Anspielung findet sich dann 1654 in der Relation du Royaume de Coquetterie des Abbé d’Aubignac, 1656 verspottete Saint-Évremond die ‚Précieuses‘ in der Satire Le cercle, zur gleichen Zeit bringt auch der Abbé de Pure die Preziösen mit einer Farce aufs Theater und veröffentlicht den ersten Band seines Romans La Prétieuse ou Le mystère des ruelles, von dem noch zu sprechen ist. Zwar sind die Anspielungen bei Scarron, dem Abbé de Pure und Saint-Évremond nicht deutlich genug, um erkennen zu lassen, inwieweit damit auch die Madeleine de Scudéry gemeint ist: Scarron sagt, es gebe in Paris zwei oder drei echte Précieuses, also „précieuses de prix“, die man wie Prinzessinnen respektiere; die anderen, die „fausses précieuses“, seien „singesses“, „de qui tout le bon/Est seulement un langage ou jargon,/Un parler gras, plusieurs sottes manières/ Et qui ne sont enfin que faconniers.“60 Saint-Évremond spricht von Häßlichkeit und Seelenliebe, was man schon eher als Anspielung auf die optisch nicht gerade reich beschenkte Scudéry deuten könnte. Dennoch scheint es ratsam, im Rahmen dieser Satiren zwischen falschen und echten, aber auch zwischen prüden und koketten Précieusen zu unterscheiden61, selbst wenn davon auszugehen ist, dass die satirische Kritik am zeitgenössischen Sozialtypus der ‚precieuse‘ vor allem die Madeleine de Scudery treffen sollte.62 Denn 1658 hatte der Marquis de Maulévrier in einer Travestie der Carte de Tendre aus dem ersten Band des Clélie-Romans der Madeleine de Scudéry spöttisch von einer „Carte du Royaume des Précieuses“ gesprochen, deren zuvor erläuterten Elemente nun als Geheimniskrämerei (Chuchoter) und Überhöflichkeit (Façonnerie) identifiziert werden, und dessen Schloss der Galanterie, bestehend aus „Feux cachés, Sentiments tendres et passionnés et Amitiés amoureuses“, von zwei großen Ebenen der Koketterie, die
60 Oeuvres de Scarron. Tome septieme, Paris 1786, S. 168. 61 Eindeutig und boshaft ist die Bemerkung Baudeaus im Grand Dictionnaire: „Qu’on ne me vienne donc pas de conter toutes ces chimères, que les précieuses sont des filles qui ne se veulent point marier, qu’il faut qu’elles soient âgées de quarante-cinq ans, qu’elles soient laides. . .“ (Mongrédien, Les Précieux S. 116). 62 So betont Renate Baader: „Affekthafte Abneigung nahm die Grande Mademoiselle gegen die sektiererische Gruppe ein, wiewohl sie selbst sich hütete, den Namen derer, die sie in ihre Nähe rückte, den der Autorin hinzuzufügen, an der sie sich anspruchsvoller messen wollte. Bis zum Ende des Jahrhunderts wurde die Preziösenkarikatur zum literarischen Gemeinplatz. Mlle de Scudéry galt für weite Kreise der im Umfeld von Retz, Mademoiselle und dem Hause Orleans wirkenden antipreziösen Schriftsteller – d’Aubignac, Furétiere, Gilles Boileau, Cotin, Sauval oder Mlle Desjardins (Villedieu) -, die mit ihr auch die aufwendiger unterstützten Schützlinge Foucquets zu isolieren suchten, als Inbegriff des verspotteten Phänomens.“ Vgl. Baader: Dames de Lettres, a.a.O., S. 97.
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ganz eingefasst sind von den Bergen der Ziererei und der Prüderie, gerahmt sei.63 Das „Königreich der Preziösen“ wird von Maulévrier also wie folgt beschrieben: On s’embarque sur la Rivière de Confidence pour arriver au Port de Chuchoter. De là on passe par Adorable, par Divine, et par Ma Chère, qui sont trois villes sur le grand chemin de Façonnerie qui est la capitale du Royaume. A une lieue de cette ville est un château bien fortifié qu’on appelle Galanterie. Ce Château est très noble, ayant pour dépendances plusieurs fiefs, comme Feux cachés, Sentiments tendres et passionnés et Amitiés amoureuses. Il y a auprès deux grandes plaines de Coquetterie, qui sont toutes couvertes d’un côté par les Montagnes de Minauderie et de l’autre par celles de Pruderie. Derrière tout cela est le lac d’Abandon, qui est l’extrémité du Royaume.64
Zwei Jahre später, also 1660, veröffentlichte Antoine Baudeau de Somaize zudem einen Clef de la langue des ruelles („Schlüssel zur Sprache der Kämmerlein“), der eine Art Übersetzungshilfe für viele der wegen ihrer Geschraubtheit und Schwulsts, sprachlichen Artistik und bizarren Metaphorik als typisch preziös bezeichneten Wendungen und Floskeln darstellt.65 Vor diesem Hintergrund ist nun der vierbändige Roman La Précieuse, ou le Mystère des ruelles von Abbé Michel de Pure zu sehen, der zwischen 1656 und 1658 erschien. Der von Pure verwendete Begriff der ‚ruelle‘ leitet sich als Diminutiv vom französischen Wort ‚rue‘ (= Straße) ab, ließe sich also mit ‚Sträßlein‘ oder ‚Gasse‘ übersetzen, und bezeichnet den freien Raum zwischen Bett und Schlafzimmerwand. Dieser Ort stellte im 17. Jahrhundert eine Art Vorform der späteren Salons dar, also ein als Empfangsraum genutztes Schlafgemach bzw. „Kämmerlein“, in welchem die hochgestellten französischen Damen des 17. Jahrhunderts Gesellschaften unterhielten. Im Gegensatz zum Salon bot die 63 Marquis de Maulévrier: La Carte du Royaume des Précieuses, geschrieben 1654, veröffentlicht in: Charles de Sercy: Recueil des pièces en prose les plus agréables de ce temps, Paris 1658. 64 „Man schifft sich auf dem Fluss der Zuversicht ein und gelangt in den Hafen der Geheimniskrämerei. Von dort aus kommt man auf dem Weg nach Überhöflich, der Hauptstadt des Königreiches, an den drei Städten Anbetungswürdige, Göttliche und Meine Liebe vorbei. Eine Meile vor dieser Stadt befindet sich das gut befestigte Schloss namens Galanterie. Dieses Schloss ist sehr edel und hat mehrere Außenforts zum Lehen wie Verborgene Feuer, Zarte Gefühle und LiebeleiFreundschaft. Gleich daneben sind zwei große Ebenen der Koketterie, die ganz eingefasst sind von den Bergen der Ziererei und der Prüderie. Hinter all diesem ist der See der Verlassenheit am äußersten Ende des Königreichs.“ Zitiert nach: Marquis de Maulévrier: La Carte du Royaume des Précieuses,1654/58.[3] 65 Delphine Denis verweist zudem auf eine weitere die Carte de Tendre parodierende Karte aus demselben Zeitraum, die sogenannte Carte de l’Empire des Precieuses, die folgende Unterschrift trägt: „L’Empire des Prétieuses est divisé en cinq parties sçavoir, Pretieuse, Beauparler, Affectation, Galanterie, et Coquetterie, où les habitans sont de belle stature, Courtois, Aymable[s], Gallants, & curieux d[‘]apprendre, qui recherchent les beaux mots affectent à bien parler, & rendent les dire si mignards que pour exprimer un mot ils en disent 5. et 6. L[a] Celebre Academie s’ocupe à corriger plus de cent mots par jour[,] a estre tout à la Galanterie et surtout à la Coquetterie. Une Princesse nommée Prude gouverne cet Empire, qui y establit la Pompe la Majesté l’Arrogance la Grandeur la Vanité le mespris des autres, l’Inconstance la Perfidie l’Ingratitude & la lecture des Romans & Commedies, on y recherche fort la Joye l’Embonpoint par la bonne Chere la promenade & le doux repos du Lit o[ù] le trop de plaisir avec autant de pensée les rend quelquefois malades tant que l’on veut.“, vgl.: Delphine Denis: „Sçavoir la carte“. Voyage au Royaume de Galanterie, in: Études littéraires Volume 34, numéro 1–2, hiver 2002, S. 179–189, hier S. 183.
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ruelle dieser Geselligkeitskultur einen intimeren Rahmen für sozial-schöngeistige Zusammenkünfte, zudem ist dieser Raum natürlich spezifisch weiblich und in gewisser Weise auch emanzipatorisch konnotiert. In dieser ‚ruelle‘ sah de Pure nun das Forum einer als ‚preziös‘ charakterisierten weiblichen Gesellschaft, die sich in ihrem Habitus einer übersteigerten Kultiviertheit höchst auffällig, bisweilen auch lächerlich gebärdete. Der Roman ergreift jedoch durchaus Partei in der sogenannten querelle des femmes, also der bereits seit dem 16. Jahrhundert andauernden Debatte über die Stellung der Frauen gegenüber den Männern, indem er seine vergeistigten Heldinnen am Ende eines gewundenen Handlungsstranges eine emanzipatorische Utopie leben lässt. Ob de Pures Roman apologetisch oder satirisch ist, darüber herrscht dennoch Uneinigkeit. Einereits werden die Scudéry-Romane bei de Pure enthusiastisch gefeiert und gerühmt, zudem gibt es eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem von de Pure entwickelten Begriff der Preziösität und der amitié tendre, wenngleich Renate Büff mit Recht davor warnte, von einer homogenen preziösen Liebeskonzeption zu sprechen. Es gebe allerdings gemeinsame Grundzüge in den verschiedenen Konzepten, zu denen Büff die „Bezogenheit auf eine sich sorgfältig abgrenzende Gruppe mit prononciertem Elitebewußtsein“, einen „teils ernsthaften (Scudéry), teils leicht frivolen (de Pure) Spielcharakter“, eine „Ablehnung des Sexuellen“ und den „Verstandeskult“ zählte.66 Sowohl die amitié tendre als auch die preziöse Liebe grenzen sich von nicht mehr akzeptierbaren Formen der Liebe ab, wobei die amitié tendre freilich weitaus idealistischer ist. Andererseits sieht Büff eben darin eine deutliche Differenz, insofern die Heldinnen der Scudéry im Vergleich zu den preziösen Damen de Pures zu dogmatisch, zu platonisierend und elitär agierten, weshalb die mit dem tendresse-Modell angestrebte Lösung jener zwischengeschlechtlichen Machtgefälle nur eine „Scheinlösung“ darstelle. Die Konsequenzen dieser Differenz werden von Büff sehr nachdrücklich betont: Scudérys Konzeption der Liebe ist elitär. Die Helden ihrer Liebesgeschichten gehören zu einer Gruppe von Auserwählten. Die bürgerliche Scudéry stattet die Gestalten des Cyrus ausnahmslos mit adliger Herkunft aus, vorbildliche junge Männer ohne Rang entpuppen sich stets als Fürstensöhne. In der Clélie, als deren Vorbilder hauptsächlich Bürgerliche dienten, ist der römische Bürger ranggleich mit Aristokraten benachbarter Länder, dennoch legt die Autorin stets besonderes Gewicht auf die Familiengeschichte ihrer Helden und auf ihre Herkunft aus einem alten, ruhmreichen Geschlecht. Für ihre Liebeskonzeption bedeutet das: Scudéry betrachtet diesen Kult als Privileg hochdenkender, aristokratisch fühlender Menschen, Vertreter jenes geistigen Adels, der alle Zeichen bürgerlicher Herkunft abgelegt hat.67
„Mediocre“ und „ordinaire“ sei demnach das Gefühls- und Liebesleben des Bürgers, dem „der Zugang zur Gesellschaft und zur ruelle versagt“68 bleibe. Ähnliche elitäre Vorzeichen rücken in den Briefen der Madame de Sévigné in den Vorder66 Büff: Ruelle und Realität, a.a.O., S. 178. 67 Ebd., S. 146f. 68 Ebd.
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grund, deren Liebesideal ebenfalls den vornehmen Naturen vorbehalten ist.69 Dagegen seien die in Michel de Pures La Précieuse ou le Mystère des Ruelles entwickelten Preziösen weniger homogen, die Heldinnen seines Romans also individueller gezeichnet. Umstritten ist freilich jene von Renate Büff mit Nachdruck behauptete Differenz: Zwischen dem idealistischen Konzept der Scudéry und dem mehr realistischen Programm des ‚Roman de la Prétieuse‘ besteht ein grundlegender Unterschied: während Scudéry die Situation durch Flucht und Sublimation erträglich zu machen versucht, wollen de Pures Preziöse sie ändern.70
Wenn aus Sicht der deutlich feministisch argumentierenden Büff die Damen des „Mystère des Ruelles“ dem „wirklichen Leben“ näher stünden71, eine umfangreichere Variante von Liebeskonzeptionen kennen und sich vor allem in Ehefragen mit undogmatischen Reformvorschlägen auszeichnen, dann liest sie den Roman de Pures freilich nicht als Satire, sondern als historisches Dokument. Damit verkennt sie jedoch die Tatsache, dass Le grand Cyrus und Clélie in sich „preziöse“ Romane sind, wohingegen de Pures La Prétieuse ou le Mystère des Ruelles als Roman über die Preziösen gelesen werden muss, in dessen Vortrag das Ausmaß ironischer oder gar parodistischer Distanzierung eine gewiss nicht zu unterschätzende Rolle spielt. Während also die Romane der Scudéry sich an Erzählungen Heliodors orientieren und damit eine moralisch hohe Tonlage des heroisch duldenden Stoizismus anstreben, erlaubt die offene Form aktueller Konversation, die den Bereich der komischen Prosa streift, bei Pure einen entsprechend niedrigeren und daher realistischeren Stil der Moral. Im Unterschied zur Zärtlichkeit steht de Pures Deutung der preziösen Liebe unter einem satirischen Vorzeichen, denn er schildert eine sinnlichkörperliche Seite der „amour-passion“, eine „raffiniert-kokette Spielart“, ein galantes Wechselspiel von Gewähren und Verweigern, das vor allem von Koketterie gezeichnet ist und insofern den später von Molière geprägten Begriff der ‚préciosité ridicule‘ vorbereitet, wie nun zu zeigen ist.
Molière: Les précieuses ridicules (1659) Im November 1659 erreichten die spöttischen Kommentierungen der amitié tendre in Molières Prosakomödie Les précieuses ridicule ihren Höhepunkt. Molières Komödie greift den erläuterten Vorbehalt gegenüber der empfindsam-galanten Liebesidee der Scudéry auf, erweitert diesen jedoch zugleich um ein entscheidendes Detail. Im Vorwort seiner Komödie differenziert Molière nämlich, wie Reinhard Krüger betonte, zwischen einer falschen und einer echten Preziösität, und unschwer ist erkennbar, dass die falsche Preziösität aus Sicht Molières das Resultat 69 Ebd., S. 147. 70 Ebd., S. 31. 71 Ebd., S. 171.
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einer ausgesprochen lächerlichen Imitation der originären Bewegung ist.72 Galt Molière die echte Preziösität demnach als ein in der Stadt Paris entstandener Trend, so führt er die zweite hochgradig lächerliche auf dessen Imitation durch eine provinzielle Landbevölkerung zurück. Seit Molière existiert daher eine dritte Größe im Spiel der amitié tendre, denn neben der für die Scudéry wie schon für Urfé maßgeblichen Formel la cour et la ville („der Hof und die Stadt“) tritt nun als dritte Größe das Land, also die ländliche Bevölkerung. Lächerlich sind deren Versuche, sich dem Habitus des neuartigen Amtsadel und der von diesem geprägten galanten Kultur anzugleichen. Wir werden später sehen, dass sich erst im Rahmen der britischen Komödie aus dieser sich an den Hof assimilierenden Landbevölkerung eine positive neue Schicht entwickeln wird, die der eigentliche Protagonist der zärtlichen Didaktik in England ist, der gentrifizierte Landadel, dem sich die Genese der ‚town‘ als eine vom landed gentry geprägte neue Form der Urbanität verdankt. Davon ist Molière freilich noch weit entfernt, erst John Dryden wird diese Schicht auf der Theaterbühne inszenieren.73 Der spöttischen Perspektive Molières sind die beiden Protagonistinnen seines Stücks, Madelon und Cathos, ausgesetzt, die auf ihrem Weg nach Erfolg und Anerkennung in der feinen Pariser Gesellschaft all jene feinen Gebärden und Liebesfloskeln verinnerlichten, welche Ihnen aus der Lektüre insbesondere der Romane der Scudéry – dem Cyrus sowie der Clélie – bekannt waren. So haben sie das hochgradig affektierte Gehabe in den Pariser Salons zur Kenntnis genommen und sich dessen Sprache und Gebärden zu eigen gemacht. Wie sehr sie für sich aus dem internalisierten Habitus einen notwendigen Aufstieg in die engeren Kreise der höheren Gesellschaft ableiten, verdeutlicht ihr Umgang mit eben jenen Herren, die sich dem Habitus dieser feinen Gesellschaft nicht gemäß verhielten. Ironischerweise sind dies ausgerechnet die beiden Edelleute Du Grange und Du Croisy, die sich in den Augen der Provinzschönen nicht an die von der Literatur diktierten Spielregeln galanter Konvention halten, also abgewiesen werden, weil sie nicht im Sinne der Romane der Scudéry um die Zuneigung der beiden Damen warben: MADELON: Mon Dieu, que si tout le monde vous ressemblait un roman serait bientôt fini: la belle chose, que ce serait, si d’abord Cyrus épousait Mandane, et qu’Aronce de plain-pied fût marié à Clélie. GORGIBUS: Que me vient conter celle-ci. MADELON: Mon père, voilà ma cousine, qui vous dira, aussi bien que moy, que le mariage ne doit jamais arriver, qu’après les autres aventures. Il faut qu’un Amant, pour être agréable, sache debiter les beaux sentiments; pousser le doux, le tendre et le passionné, et que sa recherche soit dans les formes. Premièrement, il doit voir au Temple ou à la promenade, ou dans quelque ceremonie publique, la personne dont il devient amoureux; ou bien être conduit fatalement chez elle, par un parent ou un amy, et 72 Reinhard Krüger: Im Salon ist Maskenball. Molière Les précieuses ridicules. Die lächerlichen Preziösen, Tübingen 2012, S. 62f. 73 Vgl. dazu: Harold Love: Dryden, Rochester, and the Invention of the Town, in: John Dryden (1631–1700): His Politics, his Plays, and his Poets, hg.v. Claude Rawson, Newmark, 2003, S. 36–51.
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sortir de là tout rêveur et mélancolique. Il cache un temps sa passion à l’objet aimé, et cependant luy rend plusieurs visites, où l’on ne manque jamais de mettre sur le tapis une question galante, qui exerce les esprits de l’assemblée.74
Madelons Liebesideal nimmt Bezug auf die Geschichte des Cyrus aus dem Roman der Scudéry, der unter dem Pseudonym Artamène in die Welt zieht und sich in der Stadt Sinope in die für ihn unerreichbare medische Königstochter Mandane verliebt. Weder als Cyrus, der ein Feind der Meder ist, noch als Artamène, der der Königstochter nicht ebenbürtig wäre, kann Cyrus seine Liebesgefühle realisieren. Daher brauchen seine Liebesbekundungen der Phantasie und Vorbereitung: Ein plumper Heiratsantrag, wie ihn Du Croisy und La Grange vortrugen, wäre da vollkommen unzureichend. Schließlich musste der Romanheld Artamène bzw. Cyrus erst in die Armee von Mandanes Vater eintreten, um auf der Basis eines zukünftigen militärischen Erfolgs die Geliebte Mandane auf sich aufmerksam zu machen. Jene langen Qualen und vorsichtigen Liebesannäherungen, von denen Madelon in Molières Satire schwärmt, über die sich also der Autor Molière an dieser Stelle seiner Komödie lustig macht, sind bei der Scudéry in der Tat die Fundamente ihres neuartigen Liebesideals. Denn erst als Oberbefehlshaber der medischen Truppen, der Cyrus bzw. Artamène inzwischen wurde, kann er der Mandane seine Identität und seine Liebe gestehen. Er gewinnt also erst allmählich die Zuneigung der anfangs abweisenden Geliebten und bricht den Widerstand des Vaters, dem er selbstlos mehrfach das Leben rettet, als Mandane von Artamènes gefährlichstem Rivalen entführt wird. An die Stelle des pragmatischen Heiratsantrages, welcher dem an der Konvenienzehe orientierten Patriarchen Gorgibus nur all zu verständlich erscheint, tritt in der Phantasie der Damen also eine den Scudéry-Romanen entlehnte zärtliche Liebesgeschichte, wie sie nach Ansicht der Madelon auch zwischen Clélie und Aronce stattfand. Diese wurden bekanntlich durch ein Erdbeben sowie eine anschließende Entführung der Clélie an ihrem Hochzeitstag voneinander getrennt und fanden erst am Ende des Scudéryschen Romans wieder zueinander. Entsprechend bezieht sich die lächerliche Preziösität der beiden Damen auch auf die Vorlage der Carte de Tendre, wie an anderer Stelle deutlich wird: CATHOS: En effet, mon oncle, ma cousine donne dans le vrai de la chose. Le moyen de bien recevoir des gens qui sont tout à fait incongrus en galanterie? Je m’en vais gager qu’ils n’ont jamais vu la Carte de Tendre, et que billets-doux, petits-soins, billets-galants et jolis-vers, sont des terres inconnues pour eux. Ne voyez-vous pas que toute leur personne marque cela, et qu’ils n’ont point cet air qui donne d’abord bonne opinion des gens?75
Wenn Du Grange und Du Croisy den beiden Damen ohne den Umweg über eine galante Tändelei, also gleichsam unvermittelt einen Heiratsantrag machten, dann lässt dies freilich auch erkennen, dass Madelone und Cathos aus ihren Scudéry74 Molière: Choix de comédies: les Précieuses ridicules et les Femmes savants, Schaffhouse 1868, S. 10. 75 Ebd., S. 11.
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Lektüren eine vergleichsweise moderne Vorstellung von der Liebesehe entwickelten, wohingegen die beiden Herren, vor allem aber der derb-despotische Onkel Gorgibus seine Tochter Madelon und seine Nichte Cathos im Sinne einer Konvenienzehe unter die Haube bringen will, also ohne eine Erweckung des Liebesgefühls sogleich zur Sache zu kommen gedenkt. Angesichts der Abfuhr nehmen Du Grange und Du Croisy ihrerseits Rache an den eingebildeten und ‚dummen Provinzgänse‘ (pecques provinciales76), insofern sie diese in ein Verwechslungsspiel involvieren. Sie verkleiden ihre beiden Diener Mascarille und Jodelet, die ebenfalls dazu neigen, sich zur feineren Gesellschaft zu zählen, als preziöse Grafen à la mode und lassen sie so den Damen den Hof machen. So hält Mascarille in einer Sänfte seinen Einzug, verteilt geläufige Komplimente, rühmt Paris und seine Salons, in denen er selbstverständlich zu verkehren vorgibt, und rezitiert bzw. interpretiert genüsslich eines seiner eigenen, nicht eben gelungenen Gedichte. Gerade in dem Moment, als ihm das Repertoire ausgeht und ihm nur noch Wiederholungen einfallen, wird der zweite Diener als „Vicomte de Jodelet“77 angemeldet. Nun spielen sich die alten Kriegskameraden, Jodelet allerdings noch durchsichtiger als Mascarille, so lange die Stichworte für ihr Eigenlob zu, bis sie sich schließlich mit ihrer Rolle identifizieren, während die Damen bei der vermeintlichen Begegnung mit der großen Welt nur noch in den Atempausen des ‚Wettrühmens‘ Zeit für Beifallsfloskeln finden. Als man einen Ball improvisieren will, werden die vier selbstvergessenen Imitatoren des preziösen Stils recht unsanft aus ihren Illusionen gerissen: Die wahren Herren Du Grange und Du Croisy decken das Verwirrspiel auf, indem sie mit Stockhieben die beiden falschen Grafen entlarven, die sich vor den Augen des Publikums entblößen lassen müssen. Das Stück endet mit einem tobenden Gorgibus, der nach all dem Ärger und den Ausgaben, die Magdelon und Cathos ihm durch ihre Koketterien verursacht haben, eine Gruppe angemieteter Geigenspieler verprügelt und die ganze romaneske Literatur zum Teufel wünscht. Ausgehend von der Beobachtung, dass das Adjektiv „precieux“ in den Precieuses ridicules nur zweimal vorkommt78, das Adjektiv „galant“ dagegen dreizehnmal79, verweist Duchene darauf, dass die satirischen Ausfälle des Stücks großenteils wörtliche Übernahmen aus den 1644 erstmals erschienenen Lois de la galanterie des Charles Sorel sind. In ironisch-satirischer Form stellt Sorel in seiner Schrift Umgangsformen, Lebensgewohnheiten und Modeerscheinungen der gehobenen, „mondänen“, dem Kodex der ‚Galanterie‘ verpflichteten Gesellschaft seiner Zeit dar. Nach ihrer Neuauflage 1658 haben diese Lois de la galanterie, de nouveau corrigées et amplifiées par l’Assemblée générale des Galants de France, wie der deutlich ironisch geprägte Titel jetzt heißt, offensichtlich Molière bei der Abfassung der Precieuses ridicules als Vorlage gedient: Die Personengestaltung der beiden Provinz76 77 78 79
Ebd., S. 6. Ebd., S. 5. Ebd., S. 14, 54. Ebd., S. 10, 18, 21, 22, 24, 25, 37, zur „Galanterie“ siehe S. 7, 9, 11, 20.
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gänse, ihrer Liebhaber, ihres Habitus und ihrer Konversation entstammen mehr oder minder direkt aus Sorels Vorlage. Zudem ist ein satrischer Bezug der beiden vom Lande kommenden lächerlichen Preziösen auf die Madeleine de Scudéry als Vordenkerin der Preziösen anzunehmen, da auch die Scudéry aus der Provinz nach Paris kam, wie Reinhard Krüger bemerkt.80 Nur mit einem gewissen Zynismus wäre deren Ethik der amitié tendre jedoch als „preziös“ zu disqualifizieren. Sicherlich liegt eine gewisse Logik dieser geographischen Konstellation in der Verweigerung leidenschaftlicher Hingabe, also in jener ‚Ziererei‘, von welcher die Preziösenkritik des 17. Jahrhunderts mit Molière an deren Spitze so häufig sprach. Aber wir haben es bei der Scudéry mit einer positiven Variante der Preziösität zu tun, also mit einer sehr fortschrittlichen Vorstellung von Freundschaft, die sowohl unter als auch zwischen den Geschlechtern stattfinden kann, aber eben aus weiblicher Sicht definiert wird.81
„so French, so gallant, and so tendre“: John Drydens Marriage à-la-Mode (1671) Wie entwickelte sich die Geschichte der im Roman der Scudéry entfalteten galanten Zärtlichkeitsidee, nachdem Molière diese im Rahmen seiner parodistischen Komödie Les précieuses ridicules von 1659 der Lächerlichkeit preisgab? Welchen Einfluss hat die Molièresche Kritik der tendresse auf die weitere Entwicklung der Komödie?82 Dazu muss man wissen: Die im Einakter Les précieuses ridicules eröffnete These Molières, nach welcher die von der Madeleine de Scudéry entworfenen Liebes- und Beziehungsideale eine Form der Preziösität darstellten, die Ausbreitung und Popularisierung der in den Ruelle-Salons entstandenen Mode der Galan80 Krüger: Im Salon ist Maskenball, a.a.O., S. 62. 81 Es ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen, dass Molière in seinem pastoralen Hirtenstück namens „Melicerte“ von 1666 erneut auf den Cyrus-Roman der Scudéry Bezug nahm, und zwar auf die Liebesgeschichte zwischen Sesostris und Timarete, einem jungen Schäferpaar, die sich ineinander verlieben und schließlich aufgrund ihrer aristokratischen Herkunft ihre zunächst bedrohte Liebe auch leben dürfen. Molière zog diese pastorale Geschichte sieben Jahre nach der Uraufführung der précieuses ridicules in seinem fragmentarischen Zweiakter heran, verlegt den Schauplatz allerdings nach Griechenland, genauer gesagt in das Tal von Tempe. Die Protagonisten tragen bukolische Namen wie Acanthe, Corinne, Daphne, Mopse oder Myrtil, und auch bei Molière steht die zunächst bedrohte Schäferliebe im Zentrum. Acanthe und Tyrene klagen über die Schnödigkeit ihrer Geliebten Daphne und Eroxene, die beide Myrtil begehren, dieser jedoch habe nur Augen für Melicerte. Als Myrtils Vater ihn nach mancherlei Zwischenfällen die Einwilligung zur Heirat Melicerte’s geben will, wird bekannt, dass Melicerte sei nicht die Tochter des Mopsus ist, und dass auch sie vom König gesucht wird, der sie mit einem Edelmann verheiraten will. Dann bricht das Handlungsgeschehen in diesem fragmentarischen Zweiakter ab. Unverkennbar ist jedoch der Bezug zur genannten Geschichte von Sesostris und Timarete, vor allem angesichts der mysteriösen Herkunft der Titelheldin Melicerte. 82 Vgl. diesbezüglich die Arbeit von Rotraud von Kulessa: Von der Carte de Tendre zur sensibilité: Dramen französischer Autorinnen zwischen 1650 und 1750, in: Kirsten Dickhaut; Dietmar Rieger (Hg.): Liebe und Emergenz. Neue Modelle des Affektbegreifens im französischen Kulturgedächtnis um 1700, Tübingen 2006, S. 153–164.
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terie also eine lächerliche Erscheinung sei, wurde keineswegs nur in Frankreich wahrgenommen und diskutiert. Dass diese Molièresche Verhöhnung des neuen Zärtlichkeitsideals auch und vor allem auf der britischen Insel einflussreich war, verdeutlicht die englische comedy of manners, in welcher das preziöse Leben à la mode ein Leitmotiv darstellte, welches etwa für die Komödien Drydens, Etheredges, Congreves oder Shadwells grundlegend war: „they are so French, so gallant, and so tendre, that I cannot resist the temptation of the assignation“83, so äußert sich unfreiwillig komisch die lächerlich preziöse Melantha in John Drydens Marriage à-la-Mode von 1672, ähnlich spricht die Lady Cockwood in Sir Georges Ethereges She would if she could von 1668 von der „over-tenderness of my honour“84. Freilich ist die adäquate Beurteilung dieses Genres nicht ganz einfach, waren doch die Restaurationskomödien vor allem für ihre sexuelle Freizügigkeit bekannt, was sich wiederum auch durch die anspielungsreiche Bezugnahme auf den Hof von König Charles II. erklärt, dessen Mätressenpolitik wir bereits kurz andeuteten. Die leitmotivische Unvereinbarbeit von Liebe und Ehe im Namen einer affirmativen Libertinage ist ein regelrechtes Erkennungsmerkmal der restoration comedy, das durch die Freizügigkeit des Hofes noch gefördert wurde. Vor diesem Hintergrund ist die Molièresche Kritik des von der Scudéry neu entwickelten Freundschaftsund Liebesideal ein sehr willkommenes Motiv, welches durch Autoren wie Dryden, Congreve und Shadwell entsprechend in die britische Komödie eingegangen ist.85 Diese Autoren stehen unter dem ausgesprochen starken Eindruck der Molièreschen Komödie, weshalb das Scudérysche Freundschafts- und Liebesideal im restaurativen England zunächst ebenfalls unter dem Vorzeichen komisch-lächerlicher Preziösität verhandelt wird. Schon John Drydens Marriage à la mode von 1671 verspottete diesen Import französischer Verhaltensformen, der allenfalls für die Lachinteressen eines gebildeten, dem ‚fine raillery‘ geneigten britischen Theaterpublikums dienlich sei. Die spöttische Inszenierung der Galanterie als französischer Modetorheit ist also ein Leitmotiv der frivolen Sittenkomödie oder Comedy of Manners der Restaurationszeit, die in William Wycherlys Komödien The Gentleman Dancing-Master (1671/72) oder The Plain-Dealer (1676), George Etheredges She would if she could (1668) und The man of mode, or, Sir Fopling Flutter (1676) oder William Congreves The Way of the world oder The double dealer eine vergleichbare Interpretation findet. 86 83 John Dryden: Marriage à la Mode (= Regents Restoration Drama Series), hg. v. Mark S. Auburn, University of Nebraska Press 1981, S. 62. 84 Vgl.: The Plays of George Etherege, hg. v. Michael Cordner, Cambridge University Press 1982, S. 150. 85 Vgl. dazu grundlegend: John Wilcox: The relation of Molière to restoration comedy, New York 1964. Wilcox sieht einen Einfluss von Molières Komödie Les Précieuses ridicules in Dryden’s Evening’s Love (1668), Flecknoe’s Damoiselle à la Mode (1668), Drydens Marriage à la Mode (1672), Etherege’s Man of Mode (1676), Behn`s False Count (1682) und Shadwells Bury Fair (1689), vgl.: ebd., S. 82f. 86 Vgl. zum Restaurationsdrama generell den sehr guten Überblick von Marion Gymnich: Das englische Drama der Restaurationszeit aus gattungstypologischer Sicht: Erscheinungsformen und Entwicklungstendenzen, in: Ansgar Nünning (Hg.): Eine andere Geschichte der englischen Lite-
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Wie eng der Bezug zu Molière ist, verdeutlicht das satirische Motiv des à-lamode-Lebens, denn dieses persifliert eine auch im England der Restauration nach 1660 auftretende imitatio französischer Kultur in Kleidung, Sitten und Sprache: Unsitten einer aus Sicht der comedy of manners frivolen, versnobten Gesellschaft, die sich in den genannten Komödien widerspiegelt, welche immer auch auf die frankophile Regentschaft Charles II. anspielen.87 Eben deshalb aber müssen wir hinsichtlich der satirischen Kritik der Preziösität eine wichtige Differenz zwischen Molière und Dryden hervorheben. Molière ging es in Les precieuses ridicule um eine Satire der den Hof nachahmenden Landbevölkerung. Dryden hingegen formuliert in Marriage à la mode eine Kritik des englischen Hofes selbst, über dessen Gepflogenheiten er persönlich enttäuscht war, wie seine an den Earl of Rochester gerichtete Widmung zu Marriage à la Mode bezeugt: In my little experience of a court (which, I confess, I desire not to improve), I have found in it much of interest, and more of detraction: Few men there have that assurance of a friend, as not to be made ridiculous by him when they are absent. […] Those people who have the liberality of kings in their disposing, and who, dishonouring the bounty of their master, suffer such to be in necessity who endeavour at least to please him; and for whose entertainment he has generously provided, if the fruits of his royal favour were not often stopped in other hands.88
Die Härte, mit der Dryden nun über den Hof urteilt, richtet sich vor allem gegen die höfischen Sitten, die insbesondere im Begriff der Eheskepsis fassbar sind, deren fragwürdige Prämissen schon das erste Lied von Marriage à la mode hervorhebt: Why should a foolish marriage vow, which long ago was made, Oblige us to each other now, When passion is decayed?89
Diese Eheskepsis des Adels ist zweifellos auch auf die Mätressenpolitik Charles II. zu beziehen, welcher Charles – wohl unter dem Eindruck seines bis zum Jahr 1660 andauernden politischen Exils im Frankreich Ludwigs XIV. – während seiner Regentschaft in England sehr ungehemmt nachging. Die Liste seiner Mätressen ist derjenigen Ludwigs XIV. ebenbürtig, und es ist ein Leitmotiv der Restaurationskomödie, die mit der Mätressenwirtschaft verbundene Ehefeindlichkeit des höfischen Adels derbkomisch zu inszenieren. Erst mit dem Auftreten Jeremy Colliers gewinnt in der sentimental comedy von Steele und Cibber die Ehe mit all ihren Tugenden an Wert, in der Epoche John Drydens hingegen erzeugt sie eher unfreiwillige Komik. ratur: Epochen, Gattungen und Teilgebiete im Überblick, Trier 1996, S. 43–60. Vgl. außerdem: Ursula Jantz: Targets of Satire in the Comedies of Etherege, Wycherly and Congreve, Salzburg 1978. 87 Das à la Mode-Leben ist auch für Wilcox das entscheidende Indiz für den Einfluss von Les Précieuses Ridicules. 88 John Dryden: Marriage à la Mode, a.a.O., S. 4f. 89 Ebd., S. 11.
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Entsprechend ist die im Titel aufgerufene Konvenienzehe zwar eine am Hof geltende Norm, der sich das höfische Personal dieser Komödie jedoch zugunsten tändelnder Liebeleien widersetzt. Im komischen Strang dieser Komödie sind dies die beiden Freunde Palamede und Rodophil, dessen Frau Doralice und Palamedes Braut Melantha, die trotz ihrer antiken Namen und des pastoralen Schauplatzes eine für die comedy of manners typische Klientel repräsentieren: Als Vertreter der zwischen Landadel und höherem Bürgertum angesiedelten neuen ‚town‘ orientieren sie ihren Habitus an der höfischen Gesellschaft.90 Die Verwickelung dieses komischen Teils wird dadurch hervorgebracht, dass Palamede auf Geheiß seines Vaters von seinen Reisen an den heimatlichen Hof in Sizilien zurückkehrt ist, um die ihm zur Frau bestimmte Melantha zu heiraten, noch ehe er seine Zukünftige kennenlernt: Sein und Melanthas Vater haben also eine Konvenienzehe beschlossen. Zugleich aber hat sich Palamede in Doralice verliebt, ohne zunächst zu wissen, dass sie die Gemahlin seines Freundes Rodophil ist. Und umgekehrt hat sich Rodophil, der Ehe mit Doralice überdrüssig, bereits vor Palamedes Rückkehr Melantha als Objekt seines Begehrens auserwählt. Wir haben es also im komischen Strang mit einem zeittypischen Fall einer „Freiheit der Liebeswahl“ im Sinne Niklas Luhmanns zu tun, die sich auf „verheiratete Personen und außereheliche Beziehungen“91 fokussiert. Diese neuartige Freiheit zur Liebeswahl, bei welcher jede Person dieses Quartetts ihre eigenen erotischen Ziele verfolgt, führt unter den beiden Männern zu einem ehrgeizig verfolgten Versteck- und Verwirrspiel, einem „Hide and Seek“, denn beide unternehmen vielfältige und äußerst phantasievolle Versuche, sowohl die eigene Partnerin zu halten als auch die Dame des Freundes zu erobern, die natürlich auch begehrenswert ist, weil sie eigentlich dem Kontrahenten angehört. Die beiden Frauen sind jedoch keineswegs nur die Opfer dieses Versteckspiels, sondern – eben darin liegt das Novum – durchaus bereit, selbst aktiv zu werden. Allerdings sind die Damen etwas verhaltener, weshalb etwa die Melantha auf sexuelle Eroberungen hofft, aber zugleich ihren Ruf wahren will. Diesem Missstand setzt Marriage à la mode nun eine wahre amour courtois entgegen, deren Kenntnisnahme auf Drydens Auseinandersetzung mit Madeleine de Scudérys Roman Artamène, ou le Grand Cyrus zurückzuführen ist, der vor dem Clélie-Roman, also um 1650 entstand.92 In diesem zweiten, ernsten Handlungsstrang des heroic play wird also die Thematik des komischen Strangs – die Beziehung zum Prinzip der Konvenienzehe – unter Rückgriff auf den Cyrus-Roman der Scudéry gleichsam ernst und dramatisch zur Darstellung bringt. Drydens Komödie partizipiert also an jenem doppelten Handlungsgeschehen, wie es zuvor etwa auch
90 Vgl. dazu auch: Dieter A. Berger: Aristokratische Geschlechterräume in der englischen Restaurationskomödie, in: Margarete Hubrath (Hg.): Geschlechter-Räume. Konstruktionen von ‚gender‘ in Alltag, Literatur und Geschichte, Köln Berlin Weimar 2001, S. 37–50; sowie Harold Love: Dryden, Rochester, and the Invention of the Town, a.a.O. 91 Luhmann: Liebe als Passion, a. a. O., S. 60. 92 Zudem wurden die Bezüge zu Urfés Roman Astrée in der Forschung betont, vgl.: K. M. Lynch, D’Urfé’s L’Astrée and the ‚Proviso-Scenes‘ of Dryden’s Comedies, in: PQ, 4, 1925, S. 302–308.
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in Ethereges Comical Revenge (1664) und Drydens früherem Werk Secret Love (1667) angelegt war. Dies ist insofern signifikant, als dass die Gattungen der Tragödie und der Komödie zwar kombiniert werden, aber in dieser parallelen Anordnung dennoch in ihrer klassisch-aristotelischen Eigenständigkeit erhalten bleiben. Sie werden also noch nicht zu jenem neuartigen Komödien- oder Tragödientyp erweitert, wie er dann später in der sentimental comedy, der comédie larmoyante oder dem bürgerlichen Trauerspiel vorliegt. Durch die Bezugnahme auf den Cyrus-Roman der Madeleine de Scudéry erklärt sich der bukolische Schauplatz dieser Tragikomödie: Erzählte der Roman der Scudéry von den Taten und der Liebe des persischen Königs Cyrus, dessen Geschichte mit Versatzstücken des Schäferromans angereichert wurden, so spielt Marriage àla-Mode in einem imaginären Sizilien, hinter dem immer wieder der englische Hof sichtbar wird. Dieser Hof befindet sich freilich schon zu dieser Zeit in einem Transformationsprozess, der sich gewissermaßen als frühe Form der ‚Gentrifizierung‘ beschreiben ließe: Als eine Entwicklung der ‚town‘, geprägt durch die Migration des Gentry vom Land in die Stadt. Vor dem Hintergrund dieses sozialen Wandels fokussiert der heroische Teil von Marriage à la Mode die Liebe zwischen Sesostrias und Timarete, die in Drydens Komödie in der Liebe zwischen Leonidas und Palmyra ihr Äquivalent findet: Diese kontrastierende Liebesgeschichte ist freilich keine tendresse amoureuse, sondern eine „amour courtois“, wie man in Anlahnung an Gerald Penzkofer unterscheiden könnte. Dies liegt an deren Quelle, der Histoire de Sesostris et de Timarete aus dem 4. Teil des zweiten Buches des Cyrus-Romans. Denn erst im letzten, also 10. Band des Artamène ou le Grand Cyrus entwickelte die Madeleine de Scudéry in den Gesprächen zwischen Sapho und Phaon eine Vorform der amitié tendre, die sie dann im ersten Buch des Clélie-Romans systematisierte. Drydens Marriage à-la-Mode bezieht sich jedoch nicht auf die Liebe zwischen Phaon und Sapho aus dem 10. Band, sondern auf die Histoire de Sesostris et de Timarete aus dem 4. Teil des zweiten Buches des Cyrus-Romans. In diesem geht es um die Liebe zwischen Sesostrias und Timarete, die bei Drydens Komödie in der Liebe zwischen Leonidas und Palmyra ihr Äquivalent findet. In beiden Fällen wird so eine Genre-typische Motivreihe, die letztlich auf Herodot zurückführt93, von Dryden bzw. Scudéry aktualisiert: Der Verlust, die Rettung und die Wiedererkennung der Königskinder, die für den Cyrus-Roman sehr charakteristisch ist, sind doch Sesostris und Timarete ebenso wie Leonidas und Palmyra von aristokratischer Abstammung, ohne dies zu wissen.94 Dieser für den Roman der Scudéry kennzeichnende Wechsel von heroischer und amouröser Thematik, der in der Gattungsbezeichnung ‚heroisch-galanter‘ Roman zum Ausdruck kommt, ist also auch für die Komödie Drydens charakteristisch. In beiden Fällen finden sich zudem zahlreiche Anspielungen, Paraphrasen und Zitaten aus diversen Quellen der „amour courtoise“, die nach 93 Francis Barton: The Sources of the ‚Story of Sesostris et Timarete‘ in ‚Le grand Cyrus‘, in: Modern Philology 19 (1922), S. 257–268. 94 Gerhard Penzkofer: L’art du mensonge, a.a.O., S. 116.
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Penzkofer von den Klassikern der antiken Geschichtsschreibung, über das Epos und die höfische Traktatliteratur bis hin zum hellenistischen Roman, zum Ritterroman und zum Schäferroman reichen. Darin liegt sicherlich die wichtigste Differenz zu Molière, der in Les précieuses ridicule eben diese Phantasien der Scudéry noch schonungslos verspottete. Dennoch aber teilt Dryden die Molièresche Motivik lächerlicher Preziösität: Ein Paradox, welches es nun genauer zu klären gilt.
Die Gentrifizierung der Gefühle: Drydens Psychologisierung der „town-lady“ Die im komischen Strang inszenierte neuartige Freiheit zur außerehelichen Liebeswahl ist als Ausdruck eines närrischen Sinns für französische Moden interpretiert, weshalb Melantha als weibliche Variante des typischen ‚fop‘ auch an die lächerlichen Preziösen Molières erinnert, speziell an Molières Mascarille. Im Unterschied zu den beiden weiblichen Protagonisten Molières – Madelon und Cathos – wird Melantha zudem nicht als Landei, sondern als „a town-lady, without any relation to the court“95 bezeichnet. Allerdings will auch sie ähnlich wie die Damen Molières um jeden Preis zur höfischen Gesellschaft gehören: „I have such a tendre for the Court, that I love it ev’n from the Drawing-room to the Lobby, and can never be rebutée by any usage.“96 Darum hält sie etwa den häufigen Gebrauch französischer Modewörter für das wesentliche Charakteristikum einer echten Lady und bemüht sich ebenso eifrig wie vergeblich, ihren Wortschatz auf dem neuesten Stand der Sprachmode zu halten. Ihre Ration französischer Vokabeln bekommt sie täglich von ihrer Dienerin Philotis mitgeteilt: Let me die if I have not run the risque already to speak like one of the vulgar, and if I have one phrase left in all my store, that is not thread-bare et usé, and fit for nothing but to be thrown to peasants.97
Eine ganze Fülle von Begriffen aus dem Französischen werden so in dieser Komödie zur Kommunikation verwendet: „Bevue“ (V.1), „Billets doux“ (II.1), „Doubleentendre“ (III.1), „Esclaircissement/Eclaircissement“ (III.1, V.1), „Minouet“ (II.1), „naiveté“ (III.1, V.1), „ridicule“ (III.1), „raccomode“ (V.1), „Sottise“ (III.1), „spirituelle“ (III,1) und natürlich „tendre“ (III.1).98 Entsprechend ist auch der Sinn für die Zärtlichkeit der affected lady Melantha vor allem aus diesem Import des französischen Vokabulars gewonnen, welches sie durch die Nachhilfe der Dienerin Philotis mühsam erlernt und dann mehr oder minder lächerlich anzuwenden versucht:
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John Dryden: Marriage à la Mode, a.a.O., S. 18. Ebd., S. 57. Ebd. Vgl. dazu: E. A. Horsman: Dryden’s French Borrowings, in: The Review of English Studies, New Series, Vol. 1, No. 4 (Oct., 1950), S. 346–351.
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Etwa in der Charakterisierung eines von ihrem höfischen Verehrer Rodophile verfassten Briefes: MELANTHA: Reading the Letter. – Beg the favour from you – Gratifie my passion –– so far –– assignation –– in the Grotto –– behind the Terras –– clock this evening –– Well, for the Billets doux there’s no man in Sicily must dispute with Rhodophil; they are so French, so gallant, and so tendre, that I cannot resist the temptation of the assignation. Now go you away, Philotis; it imports me to practise what I shall say to my Servant when I meet him.99
Aber auch das einsetzende Liebesspiel zwischen Palamede und Melantha ist von diesem galanten Vokabular geprägt: PALAMEDE: Foy, ma Clymene, voy sous ce chene. [Singing again.] S’entrebaiser ces oiseaux amoreux! Let me die now, but that was fine. Ah, now, for three or four brisk Frenchmen, to be put into masking habits, and to sing it on a theatre, how witty it would be! and then to dance helter skelter to a chanson a boire: Toute la terre, toute la terre est a moi! What’s matter though it were made and sung two or three years ago in cabarets, how it would attract the admiration, especially of every one that’s an eveillé! MELANTHA: Well; I begin to have a tendre for you; but yet, upon condition, that— when we are married, you—100
Im Unterschied zu Molières preziösen Damen ist Melantha eine für die restoration comedy typische Variante des die Aristokratie nachäffenden „cits“, die schon immer zum Arsenal der komischen Figuren in der Restaurationskomödie gehörten.101 Melantha erscheint jedoch nicht in der ländlich-provinziellen Naivität, wie sie uns aus Molières Les précieuses ridicules bekannt ist, wenngleich sich Dryden bei dieser Figur erkennbar von den beiden Damen Molières – Cathos und Madelon – inspirieren ließ. Anders als die beiden Provinzdamen Molières vermag sich Drydens Melantha dem zum Hof gehörenden Trio Rhodophil, Doralice und Palamede jedoch anzugleichen, also als gleichartige Partnerin zu bewegen. Sie gehört zum Hof, auch wenn sie dort eigentlich „no business“ hat. Dennoch aber fühlt sie sich der city oder den Landfrauen überlegen: „I declare, I had rather of the two, be railly’d, nay, mal traittée at Court, then be Deifi’d in the Town: for, assuredly, nothing can be so ridicule, as a meer Town-Lady.“102 Wenn also die Stadt unterhalb des Hofes angesiedelt ist, so scheint das Landleben aus Sicht Melanthas noch trostloser: „A Song that’s stale here, will be new there a twelvemoneth hence; and if a man of the Town by chance come amongst ’em, he’s reverenced for teaching ’em the Tune.“103 Mit diesem Verhalten wirkt jedoch nicht allein Melantha lächerlich, sondern auch der
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John Dryden: Marriage à la Mode, a.a.O., S. 62. Ebd., S. 114. Steven N. Zwicker: The Cambridge Companion to John Dryden, Cambridge 2004, S. 121. John Dryden: Marriage à la Mode, a.a.O., S. 56. Ebd., S: 57.
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Hof, insofern Melantha von diesem ja schließlich akzeptiert wird.104 Melantha zeigt, wie leicht die Grenzen zwischen Bürgertum und Aristokratie verschwimmen, denn als naive Bürgerin kann sie in den Kreis der höfischen Gesellschaft aufsteigen, wohingegen die Höflinge eben jene Charakterzüge annehmen, über die sich Molières Adlige noch lustig machten. Jener modische Habitus, über den sich die Zugehörigkeit zur Elite der Gesellschaft identifiziert, machte bei Molière die beiden ‚dummen Provinzgänse‘ Cathos und Madelon lächerlich, bei Dryden hingegen auch das auf geistige Unabhängigkeit gegründete Ideal des aristokratischen ‚wit‘. Diese Transformation zeigt sich etwa im Motiv des Maskenspiels, welches bei Molière die als Edelleute verkleideten Diener Mascarille und Jodelet praktizierten: In einer vergleichbaren Maskerade bemühen sich in Marriage à la mode alle vier Figuren um ein tête-à-tête mit dem jeweils nicht-legitimen Partner, wobei sie natürlich stets vom eigentlich legitimen Ehepartner gestört werden. Dass die Satire sich bei Dryden also auch und vor allem gegen die aristokratischen Verführer richtet, dies hat Elmar Lehmann in seiner Studie zum englischen Restaurationsdrama gerade am Beispiel dieser Szenen gezeigt. Im dritten Akt haben sich sowohl Palamede und Doralice wie auch Rhodophil und Melantha verabredet, unglücklicherweise jedoch jeweils am gleichen Ort, weshalb das erwartete Werbungs- und Liebesspiel nicht stattfinden kann und die Anwesenden sich stattdessen für ihr Erscheinen rechtfertigen müssen. Dass sie sich dabei als wits ausweisen, ändert nichts an der Tatsache, daß sie allesamt nicht Herren des Geschehens, sondern Opfer ihres Versteckspiels sind: Ein „Informationsmangel“, der Drydens Höflinge nicht nur von den Aristokraten Molières – Du Grange und Du Croisy –, sondern auch von den „gentleman of the town“ bei Etheredge und Wycherly unterscheide.105 Im vierten Akt wiederholt sich diese Peinlichkeit während eines vom Hof veranstalteten Maskenballs: Rhodophil will sich ungestört mit Melantha treffen, Palamede möchte die wegen einer Krankheit angeblich daheim gebliebene Doralice besuchen. Nichtsahnend bewahrt auch hier Rodophil einen jungen Mann vor einem Streit, ohne in diesem die verkleidete Doralice zu erkennen. Zudem trifft er zufällig Palamede wieder und bittet diesen, sich weiter um den jungen Mann zu kümmern: Als dieser in einem „Eating-house“ den lästigen jungen Mann loswerden will, gibt sich die verkleidete Doralice gerade in dem Moment zu erkennen, als Rhodophil mit der ebenfalls als Mann verkleideten Melantha eintrifft. Zwar nutzen Rhodophil und Palamede jede sich bietende Gelegenheit, ihre verkleideten Begleiterinnen zu küssen, also vor den Augen des unwissenden anderen mit dessen (legitimer) Partnerin Zärtlichkeiten auszutauschen. Die Worte des Palamede:
104 „For Melantha, language is both the means and the matter of characterization. Founded most likely upon the title characters of Molières Les precieuses ridicules (1660), she reflects in excess the fashionable preoccupation with things French in Charles’s court during the first decades after his return from exile.“, vgl.: Mark S. Auburn: Introduction, in: John Dryden: Marriage à la mode, Nebraska 1981, S. XXV. 105 Vgl.: Elmar Lehmann: Ordnung und Chaos. Das englische Restaurationsdrama 1660–1685, Amsterdam 1988, S. 108.
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At least, ’twill be some pleasure to me, to enjoy what freedom I can while he looks on; I will storm the Out-works of Matrimony even before his face.106
zeigen jedoch die unfreiwillige Komik, in welcher sich auch die Gentleman befinden: Nichtsahnend, dass ihr Widersacher sie gerade in identischer Form hintergeht. Zwar wissen natürlich alle vier Figuren irgendwie, dass sie miteinander ‚Hide and Seek‘ spielen. Aber dieses Spiel beherrscht keiner, weshalb auch keiner riskieren kann, den Schauplatz dieses Spiels zu verlassen. An sein eigentliches Ziel kommt dabei freilich keiner der vier, weshalb die Maskerade letztlich nur dazu dient, die wahren Absichten der Beteiligten nach außen hin zu vertuschen. Am Ende scheinen daher alle vier erleichtert darüber, dass ihre Versteckspiele erfolglos geblieben sind. Mehr noch: Da nichts passiert ist, fällt es ihnen nicht schwer, die Ereignisse in einem positiven Sinn zu deuten und Lehren daraus zu ziehen. Doralice hat sich nur mit Palamede eingelassen, um ihren Ehemann eifersüchtig zu machen; Palamedes Werbung hat Rhodophils Appetit auf seine Frau neu geweckt; und Rhodophils Flirt mit Melantha bringt Palamede auf die Idee, daß seine zukünftige Frau wohl doch attraktiver sein muss, als er vorher bemerkt hat. Der Versuch der Aristokratie, zu einem von allen traditionellen sittlichen Geboten unabhängigen Lebensstil zu gelangen, ist also nur eine lächerliche und kurzlebige Mode. Vom Verlauf ihrer Aventüren frustriert, schließt das Quartett schließlich einen Vertrag, der diesem modischen Fremdgehen ein Ende setzt.107
Die Reetablierung der „Amour courtois“: Die Liebe zwischen Leonidas und Palmyra Der ernste Teil des Dramas, der dem Handlungsschema des heroic play folgt, ergänzt die didaktischen Ziele des komischen Handlungsstrangs durch eine positive Deutung der „amour courtoise“. Damit setzt auch Dryden eine Tradition fort, die über den Cyrus-Roman der Scudéry zu d’Urfés Astrée bzw. zur höfischen Dichtung des Mittelalters zurückführt: Auch Dryden also aktualisiert vor dem Hintergrund der dekadenten Verhältnisse am Hof das Paradigma des „amour courtois“. Entsprechend der Vorlage des Scudéryschen Cyrus-Romans ist in Drydens Komödie Polydamas, der Usurpator auf dem Thron, auf der Suche nach seinem verlorenen Kind. In dieser Situation macht sein Günstling Argaleon den König Polydamus mit dem jungen Paar Leonidas und Palmyra bekannt, welches in idyllisch-bukolischer Zurückgezogenheit in der Obhut des alten Hermogenes lebt. Leonidas, Sohn des vertriebenen alten Königs, und Palmyra, Tochter des Usurpators Polydamas, wurden gemeinsam von Hermogenes in einer einsamen ländlichen Gegend erzogen. Beide 106 John Dryden: Marriage à la Mode, a.a.O., S. 96. 107 Diese ‚proviso scene‘ wurde zu einem festen Motiv der comedy of manners und fand in Congreves The Way of the World von 1700 ihre Vollendung, vgl.: Robert D. Hume: Marital Discord in English Comedy from Dryden to Fielding, in: Modern Philology, Vol. 74, No. 3 (Feb., 1977), S. 248–272.
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wissen nichts von ihrer Herkunft und empfinden jene unschuldig-zärtliche Liebe zueinander, die uns von einer Vorform der tendresse amoureuse sprechen lässt. Aus dem Munde des Hermogenes erfährt der Usurpator Polydamus nun, dass Leonidas sein Sohn ist. Dann beginnen die Komplikationen, denn einerseits verliebt sich Güntling Argaleon in Palmyra, andererseits weigert sich Leonidas, auf Grund der dynastischen Interessen seines vermeintlichen Vaters Polydamus, dessen Favoritin Amalthea zu heiraten, da seine Liebe ebenfalls der Jugendfreundin Palmyra gilt. Obwohl Palmyra ihrerseits der Konvenienzehe zwischen Leonidas und Amalthea nicht im Wege stehen will, verspricht Leonidas ihr die Treue, was wiederum den Zorn des Polydamus hervorruft. Als dieser nun im dritten Akt beschließt, dass Palmyra zur Strafe hingerichtet werden soll, eröffnet Hermogenes dem König im letzten Moment, dass Palmyra – und nicht Leonidas – des Polydamus verlorenes Kind sei. Zudem erklärt er nun, Leonidas sei sein eigener Sohn. Diesem Identitätswandel folgt ein weiterer, denn im vierten Akt erfährt auch Leonidas seine wahre Herkunft: Er ist der Sohn des verstorbenen rechtmäßigen alten Herrschers. Auch Palmyra erfährt nun, dass ihr Geliebter der Sohn des rechtmässigen Königs von Sizilien ist. Da sie trotz ihrer Liebe zu Leonidas die gegen ihren usurpatorischen Vater gerichtete Verschwörung nicht gutheissen will, wird sie im Hause des Hermogenes gefangen genommen. Doch in diesem Augenblick werden die Verschworenen vom eintreffenden König selbst verhaftet und an dessen von Lastern korrumpierten Hof gebracht. Leonidas soll zum Schafott geführt werden, vermag jedoch einem der Wächter das Schwert zu entreissen, woraufhin er nun seine wahre Identität eines verlorenen Königssohns preisgibt. Er gewinnt rasch, nicht zuletzt durch die Unterstützung der Amalthea, welche den Geliebten um jeden Preis retten will, einen bedeutenden Anhang loyaler Soldaten, weshalb er die Partei des Polydamus niederzuwerfen vermag. In seinem Grossmut verzeiht er jedoch seinem Widersacher, welcher gar König bleiben darf, während Leonidas für sich nur die Hand Palmyras, also die Liebesehe einfordert. In diesem heroischen Teil durchläuft vor allem Leonidas einen fundamentalen Wandel: War er anfangs noch zum Tode verurteilt, so wird er schließlich zum Besieger des Polydamus, welchen er jedoch aus Liebe und Rücksicht zu dessen Tochter Palmyra begnadigt. Dabei zeichnet sich der junge Prinz vor allem durch seine Tugendhaftigkeit aus; er vollbringt keine unglaublichen Heldentaten, sondern wird schließlich gemäß der poetischen Gerechtigkeit belohnt. Der gesellschaftslose Raum, aus dem Leonidas wie die meisten Helden der heroic plays kommt, ist hier die idyllische Natur, die die Quelle seiner Tugend bildet: „nature is the same in villages,/And much more fit to form a noble issue/Where it is least corrupted.“108 Die „village“ wird in Marriage à la Mode also durch die Nähe zur unschuldigen Natur markiert und somit sowohl mit der „town“ als auch mit dem Hof, also den beiden Stätten des Lasters konfrontiert.109 Die negative Charakterisierung der Town haben wir eingangs schon erörtert, aber auch die Negativierung des Hofes ist 108 John Dryden: Marriage à la Mode, a.a.O., S. 25f. 109 Ebd.
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verständlich, da dieser ja von einem Usurpator beherrscht wird. Der Usurpator Polydamas erweist sich als blind für die Kriterien eines tugendhaften Handelns. Er lässt sich wie die Figuren des komischen Handlungsteils vom äußeren Schein leiten und kann deshalb der Palmyra, die in Wahrheit seine Tochter ist, nicht gerecht werden. Auch sein politisches Handeln, bei dem er sich lediglich auf seine Macht und auf einen falschen Günstling stützt, ist von Scheinwerten bestimmt. Gegenüber seinem vermeintlichen Vater und König vertritt Leonidas also gerade hinsichtlich der geforderten Heirat seine Willensfreiheit, die er dem Diktum des Königs entgegensetzt. Wenn Polydamas daher seinen Willen mit dem der Götter gleichsetzt, dann verkennt er die Lage entscheidend: LEONIDAS: You are a King, Sir; but you are no God; Or if you were, you could not force my will. POLYDAMUS: But you are just, you Gods; O you are just, Aside. In punishing the crimes of my rebellion With a rebellious Son! Yet I can punish him, as you do me. Leonidas, there is no jesting with To him. My will: I ne’r had done so much to gain A Crown, but to be absolute in all things.110
Aus diesen Zwängen des Hoflebens und den damit verbundenen Pflichten des Thronfolgers gibt es für Leonidas kein entrinnen, auch wenn er sich natürlich für die Liebe zu Palmyra entscheiden würde, die jenseits dieser Zwänge angesiedelt ist. Eine solche Freiheit der Liebeswahl ist für den Königssohn jedoch nicht möglich, er kann sich seiner Pflichten nicht entziehen, denn der Hof lässt diesen Verzicht nicht zu. Dies zeigt allein die Reaktion des Polydamas auf die Weigerung des Leonidas, Amalthea zu heiraten, denn er gibt nun den Befehl, Palmyra auf dem Meer auszusetzen. Vor diesem Hintergrund enthüllt nun der alte Hermogenes, dass nicht Leonidas, sondern Palmyra das Kind des Usurpators Polydamas ist: „Then, in few words, Palmyra is your daughter.“111 Allerdings wird durch diese unerwartete Wendung an der Konstellation der Figuren nichts Wesentliches verändert, wechseln Leonidas und Palmyra doch bloß die Seiten. Zudem gilt die Verpflichtung auf die Konvenienzehe nun auch der neuen Königstochter Palmyra, die auf den Befehl des Vaters Polydamas nun Amaltheas Bruder Argaleon heiraten soll: „The King this morning has injoyn’d his Daughter/T’accept my Brother’s love.“112 Zudem wird Leonidas nun von Polydamas verbannt: „First scorned, and now commanded from the Court!“113 Diese mehrfache Neudeutungen der jeweiligen Abstammung der Protagonisten betonen vor allem das Identitätsproblem der Figuren, dem nicht nur 110 111 112 113
Ebd., S. 45. Ebd., S. 68. Ebd., S. 81. Ebd., S. 79.
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Leonidas, sondern – nach der Eröffnung des Hermogenes – auch die nun zwischen Vater und Geliebtem stehende Palmyra ausgesetzt ist. Hinter all dem steht der Widerstreit von Liebe und Ehre, der nicht nur für das ‚heroic play‘ sehr kennzeichnend ist, sondern zudem den sich wandelnden Beziehungskonstellationen in parallelen und kontrastierenden Konfliktsituationen als Rahmen dient. Denn an sich ist das Liebesverhältnis zwischen Palmyra und Leonidas problemlos, da sich beide ihrer Liebe sicher sind und sich ein Leben ohne den Partner kaum vorzustellen vermögen. Auch der unverhoffte und für Leonidas gar doppelte Statuswechsel ändert nichts an dieser Gewissheit. Sowohl Leonidas als auch später Palmyra vermögen sich jedoch zugleich und unmittelbar mit der ihnen jeweils vollkommen unerwartet zukommenden neuen Rolle als Sohn bzw. Tochter des Königs zu identifizieren. Es findet also keinesfalls eine Verweigerung der Konvenienzehe statt, vielmehr fügen sich die Kinder in die Rolle, die der Hof von Ihnen verlangt, hierin durchaus der Bérénice Racines vergleichbar: POLYDAMAS: No, you shall live at court, sweet innocence, And see him there. Hermogenes, Though you intended not to make me happy, Yet you shall be rewarded for the event. Come, my Leonidas, let’s thank the gods; Thou for a father, I for such a son.[Exeunt all but LEONIDAS. and PALMYRA.] LEONIDAS: My dear Palmyra, many eyes observe me, And I have thoughts so tender, that I cannot In public speak them to you: Some hours hence, I shall shake off these crowds of fawning courtiers, And then.114
In den jeweils wechselnden Konstellationen, die Palmyra und Leonidas zu meistern haben, sind also nicht allein die äußeren Zwänge in Form der Machtposition des königlichen Vaters Polydamas, der Gehorsamspflicht des Kindes bzw. des Untertanen wirksam. Vielmehr bekennen sich die Figuren selbst zu den von ihrem Status geforderten Pflichten. Thronfolger Leonidas kann sich zwar weigern, Amalthea zu heiraten, aus Angst, dass diese Heirat ihn zerstören würde. Diese Verweigerung gilt aber immer nur vorläufig, getragen von der Hoffnung auf einen Gesinnungswandel des Vaters, der möglicherweise die Verpflichtung zu Gehorsam und Treue lockern würde. Aber es ist Leonidas unmöglich, gegen den Willen des Vaters die nichtstandesgemäße Palmyra zu heiraten, wie dies später etwa in Lessings Miss Sara Sampson der Fall sein wird. Sara kann mit Mellefont aus dem elterlichen Haus fliehen, Leonidas hingegen bleibt nur die Aussicht darauf, gemeinsam mit der geliebten Palmyra das grausame Schicksal zu beklagen: „Think not that time or fate shall e’r divide/Those hearts, which Love and mutual Vows have ty’d:/But we must part; farewell, my Love.“115 Aber auch für die Tochter Palmyra ist das väterliche Liebesverbot kein bloß äußerliches, sondern ein verinnerlichtes Hindernis: „You 114 Ebd., S. 30. 115 Ebd., S. 51.
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shall not lose a Crown for love of me./Live happy, and a nobler choice pursue;/I shall complain of Fate; but not of you.“116 Um dennoch die eigene Identität und den damit verbundenen Anspruch auf persönliche Größe zu erhalten, müssen die beiden Partner die Nobilitierung ihrer Liebe anstreben: LEONIDAS: Till the next age of hours we meet again. Meantime, we may, When near each other we in public stand, Contrive to catch a look, or steal a hand: Fancy will every touch and glance improve; And draw the most spirituous parts of love. Our souls sit close, and silently within, And their own web from their own entrails spin; And when eyes meet far off, our sense is such, That, spider-like, we feel the tenderest touch.117
In Marriage à-la-Mode wird also die Konvenienzehe aus einer doppelten Perspektive beleuchtet: Kritisch-parodistisch im komischen Handlungsstrang, tragischempfindsam dramatischen Strang. Zwar sind diese beiden Stränge nach dem poetologischen Gesetz der Stilreinheit durch Blankvers und Prosa gegeneinander abgesetzt. Aber am Schluß werden die beiden Stränge des Dramas miteinander verknüpft, wenn Palamede und Rhodophil den rechtmäßigen Thronfolger Leonidas in dessen Kampf um die Krone unterstützen. Dies impliziert nicht nur einen politischen Gesinnungswandel, sondern zugleich eine privat-moralische Bekehrung. Denn Palamede und Rhodophil beschließen gemeinsam mit ihren Gattinnen, die gegenseitigen ehelichen Pflichten zu achten, ausgehend von der finalen Einsicht, dass die Ehe die relativ ungetrübteste Form des Lebensgenusses darstellt. In Doralices Klausel bzw. „proviso“ wird diese Einigung der zwei Paare im Sinne eines politischen Vertrages festgehalten, wodurch eine Rückkehr zu den ‚vernünftigen‘ Formen menschlichen Zusammenlebens gewährleistet ist.118 Die politischen Machtkonflikte und die sexuellen Rivalitäten werden also in ein komplexes Zusammenspiel eingebunden, insofern im staatlichen und privaten Bereich vernünftige Einsichten am Ende obsiegen. So kontrastiert die zwischen Leonidas und Palmyra vorherrschende Treue jene erotischen Wechselspiele, welche zwischen den Protagonisten des komischen Teils dominieren, wie umgekehrt das eheliche Chaos zwischen den Liebenden des komischen Stranges dem politischen Chaos des heroischen Geschehens vergleichbar ist. So beleuchten sich die beiden Ebenen gegenseitig, ohne sich jedoch parodistisch aufzuheben119, ohne jedoch zugleich im Sinne der späteren comédie larmoyante zu verschmelzen. 116 Ebd., S. 50. 117 Ebd., S. 51. 118 Kathleen Lynch sah darin einen engen Bezug zur Astrée d’Urfés, vgl.: Kathleen M. Lynch: D’Urfé’s L’Astrée and the ‚Proviso-Scenes‘ of Dryden’s Comedies, in: PQ, 4, 1925, S. 302–308. 119 Vgl. dazu: Derek. Hughes, The Unity of Marriage à-la-Mode, in: Philological Quarterly 61:2, Spring 1982, S. 125–142. Diese Einheit wurde freilich zerstört, als Colley Cibber den heroischen Strang separierte und nur das komische Geschehen unter dem Titel The Comical Lovers aufführte.
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Dennoch dominiert diese Komödie eine idealisierende Normierung der amour courtoise als einer Liebe im Geiste mittelalterlich-höfischer Werte, in welcher Militärische valeurs, gesellschaftliche Brillanz und höfische Liebe ineinandergreifen. Unter Bezugnahme auf Scudérys Cyrus-Roman liefert auch Dryden seinem Publikum ein spezifisches Identifikationsangebot, das den Roman, zusammen mit dem happy end der Handlungsstrukturen, der Wunscherfüllungswelt des Märchens annähert: Ein idealisiertes Wirklichkeitsmodell, das als kultureller Speicher und Gedächtnis Kontinuität und Partizipation am Vergangenen garantiert. Scudérys Cyrus-Roman verschreibt sich also jener von Henriette Goldwyn sogenannten Bewahrung und Konservierung, er bildet den markanten Schlusspunkt einer Gattungsentwicklung, die vom höfischen Roman des Mittelalters bis zum Anbruch des modernen Romans die Evolution der narrativen Fiktion dominiert.120 Dryden dagegen eröffnet mit seiner restoration comedy zumindest aufgrund der Mixtur aus komischen und tragischen Elementen den Weg zu jener Gattungsvermischung, wie sie das 18. Jahrhundert bis hin zu Voltaire intensiv diskutieren und kreieren wird. Wir wissen heute Dank einer schon etwas älteren Studie von Trusten Wheeler Russell, dass der entscheidende Einfluss auf das Theater Voltaires weniger von Shakespeare, denn vielmehr von John Dryden ausging.121 Dies verdeutlicht auch jener Kommentar Voltaires zu Dryden aus einem Brief an den britischen Kaufmann und Diplomat Sir Everard Fawkener, ein Widmungsschreiben bzgl. der Voltaireschen Tragödie Zaire, dass entsprechen vor dem Hintergrund der für Voltaire einflussreichen Racineschen Tragödie Bérénice zu folgender Einschätzung kommt: Votre Dryden, qui d’ailleurs était un très – grand génie, mettait dans la bouche de ses Héros amoureux, ou des hyperboles de Rhétorique, ou des indécences; deux choses également opposées à la tendresse.122
La cour et la ville, oder: Zärtlichkeit als Indikator einer frühen Gentrifizierung Wir haben in diesem ersten Kapitel die Zärtlichkeit aus dem Kontext der Galanterie abgeleitet. Die Zärtlichkeit erwies sich somit als ein Paradigma, das eine Erlernbarkeit zärtlich-galanten Verhaltens im Sinne einer Nachahmung bezeichnet. Eben dadurch stellt sich natürlich auch die Frage nach der interkulturellen Vermittlung dieses Paradigmas, insofern wir von einer Genese der Zärtlichkeit im Frankreich des 17. Jahrhunderts und einer imitierenden Akkulturation in England und Deutschland ausgehen. Zwar werden wir in dieser Studie zeigen, dass sich eine Kultur der Zärtlichkeit unter dem französischen Eindruck sowohl in England als 120 Henriette Goldwyn: Conversation et contestation. Étude des digressions narratives et discursives de „Grand Cyrus“, Diss. New York 1985; Dies., Types de rapports amoureux dans „Le Grand Cyrus“, in: Actes de Baton Rouge, Hg. S. A. Zebouni, Paris u. a. 1986, S. 320–330. 121 Trusten Wheeler Russell: Voltaire, Dryden and Heroic Tragedy, New York 1946. 122 Oeuvres complétes de Voltaire: Vie de Voltaire, Band 12, Bruxelles 1828, S. 235.
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auch in Deutschland entwickelte. Wir haben jedoch mit Norbert Elias dezidiert zwischen den fortschrittlichen Kulturen England und Frankreich und einem eher rückschrittlichen Deutschland zu unterscheiden, welches angesichts der verheerenden Folgen des 30jährigen Krieges seit dem 17. Jahrhundert niemals jene Formen einer absolutistischen Hofkultur entwickelte, wie sie parallel in England und Frankreich als den kulturell führenden Nationen Westeuropas entstanden. Anders gesagt: Der Zivilisationsprozess ist in Westeuropa ein keineswegs homogener Prozess, der sich in diesen führenden drei Ländern vergleichbar stark entfaltet hätte. Beispielhaft für diesen Prozess sind im Grunde nur England und Frankreich: „Es bildet sich da am Hofe eine Art von Gesellschaft“, so schreibt Elias im zweiten Teil vom Prozess der Zivilisation, die „in Deutschland fast nie, allenfalls in ihrer Weimarer End- und Übergangsform, zu ganz zentraler und entscheidender Bedeutung gelangt ist.“123 Dass diese für die Überlegungen und das Erkenntnisinteresse von Elias sehr zentrale Einschränkung so ausgesprochen häufig überlesen worden ist, dürfte wohl mit der Tatsache zu tun haben, dass die zahlreichen im Prozess der Zivilisation genannten Indizien der Zivilisierung – Messer und Gabel, Taschentuch, Nachthemd, separate Toilette usw. – selbstverständlich auch im Deutschland des 17. und 18. Jahrhunderts Einzug hielten. Was jedoch in eben diesem Zeitraum in Deutschland sicherlich nicht kultiviert wurde, das war die sukzessive Ablösung eines ritterlichen Adels, wie ihn die Renaissance und das frühe Barockzeitalter noch kannte, durch eine politisch wirkmächtige aristokratische Oberschicht. Die Paradigmen der Höflichkeit und der Galanterie wurden zwar als Moden auch in Deutschland rezipiert, erlangten aber – anders als in England und Frankreich – niemals eine vergleichbar repräsentative gesellschaftliche Evidenz. Dies liegt an dem von Elias umfangreich beschriebenen Monopolmechanismus, der in Deutschland erst mit der „Territorialmacht der Hohenzollern“ zu einem Abschluss gefunden habe.124 123 Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation, a.a.O., S. 4. 124 Solange man demnach den Prozess der Zivilisation an den im ersten Teil der Studie umfangreich beschriebenen Indikatoren – Gabel, Nachthemd, Taschentuch – orientiert, gibt es keinen Grund zu einer einschränkenden Differenzierung. Wenn man hingegen den Monopolmechanismus als Indikator des Zivilisationsprozesses veranschlagt, dann dürfte dem Urteil von Elias zuzustimmen sein: Die Etablierung einer aristokratischen Oberschicht und ihrer an der Etikette – nicht am Schwert – orientierten Macht vollzog sich im deutschsprachigen Raum wohl tatsächlich weit später. Zur Diskussion steht also nicht das Schneuztuch oder der Gebrauch von Essbesteck. Zur Diskussion steht aber jener Prozess, nach welchem die noch im Mittelalter wirkenden Konkurrenzkämpfe zwischen kleineren und größeren Territorialherren in das Machtmonopol einzelner Fürsten mündeten, deren als Loyalität begriffene Vernetzung schließlich zu einem Staatsgebilde führte, „bei dem die Monopole zum Nutzen und im Sinne des ganzen Menschenverbandes verwaltet werden.“ (Ebd., S. 153.) Dieser Monopolmechanismus – und nicht die genannten Werkzeuge des Benehmens – stellt für Elias den eigentlich entscheidenden Indikator des Zivilisationsprozesses dar. Denn nur an diesem lässt sich jener interkulturelle, an den drei wichtigsten Nationen Westeuropas orientierte Vergleich festmachen, um den es Elias geht. Warum dem so ist, kann man angesichts der Entstehungsbedingungen dieser Studie leicht nachvollziehen: Über den Prozess der Zivilisation entstand 1939, die Studie wurde verfasst von einem Soziologen jüdischer Herkunft, der schon 1933 nach Paris sowie später nach England emigrierte, also die ersten Auswüchse der Hitler-Diktatur deutlich vor Augen hatte. Wie fünf Jahre vor ihm Helmuth Plessner
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Weit wichtiger ist jedoch eine andere Differenz, die sich aus dem beschriebenen Phänomen der Galanterie und deren Verfremdung im Namen der Preziösität ergibt. Denn den Hintergrund der satirischen Kritik an der Preziösität bildet nach Einschätzung Erich Auerbachs eine ab Ende der 1750er Jahre neu zu beobachtende Nähe zwischen dem Hof und der Stadt, die Auerbach auf die berühmte Formel la cour et la ville konzentrierte. Mit „la cour“ ist nach Auerbach der Hof bzw. die Umgebung der Königs gemeint, die entsprechend der „Fronde“ vom eigentlichen Adel abgegrenzt wird. Dagegen bezeichnet der Begriff „la ville“ einen ganz bestimmten Teil der städtischen Bevölkerung, der sich bei Molière, Ménage und Boileau auch als „großstädtische Gesellschaft“ bezeichnen ließe. Dabei geht Auerbach davon aus, dass die „geistigen Kräfte“ im frühen 17. Jahrhundert nicht vom Hof ausgingen, da die „Gruppe von Mme de Rambouillet, die die Preziösenkultur schuf, […] sich bewusst vom Hof fern“125 hielt. In der ersten Jahrhunderthälfte, „wo Rationalismus, Sprachreform, Preziösentum, romanesker Heroismus, tendresse nebeneinander und durcheinanderwirken“126, könne also noch nicht von der Allianz zwischen dem Hof und der Stadt gesprochen werden. Dies ändere sich zu jenem Zeitpunkt, an welchem auch wir die Theatergeschichte der Zärtlichkeit einsetzen lassen, also ab dem Regierungsantritt Ludwigs XIV. um 1660, denn nun sei von einem Primat des höfischen Einflusses auszugehen. Die für die Komödien Molières sehr signifikante Formel la cour et la ville zeuge demnach von einer Allianz mit dem damals noch jungen König Ludwig, die sich im Streit um Molière gegen die altaristokratische Gesellschaft der preziösen Salons bzw. ruelles wende, also jenem adligen Personenkreis der robes. Dagegen stünden auf Seiten Molières nach Auerbach nicht nur der junge Ludwig, sondern auch das in Die verspätete Nation und später dann Thomas Mann im Doktor Faustus, so begriff auch Elias die deutsche Staatsbildung als einen tragisch verspäteten Prozess. Wenn er zudem in seinen seit den 1960er Jahren entstandenen Studien über die Deutschen den Sieg Preußens über Frankreich von 1870/71 als einen Sieg des „Hof- und Militäradels“ über das deutsche Bürgertum begriff, dann wird überdies deutlich, dass Elias diese Staatsbildung in Deutschland auf das Wirken eines Militäradels zurückführte. Da jedoch der eigentliche Zivilisationsprozess in Frankreich u.a. durch die „Verhöflichung der Krieger“ gekennzeichnet war – an Stelle eines „Kriegeradels“ trete ein „gezähmter“, weil „höfischer Adel“ (Ebd., S. 353.) –, wurde zweifellos die im Prozess der Zivilisation entfaltete Problematik in den Studien über die Deutschen weitergedacht. Das heißt: Der Zivilisationsbruch der Hitler-Diktatur, der sich im 20. Jahrhundert vollzog, zeichnete sich im Grunde schon im 18. Jahrhundert ab. Ersichtlich wird dies bereits in der Einleitung des ersten Bandes vom Prozess der Zivilisation, welche mit Blick auf die Epoche der Aufklärung einer am Zivilisationsideal orientierten französischen Nation die am Kulturideal orientierte deutsche Nation gegenüberstellt. Entscheidend ist für Elias die vergleichsweise schwache Position des deutschen Bürgertums: Dieses findet – anders als in Frankreich – keinen Zugang zu dem zentralen Vertreter politischer Macht. Es gibt keinen Konnex zwischen dem noch in französischer Sprache korrespondierenden Friedrich II. und jener „kleinen, machtlosen, mittelständischen Intelligenzschicht“, welche die Idee einer deutschen Kulturnation ab der Mitte des 18. Jahrhunderts zu entwickeln versuchte. Damit aber fehlt es jenen humanistischen Idealen, wie sie von Lessing über Kant bis hin zu Schiller und Goethe entfaltet werden, an realpolitischem Einfluss. 125 Erich Auerbach: La cour et la ville, in: Ders.: Vier Untersuchungen zur Geschichte der französischen Bildung, Bern 1951, S. 14–50, hier S. 17. 126 Ebd.
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große Publikum (das parterre), die ab 1660 einsetzende „Kultureinheit“127 resultiere also aus dem Bündnis des Königs bzw. des Hofes mit einer sehr spezifischen Schicht der städtischen Bevölkerung, die sich gleichermaßen gegen das Preziösentum und die Pedanterie richteten. Die „ville“ werde also durch altbürgerlich-solide und sehr wohlhabende Familien repräsentiert, die sich gegen einen alt-aristokratischen Manierismus wenden, zugleich aber nach einer Art Verschmelzung mit der höheren höfischen Gesellschaft strebten. Dieser Polarisierung entspricht die von Auerbach skizzierte Situation des Adels, der sich nach Auerbach in einem seit dem späten Mittelalter und der Renaissance einsetzenden Prozess zunehmend entmächtigt sah, also nur noch ein psychologisches, auf Überlieferung beruhendes Ansehen, aber keine wirkliche Macht mehr besaß: Ein „Stand ohne Funktion“128. Auch die nun einsetzende Käuflichkeit der Ämter sei Indiz für die schwindende exklusive Amtsmacht des Adels. Vor diesem Hintergrund entstand in den Salons der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts ein neuer, auf einem nun einsetzenden Bildungsgedanken sich gründender und von Geburt unabhängiger Adel, der sich etwa im von Mme de Rambouillet geschaffenen Salon zeige, der an die Stelle des großen Saales der weltlichen und geistlichen Fürsten trete.129 Ihr Kreis besteht zwar aus Gruppen der höchsten Aristokratie und den bekanntesten geistigen Personen, es existiert hier jedoch keine Hierarchie im Sinne einer ständischen Ordnung, sondern die honnêteté als Persönlichkeitsideal, welches prinzipiell von jedem zu erwerben ist. La cour ist demnach ein funktionsloser Adel mit der nach wie vor geltenden Ettikette der Macht, la ville dagegen keineswegs das Volk bzw. die gewerbetreibende bourgeoisie, sondern das neue Großbürgertum, also die Gebildeten, die nicht durch bloße Geburt hoffähig sind.130 Etwas anders ist die Entwicklung nun offensichtlich in England, wie wir am Beispiel von Dryden schon sahen. Denn Dryden entwickelte eine Trias, die sich signifikant von der Auerbachschen Formel „La cour et la ville“ unterschied: „The Town, the City, and the Court“. Harold Love datierte die Entstehung dieser deutlichen Unterscheidung von City und Town auf die Zeit zwischen 1660 und 1700, denn nun lasse sich die „Town“ sowohl demographisch als auch soziologisch bzw. mentalitätsmässig genauer charakterisieren.131 Zu den Zeiten Shakespeares also gab es noch keine „town“, London galt als city, die mit ihren ‚suburbs‘ identisch war. Zwischen dem Court in Westminster und der City lag demnach jener „open space“, 127 128 129 130
Ebd., S. 20. Ebd., S. 40. Ebd., S. 37. Dieses Großbürgertum ist nach Einschätzung Auerbachs nur noch zum Teil gewerbetreibend, wichtiger ist der Teil, der la robe, also den Amtsadel bildet. Der honnête homme gewinnt demnach durch Ämterkauf seinen Status, er neigt zur Klassenflucht bzw. zur Flucht aus dem produktiven Erwerbsleben, löst sich von seiner ständischen Grundlage, beschränkt das eigentliche Berufsleben auf ein Minimum und wendet sich verstärkt den beamteten Berufen zu. Und aus dieser Schicht resultiert die Zärtlichkeitsidee, welche dann im Sinne der skizzierten Entwicklung von Molière parodiert wird. 131 Love: Dryden, Rochester, and the invention of the town, a.a.O., S. 36.
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der sich erst im weiteren Verlauf zur „town“ entwickelte, bestehend etwa aus St. Martin’s, the Haymarket, Windmill Street oder Covent Garden. Und hier entstand nun jene „social class of the Town“132, die sich aus der „lower aristocracy“ und dem „wealthier country gentry“ zusammensetzte, die nun zu „urban dwellers“ wurden, wohingegen die „upper aristocracy“ schon ihre großen Häuser in der Stadt besaß. Die town geht also aus dem „migrating gentry“ hervor und wurde so zur kulturellen Metropole. Dieser Prozess der Gentrifizierung in einem sehr wortwörtlichen Sinne führte nun jedoch auch zu neuen „patterns of sociability“, die sich nach Einschätzung Loves sowohl vom „Court“ als auch von der „City“ unterscheiden. Ein Beispiel dafür ist nach Love der Besuch bzw. the „visit“, wie er Dryden’s „townlady“ Melantha auszeichnet: „The most eternal Visitor of the Town.“ Am wichtigsten ist nach Ansicht Loves jedoch das Theater, inwofern er dieses gar als „Town Senate“ beschreibt. Im Theater wurde darüber befunden, wie man sich in der neuen Town zu verhalten habe, was Love an eben jener Komödie Drydens belegt, die wir zuvor als erste Annäherung an die Kultur der Zärtlichkeit diskutierten: Marriage à la Mode. Diese Komödie ist für die Erfindung der town also deshalb so wichtig, weil sie in der Figur der preziösen Melantha eine Town-Lady darstellt, die sich in „style and manners“ am „Court“ orientiert. Sie ist also als Town-Lady zugleich eine Repräsentantin der Preziösität im negativen Sinne, aus welcher sich jedoch zugleich die ersten Ansätze einer Positivierung unserer Thematik erkennen ließen. Kurz: Die Gentrifizierung ist zugleich die Grundlage einer nun auch im England der Stuart-Monarchie zu beobachtenden Galanterie, die zwar unter dem Vorzeichen der Preziösität steht, aber zugleich die Town und deren neuen Habitus prägt. In seinem Essay mit dem Titel „Drydens London“ formulierte Love dies wie folgt: The most important new development, inaugurated well before the Fire, which mostly spared it, was the long-delayed settling of the West End in the open spaces between the City and Westminster. James I and Charles I had discouraged building in this area because they wished to keep the landed aristocracy and gentry in the country, performing their necessary functions of local government and political control. Once the obstacle was removed, many such families did exactly what had been feared by becoming urban dwellers for substantial parts of the year, returning to their estates only in the summer. Avoiding the City, they purchased houses in the newly created squares and streets that even today, in many cases, bear the name of entrepreneurs of the reign of Charles II. It is important to realise that this internal migration was an act of colonization, by the gentry, of a metropolis that had until that time been the preserve of the manufacturing and mercantile classes. Its effect was to create a second urban entity, contiguous with but distinct from the older one and outside its system of government. Dryden was himself one such colonizer.133
Ich betone diese wichtige Beobachtung Loves, weil wir in der Hochphase der Empfindsamkeit natürlich eine wahre Blüte der Landadligen bestaunen können, und 132 Ebd., S. 37. 133 Harold Love: Dryden’s London, in: Steven N. Zwicker (Hg.): The Cambridge Companion to John Dryden. Cambridge 2004, S. 113–130, hier S. 116.
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zwar sowohl in England und Frankreich als auch – mit gewisser Verspätung – in Deutschland. Der von Love bemerkte Prozess lässt sich also auch in Deutschland, aber erst ab der Mitte des 18. Jahrhunderts beobachten. Zuvor realisiert sich der Kulturimport der galanten tendresse in einem ganz anderen Milieu, wie Jörn Steigerwald am Beispiel von Christian Thomasius verdeutlichte. Denn bei Thomasius vollzog sich die Rezeption der Galanterie im Rahmen von Vorlesungen, die Thomasius an den Universitäten Leipzig und Halle gehalten hat. Eine solche „Vorlesung über die Galanterie“ müsse jedoch „aus französischer Perspektive als performativer Widerspruch erscheinen, da bereits der Ort, der Vorlesungssaal, aber auch die Diskursform, die Vorlesung, dem eigenen Verständnis entgegenstehen, das der Galanterie den Salon und das Gespräch zuordnet.“134 Das Paradox verweist nach Steigerwald auf eine grundlegendere deutsch-französische Differenz, da die höfische Gesellschaft in beiden Ländern Norbert Elias zufolge gerade in diesem Punkt unterschiedliche Konfigurationen ausbildet. Jene skizzierte Zentrierung auf la cour et la ville in Frankreich weiche also einer „Universität und Hof verbindende[n] Kultur in Deutschland.“135 Diese Diskrepanz zeige sich im Werk des Philosophen und Rechtsgelehrten Christian Thomasius, der sich als wohl erster deutschsprachiger Autor intensiv mit der Galanterie auseinandergesetzt hat. Neben der Vorlesungsankündigung Von der Nachahmung der Franzosen von 1687 ist dies vor allem in Texten aus der Sammelpublikation Kleine Teutsche Schriften sowie den Monatsgesprächen erkennbar, die Thomasius zwischen 1688 und 1689 erstmals in deutscher Sprache publiziert. Auch des Thomasius Schriften zur Liebesethik – etwa die Abhandlung Einleitung zur Sittenlehre von 1692 – sind nach Steigerwald von der Rezeption der Galanterie geprägt. Thomasius kommt also die herausragende Rolle im Prozess des deutsch-französischen Kulturtransfers zu, die wiederum in engem Bezug zu dem Versuch steht, das Ansehen der Gelehrten bei Hofe zu stärken bzw. die „Überwindung der bisher weitgehend getrennten Bereiche von Gelehrtentum und Hofstaat“136 voranzutreiben. Vor diesem Hintergrund ist sein Plädoyer für eine „vernünftige Liebe“ zu sehen, die freilich in einer aus französischer Perspektive paradoxen „Anleitung zur Galanterie“ mündet. Zwar vermeidet Thomasius in der Vorlesungsankündigung Von der Nachahmung der Franzosen den Gestus des Gelehrten und Didaktikers dadurch, dass er ganz bewusst die Rolle des Kulturvermittlers übernimmt. Dennoch aber lasse sich hier eine Ablösung „der nicht-diskursiven Ethik zugunsten der diskursiven Ethik“137 erkennen. So entstehe also in Thomasius’ Werk eine Verschiebungen innerhalb des galanten Dispositivs. Anders ist dies in jener Epoche, in welcher die Empfindsamkeit einsetzt. So etwa spielt Lessings Miss Sara Sampson im Landadel, ebenso Gellerts Die schwedische Gräfin, aber auch seine zärtlichen Schwestern. Und natürlich sind die aristokratischen Häuser des landed gentry im Roman der Empfindsamkeit das zentrale setting, 134 135 136 137
Steigerwald: Galanterie, a.a.O., S. 41. Ebd. Ebd., S. 221. Ebd., S. 337.
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wenn wir an Pamela, an La nouvelle Héloise, an Paul et Virginie oder Sense and Sensibility denken. Der Typus des empfindsamen Landadligen ist von der unmittelbaren Notwendigkeit zur Arbeit ebenso entlastet wie vom Zwang zur höfischen Rationalität und deren Herrschaftsstrukturen. Ihm gestalten sich Freiräume, die zur Entwicklung der zärtlichen Interaktion von zentraler Bedeutung sind, was auch und vor allem in der eigentlichen Blütezeit der Zärtlichkeit um Deutschland der 1750er Jahre zu erkennen ist, in welcher sich der Zärtlichkeitsdiskurs nun nicht mehr an der Universität abspielte. Dies hat jedoch zur Folge, dass die Galanterie – anders als bei Thomasius – nun nicht länger als Quelle, sondern allenfalls als Gegenbeispiel einer nun ins eigene kulturelle Dispositiv überführten Zärtlichkeit fungiert: Eine überaus folgenreiche Verdrängung der französischen Ursprünge der tendresse. Dies zeigt etwa der 1753 von Christian Nicolaus Naumann veröffentlichte Essay Von der Zärtlichkeit, nebst Seips Gedanken von der Zärtlichkeit in der Religion, in welchem die „ersten Linien der Zärtlichkeit“ skizziert werden.138 Denn bei Naumann werden die „ersten Linien der Zärtlichkeit“ nicht aus der Galanterie, sondern „aus dem Erhaltungstriebe hergeleitet“, welcher sich in die beyden grossen Aeste der Liebe gegen sich und gegen seines gleichen theilet, aus welcher die feineren Empfindungen als so viele biegsame Zweige hervorsprossen: So ist leicht zu ermessen, daß diese leztern hauptsächlich aus der Wohlbeschaffenheit des Herzens, oder vielmehr aus der innern Güte einer belebteren Blutmischung den ersten Hub ihres Wachsthums erhalten, nicht anders, als die Saftröhren der duftenden Rose. Zur Zärtlichkeit ist es so wenig genug, dem andern überhaupt gewogen zu seyn, als es zur Liebe und zur Freundschaft genug ist, gerne mit dem andern umzugehen.139
Auch in den 1755 entstandenen und anonym verfassten Gedanken von der Zärtlichkeit140 findet sich die Galanterie nicht mehr. Stattdessen beginnt diese Abhandlung mit einer Widerlegung einer an den Anfang gestellten These: „Seit dem sich die Teutschen bemühet haben, zärtlich zu seyn, sind sie Weichlinge geworden.“141 Ganz im Gegenteil sei die Zärtlichkeit eine Folge der allgemeinen Menschenliebe, fange aber erst da an, wo die allgemeine Menschenliebe aufhöre. Denn in dem „Stande blos natürlicher Empfindungen, und so lange das Herz nicht durch die Kunst ist ausgebessert worden, fühlen wir niemals bey fremdem Glück oder Unglück so viel als bei unserm eigenen.“142 Zärtlichkeit wird also im Freund noch explizit als eine Form der Interaktion, als ein Fremdverhältnis definiert, welches die innere Distanz zur reinen „Selbstliebe“ impliziert, also auf der Fähigkeit basiert, „gleiche Empfindungen von seinen eigenen Schicksalen und von fremden“ zu ha138 Georg Christian Nicolaus Naumann: Von der Zärtlichkeit, nebst Seips Gedanken von der Zärtlichkeit in der Religion, Erfurt 1753. 139 Vgl.: Ebd. 140 Gedanken von der Zärtlichkeit, in: Der Freund, Bd. 2, Oettingen 1755, 45. Stk., S. 699–714. 141 Ebd., S. 699. 142 Ebd.
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ben. Zugleich aber ist die Zärtlichkeit vom Mitleid zu unterscheiden, da sie „in ihren Empfindungen viel vollkommener“ sei „als jene allgemeine Neigung zu allen unseren Nebenmenschen“143, als welche eben das Mitleid gilt. Es gehe auch nicht um die „flüchtige Bewunderung eines schönen Gegenstandes“, sondern um mehr: Die wahre Zärtlichkeit ist eine Folge der Hochachtung; und Hochachtung setzt verdienste zum voraus. Man kann also nur gegen den zärtlich seyn, der geliebt zu werden verdient. Der Mangel der Hochachtung ist die Ursache so vieler unbeständiger Freundschaften.144
Das ist zwar von den Überlegungen de Scudérys, also von der Orientierung der Zärtlichkeit an Wertschätzung, Zuneigung und Dankbarkeit, nicht weit entfernt. Entsprechend nennt der anonyme Verfasser auch zwei Bedingungen der Hochachtung als Form, einen Freund „schätzbar“ zu machen: „Seine freudige Bereitwilligkeit unser Glück zu befördern, und seine Fähigkeit unser Herz zu bessern.“ Zudem kommen auch die „Regungen der Dankbarkeit“ hinzu, sodass der Verfasser letztlich schlußfolgern kann, dass diese Zärtlichkeit „weit von der Schwachheit entfernt“ sei, vielmehr als „Quelle der erhabensten Handlungen, der Großmuth und des wahren Heldenmuthes“ sei.145 Aber dennoch fehlt es in diesen Abhandlungen an jener noch für Thomasius kennzeichnenden diskursiven Markierung der Zärtlichkeit als eines importierten kulturellen Dispositivs. Und nur deshalb konnte sich die so einflussreiche These etablieren, dergemäß die zärtliche Empfindsamkeit eine im aufstrebenden deutschen Bürgertum erstmals entwickelte Gefühlskultur gewesen sei. Die skizzierte Genese lässt jedoch eine gänzlich konträre Schlussfolgerung zu: Die Empfindsamkeit scheint – der einflussreichen Studien Gerhard Sauders zum Trotz – wohl doch eine „im Kern unbürgerliche Erscheinung“, wie schon Lothar Pikulik unterstellte. Eben dies jedoch gilt es nun eingehender zu prüfen.
143 Ebd., S. 701. 144 Ebd., S. 704. 145 Ebd., S. 707.
II.
DIE TRAGÖDIE DER ZÄRTLICHKEIT:
Von der tragédie tendre zur empfindsamen Herrschertragödie Racines Tragödie ist unser Ausgangspunkt, wenn wir nun die Frage nach dem Zärtlichkeitsmotiv im Rahmen der Tragödie in den Blick nehmen. Wir fragen dabei nach dem Übergang von der amitié tendre hin zur tendresse amoureuse, und wir gehen davon aus, dass sich dieser Übergang auf dem französischen Theater ereignete. Dieses Theater des 17. Jahrhunderts begreifen wir mit Doris Kolesch als ein „Theater der Emotionen“1, also als ein unter Ludwig XIV. forciertes Forum „Höfischer Emotionalität“2. Kolesch begriff die höfische Gesellschaft als eine „société de plaisirs“3, bei welcher bestimmte „Techniken der Gefühlserzeugung“4 bzw. eine „höfische Choreographie der Emotionen“5 zu den „performativen Praktiken am Hof Ludwigs XIV.“6 zählten: Wir haben dies in unserer Einleitung bereits genauer erläutert. Eine präzisere Untersuchung der Einflüsse des galanten Diskurses auf die französische Tragödie des 17. Jahrhunderts lieferte die Arbeit von Carine Barbafieri mit dem Titel Atrée et Céladon, in welcher La galanterie dans le théâtre tragique de la France classique (1634–1702) im Zentrum steht.7 Barbafieris zentrale Frage war, wie die Tragödie galant werden bzw. die Galanterie die Tragödie so transformieren kann, dass die Tragödie noch als solche erkennbar bleibt und zugleich den neuen Idealen der ‚esthétique galante‘ genügt. Denn zweifellos impliziert dieser an sich paradoxe Vorgang auch für ein Theater der Zärtlichkeit ein grundlegendes Problem: Lässt sich der zärtliche Ton, wie ihn der Barockroman entwickelte, auch auf die Tragödie übertragen? Barbafieri untersuchte diese Frage nicht nur im Tragödienwerk von Pierre Corneille, Thomas Corneille und Jean Racine, sondern auch anhand der Librettisten Philippe Quinault und Isaac de Benserade. Zudem datierte Barbafieri den Beginn der ‚galanten Tragödie‘ auf 1630, wohingegen wir den Beginn der tragédie
1 Vgl.: Doris Kolesch: Theater der Emotionen. Ästhetik und Politik zur Zeit Ludwigs XIV., Frankfurt am Main New York 2006. 2 Ebd., S. 43ff. 3 Ebd., S. 63. 4 Ebd., S. 85–95. 5 Ebd., S. 95–105. 6 Ebd., S. 43ff. 7 Carine Barbafieri: Atrée et Céladon. La galanterie dans le théâtre tragique de la France classique (1634–1702). Rennes, 2006.
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tendre mit Racine, also um 1670 einsetzen lassen.8 Mit Barbafieri ist jedoch davon auszugehen, dass die heroische Tragödie im Sinne Corneilles sich bereits in einem Transformationsprozess befand, als Racine in den 1660er und vor allem 1670er Jahren dieses Genre in Richtung der Liebestragödie weiter entwickelte. Schon der französische Dichter und Librettist Philippe Quinault hatte in seinen Tragikomödien der 1650er Jahre den Focus auf die Motivik der unglücklichen Liebe gelegt, also die tendresse amoureuse erarbeitet und dann für die neu entstehende französische Oper, also in seiner ab 1670 einsetzenden Zusammenarbeit mit dem italienischen Komponisten Jean-Baptiste Lully weiter entwickelt. Quinault begann seine literarische Karriere unter dem starken Eindruck der Prezieusen: Sein erstes Theaterstück, die Komödie Les Rivales, wurde im Jahre 1653 in jenem Hotel de Bourgogne uraufgeführt, in dem Quinault in Anlehnung an die erläuterten Ideen der ‚Carte du Pays de Tendre‘ auch in den folgenden Jahren eine Reihe von Komödien, Tragikomödien und Tragödien inszenierte. Entsprechend früh wurde Quinaults Aufstieg in einem ätzenden Kommentar in Somaize’ Grand dictionnaire des Précieuses auf die geschickten Plagiate anderer preziöser Dichter bzw. die Fähigkeit zurückgeführt, der Damenwelt in den Salons mit seinen „Liebesthemen“ und seinen „galanten Umgangsformen“ zu schmeicheln.9 Auch Boileau verhöhnte Quinault in seiner dritten Satire, in seinem Theater der Liebe sprächen die Helden wie Schäfer und sagten alles – auch „Ich hasse dich“ – in einem zärtlichen Ton: „jusqu’a je vous hais, tout s’y dit tendrement.“10 Boursault hingegen lobte Quinault in seinem Lettre à la Reine von 1669 mit den folgenden Worten: C’est un Auteur doux, agréable, A qui la scène est redevable; Il ecrit toujours tendrement, Il conjugue amour galamment.11
Als Quinault 1657 von den Salons hin zum Hof wechselte, hatte er also längst den Ruf eines Experten in Sachen Preziösität inne, und schon zu dieser Zeit war deren Bewertung keinesfalls von der Eindeutigkeit der Molièreschen Satire geprägt: 1662 etwa formulierte der französische Schriftsteller Jean Chapelain mit Blick auf die ersten Tragikomödien Quinaults: „C’est un poète sans fond et sans art, mais d’un beau naturel, qui touche bien les tendresses amoureuses.“12 Patricia Howard ver8 Wir verwiesen zudem in der Einleitung auf die Arbeit von Evelyne Méron zum Tendre et cruel Corneille, die ein „sentiment de l’amour“ in Corneilles Dramen Le Cid, Horace, Cinna und Polyeucte untersuchte und Corneille von der „reverence traditionnelle envers la grandeur du ‚heros tragique‘“ befreite, vgl.: Evelyne Méron: Tendre et cruel Corneille, a.a.O., S. 11. 9 Siehe dort den Eintrag ‚Quirinus‘ in: Antoine Baudeau, sieur de Somaize: Le grand dictionnaire des précieuses ou la clef de la langue des ruelles (1661) Band 1, hg.v. Ch. L. Livet, Paris 1856, S. 203–204. 10 Nicolas Boileau-Despreaux: Satire III, 1. 188. See also Satire II, 1. 19–20: ‚Si je pense exprimer un Auteur sans defaut, I La raison dit Virgile, et la rime Quinault.’ 11 Boursault: Lettre à la Reine, in: Lettres de respect, d’obligation et d amour (Paris 1669), p. 25–26. 12 Johannes Baptist Augustinus Buitendorp: Philippe Quinault: sa vie, ses tragédies et ses tragi-comédies, Paris 1928, S. 44f.
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wies in diesem Zusammenhang auf jene dem Thema Liebe gewidmeten Fragebögen, wie sie im Umfeld der Damen am Hof der Anne d’Autriche, Mutter des noch minderjährigen Ludwig XIV. und somit Regentin von Frankreich, etwa deren Hofdame Charlotte de Bregy gestellt und Quinault zu beantworten hatte.13 Diese Fragen sind zweifellos aus der Tradition der im ‚Hôtel‘ de Rambouillet kultivierten „Jeux de conversation & d’esprit“ hervorgegangen, wie sie Charles Sorel in seiner Maison des Jeux beschrieb.14 Während jedoch die von Sorel aufgeführten divertissemens wie etwa die „Jeu du mariage“ im Sinne einer honneste conversation die Selektionskriterien einer Konvenienzehe galant erörterten, fragen die am Hof kursierenden Fragebögen nun nach echten Gefühlen im Sinne der tendresse amoureuse: Was sollte man tun, wenn das Herz in die eine Richtung und der Verstand in die andere will? Verursacht die Anwesenheit eines geliebten Menschen eher Freude oder Schmerz, wenn dieser geliebte Mensch mit Gleichgültigkeit reagiert? Sollte man jemanden hassen, wenn dieser die dargebotene Liebe nicht erwidert? Ist es schlimmer, jemanden zu lieben, der gleichgültig gegenüber der Liebe ist, oder jemanden, der einen Rivalen liebt?15 Die Fragen und Konversationsspiele in den Salons der Preziösen sind also quasi die gemäßigteren Vorläufer der nun am Hof der Anna von Österreich kursierenden Fragebögen. Wie wichtig wiederum der Einfluss dieser Fragebögen auf die Dramen zur Zeit Ludwigs XIV. war, betonte schon Hellmuth Petriconi, der in seiner Deutung der Bérénice Racines diese Fragebögen heranzog. Petriconi bezog also den Grundkonflikt der Bérénice auf eine dieser ‚questions d’amour‘ und deutete die Lösung der Entsagung bzw. des Verzichts als eine pointierte und geistreiche Antwort.16 Dieser Einfluss der den Ruelle-Salons entstammenden und am Hofe der Anna von Österreich weiterentwickelten Liebeskonversation auf die Dramen und Opern am Hof Ludwigs XIV. dürfte zu Beginn der 1670er Jahre seinen Höhepunkt erreicht haben: 1671 schufen Lully und Molière die Ballett-Tragödie Psyché, für die neben Pierre Corneille auch Philippe Quinault als Librettist für die Divertissements zuständig war.17 Seitdem ist Quinault der erste und wichtigste Librettist Lullys, und seither dominiert in den Libretti von Quinault, die er für die Oper 13 Patricia Howard: Quinault, Lully and the Précieuses: Images of Women in Seventeenth-Century France‘, in: Cecilia Reclaimed: Feminist Perspectives on Gender and Music, hg.v. Susan Cook & Judy Tsou, University of Illinois Press, 1994, S. 70–89. 14 Der vollständige Titel lautet: „La maison des jeux: Ou se trouvent les divertissemens d’une compagnie, par des narrations agreables, & par des jeux d’esprit, & autres entretiens d’une honneste conversation.“ 15 Howard: Quinault, Lully and the Précieuses, a.a.O., S. 72. Howard bezieht sich auf: Charlotte de Saumaize de Bregy: Cinq questions d’amour, in: Dies.: Lettres et Poesies, Paris 1666, S. 97–100. 16 Hellmuth Petriconi: Der Verzicht auf Liebe, in: Romanistisches Jahrbuch 16 (1965) S. 115–127, hier S. 117f. Petriconi bezieht sich dabei auf den Inhalt der Racineschen Tragödie Bérénice, bei welcher eine aus Gründen der Staatsraison unmöglich erscheinende Liebe die Beteiligten – Bérénice, Titus, Antiochus – zu einer von allen geteilten Entsagung führt. Die Liebe gibt allen dreien die Kraft dazu; die Bérénice verlässt Rom und überlässt den jungen Kaiser Titus seinem einsamen Ruhm. 17 Barbafieri: Atrée et Céladon, a.a.O., S. 318ff.
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Lullys verfasste, das Motiv der tendresse amoureuse, so etwa schon in Cadmus et Hermione von 1673.18 Racine entwickelt dies in seinen Tragödien seit 1671 konsequent weiter, wie umgekehrt dann Quinault seinerseits auf Racines tragedie tendre reagierte, indem er beispielsweise in Alceste ou le Triomphe d’Alcide von 1674 die in der Racineschen Bérénice entfaltete Motivik der Entsagung aufgriff.19 Dabei sind diese Liebestragödien keinesfalls von der heroischen Tragödie und deren antiker Tradition getrennt, im Gegenteil. Die zärtliche und doch tragische Liebe, welche ihrerseits in der Tradition des Rittertums und der galanten Romane stand, ist in den Libretti Quinaults wie im Theater Racines äußerst kompatibel mit dem heroischen Ideal der griechischen und Corneilleschen Tragik. Denn das Liebesmotiv soll in beiden Fällen beim Betrachter sowohl Rührung als auch Bewunderung, also „Tears of Magnanimity“20 auslösen. Die klassische Idee vom heroischen Großmut sollte sich idealerweise mit der seit den Romanen der Scudéry virulenten Idee der tendresse amoureuse zu einer neuen Form des Theaters verbinden, dessen primäres Ziel nun jedoch zunehmend die Rührung des Publikums ist, das sich seinerseits einem neuartigen Tränenkult öffnet: Barbarfieri nennt dies einen „Goût des larmes.“21 Diese neuartige Form der rührenden Liebestragödie findet sich in Racineschen Dramen der späten 1660er und 1670er Jahre, etwa in Andromaque (1667), Bérénice (1670), Bajazet (1672) oder Mithridates (1673). Drei wechselseitig verliebte edle Protagonisten, deren Schicksal und Persönlichkeit gleichermaßen rührend ist, prägen allein die Tragödie der Bérénice. Aber auch die übrigen Dramen fokussieren zärtlich liebende und zugleich tragisch verfolgte Liebespaare: Britannicus und Junia in Britannicus, Bajazet und Atalide in Bajazet; Xiphares und Monime in Mithridates, Hippolytus und Aricia in Phaedra. Diese Paare sind untadelig in der Liebe, ertragen die Ihnen auferlegten Schicksalsprüfungen mit Würde und sind mutig angesichts des Todes, erweisen sich also immer auch als Erben der heldischen Tragödien Corneilles. Anders als bei Corneille jedoch steht bei Racine die Liebesthematik als entscheidendes Element neuartiger Empfindsamkeit bzw. Zärtlichkeit in Opposition zur für die tragédie classique bekanntlich leitmotivischen Idee der Staatsräson. Die zärtliche Regung steht – etwa in der Bérénice, dem Bajazet oder der Tragödie Mithridates – dieser Staatsräson insofern entgegen, als dass stets ein Herrscher seine zärtlichen Regungen und Empfindungen überwinden soll und muss, um dem Anspruch und dem Wohl seines Amtes Genüge zu tun. Am kompromisslosesten verfolgt Racine diese Frage zweifellos in der Tragödie Bérénice, 18 James R. Anthony: French Baroque Music – from Beaujoyeulx to Rameau, London 1973, S. 71. 19 Zur Nähe zwischen Quinault und dem „tendre Racine“ vgl. auch: Buford Norman: Touched by the Graces: The Libretti of Philippe Quinault in the Context of French Classicism, Birmingham, Alabama 2001, S. 110ff. 20 Dass Rührung und Bewunderung sich bei Racine keineswegs gegenseitig ausschließen, belegt E. M. Waith: Tears of Magnanimity in Otway and Racine, in: E. M. Waith und J. D. Hubert (Hg.): French and English Drama oft he Seventeenth Century: papers Read at a Clark Library Seminar March 13, 1971, Los Angeles 1972, S. 1–22. 21 Barbafieri: Atrée et Céladon, a.a.O., S. 167ff.
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denn nur in dieser verläuft der Antagonismus von Liebe und Staatsräson unblutig: Darum ist diese Tragödie der Ausgangspunkt unserer Definition der zärtlichen Tragödie.
Zum Genre des empfindsamen Herrscherdramas: Racines Bérénice (1671) Die besonderen Umstände, die Racine zu seiner 1671 erschienenen fünfaktigen Tragödie veranlassten, wurden bereits angedeutet: Wie das Konkurrenzwerk Corneilles mit dem Titel Tite et Bérénice, so ging auch Racines Bérénice wohl auf einen Wettbewerb der Henriette von England zurück; zudem steht diese Tragödie auch in einem möglichen Bezug zur Liebesromanze zwischen dem jungen Ludwig XIV. und der Maria Mancini, Nichte des Kardinals Mazarin. Die Bérénice stand also zumindest in der Wahrnehmung des Publikums in Konkurrenz zu Corneilles nur eine Woche später uraufgeführter Tragödie, die denselben Stoff behandelte, doch beim Publikum schlechter ankam.22 Racine beruft sich bei der Abfassung dieses Stücks auf eine Episode, die er im Werk des römischen Schriftstellers und Verwaltungsbeamten Sueton vorfand. Dessen bedeutendstes Werk sind die Kaiserviten, unter dem lateinischen Titel bekannt als De vita Caesarum libri VIII, also: Acht Bücher über das Leben der Kaiser. In diesen schildert Sueton zwölf Biographien römischer Alleinherrscher bzw. Kaiser, von Caesar über Augustus (27 v. Chr.–14 n. Chr.), Tiberius (14–37), Caligula (37–41), Claudius (41–54), Nero (54–68), Galba (68–69), Otho (69), Vitellius (69), Vespasian (69–79), Titus (79–81) bis zu Domitian (81–96). In einer der Episoden über den römischen Kaiser Titus heißt es: „Berenike schickte er sofort aus Rom fort, unfreiwillig und auch gegen ihren Willen“23, bzw.: „Titus reginam Berenicen, cui etiam nuptias pollicitus ferebatur, statim ab Urbe dimisit invitus invitam.“ Der Hinweis „unfreiwillig und auch gegen ihren Willen“ liefert die Grundlage für den von Racine entfalteten tragischen Konflikt; es ist eine Tragödie zwischen Liebe und Staatsräson. Denn Titus, soeben zum römischen Kaiser ernannt worden, wird vom Senat dazu genötigt, die mit ihm verlobte Bérénice aus Rom zu verbannen, da das römische Volk sie nicht an seiner Seite dulden will. Die erklärt sich durch deren Herkunft: Bérénice ist „die älteste Tochter des jüdischen Königs Agrippa I., geboren wahrscheinlich 28 n. Chr. Sie kam im Jahre 75 nach Rom und lebte bis 79 mit dem elf Jahre jüngeren Titus wie Mann und Frau zusammen“24, wie Hans Martinet erläutert. Sie ist in Racines Tragödie die „Reine de Palestine“, die Königin von Palästina, also keine gebürtige Römerin, und eben deshalb würden 22 Vgl. dazu: Karl Vossler: ‚Bérénice‘, in: Racine, hg. v. Wolfgang Theile, Darmstadt 1976, S. 11– 20. 23 Sueton: Die Kaiserviten. Berühmte Männer/De vita Caesarum. De viris illustribus, Lateinischdeutsch, hg. v. Hans Martinet, Berlin Boston 2014, S. 875. 24 Ebd., S. 1178.
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sie weder das römische Volk noch der römische Senat als Gattin des Titus akzeptieren. Die dritte Hauptfigur Antiochus, König von Comagène und Freund bzw. Verbündeter des Kaisers Titus25, nimmt als beider Vertrauter eine Schlüsselrolle ein: Da Titus nicht wagt, der Geliebten selbst mitzuteilen, dass er zur Trennung gezwungen und gewillt ist, soll Antiochus die Rolle des Vermittlers einnehmen. Antiochus ist jedoch seit gut fünf Jahren ebenfalls in Bérénice verliebt, nachdem er nach dem Ende des Jüdischen Krieges seinem Freund Titus zusammen mit Bérénice nach Rom gefolgt war. Nach dem Tod des Vaters Vespasian ist der Waffengefährte Titus römischer Kaiser geworden, und die von Antiochus geliebte Bérénice hat sich obendrein den Rivalen auserwählt. Daher hat sich Antiochus notgedrungen damit abgefunden, dass Bérénice dem Widersacher ihr Herz geschenkt hat und die beiden kurz vor der Heirat stehen. Denn nach Einschätzung der Bérénice wird sich Titus über das Veto des Senat hinwegsetzen und sie trotz ihrer nichtrömischen Herkunft zur Frau nehmen. Vor diesem Hintergrund wagt Antiochus gegenüber der seit fünf Jahren Begehrten ein Liebesgeständnis: Mais puisqu’en ce moment j’ose me declarer, Lorsque vous m’arrachiez cette injuste promesse, Mon cœur faisoit serment de vous aimer sans cesse.26
Angesichts der aus Sicht der Bérénice unmittelbar bevorstehenden Hochzeit mit Titus ist ihre Reaktion jedoch äußerst unterkühlt, empfindet sie dieses Geständnis doch eher als eine Kränkung, welche sie nur aufgrund ihrer beider langjährigen Freundschaft zu akzeptieren vermag: „Mais de mon amitié mon silence est un gage: J’oublie en sa faveur un discours qui m’outrage.“27 Diese äußerst kühle Reaktion auf das Geständnis der Freundes resultiert auch aus ihrer Freude über die vermeintliche Ehe mit Titus, dessen Nähe sie stets als extreme Wonne, als eine „douceur extréme“28 empfand, wie sie zum Leidwesen des Antiochus bemerkt. In der Tat hatte Titus die Bérénice bisher stets glauben lassen, dass der gemeinsamen Ehe nichts mehr im Wege steht, wenn er erst einmal Kaiser von Rom sei. Sein Vertrauter Paulin bestätigt dem neuen König nun jedoch, dass auch das römische Volk dem Kaiser untersagen dürfte, eine nichtrömische Fürstin zu heiraten: Selbst Caesar durfte die Cleopatra nicht ehelichen.29 Und da auch der unmittelbar bevorstehende Beschluss des Senats zuungunsten seiner unglücklichen Liebe ausfallen dürfte, ist er nun entschlossen, sich dem Willen von Volk und Senat, d. h. seiner Pflicht zu unterwerfen und sich von Bérénice zu lösen: „Et je vais lui parler
25 Zur Freundschaft zwischen Titus und Antiochus bzw. zum Motiv der Freundschaft bei Racine im Allgemeinen vgl.: Edward Forman: ‚‚Amy, qu’oses-tu dire?‘ Friendship, support and challenge in Racinian tragedy‘, in: Seventeenth-Century French Studies 34 (2012), S. 68–76. 26 Jean Racine: Dramatische Dichtungen, Französisch-deutsche Gesamtausgabe Bd. I, Dt. Nachdichtung von Wilhelm Willige, Darmstadt 1956, S. 318f. 27 Ebd., S. 320. 28 Ebd., S. 320. 29 Ebd., S. 350f.
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pour la dernière fois.“30 Allerdings sieht er sich nicht in der Lage, der von ihm nach wie vor innig geliebten Bérénice die mit diesem Entschluss notwendig verbundenen, schmerzhaften Enttäuschungen zuzumuten, weshalb er seine Erklärungen mitten im Satz „Rome ... !’Empire ...“31 abbricht. So bleibt Bérénice schließlich verstört zurück und sucht einigermaßen ratlos nach Erklärungen für dieses eigentümliche Verhalten des Geliebten. Auch im dritten Akt bringt Titus nicht den Mut auf, Bérénice seinen Entschluss selber mitzuteilen, weshalb er Antiochus mit der Überbringung dieser Nachricht beauftragt. Dafür muss er Antiochus eine Art Geschenk in Aussicht stellen, für das ihm die Zustimmung des Senats als sicher scheint. Die römische Provinz Cilicien wird dem von Antiochus regierten Comagène zugeordnet, wodurch König Antiochus und Königin Bérénice Nachbarn dies- und jenseits des Euphrat würden32: Wenn denn beide schon am nächsten Tag gemeinsam abreisten. Natürlich schöpft Antiochus beim Überbringen dieser Nachricht nun neue Hoffnung für sich selbst, ungeachtet der Tatsache, dass die Bérénice für ihn bisher leider unerreichbar war: „Pour fruit de tant d’amour, j’aurai le triste emploi/De recueillir des pleurs qui ne sont pas pour moi.“33 Es kommt jedoch noch weit schlimmer, da Bérénice dem Antiochus nicht glaubt, ist sie doch immer noch von der Liebe des Titus überzeugt. Daher vermutet sie einen Komplott, woraufhin sie Antiochus als Überbringer der Unglücksnachricht bestraft, indem sie ihm verbietet, sich jemals wieder vor ihr blicken zu lassen: BÉRÉNICE: Apres tant de serments, Titus m’abandonner! Titus qui me jurait ... Non, jene le puis croire: II ne me quitte point, il y va de sa gloire. Contre son innocence on veut me prévenir. Ce piège n’est tendu que pour nous désunir. Titus m’aime. Titus ne veut point que je meure. Allons le voir. Je veux lui parler tout a l’heure. Allons. ANTIOCHUS: Quoi? vous pourriez ici me regarder. BÉRÉNICE:Vous le souhaitez trop pour me persuader. Non, je ne vous crois point. Mais quoi qu’il en puisse être, Pour jamais à mes yeux gardez-vous de paraître.34
Der vierte Akt beginnt mit einem Monolog des Titus, der die Zerrissenheit seiner Gefühle bezeugt. Denn er weiß, dass er in der bevorstehenden Begegnung mit Bérénice nicht nur standhaft, sondern auch grausam sein muss. Als Bérénice ihn zur Aussprache stellt, beruft er sich auf seine Pflicht als Herrscher. Dabei verdeut-
30 31 32 33 34
Ebd., S. 334f. Ebd., S. 342. Ebd., S. 350f. Ebd., S. 354. Ebd., S. 360f.
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licht die häufige Verwendung des Wortes „cruel“35, das sich beide in ein grausames Schicksal verstrickt sehen, das in der Tat bemitleidenswert erscheint: „Ah! cruel! Est-il temps de me le déclarer? (...) Ne l’avez-vous reçu, cruel, que pour le rendre (...) Je n’aurais pas, Seigneur, reçu ce coup cruel“, so lauten die Worte der Bérénice.36 Aber auch für Titus steht die Entscheidung im Zeichen eines grausamen Abschieds – „ces cruels adieux“37 –, und zwar nicht nur von der Geliebten, sondern von seinem eigentlichen Leben, welches mit der Erfüllung des Amtes notwendig enden wird: „Je sens bien que sans vous je ne saurais plus vivre/Que mon coeur de moi-même est prêt à s’éloigner;/Mais il ne s’agit plus de vivre, il faut régner.“38 Ungeachtet dessen wiederholt jedoch Bérénice gegen Titus den Vorwurf der Grausamkeit – „Hé bien! régnez, cruel; contentez votre gloire“39 –, wehrt sich also verzweifelt gegen das Ende aller ihrer Hoffnungen, gegen den unerträglichen Gedanken einer Trennung von dem Mann, der für sie das eigene Leben bedeutet, gegen die trostlose und schreckliche Zukunft, die diesem endgültigen Abschied folgen dürfte: Je n’écoute plus rien; et pour jamais, adieu. Pour jamais! Ah! Seigneur, songez-vous en vous-même Combien ce mot cruel est affreux quand on aime? Dans un mois, dans un an, comment souffrirons-nous, Seigneur, que tant de mers me séparent de vous? Que le jour recommence et que le jour finisse, Sans que jamais Titus puisse voir Bérénice, Sans que de tout le jour je puisse voir Titus!40
Diese Klage führt schließlich dazu, dass Titus seinen Entschluss zu revidieren bereit ist. Als ihm Bérénice gar noch in dezenter Anspielung den Vorschlag macht, auf die Ehe zu verzichten und als bloße Geliebte bzw. Mätresse zu fungieren – „pourquoi nous séparer?/ Je ne vous parle point d’un heureux hyménée:/ Rome à ne vous plus voir m’a-t-elle condamnée?“41 –, gibt sich Titus offenbar seinen eigenen Liebesbedürfnissen hin: „Hélas! vous pouvez tout, Madame. Demeurez: Je n’y résiste point.“42 Aber er ist Staatsmann genug, um sich erneut zur Entsagung zu disziplinieren, schließlich muss er als Vertreter des Staates auch dessen Gesetzeswesen achten. Vor dem Hintergrund dieser erneuten Absage droht Bérénice ihm schließlich damit, ihrem Leben ein Ende zu setzen: 35 Dieses Attribut cruel bzw. cruaute ist ein Schlüsselwort in den Stücken Racines, vgl. dazu: Erich Köhler, Vorlesungen zur Geschiche der französischen Literatur. Klassik 1, hrsg. V. Henning Krauß, Stuttgart 1983, S. 87; sowie: Michaela Sambanis: Die sprachliche Realisierung exemplarischer Schlüsselbegriffe im Werk von Jean Racine, Frankfurt 2001. 36 Racine: Dramatische Dichtungen, a.a.O., S. 372f. 37 Ebd. 38 Ebd. 39 Ebd. 40 Ebd., S. 372f. 41 Ebd., S. 374f. 42 Ebd.
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J’ai voulu vous pousser jusques à ce refus. C’en est fait, et bientôt vous ne me craindrez plus. N’attendez pas ici que j’éclate en injures, Que j’atteste le ciel, ennemi des parjures. Non, si le ciel encore est touché de mes pleurs, Je le prie en mourant d’oublier mes douleurs.43
Unter dieser schweren Hypothek, diesen nun drohenden Suizid der Geliebten zu verantworten, begibt sich Titus auf den Weg zum Senat. Von diesem kehrt er im fünften Akt zurück und scheint nun die Kraft zur endgültigen Trennung zu haben. Wie sehr dieser äußerst schmerzliche Augenblick jedoch die Liebe des Titus ins Unermessliche steigert, verdeutlicht einmal mehr das von Racine verwendete Vokabular der Zärtlichkeit. Gerade angesichts des unwiderbringlichen Verlustes erreichen in dieser Stunde der Trennung die Gefühle des Titus für Bérénice ihren emotionalen Höhepunkt: „Ce jour surpasse tout. Jamais, je le confesse,/Vous ne fûtes aimée avec tant de tendresse.“44 Angesichts der Selbstmordabsicht und der Liebesversagung der Bérénice wird sich Titus also plötzlich seiner Abhängigkeit von ihr bewusst, was ihn zugleich mit regelrechter Scham erfüllt:„Je croyais ma vertu moins prete a succomber/Et j’ai honte du trouble ou Je la vois tomber.“45 Die Scham würde jedoch weit stärker sein, wenn er tatsächlich auf den Thron verzichten, also sein Dasein ruhmlos und schmählich an ihrer Seite, abseits des politischen Amtes verbringen würde: „Un indigne empereur, sans empire, sans cour,/Vil spectacle aux humains des faiblesses d’amour.“46 Trotz der Zuspitzung des Konfliktes führt sich Titus also weiterhin zur Staatsraison und damit zur Trennung verpflichtet. Allerdings würde er diese Verpflichtung aufkündigen, wenn es die Bérénice verlangte: Ohne dann freilich zu wissen, ob er sich nicht eines Tages vor den Augen der Geliebten aus Scham das Leben nehmen würde. Mit dieser Anspielung auf einen möglichen Selbstmord delegiert Titus also im letzten Akt die Entscheidung über sein Leben und seine Pflicht an die Geliebte, an Bérénice; zugleich aber nutzt er dies gegenüber Bérénice als eine Art Drohung: TITUS: […] En l’état où je suis, je puis tout entreprendre, Et je ne réponds pas que ma main à vos yeux N’ensanglante à la fin nos funestes adieux. BÉRÉNICE: Hélas! TITUS: Non, il n’est rien dont je ne sois capable. Vous voilà de mes jours maintenant responsable. Songez-y bien, Madame. Et si je vous suis cher …47
Titus bedarf also offenkundig der Hilfe, um sich von Bérénice lösen zu können, wenn er angesichts ihrer Selbstmorddrohung nun seinerseits damit droht, sich das 43 44 45 46 47
Ebd., S. 376. Ebd., S. 388. Ebd., S. 390. Ebd. Ebd., S. 392.
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Leben zu nehmen. Damit spekuliert er jedoch auf die größere Opferbereitschaft der Bérénice, die angesichts dieser fatalen Konsequenz nicht nur in den Verzicht einwilligen, sondern ihn sogar mitbewirken soll. Die Wirkung erstaunt, denn da Bérénice nun erneut von seiner Liebe überzeugt ist, kann sie ihre Selbstmordabsicht in der Tat aufgeben: Ohne den Geliebten freilich für sich zu gewinnen. Mit diesem doppelten Verzicht auf Titus und den Selbstmord erfüllt sie also nunmehr den Wunsch des Titus und macht ihm so das letzte und größte Geschenk ihrer Liebe: Je crois, depuis cinq ans jusqu’à ce dernier jour, Vous avoir assuré d’un véritable amour. Ce n’est pas tout: je veux, en ce moment funeste, Par un dernier effort couronner tout le reste. Je vivrai, je suivrai vos ordres absolus. Adieu, Seigneur, régnez: je ne vous verrai plus.48
Im Beisein von Bérénice gesteht nun wiederum Antiochus dem erstaunten Kaiser, dass er fünf Jahre lang sein Nebenbuhler gewesen war und daher seinerseits nach der schroffen Abfuhr durch die Geliebte den Tod sucht. Daraufhin betont Bérénice erneut, dass sie niemals Kaiserin habe werden wollen und alle drei als „exemple à l’universe“49 zum Leben verurteilt seien. Insbesondere Titus müsse herrschen, aber auch Antiochus wird von ihr dazu aufgefordert, mit Mut und Tapferkeit ihrem und Titus’ Beispiel zu folgen und heldenhaft zu verzichten: „Pour la dernière fois, adieu, Seigneur.“50 Die Zärtlichkeit dieser an sich sehr tragischen Dreiecksgeschichte betont der Schlussmonolog der Bérénice: „servons tous trois d’exemple à l’univers,/ De l’amour la plus tendre & la plus malheureuse,/ Dont il puisse garder l’histoire douloureuse.“51 Dieser fügt sich auch Antiochus, mit dessem resignierenden Seufzer „Hélas!“ die Tragödie endet.
„La principale règle est de plaire et de toucher“: Racines Poetik der Rührung Wir hatten bereits darauf verwiesen, dass sich mit der Bérénice eine neuartige Poetik der Rührung verknüpfte, was sich auch an den Reaktionen ablesen lässt. Einer der ersten Kritiker der von Racine wohl erstmals entwickelten Poetik der Rührung war der Abbé Montfaucon de Villar, nach dessen Einschätzung die Auslösung von Tränen das entscheidende Wirkungsziel dieser tragisch-traurigen ménage à trois, also die vom Autor bewusst erwirkte Reaktion des Publikums gewesen sei. Der Abbé bestreitet dabei keineswegs, dass Racine dies auch gelang: Ganz ausdrücklich 48 49 50 51
Ebd., S. 396. Ebd. Ebd. Ebd.
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wird betont, dass das Publikum bei den ersten Aufführungen der Bérénice reihenweise seine tränenfeuchten Taschentücher griffbereit hielt.52 Doch genau dieser Umstand ist Ausgangspunkt seiner einflussreichen Kritik. Denn eine Tragödie habe eben nicht das dominante Ziel, die Zuschauer in weinerliche Rührung zu versetzen, sondern aristotelische „terreur“ und „compassion“ sowie die „admiration“ Corneilles hervorzurufen.53 Daher könne die Bérénice nur genossen werden, wenn man von diesen Grundregeln der Tragödie absieht54 und sich ganz der „expression des passions“55 hingibt, um weinen zu können: Weshalb der Abbé letztlich bezweifelt, dass es sich hier um eine echte Tragödie handle. Vier Jahre später, also 1675, wird Dominique Bouhour in seinen Remarques nouvelles sur la langue francaise der Tragödie Racines eine ähnliche Verkennung des Tragödienzweckes vorwerfen: Corneille vermittle ein Ethos, einen „charactère romain, et je ne sais quoi d’heroique“, Racine hingegen nur eine dem Telos der Gattung widersprechende Rührung: „Les comédies de M. Racine ont quelque chose de fort touchant, et ne manquent guère d’imprimer les passions qu’elles représentent.“56 Racines Vorwort zur Bérénice ist die sehr unmissverständliche Antwort auf diese Vorwürfe der zeitgenössischen Kritik, wie seine schon zitierte Regel verdeutlicht, die das Wirkungsprinzip der Rührung nachdücklich unterstreicht: „La principale règle est de plaire et de toucher“.57 Wir betonten bereits, dass die Bérénice wohl diejenige Tragödie Racines ist, die diese Regel am radikalsten verwirklicht hat. Dies geschieht jedoch in einem sehr spezifischen, also von der Tragödie der Empfindsamkeit doch zu unterscheidenden Sinne. Denn die Rührung resultiert aus der ‚klassisch‘ zu nennenden Konzentration auf das psychologische Geschehen, ohne die gängige Rahmung durch Intrigen oder anders geartete Konflikte: Darum verweist Racine auf drei elementare ästhetische Prinzipien, zu denen neben der Rührung auch die Einfachheit und das Gefallen zählt. Zudem resultiert die Rührung aus einem die Protagonisten kennzeichnenden hohen Maß an Wahrscheinlichkeit, weil nur das Wahrscheinliche den Zuschauer zu ergreifen vermag: „Il n’y a que le vraysemblable qui touche dans la tragédie“58. Racines Gefühlstheater folgt also dennoch den aristotelischen Regeln der Einheitlichkeit. Es basiert auf der Darstellung einer einfachen Handlung, die getragen ist von der Heftigkeit der Leidenschaften, der Schönheit der Empfindungen und dem Adel des Ausdrucks: „de force pour attacher durant cinq actes leurs spectateurs par une action simple, soutenue 52 Abbé Montfaucon de Villars: Le Comte de Gabalis ou Entretien sur les sciences secrètes. La Critique de Bérénice, hg. v. R. Laufer, Paris 1963, S. 147, 155. 53 Zum Zusammenhang zwischen der admiration Corneilles und den aristotelischen Wirkaffekten vgl. B. Rubidge: Catharsis through Admiration. Corneille, Le Moyne, and the Social Uses of Emotion, in: Modern Philology 95 (1997/98), S. 316–333. 54 Villars: Le Comte de Gabalis, a.a.O., S . 147. 55 Ebd. S . 152. 56 Bouhours: Remarques novelles sur la langue francaise, 1675, S. 93. Zitiert nach: Theile: Die Racine-Kritik bis 1800, a.a.O., S. 84f. 57 In der Übersetzung Wilhelm Williges: „Die oberste Regel ist, zu gefallen und zu ergreifen.“, vgl.: Racine: Dramatische Dichtungen, a.a.O., S. 303. 58 Théàtre de Jean Racine, Band 2, hg.v. Damase Jouaust und Victor Fournel, Paris 1922, S. 4.
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de la violence des passions, de la beauté des sentiments, et de l’élégance de l’expression.“59 Racines Prinzip der simplicité d’action und der Verinnerlichung des dramatischen Geschehens meint eine Reduktion der genuin dramatischen Ereignisse zugunsten einer rein psychologischen Konstellation. Dies ist im durchaus strengen Sinne aristotelisch, also gemäß der aristotelischen Regel von der dreifachen Einheit der Handlung, der Zeit und des Ortes. Die Handlung wird von außen einzig durch den Beschluss des Senats beeinflusst, dessen Inhalt man allerdings schon aus der Exposition kennt. Danach spielt sich alles zwischen Titus und Bérénice ab, bis auf Antiochus beeinträchtigt kein weiterer Handlungsträger das Verhältnis der beiden Hauptpersonen. Ähnliches gilt für den Ort, das Stück spielt in einem Zimmer zwischen den Gemächern des Titus und denen der Bérénice: „La scène est à Rome, dans un cabinet qui est entre l’appartement de Titus et celui de Bérénice.“60 Schon zu Beginn der Bérénice wird die Wichtigkeit dieses Ortes mit aller Deutlichkeit betont, wenn Antiochus seinem Vertrauten Arsace die Rolle erklärt, die dieser Ort spielt: Souvent ce cabinet superbe et solitaire Des secrets de Titus est le dépositaire. C’est ici quelquefois qu’il se cache à sa cour, Lorsqu’il vient à la Reine expliquer son amour. De son appartement cette porte est prochaine, Et cette autre conduit dans celui de la Reine.61
Der Ort der Handlung ist also ein Zimmer bzw. ein „Gemach“, welches als still und entlegen beschrieben wird, obwohl – oder weil – es zwischen der Wohnung der Bérénice und den Gemächern des Kaisers liegt. Insofern hat dieser Ort in der Tragödie Racines eine ganz spezielle kulturgeschichtliche Note, denn es beherbergt des Kaisers Geheimnisse und erinnert zudem an die „Ruelle“, also an jenes als Empfangsraum genutzte Schlafgemach bzw. ‚Kämmerlein‘ hochgestellter Damen im Frankreich des 17. und 18. Jahrhunderts. Vor dem Hintergrund der genannten Satiren auf das Kämmerlein in de Pures La Précieuse, ou le Mystère des ruelles und Antoine Baudeau de Somaize Clef de la langue des ruelles ist diese Verortung kein Zufall, sondern möglichweise auch ein Bekenntnis zur preziösen Gefühlskultur, was wiederum für ein Verständnis der Tragödie nicht ohne Bedeutung ist. Zudem liegt dieses Kämmerlein zwischen den Gemächern des Kaisers und denen seiner Geliebten, symbolisiert also auch den Ort der Entscheidung zwischen politischer Pflicht und privatem Liebesglück, zwischen Staatsräson und menschlichem Gefühl. Wenn Racines Kritiker ihm dennoch eine Missachtung aristotelischer Gattungsbestimmungen vorhielten, dann also primär hinsichtlich der fehlenden Erzeugung 59 Ebd. 60 Ebd., S. 304f. 61 Ebd., S. 306f.
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von eleos und phobos im Zuschauer. Und in der Tat geht Racine im Vorwort davon aus, dass für den gewünschten Effekt „de plaire et de toucher“62 die Darstellung physischer Grausamkeiten unwichtig sei. Dies zeigt sein Hinweis auf Vergils Versepos Aenaes, demgemäß die Trennung von Bérénice und Titus mit der Trennung des Äneas und der Dido vergleichbar, da ähnlich ergreifend sei: „rien de plus touchant dans tous les poètes que la séparation d’Enée et de Didon, dans Virgile.“63 Zugleich aber betont Racine eine wichtige Differenz zur Aeneis: Bei Vergil beging Dido, die Königin von Karthago, aus Verzweiflung Selbstmord, als der aus Troja kommende Aeneas sie trotz der bestehenden Liebesbeziehung verließ, um Rom zu gründen. Als Aeneas auf Geheiß des Götterboten Mercurius Karthago verlässt, ersticht sich Dido mit dem dessen Schwert. Dagegen habe Racine die Bérénice nicht sterben lassen, weil zwischen ihr und Titus nicht diese „letzten Bindungen“ (derniers engagements) im Sinne einer sexuellen Vereinigung existierten, wohingegen sich Dido dem Aeneas während eines Unwetters in einer Höhle hingab. Racine verzichtet also sowohl auf die sexuelle Vorgeschichte wie auch auf die blutigen Konsequenzen des Vergilschen Liebeskonfliktes, und fokussiert stattdessen einzig die psychologischen Reaktionen der Personen angesichts dieses Konflikts. Es muss kein Blut fließen, wenn die Handlungen der Personen heroisch sind, Leidenschaften entfacht werden und alles von einer erhabenen Trauer, eine „tristesse majestueuse“ getragen sei: Ce n’est point une nécessité qu’il y ait du sang et des morts dans une tragédie; il suffit que l’action en soit grande, que les acteurs en soient heroîques, que les passions y soient excitées, et que tout s’y ressente de cette tristesse majestueuse qui fait tout le plaisir de la tragédie.64
Nun hat Racine zwar im Unterschied zu Vergil den physischen Tod der Liebenden eliminiert: Bérénice und Titus sprechen beide ernsthaft von Selbstmord, um sich dann jeweils vom anderen bescheinigen zu lassen, dass dieser seine makabre Absicht nicht ausführen wird. Racines Strategie der Verinnerlichung des tragischen Geschehens hält aber dennoch am Prinzip der Grausamkeit fest, welches in der gar weit brutaleren Tragik des Verzichten-Müssens fortwirkt. Eben diese psychische Grausamkeit wird in der Bérénice mehrmals deutlich formuliert: Bérénice zurückzuweisen, heißt auf Menschlichkeit zu verzichten: „renoncez, Seigneur, à toute humanité.“65 Der psychologische Tod der Figuren ist also weitaus dominanter denn der – in der antiken Tragödie, bei Shakespeare oder Corneille dominierende – reale Tod: Es droht die endgültige Verzweiflung (Partout du désespoir je rencontre l’image), der ewige Kummer (éternels chagrins) und die Aufgabe der eigenen Existenz (renoncer à moi-même). Und zwar allen, denn auch Titus kann ohne Bérénice 62 In der Übersetzung Wilhelm Williges: „Die oberste Regel ist, zu gefallen und zu ergreifen.“, vgl.: Racine: Dramatische Dichtungen, a.a.O., S. 303. 63 Ebd., S. 3. 64 Ebd. 65 Ebd., S. 380.
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nicht mehr leben, droht sein Herz zu verlieren, ersetzt also am Ende das eigene Leben durch die bloße, gleichsam leblose Ausübung der staatsmännischen Pflicht: Je sens bien que sans vous je ne saurais plus vivre, Que mon coeur de moi-même est prêt à s’éloigner; Mais il ne s’agit plus de vivre, il faut régner.66
Worin liegt aber dann die Zärtlichkeit dieser Tragödie? Meines Erachtens vor allem in der Figur des Titus. Denn dieser ist zwar von Beginn an entschlossen, Bérénice zugunsten seiner Herrscherpflicht zu verlassen. Überaus zärtlich ist jedoch die Art und Weise, wie Titus seinen Entschluss der Bérénice beizubringen versucht, ohne dadurch ihrer beider Liebe nachhaltig zu verletzen: Eine keinesfalls als Heuchelei67 oder gar Feigheit68 auszulegene Schwierigkeit, im Gegenteil. Titus ist auch nicht sprachgestört69, sondern extrem verlegen, denn wie kann er seiner Geliebten diese Trennung erklären, obwohl er sie liebt? Diese schwierige Konstellation erklärt sein Zaudern, etwa in dem folgenden Satz, der eher eine konfuse, regelrecht gestammelte Andeutung denn eine Erklärung ist: TITUS: Jamais, puis qu’il faut vous parler, Mon cœur de plus de feux ne se sentit, brûler. Mais... BÉRÉNICE: Achevez. TITUS: Helas! BÉRÉNICE: Parlez. TITUS: Rome... L’Empire… BÉRÉNICE: Hé bien? TITUS: Sortons, Paulin, je ne lui puis rien dire.70
Diese Art der Zögerlichkeit verdeutlicht, dass Titus’ Entscheidung gegen die fremdländische Königin und für die Verantwortung des Amtes im Zeichen eines regelrechten inneren Kampfes steht. Dieser scheint zwar bereits entschieden, als Titus die Bühne betritt, aber die beiden konkurrierenden Alternativen – „gloire“ oder „amour“, bzw., wie Titus später formuliert, „regner“ oder „vivre“ – bleiben bis zum Ende wirkmächtig. Lange Zeit verkennt Bérénice diese sehr spezielle Zärtlichkeit des Titus, auch wenn sie bemängelt, dass der Kaiser in Tränen ausbricht: „Vous êtes empereur, Seigneur, et vous pleurez!“71 Eben diese Tränen des Titus müssen jedoch unbedingt als Ausweis seiner ‚tendresse‘ verstanden werden. Wie die Tränen, so ist auch die Zärtlichkeit des Titus eine Art Kompensation, ein Ausgleich des Konfliktes, die ihm einzig bleibende Reaktionsform auf das Diktum der Öffentlichkeit, 66 Ebd., S. 372f. 67 So der Vorwurf von Charles Mauron: L’inconscient dans l’oeuvre et la vie de Jean Racine, Paris 1969, S. 84f. 68 Vgl. B. Weinberg, The Art of Jean Racine, Chicago and London, 1963, S. 130–162. 69 Roland Barthes spricht von der Aphasie des Titus, vgl. Roland Barthes, Sur Racine, in: dcrs., CEuvres completes I, Paris 1993 [Erstv. 1963], S. 91. 70 Racine: Dramatische Dichtungen, a.a.O., S. 342. 71 Ebd., S. 374.
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also eine auf Entsagung basierende Freundschaft, die seiner Liebe zugleich eine neue Qualität verleiht. Freilich hat Titus dies nicht explizit gemacht. Dies geschieht erst im Schlussmonolog der Titelheldin Bérénice, die jene leidenschaftliche Liebe (amour-passion), die ungeachtet des kaiserlichen Entschlusses die beiden Liebenden beherrscht, durch eine geläuterte, auf gegenseitiger Anerkennung beruhende Liebe ersetzt.72 Nach Ansicht Carine Barbafieri geht daher die Zärtlichkeit der Tragödie vor allem auf die Bérénice zurück, die als eine ‚héroine mélancolique‘ zur Repräsentantin eines neuen Frauentypus der Tragödie wird, der sich zuvor in den Romanen Scudérys, insbesondere in der Clélie ausgebildet habe. Diese Figur der melancholischen Heldin zeichne sich dadurch aus, dass sie in Momenten höchster Verzweiflung so gerührt – und eben nicht erschüttert – ist, dass ihr die Tränen kommen.73 Insofern wird die Zärtlichkeit in diesem „Seelendrama“ Racines auch durch eine Bezugnahme auf die Scudérysche Idee der Carte de Tendre realisiert. Hintergrund dieser amour tendre ist jedoch die Ordnung bzw. die Sphäre der gloire, die von allen drei Liebenden gleichermaßen fordert, dass sie am Leben bleiben und ihren Verpflichtungen nachkommen. So erfüllt diese Tragödie die Idee der tendresse im Sinne einer exklusiven, von den passions geläuterten amour, insofern die Vollendung der amour im Zeichen der gloire nur in Form einer – an die Carte de Tendre erinnernden – Fernliebe denkbar ist: Der für die Tragödie konstitutive Gegensatz von amour und honneur wird in der Idee der Zärtlichkeit aufgehoben.
Die französische Diskussion um den ‚tendre Racine‘ Dass sich im Frankreich der 1670er Jahre recht rasch eine Diskussion um den „tendre Racine“74 entwickelte, ist wohl vor allem auf den Schriftsteller, Moralist und Frühaufklärer Saint-Évremont zurückzuführen, der 1668 in einer Studie zu Racines Tragödie Alexandre deren gesamte Handlung auf die Darstellung der galanten Liebe reduzierte. Unter Bezugnahme auf die Liebeskonzeption des heroisch-galanten Romans rechnete er Racines Helden Alexander zu den „chevaliers errants“75 und unterstellte Racine generell eine „mauvais usage des Tendresses de l’Amour dans la Tragédie.“76 Nach Saint-Évremont habe sich Racine also fatalerweise von Corneilles nur sekundärer Liebesbehandlung distanziert, um sein Drama nicht län72 Freilich geschieht dies unter nicht identischen Prämissen, wie Anke Wortmann betonte: „Versteht Titus unter ‚Krönung‘ die Erhebung Bérénices zur Kaiserin von Rom (II, 2, 483), bezeichnet Bérénice mit diesem Ausdruck ihre Entscheidung, zu entsagen und zu leben. […] ‚Gekrönt‘ wird eine ausschließlich private Entscheidung, denn Rom ist es gleichgültig, was nach ihrer Abreise mit ihr geschieht. Titus muß verstehen, daß dieses persönliche Opfer die notwendige Bedingung zur Erreichung seines Ziels bildet.“ Vgl.: Anke Wortmann: Das Selbst und die Objektbeziehungen der Personen in den weltlichen Tragödien Jean Racines, Würzburg 1992, S. 155. 73 Carine Barbafieri: Atrée et Céladon, a.a.O., S. 167ff. 74 Theile: Die Racine-Kritik bis 1800, a.a.O., S. 124. 75 Œuvres choisies de Saint-Évremond, hg.v. Charles Antoine Gidel, Paris 1866, S. 295. 76 Ebd., S. 299.
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ger auf den öffentlichen und heroischen menschlichen Werten, sondern dem eher privatistischen Liebesgefühl zu begründen.77 Im gleichen Jahr bemerkte auch Adrien-Thomas Perdou de Subligny in seiner La Folle Querelle ou la Critique d’Andromaque über die Figur des Pyrrhus: „Je ( ... ) soutiens, moi, que Pyrrhus avait lu la ,Clélie‘“.78 Eine Festschreibung dieses Images erfolgte dann sechs Jahre später durch den französischen Philologen René Rapin, der in seinen Réflexions sur la poétique d’Aristote et sur les ouvrages des poétes anciens et modernes von 1674 die Orientierung der modernen französischen Dramatiker am Paradigma der Zärtlichkeit als ein generelles Kennzeichen auch und vor allem gegenüber der antiken Tragödie erkannte und scharf kritisierte: La Tragédie moderne roule sur d’autres principes: le genie de nostre nation n’est pas assés fort, pour soutenir une action sur le theatre par le seul mouvement de la terreur & de la pitié. Ce sont des machines, qui ne peuvent se remuer, comme il faut, que par de grands sentimens, & par de grandes expressions, don’t nous ne sommes pas toutà-fait si capables, que les Grecs. Peut-estre que nostre nation, qui est naturellement galante, a esté obligée par la necessité de sob caractere à se faire an Systeme nouveau de Tragedie pour s’accomoder à son humeur.79
In seiner streng an Aristoteles orientierten Argumentation suchte Rapin zudem im Nationalcharakter der Franzosen, Spanier und Engländer einen Grund dafür, warum die antike Tragödie ein zu seiner Zeit unerreichtes Vorbild bleibe. Unter wirkungsästhetischem Gesichtpunkt unterscheidet er die Gattung also diachron mit einem Hinweis auf die antike Polis. Schuld an der dekadenten Verweichlichung der antiken Tragödienform sei nach Ansicht Rapins in erster Linie das zeitgenössische Theaterpublikum, welches seinerseits vom enormen Einfluss der Damen und dem Hof des jungen Königs geprägt sei. Dieses primär höfische und weibliche Publikum sei es, welches Autoren wie eben Racine die strengen Regeln der griechischen Tragödie all zu sehr vernachlässigen ließ. Die Beobachtung Rapins stand also deshalb unter einem kritischen Vorzeichen, da er die Orientierung am Zärtlichkeitstrend nicht nur als genuine Schwäche der französischen Tragödie, sondern als generelles Indiz einer dekadenten Kultur seiner Gegenwart deutete. Schuld daran sei der Einfluss der von weiblichen Themen geprägten Salons, die diesen herrschenden Liebeskult zu einer Mischung aus Affektiertheit und Galanterie habe werden lassen: Les Grecs qui étoient des Etats populaires, & qui haissoient la Monarchie, prenoient plaisir , dans leurs spectacles, à voir les Rois humiliéz, & les grandes sortunes renversées; parce que l’élevation les choquoit. Les Anglois nos voisins aiment le sang, dans leurs jeux, par la qualité de leur lemperament; ce sont des insulaires, separez du reste des hommes: nous sommes plus humains, la galanterie est davantage selon nos mœurs, & nos Poètes ont crû ne pouvoir plaire sur le Théâtre, que par des sentimens 77 Zur Rezeption Racines vgl. insgesamt: La Réception de Racine à l’âge classique: de la scène au monument, éd. Nicholas Cronk et Alain Viala, Voltaire Foundation, Oxford 2005. 78 Subligny, La Folle Querelle, II, 9, in: Jean Racine: Jean Racine, Œuvres complètes, I, hg.v. Georges Forestier, Paris 1999, S. 280. 79 Rene Rapin: Reflexions sur la Poétique d’Aristote, 1686, S. 182.
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doux & tendres: en quoi ils ont peut-être eu quelque forte de raison. Car en effet les passions qu’on représente deviennent fades & de nul goût, si elles ne sont fondées sur des sentimens conformes à ceux du spectateur. C’est ce qui oblige nos Poëtes a privilegier si fort la galanterie sur le Theatre, & à tourner tous leurs sujets sur des tendresses outrées, pour plaire davantage aux Femmes, qui se sont erigees en arbitres de ces divertissemens, & qui ont usurpé le droit d’en decider.80
Wie Rapin, so betonte auch dessen englischer Übersetzer Thomas Rymer in seiner Rapin-Übersetzungen mit dem Titel The Tragedies of the Last Age von 1674, dass das Ziel der Tragödie die Erregung von Furcht und Mitleid im Sinne des Aristoteles sei, und dass eben diese Wirkungsabsicht in der modernen französischen Tragödie verfehlt werde: John Dryden wird dies später zu der Formel „French Tragedies now all run upon the tendre“ zuspitzen.81 Ein Jahr später, also 1675, hatte auch der Jesuitenpater Abbé de Villiers seinem Entretiens sur les tragédies de ce temps das Liebesmotiv als zentrales Problem der Racineschen Tragödie identifiziert und gegenüber diesem ein eindeutiges moralisches Veto zum Ausdruck gebracht. Das zeitgenössische Theater sei demnach geprägt durch „toutes ces vaines idées de tendresse, qui nourrissent un esprit dans l’oisiveté, et qui ne tardent guère à gater les mœurs.“82 Das Thema der Zärtlichkeit steht also in einem für das Theater der Neuzeit überaus zentralen Spannungsfeld, und zwar demjenigen zwischen antiker und moderner Tragödie. Ist das Zärtliche ein angemessenes Thema der Tragödie, insbesondere angesichts der Aristotelischen Tragödientheorie und deren Betonung von Schrecken und Schaudern als den eigentlichen Wirkmechanismen dieses Genres? Diese Diskussion entsteht um 1670, und zwar unmittelbar im Anschluss an Racines 1670 erstmals uraufgeführten Tragödie Bérénice, dem wohl wichtigsten Beispiel einer tragischen Zärtlichkeit im Schauspiel bzw. dem Theater der Neuzeit. Es verwundert daher nicht, dass sich Racine schon in seinen Vorworten zu diesen Vorwürfen äußerte, im zweiten Préface zu seiner Tragödie Bajazet von 1676 heißt es: Je me suis attaché à bien exprimer dans ma tragédie ce que nous savons des mœurs et des maximes des Turcs. Quelques gens ont dit que mes héroïnes étaient trop savantes en amour et trop délicates pour des femmes nées parmi des peuples qui passent ici pour barbares. Mais sans parler de tout ce qu’on lit dans les relations des voyageurs, il me semble qu’il suffit de dire que la scène est dans le Sérail. En effet, y a-t-il une cour au monde où la jalousie et l’amour doivent être si bien connus que dans un lieu où tant de rivales sont enfermées ensemble, et où toutes ces femmes n’ont point d’autre étude, dans une éternelle oisiveté, que d’apprendre à plaire et à se faire aimer? Les hommes vraisemblablement n’y aiment pas avec la même délicatesse. Aussi ai-je pris soin de mettre une grande différence entre la passion de Bajazet et les tendresses de ses amantes. Il garde au milieu de son amour la férocité de la nation. Et si l’on trouve 80 René Rapin: Réflexions sur la poétique d’Aristote et sur les ouvrages des poétes anciens et modernes, Paris 1674, (Reprint Georg Olms Verlag), S. 183. 81 John Dryden: Criticism of ‚Remarks On The Tragedies Of The Last Age‘ by Rymer, in: Ders.: Prose, 1668–1691. An essay of dramatick poesie and shorter works, University of California Press, 1971, S. 190. 82 Entretiens sur les tragédies de ce temps, Paris, 1675, S. 15.
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étrange qu’il consente plutôt de mourir que d’abandonner ce qu’il aime et d’épouser ce qu’il n’aime pas, il ne faut que lire l’histoire des Turcs. On verra partout le mépris qu’ils font de la vie. On verra en plusieurs endroits à quel excès ils portent les passions, et ce que la simple amitié est capable de leur faire faire. Témoin un des fils de Soliman, qui se tua lui-même sur le corps de son frère aîné, qu’il aimait tendrement, et que l’on avait fait mourir pour lui assurer l’Empire.83
Die eigentliche Aufwertung Racines begann im Grunde erst in den 1680er Jahren, und man kann davon ausgehen, dass ein Grund für diese Positivierung der Racineschen tendresse in den 1680er Jahren die Wirkkraft der Opern Philippe Quinaults gewesen ist: Seine in fünf Akten spielende „Tragédie lyrique“ namens Atys, die Quinault gemeinsam mit dem Musiker Jean-Baptiste Lully (1632–1687) verfasste, wurde am 10. Januar 1676 in Saint Germain-en-Laye uraufgeführt.84 Und schon dieses erste von elf Werken, die Quinault zusammen mit Lully für den Hof des Sonnenkönigs schuf, brachte den ersten großen Erfolg: Ludwig XIV., zu dessen Ruhm im vorangestellten Prolog die Allegorie der Zeit und der Chor der Stunden singen, erwählte das Werk zur „Opéra du Roi“. Wir hatten bereits auf die Arbeiten Patricia Howards verwiesen, die am Beispiel der Libretti Quinaults nachwies, inwiefern diese den aus den Zirkeln der Preziösen entlehnten Topoi der Zärtlichkeit am Hof König Ludwigs etablierten, dabei jedoch zugleich in den Dienst der eher „patriarchalischen Interessen“ Ludwigs stellten.85 Hinsichtlich der Positivierung des neuen Tones, wie Racine ihn anschlug, sind hier vor allem Hilaire Bernard de Longepierre sowie Jean de La Bruyère zu nennen. 1688 erschienen La Bruyères Abhandlung Les Caractères de Théophraste, traduits du grec, avec les caractères ou les mœurs de ce siècle, die aus unserer Sicht vor allem durch den wichtigen Vergleich zwischen Racine und Corneille relevant ist. Was La Bruyère auszeichnet, das ist seine Distanzierung gewisser Stereotypen, die sich diesbezüglich in der französischen Rezeption bereits verfestigten. Racine sei ein sehr präziser Nachahmer der antiken Tragödie, weshalb ihm das Große und Wunderbare keineswegs fremd sei. Und umgekehrt fehlten bei Corneille nicht die Momente des Rührenden und Pathetischen, zudem habe auch Corneille – etwa in seinen Dramen Le Cid, Polyeucte oder Les Horaces – zärtliche Themen bearbeitet. Racine war also ein exact imitateur des anciens, dont il a suivi scrupuleusement la netteté et la simplicité de l’action; à qui le grand et le merveilleux n’ont pas même manqué, ainsi qu’à Corneille, ni touchant ni le pathétique. Quelle plus grande tendresse que celle qui est 83 Racine: Dramatische Dichtungen, hg.v. Wilhelm Willige, a.a.O., S. 399ff. 84 Der Stoff ist dem griechischen Mythos der Göttermutter Kybele entnommen, deren Kult außer in Kreta in Phrygien heimisch war, wo das Stück auch spielt. Zu dem Mythos gehört die Sage des Hirten Atys, der, weil er die Liebe der Göttin Kybele nicht erwidert, von dieser aus Rache mit Wahnsinn bestraft wird, sich selbst entmannt und schließlich in eine Pinie verwandelt wird. Dieser Baum ist der Göttin hinfort geweiht. 85 Patricia Howard: Quinault, Lully and the Précieuses: Images of Women in Seventeenth-Century France, in: Cecilia Reclaimed: Feminist Perspectives on Gender and Music, hg.v. Susan Cook & Judy Tsou, University of Illinois Press, 1994, S. 70–89.
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répandue dans tout le Cid, dans Polyeucte et dans les Horaces? quelle grandeur ne se remarque point en Mithridate, en Porus et en Burrhus.86
Wie La Bruyère, so sprach dann auch Voltaire von einer schon vor Racine einsetzenden Transformation der Tragödie des 17. Jahrhunderts: Bereits bei den Vorklassikern Mairet und Tristan l’Hermite sei die Tragödie zunehmend galanter geworden, gleiches gelte für die Helden Corneilles und eben dann Racines, in deren Tragödien sich die Helden bisweilen wie verliebte Romanfiguren bzw. wie galante Liebhaber auszudrücken pflegten. Zudem finde sich in der Tragödie Racines eine regelrechte Vermischung von Komischem und Tragischem, vergleichbar der späteren comédie larmoyante: … dans notre nation la tragédie a commencé par s’approprier le langage de la comédie. Si on y prend garde, l’amour dans beaucoup d’ouvrages, dont la terreur et la pitié devraient être l’âme, est traité comme il doit l’être en effet dans le genre comique. La galanterie, les déclarations d’amour, la coquetterie, la naïveté, la familiarité, tout cela ne se trouve que trop chez nos héros et nos héroïnes de Rome et de la Grèce dont nos théâtres retentissent. De sorte qu’en effet l’amour naïf et attendrissant dans une comédie, n’est point un larcin fait à Melpomène, mais c’est au contraire Melpomène qui depuis longtemps a pris chez nous les brodequins de Thalie.87
Bei Voltaire wird die Entstehungsgeschichte des rührenden Theaters also erstmals auf die Tragödien Corneilles zurückdatiert, weshalb ihm sowohl Corneilles 1642 veröffentlichte Herrschertragödie Cinna ou La Clémence d’Auguste als auch Racines 1668 erschienene Tragödie Andromaque als Beispiele eines gleichermaßen rührenden Theaters gelten. Ähnlich wird Diderot in seinem berühmten Paradoxe sur le comédien eben die „harmonieuses, tendres et touchantes élégies de Racine“88 regelrecht zu feiern beginnen. Erst Rousseau kehr zum kritischen Tonfall Saint-Évremonts zurück, wenn er in seinem Lettre à d’Alembert an der Bérénice beanstandet, dass diese Tragödie „die Seele für allzu zärtliche Gefühle“89 sensibilisiere, weil die Vernunft den Sieg
86 Jean de La Bruyère: Les caractères de Théophraste et de La Bruyère, Band 1, Avignon 1817, S. 145. Der Vergleich zwischen Corneille und Racine fällt daher bei La Bruyère etwas differenzierter aus: „Corneille nous assujettit à ses caractères et à ses idées, Racine se conforme aux nôtres; celui-là peint les hommes comme ils devraient être, celui-ci les peint tels qu’ils sont. Il y a plus dans le premier de ce que l’on admire, et de ce que l’on doit même imiter; il y a plus dans le second de ce que l’on reconnaît dans les autres, ou de ce que l’on éprouve dans soi-même. L’un élève, étonne, maîtrise, instruit; l’autre plaît, remue, touche, pénètre. Ce qu’il y a de plus beau, de plus noble et de plus impérieux dans la raison, est manié par le premier; et par l’autre, ce qu’il y a de plus flatteur et de plus délicat dans la passion. Ce sont dans celui-là des maximes, des règles, des préceptes; et dans celui-ci, du goût et des sentiments. L’on est plus occupé aux pièces de Corneille; l’on est plus ébranlé et plus attendri à celles de Racine. Corneille est plus moral, Racine plus naturel. Il semble que l’un imite Sophocle, et que l’autre doit plus à Euripide.“ Vgl.: Ebd., S. 146f. 87 Voltaire: Oeuvres complètes, Bd. 1, Paris 1835, S. 582. 88 Denis Diderot: Mémoires, correspondance et ouvrages inédits de Diderot, Band 1, Paris 1841, S. 27. 89 Rousseau: Schriften I, a.a.O., S. 385.
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über die „Schwächen der Liebe“90 davontrage: Wir werden auf diese äußerst einflussreiche Kritik der Zärtlichkeit später noch ausführlicher eingehen.
Die Adaption der tragédie tendre in England: Dryden’s All for Love, or the World well Lost (1678) Wann beginnt die Wirkung dieser neuen französischen Empfindsamkeit in England? Die Antwort ist relativ eindeutig: Wir können mit Rene Wellek davon ausgehen, dass der französische Einfluss auf die englische Literatur mit der Restauration der Stuart-Monarchie einsetzt. 91 Es war Charles II., der 1660 bei seiner Rückkehr aus dem Exil in St. Germain einen französischen Geschmack und einen von französischer Kultur geprägten Hofstaat mit nach England brachte. 92 Und es waren Rymers bereits zitierten Rapin-Übersetzungen mit dem Titel The Tragedies of the Last Age von 1674, die die französische Literaturtheorie erstmals einem englischen Publikum vermittelten: Rapins Réflexion sur la Poétique d’Aristote sind also auch der Auftakt der Racine-Rezeption in England. Drei Jahre später bemerkte John Dryden in seinen Kommentaren zu Rymers Übersetzung, dass für die Tragödie auch die Erregung anderer Leidenschaften neben Furcht und Mitleid denkbar und relevant sei: Eine Tragödie könne etwa auch auf Liebe und Freundschaft basieren. Insofern wird bei Dryden die Beobachtung Rapins – „French Tragedys now all run upon the Tendre“ – gleichsam positiviert: Was Rapin vor dem Hintergrund der aristotelischen Poetik als Defizit wertete, nimmt Dryden zum Hinweis auf seine Ausweitung erregter Leidenschaften auf die Bereiche von Liebe und Freundschaft: That we may the less wonder why pity and terror are not now the only springs on which our tragedies move, and that Shakspeare may be more excused, Rapin confesses that the French tragedies now all run on the tendre; and gives the reason, because love is the passion which most predominates in our souls, and that therefore the passions represented become insipid, unless they are conformable to the thoughts of the audience. But it is to be concluded that this passion works not now amongst the French so strongly as the other two did amongst the ancients. Amongst us, who have a stronger genius for writing, the operations from the writing are much stronger: for the raising of Shakspeare’s passions is more from the excellency of the words and thoughts, than the justness of the occasion; and if he has been able to pick single occasions, he has never founded the whole reasonably; yet, by the genius of poetry in writing, he has succeeded.93 90 Ebd. 91 „English classicism was assumed to be an importation from France – the direct result of the Restoration of 1660 when the Stuarts returned from exile.“ Vgl.: Rene Wellek: The Term and Concept of Classicism in Literary History, in: Ders.: Discriminations: Further Concepts of Criticism, New Haven – London 1970, S. 55–89, hier S. 61. 92 Vgl. dazu auch: Martin Brunkhorst: Tradition und Transformation. Klasszistische Tendenzen in der englischen Tragödie von Dryden bis Thomson, Berlin New York 1979, S. 16. 93 John Dryden’s Criticism of ‚Remarks On The Tragedies Of The Last Age‘ by Rymer, in: Ders.: Prose, 1668–1691. An essay of dramatick poesie and shorter works, University of California
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Die eigentliche Adaption der Racineschen Tragödienform datierte Martin Brunkhorst – nach dem eher unbedeutenden Versuch über die Andromache eines Oliver Crowne – auf das Werk Thomas Otways, der in Titus and Bérénice von 1676 eine Adaption der Bérénice Racines vornahm.94 Während Eugene M. Waith Otway und Racine aufgrund ihrer sentimentalen Aspekte im Sinne jener bereits erörterten „Tears of Magnanimity“ verglich95, sah Brunkhorst in Otways Drama den Siegeszug des französischen Klassizismus im englischen Drama, der als „neues Tragödienideal“96 seinen Höhepunkt dann in John Drydens All for love von 1678 erreiche. Schon Katherine E. Wheatley betonte in ihrer Studie Racine and English Classicism den Einfluss der Bérénice auf Szenen und Sprache von All for Love97, später hat zudem Robert W. McHenry Gemeinsamkeiten zwischen der Racineschen Bérénice und Drydens All for Love erarbeitet. Eine Kenntnis Drydens ist offensichtlich: Beide Tragödien dramatisieren das Verhältnis einer fremden Königin (Bérénice; Cleopatra) zu ihren beiden Geliebten bzw. fremden Staatsmännern (Titus und Antiochus; Antonius und Dolabella bzw. Caesar), die ihrerseits in einem hierarchischen Verhältnis stehen, zugleich aber Rivalen der Liebe zur fremden Königin sind. In dieser ménage à trois gibt es zwar erkennbar unterschiedliche Schwerpunktsetzungen: Bei Racine einigen sich die drei Liebenden auf eine Strategie der Entsagung, wohingegen bei Dryden ein blutiges Drama der Eifersucht entfaltet wird. Die Grundidee der galanten tendresse, durch eine Didaktik des Verzichtes die Eskalation emotionaler Bindungen zu vermeiden, findet also im Zuge der Racine-Rezeption bei Dryden sowie später auch bei Nicholas Rowe keinerlei Entsprechung. Ungeachtet dieser freilich sehr wichtigen Differenz identifizierte McHenry jedoch mindestens drei deutliche Analogien. Eine sah er in der hoffnungsvollen Treue, mit welcher sowohl die Bérénice als auch die Cleopatra ihre jeweils innig geliebten Männer – Titus bzw. Antonius – durch einen Treue- und Liebesschwur für sich zu gewinnen suchen: Wie Bérénice ihre Liebe zu Titus durch eine explizite Distanzierung des Antiochus unterstreicht, so betont Cleopatra, von Caesar zur Liebe „gezwungen“ worden zu sein, aber immer nur Antonius geliebt zu haben.98 Eine zweite Parallele sah McHenry zudem in der Tatsache, dass jeweils äußere Umstände – das Veto des römischen Volkes gegenüber der Nicht-Römerin Bérénice
94 95 96 97 98
Press, 1971, S. 190. Dryden bezieht sich damit auf den französischen Philologen René Rapin, der in seinen Réflexions sur la poétique d’Aristote et sur les ouvrages des poétes anciens et modernes von 1674 die Orientierung der modernen französischen Dramatiker am Paradigma der Zärtlichkeit als ein generelles Kennzeichen auch und vor allem gegenüber der antiken Tragödie erkannte und scharf kritisierte. Brunkhorst: Tradition und Transformation, a.a.O., S. 55–68. Eugene M. Waith: Tears of Magnanimity in Otway and Racine, in: French and English Drama of the Seventeenth Century, Los Angeles: William Andrews Clark Library, 1972, S. 1–22. Ebd., S. 69–91. Katherine E. Wheatley: Racine and English Classicism, Austin: Univ. of Texas Press, 1956, S. 266f. Robert W. McHenry: Betrayal and Love in All for Love and Bérénice, in: Studies in English Literature, 1500–1900, Vol. 31, No. 3, Restoration and Eighteenth Century (Summer, 1991), S. 445– 461, hier S. 446f.
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bzw. die Niederlage des Antonius bei Actium – die Liebhaber zu einer nostalgischen Erinnerung an das idyllische Glück vergangener Tage veranlassen.99 Und drittens sah McHenry in beiden Dramen eine vergleichbare Reaktion auf den Liebesverrat: Bei Racine habe die Bérénice das dunkle und erschreckende Gefühl, möglicherweise von Titus niemals wirklich geliebt worden zu sein, bei Dryden fände sich eine vergleichbare Angst der Cleopatra vor einem möglichen Liebesverrat, als Antonius zu Beginn des zweiten Aktes seine Abreise ankündigt.100 Um diese von McHenry aufgeführten Analogien zu überprüfen, sei zunächst eine inhaltliche Skizze vorangestellt. Drydens Tragödie fokussiert die Phase nach der verlorenen Schlacht bei Actium, die das Ende des römischen Bürgerkriegs markiert und die Flucht von Antonius und Cleopatra nach Alexandria auslöst. Das Drama beginnt im Isistempel, wo der greise Serapion den anderen Priestern von einer seltsamen Erscheinung berichtet: Das alte Königsgeschlecht der Ptolemäer habe ihm den nahenden Untergang Ägyptens prophezien. Jetzt, wo Roms Heer vor den Mauern Alexandriens stehe, solle Antonius sich aufraffen und die Niederlage von Actium vergessen machen, statt sich in den Tempel zurückzuziehen: Sonst drohe Alexandrien in die Hände Caesar’s zu fallen und Ägypten zur römischen Provinz zu werden. Als ehemaliger Eroberer scheint Antonius jedoch bereits zu Beginn der Tragödie am Ende seiner Kräfte angelangt und steht nun kurz davor steht, von Caesar besiegt zu werden. Allerdings resultiert seine drohende Niederlage bzw. Vernichtung nicht aus der Überlegenheit des neuen Eroberers, sondern aus der emotionalen Gebrochenheit des Antonius selbst. Dies weiß freilich auch sein Umfeld: Als Alexas, Eunuch der Cleopatra, einen Auftrag der Cleopatra an die Römer und Ägypter überbringt, den Geburtstag des Antonius mit einer Feier zu würdigen, ruft dies die signifikante Kritik des alten Feldherrn Ventidius auf den Plan: Wie könne diese verdammte Königin zur Feier auffordern, während das feindliche Herr vor den Toren der Stadt stehe? Schließlich habe sie das Elend zu verantworten, denn Cleopatra habe sich den Antonius, einst der tapferste und beste Römer, zum Spielzeug gemacht und ihn entmannt: O, she has decked his ruin with her love, Led him in golden bands to gaudy slaughter, And made perdition pleasing: She has left him The blank of what he was; I tell thee, Eunuch, she has quite unman’d him: Can any Roman see, and know him now, Thus altered from the Lord of half Mankind, Shrunk from the vast extent of all his honors, And crampt within a corner of the world?101
99 Ebd., S. 447f. 100 Ebd., S. 448. 101 The works of John Dryden, Volume XIII: All for Love; Oedipus; Troilus and Cressida, hg. v. Alan Roper, Berkeley Los Angeles London 1984, S. 29.
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Wir haben es also mit einer Tragödie der Verweichlichung des Kriegers durch die Liebe zur untreuen Frau zu tun, wie auch die nächste Szene verdeutlicht, in welcher Antonius mit einem „doppelten Prunk der Traurigkeit“ – „double pomp of sadness“102 – seinen Geburtstag feiern will, was erneut seine hoch melancholische Schicksalsergebenheit im Sinne einer willenlosen Bejahung des eigenen Endes unterstreicht. Entsprechend wirft er sich – nur von Ventidius beobachtet – verzweifelt und todesmüde zu Boden und beklagt in einem ergreifenden Monolog sein Unglück, nur noch ein Schatten seiner selbst zu sein. Selbst Ventidius, der 40 Jahre lang nicht geweint hat, treten bei diesem ergreifenden Bild die Tränen in die Augen, obgleich er den verzweifelten Antonius zu überzeugen sucht, dass die Truppen ihren geliebten Herrscher gegen den übermütigen Caesar zu schützen bereit seien. Allerdings hätten sich die Truppen geweigert für Cleopatra zu fechten, woraufhin Antonius diese als Feiglinge und den Ventidius als Verräter beschimpft. Schließlich aber bittet er seinen Feldherrn um Verzeihung und zeigt sich bereit, Cleopatra zu verlassen, um an der Spitze seiner Truppen gegen Caesar zu kämpfen. Dies hat nun freilich die Reaktion der Cleopatra zur Folge, die angesichts dieser Trennungsabsichten ihres Geliebten diesen zu sprechen wünscht, was Antonius jedoch verweigert. Selbst die Berichte der Charmion über die Seufzer und Tränen der verzweifelten Königin können ihn nicht erweichen; fühlt er sich doch nicht standhaft genug, ihr nochmals gegenüberzutreten. Die Hintergründe dieser Distanzierung sind freilich andere denn im Falle Racines. Denn im Unterschied zu Titus ist Antonius nicht nur ein extrem melancholischer, sondern zudem ein bereits verheirateter Mann, der durch seine Liebe zu Cleopatra auch aus der monogamen Bahn geworfen wurde. Anders als Racine deutet Dryden seine Heldin also als Geliebte bzw. als Mätresse – „My Mistress“103 –, hierin die bereits erörterte Thematik seiner Restaurationskomödie Marriage à la mode von 1671 erneut aufgreifend. Auch deshalb macht Antonius – anders als Titus – seiner Cleopatra heftige Vorwürfe bzgl. seines von ihr verschuldeten, krisenhaften Unglücks. Sie habe ihm zuerst ihre Liebe versprochen und so zum Müssiggang verleitet, als er die Tage an ihrer Seite verbrachte. Auf diese Weise habe er einerseits die Weltherrschaft verloren, andererseits seine erste Gattin Fulvia auf eine folgenschwere Weise eifersüchtig gemacht. Denn diese habe ihrerseits einen Krieg in Italien erregt, um ihn zur Rückkehr zu bewegen, und sei schließlich im Kampf gefallen. Um Cleopatra zu entgehen, habe er danach Caesars Schwester Octavia geheiratet, sie aber bald verlassen, um wieder nach Ägypten zurückzukehren. Dadurch habe er Caesar Anlass zum Krieg gegeben: All dies habe Cleopatra verursacht. Zu allem Überfluss habe sie ihn dann noch zum Seegefecht bei Actium angestiftet, dann jedoch vorzeitig die Flucht ergriffen und so Verwirrung und Niederlage zu verantworten: „All this you caus’d.“104
102 Ebd., S. 30. 103 Ebd., S. 46. 104 Ebd., S. 50.
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Allerdings vermag Cleopatra in ihrer Verteidigungsrede diese Vorwürfe scheinbar zu entkräften. Zum einen habe sie Caesar nicht ihre Liebe geschenkt: „He first possess’d my Person; you my Love: Caesar loved me; but I loved Antony.“105 Hinsichtlich der beiden Exfrauen Fulvia und Octavia argumentiert sie dagegen im Sinne einer Geliebten: „…’Tis true, I lov’d you, /And kept you far from an uneasy Wife, /(Such Fulvia was)“106 und „… you left Octavia for me; –/And, can you blame me to receive that Love, /Which quitted such Desert for worthless Me?“107 Schließlich entschuldigt sie sich für die Niederlage von Actium, denn obwohl sie zum Seegefecht riet und dennoch floh, habe sie ihn nicht verraten wollen; denn dann wäre sie sicherlich zum Feind geflohen: „I fled, but not to th’ Enemy. ’Twas Fear“108. Am Ende zeigt sie dem noch schwankenden Antonius einen Brief von Octavius Caesar, in dem dieser ihr große Versprechungen macht, falls sie sich ihm hingebe. Antonius ist nun überzeugt, wie seine letzten Worte des Aktes verdeutlichen: How I long for Night! That both the sweets of mutual Love may try, And triumph once o’er Caesar ere we dye.109
Der dritte Akt beginnt mit dem Sieg des Antonius über Caesar, dem eine Siegesfeier und die Krönung des Antonius durch Cleopatra folgen. Auf Anraten des Ventidius soll Antonius Friedensverhandlungen mit Caesar führen, wohingegen Antonius jedoch aus Zweifel an Caesars Friedensbereitschaft dafür optiert, in den noch ausstehenden fünf Schlachten den endgültigen Sieg über Caesar zu erringen. Des Ventidius’ ungebrochenes Plädoyer für eine friedliche Lösung sieht nun die Hilfe von Verbündeten aus Caesar’s Heer vor, ein möglicher Freund des Antonius sei etwa Dolabella. Dieser ist jedoch seinerseits ebenfalls in Cleopatra verliebt und habe Antonius eben deshalb verlassen. In der Tat taucht nun eben dieser Dolabella auf, dem der alte Freund Antonius sogleich die Lage erläutert: Nicht er, Antonius, sondern Caesar sei nunmehr der Herrscher und Herr der Welt. Beide kommen nun darin überein, durch die Liebe zur Cleopatra in ihrer männlichen Rolle verunsichert worden zu sein. War es bei Antonius die politische Weltherrschaft, so war es bei Dolabella die unterlassene Vergeltung des Brudermordes: Statt die Königin Cleopatra für ihre Mitschuld zu bestrafen, sei er von Liebe zu ihr ergriffen. Allerdings war Dolabella zu dieser Zeit noch ein unwissender Jüngling, und anders als Antonius habe er in der Liebe zur Cleopatra nur sich selbst, Antonius aber seine Legionen, die Weltherrschaft und die Liebe seines Volkes verloren. Vor allem aber habe er mit Hilfe der Octavia, also der verstoßenen Exgattin des Antonius, Caesar zu Friedensbedingungen bewegen können. 105 106 107 108 109
Ebd., S. 51. Ebd. Ebd. Ebd., S. 52. Ebd., S. 54.
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Was Drydens All for Love nun gegenüber früheren Cleopatratragödien auszeichnet, ist die Einführung dieser Octavia, der Gattin des Antonius, die in All for Love erstmals eine persönliche Begegnung mit der ägyptischen Königin als ihrer Nebenbuhlerin hat. Diese Begegnungen der Cleopatra mit der Gattin ihres Geliebten erhält ihre Pikanterie dadurch, dass Octavia zugleich die Schwester Caesars ist. Denn Octavia verweist nun darauf, aus Liebe zu Antonius und den gemeinsamen Kindern ihren Bruder Caesar zu diesem Friedensschluss bewogen zu haben. Ihr gehe es also um eine Aussöhnung zwischen ihrem Bruder Caesar und dem Exgatten Antonius: Eine von Ventidius, Dolabella und den gemeinsamen Kindern unterstützte Initiative der Gattin, die Antonius schließlich zur Trennung von Cleopatra sowie zur Versöhnung mit Caesar bewegt. Die nun auftretende Cleopatra ist ganz ausser sich vor Wut und Verzweiflung, zwischen ihr und Octavia kommt es zum Streit um Antonius, aus welchem Octavia schliesslich als Siegerin hervorgeht. Zwar verspricht Alexas seiner Herrin Cleopatra, die wieder versöhnten Ehepartner wieder zu trennen; zunächst aber bleibt ihr nur die Schmach, eine bloße Mätresse des Antonius gewesen zu sein, wie sie gegenüber der Gattin Octavia eigens betont: If you have suffered, I have suffered more. You bear the specious title of a wife To gild your cause, and draw the pitying world To favour it: the world condemns poor me. For I have lost my honour, lost my fame, And stained the glory of my royal house, And all to bear the branded name of mistress.110
Der vierte Akt zeigt dann die wohl wichtigste Auseinandersetzung mit der Racineschen Vorlage, indem er den Nebenbuhler ins Spiel bringt, und diesen überdies zum Kompanion des Antonius macht. Auch Antonius muss sich – wie Racines Titus – von der Geliebten Cleopatra verabschieden, und auch er lässt seinen Nebenbuhler Dolabella der Königin diese Nachricht überbringen, wenngleich Dolabella – wie Racines Antiochus – seinerseits in Cleopatra verliebt ist. Anders als bei Racine legt es Cleopatra auf Anraten ihres Eunuchen Alexas jedoch darauf an, Antonius eifersüchtig zu machen, um ihn so von der geplanten Trennung abzubringen. Dies soll mittels Dolabella gelingen, der Cleopatra in diesem Kalkül als Auslöser einer Eifersucht des Geliebten dienen soll. Dieses geschickte Manöver der Cleopatra beinhaltet einerseits gespielte Ohnmacht, andererseits die Erlaubnis, Cleopatra die Hand küssen zu dürfen, wenn Dolabella ihr ein Treffen mit Antonius ermöglicht. Dolabella lässt sich darauf ein, im Moment des Handkusses kommen jedoch General Ventidius und Octavia hinzu, die als Feinde der Cleopatra gewillt sind, diese Entdeckung eines vermeintlichen Seitensprungs dem Antonius mitzuteilen. Zunächst bezweifelt Antonius die Berichte der beiden und mutmaßt gar eine Intrige, als jedoch auch der Eunuch Alexas Dolabellas Liebe zu Cleopatra bezeugt, werden Dolabella und Cleopatra von ihm der Täuschung bzw. der Liebes110 Ebd., S. 70.
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verrats angeklagt. Die Tragödie erreicht ihren emotionalen Höhepunkt also nicht wie bei Racine im Moment der Entsagung, sondern in der von Antonius gemachten Entdeckung dieses Liebesverrats: but you have ripen’d sin To such a monstrous growth, ’twill pose the Gods To find an equal Torture. Two, two such, Oh there’s no farther name, two such-to me, To me, who lock’d my Soul within your breasts, Had no desires, no joys, no life, but you; When half the Globe was mine, I gave it you In Dowry with my heart; I had no use, No fruit of all, but you: a Friend and Mistress Was what the World could give. Oh, Cleopatra! Oh, Dolabella! how could you betray This tender heart, which with an Infant-fondness Lay lull’d betwixt your bosoms, and there slept Secure of injur’d Faith?111
Als beide die Vorwürfe leugnen, nennt Antonius seine Zeugen: Ventidius, Octavia und Alexas. Cleopatra und Dolabella sehen nun keinen Ausweg mehr, beide versuchen jedoch, sich selbst zu be- und den je anderen zu entschuldigen. Das bestärkt den Antonius in seiner Eifersucht, woraufhin ihm Cleopatra nun ihre eigene Strategie zu erläutern versucht: Durch den Handkuss habe sie die Eifersucht des Antonius heraufbeschworen, um ihn so für sich zurückzugewinnen. Antonius aber glaubt ihr nicht, sondern verstößt sie, weshalb Cleopatra sich trotz aller Argumente zum Abschied gezwungen sieht: Eine wie bei Racine durchaus herzergreifende Szene emotionaler „Grausamkeit“: Farewel, my cruel Lord. Th’Appearance is against me; and I go Unjustify’d, for ever from your Sight. How I have loved, you know; how yet I love, My only Comfort is, I know myself; I love you more, ev’n now you are unkind, Than when you lov’d me most, so well, so truly, I’ll never strive against it; but die pleas’d To think you once were mine.112
Im fünften Akt will die verzweifelte Cleopatra sich erdolchen, wird aber von ihren Begleiterinnen daran gehindert. Sie lässt ihre Wut am Eunuchen Alexas aus, der aus ihrer Sicht der Verräter ist, seine Herrin jedoch zu beruhigen vermag: Sei doch die Octavia verstoßen, Dolabella verbannt, und die Liebe des Antonius für sie niemals ganz erloschen. In diesem Moment aber berichtet Serapion, dass die ägyptische Flotte unter Anführung des Antonius den Kriegsschauplatz verlassen und sich dem 111 Ebd., S. 88. 112 Ebd., S. 91.
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Caesar kampflos überlassen habe. Antonius sei rasend vor Wut auf Cleopatra, von der er sich verraten glaubt. Auf Anraten von Alexas solle Cleopatra sich zurückziehen und Antonius seinem aussichtlosen Schicksal überlassen, während er mit Caesar Friedensverhandlungen führen wolle, was Cleopatra akzeptiert. Als nun Antonius mit Ventidius eintritt, sein Unglück beklagt und Cleopatra verflucht, scheint die Lage aussichtslos: mit seinen letzten drei Legionen wolle er sich dem Caesar entgegenstellen, um den Ehrentod zu sterben. In diesem Moment berichtet Alexas dem Antonius, dass sich Cleopatra soeben mit dem Dolch das Leben genommen habe: Noch im Sterben habe sie ihre Unschuld beteuert und seinen Namen angerufen. Antonius ist voller Verzweiflung und erklärt nun dem Ventidius, nicht mehr gegen Caesar zu kämpfen, sondern freiwillig in den Tod zu gehen: sein Feldherr solle ihn erstechen. Der brave Ventidius aber ersticht sich selbst, um seinen Herren nicht töten zu müssen. Da Antonius nun ebenfalls das Schwert gegen sich selbst richtet, findet die eintreffende Cleopatra ihn nurmehr im Todeskampf, kann ihm also nur zu spät erläutern, dass Alexas die Geschichte ihres vermeintlichen Selbstmords nur erlogen habe, dass sie nur ihn, nie dagegen den Dolabella geliebt habe, und dass sie ihm sofort in den Tod folgen werde. Antonius stirbt versöhnt, Cleopatra lässt sich Krone und Königsschmuck bringen, um ihrem „Gemahl“ im Jenseits würdig zu begegnen. Als die königlich geschmückte Cleopatra den tödlichen Biss zweier eigens herbeigebrachter Nattern zu empfangen bereit ist, überbringt Serapion die Nachricht, dass sich die Stadt ergeben habe und Caesar einziehe. Zudem werde er Alexas, der die Stadt verraten hat, seiner gerechten Strafe zukommen lassen. Die Frauen und Charmion können dies im Todeskampf noch eben vernehmen, dem sterbenden Liebespaar gelten des Priesters letzte Worte: Sleep, blest Pair, Secure from human Chance, long Ages out, While all the Storms of Fate fly o’er your Tomb; And Fame, to late Posterity shall teil No Lovers liv’d so great, or dy’d so well,113
Die Empfindsamkeit der Helden: Antonius und Cleopatra Anders als Racines entsagender Titus gerät Drydens Held Antonius aufgrund seiner Liebe zu Cleopatra in Konflikt mit seinem Umfeld, denn er scheitert sowohl an seinen politischen Aufgaben als auch an den Forderungen der Gattentreue und der Vaterpflicht, die Gattin Octavia ihm gegenüber geltend macht. Seine durchaus an Verblendung grenzende Leidenschaft für Cleopatra führt ihn in ein Verderben, das zugleich aus einem Misstrauen gegenüber Cleopatra resultiert. Dieses Misstrauen erwächst jedoch aus den Berichten der Mitwelt, also aus dem Bericht von Ventidi113 Ebd., S. 110.
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us und Octavia über Cleopatras vermeintlichen Liebesbetrug, der Antonius zutiefst erschüttert. Zunächst bezichtigt er beide der Lüge, woraufhin das empörte Dementi der Octavia zum Bruch zwischen ihr und Antonius führt. Dieser Bruch resultiert jedoch aus der Tatsache, dass Octavia jene Antonius bereits zuvor umtreibende Ahnung eines Liebesverrats nur bestärkt, was sie freilich weiß. Mit einem untrüglichen Gespür für eben jene Bedenken nennt sie Cleopatra eine „abandon’d, faithless Prostitute.“114 Zudem verlacht sie ihn gar, als sie ihm in regelrechter Raserei vorhält, er sei durch eine vorgetäuschte Liebe der Cleopatra betrogen worden. In dieser hoch emotionalen Szene erreicht nicht nur der Schmerz des Antonius, sondern auch der Stolz Octavias seinen Höhepunkt. Denn sie sieht nur, dass Antonius Cleopatra immer noch liebt, ohne zu erkennen, dass Antonius zu diesem Zeitpunkt seiner Liebe zu Cleopatra aus Gründen der Pflichterfüllung entsagt hat, hierin dem Titus Racines vergleichbar. Allerdings konnte er diesen an Titus gemahnenden Verzicht nur deshalb leisten, weil er davon ausging, dass Cleopatra ihn nicht verraten habe. Weit stärker als Racine zeigt Dryden in dieser ménage à trois also, dass die seelische Größe des Antonius, seine Berreitschaft zum Verzicht auf Cleopatra, auf sein Vertrauen in deren Loyalität zurückzuführen ist. In dieser Bereitschaft sind wohl die deutlichsten Parallelen zwischen Dryden und Racine auszumachen, insofern Antonius in dieser Gewissheit zugleich eine der Racineschen Heldin Bérénice vergleichbare Läuterung durchläuft. Wie die Bérénice, so trennt auch Antonius zu einem bestimmten Zeitpunkt zwischen seiner Verpflichtung gegenüber Rom und seiner romantischen Liebe. Wie sehr Dryden im Unterschied zu Racine die Fragilität dieser in der Entsagung sich zeigenden Seelengröße in den Blick nimmt, zeigt sich nun in der auf den Streit zwischen Octavia und Antonius folgenden Szene, in welcher die beiden vermeintlichen Nebenbuhler Cleopatra und Dolabella auftreten, und in der Drydens Tragödie zweifellos ihren emotionalen Höhepunkt erreicht. Octavias Suggestionen zeigen hier ihre Wirkung, wenn Antonius nun glaubt, dass Cleopatra und Dolabella, die beiden Menschen, die er am meisten liebt, ihn dennoch hintergangen haben. Er prangert sie als Schlangen an, deren Verbrechen die üblichen Höllenstrafen weit übersteigen würden, und zeigt nun sowohl seine tiefe Bitterkeit wie auch seine Verwundbarkeit. Dies ist reinste Empfindsamkeit, denn Antonius erscheint nicht als Rasender im Sinne Shakespeares, sondern als weinender Held, der die emotionale Bindung bzw. die Aufrichtigkeit der Gefühle über alles stellt: but you have ripened sin, To such a monstrous growth, ’twill pose the gods, To find an equal torture. Two, two such! – Oh, there’s no farther name, – two such! to me, To me, who locked my soul within your breasts, Had no desires, no joys, no life, but you; When half the globe was mine, I gave it you In dowry with my heart; I had no use, 114 Ebd., S. 85.
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No fruit of all, but you : A friend and mistress, Was what the world could give. Oh, Cleopatra! Oh Dolabella! how could you betray This tender heart, which with an infant fondness Lay lulled betwixt your bosoms, and there slept, Secure of injured faith?115
Ähnlich empfindsam ist Drydens Cleopatra, denn auch sie begegnet den Anklagen der Gattin Octavia, aber auch den politisch motivierten Vorwürfen des Antonius stets mit dem Verweis auf ihre unerschütterliche und aufrichtige Liebe. Drydens Cleopatra ist keine politisch denkende Herrscherin, sondern in erster Linie eine liebende Frau, der der Machtverlust bzw. die Bedrohung Ägyptens weit weniger bedeutsam denn der drohende Verlust ihres Geliebten Antonius erscheint, dessen Liebe sie in aller Intensität teilt. Dass diese gegenseitige Liebe die beiden dennoch ins Verderben stürzt, liegt daher weniger am fehlerhaften Handeln der Liebenden, denn vielmehr an den intriganten Gerüchten ihrer Umgebung. Durch deren Schuld erscheint Cleopatra dem Geliebten Antonius als Verräterin, und auch die fälschliche Todesnachricht geht nicht von ihr selbst, sondern von ihrem Eunuchen Alexas aus. Dennoch vermag Cleopatra dem sterbenden Antonius noch im gemeinsamen Todeskampf diese Verwicklungen zu erläutern, wie umgekehrt auch Antonius die finale Versöhnung mit der Geliebten mehr wert ist als sein politischer Besitz, den er ja dem Caesar hinterlassen muss. In eben diesem Sinne ist die Welt „well lost“, denn die Liebe zwischen Cleopatra und Antonius ist zwar a „noble madness“116, wie Cleopatra betont. Aber am Ende wird das Vertrauen in die Konstanz und Reinheit der Gefühle wieder hergestellt, wenn die Liebe den Tod der Helden gleichsam transzendiert. Dies zeigt der letzte Akt des Dramas, denn Cleopatra, im Tode vereint mit dem Geliebten, scheint zu lächeln: „Th’impression of a smile left in her face.“117 Der Bericht Serapions über den schauerlichen Doppelselbstmord der Helden erhält somit einen unerwartet milden, ja regelrecht beruhigenden Ausklang, ganz im Unterschied etwa zu Shakespeare. Shakespeares Cleopatra befindet sich bereits in einer Ekstase freudiger Todesbereitschaft, Drydens Figur wirkt in dem bewegenden Kampf gegen ihre letzte menschliche Schwäche tapfer und rührend zugleich. Eben darin aber liegt die Nähe zu Racine, die in der Forschung insbesondere von Robert McHenry nachdrücklich betont worden ist: The consistency with which Dryden adapts and develops this motif shows that his use of Racine was anything but fragmented or arbitrary. Once he has laid out this exploration of the psychology of betrayal, he then adapts it sensitively to the necessities of his own subject. He also follows Bérénice in representing the destructive fear of betrayal finally succumbing to the power of love. That wholehearted triumph of love suggests the nature of Dryden’s commitment to the drama of sentiment, for not only has
115 Ebd., S. 88. 116 Ebd., S. 39. 117 Ebd., S. 110.
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Dryden „glorified tender and passionate love“ as Jean Hagstrum puts it, but he regards his characters’ inner emotional triumph as more important than their actions.118
Eine ähnliche Form der inneren Befreiung von der drückenden Angst vor dem Liebesverrat sah McHenry auch im Charakter des Antonius umgesetzt. Auch dieser kann schließlich trotz des politischen Verlustes mit innerer Seelenruhe aus dem Leben scheiden, nachdem er seine obsessive Angst vor dem Liebesverrat überwunden hat. Seine militärischen Verluste und Enttäuschungen geraten dabei vollkommen aus dem Blick, in seinen Schlussworten erinnert er sich vielmehr der „utmost joys“119, die er in seiner Liebe zu Cleopatra fand. Im Tod ist daher sein „Golden Dream“120, der Glaube an die gemeinsame Liebe wieder hergestellt, auch für Antonius ist die Welt also „well lost“. Beide Liebenden verlieren ihr politisches Reich und ihr Leben, aber gewinnen die Gewissheit ihrer Liebe, und dies reicht vollkommen aus, um versöhnt abzutreten. Eben diese intensive psychologische Analyse des Liebesverrats und seiner Läuterung stellt nach McHenry die Parallele zwischen Drydens All for Love und Racines Bérénice dar. Insofern ergänzt Dryden zwar die klassischen, sicher auch von Shakespeare entlehnten Tragödienelemente von Tod und Intrige, auf welche Racine zum Leidwesen vieler seiner Kritiker verzichtete. Dennoch aber teilt Dryden den sentimental-psychologischen Fokus, den schon Racine im Spannungsfeld von Liebe und Verrat anlegte. Über dieses Motiv fand auch Dryden zu jener neuen Form heroisch-empfindsamer Innerlichkeit, wie sie in der Bérénice vorgeprägt war, deren Figuren ebenfalls in der Lage waren, über ihre Ängste und Aggressionen im Namen der Zärtlichkeit zu triumphieren.
Die poetisch gerechte Variante der Racineschen ménage à trois: Thomas Otways The Orphan und Nicholas Rowes The Fair Penitent Wir konnten zeigen, wie wichtig die Rolle John Drydens beim Import der Racineschen tragédie tendre nach England gewesen ist. Dryden hatte also nicht nur in seiner Komödie Marriage à la mode von 1671, sondern auch in der Tragödie All for Love von 1678 den französischen Diskurs über die tendresse umfangreich zur Kenntnis genommen. Allerdings beschränkt sich die Rezeption der Racineschen tragédy tendre im England des 17. Jahrhunderts keineswegs auf das Werk John Drydens. Auch Thomas Otways The Orphan, or The Unhappy Marriage von 1780 müssen wir als Adaption Racines verstehen, schließlich geht die erste bekanntere Bearbeitung der Racineschen Bérénice auf Otways 1674 veröffentlichte Tragödie Titus
118 Robert W. McHenry: Betrayal and Love in All for Love and Bérénice, a.a.O., S. 458. McHenry bezieht sich dabei auf: Jean H. Hagstrum, Sex and Sensibility: Ideal and Erotic Love from Milton to Mozart, Chicago: Univ. of Chicago Press, 1980, S. 61. Vgl. dazu auch: Otto Reinert: „Passion and Pity in All for Love“, in: Twentieth Century Interpretations of ‚All for Love‘, S. 83–98. 119 The works of John Dryden, Volume XIII, a.a.O., S. 106. 120 Ebd., S. 101.
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and Bérénice zurück.121 Nach Ansicht von Doris Feldmann war Otways Drama The Orphan die erste empfindsame Tragödie Englands, die dann in den sogenannten she-tragedies von Nicholas Rowe ihre Fortsetzung fand.122 Otway sei demnach der Begründer des empfindsamen Bürgerlichen Trauerspiels in England, dem dann die domestic tragedy von Lillo und Moore gefolgt sei: Eine erkennbar an der Bürgerlichkeitsthese Gerhard Sauders orientierte Einordnung. Dieser steht freilich die These von Eugene Waith entgegen, der Otways Empfindsamkeit auf ein von Racine entlehntes Motiv, die „Tears of Magnanimity“ zurückführte. Mit Recht, denn schon im Vorwort seiner Tragödie Don Carlos von 1676 hatte Otway darauf verwiesen, wie wichtig ihm die Racinesche Wirkungsästhetik der Rührung erschien, wenn er betont, dass „the author of the French Bérénice has […] never failed to draw tears from the eyes of the auditors; I mean, those whose souls were capable of so noble a pleasure.“123 Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, dass sowohl Thomas Otway als auch Nicholas Rowe ihren Dramen die ménage à trois Racines zugrunde legten, diese jedoch aus einer bei Dryden noch fehlenden Perspektive bearbeiteten: Dem zu dieser Zeit geprägten Argument poetischer Gerechtigkeit. 1677 hatte der eher als Kritiker denn als Dramatiker erfolgreiche Thomas Rymer in seinem schon genannten Essay Tragedies of the Last Age Considered die poetische Gerechtigkeit im Sinne einer Belohnung der Tugend bzw. einer Bestrafung des Lasters als normative Vorgabe für das Drama eingefordert124: Deren Auswirkungen sind schon bei Thomas Otway und Nicholas Rowe unverkennbar. Beiden Dramatikern geht es daher weniger um jene von Dryden adaptierte Psychologie der Entsagung, denn vielmehr um die Darstellung bedrängter weiblicher Tugend. Zudem sind die Dramenfiguren Thomas Otways keine höfischen Persönlichkeiten, sondern entstammen dem Landadel, also dem british gentry, und werden in ihrer Rolle als Familienmitglieder dargestellt. Pater familias ist in The Orphan der Aristokrat Acasto, der aufgrund enttäuschender Erfahrungen bei Hof und in der Armee den Rückzug auf das Land angetreten hat, um dort mit seinen beiden Söhnen Castalio und Polydore zu leben. Sein Leben als „private Gentleman“125 basiert also auf Abgeschiedenheit und Verzicht, dennoch aber ist es von Tragik gezeichnet. Diese Tragik entspannt sich zwischen seinen beiden Zwillingssöhnen Castalio und Polydore, die sich – ganz im Sinne jener von Racine in der Bérénice entwickelten ménage à trois – um The Orphan, um die vom Vater adoptierte Waise Monimia streiten. Scheiterte die Liebe bei Racine an der Staatsraison, so liegt die Tragik bei Otway im Liebeskonflikt dieser beiden Zwillingssöhne, deren Beziehung zwar von Freundschaft und Vertrauen geprägt ist, 121 Vgl.: Brunkhorst: Tradition und Transformation, a.a.O., S. 55–68. 122 Doris Feldmann: Gattungsprobleme des domestic drama im literarhistorischen Kontext des achtzehnten Jahrhunderts, Amsterdam 1983, S. 73–84. 123 Don Carlos, ‚Preface‘, Ghosh I, S. 171. 124 Vgl.: Zach: poetic justice, a.a.O., S. 30ff. 125 The works of Thomas Otway, with notes and a life of the author, Vol. II, hg.v. Thomas Thornton, London 1813, S. 213.
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die allerdings hinsichtlich ihres Frauenbildes stark divergieren. Polydore, der als libertine schon einige Erfahrungen in der Liebe gesammelt hat, betrachtet die Monimia eher als Trophäe und die Liebe als Spiel, wohingegen bei seinem Zwillingsbruder Castalio echte Liebesgefühle vorhanden sind. Nach außen hin teilt Castalio – ähnlich wie sein Vater – die zu dieser Zeit im französischen und britischen Adel gängigen Ansichten von der Unvereinbarkeit von Ehe und Liebe, insgeheim aber wird der vom zeitgenössischen Ehrenmann eher belächelte Status des Ehemanns von ihm affirmiert. Er hat also die Waise Monimia, welche ihm ihrerseits sehr zärtlich, offen und hingebungsvoll gesinnt ist, heimlich geheiratet, was er jedoch gegenüber seinem Bruder verschweigt. Als dieser Bruder Polydore nun per Zufall mitbekommt, wie Monimia und Castalio eine Zusammenkunft für die Nacht ausmachen, vollzieht er in seiner Enttäuschung und Eifersucht ein Verwirrspiel, indem er sich in der Hochzeitsnacht als sein Bruder ausgibt. Mit einem von den Ehepartnern vereinbarten Klopfzeichen – drei leichte Schläge gegen die Kammertür – verschafft er sich Zugang zum Schlafzimmer der Schwägerin. Als nun sein Zwillingsbruder Castalio ebenfalls versucht, sich mit dem vereinbarten Signal Zutritt zur Schlafkammer zu verschaffen, wird er abgewiesen, weshalb er am folgenden Tag seinerseits die Monimia verstößt. Diese fällt in Ohnmacht, wird von Polydore gepflegt, erfährt so von dessen Täuschung und erklärt Polydore nun entsetzt, dass sie am Vortag dessen Bruder geheiratet habe. Polydore ist durch diese Enthüllung schwer getroffen, versucht aber, seine Schuld durch eine Versöhnung der beiden Ehepartner teilweise zu sühnen. Die Ambivalenz zwischen höchster Freundschaft und eifersüchtigem Neid zwischen den Zwillingsbrüdern endet also in einer Aussprache der beiden, wodurch die bewusste Irreführung Polydores von Castalio bemerkt wird. Das an sich unschuldige Opfer Monimia verfällt jedoch nun dem Wahnsinn und nimmt dann, wieder bei Bewusstsein, Gift. Vorher verzeiht sie Polydore, nachdem sie ihn über die Sündhaftigkeit seiner Tat belehrt hat. Castalio jedoch, der von Polydore nie die Wahrheit erfährt, glaubt, den Tod Monimias durch seinen Zorn verursacht zu haben, weshalb am Ende des Dramas auch für ihn und seinen Bruder Polydore nur noch der Freitod bleibt. Wie bei Racine, so resultiert auch bei Otway die Tragik seines Dramas keineswegs aus den Agressionen innerhalb dieses Liebesdreiecks. Vielmehr ist es ein hochmoralisches Selbstverständnis, welches diesen dreifachen Selbstmord auslöst: Castalio grämt sich ob der Täuschung seines Bruders, dem er die Ehe mit Monimia verschwieg; Polydore grämte sich ob der unbewussten Verführung seiner Schwägerin, da er Monimias eigentlichen Status ja nicht kannte; und Monimia grämte sich ob ihres unverschuldeten Ehebruchs. Diese Schuldkomplexe treiben alle drei in extrem verzweifelte Gewissenskonflikte, die sie schließlich nur durch den Selbstmord lösen können. Einen wirklich Schuldigen für die Tragik des Geschehens sucht man hingegen vergebens: Auch Polydore ist zwar ein „rake“, aber kein „scoundrel“, also ein sinnenfroher Lebemann und Verführer, aber kein Schurke. Zudem wäre es anachronistisch, ein allzu rigides Tugendideal der Familie als Ursache dieser Gewissenskonflikte anzusetzen, wie dies im Bürgerlichen Trauerspiel des
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Sturm und Drang der Fall ist: Der von den Söhnen betonte Gehorsam gegenüber dem Vater schließt keineswegs aus, dass der Vater ein zärtliches Wesen hat: „Yet he’s so tender, and so good a father, I could not do a thing to cross his will.“126 Allerdings verbindet sich mit der Tenderness der Monimia eine gewisse Schwäche und Schutzlosigkeit, also – ganz im Unterschied zur Bérénice – eine Auslieferung ihrer selbst an den Geliebten Castalio, wie schon Helmut Klingler betonte.127 MONIMIA: Look kindly on me then; I cannot bear Severity; it daunts, and does amaze, me; My heart’s so tender, should you charge me rough, I should but weep, and answer you with sobbing; But use me gently, like a loving brother, And search through all the secrets of my soul. CHAMONT: Fear nothing, I will show myself a brother, A tender, honest, and a loving, brother. You’ve not forgot our father?128
Wir finden nun eine ähnliche, aber noch weit entschiedener dem Prinzip poetischer Gerechtigkeit verpflichtete Inszenierung der ménage à trois in Nicholas Rowes Tragödienwerk, das unter dem Stichwort der she-tragedys bekannt ist. Rowe, ein ausgebildeter Jurist, orientierte seine seit 1700 erschienenen Tragödien eng an das durch Jeremy Colliers Short View of the Immorality and Profaneness of the English Stage von 1698 entwickelte Kriterium der Tugendhaftigkeit. 1700 erschien Rowes The Ambitious Stepmother, zwei Jahre später Tamerlane, dann 1703 The Fair Penitent sowie später die Tragödie der Jane Shore, ein Blankversdrama in fünf Akten, das am 2. Februar 1714 im Drury Lane Theatre in London uraufgeführt wurde. Rowe setzt also jene poetisch gerechte Variation der tragédie tendre Racines fort, die Otway in seinen Dramen vorbereitete. Schon 1699 betonte John Oldmixon in seinen Reflexion on the stage, in welchem Umfang die Racinesche Empfindsamkeit in England die Bühne erreicht habe: „The French fancy they are particularly happy in moving Pity in their Tragedies, yet this passion has appear’d on our Stage as lively, as ever Racine brought it on theirs. Otway’s Venice Preserv’d, and Orphan, part of Lee’s Brutus, some scenes of Mr. Southerne’s Fatal Marriage, and part of The Mourning Bride are examples of as penetrating tenderness as any we can find in the Berenice or Bajazet, or, in short, in the best of Racine’s pieces, who is most excellent when he is touching that passion.“129 Dass Nicholas Rowe hingegen den neuen Ton der Zärtlichkeit nicht als „penetrating“, sondern als zu begrüßenden Fortschritt begriff, zeigt schon das Vorwort seiner Tragödie The ambitious Stepmother 126 Ebd., S. 216. 127 Helmut Klingler: Die künstlerische Entwicklung in den Tragödien Thomas Otways, Wien 1971, S. 139. Vgl. dazu etwa: „Castalio! O Castalio! hast thou caught/ My foolish heart; and, like a tender child,/ That trusts his plaything to another hand,/ I fear its harm, and fain would have it back./ Come near, Cordelio; I must chide you, sir.“ 128 The works of Thomas Otway, a.a.O., S. 230. 129 Zitiert nach: Katherine Wheatley: Racine and English Classicism, a.a.O., S. 273.
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von 1701, welches den von Racine geprägten neuen Ton gerade mit Blick auf die Tragödie Thomas Otways entschieden begrüßt: Since Terror and Pity are laid down for the Ends of Tragedy, by the great Master and Father of Criticism, I was always inclin’d to fancy, that the last and remaining Impressions, which ought to be left on the minds of an Audience, should proceed from one of these two. They should be struck with Terror in several parts of the Play, but always Conclude and go away with Pity, a sort of regret proceeding from good nature, which, tho an uneasiness, is not always disagreeable, to the person who feels it. It was this passion that the famous Mr. Otway succeeded so well in touching, and must and will at all times affect people, who have any tenderness or humanity.130
Nicht nur diese Form der Erregung von Mitleid übernimmt Rowe von Otway, sondern auch dessen poetisch gerechte Variation der ménage à trois, dergemäß eine Frau zum Opfer bzw. zur Büßerin gemacht wird. Diese Büßerin ist die Tochter des genuesischen Edelmannes (nobleman) Sciolto, der seine Tochter Calista seinem Schützling Altamont versprochen hat. Allerdings widersetzt sich Calista dem Wunsch ihres Vaters, den „joung lord“ Altamont zu heiraten, denn sie ist in einen jungen Genueser Lord namens Lothario verliebt, der Calista verführte. Als Verführer im Sinne der rakes der restoration comedy weigert sich jedoch Lothario wiederum, eine Ehe mit Calista einzugehen. Darum gibt Calista dem Drängen ihres Vaters scließlich nach, kann jedoch ihren treulosen Liebhaber nicht vergessen, und bestellt ihn noch am Tage ihrer Hochzeit per Brief zu einem letzten Stelldichein. Beim Lesen des Briefes wird nun Lothario von Altamonts Freund Horatio überrascht, der dem fliehenden Nebenbuhler den Liebesbrief abnimmt und nun – tödlich erschrocken über dessen Inhalt – Calista ob ihres „guilty paper“131 zur Rede stellt. Allerdings reagiert Calista nicht beschämt, sondern erzürnt, stellt sich als völlig unschuldig dar, weshalb sich ihr zukünftiger Gatte Altamont auf die Seite seiner kommenden Gattin stellt. So kommt es zum Bruch zwischen Horatio und Altamont, dem jedoch Zweifel bleiben. Mit Recht, denn natürlich trifft er nun auf Calista und Lothario, die sich der Verabredung gemäß zu einem Stelldichein zusammenfinden und dabei von Altamont belauscht werden. Durch diesen Fehltritt der Geliebten zutiefst verletzt, fordert er seinen Nebenbuhler Lothario zum Schwertkampf heraus, woraufhin dieser in einem erbitterten Zweikampf tödlich verwundet wird. Verzweifelt will sich Calista an Lotharios Leiche das Leben nehmen, wird jedoch von Altamont daran gehindert. Calistas Vater Sciolto hingegen ist über den Sündenfall seiner Tochter derartig empört, dass er sie verflucht, ja gar zu töten bereit ist: Ein archaischer Tochtermord, der nur auf Bitten des seine Calista nach wie vor liebenden Schwiegersohnes Altamont verhindert werden kann. Unterdessen hat ein Freund Lotharios namens Rossano eine Straßenräuberbande mobilisiert, um Lothario, von dessen Tod er noch nichts weiß, zu retten: Eine Aktion, die von den Dienern des Sciolto verhindert werden kann. In diesem Zu130 Nicholas Rowe: The Ambitious Step-mother: A Tragedy, London 1795, S. V. 131 Nicholas Rowe: The Fair Penitent, hg. v. Malcolm Goldstein, Lincoln 1969, S. 38.
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sammenhang treffen die alten Freunde Altamont und Horatio erneut zusammen, und da Altamont seinen Fehler eingesehen hat, bittet er um Vergebung, die ihm der ob der falschen Unterstellungen tief gekränkte Horatio schließlich auch gewährt. Zugleich trauert die schmerzerfüllte Calista immer noch neben Lotharios Leichnam, weshalb ihr Vater Sciolto ihr nicht nur heftige Vorwürfe macht, sondern ihr zudem einen Dolch überreicht – die Szene kehrt in Lessings Emilia Galotti wieder –, mit dem sie sich töten soll, während er selbst im Kampf mit der Räuberbande Rossanos ebenfalls in den Tod gehen will. So endet die Tragödie in einem dreifachen Selbstmord, denn auch Altamont, der die Geliebte Calista vom Selbstmord nicht abbringen kann, will wenigstens im Tode mit ihr vereint sein. Als Horatio die Nachricht vom Tod ihres Vaters Scioloto überbringt, tötet sich daher erst die Calista mit dem Dolch ins Herz. Dann wird der in der Tat tödlich verwundete Sciolto hereingeführt, der kurz vor seinem Ableben seiner sterbenden Tochter den Fehltritt verzeiht und Horatio und Altamont zu Erben einsetzt. Und schließlich stirbt auch Altamont neben dem Leichnam seiner Geliebten, woraufhin schließlich Horatio an der Seite Altamonts die Moral des ganzen Stückes formuliert: By such examples are we taught to prove, The sorrows that attend unlawful love; Death, or some worse Misfortunes, soon divide The injured bridegroom from his guilty bride: If you would have the nuptial union last, Let virtue be the bond that ties it fast.132
Wie der Titel des Dramas – The Fair Penitent – verdeutlicht, steht die Tochter Calista als Büßerin im Mittelpunkt: Nachdem deren Affäre vom besten Freund des ‚gehörnten‘ Ehemannes entdeckt und dem betrogenen Gatten mitgeteilt wird, verhängen Gatte und Vater der fehlgehenden Tochter das Strafgericht über die Sünderin. Zugleich aber ist die Calista ähnlich wie die Heldin aus Rowes späterem Drama Jane Shore eine Frauenfigur, deren Schicksal das Mitleid des Publikums auslösen soll, wenn sie nicht nur die Reue über ihre Tat empfindet, sondern zugleich über das tragische Los des weiblichen Geschlechtes klagt. Denn Calista fühlt sich vom Vater wie vom Ehemann gleichermaßen versklavt und begegnet den Vorwürfen Horatios mit wildem Trotz, mit einem Ausdruck tiefgekränkter Unschuld: Death and Confusion! Have I liv’d to this? Thus to be treated with unmanly insolence! To be the sport of a loose ruffian’s tongue! Thus to be used! thus! like the vilest creature, That ever was a slave to vice and infamy.133
Die Empörung erklärt sich durch Calistas Selbstverständnis als einem Opfer des männlichen Geschlechts. Sie fühlt sich als Sklavin des Lasters und der Nieder132 Ebd., S. 70. 133 Ebd., S. 37.
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tracht, wie auch ihre Reaktion angesichts der endgültigen Entdeckung ihrer Schuld durch Altamont zeigt: „Distraction! Fury! Sorrow! Shame! and Death!“134 Es ist anzunehmen, dass sich diese Reaktion auch auf den Wüstling Lothario bezieht, der in Calista nicht viel mehr denn ein Spielzeug sieht und schadenfroh reagiert angesichts der Tatsache, nicht nur Calista, sondern gleichzeitig auch deren Verlobten Altamont, seinen erbitterten Feind verletzt zu haben. Dass Calista ihren Fehltritt dennoch als Schande empfindet, hat wiederum auch mit ihrer Beziehung zum Vater Sciolto zu tun, der den Fehltritt seiner Tochter ebenfalls als wahre Schande empfindet, die er nach dem Beispiel des Virginius mit dem Tochtermord sühnen müsse. Wenn er dieses Opfer nicht zu vollbringen vermag, dann zeugt dies freilich von der ungebrochenen Liebe des Vaters zur Tochter. Insofern verdeutlicht die Abschiedsszene zwischen den beiden, dass es in dieser Tragödie nicht allein um eine Didaktik der Abschreckung, sondern auch um eine emotionale Rührung des Publikums geht: „And is there yet/Some little, dear remain of love and tenderness/ For poor, undone Calista in your heart?“135 Natürlich hat der Vater zärtliche Empfindungen für seine Tochter, wie insbesondere die Antwort des alten Sciolto zeigt, die sehnsüchtige Erinnerungen an die Jugend Calistas evoziert: Oh! when I think what Pleasure I took in thee, What Joys thou gav’st me in thy prattling Infancy, Thy sprightly Wit, and early blooming Beauty, How I have stood, and fed my Eyes upon thee, Then lifted up my Hands, and wond’ring, blest thee; By my strong Grief, my Heart ev’n melts within me, I cou’d curse Nature, and that Tyrant, Honour, For making me thy Father, and thy Judge; Thou art my Daughter still.136
Ungeachtet dieser rührenden Sequenz ist Rowes Tragödie jedoch in erster Linie eine Warnung vor dem Laster und eine Empfehlung der (Konvenienz-) Ehe. Die Schuld Calistas, ihre Reue bzw. Sühne, die Vergebung durch Gott, Vater und Ehemann sowie die von Calista erwartete göttliche Gnade machen The Fair Penitent zu einem empfindsamen Trauerspiel, welches im Sinne Cornelia Mönchs primär dem Wirkungsprinzip der Abschreckung folgt. Denn trotz allen Selbstmitleids verstößt Calista gegen die zeitgenössische Sexualmoral, wenn sie sich vor ihrer eigentlichen Ehe von Lothario verführen lässt. Dieser Fehltritt wird im Drama von Beginn an als ‚Sünde‘ gedeutet und bis zum Ende immer wieder bekräftigt, vor allem durch das beispielhafte Ehepaar Horatio und Lavinia, die am Ende jedes Aktes das Geschehen sentenzhaft kommentieren. Aber auch die Protagonistin selbst verurteilt ihr Tun eindeutig, da sie nicht nur von einem „crime“ spricht, sondern gar den lateinischen Begriff patricida verwendet, sich also als Vatermörderin verurteilt: „This Paricide, that Murders with her Crimes, Shortens her Father’s Age, and cuts him 134 Ebd., S. 50. 135 Ebd., S. 64. 136 Ebd., S. 64f.
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off.“137 Entsprechend akzeptabel erscheint ihr das an sich ja durchaus fragwürdige Strafmaß des Vaters, der sie töten will: Yes! yes, my Father, I applaud thy justice, Strike home, and I will bless thee for the blow; Be merciful, and free me from my pain, ’Tis sharp, ’tis terrible, and I could curse The chearful day, men, earth, and heav’n and thee, Ev’n thee, thou venerable good old man, For being Author of a Wretch like me.138
Schließlich akzeptiert auch Calista Altamont als den für sie richtigen Ehemann – „my proud, disdainful Heart,/ Bends to thy gentler Virtue“139 –, wohingegen sie ihre ursprüngliche Entscheidung für Lothario als Irrtum begreift: „Had I but early known thy wond’rous worth, thou excellent young Man, We had been happier both.“140 Lothario hingegen ist der Bösewicht dieser Tragödie, was Calista ihrerseits entlastet, weil sie in der für die Bewahrung der Tugend ungünstigsten Situation von ihm überrascht wurde: „I found the fond, believing, love-sick maid,/ Loose, unattired, warm, tender, full of wishes“141, so beschreibt der Verführer Lothario sein Opfer.
Nicholas Rowes The Tragedy of Jane Shore (1714) Rowes Tragödie ist insofern empfindsam, als sie die tragische Heldin nicht grundsätzlich aus der Gemeinschaft der Tugendhaften ausschließt, sondern ihr moralisches Vergehen als mehr oder weniger unfreiwilligen Fehler inszeniert, wodurch die moralische Botschaft der Tragödie freilich keineswegs in Frage gestellt wird. Angesichts dieser Moral und deren für die Heldin tödlicher Konsequenz kann das Publikum sowohl abgeschreckt als auch teilnehmend, also mit Mitleid und Tränen reagieren. Diese Art des selbstverschuldeten Unglücks lässt die Richtigkeit ihres Todes nicht zweifelhaft werden, weshalb das Urteil, auf dem niemand sonst besteht, von der Heldin selbst vollstreckt wird. Hierin folgt Rowe freilich den noch sehr strikten Kriterien poetischer Gerechtigkeit: Verbietet doch die bereits skizzierte Tragödientheorie alles, was das Laster verständlich – und darum nicht nur verabscheuenswert – machen könnte. Stattdessen hat die Tragödie die Aufgabe, die Güte der Ordnung zu demonstrieren.142 Ralf Stender hat in seiner Studie zu Rowe diese Analogie zu Dryden auf eine neuartige Form der „closed society“ zurückge137 138 139 140 141 142
Ebd., S. 65. Ebd., S. 52. Ebd., S. 12. Ebd., S. 69. Ebd., S. 6. Ralf Stender: „There is no Room for Choice“: die Tragödien Nicholas Rowes, Frankfurt am Main 1992, S. 159f.
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führt, die bei beiden Autoren zu einer markanten Gemeinsamkeit führe, die sich in beider Bearbeitung Shakespeares zeige: Romeo und Julia verstoßen mit Recht gegen eine Ordnung, die als problematisch erscheint; durch ihr Scheitern wird Shakespeares Stück zu einer Tragödie. Lothario und Calistia [Hauptfiguren aus der Tragödie The Fair Penitent] verstoßen angeblich zu Unrecht gegen eine Ordnung, die als unproblematisch und richtig erscheint; durch ihr Scheitern wird The Fair Penitent zu einem bürgerlichen Trauerspiel. Im Prinzip den gleichen Unterschied konstatiert [Wallace Jackson] zwischen Shakespeares Anthony and Cleopatra und Drydens All for Love. Er führt ihn darauf zurück, dass das Drama um 1700 eine closed society vorfand und abbildete.143
Stenders These bezog sich auf Rowes im Jahre 1703 entstandene Tragödie The Fair Penitent, die in der Tat als Vorform der sentimental tragedy gilt, welche freilich erst elf Jahre später in Rowes Jane Shore ihren eigentlichen Höhepunkt erreicht. Allerdings verweist schon das im Titel angedeutete Motiv der berechtigten Buße auf das Argument Stenders: Hier wird eine Büßerin skizziert, die gegen eine gerechtfertigte Ordnung verstoßen hat. So entwickelt Rowe mit The Fair Penitent, Jane Shore und Lady Jane Grey (1715) den neuen Typus der von ihm selbst im Epilog so bezeichneten she-tragedy. Zugleich lässt die zeitliche Dehnung auf fünf Tage und der Wechsel der Handlungsorte eine Abkehr von den klassizistischen Einheiten und eine verstärkte Orientierung an Shakespeare erkennen, der, wie es im Prolog heißt, durch keine ‚absonderlichen‘ Regeln und Kritiker behindert gewesen sei: „with rough majestic force he moved the heart“.144 Denn schließlich war Rowe, als WhigAnhänger 1708 Unterstaatssekretär des Herzogs von Queensberry, der erste namentlich zeichnende Herausgeber einer 1709 bzw. 1710 erschienenen kritischen Shakespeare-Ausgabe. Wie bei Dryden, so entstehen auch bei Rowe dessen shetragedies aus der Auseinandersetzung mit Shakespeare, inbesondere mit dessen Romeo and Juliet. Nicholas Rowes Tragödie Jane Shore erschien 1714, ein Jahr bevor der Autor nach der Thronbesteigung von Georg I. zum Poeta laureatus ernannt wurde, also das Amt eines Hofdichters verliehen bekam. Die Tragödie dramatisiert das Schicksal der Jane Shore, einer Londoner Kaufmannstochter aus dem 15. Jahrhundert, die nach der Ehe mit einem Goldschmied die Geliebte Edwards IV. (1461–1483) wurde und nach dessen Tod und der Usurpation Richards III. (1483–1485) dann als Mätresse des Lord Hastings in Ungnade fiel und ihren Besitz verlor.145 Die Geschichte Janes wurde u.a. durch Mores History of King Richard III (1513) und die Chroniken von John Hardyng (1534) und Raphael Holinshed (1577) überliefert, Rowes eigentliche Quellen sind Shakespeares Richard III (1592–93) bzw. Thoma Heywoods King 143 Ebd., S. 199. Stender bezieht sich dabei auf den Essay von Wallace Jackson: Drydens’s Emperor and Lillo’s Merchant: The Relevant Bases for Action, in: MLO 26 (1965), S. 536–544, hier S. 538–540. 144 J. E. Aikens, To Know Jane Shore, ‚think on all time backward‘ (in PLL, 18, 1982, S. 258–277). 145 Vgl. zum Folgenden: Rudolf Böhm: Nicholas Rowe: Jane Shore, in: Das englische Drama im 18. und 19. Jahrhundert. Interpretationen, hg. v. Heinz Kosok, Berlin 1976, S. 57–73.
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Edward IV (2 Teile, 1599).146 Wie im Falle seiner Bearbeitung von Philip Massingers The Fatal Dowry in der Tragödie The Fair Penitent weicht Rowe mit der Statusreduzierung seiner tragischen Figuren und der Hinwendung zur häuslich-privaten Sphäre von den Konventionen der klassizistischen Tragödie ab und eröffnet damit auch den Weg hin zur späteren domestic tragedy. Denn wie in The Fair Penitent, so wird auch im Prolog der Jane Shore auf die „sorrows like your own“ und „a tale [ ... ] told long since in homely wise“147 verwiesen, also das zeitgenössische Publikum und dessen Identifikationsbereitschaft adressiert. Während die Tragödie The Fair Penitent in deren Prolog jedoch ausdrücklich als ein „melancholy tale of private woes“148 identifiziert wurde, dominiert in Jane Shore der höfische den privaten Raum: Lediglich Akt II ist in Jane Shores Haus angesiedelt, Akt I, III und IV hingegen spielen in the Tower und the Court, und auch Akt V inszeniert mit The street den öffentlichen Raum. Allerdings wird dieser politische Hintergrund im Laufe des Stückes zunehmend durch die familiär-private Thematik überlagert. Wir haben es jedoch eindeutig mit einem höfischen Setting zu tun: Die Tragödie Jane Shore spielt in der Zeit vor der Krönung Richards, also in einer Phase des Machtvakuums. In diesem strebt der Duke of Gloster als Lord Protector, der seine Gegner, also den König Edward und dessen junge Söhne unter Kontrolle hat, selbst auf den Thron. Mit dem Lord Hastings formiert sich jedoch Widerstand gegen den Duke. Allerdings kalkuliert der Duke of Gloster auf den hemmenden Einfluss der Geliebten Hastings’, Alicia. In der Tat ist diese Alicia ihrem Lord Hastings böse, weil er sich für seine ehemalige Geliebte und nun Verfolgte, die Titelheldin Jane Shore einsetzt. Zwar beschwichtigt Hastings die eifersüchtige Alicia, zugleich aber stellt er erneut der Jane Shore nach. Diese aber bereut ihren früheren Lebenswandel als Mätresse zutiefst und weist Hastings ihrerseits ab. Im diesem Moment ihrer sexuellen Bedrohung kommt Jane ihr bürgerlicher Ehemann Dumont zu Hilfe, der den Aristokraten Hastings gar entwaffnen kann. Doch die eifersüchtige Alicia setzt mit Hilfe eines vertauschten Briefes erneut gegen Jane an. Dieser Brief bringt Jane in den Verdacht, das Hastings’ Beharren auf der rechtmäßigen Thronfolge von ihr beeinflusst sei. Nun versucht der Duke of Gloster, Jane zur Umstimmung seines politischen Gegners zu veranlassen, wodurch sie in den schwelenden Konflikt dieser verstrittenen Aristokraten verstrickt wird. Denn da Jane sich als ehemalige Mätresse noch König Edward und den jungen Prinzen verpflichtet fühlt, bleiben Glosters Erpressungsversuche erfolglos. Damit ist das Schicksal Janes jedoch besiegelt. Als Hastings wegen des vermeintlichen Komplotts gegen Gloster zum Tode verurteilt wird, gesteht Alicia zwar ihre Intrige, woraufhin Hastings ihr verzeiht. Allerdings bleibt Alicias Hass auf die Rivalin, wenngleich sie Hastings versprach, sich um die kurz vor dem Hungertod stehende Jane zu kümmern. Jane wird von Alicia 146 Jacques Gury: Le Monstre et la pecheresse: Richard III. et Jane Shore entre Shakespeare et Rowe vus par les français de Louis XV à Louis-Philippe, in: Moreana, 20 (1983), S. 123–133. 147 Im Folgenden zitiere ich aus: Nicholas Rowe: The Tragedy of Jane Shore, hg.v. Harry William Pedicord, Lincoln 1974, S. 9. 148 Rowe: The Fair Penitent, a.a.O., S. 95.
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abgewiesen, und auch der Ehrenmann Dumont vermag ihr kein zweites Mal zu helfen, da er damit gegen die Order Glosters verstoßen würde. In einer ergreifenden letzten Szene entpuppt sich Dumont jedoch als Janes erster Ehemann Shore, der ihr ihre Sünden vergibt: Cast every black and guilty thought behind thee, And let ’em never vex thy quiet more. My arms, my heart, are open to receive thee, To bring thee back to thy forsaken home, With tender joy, with fond forgiving love.149
Unschwer erkennen wir in dieser Tragödie das Schicksal der reuigen Mätresse im Spannungsfeld der verschiedenen Kräfte einer in sich sehr heterogenen Aristokratie. Zur Protagonistin der Empfindsamkeit wird die Mätresse also durch einen auf ihr Schicksal bezogenen Appell an das Mitleid des Publikums. Denn wie schon in The Fair Penitent, so fokussiert auch die Jane Shore das leidvolle Schicksal einer „gefallenen Frau“, deren tragisches, weil tödliches Ende dieses Mitleiden der Rezipienten auslöst. Zugleich dienen beide Dramen der moralischen Belehrung, wobei freilich die Figur der Calista aus The Fair Penitent weit stärker als Warnung vor den unheilvollen Folgen ungenügender Triebkontrolle fungiert, während die Jane Shore nicht oder kaum mit ihrem eigenen Begehren zu kämpfen hat. Dennoch sind beide Heldinnen der Aeneis entnommen und stellen Parallelen zur Karthagerkönigin Dido her, erfahren also eine Rehabilitierung, wenn sie von der Sünderin zum Opfer umgedeutet werden.150 Keines der beiden Dramen inszeniert das Fehlgehen der Frauen als Flucht vor dem innerehelichen Zwang, die beiden Ehemänner Altamont bzw. Dumont sind weniger durch einen übertriebenen Ehrbegriff denn vielmehr durch einfühlend-empfindsame Züge charakterisiert, die trotz des Ehebruchs einen Neuanfang mit der reuigen Ehefrau akzeptabel fänden. Das tragische Enden der Heldin lässt freilich die Verpflichtung Rowes auf die seit Collier diskutierte Wahrung poetischer Gerechtigkeit im Sinne einer moralischen Belehrung durch Abschreckung erkennen. Anders als in The Fair Penitent ist die Titelheldin Jane Shore jedoch keine sich sträubende, sondern eine willig sich fügende Büßerin im christlichen Sinne. Insofern wird der vormalige Lebenswandel Janes eindeutig verurteilt, die Heldin erscheint jedoch zugleich als eine der doppelten Sexualmoral des Mannes ausgelieferte schwache Frau, die sich nicht den geringsten Fehltritt leisten darf: Man, the lawless libertine, may rove, Free and unquestion’d, thro’ the paths of love: But woman, sense and nature’s easy fool -If poor weak woman swerve from virtue’s easy rule -[…] 149 Rowe: Jane Shore, a.a.O., S. 69. 150 Vgl. dazu: Friederike Alvermann-Ronge: ‚To Write in Defence of the Legal Constitution‘. Nicholas Rowe, Jurist und Dramatiker, und die Anfänge des bürgerlichen Trauerspiels in England, Hildesheim u. a. 1993, S. 124.
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Ruin ensues, remorse, and endless shame, And one false step entirely damns her fame.151
Man hat Rowes Trilogie The Fair Penitent, Jane Shore und Lady Jane Grey (1715) in der Forschung stets unter dem Stichwort der she-tragedy verhandelt, ein auf Frauenschicksale fokussierter, von Rowe erfundener Dramentyp, der das Drama der bürgerlichen Empfindsamkeit, also die domestic tragedy Lillos und Moores vorgeprägt habe.152 Wir haben dagegen den Vergleich zur tragédie tendre, also zu Dryden und Racine gezogen, und kamen zu dem Befund, dass weder Otway noch Rowe die psychologische Präzision des empfindsamen Dramas, wie Dryden diese von Racine übernahm, zu teilen vermochten. Erst Voltaires 1732 veröffentlichte Tragödie Zaire wird diese psychologischen Momente wieder aufgreifen. Zugleich aber stand Voltaire zu diesem Zeitpunkt bereits unter dem intensiven Eindruck der britischen Tragödie, und teilte mit Dryden und Rowe mindestens drei markante Eigenschaften. Alle drei Autoren verstehen ihre Tragödien als Adaptionen und Fortdichtungen einer Shakespeareschen Tragödie – dem Othello im Falle Voltaires, dem Richard III. im Falle Rowes: Written in Imitation of Shakespear’s Style, so lautete der Untertitel von Rowes Tragödie.153 Alle drei Autoren stehen zudem unter dem Eindruck eines sehr vergleichbaren Geschmackswandels im Komödiengenre, der in England um 1705 mit der sentimental comedy Colley Cibbers und Richard Steeles, in Frankreich um 1720 mit der comedy larmoyante von Destouches und Marivaux einsetzt, sie stehen also beide unter dem Eindruck der neuen Komödie der Empfindsamkeit. Dryden hatte diesen Wandel durch die doppelte Anordnung seiner Komödie Marriage à la mode zumindest vorbereitet. Und drittens machten alle drei Autoren die Figur der Mätresse zur Titelheldin, stellten also eine in den Tragödien Shakespeares nicht bzw. nur ganz am Rande erwähnte Gestalt ins Zentrum. Angesichts dieser Differenz scheint daher John Dryden für Voltaire der sicher wichtigste bzw. einflussreichste Vertreter des englischen Dramas.154 Und wie Dryden, so teilte auch Voltaire die Einschätzung, dass eine bloße Trennungsgeschichte im Sinne der Bérénice für eine Tragödie allein nicht ausreiche: „Un amant et une maîtresse qui se quittent ne sont pas sans doute un sujet de tragédie“155, so lautete seine schon mehrfach zitierte Kritik. Die Tragödie Zaire wird also Eifersucht und Tod ergänzen, dennoch aber den entscheidenden Fokus wie Dryden auf die psychologischen Motive der Trennung und der damit einhergehenden Psychologie der
151 Rowe: Jane Shore, a.a.O., S. 22. 152 Alvermann-Ronge: ‚To Write in Defence of the Legal Constitution‘. Nicholas Rowe, Jurist und Dramatiker, und die Anfänge des bürgerlichen Trauerspiels in England, a.a.O. 153 Rowe: Jane Shore, a.a.O. 154 In seiner schon erwähnten Studie zeigte Trusten Wheeler Russell, dass der entscheidende Einfluss auf die Tragödie Voltaires weniger von Shakespeare, denn vielmehr von John Dryden und dessen Heroic Tragedy ausging, vgl.: Trusten Wheeler Russell: Voltaire, Dryden and Heroic Tragedy, New York: Columbia University Press 1946. 155 Oeuvres complètes de Voltaire, avec notes, préfaces, avertissemens remarques historiques et littéraires, Paris 1829, S. 373.
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Nähe in den Mittelpunkt stellen. Wir werden also dennoch eine Intensivierung der zärtlichen Tragödie durch Voltaire erkennen, die eindeutig mit seiner weit intensiveren Beziehung zu Racine erklärt werden kann. Erkennen lässt sich diese engere Orientierung an Racine durch jene Bemerkung Voltaires, dergemäß Dryden die tragédie tendre um eine nicht unproblematische Rhetorik der Übertreibung bzw. der sexuellen Anzüglichkeit ergänzt habe, die bei Racine sicherlich undenkbar wäre: Votre Dryden, qui d’ailleurs était un très – grand génie, mettait dans la bouche de ses Héros amoureux, ou des hyperboles de Rhétorique, ou des indécences; deux choses également opposées à la tendresse.156
„la seule tragédie tendre que j’aie faite“: Voltaires Zaire (1732) Voltaires Tragödie Zaire von 1732 löst sich wieder vom Kriterium poetischer Gerechtigkeit und führt stattdessen zu einer Erweiterung der tragédie tendre, die wir im Anschluss an die Arbeit von Ewa Mayer als eine „Hybridisierung des Genres“ begreifen, also als eine „Vermischung von Elementen, welche die von der Klassik gezogenen generischen Grenzen überschreiten.“157 Voltaire habe demnach ein „Theater der Nähe“, ein Théâtre de la proximité entwickelt, welches sich „vom klassizistischen Ideal entferne[n]“, da es Elemente von „‚minderwertigen‘ Gattungen wie der Pastorale oder der comédie larmoyante“158 verwende. Ewa Mayer sah in dieser Vermischung einen „Beweis für den Versuch, zwischen der tradierten Ordnung und Ästhetik eine Ästhetik des Anrührens und der Nähe zu finden“159, wobei freilich zu betonen ist, dass Voltaire Elemente dieser Ästhetik schon in den Tragödien Racines sowie Thomas Otways angelegt sah, dessen an Racine orientierte Dramen er während seines 1726 beginnenden Englandaufenthaltes kennenlernte. Schon 1730, also zwei Jahre vor der Abfassung der Zaire, diskutierte Voltaire im Vorwort seiner Tragödie Brutus, dem Discours sur la tragédie, den neuen empfindsamen Tonfall der französischen tragédie tendre, deren Einfluss auf das britische Theater bzw. die Dramen Thomas Otways bereits erkennbar sei: On reproche à notre nation d’avoir amolli le théâtre par trop de tendresse; et les Anglais méritent bien le même reproche depuis près d’un siècle, car vous avez toujours un peu pris nos modes et nos vices.160
156 Oeuvres complétes de Voltaire: Vie de Voltaire, Band 12, Bruxelles 1828, S. 235. 157 Ewa Mayer: Theätre de la proximite. Wandel der Ästhetik im französischen Theater an der Schwelle zum 18. Jahrhundert (Voltaire, Crebillon (pere) und Houdar de La Motte), Berlin 2009, S. 170–196, hier S. 171. 158 Ebd., S. 189. 159 Ebd., S. 181. 160 Œuvres complètes de Voltaire, Band 1, Paris 1859, S. 215.
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Zwei Jahre später betonte Voltaire in dem seinem Versepos La Henriade angehängten Essai sur la poésie épique dagegen die Differenz der englischen und der französischen Kultur: „combien grande est la difference entre les goûts des nations.“ Und an anderer Stelle: „Qu’on examine tous les autres arts, il n’y en a aucun qui ne recoive des tours particuliers du génie différent des nations qui les cultivent!“161 Wenn Voltaire diesbezüglich „La force, l’énergie, la hardiesse“ als die genuinen Stärken der englischen Tragödie begreift, und dagegen „la clarté, l’exactitude, l’élégance“162 zu den Stärken der französischen Bühne zählt, dann liegt dies freilich daran, weil er das Drama Corneilles und Racines nun nicht mehr mit Otway, sondern mit Shakespeare verglich, also Argumente vorwegnahm, wie sie knapp 30 Jahre später auch in Lessings berühmtem 17. Literaturbrief formuliert werden. Vor diesem Hintergrund ist nun Voltaires 1732 verfasster Brief an den französischen Librettisten Antoine de la Roque zu lesen, in welchem er seine am 13. 8. 1732 in Paris uraufgeführte Trägödie Zaire folgendermaßen kommentiert: Zaïre est la première pièce de théâtre dans laquelle j’aie osé m’abandonner à toute la sensibilité de mon cœur; c’est la seule tragédie tendre que j’aie faite. Je croyais, dans l’âge même des passions les plus vives, que l’amour n’était point fait pour le théâtre tragique. Je ne regardais cette faiblesse que comme un défaut charmant qui avilissait l’art des Sophocle. Les connaisseurs qui se plaisent plus à la douceur élégante de Racine qu’à la force de Corneille me paraissent ressembler aux curieux qui préfèrent les nudités du Corrège au chaste et noble pinceau de Raphaël.163
Der Brief lässt eben jene paradoxe Konstellation erkennen, die Mayer als Indiz einer Hybridisierung beschrieb, denn einerseits kann Zaire als eine Fortsetzung der tragédie tendre in der Tradition Racines gelesen werden, andererseits steht diese Tragödie unter dem Eindruck der von Voltaire seit dem besagten Englandaufenthalt ab 1726 für sich entdeckten Tragödien Shakespeares, insbesondere des Othello. Die Heldin Zaïre erinnert also sowohl an Shakespeares Desdemona als auch an die Racinesche Bérénice. Sie ist eine Europäerin christlicher Herkunft, die als Gefangene am mohammedanischen Hof lebt und sich in ihren Beherrscher, den jungen Sultan Orosmane verliebt hat. Allerdings ist Zaire keine bloße Geliebte, sondern eine quasi moderne Mätresse, denn der Sultan möchte sie heiraten. Aufgrund einer tragischen Verwechslung – er hält ihren Bruder Nerestan fälschlicherweise für einen Nebenbuhler – wird er die Geliebte jedoch am Ende aus Eifersucht ermorden: Darin liegt die Nähe zu Shakespeares Othello. Als Orosmane seinen Irrtum erkennt, tötet er jedoch auch sich selbst: Ein Doppelmord, der zudem Ähnlichkeiten mit Drydens Tragödie All for Love aufweist, die Voltaire ebenfalls bekannt war.164 Unter all diesen Einflüssen scheint derjenige Racines jedoch der wichtigste gewesen 161 162 163 164
Oeuvres completes de Voltaire, Band 2, Paris 1859, S. 354. Ebd., S. 355. The complete works of Voltaire, Band 8, Oxford 1988, S. 419. Auf Voltaires genaue Kenntnis der Tragödie Drydens verweist der Aufsatz von Dieter Beyerle: Zaïre, in: Das französische Theater, hg. Jürgen von Stackelberg, Bd. 2, Düsseldorf 1968, S. 55– 78, hier S. 58.
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zu sein, denn Voltaire bezeichnete seine Tragödie im zitierten Brief an Antoine de la Roque, Herausgeber der Zeitschrift Mercure, eben als seine einzige „tragédie tendre“, was ausdrücklich auf die „douceur élégante“ des Racine bezogen war. 165 Auch wenn diese Orientierung an Racine dem Diktum zuwider sei, nach welchem das Thema der Liebe nicht zur Tragödie passe, also sowohl der „l’art des Sophocle“ als auch der „force de Corneille“ widerspreche, hat sich Voltaire in dieser Tragödie dennoch ganz der „sensibilité de mon cœur“166 überantwortet. Er folge damit allerdings dem Geschmack seiner Zeit bzw. einem aktuellen Trend, der eben eher an den Nacktbildern des italienischen Renaissancemalers Antonio da Corregio – „les nudités du Corrège“ – denn an den noblen Figuren Raffaels Interesse fände, wie es in der zitierten Passage des Briefes heißt. Insofern brauche es „de la tendresse et du sentiment“, um diese Form der Tragödie angemessen zu spielen, dies verlange nicht zuletzt „le public qui fréquente les spectacles“167. Die Nähe zu Racine bzw. der französischen Variante der Herrschertragödie wird insbesondere hinsichtlich der Darstellung der Leidenschaften deutlich, die Voltaire in seiner Zaire möglichst zu veredeln (ennoblir) versucht. Dies erklärt seine Kontrastierung der ‚klassischen‘ Themen von Ehre, Geburt, Nationalität und Religion durch eine „l’amour le plus tendre et le plus malheureux“, denn in eben diesem Konfliktfeld befindet sich die Heldin dieser Tragödie, die Zaire. Sie steht zwischen den Sitten der Mohammedaner und denen der Christen, dem Rechtsverständnis des Sultans und dem des französischen Königs, dessen Welt erstmals im Rahmen einer französischen Tragödie durch echte Franzosen dargestellt wurde.168 Der Schauplatz des Stückes ist Jerusalem, es setzt also eine Eroberung Jerusalems durch die Muslime voraus, die im Drama selbst auf das Jahr 1229 datiert wird. Die historisch korrekte Einnahme Jerusalems durch Saladin im Jahre 1187 blendet Voltaire dabei aus, denn die Zaire sollte in der Epoche Ludwigs IX. spielen, die historischen Fakten werden also um vierzig Jahre vordatiert. Dabei ging es Voltaire freilich nicht um historische Authentizität: Nur der Stoff des Krieges von König Ludwig IX. entspräche der historischen Wirklichkeit, der ganze Rest ist Erfindung: „Je n’ai pris dans l’histoire que l’époque de la guerre de saint Louis; tout le reste est 165 Bzgl. der hier auftauchenden Frage nach den Einflüssen ‚auf Voltaires Zaire verweise ich auf den Aufsatz von Alexander Haggerty Krappe: The Source of Voltaire’s ‚Zaïre‘, in: The Modern Language Review, Vol. 20, No. 3 (Jul., 1925), S. 305–309. Krappe distanziert unter Berufung auf eine ältere Doktorarbeit – Richard Arndt: Zur Entstehung von Voltaires Zaire, Diss. Marburg, 1906 – die alte These vom Einfluss des Othello, aber auch die von Arndt stattdessen angestrengte Vermutung, dergemäß Richard Steele’s The Conscious Lovers die entscheidende Quelle der Zaire gewesen sei. Stattdessen verweist Krappe auf den Italiener Giambattista Giraldi und dessen Novellensammlung Hecatommithi aus dem Jahre 1565. Von derlei Einflussforschung sind die Thesen Ewa Mayers freilich zu unterscheiden, insofern diese keine Motive, sondern ein das Genre prägendes Prinzip der Gattungsvermischung untersuchte, welches die Tragödie Voltaires mit der comédie larmoyante gemein habe. Unsere Deutung der Zaire geht in eben dieselbe Richtung. 166 The complete works of Voltaire, Band 8, Oxford 1988, S. 419. 167 Ebd. 168 Vgl. zu diesem Spannungsfeld aus Liebe und konfessioneller Differenz generell: Clifton Cherpack: Love and Alienation in Voltaires Zaïre, in: French Forum 1977, S. 47–57.
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entièrement d’invention.“169 Anführer der Muslime ist Noradin, der als Nachfolger des historischen Saladin ausgegeben wird: Auf Saladin selbst wird im Stück jedoch verwiesen.170 Noradin ist freilich keineswegs so milde wie sein Vorgänger Saladin, vielmehr veranstaltete er ein Massaker, bei dem nur wenige Gefangene mit dem Leben davon kamen, und zu diesen zählen auch der Greis Lusignan und seine zwei Kinder. Dieser Lusignan, der für den Gott der Christen streitete, ist ein Nachkomme jenes Königs von Jerusalem, den Saladin besiegte, also ein „prince du sang des rois de Jerusalem“171. Er gerät nun in Gefangenschaft, und auch sein vierjähriger Sohn Nerestan, seine gerade geborene Tochter Zaire und weitere französische Ritter werden als Gefangene im Serail in Jerusalem, also am mohammedanischen Hof gehalten. Zaire und Nerestan werden sich ihrer geschwisterlichen Verwandtschaft jedoch erst im Laufe des Dramas bewusst, wurden sie doch als Kleinkinder getrennt, nachdem Nerestan zwischenzeitlich freigekauft wurde und im Heer Ludwigs IX. kämpfte. Während dieser Abwesenheit des Bruders starb Noradin, Orosmane trat nun die Herrschaft an, und nahm erneut Nerestan gefangen, der also nach Jerusalem zurückkehrt. Dennoch aber wissen Zaire und Nerestan zu Beginn des Dramas immer noch nicht, dass sie Geschwister sind. Zudem lebt die inzwischen volljährige Zaire nun im Harem des Sultans und folgt muslimischen Bräuchen. Diesem schädlichen Einfluss soll sie jedoch entzogen werden, weshalb Nerestan dem Sultan Orosmane den Vorschlag machte, ihn nach Frankreich zu entlassen, damit er für einige der Gefangenen Lösegeld herbeischaffe. Orosmane gewährte ihm diese Bitte, woraufhin Nerestan aus Jerusalem abreiste und zwei Jahre lang nichts von sich hören ließ. In dieser Zwischenzeit wurden seine ihm nach wie vor unbekannte Schwester Zaire und der Sultan Orosmane von so heftiger Liebe zueinander ergriffen, daß Orosmane beschloss, Zaire zu seiner alleinigen Gemahlin zu erheben. Und da Zaire die konfessionelle Problematik einer Liebe zwischen Muslim und Christin nicht erahnt, erklärte sie sich zu dieser Ehe bereit. Diese Vorgeschichte steht freilich nicht am Anfang der Tragödie, sondern muss aus den einzelnen Akten durchaus mühsam erschlossen werden. Das Stück selbst beginnt vielmehr damit, dass die inzwischen glücklich verliebte Zaire ihrer Freundin Fatime von dieser neuen Liebe zum Sultan berichtet. Dabei ist diese Verliebtheit frei jeglichen Kalküls, Zaire verfolgt damit also keinerlei Nebenabsichten, die sie in irgendeiner Weise im Serail bevorteilen würden. Wie Racines Bérénice, so versichert auch Zaire, daß sie nur an die Person des Geliebten und nicht an seine hohe Stellung denkt: „Mon coeur aime Orosmane, et non son diademe; Chere Fatime, en lui je n’aime que lui-meme.“172 Ähnliches lässt sich aber auch von Orosmane sagen, wenn dieser seine noblen Ansichten über Ehe und Thron seiner Geliebten in den folgenden Worten erläutert: 169 170 171 172
Voltaire, Band 8, a. a. O., S. 422. Ebd., S. 540. Ebd., S. 430. Ebd., S. 438.
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Je sais que notre loi, favorable aux plaisirs, Ouvre un champ sans limite a nos vastes desirs; Que je puis, a mon gre prodiguant mes tendresses, Recevoir a mes pieds l’encens de mes maitresses, Et tranquille au serail dictant mes volontes, Gouverner mon pays du sein des voluptes. Mais la mollesse est douce, et sa suite est cruelle.173
Orosmane will sich also im Unterschied zu den schwachen und unwürdigen Nachfolgern Mohammeds nur dem Ruhm und der Liebe zu Zaire widmen und verspricht seiner Geliebten einen völlig freien, von Haremswächtern unbehelligten Lebenswandel. Insofern steht nicht nur die Heldin Zaire zwischen den Sitten der Mohammedaner und denen der Christen: Auch Orosmane löst sich von den Sitten seiner Väter, um diese Liebe zu ermöglichen. In seinem bereits zitierten Brief an Antoine de La Roque hat Voltaire diese Liebe und dem damit zusammenhängenden Wandel Orosmanes wie folgt beschrieben: Nérestan partit, et fut deux ans hors de Jérusalem. Cependant la beauté de Zaïre croissait avec son âge, et la naïveté touchante de son caractère la rendait encore plus aimable que sa beauté. Orosmane la vit et lui parla. Un cœur comme le sien ne pouvait l’aimer qu’éperdument. Il résolut de bannir la mollesse qui avait efféminé tant de rois de l’Asie, et d’avoir dans Zaïre une amie, une maîtresse, une femme qui lui tiendrait lieu de tous les plaisirs, et qui partagerait son cœur avec les devoirs d’un prince et d’un guerrier. Les faibles idées du christianisme, tracées à peine dans le cœur de Zaïre, s’évanouirent bientôt à la vue du soudan; elle l’aima autant qu’elle en était aimée, sans que l’ambition se mêlât en rien à la pureté de sa tendresse.174
Wenn wir diese von Voltaire betonte Lösung des Orosmane von der effiminisierten Weichlichkeit seiner Vorväter verstehen wollen, dann müssen wir die Rolle der Mätresse noch etwas präziser ergründen, als uns dies bisher mit Hilfe von Norbert Elias möglich war. Der französische Literarhistoriker Antoine Adam hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, wie sehr zu den „Sitten der Régence“ im absolutistischen Zeitalter die Ehefeindlichkeit zählte: „Fünfzehn von zwanzig Adligen“ hätten in dieser Zeit nicht mit ihren Frauen, sondern mit ihren Mätressen zusammengelebt und seien mit diesen auch in Gesellschaft erschienen.175 Auch Jürgen von Stackelberg betonte „die aristokratische Gepflogenheit, oder sagen wir die der Régence, sich seiner Frau zu schämen – während man mit seiner Mätresse öffentlich auftritt.“176 Voltaires Figurenzeichnung scheint eben darauf anzuspielen, denn wenn Orosmane alle Weichheit (mollesse) aus seinem Herzen verbannt, dann zeugt dies von seiner Bereitschaft, eine Mätresse nicht nur zu lieben, sondern auch zu heiraten. 173 Ebd., S. 439. 174 Ebd., S. 422. 175 „quinze seigneurs de la cour, sur vingt, ne vivaient pas avec leurs femmes et avaient des maîtresses“, zitiert nach: Antoine Adam: Oeuvres Et Critiques. Prose romanesque du XXe, Band 2, Paris 1977, S. 79. 176 Jürgen von Stackelberg: Themen der Aufklärung, München Paderborn 1979, S. 71f.
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Die Bannung der Weichheit meint also die Absage an dieses alte Lotterleben des Adels, der sich neben der Ehefrau mehrere Mätressen hielt, also zwischen Ehe und Liebe, aber auch zwischen Ehe und sexueller Lust scharf unterschied. Orosmane hingegen sieht in der Zaire beides: „une amie, une maîtresse, une femme“. Das konfessionelle Dilemma der Zaire besteht nun darin, dass sie als geborene Christin und unwissend konvertierte Muslimin einen Muslim liebt. Die damit verbundene Dramatik setzt ein, als Nerestan erneut nach Jerusalem zurückkehrt, um dort Zaire, Fatime, Lusignan und zehn weitere Ritter freizukaufen. Der Sultan Orosmane macht ihm stattdessen das alternative Angebot, mit hundert Rittern und als freier Mann nach Frankreich zurückzukehren, lässt sich dann jedoch von Zaire – die er freilich in seinem Serail halten will – davon überzeugen, dass zumindest der alte Gefangene Lusignan mit Nerestan nach Frankreich abreisen dürfe. Und dieser Lusignan identifiziert nun anhand einer Narbe des Nerestan sowie des Schmucks der Zaire erstmals seine beiden vermissten Kinder. Diese Wiedererkennung ist ähnlich wie bei Nicholas Rowe oder der comédie larmoyante der frühen 1730er Jahre ein Höhepunkt dieser rührenden Tragödie, da Lusignan sich seinen Kindern natürlich unter Tränen zu erkennen gibt. Zugleich aber realisiert Lusignan die höchst beschämende Abkehr der eigenen Tochter vom christlichen Glauben und fordert von dieser eine Rückkehr zur christlichen Konfession. Zudem dürfe Zaire mit niemandem über die neu entdeckten verwandtschaftlichen Beziehungen reden, was freilich am Ende fatale Folgen haben wird. Denn als nun Bruder Nerestan im Namen des sterbenden Vaters die Schwester Zaire zur Taufe drängt, wird deren Liebe zu Orosman sowie die geplante Hochzeit offenkundig, woraufhin Zaire bis zu ihrer Taufe den Geliebten hinhalten soll, ohne ihm die Wahrheit zu sagen. Zaire steht also plötzlich zwischen dem Wunsch des Vaters nach Taufe und der anstehenden Ehe mit dem muslimischen Geliebten, weshalb sie in der nun folgenden Hochzeitszeremonie vor den Augen Orosmanes aus der Kirche flieht. Orosmane bleibt zurück, verzweifelt und wütend, und artikuliert nun eine neue Kritik an der ‚europäischen‘ Vorstellung, man könne sich als Herrscher der willkürlichen Macht einer Mätresse unterwerfen: Il vaut mieux sur mes sens reprendre un juste empire; Il vaut mieux oublier jusqu’au nom de Zaïre. Allons, que le sérail soit fermé pour jamais; Que la terreur habite aux portes du palais; Que tout ressente ici le frein de l’esclavage. Des rois de l’orient suivons l’antique usage On peut, pour son esclave oubliant sa fierté, Laisser tomber sur elle un regard de bonté. Mais il est trop honteux de craindre une maîtresse; Aux moeurs de l’occident laissons cette bassesse. Ce sexe dangereux, qui veut tout asservir, S’il régne dans l’Europe, ici doit obéir.177 177 Voltaire, Band 8, a. a. O., S. 485f.
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Diese Worte erklären sich auch dadurch, dass Orosmane von der Verwandtschaft zwischen Zaire und Nerestan nichts weiß und in Nerestan daher den heimlichen Geliebten Zaires vermutet. Zu allem Überfluss schreibt Bruder Nerestan nun auch noch einen zweideutigen Brief an Zaire, der mit der Doppeldeutigkeit des Wortes fidélité spielt, was sowohl treu als auch gläubig meinen kann: „Je vous attends; je meurs, si vous n’êtes fidèle.“178 In Kenntnis des Briefes, also unter Tränen der Wut und des Schmerzes, ersticht Sultan Orosmane die Zaire, als Nerestan in der Toten dann die eigene Schwester erkennt, realisiert Orosmane seine tragische Fehleinschätzung und tötet sich selbst. Als Drama der Eifersucht trägt Voltaires Zaire also gewisse Züge des Othello, wenngleich die Zärtlichkeit der Orosmane keineswegs jene rasend-blinde Leidenschaft beinhaltet, wie sie Shakespeares Othello kennzeichnet.
„Zaire, vous pleurez?“: Voltaires Poetik der Rührung Eine der wohl bekanntesten Deutungen dieser Tragödie stammt von Leo Spitzer, der die skizzierten Bezüge der Zaire zu Shakespeares Othello in den Mittelpunkt stellte. In Anlehnung an das polemische Wort Lessings von Voltaires „Kanzeleistil der Liebe“179 sah Spitzer die entscheidende Differenz in dem Faktum, dass bei Voltaire „die leidenschaftliche Szene eine durchaus geredete ist: es handelt sich um Klärung eines Sachverhalts, um Erkundung einer Wahrheit: ‚hat Orosmane Gründe zur Eifersucht?‘, um vernunftgemäße Regelung der Beziehungen der beiden Menschen.“180 Dabei bezog sich Spitzer auf das Gespräch der sich Liebenden in der sechsten Szene des vierten Aktes, in welcher der eifersüchtige Orosmane die Zaire zur Rede stellt, woraufhin diese mehrfach ihre zärtliche Bindung an den Herrscher erklärt. Diesen konfrontativen Dialog dominiere ein „in höchstem Maße geselliges Verhalten, kein manisches und unbeherrschtes“, wie dies in Shakespeares Othello der Fall sei. Mir scheint diese Deutung fragwürdig, auch und gerade angesichts der schon erwähnten Analyse Ewa Mayers, die Voltaires Innovation ja gerade in einer – der comédie larmoyante verwandten – Dramaturgie emotionaler Nähe angelegt sah. Dass Voltaire seine Liebestragödie daher keinesfalls in einem rational-geselligen „Kanzeleistil“ verfasste, verdeutlicht meines Erachtens eine weitere zentrale Szene des vierten Aktes, in welcher Orosmane erklärt, dass er sich von Zaire trennen werde. Sie wolle offenbar nichts mehr von ihm wissen, und so liebe auch er sie nicht mehr und denke sogar daran, sich anderweitig zu binden. Zaire, die sich eine solche Wendung zu diesem bereits erläuterten Zeitpunkt – also nach der Einsicht in ihre eigentlichen familiären Verhältnisse – eigentlich wünschen müsste, kann 178 Ebd., S. 495. 179 Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 4, München 1970 ff., S. 298. 180 Leo Spitzer: Einige Voltaire-Interpretationen, in: Voltaire, Darmstadt 1980, S. 209–252, hier S. 219.
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ihre Bestürzung nur mühsam verbergen. Dies zeigt ihre Reaktion, während ihr Orosmane versichert, dass ihm unter den gegebenen Umständen gar nichts anderes übrigbleibe: II est trop vrai que l’honneur me l’ordonne, Que je vous adorai, que je vous abandonne, Que je renonce à vous, que vous le désirez, Que sous une autre loi … Zaire, vous pleurez?181
Diese Frage – weinst du, Zaire? – stellt zweifellos einen der rührendsten und zärtlichsten Momente der Tragödie dar. Der unmittelbar anrührende Effekt dieser Frage liegt meines Erachtens in einer der Bérénice Racines noch unbekannten Motivik, die in der Tat – hier ist Ewa Mayer Recht zu geben – erst die comédie larmoyante entwickelte. Ich meine die bei Marivaux, La Chaussée und Destouches zu beobachtende emotionale Überraschung, wenn wir etwa an Marivaux’ Le Jeu de l’amour et du hasard von 1730 denken. Die überraschte Reaktion Orosmanes wiederholt sich, nachdem die verwirrte Zaire dem Geliebten eindringlich versichert, dass sie keineswegs aufgrund der verlorenen Aussicht auf eine zukünftige Existenz als Herrschersgattin traurig sei, sondern nur aufgrund ihrer Liebe zu ihm weinen müsse. Der darauf folgende Ausruf Orosmans – „Zaire, vous m’aimez!“182 – signalisiert erneut dessen emotionale Überraschung, aus welcher die rührende Wirkung dieser eindringlichen Szene hervorgeht. Sie verstärkt sich durch eine wunderbare Reaktion der Zaire, die ihre Liebe nicht versichert, sondern durch eine schlichte Wiederholung der Worte Orosmanes – „Dieu! Si je l’aime, hélas!“183 – die Absurdität dieser Liebeszweifel Orosmanes unterstreicht. So realisiert plötzlich auch Orosmane, wie dominant diese zärtliche Liebe zur Zaire ist, wie sehr diese sein Handeln beherrscht und kontrolliert. Er erkennt weder die Geliebte noch sich selbst kaum wieder und fühlt sich regelrecht machtlos gegenüber dieser Gefühlsintensität, ausgelöst durch seine rührende und doch ‚grausame‘ Geliebte: Quel caprice étonnant, que je ne conçois pas! Vous m’aimez? Eh! pourquoi vous forcez-vous, cruelle A déchirer le cœur d’un amant si fidèle? Je me connaissais mal; oui, dans mon désespoir, J’avais cru sur moi-même avoir plus de pouvoir. Va, mon cœur est bien loin d’un pouvoir si funeste. Zaire, que jamais la vengeance céleste Ne donne à ton amant, enchaîné sons ta loi, La force d’oublier l’amour qu’il a pour toi.184
Voltaire lässt in dieser Szene also den Sultan, nachdem er wieder Vertrauen in Zaire gewonnen hat, vom „Vous“ zum „Tu“ übergehen: ein Stilmittel, dass zweifellos 181 182 183 184
Voltaire, Band 8, a. a. O., S. 492. Ebd. Ebd. Ebd., S. 493.
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auf Marivaux zurückzuführen ist. Denn als sich in Le jeux de l’amour et de hazard die beiden sich Liebenden Silvia und Dorante erstmals begegnen, macht der Bruder Silvias den Vorschlag, das Du einzuführen: „allons, traitez-vous plus commodement.“185 Bei Marivaux werden die sich Liebenden also unverhofft dazu gezwungen, das ,Tu‘ zu gebrauchen, allerdings kehrt Silvia wieder zum ‚Vous‘ zurück, nachdem sie vermutet, dass Dorante nur ein ihr untergestellter Diener sei.186 Eben diese Rückkehr zum Sie vollzieht sich auch in der Tragödie Voltaires, als Orosmane noch im gleichen Akt erneut von seiner Eifersucht erfasst wird: „Quel étrange secret me cachez-vous, Zaire?“187 Wie Marivaux, so evoziert auch Voltaire durch dieses Stilmittel eine Nähe zwischen den Liebenden, die aus diesen emotionalen Anwandlungen Orosmanes ersichtlich wird. Und niemand hat dies wohl so deutlich bemerkt wie Lessing, dessen polemische Formel vom „Kanzeleistil der Liebe“ ja nur einen Bruchteil seiner sehr genauen Analyse der Zaire darstellt. Liest man in Lessings Hamburgischer Dramaturgie neben dem von Spitzer zitierten 15. auch das 16. Stück, dann findet sich dort eine sehr präzise Beobachtung von Orosmanes Changieren zwischen Nähe und Distanz. Die Herausforderung einer schauspielerischen Deutung des Orosmane bestehe demnach darin, dass sie „aus einer Gemütsbewegung in die andere übergehen“188 müsse: Erst zeiget sich Orosman in aller seiner Großmut, willig und geneigt, Zaïren zu vergeben, wann ihr Herz bereits eingenommen sein sollte, falls sie nur aufrichtig genug ist, ihm länger kein Geheimnis davon zu machen. Indem erwacht seine Leidenschaft aufs neue, und er fordert die Aufopferung seines Nebenbuhlers. Er wird zärtlich genug, sie unter dieser Bedingung aller seiner Huld zu versichern. Doch da Zaïre auf ihrer Unschuld bestehet, wider die er so offenbar Beweise zu haben glaubet, bemeistert sich seiner nach und nach der äußerste Unwille. Und so geht er von dem Stolze zur Zärtlichkeit, und von der Zärtlichkeit zur Erbitterung über.189
Diese Beobachtung bezog sich auf die Reaktion des Orosmane angesichts der vor dem gemeinsamen Hochzeitstermin fliehenden Geliebten Zaire: Zaire tat dies, nachdem ihr Vater in ihr und Nerestan seine beiden Kinder erkannte, zugleich jedoch schockiert war ob der nach muslimischen Bräuchen lebenden und einem Muslim gewogenen Tochter, die ihre vom Vater geforderte Taufe verweigert. Wenngleich Orosmane extrem verärgert ist über diese Flucht, so gewährt er der Zaire dennoch den erwünschten Aufschub der Hochzeit: Freilich noch nicht ahnend, dass dieser Aufschub auf den Wunsch ihres Bruders Nerestan zurückgeht, in dem Orosmane später fälschlicher- und tragischerweise den Geliebten Zaires vermuten wird. Die kritischen Kommentare eines holländischen Übersetzers hinsichtlich der Szene III.6 – „Zaïre weigert sich, ohne die geringste Ursache von ihrer Weigerung anzuführen; sie geht ab, und Orosman bleibt als ein Laffe (als eenen lafhartigen) 185 186 187 188 189
I,6, S. 807. Vgl. dazu: Patricia Oster: Marivaux und das Ende der Tragödie, München 1992, S. 191–193. Voltaire, Band 8, a. a. O., S. 494. Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 4, München 1970 ff., S. 306. Ebd.
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stehen. Ist das wohl seiner Würde gemäß? Reimet sich das wohl mit seinem Charakter? Warum dringt er nicht in Zaïren, sich deutlicher zu erklären?“190 – bzw. der Szene III.2 – „Orosman kömmt wieder zu Zaïren; Zaïre geht abermals, ohne die geringste nähere Erklärung, ab, und Orosman, der gute Schlucker (dien goeden hals), tröstet sich desfalls in einer Monologe“191 – stellen für Lessing daher eine Verkennung der eigentlichen Intention Voltaires dar, die auf „Verwickelung oder Ungewißheit“192 basiere. Eben diese Ungewissheit impliziert jedoch jene von uns betonten, für die Liebenden stets überraschenden Einsichten in die Intensität ihrer Liebe selbst, die fast schon an Marivaux denken lassen. Darin liegt eine wirkungsästhetische Verbesserung der tragédie tendre, die sich zweifellos aus Voltaires sehr genauer Kenntnis der comédie larmoyante erklärt. Deren Einflüsse zeigen sich auch in der Bruder-Schwester-Beziehung zwischen Zaire und Nerestan, wenn sich beide erst im Laufe des Dramas ihrer Verwandtschaft bewusst werden, schon zu Beginn jedoch durch eine „plus tendre amitié“ verbunden sind. Diese überraschenden Einsichten in verwandtschaftliche Beziehungen, wie sie zur gleichen Zeit die Komödie von Philippe Néricault Destouches entwickelte, prägen auch jene erwähnte Szene, in welcher die Zaire durch unterwürfiges Bitten gegenüber Orosmane die Befreiung des alten Lusignan erwirkt, woraufhin der alte Mann sogleich nach seinen Kindern fragt und diese schließlich in Nerestan und Zaire erkennt.193 Wenn Lusignan, dessen Schicksal als Gefangener nach Ansicht Marvin A. Carlsons Voltaires eigene Situation spiegelt194, seine beiden Kinder per Zufall erkennt und sich ihnen unter Tränen als Vater zu erkennen gibt, dann ist damit eben jener dramaturgische Effekt erzielt, den drei Jahre zuvor, also 1729, Philippe Néricault Destouches’ rührende Komödie Le Glorieux in der Figur des Lycandre entwickelte. Vor dem Hintergrund dieser äußerst markanten Bezüge zur comédie larmoyante scheint auch die kulturkritische Deutung der Zaire fragwürdig, dergemäß Voltaire die seiner Tragödie zugrunde liegende Konfrontation von Christen und Mohammedanern dazu nutzte, um gegen die herrschenden abendländischen Religionen zu polemisieren, die Zaire also als eine Art aufklärerisches und kirchenkritisches Lehrstück angelegt habe.195 Zwar beginnt die Zaïre mit einer Diskussion über die Rela190 191 192 193
Ebd., S. 305. Ebd. Ebd. Im Brief an de la Roque beschreibt Voltaire dies wie folgt: „Hélas! dit-il, puisque vous avez pitié de mes malheurs, achevez votre ouvrage; instruisez-moi du sort de mes enfants. Deux me furent enlevés au berceau, lorsque je fus pris dans Césarée; deux autres furent massacrés devant moi avec leur mère. Ô mes fils! ô martyrs! veillez du haut du ciel sur mes autres enfants, s’ils sont vivants encore. Hélas! j’ai su que mon dernier fils et ma fille furent conduits dans ce sérail. Vous qui m’écoutez, Nérestan, Zaïre, Chatillon, n’avez-vous nulle connaissance de ces tristes restes du sang de Godefroi et de Lusignan?“ Vgl.: The complete works of Voltaire, Band 8, a.a.O., S. 423. 194 Marvin A. Carlson: Voltaire and the Theatre of the Eighteenth Century, Greenwood 1998, S. 42. 195 In diese Richtung argumentiert der Essay von Caroline Weber: Voltaire’s ‚Zaïre’: Fantasies of Infidelity, Ideologies of Faith, in: South Central Review, Vol. 21, No. 2 (2004), S. 42–62, der den Untergang der Zaire zurückführt auf die „opposing but significantly analogous structures of
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tivität aller Religionen, zwar erweist sich zudem der fanatische Christ Nerestan dem toleranten Sultan moralisch unterlegen – dieselbe Konstellation findet sich später in Lessings Nathan der Weise –; dennoch unterliegt dieser konfessionelle Komplex keiner kritisch-satirischen, denn vielmehr einer affektpoetischen Intention. Wenn Voltaire also in seinem zitierten Brief an de la Roque betont, er habe „l’amour le plus tendre et le plus malheureux“196 darstellen wollen, dann unterstreicht dies die Nähe zu Racines Bérénice, auf deren Schlussworte diese Formulierung anspielt. Dieter Beyerle betonte daher mit Recht, dass die konfessionelle Differenz primär dazu diene, dieser zärtlichen Liebe zwischen Zaire und Orosmane „ein Hindernis“ zu liefern: „bei Racine ist es der Umstand, daß ein römischer Kaiser sich mit keiner Ausländerin verbinden darf; bei Voltaire hingegen muß die Tochter Lusignans den Glauben ihrer Väter annehmen, sie kann unmöglich den Sultan von Jerusalem heiraten.“197 Der Staatsraison in der Bérénice entspräche demnach das Christentum in der Zaire, insofern beide Hindernisse aus Sicht des gesunden Menschenverstandes im Grunde nicht ernstzunehmen seien. Eben dies aber sei nicht das Zeichen eines kulturkritischen statements, sondern Anlass einer affektpoetischen Dramatisierung, bei welcher eine ‚schmerzliche‘ Erfahrung primär sei: Mit Recht fragt sich Zaire, ob Orosman, wenn er an den Gott der Christen glaubte, auch nur eine einzige Tugend mehr besitzen würde, und in der „Bérénice“ muß sogar der Vertreter der Staatsraison einräumen, daß die Heldin im Grunde wie geschaffen sei, den römischen Kaiserthron zu besteigen: „Elle a mille vertus“ (II, 2). Aber gerade die Tatsache, daß das Unheil in beiden Fällen eigentlich überflüssig ist, läßt es als besonders schmerzlich erscheinen.198
Voltaire dient das konfessionelle Motiv also eher als Mittel zum Zweck, um in der Zaïre in Anlehnung an Shakespeares Othello und Racines Bérénice die Liebe in den Mittelpunkt seines Dramas zu stellen. Dessen rührender Effekt ist jedoch mindestens ebenso deutlich von der comédie larmoyante geprägt. Insofern steht seine Tragödie bereits unter dem Eindruck der sensibilité des 18. Jahrhunderts, die ab 1730 das bestimmende Motiv der comédie larmoyante wurde, wie wir anhand der Komödien von Marivaux, Destouches und La Chaussée noch zeigen werden. In diesem Sinne ist hier von einer Hybridisierung der Tragödie zu sprechen, ein Umstand, der die Zaire Voltaires auch von der sentimental tragédy Thomas Otways unterscheidet, der noch weit stärker den klaren Vorgaben der poetischen Gerechtigkeit verpflichtet war. Voltaire ging in der Zaire an seine Grenzen, und dies erklärt den Erfolg der Tragödie, wie er im Brief an Falkener eingesteht: Orosmane’s possessive love on the one hand and her family’s militant Christianity on the other. Whether marshaled in support of love or belief, the discourse of fidelity as presented in Zaire forms a totalizing symbolic field whose consistency depends on the ruthless and categorical exclusion of unassimilable difference.“ 196 The complete works of Voltaire, Band 8, a.a.O., S. 420. 197 Beyerle: Zaïre, a.a.O., S. 77. 198 Ebd.
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Si Zaïre a eu quelque succès, je le dois beaucoup moins à la bonté de mon ouvrage qu’à la prudence que j’ai eu de parler d’amour le plus tendrement qu’il m’a été possible. J’ai flatté en cela le goût de mon auditoire: on est assez sûr de réussir quand on parle aux passions des gens plus qu’à leur raison.199
Die Rezeption der empfindsamen Herrschertragödie in Deutschland Wir haben bisher am Beispiel Racines, Drydens, Otways, Rowes und Voltaires die Gattung der tragédie tendre als erste gattungsmäßige Ausprägung des empfindsamen Theaters identifiziert, und wollen nun deren Rezeption im Deutschland des frühen 18. Jahrhunderts untersuchen. Diese Rezeption ist durch einen eigentümlichen Paradigmenwechsel geprägt, der ganz eindeutig auf Friedrich Nicolai und dessen Emphatisierung Shakespeares zurückgeht. Im 11. Brief von Nicolais Briefen über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland von 1755200 wird demnach eine Kritik formuliert, die das negative Image der tragédie tendre einleitet, zugleich aber erkennen lässt, dass die 1740er und 1750er Jahre in Deutschland zunächst ein positives Bild von diesem neuen Genre entwickelten. Dies ändert sich in der zweiten Hälfte der 1750er Jahre, als Nicolai im elten seiner 1755 verfassten Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland bemerkte, es sei „zu wünschen, daß die engländische Schauspiele bei uns nicht so gering geschätzet würden. […] Die Franzosen gestehen es selbst, daß ihre allzugroße Zärtlichkeit und Weichlichkeit ihnen nicht erlaubt, viel Charaktere auf ihr Theater zu bringen, die auf dem engländischen Theater die glücklichste Wirkung tun.“201 In identischer Art und Weise wird Lessings berühmter 17. Literaturbrief von 1759 – wie vor ihm Nicolai – gegen die französische Klassik das neue Argument einer auf Shakespeare sich berufenden Genie-Ästhetik richten, deren Tenor hinlänglich bekannt ist: Die tragédie classique, an welcher Gottsched fatalerweise seine Erneuerung der deutschen Bühne orientiert habe, sei durch „das Artige, das Zärtliche, das Verliebte“ geprägt. Dagegen zeichne sich das Theater Shakespeares durch „das Große, das Schreckliche, das Melancholische“ aus, welches „besser auf uns wirkt“, wie auch die – von Racine im Vorwort zur Bérénice betonte – „zu große Einfalt mehr ermüde, als die zu große Verwicklung.“202 199 Voltaire: Oeuvres complètes, a.a.O., S. 421. 200 Friedrich Nicolai (1733–1811): Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland (1755). Eilfter Brief. Hrsg. von Georg Ellinger. Berlin 1894, S. 82–94 201 Ebd. 202 Lessing: Werke II., a.a.O., S. 750. Obwohl Nicolai in seiner 1757 verfassten Abhandlung vom Trauerspiel Voltaires Zaire als rührendes, d. h. bürgerliches Trauerspiel definierte, richtete Lessing seine sehr vehemente Kritik der französischen Tragödie auch auf die Zaire Voltaires, welche als bloße Kopie von Shakespeares Othello diskreditiert wird: „Hat Corneille ein einziges Trauerspiel, das Sie nur halb so gerühret hätte, als die ‚Zaire‘ des Voltaire? Und die ‚Zaire‘ des Voltaire, wie weit ist sie unter ‚dem Mohren von Venedig‘, dessen schwache Copie sie ist, und von welchem der ganze Charakter des ‚Orosmans‘ entlehnt worden?“ Vgl.: Ebd.
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Wir müssen nun davon ausgehen, dass diese sehr bekannten Argumente sich gegen eine Vorgeschichte wenden, die in der germanistischen Forschung zur Empfindsamkeit lange Zeit unbekannt war und wohl erst durch die eingangs erwähnte Studie Heide Hollmers über die Originaltrauerspiele in Gottscheds ‚Deutscher Schaubühne‘ von 1994 bekannter wurde. Denn vom „zärtlichen Racine“ sprach in Deutschland in der Tat erstmals Johann Christoph Gottsched. Schon im neunten Teil seiner Beyträge zur critischen Historie von 1734 befasste Gottsched sich mit Johann Friedrich Mays Übersetzung von des berühmten Paters Poree Rede von den Schauspielern: Ob sie eine Schule guter Sitten sind, oder seyn können?, befasste.203 Diese Übersetzung des Discours sur les specatacles (1733) von Charles Porée dürfte die Quelle jenes Importes sein, bei welchem das Racinesche Zärtlichkeitsideal im Deutschland des 18. Jahrhunderts erstmals thematisch wurde. Dabei paraphrasiert Gottsched zustimmend die Kritik des Porée an der zeitgenössischen französischen Tragödie – „Sie vergrößert die schädlichen Leidenschaften, an statt sie zu heilen, und bringet dem Herzen Rache und Liebe bey; ein zwiefaches Gift, das vor die Religion und den Staat gleich schädlich ist.“204 –, wenngleich Porée die Bühne an sich nicht verdammte, sondern lediglich den schlechten Gebrauch, den dieser im französischen Theater der Gegenwart widerfahre. Alle Kennzeichen des Racineschen Klassizismus, die Gottsched später bekanntlich emphatisieren sollte, werden von Porée vermisst, bei Racine ginge also „die Einheit der Handlung, die Wahrheit der Sache, die Wahrscheinlichkeit, die ordentliche Mannigfaltigkeit, kurz, alle Grundgesetze der Schaubühne verlohren, und die edle Strenge derselben ward dem Gesetze dieses zärtlichen Gesetzgebers unterworfen.“205 In der Vorrede zur Zweiten Auflage der Critischen Dichtkunst von 1737 unterstreicht Gottsched dagegen seine Wertschätzung von Corneille und Racine und stellt sie auf eine Ebene mit Horaz, Longin, Scaliger und Boileau.206 Im Zuge dieser Positivierung wird jedoch das Motiv des empfindsamen Racine gleichsam ausgespart, erst 20 Jahre später, also im Jahre 1755, übernahm Gottsched eine Abhandlung Marivaux’, Le Miroir, unmittelbar nach deren Publikation im Mercure unter dem Titel Der Spiegel in seine literarische Zeitschrift Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit, die positiv vom zärtlich-empfindsamen Theater Racines sprach. Gottsched hat also schon in den 1730er Jahren die Grundlage für jene Diskussion geschaffen, die das Motiv der zärtlich-empfindsamen Liebestragödie Racines vor dem Hintergrund der aristotelischen Tragödientheorie zu bewerten versuchte und die ihren Höhepunkt zweifellos in der berühmten Kritik Jean-Jacques Rousseaus am ‚verweichlichten‘ Theater Racines fand. Gottsched hatte jedoch noch nicht 203 204 205 206
Gottsched: Beyträge IX, 1734, S. 3–29, hier S. 15. Ebd., S. 14. Ebd., S. 16. Johann Christoph Gottsched: Versuch einer kritischen Dichtkunst für die Deutschen: darinnen erstlich die allgemeinen Regeln der Poesie, hernach alle besondere Gattungen der Gedichte, abgehandelt und mit Exempeln erläutert werden, ueberall aber gezeiget wird: Daß das innere Wesen der Poesie in einner Nachahmung der Natur bestehe. Anstatt einer Einleitung ist Horatii Dichtkunst in deutsche Verse übersetzt, und mit Anmerkungen erläutert, Leipzig 1737, Vorrede.
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wirklich Partei für dieses empfindsame Theater ergriffen, sondern an Racine eher die enge Orientierung am Regelkomplex der aristotelischen Poetik betont, die erst später einsetzende Kontroverse über den ‚tendre Racine‘ war ihm ja auch noch nicht bekannt. Diese Kontroverse beginnt im Deutschland der 1740er Jahre, sie hat ihren Ausgangspunkt in der folgenden Reflexion aus Johann Jakob Bodmers 1743 veröffentlichten Critischen Betrachtungen der ersten Racine-Übersetzung Johann Christoph Gottscheds von 1732: Racine, der dem Corneille an Hoheit der Gedanken, an Lebhaftigkeit, an der Kunst zu erfinden, und an Beobachtung des Wohlstandes und der Wahrscheinlichkeit gleich ist, übertrift ihn an Zärtlichkeit, an Anmuth, an edlen Reizungen, an natürlichen Schönheiten, durch welche er die Kunst verbirgt. Alles rühret, alles beweget in seinen Schriften: Alles scheinet Natur zu seyn, weil er niemals das Wahre und das Schöne aus den Augen verliert. Man findet in seinen Gemählden dasjenige, was die Mahler die schöne Natur heissen.207
Dabei ist zu betonen, dass diese fast hymnische Wertung Bodmers eine längere Paraphrase bzw. Übersetzung des Franzosen Longepierre darstellt, der in seiner Parallèle de Mr. Corneille et Mr. Racine von 1686 diese emphatische Aufwertung des zärtlichen Racines entschieden vorbereitete. Longepierre hatte diesen Text im vierten Band von Adrien Baillets Jugemens des savans sur les principaux ouvrages des auteurs platziert und somit den bereits zitierten Thesen Rapins und Saint-Évremonts widersprochen, insofern er erstmals jenen stereotypen Vergleich zwischen Corneille und Racine zugunsten Racines deutete: Mr. Corneille a plus de pompe, plus d’éclat, plus de sorce; mais cet éclat est quel- Juesois faux; & cette sorce est quelquesois dure & obscure. M. Racine a plus de tendresse, plus de grace, plus de douceur, mais cette grace est par tout accompagnée de grandeur; & cette douceur n’est jamais dépouillée de noblesse.208
Vor diesem Hintergrund sind die Ausführungen Bodmers die ersten in deutscher Sprache, die – ausgehend von den Formulierungen Longepierres – die Tragödie Racines als eine Tragödie der Zärtlichkeit emphatisch aufwerten. Mehrfach geschieht dies im Text, und zwar in deutlicher Adaption einer für das Theater der Empfindsamkeit später zentralen Poetik der Rührung: „Racine rühret, erweichet, lenket und bezaubert das Herz, wie er will“, man „erkennet den Racine nimmer besser, als wenn er sanfte Leidenschaften, die Liebe, die Erbarmung, die Zärtlichkeit ausdrückt.“209
207 Johann Jacob Bodmer: Critische Betrachtungen und freye Untersuchungen zum Aufnehmen und zur Verbesserung der deutschen Schau-Bühne. Mit einer Zuschrift an die Frau Neuberin, Bern 1743, S. 43. 208 Adrien Baillet: Jugemens des savans sur les principaux ouvrages des auteurs, Band 4, Ausgabe 2, S. 551–584, hier S. 556. 209 Ebd., S. 44.
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So differenziert diese Überlegungen in der Folge behandelt werden – „Corneille war in dem hohen Pathetischen, Racine im Zärtlichen ein Meister“210, so heißt es 1767 im ersten Band von Lindners Lehrbuch der schönen Wissenschaften, insonderheit der Prose und Poesie; ähnlich bemerkt 1764 Johann Christoph Stockhausens Critischer Entwurf einer auserlesenen Bibliothek für den Liebhaber der Philosophie und schönen Wissenschaften: „Corneille besitzt mehr das Erhabene, und setzt in Verwunderung, Racine besitzt mehr das Zärtliche, und bewegt.“211 –, so unverkennbar bleibt die Tendenz, im Zärtlichkeitsmotiv ein Kennzeichen des französischen Theaters generell zu sehen. Ungeachtet der sich im Laufe des frühen 18. Jahrhunderts fortsetzenden Dichothymie zwischen Corneille und Racine wurde im Deutschland der 1740er Jahre die Racinesche Liebesthematik also zunehmend zum Charakteristikum der tragédie classique als solcher. Schon in den 1740er Jahren entfaltet sich demnach im Umfeld Gottscheds ein sehr klares Wissen darum, dass es auf dem zeitgenössischen Theater ein neuartiges Genre gibt, in welchem das Motiv der zärtlichen Liebe zu einer ganz eigenen Wirkung – der Rührung der Zuschauer – beiträgt. Johann Elias Schlegel hatte diesen Zusammenhang in seiner Abhandlung Von der Würde und Majestät des Ausdrucks im Trauerspiele von 1745 wohl von allen genannten Zeitgenossen am differenziertesten beurteilt, insofern er hier eine sehr nuancierte Erklärung für die Zärtlichkeit Racines vorlegte. Vergleicht man diese Äußerungen Schlegels zu Corneille und Racine – „Aber die natürliche Neigung hat den einen getrieben, mehr zärtliche und den andern mehr mit Muth und Ehrgeiz angefüllte Geschichte, zum Grunde ihrer Werke zu legen.“212 – mit seinen späteren Essays, dann ist eine Verallgemeinerung erkennbar, die folgenreich sein sollte. Denn schon zwei Jahre später erhob Schlegel das Merkmal der Liebe zum Kennzeichen der französischen Mentalität im Allgemeinen, wie dies der Beginn seiner Gedanken zur Aufnahme des dänischen Theaters von 1747 und die dort formulierte Unterscheidung zwischen dem englischen und dem französischen Theater verdeutlicht: Der Franzos sieht die Liebe in seinen Schauspielen, so wie in seinem Leben, für die einzige Hauptbeschäftigung eines Herzens an, das einmal verliebt ist, er opfert ihr alle seine Gedanken auf; und er geht darinn mit Seufzen, mit Bitten, mit Ehrfurcht und mit einer Zärtlichkeit zu Werke, deren Vorstellung vielen anderen Nationen, die nicht mit einem solchen Eifer verliebt zu sein pflegen, langweilig, verdrießlich und unwahrscheinlich vorkömmt.213
Es ist davon auszugehen, dass diese Überhöhung der Zärtlichkeit zum kollektiven Habitus der ‚Franzosen‘ generell nicht allein auf die Diskussion um den ‚tendre 210 Johann Gotthelf Lindner: Lehrbuch der schönen Wissenschaften, insonderheit der Prose und Poesie, Band 1, Königsberg und Leipzig 1767, S. 240. 211 Johann Christoph Stockhausens Critischer Entwurf einer auserlesenen Bibliothek für die Liebhaber der Philosophie und schönen Wissenschaften. Zum Gebrauch akademischer Vorlesungen, Berlin 1771, S. 290. 212 Johann Elias Schlegel: Werke, a. a. O., S. 549. 213 Ebd., S. 560f.
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Racine‘ zurückgeht, sondern überdies aus der Kenntnisnahme der französischen comédie larmoyante, die das Vorzeichen zärtlicher Empfindsamkeit ja ebenfalls verliehen bekam, wenn wir an Gellerts Abhandlung Pro Comoedia commovente von 1751 denken. Was 1751 von Gellert unter vollkommener Ausblendung der Tragödien Racines als Merkmal der neuen, weil ‚rührenden Komödie‘ bemerkt wurde, dies bezog wohl auch Johann Elias Schlegel – angesichts seiner genauen Kenntnis der Komödien des Destouches – in seinen Gedanken zur Aufnahme des dänischen Theaters auf beide Genres: Die Komödie und die Tragödie. Dadurch hat auch Schlegel zu jener Polarisierung beigetragen, die dann wie gesehen im elften Brief aus Nicolais Briefen über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland von 1755214 sowie im Anschluss daran in Lessings berühmtem 17. Literaturbrief von 1759 zum zentralen Argument einer neuen Genie-Ästhetik werden sollte: Die tragédie classique, an welcher Gottsched fatalerweise seine Erneuerung der deutschen Bühne orientiert habe, sei durch „das Artige, das Zärtliche, das Verliebte“ geprägt.215 Diese Kritik wird freilich keineswegs von allen deutschsprachigen Tragikern des 18. Jahrhunderts geteilt, wie die wohl wichtigste Vorlage der Emilia Galotti, nämlich Johann Samuel Patzke 1755 verfasstes Drama Virginia zeigt, in dessen Vorwort folgendes zu lesen ist: Ein deutscher Trauerspieldichter kennet den erhabnen Corneille, den zärtlichen Racine, den erhabnen und zärtlichen Voltaire, und den ihnen zur Seite gehenden Schlegel nicht, wenn er nicht bey seinen Arbeiten Furchtsamkeit und Mistrauen zeiget. Und doch soll er sie kennen, und doch sollen dieß die Muster seyn, denen er nachahmen soll; keine geringern müssen es seyn. Bis auf die Stufe des Mittelmäßigen ist ein großer Theil der deutschen Schriftsteller gekommen, wenige bis auf die Stufe des Außerordentlichen, und doch sollen sie alle bis dahin steigen.216
Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass Gottscheds Deutsche Schaubühne sowie dessen Vorrede zur zweiten Ausgabe der Critischen Dichtkunst die Kanonisierung Racines entschieden prägte, dass Gottsched jedoch zugleich der im Frankreich des 17. Jahrhunderts so kontrovers diskutierten Empfindsamkeit Racines eher distanziert begegnete. Wenn Gottsched daher das Motiv der tendresse in seiner Critischen Dichtkunst positiv bewertete, dann geschah dies seinerseits mit Blick auf die Zärtlichkeit als einer Kategorie der Prosodie, die er vom eher hölzernen bzw. überladenen Stil der deutschen Barockdichter Lohenstein und Hofmannswaldau positiv abhob, wie wir bereits in unserer Einleitung vermerkten. Andererseits jedoch ist klar erkennbar, dass sich in den Dramen von Gottscheds Deutscher Schaubühne ganz eindeutig Stücke befanden, die im Sinne von Lessings 17. Literaturbrief das Artige und Zärtliche unter Rückgriff auf die tragédie classique zum Gegenstand hatten. Zwei dieser Dramen, die beide vor Gellerts Schwedischer Gräfin bzw. seinen Zärtlichen Schwestern entstanden, seien nun eingehender vorgestellt: 214 Friedrich Nicolai: Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland (1755). Eilfter Brief, hg.v. Georg Ellinger, Berlin 1894, S. 82–94 215 Lessing: Werke II., a.a.O., S. 750. 216 Johann Samuel Patzke: Virginia. Ein Trauerspiel, Frankfurt und Leipzig 1755, S. 4.
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Zum einen Theodor Johann Quistorps Drama Aurelius, oder das Denkmaal aus Zärtlichkeit von 1743, zum anderen das ein Jahr später publizierte Drama Mahomed, der IV von Ephraim Benjamin Krüger.
Theodor Johann Quistorp: Aurelius, oder das Denkmaal der Zärtlichkeit (1743) Das entscheidende Medium bei der Adaption der tragédie tendre ist Gottscheds Deutsche Schaubühne, die von 1741 bis 1745 in sechs Teilen bei dem Leipziger Verleger Bernhard Christoph Breitkopf erschien. Zudem sind die ersten drei Bände fast ausschließlich Übersetzungen des französischen Theaters, sie beinhalten Dramentexte von Pierre Corneille, Saint-Évremond, Molière, Racine, Dufresny, Destouches oder Voltaire; erst ab dem Band IV. werden ausschließlich deutsche Dramen veröffentlicht. All diese Dramen sind bekanntlich klassische Königs- bzw. Fürstendramen, von Gottscheds Dramen Cato sowie Agis, König zu Sparta über Johann Elias Schlegels Dramen Herrmann sowie Dido, bis hin zu Theodor Johann Quistorps Aurelius oder Ephraim Benjamin Krügers Mahomed der IV. Insofern kann man wohl von einer Präfiguration des rührenden Lustspiels oder gar des bürgerlichen Trauerspiels in den empfindsamen Dramen der Schaubühne sprechen.217 Sie teilen mit dem Genre des bürgerlichen Trauerspiels die Idee einer tragischen Zärtlichkeit, wie sie Racine entwickelte. Freilich wird dieses Motiv im empfindsamen Herrscherdrama innerhalb des von Borchmeyer so benannten Spannungsfeldes aus „Staatsräson und Empfindsamkeit“218 entwickelt, das natürlich im Bürgerlichen Trauerspiel nicht zu finden ist. Und auffallend ist desweiteren, dass das deutschsprachige Herrscherdrama der Empfindsamkeit im Unterschied zu Racine und Voltaire bzw. Dryden oder Rowe keine Liebesbeziehung dramatisiert. Vielmehr wird die Zärtlichkeit auf einer später auch das rührende Lustspiel Gellerts bzw. das bürgerliche Trauerspiel Lessings prägenden innerfamiliären Ebene inszeniert. Diese Eigentümlichkeit zeigt sich bereits in Gottscheds Drama Sterbender Cato von 1732: Nachdem der Titelheld Cato erfuhr, dass die Partherkönigin Arsene seine leibliche Tochter Porcia ist, zeigt dieser an sich stoische Held erstmals seine väterlichen Empfindungen: Ich hab es wohl gespürt, daß dich mein Schmerz bewegt: Es war ein heimlich Band in unser Blut gelegt; So heftig regten sich die eingepflanzten Triebe! Und kurz, ich fühlte selbst die zärtste Vaterliebe.219
217 Unter Verwendung von Racines Plaideurs steuerte Quistorp sein Lustspiel Der Bock im Processe zum V. Band von Gottscheds Schaubühne bei. 218 Borchmeyer: Staatsräson und Empfindsamkeit, a.a.O. 219 Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke, hg.v. Joachim Birke, Band 2: Sämtliche Dramen, Berlin 1968/1970, S. 86.
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Mit Recht aber betonte Sabine Doering, dass Gottscheds erste Adaption des Motives seine Grenzen stets dann findet, wenn es um die zwischengeschlechtliche Liebe geht. Denn die zärtlichen Regungen der Porcia für den Tyrannen Caesar werden im Drama deutlich kritisiert: Gottsched also ‚warnt‘ vor den Gefahren einer zärtlichen Liebesauffassung: „Die Stimme des Gefühls kann durchaus der Stimme der Vernunft widersprechen, richtet sich Porcias Zärtlichkeit doch ausgerechnet auf den Tyrannen Cäsar.“220 Anders ist dies in unserem ersten Beispiel, Theodor Johann Quistorps Tragödie Aurelius, oder das Denkmaal der Zärtlichkeit, die 1743 im vierten Teil der Deutschen Schaubühne erstmals veröffentlicht wurde. Wie einschlägig dieses Drama für unsere Fragestellung ist, wie sehr es also nicht allein an der titelgebenden Zärtlichkeit, sondern auch an einer Dramaturgie der Rührung partizipiert, dies verdeutlicht schon das Vorwort Gottscheds, der die Qualitäten des Aurelius im Vergleich zu Johann Elias Schlegels Tragödie Herrmann folgendermaßen umschrieb: Hat Hermann die Leser mit trefflichen Gedanken, Lehrsprüchen und wohlgeschilderten Charactern vergnüget: so wird gewiß Aurelius sie mit heftigen Affecten, unvermutheten Begebenheiten, und andern rührenden und lebhaften Stellen gewinnen. Kurz, wird dort der Verstand und Witz, so wird hier das Herz beschäftiget, ja bezaubert und hingerissen werden.221
Die Tragödie behandelt die tragischen Konsequenzen einer aus Gründen der Staatsraison verübten Mordtat, begangen durch den Titelhelden Aurelius. Dieser tötete seinen Freund, den Verschwörer Valerius, Quistorp partizipiert mit seiner Tragödie also an einem vor allem durch Corneilles Dramen Clitandre, Ou l’innocence persécutée von 1631, sowie Cinna, ou la clémence d’Auguste von 1641 vorgeprägten Motiv. Quistorps Tragödie hat aber zugleich Anteil an der Racineschen Empfindsamkeit, die in diesem Fall vor allem den Titelheldin betrifft: Aurelius will den guten Ruf des Freundes Valerius wahren, weshalb er dessen Verschwörung bzw. Mordabsicht gegenüber dem römischen Kaiser Trajanus nicht preisgibt. Obwohl Aurelius angesichts dieser Verschwiegenheit Gefähr läuft, als hinterhältiger Mörder missverstanden und angeklagt zu werden, verheimlicht er hartnäckig das eigentliche Motiv seiner Tötung des Freundes: Selbst angesichts der ihm nun drohenden Todesstrafe ist seine Loyalität gegenüber dem von ihm selbst Ermordeten nicht zu erschüttern. Er flieht und sucht eine Lösung der Situation im Kampf, entdeckt schließlich seiner Umwelt das wahre Tötungsmotiv, weshalb es nun zu einer Klärung des Vorfalls im Rahmen eines Gerichtsverfahrens kommt. Dann allerdings ergibt sich im Schlussakt eine doppelte Lösung des Konfliktes: Valerius’ Mutter 220 Sabine Doering: Märtyrer mit Familie. Gottscheds Sterbender Cato im Gattungsspektrum des Aufklärungsdramas, in: Resonanzen. Festschrift für Hans Joachim Kreutzer zum 65. Geburtstag. Hg. von Sabine Doering, Waltraud Maierhofer und Peter Philipp Riedl, Würzburg 2000, S. 47– 59, hier S. 57. 221 Gottsched, Johann Christoph [Hrsg.]: Die Deutsche Schaubühne. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1741–1745: 4. Band. Mit einem Nachwort von Horst Steinmetz. Stuttgart 1972, S. 11f.
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Fulvia zieht – unterstützt durch das römische Volk – ihre Klage zurück, und die römischen Auguren deuten ein Götterzeichen in versöhnlichem Sinn: Als sich zwei Adler auf des Aurelius’ Haus niederlassen, wird dies von den Auguren als Zeichen für die Gunst und Liebe der Götter gewertet. Das Drama endet schließlich gar damit, dass die Mutter des Ermordeten den Mörder ihres Sohnes adoptiert: Diese Wende ist jene Zärtlichkeit, welcher das Drama ein Denkmal zu setzen gewillt ist. Das Denkmaal der Zärtlichkeit, das der Untertitel nennt, bezeichnet jedoch nicht allein diese zärtliche Stiftung der neuen Mutter-Sohn-Beziehung, sondern vor allem die Wesensart des Titelhelden. Dessen Empfindsamkeit äußert sich nicht nur durch die Schonung des Ansehens seines von ihm getöteten Freundes. Sein Feinsinn zeigt sich auch in dem Umstand, dass er weniger an der zu erwartenden Strafe, denn vielmehr an der falschen Einschätzung seiner Motive durch die Öffentlichkeit leidet. Darüber hinaus ist des Aurelius’ ‚Zärtlichkeit‘ durch den Sühnewunsch motiviert, der auf die Freundschaft zu Valerius und den Schmerz über dessen Tod zurückgeht. Im Laufe des Dramas rückt allerdings, wie Heide Vollmer betonte, zunehmend die „Verweigerungshaltung des Helden“ bzw. dessen „problematische(r) Starrsinn […] ins Blickfeld“.222 Dieser Starrsinn ist jedoch auch ein Resultat der unbedingten Loyalität des Aurelius, zum einen gegenüber dem Freund Valerius, zum anderen gegenüber dem Kaiser Trajan. Entsprechend basiert das Verschweigen der drohenden Verschwörung als eigentlichem Tötungsmotiv auch auf das Aurelius’ Loyalität gegenüber dem Kaiser Trajan, insofern „Aurelius glaubt, den Kaiser in seinem Ansehen zu beschädigen, wenn er begnadigt würde.“223 Dieser Loyalität des ‚Höflings‘ gegenüber seinem Kaiser ist des Aurelius’ Pflicht und Sorge gegenüber sich selbst immer untergeordnet. Aber auch Kaiser Trajan ist in dieses Zärtlichkeitsmotiv eingenommen, insofern bereitet Quistorps Drama jenen empfindsamen Herrschertypus vor, der später von Johann Elias Schlegel im Canut zu einer gänzlich an der Zärtlichkeit orientierten Herrschaftspraxis des Souveräns ausgebaut wird, wie Wolfgang Lukas betonte.224 Trajan ist als vorbildlicher Kaiser gekennzeichnet: Er ist der „Tugend Unterthan“225 und von keinem Laster beherrscht, wie Aurelius gleich am Beginn dem Verschwörer Valerius entgegenhält. Trajan zeichnet sich durch Sanftmut und Güte aus, durch eine „starke Zärtlichkeit“, wie ihm die Mutter des Ermordeten, die Fulvia attestiert.226 Bei Quistorp wird der zum Vorbild stilisierte Regent jedoch mehrfach in Konfliktsituationen gezeigt, auf welche er mit Jähzorn reagiert: „mein Jachzorn hat mich gar zu weit verführet“227. Dieser Mangel zeigt sich auch in der Rechtsauffassung des Kaisers, der zwar während seiner kriegsbedingten Abwesenheit ein souveränes Gericht zur Beurteilung des Mordfalles einsetzt, also eine Art der ‚Gewalten222 Hollmer: Anmut und Nutzen, a.a.O., S. 170. 223 Vgl.: Katrin Löffler: Anthropologische Konzeptionen in der Literatur der Aufklärung. Autoren in Leipzig 1730–1760, Leipzig 2005, S. 266. 224 Vgl. Wolfgang Lukas: Anthropologie und Theodizee, a. a. O., S. 84. 225 Deutsche Schaubühne, 4. Band, S. 187. 226 Ebd., S. 217. 227 Ebd., S. 248.
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teilung‘ realisiert. Dennoch aber fällt er zwischenzeitlich in absolutistischer Manier das Todesurteil über den Titelhelden, das zudem keine Revision mehr duldet: Deutliches Indiz für die „fehlerhafte Struktur“228 dieses Charakters. Nur die Souveränität und Klugheit des Richters Maximinus vermag diese verfahrene Konstellation stets zu entschärfen. Insofern droht Aurelius zwar die Todesstrafe, nach Aufdeckung der wahren Zusammenhänge wird die Ermordung des Valerius jedoch sowohl von Kaiser Trajan, als auch von der Mutter Fulvia, dem römischen Volk und gar den Göttern gebilligt. Nach der Entdeckung des eigentlichen Tatmotivs, d.h. den Umsturzabsichten des Valerius scheint die Harmonie zwischen dem Herrscher und seinem Vertrauten gestört, eben diese wird aber schließlich wieder versöhnt. Der Irrtum hat also weder bei Aurelius noch bei Trajan eine Bestrafung zur Folge. Dieses versöhnliche Ende erklärt sich freilich durch die Allmacht der transzendenten Ebene des Göttlichen Gerichtes, insofern die Rehabilitierung des Aurelius erst nach einer Willensäußerung der Götter vollzogen wird. Damit folgt Quistorp sehr entschieden der Idee poetischer Gerechtigkeit, wenngleich die Tugendhaftigkeit des Titelhelden im Sinne einer sehr ehrenhaften Freundestreue zunächst in eine Art Starrsinn umschlägt. Aus der Sicht von Kaiser Trajan und Richter Maximus erscheint sein Beharren zudem als eigensinnig, stolz und undankbar; sie sprechen vom störrischen, steinernen und nicht zu rührenden Herzen.229 Wenn sich Aurelius gar nach der „Standhaftigkeit der christlichen Märtyrer sehnt“230, wird seine Tugendhaftigkeit zwar als Atavismus ausgewiesen. Aber dass am Ende die poetische Gerechtigkeit den Sieg davon trägt, zeigt die von außen motivierte Konfliktlösung, die sich durchaus mit Heide Hollmer als eine „aufklärerische Revision“231 beschreiben lässt.
Ephraim Benjamin Krüger: Mahomed der IV (1744) Auch in Ephraim Benjamin Krügers Tragödie Mahomed der IV ist der Hintergrund der für die Dramen der Deutschen Schaubühne zentralen Tradition der tragédie classique unverkennbar: Thema ist auch in dieser Tragödie die Polarisierung von Neigung und Pflicht bzw. von Zärtlichkeit und Staatsräson. Krüger Drama geht zurück auf ein Ereignis aus der jüngeren Geschichte des Osmanischen Reiches: Die Niederschlagung einer Palastrevolution der Janitscharen, die sich mit der Großmutter Kiosem gegen den jungen Sultan Mahomed den IV verbündeten, der 1648 als Sechsjähriger die Regentschaft übernahm. Anders als bei Quistorp spielt also bei Krüger das Zärtlichkeitsmotiv auf eine innerfamiliäre Konstellation und nicht auf ein Tugendideal an. Denn natürlich fällt es dem Sultan Mahomed ausgesprochen 228 229 230 231
Heide Hollmer: Anmut und Nutzen, a. a. O., S. 172. Deutsche Schaubühne, 4. Band, S. 226 f. Heide Hollmer: Anmut und Nutzen, a. a. O., S. 172. Ebd.
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schwer, sich über seine Gefühle für die eigene Großmutter hinwegzusetzen und diese als revolutionäres Element entsprechend zu sanktionieren. Auffallend ist an diesem Drama zunächst einmal der muslimische Stoff, der wohl auf französische Quellen zurückgeht, weshalb Gottsched in seinem Vorwort nicht nur auf Voltaire, sondern auch auf Châteaubrun verweist, und in diesem Zusammenhang auch die „rührenden“ Qualitäten des Dramas betont: Mahomet der IV. als das fünfte Stück, wird vielleicht manchem, dem Namen nach, als eine Nachahmung zweyer neuen französischen Stücke, die nicht erwegen, daß Voltaire Mahomet den ersten , Châteaubrun aber, ein anderer französischer Dichter, Mahomet den zweyten zu seinem Helden genommen: so daß auch nothwendig der ganze Inhalt, Perfonen, Charaktere und Leidenschaften hier ganz neu, und von keinem andern entlehnt seyn können. Doch ist der Herr Verfasser sehr genau bey der Historie geblieben; einige kleine Umstände ausgenommen, die er den theatralischen Regeln gemäß, dazu dichten müssen. Dieß ist nun der andere Versuch eines jungen Dichters, dessen Muse, auch ihrer Bescheidenheit wegen, eine Aufmunterung verdienet. Meines Erachtens wird auch der edle Character, sowohl des jungen Kaisers als seiner Mutter Roxellane, in denen Verbindungen, darinn sie sich äußern, einen jeden Zuschauer sattsam rühren.232
Am Anfang dieses Dramas steht die Partei der Aufrührer, die sich um Kiosem, die Großmutter des Sultans Mahomed, formiert hat, deren Ziel es ist, mit Hilfe des Janitscharenführers Bektas, des Eunuchenaufsehers Oglar und des Ichloganenführers Osman die Herrschaft an sich zu reißen. Diese Kiosem ist nicht nur die Großmutter des regierenden türkischen Herrschers Mahomed IV, sondern ließ bereits Ihren Sohn ermorden, und ist nun gewillt, um ihrer umstürzlerischen Ziele willen auch den eigenen Enkel zu opfern. Allerdings misslingt dieser Anschlag, woraufhin der junge Mahomed seine Großmutter eigentlich hinrichten lassen müsste, so zumindest verlangt es das geltende Recht. Eben dazu sieht er sich jedoch aufgrund seiner nach wie vor liebenden Gefühle für die eigene Oma nicht in der Lage: Auch hier also dominiert das gattungstypische Spannungsfeld von Staatsraison und Empfindsamkeit, insofern Mahomeds Begnadigung der eigenen Oma beinahe seinen Untergang ausgelöst hätte, nachdem Kiosem von ihren Anhängern befreit wird. Und auch nach ihrer erneuten Inhaftierung wird Kiosem auf Bitten der Mutter Mahomeds von diesem begnadigt, wenngleich das erzürnte Volk unmissverständlich den Tod der Rebellin fordert. Und erst jetzt werden die Putschisten inhaftiert und die Begnadigung der tyrannschen Kiosem aufgehoben, sodass diese schließlich voller Todesangst ihrer Hinrichtung entgegensieht. Weit deutlicher als in der französischen tragédie tendre wird bei Krüger gemäß der Idee poetischer Gerechtigkeit in Gut und Böse unterteilt und abgeurteilt, wobei die Partei der Tugendhaften neben dem jugendlichen Mahomed und dessen Mutter Roxellane auch den als klugen und weisen Ratgeber auftretenden Großwesir Selim umfasst. Mahomed selbst ist jedoch zugleich ein zaudernder bzw. verzag232 Deutsche Schaubühne V, S. 17f.
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ter Charakter, ein in diesem leicht „blöden“233 Sinne zärtlicher Herrscher also, dessen staatsmännische Pflicht immer wieder von seinem zärtlichen oder sanften Herzen blockiert wird. Trotz der offenkundig umstürzlerischen Pläne seiner Großmutter will er seine Liebe zu ihr nicht aufgeben, selbst als ihn der Großwesir Selim wiederholt an seine Herrscherpflichten erinnert. Nur durch eine gleichsam stoische Gefühlskälte gegenüber der eigenen Großmutter lasse sich der Thron behaupten: „Herr, dadurch wird die Kraft dem Aufruhr nicht geraubt:/ Ein ander Haupt muß dir die Ruhe wiederbringen./ Doch deine Zärtlichkeit musst du zuerst bezwingen,/ Sonst stürzest du dich selbst.“234 Wenn der junge Mahomed diese Hinweise Selims auf die Verpflichtungen des Herrschers zur Vergeltung als ‚grausam‘ charakterisiert, dann erkennen wir daran zweifellos auch den Einfluss der Tragödie Racines, in dessen Bérénice die Entsagung des Titus ja ebenfalls als ‚cruel‘ beschrieben wurde. Freilich scheint es bei Krüger eher unfreiwillig komisch, wenn Selim seinen Herrscher Mahomed zur Sanktionierung der Verschwörer verpflichtet – „Ja, Kaiser,/ sie muss sterben“ –, und Mahomed dies als besonders cruel versteht: „Du dringst zu scharf in mich! Kannst du so grausam seyn?“235 Und doch gibt es nach Ansicht Selims keine Alternative zur Sanktion: „Wer einmal Kaiser ist, kann diese Pflicht nicht brechen.“236 Mahomed beruft sich allerdings ebenfalls auf eine Pflicht: Nichts könne ihn von dem Diktum befreien, die Eltern zu lieben und zu ehren, wie es die Natur lehre.237 Heide Hollmer führt Krügers Verpflichtung seines Helden zu kindlicher Liebe und Dankbarkeit gegenüber den Eltern auf den Einfluss von Gottscheds Schriften zur Weltweisheit zurück, insofern das Kapitel über die „väterliche Gesellschaft“ in ähnlicher Form den Herrscher als liebenden Familienvater diskutiert.238 Karin Löffler sieht zudem eine weitere Beziehung Krügers zu Gottsched im Motiv der Feindesliebe, die Gottsched aus dem Recht der Natur ableitet und schon bei den griechischen und römischen Weltweisen erfüllt sah.239 Insofern schwanken die Positionen Selims und Mahomeds zwischen einer angemessenen und einer unangemessenen Zärtlichkeit, wie Löffler argumentiert.240 Dagegen deutet Heide Hollmer die unangemessene Zärtlichkeit Mahomeds vor dem Hintergrund des Fehlermodells Gottscheds bzw. Aristoteles als ein vom Berater Selim mehrfach bemerktes Fehlgehen des Herrschers, demgemäß Mahomeds „Liebe Glut“, die seiner herrschsüchtigen Großmutter gilt, den empfindsamen Regenten erkennbar lähmt.241 Löffler dagegen unterstellt Krüger eine dezidierte Aufwertung der sympathetischen Affek233 Dem entspricht die folgende Beobachtung Georg Stanitzeks: „Zärtlichkeit respektive Empfindsamkeit sind zutiefst verstrickt in die Probleme des Blöden“, vgl.: Stanitzek: Blödigkeit. Beschreibungen des Individuums im 18. Jahrhundert, a.a.O., S. 167. 234 Deutsche Schaubühne V, a.a.O., S. 410f. 235 Ebd., S. 414. 236 Ebd., S. 433. 237 Ebd., S. 413. 238 Hollmer: Anmut und Nutzen, a.a.O., S. 240. 239 Löffler: Anthropologische Konzeptionen in der Literatur der Aufklärung, a.a.O., S. 250. 240 Ebd. 241 Hollmer: Anmut und Nutzen, a.a.O., S. 234.
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te des Helden, die sich etwa in einer „gehäuften Verwendung des Herz-Begriffes“ zeige.242 Mahomeds Liebes- und Mitleidsfähigkeit kontrastiere somit jene affektunterdrückende Großmut, wie sie vom Großvezier Selim in seinem Tadel am weinerlichen Mahomed gefordert wird: Wie, hat kein Zuspruch denn in deiner Seelen Kraft? Ein Weiser unterdrückt die stärkste Leidenschaft. Monarch, was soll ich doch zu deinen Thränen sagen? Die Großmuth kann ja nicht ein nasses Aug ertragen.243
Eben diese vom Berater geforderte Großmut wird von Mahomed nicht nur als unmenschlich entlarvt, sondern zudem als „strafens werth“ identifiziert, was letztlich einem starken Argument für die Empfindsamkeit und gegen die geforderte Staatsräson gleichkommt: Sie fordert gar zu viel. Soll man nicht menschlich sein? Freund, der ist strafens werth, der nicht die größte Pein, bey seiner Mutter Fall in seiner Brust empfindet.244
Im Rahmen dieses intellektuellen Disputes sieht Löffler in der Tragödie eine „Sympathielenkung zugunsten des zärtlichen, sanften Mahomed und nicht des strengen Selim, dessen Forderungen gleichwohl nicht diskreditiert, sondern letztlich bestätigt werden.“245 Diese Deutung gilt u.a. der Tatsache, dass die empfindsame Menschlichkeit des Herrschers auch durch seine Mutter Roxellane gestärkt wird, die den „edlen Kummer“ des Sohnes teilt, also ebenfalls für eine Begnadigung der Selim – ihrer Schwiegermutter – plädiert. Insofern ist die Zärtlichkeit des Herrschers keine isolierte Position, wie es Hollmers Fehlermodell nahelegt. Und doch bleibt der Souverän handlungsschwach, wenn er die gebotene Entscheidung über eine angemessene Sanktionierung der Großmutter zunächst an den Divan delegiert, der das Todesurteil verhängt246, um dann ungeachtet der erneuten Bedrohung durch die Rebellen für eine Begnadigung der tyrannischen Putschistin zu plädieren.247 Erst unter dem Druck des aufgebrachten Volkes muss Kiosem sterben, es ist also nicht der zärtliche Mahomed, der die Sicherheit seines Staatswesens garantiert. In diesem von einem empfindsamen Regenten geführten Staatswesen kommt es nur deshalb nicht zur Katastrophe, weil das Volk selbst die richtige Entscheidung herbeiführt und somit das auch bei Krüger umgesetzte Diktum poetischer Gerechtigkeit gewährleistet.
242 243 244 245 246 247
Löffler: Anthropologische Konzeptionen in der Literatur der Aufklärung, a.a.O., S. 250. Deutsche Schaubühne V, a.a.O., S. 428. Ebd. Löffler: Anthropologische Konzeptionen in der Literatur der Aufklärung, a.a.O., S. 251. Ebd., S. 419. Ebd., S. 441.
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Zärtlichkeit als Staatsräson: Schlegels Tragödie Canut (1746) Nach Dieter Borchmeyer war Johann Elias Schlegel ein in der germanistischen Forschung bisher unterschätzter Autor der Empfindsamkeit, der zugleich die vom französischen Theater entlehnte Motivik der Staatsraison adaptierte. Damit sei Schlegel der wohl wichtigste deutsche Repräsentant einer in der tragédie tendre Racines erstmals entwickelten empfindsamen Herrschertragödie: Eine Ansicht, die freilich bisher nicht wirklich von der Forschung geteilt wurde. Im Nachwort seiner Edition von Johann Elias Schlegels Theoretischen Texten betonte Rainer Baasner vielmehr, dass Schlegels Dramen „Canut und Herrmann (1741) die längst fällige Modifikation des Trauerspiels der Aufklärung einleiten.“248 Baasner deutete Schlegel also als Übergangsfigur bzw. als Vorreiter einer dann von Lessing fortgesetzten Shakespearomanie. Dagegen betonte Albert Meier, dass sich Schlegel „weit eindeutiger als der rationalistische Reformer Gottsched am Barock-Klassizismus Pierre Corneilles orientiert“ habe.249 In der Tat folgt der Canut einer von Gottsched entwickelten Aufklärungspoetik, partizipiert am Alexandriner, teilt sich auf in fünf Akte und wahrt die Einheit von Ort und Zeit. Dies erklärt sich auch biographisch: Schlegel war in den frühen 1740er Jahren Mitarbeiter an Gottscheds Deutscher Schaubühne, bevor er als Sekretär des sächsischen Gesandten nach Dänemark ging und sich dort als Theaterpraktiker mit seinen Lust- und Trauerspielen zunehmend vom Regelwerk der Gottsched-Bühne löste. Während der Arbeit am Canut kreisen Schlegels poetologische Reflexionen zwar noch deutlich um jene der Poetik Gottscheds entlehnten Themenfelder: Etwa um den Gebrauch des Verses in der Komödie oder um die angemessene Darstellung von Würde und Majestät in der klassischen Tragödie, also der tragédie classique. Erst in seinen Gedanken zur Aufnahme des dänischen Theaters von 1747 nähert sich Schlegel jenen poetologischen Fragen, wie sie später von Autoren wie Johann Gottlieb Benjamin Pfeil oder eben Lessing umfangreich erörtert werden: Dass es nämlich unter den verschiedenen „Arten von Schauspielen“ auch jene gibt, in denen „Handlungen hoher oder niedriger, oder vermischter Personen“ zu finden sind, die ihrerseits „theils die Leidenschaften, theils das Lachen erregen“.250 Mitte der 1740er Jahre ist Schlegel jedoch eher ein Autor, der seine Helden aus einem höfischen Personal zusammenstellt. Gerade weil seine Tragödie Canut in einem sehr engen Bezug zur Deutschen Schaubühne Gottscheds steht, ist sie jedoch ein weiteres deutschsprachiges Beispiel der empfindsamen Herrschertragödie. Dies stellt angesichts unserer bisherigen Ausführungen keinen Widerspruch dar: Erkannten wir doch bisher in Gottscheds Deutscher Schaubühne das entscheidende Medium bei der Popularisierung einer 248 Rainer Baasner: Nachwort, in: Johann Elias Schlegel: Theoretische Texte, hg. v. Rainer Baasner, Hannover: Wehrhahn 2000, S. 120–127, hier S. 122. 249 Albert Meier: Johann Elias Schlegel: Canut, Ein Trauerspiel, in: Interpretationen. Dramen vom Barock bis zur Aufklärung, Stuttgart: Reclam 2000, S. 251–274, hier S. 253. 250 Johann Elias Schlegel: Ausgewählte Werke, hg. v. Werner Schubert, Weimar 1963, S. 569f.
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Racineschen Empfindsamkeit im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Schlegels 1747, also ein Jahr nach der Beendigung des Canut formulierte Abhandlung Von der Würde und Majestät des Ausdrucks im Trauerspiele ist nämlich vor allem auf Racine konzentriert, dessen Trauerspiele Bajazet sowie Phädra Schlegels Beispiele einer würdevoll-majestätischen Tragödiensprache sind. Damit verbindet sich kein Plädoyer für eine Dramaturgie der Bewunderung im Sinne Nicolais oder Mendelssohns, wohl aber argumentiert Schlegel im Geiste der Ständeklausel: Derjenige Held bzw. Mensch, „der neben einem guten natürlichen Verstande eine anständige und edle Erziehung und viel Umgang mit der Welt gehabt“251, vermag sich würdevoller auszudrücken. Wenn ein solcher Mensch nun jedoch „die Gründe dessen anführet, was er fühlet, so rührt er alle diejenigen, die ihn anhören; an statt daß andere entweder nicht rühren, oder zu lachen machen, je mehr sie sich ungeberdig stellen.“252 Schlegels am Beispiel Racine entfaltete Theorie des würdevolle Trauerspiels ist also zugleich eine Theorie der Rührung: Wenn Christian Fürchtegott Gellert und Gotthold Ephraim Lessing in der 1750er Jahren die Weichen für das rührende Lustspiel und das bürgerliche Trauerspiel stellen, dann nehmen sie auch aus diesem Grund auf Johann Elias Schlegel Bezug. Dass in dieser höfisch-politischen Thematik des Canut kein Widerspruch zum empfindsamen Status dieser Tragödie liegt, betonte schon Dieter Borchmeyer. Denn Schlegels Reflexionen über das Motiv der Zärtlichkeit und deren sein Fürstendrama Canut von 1746 prägende Didaktik generieren sich aus der um 1670 einsetzenden französischen Diskussion um den „zärtlichen Racine“. Schlegel kannte das Genre des empfindsamen Herrscherdramas à la Bérénice, seine von zärtlichempfindsamen Regungen geprägte Herrscherfigur ‚Canut‘ steht also im Zeichen jener privatpolitischen Milde, wie sie auch Racines Figur des Titus prägt.253 Diesen Typus eines zärtlich agierenden, d. h. sich im Spannungsfeld von Empfindsamkeit und Staatsräson orientierenden Menschen entwickelte Schlegel erstmal in seinen Betrachtung über den Charakter Josephs in Ansehung seiner Aufrichtigkeit: Denn Joseph, Sohn Jakobs, ist nach Einschätzung Schlegels die vielleicht erste historische Figur, welche es gerade aufgrund ihrer auffallenden Offenheit und Aufrichtigkeit an den Hof des ägyptischen Königs geschafft hat, an einen Ort also, „wo man meistentheils Verstellung und List für die wahre politische Klugheit hält.“254 Anders Joseph: Neun Jahre, die er wenigstens am Hofe des Pharao zugebracht, hatten ihn noch nicht gelehret, seine Zärtlichkeit und seine Thränen zu verbergen; welches zeiget, wie unge251 Johann Elias Schlegel: Von der Würde und Majestät des Ausdrucks im Trauerspiele, in: Ders.: Theoretische Texte, a. a. O., S. 94–119, hier S. 94. 252 Ebd., S. 96. 253 Eine weitere Quelle für Schlegels Kenntnis der französischen amour tendre ist zudem das 1743 entstandene Feenmärchen La Princesse Sensible et le prince Typhon der Marie-Madeleine de Lubert, das Schlegel 1747 unter dem Titel Die Prinzessinn Zartkinda und Prinz Typhon übersetzte: In diesem Märchen wird die Carte de Tendre der Madeleine de Scudéry erwähnt, vgl.: Schlegel: Werke III, S. 485ff. 254 Johann Elias Schlegel: Werke, Band 3, S. 453.
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künstelt er überhaupt gewesen seyn müsse. Ein Mensch, der sich in der Verstellung üben will, ist vor allen Dingen bemüht, die Zeichen seiner innerlichen Gemüthsbewegungen auf seiner Stirne, in seinen Augen, in seinem ganzen Gesichte und in allen seinen Gebärden auszulöschen. [...] Aber Joseph musste auch damals noch offenherzig und ohne Verstellung seyn, weil er nicht allein so viele Zärtlichkeit in seinem Herzen empfand, sondern auch, alles Zwanges ungeachtet, sich nicht enthalten konnte, dieselbe durch Thränen an den Tag zu legen.255
Schlegels Drama Canut, 1746 in Kopenhagen veröffentlicht und Friedrich V. von Dänemark gewidmet, teilt neben der Inszenierung eines von Zärtlichkeit geprägten Herrschers jedoch noch eine weitere Gemeinsamkeit mit den zuvor diskutierten Dramen der Deutschen Schaubühne, mit Quistorps Aurelius und Krügers Mahomed, deren Titelhelden einen identischen Antagonismus von Staatsraison und Empfindsamkeit austragen. In allen drei Fällen ist dieses Spannungsfeld aus der Tradition der tragédie classique bzw. der tragédie tendre entlehnt, in allen drei Fällen ist die Motivik der tragédie tendre jedoch zugleich auf sehr bezeichnende Art und Weise transformiert: Von der zwischengeschlechtlichen hin zur innerfamiliären Empfindsamkeit. War es bei Quistorp die Beziehung der Stiefmutter zum Mörder ihres eigenen Sohnes, war es bei Krüger die Beziehung des Herrschers Mahomed zu seiner intriganten Großmutter, so steht bei Schlegel insbesondere die Beziehung des Titelhelden Canut zu seiner Schwester Estrithe im Zeichen zärtlicher Empfindsamkeit. Zugleich markiert die Tragödie Canut den Übergang von der absolutistischen zur aufgeklärten Fürstenherrschaft, die sich nicht mehr durch den äußeren Zwang an der Macht hält, sondern durch Güte die Bindung an den Souverän herzustellen bestrebt ist: Hierin folgt später Justus Mösers heroisches Trauerspiel Arminius von 1749.256 Und wie nach ihm Möser, so weist auch Schlegels Canut stofflich über den Typus der heroischen Tragödie der Gottsched-Zeit hinaus, insofern der Stoff nicht, wie üblich, der Antike, sondern der nordischen Geschichte entstammt. Mit dem Titelhelden Canut ist der dänische König Knud der Große gemeint, der im Stück bereits das Ideal des aufgeklärten Herrschers des 18. Jh.s verkörpert. Dieser König Knut II – bei Schlegel heißt er „Canut“ – war seit 1018 König von Dänemark, ab 1017 auch, nach langen Kriegen, König von England und ab 1028 zudem König von Norwegen. Als sein Gegenspieler und eigentliche Hauptfigur des Dramas erscheint sein Schwager und ehemaliger Gefolgsmann, der unverbesserlich nach Ruhm strebende Ulfo, ein dänischer Adliger. Ulfo hatte zunächst unter König Canut im Krieg gekämpft, sich dann jedoch durch eine üble List die Heirat König Canuts Schwester Estrithe erschlichen. Dieser machte er glauben, dass ihr Bruder diese Ehe wünsche und der eigentlich von Esthrite geliebte Ritter Godewin ein Feigling sei. Kaum verheiratet, führte Ulfo einen blutigen Aufstand gegen König Canut, wenngleich seine Frau Estrithe einen Aufstand gegen ihren Bruder
255 Ebd., S. 457. 256 Wolfgang Lukas: Anthropologie und Theodizee, S. 149f.
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missbilligte. Schließlich aber muss sich Ulfo in „Nordens tiefste[n] Schnee“257 vor den Soldaten des Königs zurückziehen. Das Drama beginnt mit der Rückkehr Ulfos an den Königshof, zu welcher ihn seine ihm ansonsten treu ergebene Gattin Estrithe überredete. Die eigentlich empfindsamen Töne dieser Herrschertragödie entfalten sich daher nicht zwischen Gatte und Gattin, sondern innerhalb der Bruder-Schwester-Beziehung, ist Estrithe doch gewillt, um Ulfo willen bei ihrem Bruder, dem König Canut „um Vergebung [zu] flehn“.258 In diesem Sinne gleicht die Eröffnung des Stückes durchaus jener Konstellation, wie wir sie später aus Lessings Miss Sara Sampson kennen: Es geht um eine innerfamiliäre Konstellation, bei welcher die Schwester – bzw. bei Lessing die Tochter – durch Trennung von der Familie in eine Situation geriet, die eine Vergebung seitens des Bruders – bei Lessing ist es dann der Vater – notwendig macht. Ich betone diese Nähe zu Lessing, weil das Verhältnis von Schwester Estrithe und Bruder Canut – wie später dasjenige von Tochter Sara und Vater William Sampson – von Anbeginn an im Zeichen der „Zärtlichkeit“ steht. „Zärtlichkeit“ ist es, die nach Einschätzung Gunildes der Estrithe „Brust entzündet“, wie auch ihr Bruder, König Canut, betont: CANUT: So glaubst du, daß in ihr die Zärtlichkeit sich rühre, Daß nicht ihr Unglück bloß sie wieder zu mir führe, daß ihre Wiederkunft nicht bloß erzwungne Reu’, Sie selbst mir noch geneigt und noch Estrithe sei? Ihr Herz war nicht gemacht, den Bruder stets zu hassen; Die Tugend konnte sie auf immer nicht verlassen. Ein Geist, der denkt und fühlt, der irrt nur kurze Zeit. Dies hofft’ ich. GODEWIN. Herr, für dich ist sie voll Zärtlichkeit.259
Die bange Frage des königlichen Bruders nach der Schwester Zärtlichkeit resultiert aus der dem Zuschauer bekannten Vorgeschichte: Estrithe hatte vor allem aus Pflichtgefühl ihrem Bruder Canut gegenüber zu Ulfo gehalten, denn durch einen von Ulfo missbrauchten Brief Canuts glaubte sie, Canut habe ihre Verbindung mit Ulfo gewünscht. Zudem geht Estrithe davon aus, ihr Bruder Canut sei „immer noch der Held voll Gütigkeit, Der nur aus Zwange zürnt, aus Neigung stets verzeiht“260, und erhofft eine Versöhnung von Bruder und Ehemann. Doch diese Hoffnung scheitert, und zwar aufgrund von Ulfos unbändigem und rücksichtslosem Verlangen nach Ruhm und Ehre, bei dem er wahrlich vor keinem Mittel zurückschreckt, wie er gleich zu Anfang deutlich macht: „Des Ulfo Schicksal ist zu streiten, nicht zu flehn. Seit mir des Königs Ruhm den Ehrgeitz beygebracht, Der, um ihm gleich zu seyn, mich ihm zum Feinde macht, (…).“261 Entsprechend 257 258 259 260 261
Johann Elias Schlegel: Ausgewählte Werke. Weimar 1963, S. 176. Ebd., S. 179. Ebd., S. 183. Ebd., S. 178. Ebd., S. 176.
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schnell versucht Ulfo, Verbündete gegen König Canut zu finden, um so die Macht an sich zu reißen: Süchtig nach jener Ehre, die bisher dem absoluten Fürsten vergönnt war, und die er trotz vergleichbarer Verdienste im Kampf nie erreichte. Obwohl ihm Canut schon bei der ersten Begegnung die Vergebung anbietet, provoziert Ulfo um der Ehre willen ein Duell mit dem von ihm durch üble Verleumdung einst hintergangenen Rivalen Godewin, was an einem absolutistischen Hof freilich absolut verboten ist. Allerdings verschont er Godewin, nachdem er ihm das Schwert abgenommen hat, und versucht ihn stattdessen zu einem Aufstand zu überreden, was der königstreue Godewin freilich verweigert. Trotzdem ist Ulfo nicht isoliert: Obwohl Estrithe inzwischen um die heimtückische Entstehung ihrer Ehe, also um die Lügen ihres Mannes weiß, steht sie als treue Gattin an dessen Seite, wenngleich sie unter Ulfos „Trutz“262 sehr leidet. In dieser treuen Gattin liegt jedoch der Trumph des Ulfo, denn um der Schwester willen vergibt Canut dem Ulfo ein weiteres Mal, ja er macht ihn – zur Befriedigung von dessen „Ehrbegierde“263 – gar zum Feldherrn einer Armee, mit welcher er eigentlich den slawischen Königssohn Godschalk im Schlachtfeld zu unterstützen gedachte. Der gutmütige Canut will also seinem rachsüchtigen Schwager tatsächlich zu jenem zweifelhaften Ruhm verhelfen, wenn er ihn mit dem Prinzen Godschalk, der sich wie Hamlet an den Mördern seines Vaters rächen will, auf Rachefeldzug schickt. Aber natürlich versucht Ulfo auch nun wiederum, den slawischen Prinzen zu seinem Verbündeten in einem Mordkomplott gegen Canut zu machen. Prinz Godschalk aber verrät diesen heimtückischen Plan an König Canut, der sich erst jetzt zähneknirschend gezwungen sieht, das Todesurteil gegen Ulfo auszusprechen: „Sein Frevel, nicht mein Zorn, heißt mich die Schärfe brauchen.“264 Doch immer noch wäre Canut dazu bereit, dem schon arrestierten Ulfo zu vergeben: „Ein einzig Wort von ihm, daß er sich schuldig nennt, Soll alle Strafe seyn, die man ihm zuerkennt.“265 Allerdings will Ulfo sich auch jetzt nicht vergeben lassen, trotz der eindringlichen Appelle von Estrithe und dem edlen Godewin: Nein! fordre nur von mir nicht Demuth oder Reue. Mein Herz, das, wer ich bin, auch sterbend nicht vergißt, Weiß, welchen Schluß es nun sich selber schuldig ist. […] Mein Ruhm kennt seinen Grund, er ruht auf kühnen Werken, Durch Reue schwächt ich ihn, mein Tod soll ihn bestärken.“266
Als dieser unverbesserlich gewalttätige Rebell mit dem entwendeten Schwert einer umstehenden Wache gar den slawischen Prinzen Godschalk zu töten versucht, stürzt er versehentlich in sein eigenes Schwert. Er stirbt also nicht durch ein Todesurteil, sondern durch eigenes Verschulden, was Canut und Estrithe mit Recht auf Ulfos verbohrten Ruhmeseifer zurückführen: „Doch ach! die Ruhmbegier, der 262 263 264 265 266
Ebd., S. 176. Ebd., S. 196. Ebd., S. 207. Ebd., S. 208. Ebd., S. 210.
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edelste der Triebe, / Ist nichts als Raserei, zähmt ihn nicht Menschenliebe.“267 Mit Ulfo entwickelte Schlegel also eine Figur, die durchaus auf die Rebellen des Sturm und Drang verweist. Daher hat man die Figur des Ulfo häufig auf den Einfluss Shakespeares zurückgeführt, für den Schlegel – als einziger seiner deutschen Zeitgenossen dieser Zeit – in der Tat theoretisch eintrat, indem er in seinem Vergleich Andreas Gryphius und Shakespeares dessen Gestaltung der Charaktere besonders lobend hervorhob. Allerdings ist die Figur des Ulfo möglicherweise auch auf den Einfluss der zu diesem Zeitpunkt in Deutschland bereits sehr bekannten Mélanide La Chaussées zurückzuführen, dessen Held d’Arviane ein ähnlich ungestümer und rebellischer Charakter ist, der sich allen gegebenen Hierarchien und Gesetzmäßigkeiten verweigert. Anders als d’Arviane fungiert Ulfo freilich als ausschließlich negativer Held, dessen Untergang nicht durch äußere Umstände herbeigeführt wird, sondern eine Folge seiner speziellen charakterlichen Disposition ist.268 Neben diesem überaus erstaunlichen „Trutz“ des Ulfo steht jedoch die gleichfalls enorme „Güte“ Canuts, in dessen zitierten Schlussworten wir jenen zärtlichen Herrscher erkennen, wie er schon aus den gattungsmäßigen Vorgängern, aus Krügers Mahomed und Quistorps Aurelius bekannt war. Canuts leitmotivische empfindsame Güte fungiert „als Form der Zähmung und Unterwerfung des Untertanen“269, was er gegenüber seiner Schwester Esthrideals Modell einer „zärtlichen Herrschaft“270 wie folgt erläutert: CANUT: Er soll, ist nicht sein Herz der Menschheit ganz entrissen, Da er mich ehren lernt, zugleich mich lieben müssen. Er fühle nur hierdurch, er sei mein Untertan, Er überzeuge sich, daß ich ihn zwingen kann. Glaub, ich will, um den Trutz des Ulfo zu zähmen, Ihn an der Strenge Statt durch Güte nur beschämen.271
Die Kontrastierung von Ulfo und Canut kann also wohl am ehesten vor dem Hintergrund einer Didaktik der Beschämung angemessen verstanden werden. Anders gesagt: Schlegels Canut ist eine – vielleicht gar die erste – Tragödie, in welcher die von John Lockes Erziehungslehre ausgehende Didaktik der Beschämung eine zentrale Rolle spielt. Wenn wir davon ausgehen, dass sich der Begriff der Beschämung aus der englischen Redewendung ‚to be ashamed‘ ableitet – der eigentümliche Präfix lässt dies vermuten –, dann ist wohl kaum zu bezweifeln, dass Schlegel dieses Motiv aus dem Englischen entnahm. Neben der diesbezüglich wichtigen Rolle von Lockes Some Thoughts concerning education dürfte als weitere Einflussquelle auch an den Spectator zu denken sein, also jene im Deutschen von der Gottschedin über267 Ebd., S. 215. 268 Sigrit Schütz: Der übertrieben positive Nationalheld. Zum Problem des fehlenden tragischen Konflikts in Johann Elias Schlegels Trauerspiel „Canut“, in: Lessing Yearbook, 12, 1980, S. 107– 122. 269 Vgl.: Lukas: Anthopologie und Theodizee, a. a. O., S. 150. 270 Ebd. 271 Johann Elias Schlegel: Ausgewählte Werke, a. a. O., S. 193.
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setzte Moralische Wochenschrift, deren Erfinder Sir Richard Steele in Schlegels Schriften mehrfach lobend Erwähnung findet. Steele und Addison sind in der 1747 entstandenen Abhandlung Gedanken über das Theater Schlegels Beispiele dafür, „daß das Theater wirklich der Sittenlehre gute Dienste thut“, dass also „die allerbesten Sittenlehrer das Theater einer besondern Aufmerksamkeit gewürdigt“272 hätten. Der fromme Wunsch Canuts, durch die sanfte Wirkmacht des wohlwollenden Beschämens den Willen der Untertanen zu steuern, geht letztlich auf diese Überlegungen zurück, deren Initiationspunkt die Erziehungsideale John Lockes waren. Und wie später bei Lessing, so ist schon in Schlegels Canut die Güte dasjenige Prinzip der Beschämung, wie auch die Bruder-Schwester-Beziehung verdeutlicht: ESTRITHE: Mein König, deine Huld, die du mir wiedergiebst, Beschämt mich, da sie mir bezeigt, wie du mich liebst. CANUT: Die Liebe, die du rühmst, braucht dich nicht zu beschämen, Die geb ich dir nicht erst, nichts konnte dir sie nehmen. ESTRITHE: So sehr dich meine Flucht mit Recht erzürnen kann. CANUT: Sie hat mich nicht erzürnt, sie hat mir wehgethan.273
Ein ähnlich empfindsamer Herrschertyp findet sich 1749 in Justus Mösers Tragödie Arminius, wie Wolgang Lukas zeigen konnte. Denn mit nahezu identischen Strategien der Beschämung begründet Fürst Arminius gegenüber dem Freund Adelbert seine zärtliche Herrschaft: ARMINIUS: Kann meiner Großmut Macht ihr [der Deutschen, BMS] freies Herze rühren; So wird ihr Haß beschämt auch wider Willen fliehn, Und ihr zerknirschtes Herz erniedrigt vor mir knien. ADELBERT: Ha! Knien? ARMINIUS: Ja! Ja! der Zorn, durch Sanftmut unterbrochen, Fehlt ihm zum Haß der Grund, verrauchet ungerochen. ADELBERT: O! welch ein frommer Wahn umnebelt dein Gemüt.274
Dieser fromme Wunsch, durch die sanfte Wirkmacht des wohlwollenden Beschämens den Willen der Untertanen zu steuern, geht zurück auf Schlegels Canut.275 Was Arminius sich im ersten Akt vornimmt – „durch Beschämung erst den Haß zu beugen“276 –, muss also als eine zentrale Formel dieses nun auch in Deutschland dominierendes Genres gelten, das wir in Anlehnung an Wolfang Lukas als empfindsame Herrschertragödie definieren. Denn, um Lukas zu zitieren, auch „Armi272 Johann Elias Schlegel: Werke. Hrsg. von Johann Heinrich Schlegeln, Band 3, S. 272. Daneben ist auch an die britische Restaurationskomödie, also an die sogenannte „comedy of manners“ zu denken. Evtl. war es dabei sogar Congreves The way of the world, also jenes Stück, dem Lessing später die Namen Marwood und Waitwell für seine Miss Sara Sampson entlehnte. 273 Johann Elias Schlegel: Ausgewählte Werke, a. a. O., S. 183. 274 Justus Möser: Arminius: Ein Trauerspiel, S. 21. 275 Vgl.: Borchmeyer: Staatsräson und Empfindsamkeit, a.a.O. 276 Justus Möser: Arminius: Ein Trauerspiel, a.a.O., S. 22
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nius definiert sich als exemplarisch aufgeklärter Souverän, der, gleich Canut, nicht durch ‚Zwang‘ und ‚Furcht‘, sondern durch ‚Huld‘ und ‚Beschämung‘ herrschen und durch ‚[s]einer Großmut Macht‘ die Herzen der Untertanen gewinnt.“277 Die empfindsame Herrschertragödie ist demnach die erste theatrale Ausprägung der in dieser Studie untersuchten europäischen Empfindsamkeit, also ein Vorläufer der rührenden Komödie, aber auch des bürgerlichen Trauerspiels.
277 Lukas: Anthropologie und Theodizee, a.a.O., S. 148.
III.
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Von der sentimental comedy zum Rührstück Johann Elias Schlegels Wir konnten bisher nachvollziehen, wie sich im Frankreich des 17. Jahrhunderts im Feld des galanten Romans das neue Paradigma der tendresse entfaltete. Diese erstmals im Clélie-Roman der Madeleine de Scudéry entwickelte Kategorie identifizierten wir mit Jörn Steigerwald als eine „natürliche Ethik“, d. h. als eine am aristotelischen Ideal der richtigen Mitte (mesotes) orientierte Ethik des Maßhaltens, die den goldenen Mittelweg zwischen Übermaß und Mangel erkennt und somit in Liebesdingen entscheidend wichtige Orientierung lieferte. Mit Blick auf die Komödie des 17. Jahrhunderts konnten wir zudem erkennen, dass die von der Madeleine de Scudéry entwickelte Idee der amitié tendre schon kurz nach ihrer Genese in den Salonkulturen des (groß-)städtischen Adels unter dem äußerst negativen Image der Preziösität zu leiden hatte. Diese Negativierung konnten wir im vorletzten Kapitel auf die enorme Wirkkraft der Molièreschen Komödie Les Précieuses ridicule von 1659 zurückführen: Molière ironisierte im Konzept der ‚falschen Preziösität‘ eben jene Zärtlichkeitsidee, welche sich zuvor im Scudéryschen Roman als Modell einer amitié tendre entwickelte. Die tendresse stand also schon zu Beginn ihrer eigentlichen Theaterkarriere vor dem Problem, spöttisch als preziöses bzw. künstlich-affektiertes Gehabe wahrgenommen zu werden. Diese Fehldeutung verstärkte sich vor allem durch die Rezeption Molières im England des 17. Jahrhunderts, insofern sich das Genre der Restaurationskomödie sehr schnell eben dieses komischen Motivs lächerlicher Preziösität bediente, wie schon David Berkeley in zwei wichtigen Studien nachzuweisen vermochte.1 Auch wir sahen am Beispiel der Komödie Drydens, dass die sogenannten À la mode-Komödien der Restaurationsepoche in ihrer typischen Verhöhnung frankophiler Männer- und Frauenfiguren den Habitus einer lächerlichen Preziösität als regelrechtes Leitmotiv verwendeten. Am deutlichsten wurde dieser Zusammenhang mit Blick auf die neben dem Typus des rake wohl wichtigste Figur der restoration comedy, die frankophile Figur des fop, der in enger Anlehnung an Molières satirisch gezeichneten Diener Mascarille aus Les précieuses ridicule in den Komödien Drydens und Ethereges zur spöttisch gezeichneten Figur avancierte. Mit dem am französischen Ideal orientierten sogenannten à la mode-Leben wird in der Restau1 David S. Berkeley: Preciosite and the Restoration Comedy of Manners, in: Huntington Library Quarterly 18 (1955), S. 109–128; Ders.: The art of „whining“ love, in: Studies in philology Bd. 52 (1955) S. 477–498.
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rationskomödie also ein Leitmotiv entfaltet, der Habitus einer modisch-lächerlichen Künstlichkeit bzw. effiminisierten Affektiertheit, die bis ins Ende des 17. Jahrhunderts die Lacher des Publikums garantierte. Wir werden nun jedoch sehen, dass dieser Habitus unter positiven Vorzeichen in der sentimental comedy wiederkehren wird. In diesem Genre wird also aus dem Motiv der verlachten tendresse erstmals eine neuartige Form der Empfindsamkeit entwickelt, so etwa in Colley Cibbers The careless husband oder Richard Steeles The tender husband.2 Wir kommen also nun zu der Frage, weshalb und wann sich das Zärtlichkeitsmotiv von seinem negativen Image der Preziösität entledigen konnte: Wodurch erklärt sich dessen Positivierung? Angesichts des letzten Kapitels könnte man vermuten, dass diese Positiverung der Zärtlichkeitsidee in der Komödie um 1700 aus dem Einfluss der tragédie tendre resultierte, in welcher diese Positivierung ja spätestens seit Racine entwickelt war. Racines Tragödie dürfte jedoch für die Genese einer zärtlichen Komödie im England der Stuartzeit eine äußerst geringe Rolle gespielt haben. Zwei andere Umbrüche scheinen mir dagegen weit wichtiger: Die im England des späten 17. Jahrhunderts erstmals einsetzende Diskussion um das polite writing, also um eine an höflichen Standards orientierte Erneuerung der Satire bzw. Komödie. Nicht von ungefähr war einer der wichtigsten Vertreter des polite writing eben Richard Steele, der Autor der Komödie The tender husband. Und zum zweiten die gegen Ende des 17. Jahrhunderts in England aufkommende Idee der poetischen Gerechtigkeit, deren Auswirkungen auf die Tragödie wir im letzten Kapitel am Beispiel von Thomas Otway und Nicholas Rowe schon erkannten, und deren Wirkkraft auch für die Genese der empfindsamen Komödie bzw. der sentimental comedy nicht überschätzt werden kann. Entscheidend einflussreich für die Positivierung der tendresse ist also einerseits die noch bei Shaftesbury zu findende Erörterung einer verfeinerten, im Zeichen höflicher Ironie stehenden Komödie. Und andererseits die im Anschluss an Rymers Essay Tragedies of the Last Age Considered im Jahre 1698 entstandene und ihrerseits hochmoralische Streitschrift A Short View of the Immorality and Profaneness of the English Stage des Pfarrers Jeremy Collier, die das Argument poetischer Gerechtigkeit ins Komödienfach überführte.3 Diese 2 Dass die sentimental comedy schon im 17. Jahrhundert aufs Engste mit der Idee einer positivierten Zärtlichkeit verknüpft wurde, zeigt allein der Blick in den Oxford English Dictionary, in welchem der Begriff „sentiment“ definiert wird als eine „[r]efined and tender emotion; exercise or manifestation of ‚sensibility’; emotional reflection or meditation; appeal to the tender emotions in literature or art. Now chiefly in derisive use, conveying an imputation of either insincerity or mawkishness.“ Vgl. Oxford English Dictionary2, Bd. 14 (1989), S. 994. 3 Schon Heinz Kosok betonte die enorme Wirkung dieser Streitschrift: „Jeremy Colliers Short View of the Immorality and Profaneness of the English Stage von 1698 markiert, nicht als Einzelerscheinung, sondern als Brennpunkt der verschiedensten Angriffe auf das Theater, einen Einschnitt, dessen Prägnanz sich in der veränderten Dramenproduktion ausdrückt. Die von den Maßstäben des Hofes geprägten Dramenformen des späten 17. Jahrhunderts, heroic tragedy und Restoration comedy besonders, verlieren von der Jahrhundertwende an ihre Popularität […]. Statt dessen bilden sich schon in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts neue Dramenformen heraus, deren Wirkung bis ins späte 19. Jahrhundert spürbar bleibt: das populäre Melodrama ist als direkte, wenn auch banalisierte Fortsetzung der domestic tragedy zu werten, und noch das sogenannte problem play bei Jones und Pinero ist ohne die kombinierte Wirkung von domestic tra-
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beiden im späten 17. Jahrhundert in England zu beobachtenden Debatten markieren im Rahmen der Gattung Komödie den entscheidenden Wendepunkt, insofern sie die zärtliche Didaktik als Grundprinzip poetisch gerechter Komödien entschieden begünstigten. Das zentrale Genre, in welchem sich diese Positivierung vollzog, ist die von Richard Steele und Colley Cibber geprägte sentimental comedy, also die auf die vornehme Welt fokussierte Gesellschaftskomödie.4 Natürlich ist z. B. Richard Steeles Komödie The Tender Husband, deren Titel dieses positive Verständnis der Zärtlichkeit explizit macht, zugleich von Steeles genauer Kenntnis der als Preziösität verlachten tendresse amoureuse geprägt. Denn dieser Preziösität entspricht eben jenes galant-preziöse à la mode-Leben, gegen das sich Steele in dieser Komödie ausspricht. Aber Steele ergänzt seine Satire um das neue Kriterium poetischer Gerechtigkeit, in deren Namen er diesem À la mode-Leben die ‚echte‘ Zärtlichkeit seines Protagonisten Mr. Clerimont entgegensetzt. Dessen Überlegenheit in Sachen Zärtlichkeit ist eine moralische, wohingegen seine Gattin ganz in jene frankophile Preziösität verstrickt ist, von welcher ihr Gatte sie läutert. Kurz: Die Positivierung der Zärtlichkeit findet statt vor dem Hintergrund eines Kulturimportes, bei welchem die moralische Überlegenheit der britischen gegenüber der französischen Kultur den entscheidenden Impuls bildet.
Erste Voraussetzung der sentimental comedy: Die Diskussion um die höfliche Satire Ausgangspunkt der Diskussion um das Paradigma des polite writings ist die klassizistische Neudeutung der Satire, die wiederum zurückgeht auf eine im Italien des 16. Jahrhunderts entstandene Diskussion.5 Während ältere Abhandlungen wie Robortellus Schrift De Satyra (1548), Dolces Untersuchung Origine Della Satira (1559) und Sanvinos Discorso in matria della Satira (1560) argumentierten, dass römische Satire und griechisches Satyrspiel in einem gattungsmäßigen Zusammenhang zu sehen sind, betonten erstmals der englische Humanist und Philologe Isaac Casaubon – bekannt aus Umberto Ecos Das Foucaultsche Pendel – den römischen Ursprung der Satire, der vom Satyrspiel zu unterscheiden sei.6 Stattdessen gründegedy, melodrama und sentimental comedy, weitergereicht über solche Zwischenstationen wie Masks and Faces, nicht denkbar.“ Vgl.: Heinz Kosok: Einleitung, in: Ders. (Hg.): Das englische Drama im 18. und 19. Jahrhundert. Interpretationen, Berlin 1976, S. 9f. 4 Vgl.: Shirley Strum Kenny: Richard Steele and the „Pattern of Genteel Comedy“, in: Modern Philology 70 (1972), S. 22–37. 5 Vgl. zu den folgenden Ausführungen: Burkhard Meyer-Sickendiek: Artikel „Satire“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Band 8, hg.v. Gerd Ueding, Tübingen 2007, Sp.447–469. 6 Vgl. Christopher Maidment: Satura und Satyroi: Die englische Renaissance-Satire im Widerstreit zweier Etymologien. Studien zur Aufdeckung einer Gattungskombination am Beispiel der elisabethanisch-jakobäischen satirischen Literatur, München 1993, S.19ff. Vgl. auch: Jürgen Brummack, Zu Begriff und Theorie der Satire, in: DVjs, Sonderheft 1971, S.300ff.
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te Casaubon seine humanistische Satiretheorie auf die römischen Satiriker Horaz, Juvenal und Lucilius und wurde somit nicht nur für John Dryden, sondern für eine diverse Satiriker der Restaurationsepoche kennzeichnende ‚Verhöflichung‘ grundlegend. Wie einflussreich Casaubons philologische Forschung aus dem Jahre 1605 ist, die die augustäischen Dichter Horaz und Juvenal in den Vordergrund des Interesses rückte, zeigt der Vergleich zur Verssatire der Elisabethanischen Zeit, zu Joseph Hall und John Marston. Identifiziert Casaubon die römische satura lanx als ein Mischgedicht über verschiedene Themen mit ursprünglich neutralem, also keinesfalls aggressivem Charakter, so gelten für Marston die Rauheit des Metrums, die Grobheit des Stils und die Dunkelheit des Sinns als Kennzeichen der Satire.7 Dies erklärt sich zum einen durch Marstons Orientierung an Juvenal und Persius, die sich ihrerseits von der Klarheit und Urbanität der horazischen Satire abgesetzt hatten, zum anderen durch den Stand der Gattungstheorie selbst. Denn aufgrund der – erst von Casaubon korrigierten – falschen Etymologie des Wortes ‚Satire‘ verstanden Hall und Marston den satirischen Sprecher als Satyr, d. h. als Mischwesen zwischen Mensch und Tier nach den Vorstellungen der antiken Mythologie, das selbst den Lastern der angegriffenen Personen frönt, sie aber gleichzeitig mit groben Worten voll obszöner und skatologischer Anspielungen attackiert.8 Vor diesem Hintergrund begann um 1650 in England eine Debatte darum, wann in der Satire Formen der Beleidigung bzw. Diffamierung einer öffentlichen Person vorliegen. Man unterscheidet zwischen expliziter und impliziter Rede, d. h. zwischen der Schmähung (libel) und Beleidigung (slander) einerseits und den ironischen Formen „buffoonery“, „jest“, „ridicule“ und „raillery“ andererseits.9 Lässt sich der Tatbestand der Beleidigung anhand eines konkreten Vokabulars belegen, das in Handbüchern wie John Marchs Action for Slander (1647) oder William Sheppards Action upon the Case of Slander (1674) aufgelistet ist, so ist der Nachweis weit komplizierter, wenn die Beleidigung ironisch eingekleidet ist. Dabei dienen die Begriffe „raillerie“, „ridicule“ sowie „buffoonery“ der Apologie der Satire, sie charakterisieren ihren „wit“ und unterscheiden sie somit vom „lampoon“ und dem „libel“, den literarisch anspruchsloseren Formen der Schmähschrift.10 Zur Unterscheidung dieser beiden Formen dient ein bei Cicero entwickeltes Merkmal: Das „sal atticum“, was als attisches Salz bzw. attischer Witz übersetzbar ist. Wesentliche Charakteristika der augusteischen Satire der Rezeption antiker Autoren – insbesondere natürlich Horaz und Juvenal – verdanken, verdeutlicht auch dieser Begriff des Witzes. Am feinsten ist der urbane Witz, der sich durch Eleganz und Geist auszeichnet und der bäuerlich-derben Form der Schmähschrift abgesprochen wird: „For Libel and true Satyr different be; This must have Truth, and Salt, with Mo7 Zur elisabethanischen Verssatire vgl.: Andreas Mahler: Moderne Satireforschung und elisabethanische Verssatire. Texttheorie, Epistemologie, Gattungspoetik, München 1992. 8 Vgl. H. B. Hall, Men like Satyrs, in: Elizabethan Poetry, Hg. J. R. Brown u. B. Harris, Ldn. 1960, S. 175–201; sowie Christopher Maidment, Satura und Satyroi, a.a.O., S.89ff. 9 Meyer-Sickendiek: Artikel „Satire“, a.a.O. 10 Vgl. dazu: Louis Bredvold, A Note in Defence of Satire, in: SATURA. Ein Kompendium moderner Studien zur Satire, hg.v. Bernhard Fabian, Hildesheim New York 1975, S.83–94.
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desty“11, so heißt es in Thomas Shadwells The medal of John Bayes von 1682. Während im Libel die Frechheit des Autors offenkundig ist – „...not his Wit, but Sawciness excels...“ –, erweist sich der echte Satiriker als Erbe einer Tradition, in der es darum geht, durch den urbanen Witz das Laster statt der Person zu verlachen, so wie dies schon Horaz tat: Sparing the Persons, this does tax the Crimes, Call’s not great Men, but Vices of the Times, With Witty and Sharp, not blunt and bitter rimes. Me thinks the Ghost of Horace there I see, Lathing this Cherry-cheek’d Dunce of Fifty Three; Who, at that age, so boldly durst profane, With base hir’d Libel, the free Satyr’s Vein.12
Vor dem Hintergrund der durch Casaubonus ausgelösten Satura-Satyr-Etymologie wird nun die Satire Juvenals von der auf Horaz bezogenen heiteren Satire unterschieden. Denn nur Horaz entbehrt des „beißenden“ Spottes und schont sein Opfer; sein berühmtes ‚ridentem dicere verum‘ meint ja eine eher humorvolle Form des Verweisens auf Torheiten. Juvenal als Autor der strafenden Satire hingegen bedient sich eher beißender Ironieformen, denn ihm geht es um ein „entrüstetes“ Verweisen auf die Lasterhaftigkeit seiner Mitmenschen. In diesem Sinne wird in John Drydens Discourse on the original and progress of Satire von 1693 die Differenz zwischen Horaz und Juvenal über den Salzgehalt ihrer Satiren bestimmt: „his wit“, so schreibt Dryden über Horaz, „is faint; and his Salt almost insipit.“13 Die Schärfe und Würze der Satire ist bei Dryden bezogen auf ihren sozialkritischen Gehalt: „the Sauce of Juvenal is more poignant“, denn: His thoughts are sharper, his Indignation against Vice is more vehement; his Spirit has more of the Commonwealth Genius; he treats Tyranny, and all the Vices attending it, as they deserve, with the utmost rigour.14
Der von John Dryden geprägte und später von Shaftesbury übernommene Begriff des „fine raillery“ bezeichnet nun eine Technik des feinen Stichelns, die ihren Ursprung in der höfischen und zugleich korrigierenden Konversation hat, in der die Gesellschaft ihre Normen durchsetzt und bestätigt, ohne ihr „Anderes“ – den satirischen Gegenstand – durch das Lachen zu vernichten. Vielmehr wird dadurch die implizite Verspottung als genuine Kunstform der Satire anerkannt: „how hard to make a Man appear a Fool, a Blockhead, or a Knave, without any of those opprobrious terms!“15 „Raillery“ unterscheidet die Satire von der Schmähschrift (lampoon), weil sie nicht explizit, sondern implizit lächerlich macht, was wiederum als 11 (Denn Beleidigung und wahre Satire sind zweierlei; diese muß Wahrheit und Witz in Maßen besitzen). Thomas Shadwell, The medal of John Bayes, London 1682, S.2. 12 Ebd. 13 Dryden, Discourse of Satire, a.a.O., S.63. 14 Ebd., S.65. 15 The Works of john Dryden, Volume IV, S.70.
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Zeichen von Geist und Witz begriffen wird. Eben darin aber liegt der eigentliche konversationsgenehme bzw. gesellige Aspekt: „A witty Man is tickled while he is hurt in this manner; and a fool feels it not.“ Unter Verweis auf sein eigenes Werk „Absalom and Achitopel“ schreibt Dryden weiter: The Character of Zimri in my Absalom, is, in my Opinion, worth the whole Poem: ‚Tis not bloody, but ‚tis ridiculous enough. And he for whom it was intended, was to witty to resent it as an injury.16
An diesem Punkt beginnt nun um 1700 ein Umbruch, der auch parteipolitisch zu erklären ist: Als königstreuer Tory wandte sich John Dryden in seinen Komödien und Satiren wie etwa Absalom and Achitophel gegen die Versuche der Whigs, im Volk Unzufriedenheit gegen König Karl II. zu schüren und es gegen die katholische Erbfolge aufzubringen. Damit steht Dryden am Beginn der höflichen Satire, markiert allerdings deren konservativ-reaktionäre Variante.17 Dem stehen jedoch die Whigs und ihr Führer Anthony Ashley Cooper, der spätere Earl of Shaftesbury, gegenüber, der das satirische Konzept der politeness bzw. des polite writings nun um eine empfindsame Dimension erweitert.18 Dies erkennen wir anhand der in Shaftesburys Letter concerning Enthusiasm angestrengten Reflexionen über das Für und Wider des Enthusiasmus. Über dieses Für und Wider entscheidet in Shaftesburys Letter concerning Enthusiasm der berühmte „test of ridicule“, der zur Unterscheidung des echten vom falschen Enthusiasmus’ präsentiert wird. Diesen Test bestehen nur jene Menschen, bei denen Sein und Schein keinen Widerspruch darstellen, denn sonst wirken sie schon von sich aus lächerlich. Anlass dieser Argumentation ist das Auftreten fanatischer französischer Protestanten in England. Die durch sie verursachten Störungen des öffentlichen Lebens sollten nicht durch obrigkeitliche Maßnahmen bekämpft werden, vielmehr sei Spott das geeignetste Mittel, den Fanatismus abzuwehren, denn Spott („raillery“) und Witz („wit“) enthüllten den falschen Ernst vorgeblicher Propheten und machten ihren Betrug offenbar. Echter Enthusiasmus ist demnach ein Zeichen für Witz und Geist, der sich auch auf die geistreiche Verspottung im Sinne des Begriffes „raillery“ versteht. Insofern ist „raillery“ nicht diffamierend, sondern amüsant für denjenigen, der den „test of ridicule“ zu bestehen vermag: dies meint Shaftesburys Plädoyer: „Now Wit can never have its liberty where the freedom of Raillery is taken away.“19 In seiner 1709 erschienenen Schrift Sensus Communis, die er einen Versuch über die Freiheit von Witz und Laune nennt, bestimmt Shaftesbury wie Cicero die 16 Ebd., S.71. 17 Michael Gassenmeier: Londondichtung als Politik. Texte und Kontexte der ‚City Poetry‘ von der Restauration bis zum Ende der Walpole-Ära, Tübingen 1989. 18 Vgl.: Lawrence E. Klein: Shaftesbury and the Culture of Politeness. Moral Discourse and Cultural Politics in Early Eighteenth-Century England, ND Cambridge 1996; Carey Mcintosh: The Evolution of English Prose, 1700–1800: Style, Politeness, and Print Culture, Cambridge University Press 1998; Thomas Woodman: Politeness and Poetry in the Age of Pope, Rutherford 1989. 19 Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury: Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times, hg. V. Lawrence E. Klein, Cambridge 2000, S. 12.
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‚Urbanität‘ als ‚das rechte Maß‘ („the just measure of what we call Urbanity“), von der ein ‚possenhaftes, ungehobeltes Gebaren‘ („a Buffooning Rustick Air“) zu unterscheiden sei.20 Das Argument dieser Schrift ist, daß der Freiheitsbegriff nicht allein auf die enge Programmatik republikanischer oder ständischer Theorien beschränkt werden könne, denn er beinhalte neben Tugenden wie Frugalität, Aufrichtigkeit und Offenheit auch den Witz. Politeness, formuliert Shaftesbury in seinem Programm, umfasse verfeinerten Geschmack, gewitzte Konversation und humorvoll-ironischen Umgang mit politischen wie religiösen Autoritäten in einer „commercial society“. In Sensus Communis wird die von politeness geprägte Satire zur Grundlage für eine möglichst radikale Form der Aufklärung und der Kritik. Die Formel „All politeness is owing to liberty“21 plädiert daher auch für die Freiheit von der Zensur, woraufhin sich notwendigerweise eine Verfeinerung des Witzes und des Umgangs entwickeln würde. Noch entschiedener als bei Dryden ist bei Shaftesbury daher Horaz der wesentliche Maßstab für höfliches Schreiben, er ist „the most gentleman-like of Roman Poets“22. Und der von Horaz geprägte Stil des „sermo urbanus“ wird somit zur zentralen Quelle für die Höflichkeit und Urbanität des Satirikers. Dieser Programmatik der Whigs und ihres Anführers Shaftesbury folgen um 1700 auch Autoren wie Richard Steele oder Joseph Addison, die in den whiggistischen moralischen Wochenblättern The Tatler und The Spectateur ebenfalls ein am Paradigma des polite writing orientiertes Satirekonzept fordern.23 Zudem verknüpften Steele und Addison die These Shaftesburys, dass sittliche Einsicht ihren Ursprung in einem moralischen Sinn (moral sense) des Menschen habe24, mit der Überzeugung, die Satire nur noch dazu zu gebrauchen, ohne Hass oder Rache gesellschaftliche Übel und Laster aufzudecken, um die Gesellschaft zu läutern und zu heilen; nicht aber die Personen anzugreifen, die sie verüben. Es ist daher in der Forschung mehrfach betont worden, dass dieses Kriterium des polite writing auch und gerade für die sentimental comedy – auch bekannt als genteel comedy25 – prägend gewesen ist: „we can see traces of the language of polite sensibility in Richard Steele and even in Colley Cibber“, so betont Carey McIntosh.26
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Ebd., S. 34. Ebd., S. 31. Ebd., S. 146. Brean S. Hammond: Professional Imaginative Writing in England, 1670–1740, Oxford 1997, S.190. 24 „Im Gegensatz zu Philosophen wie Hobbes oder Mandeville besteht [Shaftesbury] darauf, daß die altruistischen Gefühle ebenso elementar sind wie die egoistischen. In dieser Annahme stimmen die empfindsamen Autorinnen und Autoren des 18. Jahrhunderts mit Shaftesbury überein. Die Empfindsamkeit ist die Aufwertung und Kultivierung der altruistischen Gefühle: Wohlwollen, Mitleid, Dankbarkeit, Reue, Vergebung etc.“ Vgl.: Burkhard Niederhoff: Erotik und Empfindsamkeit in A Sentimental Journey, in: Anglia, 119 (2001), H. 1, S. 20–38, hier S. 21. 25 Vgl. dazu: Shirley S. Kenny: Richard Steele and the ‚Pattern of Genteel Comedy‘, in: Modern Philology LXX (1972), S. 22–37. 26 Mcintosh: The Evolution of English Prose, a.a.O., S. 214.
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Zweite Voraussetzung der sentimental comedy: Jeremy Collier und die Diskussion um die poetische Gerechtigkeit Neben dem Paradigma des polite writing geht die Genese der empfindsamen Komödie im England der Restauration auf eine zweite, wohl noch weit wichtigere Diskussion zurück: Die um 1700 einsetzende Debatte um die poetische Gerechtigkeit. Nach Wolfgang Zach beginnt diese Diskussion mit dem englischen Dramenkritiker Thomas Rymer, der das Kriterium der poetischen Gerechtigkeit erstmals in seiner 1678 veröffentlichten Abhandlung The Tragedies of the Last Age Considere’d entwickelte.27 Nach Rymer, der sich seinerseits auf René Rapins Reflections on Aristotle’s Treatise of Poesie von 1674 berief, hätte ein jedes Bühnenwerk im Sinne der Idee der poetischen Gerechtigkeit die Bestrafung des Lasters darzustellen, weshalb etwa vollkommen unschuldige Charaktere in der Tragödie nicht sterben dürften: Falls dies geschah, „then no Poetical Justice could have touched them“.28 Jeremy Colliers im März 1698 veröffentlichte Streitschrift Short View of the Immorality and Profaneness of the English Stage entnimmt nun wiederum sein Kriterium der poetischen Gerechtigkeit diesen beiden Abhandlungen Rapins und Rymers, deren zentrales Argument er folgendermaßen referiert: Monsieur Rapin blames Ariosto, and Tasso, for representing two of their Women over free, and airy. ‚These Poets‘ says he, ‚rob Women of their Character, which is Modesty.’ Mr. Rymer is of the same Opinion: His words are these. ‚Nature knows nothing in the Manners which so properly, and particularly distinguish a Woman, as her Modesty. – An impudent Woman is fit only to be kicked, and expos’d in Comedy.’29
In ähnlicher Manier richtet sich Collier nun jedoch auf Autoren der Restaurationskomödie des späten 17. Jahrhunderts, also auf William Wycherley, John Dryden, William Congreve, John Vanbrugh und Thomas D’Urfey, denen Collier diverse Vergehen wie Obszönitäten, Blasphemie, Unanständigkeit und eine regelrechte Unterwanderung der öffentlichen Moral durch die allzu sympathische Darstellung des Lasters vorhält.30 Nichts habe das Zeitalter mehr und stärker verdorben als diese Dramatiker und deren fragwürdige Theaterstücke. Dafür liefert Collier textnahe Belege, die den Mangel der Restaurationskomödien, also deren fehlenden Sinn für poetische Gerechtigkeit unterstreichen. Ein Indiz etwa ist der Vorwurf, dass es auf den zeitgenössischen Bühnen zu unbescheiden zugehe, dass also eine 27 Wolfgang Zach: Poetic justice. Theorie und Geschichte einer literarischen Doktrin: Begriff – Idee – Komödienkonzeption, Tübingen 1986. 28 Ebd., S. 30. Zach bezieht sich auf Thomas Rymer: The Tragedies of the Last Age Consider’d and Examin’d by the Practice of the Ancients, and by the common sense of all ages, London 1678, S. 23. 29 Jeremy Collier: A Short View of the Immorality and Profaneness of the English Stage, London 1698, S. 220. 30 Ebd., passim. Vgl. Dazu generell: Michael Cordner: Playwright versus priest: profanity and the wit of Restoration comedy, in: Deborah Payne Fisk (ed.), The Cambridge Companion to English Restoration Theatre, Cambridge: Cambridge University Press 2000, S. 210.
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„Immodesty of the Stage“31 zu beklagen sei, deren üble Folgen (ill consequences) dargelegt werden. Unbescheidenheit erscheint somit als ein Verstoß gegen das gute Verhalten, wohingegen Bescheidenheit eine weibliche Tugend darstelle. Speziell unter den Bedingungen einer christlichen Religiösität sei Unbescheidenheit daher unerträglich, während dies unter ‚heidnischer‘ Religiösität anders sei, wie Collier am Beispiel des römischen und griechischen Theater ausführt, das harmloser als das zeitgenössische Theater der Engländer sei. Dies wird am Beispiel der Komödien des Plautus, des Terenz sowie der Tragödien Senecas illustriert; als griechische Beispiele verweist Collier zudem auf die Tragödien des Aischylos und des Sophokles. Ähnlich werden die Komödien des Euripides, des Aristophanes, von Ben Johnson, Beaumont und Fletcher der zeitgenössischen Bühne kontrastiert. Das zweite Kapitel fokussiert dann die Blasphemie bzw. „prophaneness of the stage“, die sich vor allem im häufigen Fluchen und Schwören, im „Cursing and Swearing“32 zeige: Eine Untugend, die früher ebenfalls weniger stark ausgeprägt gewesen sei. Collier erörtert gar die Frage, inwieweit dies strafbar sei, und kommt zu dem Befund, dass das Schwören auf der Bühne weder dem Gentleman noch dem Christen entsprechen würde. Aber auch im Missbrauch der Religion und der Heiligen Schrift zeige sich die Blasphemie der zeitgenössischen Bühne, wie Collier am Beispiel von John Drydens An Evening’s Love, or the Mock Astrologer sowie Love triumphant; or, Nature will prevail, Thomas Otways The Orphan, or The Unhappy Marriage, William Congreves Love for Love, The Old Batchelour und The Double Dealer sowie John Vanbrughs The provok’d Wife und The Relapse illustriert. Auch hier wird wiederum vergleichend auf Terenz, Plautus und die griechischen Tragiker verwiesen, in deren Werken sich derlei Provokationen religiöser Gehalte nicht fänden. Während das dritte Kapitel ein ähnliches Argument am Beispiel des Missbrauchs von Geistlichen auf der Bühne illustriert, kommt Collier im vierten Kapitel zum zweiten wichtigen Argument seiner Streitschrift: Der auf den öffentlichen Bühnen der Restaurationskomödie gefeierten Unmoral. Anhaltspunkt dieser Argumentation ist die Figur des „Libertines“: „The Stage Poets make Libertines their Top-Characters, and give them Success in their Debauchery“33. Wenn die Ausschweifungen der rakes, der Filous in ihrem für den rake erfolgreichen Verlauf zu einem zentralen Motiv der Restaurationskomödie zählen, dann fehlt es dieser Komödie an Moral bzw. an poetischer Gerechtigkeit. Insofern wird also die Unmoral von der Bühne gefördert, und zwar nicht nur durch die Libertines, sondern auch durch die ähnlich veranlagten feinen Damen. Auch hier bemüht Collier wiederum den Vergleich zu Plautus und Terenz, der erneut zuungunsten der zeitgenössischen Komödien ausfällt. Denn in der zeitgenössischen Komödie würden lasterhafte Libertines belohnt und tugendhafte Moralapostel bestraft, entgegen einer einzufor-
31 Collier: A Short View of the Immorality and Profaneness of the English Stage, a.a.O., S. 3. 32 Ebd., S. 57. 33 Ebd., S. 142.
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dernden „law of comedy, which is to reward virtue and punish vices.“34 Diese verhehrende Praxis widerspreche dem Credo des Genres: The Business of Plays is to recommend Vertue, and discountenance Vice; to shew the Uncertainty of Humane Greatness, the suddain turns of Fate, and the unhappy Conclusions of Violence and Injustice: ‚Tis to expose the Singularities of Pride and Fancy, to make Folly and Falsehood contemptible, and to bring everything that is ill under Infamy, and Neglect.35
Nun gibt es auch kritische Repliken auf diese Streitschrift, etwa die 1711 im Spectator formulierte Reaktion Joseph Addisons, der von Colliers „ridiculous Doctrine“ sprach und sich dabei auf die für das Theater weit wichtigeren Prinzipien der Naturnachahmung und der Wahrscheinlichkeit berief. Demgemäß sei „an equal Distribution of Rewards and Punishments“ in der Wirklichkeit nicht anzutreffen und daher auch vom Dichter nicht zu verlangen.36 Ähnlich forderte John Dennis in seiner Abhandlung mit dem Titel The usefulness of the Stage, to the Happiness of Mankind, To Government, And to Religion gegen die Argumente Colliers, dass ein gutes Schauspiel eines der wirksamsten Mittel sei, um edle Gefühle zu erwirken und zu edlen Handlungen anzuregen.37 Diese kritischen Repliken sind jedoch nicht die Regel, im Gegenteil. Nach Wolfgang Zach fragten die meisten ab 1700 unter dem Eindruck Colliers entstandenen Diskussionen um die Komödienform nicht ob, sondern wie und auf welche Art sich die poetic justice in der Komödie denn realisieren lasse. Dabei werden nach Zach die folgenden drei Positionen vertreten: (1) Umkehrung der früheren Formel der Restaurationskomödie, d. h. Bestrafung des rake durch Lächerlichkeit und am Schluß (vice punished in der satirischen Komödie), (2) Drohende Bestrafung des rake, dessen moralische Bekehrung und schließliches Happy-End (reformed rake-plot), (3) Einführung moralisch paradigmatischer Charakter und Belohnung von deren Tugend (virtue rewarded, vor allem in der sentimental comedy.)38 Im Rahmen dieser drei Optionen betonten zudem diverse der von Collier kritisierten Autoren der Restaurationskomödie, dass sie in ihren Werken durchaus innerhalb der von Collier festgelegten Grenzen agierten. So etwa bemerkte Congreve in seiner Verteidigung seiner Komödie The Double Dealer: „It is the business of a comic poet to paint the vices and follies of humankind.“39 Zudem betonte Congreve ganz im Sinne Colliers, es sei die Aufgabe des Dramatikers, die Laster und Torheiten der Gesellschaft darzustellen, um sie zu auf diese Art und Weise zu korrigieren. 34 35 36 37 38 39
Ebd., S. 148. Ebd., S. 1. Zitiert nach: Zach: Poetic justice, S. 222ff. Ebd., S. 157f. Ebd., S. 236. The Works of William Congreve. Volume the first. Containing The Old Batchelor, a Comedy.: The Double Dealer, a Comedy, Birmingham 1761, S. 176.
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Die enorme Wirkung, die Collier mit diesem Verdikt gegen die Restaurationskomödie erzielte, ist aber vor allem anhand der ab 1700 entstehenden sentimental comedy zu erkennen, die aus einer Art neoklassizistischer Vorstellung von dramatischem Anstand hervorging, wie es das Gesetz der poetischen Gerechtigkeit für die Tragödie durch Thomas Rymer und dessen A Short View of Tragedy von 1693 formulierte, und wie es Collier entsprechend auf die Komödie übertrug.40 Wie das Beispiel Richard Steele zeigt, führen nun also die ‚whiggistische‘ Version des polite writing einerseits und die von Collier eröffnete Diskussion um poetische Gerechtigkeit andererseits zur Transformation der britischen Komödie von der comedy of manners hin zur sentimental comedy. Vor diesem doppelten Hintergrund wird Steele seine Komödie auf drei neue Prinzipien gründen, die Elvena M. Green folgendermaßen definierte: „(1) that the theatre has a moral, didactic purpose; (2) that in order to fulfill its purpose, the theatre must show innocent, virtuous characters instead of the vicious, licentious ones of the Restoration; (3) that as a result of the substitution of virtuous characters for wicked ones, the comedy of ridicule and laughter is replaced by a comedy of pity and tears.“41
„the mutual sorrow between an only child and a tender father“: Richard Steeles The Lying Lover (1703) Hough it ought to be the care of all Governments that public representations should have nothing in them but what is agreeable to the manners, laws, religion, and policy of the place or nation in which they are exhibited; yet is it the general complaint of the more learned and virtuous amongst us, that the English stage has extremely offended in this kind. I thought, therefore, it would be an honest ambition to attempt a Comedy which might be no improper entertainment in a Christian commonwealth.42
Mit seiner Komödie The Lying Lover von 1703 war Richard Steele wohl der erste, der auf die Kritik Colliers einsichtig reagierte: Die Komödie verfolge ein sehr redliches Ziel bzw. „an honest ambition“, dergemäß die ‚christliche Gemeinschaft‘ des Publikums nicht auf ‚unsachgemäße‘ Art und Weise unterhalten werden solle. Dies geht explizit zurück auf Jeremy Colliers Kritik an der Unmoral der englischen Bühne, vor deren Hintergrund Steele nun „a Comedy with the Severity he [= Collier] required“43 zu schreiben plante. Es geht also um eine moralisch einwandfreie Ko40 Vgl. zu dem Zusammenhang von „Empfindsamkeit und poetischer Gerechtigkeit“, also zur Auswirkung der Streitschrift Jeremy Colliers auf den Wandel der Komödie von der comedy of manners zur sentimental comedy: Peter Erlebach, Bernhard Reitz und Thomas Michael Stein: Geschichte der englischen Literatur, Stuttgart 2004, S. 329f. 41 Vgl.: Elvena M. Green: Three Aspects of Richard Steele’s Theory of Comedy, in: Educational Theatre Journal 20 (1968), S. 141–146, hier S. 141. 42 The plays of Richard Steele, Claredon Press 1971, S. 115. 43 Richard Steele, Mr. Steele’s Apology for Himself and His Writings, Occasioned by His Expulsion From the House of Commons (London, 1714), in: Tracts and Pamphlets, hg.v. Rae Blanchard, New York 1967, S. 277–401, hier S. 339.
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mödie, und diese realisiert sich in The Lying Lover angesichts der Läuterung eines fehlgehenden Protagonisten, des unvorsichtigen Aufschneiders Bookwit. Eine solche Form der Läuterung des Helden kann als generelles Kennzeichen der moralisierenden Tendenz des frühen 18. Jahrhunderts verstanden werden, die im Komödiengenre – im Unterschied zur restoration comedy des 17. Jahrhunderts – nun die Darstellung und Bestrafung moralischen Fehlverhaltens bzw. eine den Komödienverlauf bestimmende Reue und Läuterung wichtig werden lässt. Dabei gibt es zahlreiche Spielarten dieser moralischen Fehlhandlungen, vom untreuen Ehemann über die verschwendungssüchtige Ehefrau bis hin zum zwanghaften Spieler oder Lügner reicht das Spektrum. Poetisch gerecht ist dabei die kritische Darstellung notleidender Helden, also deren weinerliches Leiden angesichts einer bereuten Untugend, die jedoch nicht schlicht verlacht, sondern zärtlich, also wohlwollend geläutert wird. The Lying Lover eröffnet zudem das neuartige Motiv des weinerlichanrührenden letzten Aktes als dem zweiten wichtigen Kennzeichen der sentimental comedy, wie Steele im weiteren Verlauf seines Vorwortes erläutert: In order to this, the spark of this play is introduced with as much agility and life as he brought with him from France, and as much humour as I could bestow upon him in England. But he uses the advantages of a learned education, a ready fancy, and a liberal fortune, without the circumspection and good sense which should always attend the pleasures of a gentleman; that is to say, a reasonable creature. Thus he makes false love, gets drunk, and kills his man; but in the fifth Act awakes from his debauch, with the compunction and remorse which is suitable to a man’s finding himself in a gaol for the death of his friend, without his knowing why. The anguish he there expresses, and the mutual sorrow between an only child and a tender father in that distress, are, perhaps, an injury to the rules of comedy, but I am sure they are a justice to those of morality. And passages of such a nature being so frequently applauded on the stage, it is high time that we should no longer draw occasions of mirth from those images which the religion of our country felli us we ought to tremble at with horror.44
Der zu läuternde ‚spark‘ in Steeles Komödie ist die Haupt- und Titelfigur mit Namen Young Bookwit; ein Oxfordschüler, der gerade die Universität verlassen hat und nun gemeinsam mit seinem Freund jene „gay pursuits“45 sucht, die die Stadt London zu bieten hat. Steele beschrieb seinen negative Helden im Vorwort entsprechend als einen Charakter „without the Circumspection and good-sense which should always attend the Pleasures of the Gentleman.“46 Er ist vielmehr ein professioneller Lügner, der in der neuen Stadt eine Reihe von Intrigen streut und sich wie ein großstädtischer Geck benimmt. Da die Konvention einen persönlichen Diener verlangt, lassen Bookwit und sein Freund und Klassenkamerad Latine das Los darüber entscheiden, wer von Ihnen beiden die Rolle des Dieners zu übernehmen
44 The plays of Richard Steele, a.a.O., S. 115. 45 Ebd., S. 77. 46 Ebd., VI.
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habe. Das Los fällt auf Latine, entsprechend ist die Grundlage der Lachszenen dieser Komödie die komische Rolle Latines als eines Dieners. Der junge Bookwit hingegen wirft sich sogleich in seine schmucke Militäruniform, um das schöne Geschlecht mit seinen angeblichen Abenteuern zu beeindrucken, gemäß der Maxime: „the name of soldier bids you better welcome.“47 Zudem beschließt er die Anwendung der in Oxford erlernten Philosophie, das heißt die „government of passions“48, die sich auf „one dear passion, Love“49 konzentriert und den Kontakt mit möglichst vielen „bright ladies“ beinhaltet: „Oh London! London! Oh Woman! Woman!“50 Das Glück steht ihm dabei zur Seite, denn er begegnet Penelope und Victoria, die er mit seinen erdachten Reise- und Abenteuergeschichten für sich zu gewinnen vermag: Sind die beiden Damen von Bookwits Lügengeschichten doch so sehr beeindruckt, dass sie zu regelrechten Rivalinnen im Kampf um diesen vermeintlichen Soldaten werden. Bookwit seinerseits hat sich in Victoria verliebt, wenngleich er deren Namen immer wieder mit demjenigen Penelopes verwechselt, was wiederum die Eifersucht eines anderen Freundes von ihm, Lovemore, erregt, der eben in Penelope verliebt ist. Als Bookwits Vater seinen Sohn nun mit der schönen Tochter eines reichen Freundes verkuppeln will, erfindet Bookwit eine weitere Lüge, um diese arrangierte Ehe mit einem ihm vollkommen fremden Mädchen zu vermeiden. Er erzählt seinem Vater, dass er bereits mit Matilda, einem ihm aus Oxford bekannten Mädchen verheiratet sei. Freilich weiß der junge Bookwit nicht, dass sein Vater ihn ausgerechnet mit jener Frau verkuppeln wollte, in die er sich selber bereits verliebt hatte, nämlich Victoria. Der Wandel bzw. die Läuterung Bookwits beginnt damit, dass der eifersüchtige Lovemore, den das Interesse seiner Penelope an anderen Männern zutiefst verletzt, seinen vermeintlichen Rivalen Bookwit zum Duell auffordert. Bookwit lässt sich in seiner Trunkenheit unnötig provozieren und verwundet Lovemore tödlich, so zumindest scheint es ihm. Als er verhaftet wird, plagen ihn im Gefängnis Schuldgefühl und Reue ob des – vermeintlichen – Todes seines Konkurrenten. Zudem lehnt Bookwit nun in einer sehr ehrenwerten Art und Weise das Angebot seines Freundes und Dieners Latine ab, die Schuld am Mord auf sich zu nehmen. In eben diesem Moment erscheint jedoch der nach wie vor äußerst lebendige Lovemore auf der Bühne, hört das Gespräch der beiden Freunde, zeigt sich äußerst beeindruckt von dieser aufrichtigen Freundschaft und verzeiht beiden. Frederick, Lovemore’s Freund aus gemeinsamen Oxforder Zeiten, erzählt dem alten Bookwit zudem von der Lüge seines Sohnes bzgl. der vermeintlichen Ehe mit der erfundenen Braut Matilda. Das Stück hat also ein happy end, da Penelope nun zu ihrem aufrichtigen Liebhaber Lovemore zurückkehrt und Bookwit Junior die von seinem Vater gewollte Ehe mit Victoria eingeht.
47 48 49 50
The Dramatic Works of Sir Richard Steele, Knt., London 1761, S. 12. Ebd., S. 11. Ebd., S. 12. Ebd., S. 11.
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Im Mittelpunkt dieser Komödie steht ein zur Lüge sowie zu Trunk- und Duellsucht neigender Antiheld, der seine genannten Untugenden jedoch am Ende der Komödie bereut. Zudem sind die Lügen des jungen Bookwit das Resultat seiner gut gelaunten Heiterkeit, er begreift diese gar als Zeichen seines Witzes. Zwar ist er ein Produkt der Restauration, insofern er die Konvenienzehe verachtet und stattdessen die freie Liebeswahl entschieden bevorzugt. Obendrein sind ihm alle Mittel und alle Mühen recht, wenn es darum geht, die Frauen seines Begehrens und seiner Liebeswahl für sich zu gewinnen, in diesem Sinne ist er also ein typischer rake der Restaurationskomödie. Aber Bookwit – daran erkennen wir den Einfluss der Idee poetischer Gerechtigkeit – durchläuft im Unterschied zu den rakes der restoration comedy im fünften Akt einen Persönlichkeitswandel, der ihn zum sentimentalen Charakter und die Komödie zu einem positiven Beispiel poetischer Gerechtigkeit werden lässt. Dieser Wandel basiert freilich darauf, dass Bookwit Junior schließlich jene trotzige Reaktion gegenüber seinem Vater bereut, welche ihn anfänglich die geplante Konvenienzehe ablehnen ließ. Er bereut aber auch seine Neigung zur Lüge sowie seine Gewalttat gegenüber Lovemore, den er fälschlicherweise meinte getötet zu haben. Diese qualvolle Reue, die Bookwit empfindet, aber auch die gemeinsame Trauer dieses Einzelkindes mit seinem als zärtlich („tender“) beschriebenen Vater sind somit das neue Thema der sentimental comedy, die Steele im Prolog auf die „dread Laws of Friendship, and of Love“, und im Epilog auf „generous Pity“, „Virtue“ und sogar „self-knowledge“ konzentriert.51 John Harrington Smith hat in seiner Studie The gay couple in Restoration comedy den Begriff der exemplary comedy entwickelt, um dadurch die Gattung der sentimental comedy zu kontrastieren. Smith sah den Ursprung dieser neuen Gattung in Thomas Shadwells Squire of Alsatia von 1688 angelegt, sie sei geprägt durch die Forderung speziell des weiblichen Theaterpublikums nach Moralität, entsprechend der Normen „decency, sincerity and honest love“. Das dramaturgische Prinzip sah Smith in der sogenannten exemplarischen Methode, „which put reform first and meant to accomplish it by representing not things as they were but standards as they ought to be, personified in characters who should be examples for imitation by the audience. Let us call this the ‚exemplary‘ method.“52 Mir scheint hingegen die Einordnung Jochen Barkhausens zutreffender zu sein, der Steeles Lying Lover als eine reform comedy bezeichnete und so präziser von der Restaurationskomödie abgrenzte. Die Schwächen der Persönlichkeit des Helden sind also nurmehr die Grundlage für dessen im letzten Akt sich vollziehende Konversion, die aus einer für die reform comedy typischen Form der Reue und Beschämung resultiert: Steele läßt alle seine ursprünglich unvollkommenen Hauptfiguren, nachdem sie nun ihre innere Totalität entdeckt haben, am Ende der Komödie das Glück einer Welt des Vertrauens erfahren, das von Liebe und Freundschaft. Den schwierigen Prozeß von Erfahrung und Erkenntnis, der sie ermöglicht, hat er in keiner anderen Komödie so 51 Vgl. dazu: Shirley Strum Kenny: Richard Steele and the ‚Pattern of Genteel Comedy‘, in: Modern Philology, Vol. 70, No. 1 (Aug., 1972), S. 22–37, hier S. 23. 52 John Harrington Smith: The gay couple in Restoration comedy, Haward 1948, S. 24.
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nachdrücklich gezeichnet. The Lying Lover ist seine wirkliche reform comedy: Sie zeigt exemplarisch die Überführung der antagonistischen Welt der Restauration in die neue der Harmonie – durch tragische Erfahrung im Medium der Komödie.53
Beschämen in der sentimental comedy: Colley Cibbers The Careless husband (1704) Mit dem Kriterium der poetischen Gerechtigkeit transformiert sich die Restaurationskomödie in die weit stärker moralisierende Gattung der reform comedy. Mündete der Kampf der Geschlechter als typisches Motiv der zeitgenössischen Komödie in Drydens Marriage à la mode oder in Congreves The Way of the World noch in einem Vertrag, der den erotischen Krieg aller gegen alle beendet, so wird sich dies in der reform comedy ändern: Wir begegnen nun erstmals wandelbaren Charakteren, die aufgrund der zumeist im letzten Akt dominierenden Werte eine Läuterung erfahren und so der Tugend zum Sieg verhelfen. Diesen Sieg der Tugend fordert das neue Kriterium der poetischen Gerechtigkeit, und er wird realisiert durch die zärtlichen Gesten der um die Hauptfigur gruppierten Protagonisten. Die Entwicklung der von Barkhausen sogenannten reform comedy hin zur sentimental comedy basiert nun darauf, dass diese Konversionen mehr und mehr aus den zärtlichen Gesten einer Didaktik des wohlwollenden Beschämens hervorgehen. Diese Didaktik der Beschämung bzw. des shaming findet vor allem bei Colley Cibbers und Richard Steele ihren Ausdruck. Auch deren Komödien schildern die Salonatmosphäre der britischen high society der Restaurationsepoche, hierin den Komödien Ethereges, Drydens und Congreves vergleichbar. Aber diese soziale Welt durchläuft nun einen nachhaltigen Wandel, eine Selbstläuterung, in deren Verlauf die in der Restaurationskomödie so dominanten Verstellungskünste und Geschlechterkämpfe durch Gesten der Aufrichtigkeit, der echten Gefühle, durch Treuebeweise und Nachsicht ersetzt werden. Cibbers Komödie Love’s Last Shift von 1696 ist vielleicht das erste Beispiel dieses Paradigmenwechsels, bei welchem anstelle des Intellektualismus und der sexuellen Offenheit der restoration comedy nun die moralische Didaktik zärtlicher Gesten zu beobachten ist. Die zärtliche Geste verbindet in diesem Stück das alte Spiel der Geschlechterverwirrung im Sinne der Restaurationskomödie mit einem für die nun aufkommende Empfindsamkeit recht typischen Ton der Moralisierung. Sie wird in Loves Last Shift von der tugendhaften Ehefrau Amanda praktiziert, die ihren verwegenen Gatten, Loveless, durch eine Mischung aus zärtlicher Geduld und einem durchaus gewagten Täuschungsmanöver auf den rechten Weg der Tugend zurückzuführen vermag. Dabei hatte Amanda ihrem Ehemann Loveless zehn Jahre lang die Treue gehalten, obwohl er sie verlassen hatte, um in ganz Europa seinem Vergnügen nachzujagen. Den verarmt nach England Zurückgekehrten, der sie nicht wiedererkennt, erobert sie in der Rolle der Geliebten zurück, woraufhin die53 Jochen Barkhausen: Die Vernunft des Sentimentalismus, a. a. O., S. 253.
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ser tief gerührt sein unmoralisches Leben aufgibt und schwört, in Zukunft ein guter Ehemann zu sein. Ihre Strategie ist ein typisches Verfahren zärtlicher Didaktik, die in späteren sentimental comedys wiederkehren wird: Amanda verkleidet sich als Prostituierte und verführt, von Loveless unerkannt, ihren Gatten, um ihn sodann mit eben dieser Situation zu konfrontieren. Dabei geht es ihr um ein bestimmtes Argument, welches man folgendermaßen umschreiben könnte: Da er die Nacht mit ihr genossen hat, obwohl er sie für eine Fremde hielt, kann sie als Ehefrau im Bett ebenso gut sein wie eine echte Prostituierte es gewesen wäre. Loveless ist davon natürlich überzeugt, und gibt sich kleinmütig geschlagen, woraufhin eine komplexe Abfolge gegenseitiger Unterwerfungen folgt, die einerseits von des Gatten Reue, und andererseits von Amandas ‚unterwürfiger Beredsamkeit‘ herrührt. Den Zeitgenossen galt Love’s Last Shift als bewegend und amüsant, andere sahen darin ein sentimentales Rührstück, welches noch relativ heterogen von den anspielungsreich-süffisanten Herrenwitzen der restoration comedy und deren etwas frivolen Schlafzimmerszenen durchsetzt sei.54 Anders ist dies in der 1704 erschienenen Komödie The Careless Husband, die mit Recht als bestes Theaterstück Cibbers gilt. Auch hier geht es darum, einen sich auf moralischen Abwegen befindenden Gatten durch weibliches Taktgefühl gezielt zu beschämen und so zu reformieren, nun jedoch auf dem Wege einer für die sentimental comedy grundlegend wichtigen Form der Höflichkeit, des Taktes.55 Bei Cibber ist es der leichtlebige Sir Charles Easy, der als typischer rake seiner Gattin Lady Easy chronisch untreu ist, also in seinem Begehren nicht nur vor anderen Frauen, sondern auch vor den eigenen Bediensteten keinen Halt macht, sich diesen mit einem durchaus unbekümmerten Charme stets aufs Neue nähert. Anders als in den Restaurationskomödien vermag Sir Charles sich jedoch vom Status des rake zu lösen, auch er durchlebt eine Konversion56, die durch die Konfrontation mit der unerschütterlichen Liebe seiner Ehefrau ausgelöst wird. Diese ungebrochene Liebe der Gattin führt zu einer nachhaltigen Beschämung des chronisch untreuen Gatten und leitet so jene Wende im Drama ein, die als ‚Steinkirk Szene‘ berühmt geworden ist: Als seine Gattin ihren Mann gemeinsam mit einer Magd auf dem Stuhl schlafend vorfindet, also in einer Szene entdeckt, die eindeutig auf Ehebruch schließen lässt, greift sie zu einem durchaus originellen Mittel. Da des Gatten Perücke im Zuge der Liebelei vom Kopf gerutscht ist, betont sie im Selbstgespräch, wie traurig es wäre, wenn er sich erkälte, nimmt sodann ihr Halstuch, d. h. einen „Steinkirk“ vom Hals, und legt ihn sanft auf seine Glatze.57 Ihr Halstuch dient als Fingerzeig, denn nachdem die Gattin sich 54 Hughes Derek: Cibber and Vanbrugh: Language, Place, and Social Order in Love’s Last Shift, in: Comparative Drama, 20, 1986–1987, S. 287–304). 55 Harry Glicksman: The Stage-History of Coley Cibber’s The Careless Husband, in: PMLA, 36, 1921, S. 245–250; Maureen Sullivan: Coley Cibbers. Three Sentimental Comedies Love’s Last Shift, The Careless Husband and The Lady’s Last Stake, New Haven 1973. 56 Vgl. zu dieser Konversion: John A. Vance: Power and Conversion in Cibber’s The Careless Husband, in: Restoration, 7, 1983, Nr. 2, S. 68–74. 57 Adam John Bisanz: Stoff als Motiv in Colley Cibbers The Careless Husband, in: Fabula, 13, 1972, S. 122–134.
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davon stiehlt und der Gatte erwacht, erkennt er natürlich, wer die Besitzerin seiner neuen Kopfbedeckung ist. Er wundert sich zudem, dass seine Frau ihn nicht weckte und eine Szene machte, und erkennt so allererst, wie wunderbar sie ist. Durch die Güte der Gattin, ihn in dieser Situation nicht zu beschimpfen, sondern ihm vielmehr die Treue zu halten, wird er schließlich geläutert: My dear, your understanding startles me, and justly calls my own in question: I blush to think I’ve worn so bright a jewel in my bosom, and, till this hour, have scarce been curious once to look upon its lustre.58
Die nun folgende Versöhnungsszene zwischen den Eheleuten ist vor allem deshalb weitaus höflicher und taktvoller als die ansonsten durchaus vergleichbare Konversion aus Loves Last Shift, weil es der Gattin Lady Easy eigentlich unangenehm ist, ihren Gatten in eine solche Verlegenheit zu bringen, die sie im Unterschied zur Amanda aus Cibbers früherer Komödie also eigentlich vermeiden will. Ihre außergewöhnliche, ja fast devote Rücksicht und Zartheit hat freilich stets auch eine gewisse Angst vor dem Patriarchen zum Grund. Der Effekt der Läuterung des Gatten ist jedoch gerade deshalb umso größer. Ich zitiere eine längere Szene, die dies eindrücklich verdeutlicht: SIR CHARLES: Your will then be a reason; and since I see you are so generously tender of reproaching me, it is fit I should be easy in my gratitude, and make what ought to be my shame, my joy; let me be therefore pleased to tell you now, your wondrous conduct has waked me to a sense of your disquiet past, and resolution never to disturb it more — And (not that I offer it as a merit, but yet in blind compliance to my will) let me beg you would immediately discharge your woman. LADY EASY: Alas! I think not of her. Oh! my dear, distract me not with this excess of goodness. (Weeping.) SIR CHARLES: Nay, praise me not, lest I reflect how little I have deserved it; I see you are in pain to give me this confusion. Come, I will not shock your softness by my untimely blush for what is past, but rather sooth you to a pleasure at my sense of joy, for my recovered happiness to come. Give then to my new-born love what name you please, it cannot, shall not be too kind: Oh! it cannot be too soft for what my soul swells up with emulation to deserve. Receive me then entire at last, and take what yet no woman ever truly had, my conquered heart.59
Zwar reagiert bei Cibber die betrogene Gattin mit kaum nachvollziehbarem Verständnis auf den Ehebruch, aber eben darin liegt nicht zuletzt die außergewöhnliche Wirkkraft des Stückes. Schon die ersten Aufführungen dieser neuartigen Komödie, die nicht nur eine duldsame Heldin, sondern auch einen gefühlvollen Liebhaber einführte und mit einem Lob auf die eheliche Liebe schloß, waren von Erfolg begleitet. Herbert Foltinek führte diesen Erfolg u.a. auf den Wandel des Gatten zurück: Cibbers nachlässiger Ehemann könne sich aus seinem sittlichen Dilemma befreien und werde so zu einer Persönlichkeit, bei Cibber werde also ein 58 Colley Cibber: The careless husband: A comedy, London 1777, S. 71. 59 Ebd., S. 72.
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Charaktertyp mit einer Situation konfrontiert, die seine eigentlich moralischen Wesenszüge zu wecken vermag.60 Diese sittliche Wandlung eines Charakters ist jedoch gebunden an die neuartige Didaktik, welche an die Stelle der streitbaren Konfrontation eine zärtliche Geste stellt, deren Wirkkraft eben aus einer Beschämung hervorgeht. Dies zeigt vor allem das berühmte Schlusswort dieser Komödie, mit welchem der geläuterte Gatte seinen Wandel und dessen Ursache eigens betont: Thy wrongs when greatest, most thy virtue prov’d; And from that virtue found, I blush’d and truly lov’d.61
Freilich kennt die Gattin von Sir Charles Easy, die ihn auf den Weg ehelicher Tugend zurückführt, auch Anwandlungen von Eifersucht, die jedoch als kaum salonfähige ‚Krankheit‘ von ihr verborgen werden. Edging hingegen, der Kammerjungfer der Lady Easy, fehlt diese Art der freiwilligen Kontrolle eifersüchtiger Regungen, weshalb sie auf die Affären des fremden Gatten – der ja auch mit der Kammerjungfer selbst eine Liebschaft unterhält – weit eifersüchtiger reagiert, ja gar die Gattin selber aus Kalkül darum bittet, den leichtfertigen Sir von seiner zweiten Geliebten, der Lady Graveairs, loszueisen, um dann ihrerseits freie Hand zu haben. Während also die Lady trotz ihrer inneren Entrüstung ihre Selbstbeherrschung zu wahren weiß, stellt die Kammerjungfer den fremden Gatten und Hausherrn zur Rede. Dieser sieht zwar ganz im Geiste der alten Konvenienzehe die Heirat nur als Mittel an, um zu Reichtum zu gelangen, und setzt hinsichtlich seiner sinnlichen und emotionalen Befriedigung gemäß unserer These vom Übergangscharakter der tendresse amoureuse nach wie vor auf die außerehelichen Abenteuer des Galanten. Wenngleich dieser sich des Wertes seiner Gattin sowie der ehelichen Gemeinschaft daher nicht bewusst ist – „In my eye, the woman has no more charms than my mother“62 –, reagiert er auf die Anwandlungen der Kammerjungfer empört. In ihrer Auseinandersetzung fordert er von der Untergebenen gegenüber der eigenen Gattin die sich geziemende Ehrerbietung: „When you speak of my wife you are to say your lady.“63 Dennoch aber ist er nun gewarnt angesichts der Möglichkeit, dass Lady Easy über seine Liebesabenteuer mehr weiß, als ihm lieb ist, wenngleich Lady Easy trotz der nun folgenden Ausforschungen ihres Gatten ihre Eifersucht weiterhin zu verbergen, den Gatten also in Sicherheit zu wiegen weiß. Das mögliche Verhältnis mit Lady Graveairs wiegelt er gar mit der ihn unfreiwillig entlarvenden Bemerkung ab: „I have so little regard to her person, that the deuce take me, if I wonld not as soon have an affair with thy woman.“64
60 Herbert Foltinek: Colley Cibber: The Careless Husband, in: Heinz Kosok (Hg.): Das Englische Drama im 18. und 19. Jahrhundert: Interpretationen, Berlin 1976, S. 25f. 61 Cibber: Careless husband, a. a. O., S. 83. 62 Ebd., S. 9. 63 Ebd., S. 10. 64 Ebd., S. 13.
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Die kontrastierende Handlung um Betty Modish Kontrastiert wird diese leitmotivische Sorglosigkeit des freizügigen Ehegatten durch den zweiten Handlungsstrang der Komödie. In dessen Zentrum stehen der sentimentale Lord Morelove, der mit seinen moralischen Überzeugungen und Maximen ein deutliches Äquivalent zur Lady Easy darstellt, und die von ihm verehrte Lady Betty Modish, welche in ihrer kalten, lieblosen und koketten Art wiederum die Figur des Sir Charles Easy spiegelt. Das Liebespaar trifft sich in Windsor aus Gründen der Versöhnung, wobei Sir Charles fest entschlossen ist, seinem unglücklich verliebten und hochgradig eifersüchtigen Freund Morelove zu helfen, also hinsichtlich der bevorstehenden Wiederbegegnung mit Lady Betty durch einige Verhaltensregeln von Mann zu Mann zu unterstützen. Neben dem biederen Lord Morelove ist jedoch auch dessen Nebenbuhler Lord Foppington in Windsor zugegen, der gemäß seines sprechenden Namens einen mit der Lady Modish vergleichbaren Modenarren darstellt. Zudem ist auch er ein rake, der seine Ehefrau gar nach London schickt, um in Windsor noch ungestörter seinen amourösen Liebschaften nachgehen zu können. Seine Ehe basiert schließlich nur auf dem Kalkül, den eigenen Bruder zu enterben bzw. mit dem Vermögen der Gattin die eigenen Spielschulden zu begleichen. Er weiß also – wie Sir Easy – die Tugendhaftigkeit der Gattin nicht zu schätzen, ist von Eitelkeit und Selbstliebe, aber auch von Schlagfertigkeit und guter Laune getrieben, denn er weiß mit den Frauen umzugehen, gemäß der Maxime: „A man should no more give up his heart to a woman, than bis sword to a bully; they are both as insolent as the devil after it.“65 In diesem Sinne ist er ein Spieler, dessen inszenierte Verliebtheit ihm die – dann echte – Gegenliebe der Frauen gerantiert. Obwohl Morelove in Foppington trotz der nachhaltigen Warnung seines Freundes Easy keinen Konkurrenten sieht, ist dessen Opfer schon zugegen: Lady Betty, die auf Einladung der befreundeten Easys im zweiten Akt in Windsor eintrifft und dort ihre der vornehmen Gesellschaft abgelauschten Lebensweisheiten verbreitet. Den auf innere Werte pochenden Plädoyers ihrer Freundin Lady Easy setzt sie mit Überzeugung ihre modischen Ideale schöner Oberfläche entgegen: „A new fashion upon a fine woman, is often a greater proof of her value, than you are aware of it.“66 Bewunderung gilt ihr demnach als bester Schönheitsbeweis, diese selbst wiederum zu besitzen heißt Macht zu haben, und auf eben diese Mischung gründet Lady Modish ihr ganzes Handeln und Denken. Wer sich für sie interessiert, darf ihren Grundsätzen nicht widersprechen, sonst ereilt ihn das Schicksal ihres ExFreundes Lord Morelove, dem sie gerade angesichts seiner einfühlenden und moralisch integren Art ein trauriges Zeugnis ausstellt:
65 Ebd., S. 29. 66 Ebd., S. 19.
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The men of sense, my dear, make the best fools in the world: their sincerity and good breeding throws them so entirely into one’s power, and gives one such an agreeable thirst of using them ill, to shew that power – ‚tis impossible not to quench it.67
Während demnach Lady Modish einen fragwürdigen Machtanspruch über die Männerwelt vertritt, warnt sie die moralisch empörte Lady Easy mit gutgemeinten Ermahnungen davor, dem trügerischen Schein der Macht zu folgen. Denn gerade angesichts der Eskapaden ihres Gatten vermag Lady Easy den Wert Lord Moreloves sehr wertzuschätzen. Nach Einschätzung der Lady Easy also sei es ein Glücksfall „to have a man of my Lord Morelove’s sense and quality so long and honourably in love with you“68, wohingegen ihr der verheiratete womanizer Lord Foppington als Vertreter einer sehr fragwürdigen Liebesidee erscheint: „for to be in love now, is only having a design upon a woman, a modish way of declaring war against her virtue, which they generally attack first, by toasting up her vanity.“69 Während Lady Easy also in der außerehelichen Affäre eine Bedrohung für den guten Ruf einer Frau sieht, verlässt sich die moralisch fragwürdig agierende Lady Betty darauf, dass fehlende Tugendhaftigkeit die Schönheit einer Frau keinesfalls beeinträchtigen könne: „for amongst people of fortune no woman wants virtue that has beauty — A fine woman is never in the wrong.“70 Dagegen sieht Lady Easy ihre Freundin nur als Mitläuferin in der grossen Schar der Modekranken, glaubt aber an den guten Kern reinerer und edlerer Empfindungen, die schließlich die Freundin zu Einsicht und zur erneuten Annäherung an Lord Morelove führen würde. Es geht also in beiden Handlungssträngen um zärtliche Liebesintrigen, die in diesem Fall jedoch von Sir Charles Easy ausgehen, der seinen Freund Lord Morelove zu Ruhe und Coolness erzieht, um so angemessen auf das erwartbare Kokettieren der Lady Betty mit Lord Foppington zu reagieren. Seine Intrige kalkuliert mit der Eifersucht der Betty Modish, zu diesem Zweck bedient er sich seiner Exgeliebten, der Lady Graveairs, die ihrerseits gerade angesichts enttäuschter Gefühle gegenüber Sir Charles sehr bereit ist, eine Tändelei mit Lord Morelove anzufangen. Während die Bemühungen des Lord Foppingtons um Betty Modish zunehmen, reift die von Sir Charles geplante Gegenintrige, im Zuge derer die Eifersucht nun allmählich auch die kokette Lady Betty Modish erfasst. Einerseits wird sie von Sir Charles über die Avancen zwischen Lord Morelove und Lady Graveairs informiert, andererseits verweist Lady Easy sie systematisch auf das edle Wesen Lord Moreloves, der die Kränkungen und Demütigungen sowie die strategische Tändelei der Betty Modish mit Lord Foppington geduldig erträgt: Beides lässt schließlich die vordergründige Welt der Lady Modish ins Wanken geraten. Als Lady Betty die neue Nebenbuhlerin Lady Graveairs daher verbal attackiert, wird ihre Eifersucht offensichtlich. Nun ersinnt Sir Charles gar eine weitere List, denn Morelove solle
67 68 69 70
Ebd., S. 20. Ebd., S. 21. Ebd. Ebd., S. 22.
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sich dem Liebeswunsch der Geliebten beugen: „for now the more you throw yourself into her power, the more I shall be able to throw her into yours.“71 Am Ende folgt natürlich die Versöhnung der beiden Liebenden, zudem bittet Morelove die Lady Modish um Verzeihung für sein Intrigenspiel mit Lady Graveairs: Seine Liebe gehöre nur ihr, seine Annäherung an Sir Charles’ Maitresse Lady Graveairs sei jedoch ein verachtenswerter Fehler gewesen. Gerade dieses schlichte Auftreten Lord Moreloves bewirkt nun freilich bei Lady Modish einen tiefen Eindruck auf ihr von Scham und Reue erfülltes Herz. Als Morelove Abbitte leistend vor ihr niederkniet, schmilzt der letzte Rest von Trotz und Hochmut bzw. die Absicht, das treue Herz Moreloves von neuem zu tyrannisieren. In diesem Augenblick erscheint Sir Charles, der Betty Modish auffordert, Lord Foppington einen Beweis ihrer wahren Neigung zu geben, woraufhin sie sich der hingebungsvollen Liebe des treuen Morelove voll und ganz bewusst wird. Lord Foppington hingegen muss erkennen, dass er das Opfer eines plot geworden ist. Schließlich realisiert auch Lady Betty, dass man sie – wie Lord Foppington – in eine wohlwollende Intrige verwickelt hat, um ihren törichten Stolz zu brechen. So wird schließlich ganz im Sinne der von uns entwickelten Didaktik der Zärtlichkeit eine Untugend – der falsche Stolz und die Modetorheit – durch eine von Wohlwollen geprägte Liebesintrige therapiert. Cibbers Komödie entwirft in Anspielung auf die Salonatmosphäre der damaligen High Society eine Klientel, deren Lebenslust und Lebensstil sich im Vergleich zu den Protagonisten der comedy of manners letztlich auf eine neue Form der ‚Wohlanständigkeit‘ verständigt. Für diese neue Form eines didaktisch-kontrollierten Wohlverhaltens ist die Drosselung eifersüchtiger Anwandlungen mindestens ebenso zentral wie das sentimentale Leitmotiv gelebter Tugendhaftigkeit und zärtlicher Nachsicht, erst die Mischung dieser Prinzipien bewirkt jene Rückkehr der Liebesunwilligen zur ehelichen Liebe. Der Sieg der innerehelichen Zärtlichkeit, die schließlich in beiden Ehepaaren obsiegt, die jeweils nach langem neckischen Hin und Her mittels einer amourösen List zueinander finden, hat also ein ethisches Fundament, das vor allem von der wichtigsten Protagonistin dieser Komödie, der Lady Easy, repräsentiert wird. Dass es ihr Careless Husband Sir Charles Easy mit der ehelichen Treue nicht allzu genau nimmt, wenn er mit der Kammerjungfer Lady Easys ein Stelldichein wagt, erträgt sie geduldig und in einer Mischung aus reservierter Sorge und Umsicht. Ihre Zärtlichkeit basiert auch darauf, dass sie sich nicht auf die sonst übliche Art durch Beschaffung eines Galans entschädigt, und ihren treulosen Mann auch sonst nicht wirklich zur Verantwortung heranzuzieht. Denn sehr wohl weiß sie, dass Vorwürfe oder innerhelicher Streit ihre Lage nicht bessern würde:
71 Ebd., S. 64.
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My eyes and tongue shall yet be blind and silent to my wrongs; nor would I have him think my virtue could suspect him, til by some gross, apparent proof of his misdoing, he forces me to see – and to forgive it.72
Zärtliches Beschämen I: Richard Steeles The tender husband (1705) Auch Richard Steeles The Tender Husband geht zurück auf diese Didaktik der Zärtlichkeit. Sie wird von Steele jedoch nun erstmals explizit auf Mme de Scudérys Clélie bezogen, wie die folgende Passage verdeutlicht: „Oh, let me alone — I have been a great traveller in fairy land myself; I know Oroondates, Cassandra; Astrea and Clélia are my intimate acquaintance.“73 The Tender Husband stellt daher nicht etwa die Lächerlichkeiten eines allzu ‚zärtlichen‘ Ehemannes dar, wie es der Titel vor dem Hintergrund der Molièreschen Typensatire vermuten ließe, sondern beschreibt im Gegenteil Glück, Zufriedenheit, Güte und Treue, die aufgrund der zärtlichen Didaktik des Ehemanns in einen Haushalt einziehen. Und doch ist umgekehrt der Blick Molières, wie er in den Stücken Congreves und Drydens noch deutlich wurde, auch hier angelegt.74 Dies verdeutlicht neben den Anspielungen auf Madeleine de Scudérys Clélie vor allem diejenige Person, die diesem Roman und der mit ihm assoziierten Welt der Schäfer, Ritter, der Bäche und Luftwäldchen, der „shepherds, knights, flowery meads, groves and streams“75 so intensiv nachträumt und nacheifert: Die Biddy Tipkin. Schon John Davis hat zu Lebzeiten Steeles darauf verwiesen, dass die Figur der Biddy eng an den lächerlichen Preziösen Molières orientiert gewesen sei.76 Vor allem die soziale Verortung der ihrerseits ausgesprochen preziös sich gebärdenden Biddy im mittleren Bürgertum dürfte an Molière orientiert sein: „L’air précieux n’a pas seulement insecté Paris, il s’est aussi répandu dans les provinces.“77 Biddy Tipkin ist also ein urbanes Mädchen aus der Provinz, ihr Enthusiasmus für den höfischen Habitus ist wie bei Molière das entscheidende komische Prinzip dieser Komödie.78 Aber anders als Molière hat Steele seine Lehren aus der von Collier entfachten Diskussion um die notwendige Moral der Komödie gezogen, daher bleibt es keineswegs bei der bloßen Ridikülisierung dieser Figur. Vielmehr wird deren Weltsicht affirmativ interpretiert, und zwar gemäß der titelgebenden Idee der Zärtlichkeit. 72 Ebd., S. 7. 73 Richard Steele: The Tender Husband: Or, The Accomplished Fools. A Comedy, in: Bell’s British Theatre Band 20, Ausgabe 1, London 1797, S. 23. 74 Nach Einschätzung von Shirley Strum Kenny ist The Tender Husband darum keine „sentimental comedy“, vgl.: Kenny: Richard Steele and the ‚Pattern of Genteel Comedy‘, a.a.O., S. 23. 75 Steele: The Tender Husband, a.a.O., S. 23. 76 The Characters and Conduct of Sir John Edgar…, in: The Critical Works of John Davis, hg. V. E. N. Hooker, Baltimore, 1939–1943, II, S. 187. 77 Molière: Choix de Comédies, a.a.O., S. 6. 78 Vgl. Calhoun Winton: Introduction, in: The tender hausband, a. a. O., S. IX–XXII, hier S. XIf.
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Deutlich wird dies in dem zunächst zu entfaltenden, auf den Titel anspielenden Handlungsstrang. In diesem präsentiert Steele eine Frau, die ganz im Sinne der Restaurationskomödie in ein französisches Leben ‚à la mode‘ vernarrt ist. Diese Frau Clerimont hat diverse Spielarten modischer Torheiten aus einem Frankreichbesuch mit heimgebracht, und deren schlimmster Auswuchs ist ihr neues Faible für Spiele und Flirts. Die Komödie fokussiert nun die Versuche ihres Mannes, seine frankophile Frau von diesem frankophilen Trip, aber auch von ihrer fixen Idee einer wirtschaftlichen und sexuellen Selbstbestimmung zu kurieren. Zu diesem Zweck bedient sich Steele eines der gängigsten Mittel der Restaurationskomödie: Man gibt der zu läuternden Heldin – in diesem Falle der Mrs. Clerimont – alle erdenklichen Freiheiten, und bringt sie somit in eine Situation, in welcher man sie zu kompromittieren und so zu läutern vermag. Der Protagonist wird so einerseits erleichtert, zugleich aber auch beschämt, weshalb es dann wenig braucht, um alle unerwünschten Verhalten zu revidieren. Insofern ist auch The Tender Husband, wie Wolfgang Zach betonte, ‚moralisch‘ im Sinne der neuen Idee poetischer Gerechtigkeit, weil in dieser Komödie erneut eine Läuterung von Mrs. Clerimont dargestellt wird: Ihr Gatte überrascht sie bei einem von ihm selbst arrangierten Rendezvous mit ihrem ,Liebhaber‘, bei dem es sich – so weit ist die cuckolding action schon moralisiert — um die als Fainlove verkleidete Lucy handelt, und auch hier macht Schuldeinsicht schließlich eine Versöhnung und somit ein Happy-End möglich. Die Bekehrungsszene ist wiederum rührselig angehaucht, aber viel kürzer als in The Lying Lover.79
War es in Cibbers Loves Last Shift die als Konkubine verkleidete Gattin und in The careless husband das sanft platzierte Taschentuch, so ist es in der Komödie The tender husband also Mr. Clerimonts Ex-Geliebte namens Lucy, die dieser zärtliche Ehemann zu einem Filou mit Namen Mr. Fainlove umfunktioniert. Dieser Mr. Fainlove soll Clerimonts frankophile Gattin mit Galanterie und Glücksspiel auf die falsche Bahn bringen, um so dem Gatten die Möglichkeit der beschämenden Intervention zu eröffnen: Mr. Clerimont soll also Liebhaber und eigene Gattin in einer beide kompromittierenden Situation gezielt entdecken. Ziel einer derart zärtlichen Didaktik ist erneut der uns schon mehrfach begegnete Versuch, die sich auf Abwegen befindliche Ehegattin in eine verfängliche Situation zu bringen, um sie dann – im Sinne einer strategischen Beschämung – nach den eigenen Wünschen zu erziehen. Nachdem sich die Ex-Geliebte Lucy also aus Gründen der Täuschung verkleidet und als Mr. Fainlove ausgegeben hat, wird Herr Clerimont im eigenen Schlafzimmer versteckt, um von dort aus das amouröse Stelldichein mit seinen Kommentaren aus dem Off zu begleiten. Dabei setzt Steele freilich weit stärker als Cibber auf den Effekt der Situationskomik, wenn etwa Mrs. Clerimont betont, sie respektiere ihren Mann, aber zugleich den Stellenwert des Respektes als solchen herabsetzt, oder Mr. Clerimont die verfängliche Situation der Gattin mit einem ironischen Kommentar versieht: „How have I wrong’d this fine Lady! – I find I am 79 Zach: Poetic justice, a. a. O., S. 228.
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to be a Cuckold out of her pure Esteem for me.“ (Wie habe ich dieser feinen Dame Unrecht angetan: Ich sehe mich als einen gehörnten Ehemann, wohingegen sie mich wirklich wertschätzt.)80. Diese Form des ironischen understatements, hinter welchem sich ein moralischer Apell versteckt, ist entscheidend für die moralische Botschaft dieser Komödie, deren Ziel unverkennbar die Läuterung der Protagonisten vom Laster hin zur Tugend ist. Es entspricht dieser Form der Ironie, wenn die Urteile des Mr. Clerimont von mal zu mal gravierender und unmissverständlicher werden. So etwa kommt er in der Verführungsszene schließlich vorwurfsvoll (upbraidingly) hinter dem Vorhang hervor und fragt: Well Madam, are these the innocent freedoms you have claim’d of me? Have I deserv’d this? How has there been a Moment of yours ever interrupted with the real Pangs I suffer? The daily Importunities of Creditors, who become so by serving your profuse Vanities: Did I ever murmur at supplying any of your Diversions, while I believ’d ’em (as you call’d ’em) harmless? Must then those Eyes that us’d to glad my heart with their familiar brightness, hang down with Guilt? Guilt has transform’d thy whole Person; nay the very memory of it.81
Im zweiten, bereits erwähnten Handlungsstrang wird Humphrey Gubbin, Sohn von Sir Harry Gubbin, in die Stadt gerufen, um eine klassische Konvenienzehe mit Biddy Tipkin, Tochter von Sir Harry Gubbins Bruder, einzugehen: es handelt sich also um eine Ehe zwischen Cousin und Cousine, eingeleitet vom Wunsch ihrer Väter. Humphrey fühlt sich jedoch ‚alt‘ genug, um ohne die Zustimmung seines Vaters, also eigenmächtig zu heiraten. Und da er nicht ohne eine Braut aufs Land zurückkehren will, bedient er sich der Dienste von Pounce, einem Rechtsanwalt, der ihm eine andere Braut suchen solle. Allerdings wird selbiger Pounce auch von Clerimont Senior dazu beauftragt, eine finanziell gut ausgestattete Dame für seinen jüngeren Bruder, Captain Clerimont, zu finden. Denn ihres Vaters Reichtum geht nach altem Brauch an den ältesten Sohn, weshalb der jüngere Captain erbmäßig leer ausgeht. Pounce stellt nun Captain Clerimont der Biddy Tipkin, den Auftraggeber Humphrey Gubbin jedoch seiner eigenen Schwester vor, die sich am Ende als eben jene Exgeliebte Clerimonts herausstellt, mit welcher dieser seine Frau auf die Probe stellt: Dies verbindet die beiden Handlungsstränge. Humphrey und Biddy treffen sich heimlich und einigen sich darauf, dass sie einander hassen und nicht um jeden Preis heiraten werden. Captain Clerimont umwirbt die phantasievolle und romantische Biddy Tipkin unter dem Pseudonym eines Malers, bis er schließlich die Liebe Biddys gewonnen hat. Auch Clerimont Seniors Plan, seiner frivolen Ehefrau deren Fehler mit Hilfe seiner ehemaligen Geliebten aufzuweisen, kommt zum Erfolg, daher sind am Ende alle Paare in finanzieller wie emotionaler Hinsicht glücklich und zufrieden. Biddy Tipkins an Don Quichotte gemahnende Liebe für Romanfiguren steht zweifellos im Mittelpunkt der komischen Szenen dieser sentimental comedy, nennt 80 Steele: The Tender Husband, a.a.O., S. 75. 81 Ebd., S. 78.
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sie sich doch etwa „Parthenissa“, ungeachtet der sehr bürgerlichen Namen ihrer Ahnen, die Bridget, Margery, Sisly, Alice, Winifred und Joan heißen und allesamt „excellent housewi[ves]“82 darstellen. Zugleich offenbart Steeles Motivik der moralischen Läuterung die grundlegende Rhetorik der sentimental comedy: Das Publikum soll an der Hauptfigur die bemitleidenswert-sympathischen Gewissensbisse erkennen, und zwar durch die normative Perspektive der poetischen Gerechtigkeit. Das moralische Interesse an den Ursachen und Folgen der Torheiten bleibt im Vordergrund, die Tränen, die von den fehlgehenden Protagonisten vergossen werden, sind daher keineswegs sympathetisch inszeniert. Die seelischen Qualen jener Charaktere, die im Laufe der Komödie realisieren, wie abscheulich ihr bisheriges Verhalten war, sind vielmehr eine vom Publikum gewünschte, aber keineswegs nachempfundene Emotion, wie schon Aparna Gollapudi am Beispiel von Steeles The Lying Lover betonte.83 Dem Publikum signalisiert die qualvolle Reue lediglich eine moralische Besserung, wenn diese von fließenden Tränen begleitet wird, dann sind diese Tränen heilsam, nicht aber bemitleidenswert. In den Reformkomödien dominiert also der implizite und erst in der späteren comédie larmoyante aufgelöste Glaube, dass ein moralisch motiviertes Leiden gut für die Seele sei. Selbst Mr. Clerimont, der sich keineswegs hartherzig gegenüber seiner Frau verhält, kontrolliert seine Gefühle angesichts ihrer Tränen, was wiederum die tränenreiche Schuld und Reue der Gattin ihrerseits verstärkt. Ähnlich soll auch das Publikum nicht mit Mrs. Clerimonts Elend sympathisieren: Es soll sich zurücklehnen und das Schauspiel genießen. In diesem Sinne betonte Robert Hume in seiner Studie zur Komödie des frühen 18. Jahrhunderts, das Publikum gebe der Reformkomödie seine „starke Zustimmung“.84 Steeles The Tender Husband – wie die meisten Reformkomödien des frühen 18. Jahrhunderts – fordert vom Zuschauer kein Mitleid, sondern eher eine unbeschwerte und selbstgefällige Zustimmung zur moralischen Strafe. So dominiert eine unterhaltsame, den irrenden Protagonisten sanft disziplinierende Konversion, nicht aber ein intensives emotionales Engagement mit einem fehlgehenden Schicksal. Anders gesagt: Unter Zärtlichkeit versteht die sentimental comedy primär die Didaktik der Beschämung, wohingegen eine Poetik der Rührung nachgeordnet ist: Erst in der französischen comédie larmoyante sowie der Mitleidspoetik Lessings sollen die Tränen der Protagonisten zugleich die Gefühle des Zuschauers im Sinne einer sympathischen Identifikation auslösen. In der sentimental comedy hingegen sind diese Grenzen zur auf Mitleiden setzenden Tragödie noch lange nicht so stark aufgebrochen, wie dies in der französischen comédie larmoyante der Fall sein wird.
82 Ebd., S. 37. 83 Vgl. dazu: Aparna Gollapudi: „Why did Steele’s The Lying Lover Fail? Or, The Dangers of Sentimentalism in the Comic Reform Scene“, in: Comparative Drama 45.3 (2011), S. 185–211. 84 Robert Hume, The Rakish Stage (Carbondale: Southern Illinois University Press, 1983), 226.
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Zärtliches Beschämen II: Johann Elias Schlegels Triumph der guten Frauen (1748) Wenn man nach dem unmittelbaren Einfluss der britischen sentimental comedy in Deutschland fragt, dann hat man wohl vor allem das Werk Johann Elias Schlegels zu bedenken, der sich 1747 in seinen Gedanken über das Theater und insonderheit das dänische erstmals „für die Engländer“ und „gegen die einseitige Bevorzugung der Franzosen und die sklavische Nachahmung ihrer Regeln“85 einsetzte, wie schon Fritz Brüggemann betonte. Dabei ging es ihm jedoch nicht allein um Shakespeare, sondern auch um Autoren wie Steele oder Cibber. Entsprechend hatte Schlegel seine Komödien Die Pracht zu Landheim (1743) sowie Der Triumph der guten Frauen (1747/48) an Richard Steeles The tender husband (1705) orientiert86, und so die Didaktik der Zärtlichkeit erstmals in eine deutschsprachige Komödie überführt. Hatte Schlegel 1741 das englische Theater in seinem Vergleich von William Shakespeare und Andreas Gryphius noch kritisch beurteilt, so kam er in seinen sechs Jahre später veröffentlichten Gedanken über das Theater zu einem äußerst wohlwollenden Urteil über das englische Theater bzw. die englische Restaurationskomödie, die comedy of manners. Dies hat auch mit einer neuartigen Schwerpunktsetzung zu tun: Schlegel kam es in den Gedanken über das Theater „weniger auf die Einhaltung allgemeingültiger Regeln und Maximen an als auf lebendige Charakterisierung der Personen und ihrer Handlungen auf der Bühne“87, wie Fritz Brüggemann betonte. Eben darin aber liegt u.a. der Grund, weshalb Schlegel das englische Theater auch dem französischen vorzog: Man muß auch bekennen, daß in dieser Wahl und Bestimmung der Charaktere die größte Stärke der englischen Komödie besteht; deren gute Poeten auch sogar die Grade derselben zu bestimmen wissen. Ich will zum Exempel davon nur des Steele Funeral, oder Leichenbegängniß, und des Congreve Double-dealer oder die Doppelzunge anführen; wiewohl ein jedes Stück von Steele, Cibber und Congreve zum Exempel dienen könnte. Je größer der Meister ist, desto mehr wird man den Charakter der Person, die er vorstellt, fast aus jedem Worte erkennen. In ihren Leidenschaften, in ihren Entschlüssen, in ihren vernünftigen Reden, und so gar in ihren Complimenten wird sie ihre schwache Seite verrathen.88
Hier werden Cibber und Steele explizit als Beispiele bzw. Exempel genannt. Wir werden später eine ähnliche Orientierung an den Zärtlichkeitsdiskursen der europäischen Komödie mit Blick auf Christian Fürchtegott Gellerts rührendes Lustspiel Die zärtlichen Schwestern von 1747 ausmachen, das auf zwei von Gellert in dessen Abhandlung Pro commoedia commovente von 1751 genannte Beispiele zu85 Fritz Brüggemann: Einführung, in: Die bürgerliche Gemeinschaftskultur der vierziger Jahre. Zweiter Teil: Drama, hg. v. Fritz Brüggemann, Leipzig 1933, S. 7. 86 Vgl. dazu: Wolfgang Paulsen: Johann Elias Schlegel und die Komödie, Bern und München 1977, S. 77f. 87 Brüggemann: Die bürgerliche Gemeinschaftskultur der vierziger Jahre, a. a. O., S. 7. 88 Johann Elias Schlegel: Werke. Hrsg. von Johann Heinrich Schlegeln, Band 3, S. 289.
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rückgeht: Auf Philippe Néricault Destouches’ Les Philosophes amoureux von 1730 und auf Pierre Claude Nivelle de La Chaussées Mélanide von 1741. Im Unterschied zu Gellert findet sich bei Johann Elias Schlegel jedoch noch nicht jene Affektlogik des Rührstücks, eben weil dessen Triumph der guten Frauen nicht auf die französische comédie larmoyante, sondern auf die britische sentimental comedy, also eben auf Steele und Cibber zurückgeht. Freilich wird in Schlegels Poetik der Komödie ganz im Sinne der späteren Theorie des rührenden Lustspiels Hohes und Niedriges bzw. Leiden und Lachen vermischt.89 Und natürlich kannte er auch die Komödien des Destouches, dessen Lustspiel Le Glorieux er 1745 unter dem Titel Der Ruhmredige übersetzte. Wenn Schlegel den Destouches kommentiert, dann geschieht dies jedoch eher vor dem Hintergrund der Argumente aus seinem 1740 verfassten Schreiben an den Herrn N. N. über die Comödie in Versen, die 1745 im Vorwort zu seiner Uebersetzung des ‚Ruhmredigen’wiederkehren werden. Die später von Gellert geführte Diskussion um das Für und Wider der Rührung spielt dagegen im Denken Schlegels noch keine Rolle. Eben darum war ihm die britische sentimental comedy wohl wichtiger, und eben darum dominiert seine Komödie Der Triumph der guten Frauen eine Didaktik poetischer Gerechtigkeit, und weniger eine Dramaturgie der Rührung. Bekanntlich schrieb Johann Elias Schlegel am 18. September 1747 an Bodmer, ihm habe zu seinem Lustspiel Der Triumph der guten Frauen „der zärtliche Ehemann Richard Steelens die erste Idee gegeben.“90 Schlegel veröffentlichte diese Komödie 1748, diese erste Anregung bezog sich also auf eine Fassung, dessen Arbeitstitel Der strenge Ehemann lautete, also noch weit enger dem Genre der sentimental comedy verpflichtet war. Was von dieser ersten Orientierung bleibt, ist zweifellos die Motivik des zärtlichen Beschämens, die Steeles Drama den Titel gibt, und die auch in Schlegels Komödie ein entscheidendes Motiv darstellt. Dies zeigt ein Blick auf den Komödieninhalt: Auf der einen Seite steht die zärtliche Juliane, die mit Agenor erst drei Monate vermählt ist, auf der anderen Hilaria, die ihren Gatten Nicander, Freund Agenors, sucht, der sie nach kurzer Ehe vor nun zehn Jahren verlassen hat. Hilaria agiert zugleich als „Philinte, ein Frauenzimmer in Mannskleidern, und zwar Nicanders Frau, mit dem wahren Namen Hilaria“91, daneben gibt es Heinrich, Nicanders Bedienten, Cathrine, Julianes Cammermädchen, und die alte Aufseherin Agathe. 89 In diesem Punkt liegt sicherlich der wichtigste Widerspruch Schlegels zu Poetik Johann Christoph Gottscheds, der in der Critischen Dichtkunst von 1730 ganz unmissverständlich für die Trennung der Gattungen plädierte: „In tragischen Versen soll man nicht von comischen Sachen reden, heißt es eigentlich. Dawider verstößt z.E. Schackespear, der auch in seinem Julius Cäsar, gleich im Anfange einen Schuhflicker mit den niedrigsten plautinischen Possen einführt. Die Comödie aber hat die lächerlichen Thorheiten des Mittelstandes vor sich, und fodert also eine ungekünstelte, natürliche Art des Ausdruckes. Die Tragödie hergegen stellt die unglücklichen Schicksale hoher Personen vor, und muß also in erhabener und prächtiger Schreibart gemacht werden. Wer dieses vermischt, der verräth seine Unwissenheit.“ Vgl.: Gottsched: Critische Dichtkunst, a.a.O., S. 17, Fn 114. 90 Brief an J. J.Bodmer: „Copenhagen den 18. Sept. 1747.“ Vgl. Johannes Crüger, Briefe Johann Elias Schlegels an Bodmer, in: Schnorrs Archiv für Litteraturgeschichte XIV (1886), S. 48ff. 91 Johann Elias Schlegel: Ausgewählte Werke. Weimar 1963, S. 310.
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Eine Verknüpfung zwischen den beiden Paaren Juliane und Agenor sowie Hilaria und Nicander wird dadurch hergestellt, dass Nicander als Hausfreund Agenors sich in dessen junge Frau Juliane verliebt, weshalb nun wiederum Hilaria ihren Gatten Nicander in männlicher Verkleidung unter dem Namen Philinte aus Julianes Umgebung zu verdrängen versucht, um ihn dann später wieder für sich zurückzugewinnen. Der im Titel angezeigte Triumph geht also auf den Kampf einer Gattin um ihren Mann zurück, der sich seinerseits auf Abwegen tummelt. Gleiches gilt für das zweite Paar: Auch Juliane liebt ihren Mann Agenor treu und zärtlich. Aber Nicander, dessen Eroberungsplänen eine gestörte Ehe zwischen Juliane und Agenor durchaus zupass käme, erweist sich als Agenors Manipulator, der gezielte Zweifel des Freundes an dessen Ehefrau zu streuen weiß. So etwa verleitet er Agenor dazu, in jeder unschuldigen Lustigkeit, jedem harmlosen Vergnügen Julianes den Beginn erkaltender Liebe für sich selbst zu sehen. Die eifersüchtige Natur Agenors kommt dem sehr entgegen, denn er gehört zu jenen Männern, die trotz der eigenen Neigung zur ‚flatterhaften‘ Tändelei eben diese in noch weit stärkerem Maße bei den Frauen annehmen. Insofern ist die zärtliche Liebe der Juliane zu ihrem Gatten in doppelter Hinsicht auf die Probe gestellt, wenngleich Juliane betont, dass „aller Verdruß, den er mir anthut, meine Zärtlichkeit gegen ihn nicht unterdrücken kann.“92 Juliane ist daher in Schlegels Komödie diejenige Figur, welche im Geiste der sentimental comedy agiert, also die Selbstlosigkeit als Grundbedingung zärtlicher Liebe am deutlichsten verstanden hat und entsprechend offensiv vertritt: JULIANE: Agenor, was habe ich ihnen zuwider gethan? Was soll ich denn ändern? AGENOR: Alles! JULIANE: Was hat ihnen denn bisher an mir mißfallen können? AGENOR: Alles. JULIANE: Ists möglich? meine Ergebenheit? meine Zärtlichkeit? AGENOR: Schmeicheleyen machen es nicht aus. Wenn man Zärtlichkeit für eine Person hat: so hat man Aufmercksamkeit, und wenn man die hat, so thut man, was sie haben will. JULIANE: Aber müssen sie nicht auch das zugeben, mein lieber Agenor. Wenn man Zärtlichkeit für eine Person hat, so ist man bescheiden in dem, was man von ihr verlangt. Man beschweret sie nicht beständig mit Forderungen und Vorwürfen, und man hütet sich, ihr merken zu lassen, als ob man seinen Willen zu ihrer Richtschnur machen wollte.93
Ungeachtet dessen aber quält Agenor seine Frau auf durchaus grausame Art und Weise, bringt sie nachhaltig zum Weinen und macht auch vor einer Liebelei mit dem ihrer Herrin treu ergebenen Kammermädchen Cathrine nicht halt. Dies führt zu einer kleinen, tändelnden Verführungsprobe, bei welcher Cathrine sich dem „Probiren“94 einer Kussattacke Agenors widersetzt: Eine Szene, die Gattin Juliane zufällig anhören muss. Dennoch aber verzichtet sie ganz im Stile der Lady Easy aus 92 Ebd., S. 334. 93 Ebd., S. 320. 94 Ebd., S. 327.
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Cibbers The careless husband darauf, den Geliebten Agenor mit dieser Affäre zu konfrontieren. Während sich also Gatte Agenor ahnungslos und unschuldig gibt, verschweigt seine zärtliche Juliane ihr Wissen und vermeidet so die Konfrontation: AGENOR: O! Beschämen sie mich. Ein Mann, wie ich, ist so leicht nicht zu beschämen. Beschämen sie mich, wenn sie können. JULIANE: Ich bitte sie, zwingen sie mich nicht, was zu sagen, das ich selber gern nicht wissen wollte. AGENOR: Was sollte das seyn, das eine Frau gern nicht wissen wollte? NICANDER: Vielleicht die Untreu eines Mannes?95
Es ist aber nicht nur die Untreue des Gatten, sondern auch die Tatsache, dass Agenor Julianes zärtliche Bemühungen „als eine Einfalt“ verspottet, zugleich aber „Mistrauen“ in sie setzt.96 Und obwohl der angebliche Philinte alias Hilaria, mit dem Juliane in einem wahrhaft freundschaftlichen Verhältnisse steht, sie zu erheitern versucht, droht der Gattin ein weiteres Unheil. Denn es gelingt dem sie begehrenden Nicander, dass Cathrine und Philinte – zwei Vertrauenspersonen Julianes – das Haus verlassen sollen. Erst im vierten Akt wandelt sich die Konstellation, nachdem der verantwortungslose Nicander von Philinte alias Hilaria vor einer Gefängnisstrafe bewahrt wird und daher aus Dankbarkeit dem angeblichen Nebenbuhler bei Juliane freie Bahn lässt. Zugleich geht Juliane nun dazu über, sich von ihrer so arg gebeutelten Zärtlichkeit loszumachen, um so „Eigensinn mit Eigensinn zu vertreiben. Mein Mann soll finden, dass auch ich einen Willen habe.“97 Im fünften Akt wandelt sich schließlich das Blatt vollkommen zugunsten der nunmehr triumphierenden Frauen: Hilaria, die als Philinte ihren Ex-Mann Nicander von Juliane abgewimmelt hat, verkleidet sich nun als Frau und gewinnt als Philintes Schwester das Herz ihres Gatten erneut. Denn dieser ist entzückt von den Ansichten, welche die von ihm noch immer nicht erkannte Hilaria äußert. Des ehemaligen Gatten Versprechen auf eine ewige Liebe weist sie jedoch sanft zurück. Als sie sich nun endlich zu erkennen gibt, wird auch dieser treulose Gatte von jener genretypischen moralischen Erschütterung erfasst, wenn er auf Knien die Gattin um Verzeihung bittet. Doch nicht nur Hilaria hat nach zehn Jahren des Wartens das rechte Mittel gefunden, den chronisch untreuen Nicander wieder dauerhaft an sich zu binden. Auch Juliane gelingt es, ihren Agenor, der nun nicht länger von Nicander zu Torheiten angestiftet wird, von der Treue der Frauen und ihrer sittlichen Würde zu überzeugen, also die wahre Qualität echter Frauenliebe neu schätzen zu lernen. Und auch bei Agenor geht dieser Gesinnungswandel aus der Didaktik der Beschämung hervor, weshalb am Ende beide Gatten ihre triumphierenden Ehefrauen um Verzeihung bitten. Unverkennbar entlehnte Schlegel die Idee, eine als Mann verkleidete Frau sich und die Gattin des Ehemanns von diesem inflagranti ertappen zu lassen, der zuvor 95 Ebd., S. 354. 96 Ebd., S. 346. 97 Ebd., S. 357.
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erläuterten Komödie Richard Steeles. Bei Steele wird die ehemalige Geliebte vom Ehemann selbst dazu motiviert, sich in männlicher Verkleidung an dessen eigene Gattin heranzumachen und sich dann ertappen zu lassen, um die Gattin so von ihrer den französischen à la mode-Sitten entlehnten Verschwendungssucht zu kurieren. Bei Schlegel geht die Verkleidung hingegen von Hilaria aus, die ihren Gatten Nicander in männlicher Verkleidung unter dem Namen Philinte aus Julianes Umgebung zu verdrängen versucht, um ihn dann später wieder für sich zurück zu gewinnen. Diese Konstellation findet ihren Höhepunkt in jenem Moment, in welchem der Liebhaber Philinte – ohne die Anwesenheit Agenors zu registrieren – Agenors Gattin ein Liebesgeständnis macht: Hier ist die analoge Szene aus Steeles The tender Husband unverkennbar zitiert. Bei Schlegel steht jedoch neben dieser Verkleidungsaktion eine letztlich bestandene Probe der Gattin Juliane, die von Julianes leicht naivem und obendrein misstrauischem Gatten Agenor ausgeht, der seinen Freund Nicander dazu bringt, um die Gunst Julianes zu werben. Nicander verfolgt freilich seinerseits das Ziel, die Ehefrau des Freundes zu verführen, scheitert damit jedoch am tugendhaften Widerstand Julianes, die so diese Probe besteht. Wie bei Steele, so findet sich daher auch bei Schlegel ein glückliches Ende, da sowohl Agenor und Juliane als auch die kluge Hilaria und ihr untreuer Ehemann Nicander wieder vereint sind: Dies ist der Triumph der guten Frauen, wie es im Titel heißt. Schlegels Komödie hat zwar auch eine eine gewisse Nähe zur französischen Komödie, also zu Destouches Glorieux: Wie dessen Graf Tufière, so ist auch Agenor erst sehr spät dazu bereit, sich von seinem aristokratischen Dünkel zu lösen. Aber typisch britisch im Sinne der sentimental comedy ist das reuevolle Einlenken der beiden Ehemänner am Ende des letzten Aktes: AGENOR: Sie können ihre Gesellschaft, ihre Ausgaben, alles nach ihrem eignen Gefallen einrichten. Sie können über alles, über mich selbst gebiethen. JULIANE: Nicht zu viel, Agenor, nicht zu viel. CATHRINE: Die geschwindesten Bekehrungen sind sonst nicht allemal die aufrichtigsten. AGENOR: Die meinige ist aufrichtig. CATHRINE: Das schlimmste ist, daß man bey dergleichen Sachen sich auf das blosse Versprechen verlassen muß. AGENOR: Nicander und Hilaria sollen Zeugen davon seyn. Ich bitte sie, bleiben sie hier. NICANDER: Mit Vergnügen. PHILINTE: Sie werden mich entschuldigen. Nicander, sie haben ein kurzes Gedächtniß. Haben sie mich nicht diesen Abend auf ein hübsches Mägdchen zu Gaste gebeten. NICANDER: Ich denke an kein hübsches Mägdchen mehr, nachdem ich sie wiedergefunden habe. CATHRINE: O! das klingt galant! Nun glaube ich es bald selber. Ihr Herren Ehemänner, ihr mögt so wild oder so ausschweiffend seyn, als ihr wollt. Eine gute Frau findet schon Mittel, euch wieder zurechte zu bringen.98 98 Schlegel: Ausgewählte Werke, a.a.O., S. 371.
IV.
DIE TRAGIKOMÖDIE DER ZÄRTLICHKEIT:
Von der comédie larmoyante zum Rührstück Christian Fürchtegott Gellerts Wir haben im letzten Kapitel die Entstehungsgeschichte der Komödie der Zärtlichkeit nachgezeichnet. Sie hat ihren Ursprung im England des frühen 18. Jahrhundert, wo sich unter dem Eindruck der mit der Streitschrift Jeremie Colliers entstandenen Argumentation der poetischen Gerechtigkeit aus der Restaurationskomödie des 17. Jahrhunderts die sentimental comedy zu entwickeln begann, deren Grundidee die Belohnung der als Tugendideal verstandenen Zärtlichkeit ist: Richardsons Roman Pamela, or Virtue rewarded von 1740 ist das notwendige Resultat dieser Entwicklung. Die Geschichte der sentimental comedy beginnt mit Coley Cibbers The careless husband von 1704 und Richard Steeles The tender husband von 1705, die beide das von Molière noch satirisch verfremdete Motiv der tendresse amoureuse entschieden bejahen, d. h. im Rahmen ihrer beider Komödie als positives Tugendideal belohnen. Der glückliche Ausgang tugendhafter Handlungen verdrängte die alte Idee des Verlachens der lasterhaften Charaktere, weshalb die genuin komischen Lachszenen im Sinne der Molièreschen Komödie zunehmend durch die zärtliche Didaktik wohlgemeinter Läuterungen ersetzt werden. Diese Läuterungen entfalten sich in der empfindsamen Komödie im Sinne jener bereits erörterten aristotelischen Ethik der amitié tendre: Sie folgen einem didaktischen Prinzip, insofern sie leidenschaftlich, gleichgültig oder gar feindselig agierende Protagonisten mit den sanften Gesten der Zuneigung, Wertschätzung und Dankbarkeit, also einer wohlwollenden Tugend konfrontieren. Gerade die Sanftheit dieser Gesten – denken wir an das wohlwollend drappierte Taschentuch auf der im Zuge einer Liaison durch ein verrutschtes Toupet entblößten Glatze des Gatten in Cibbers The careless husband – lösten jene Beschämungsprozesse aus, die ihrerseits die Läuterung der fehlgehenden Protagonisten bewirken. Um dies mit Wolfgang Lukas zu formulieren: Die zu besiegende unaufgeklärte Position besteht nicht mehr in rationalistisch definierter Unvernunft und Lasterhaftigkeit, die Objekt satirischen Verlachens werden, sondern primär in einer emotionalen Verfehlung tugendhafter Protagonisten, die Objekt ernsthafter empfindsamer Diskussionen wird. In Analogie zum Widerstand gegen die zärtliche Liebe des aufgeklärt-absolutistischen Souveräns in der Tragödie besteht diese Verfehlung in der Komödie in der Verweigerung einer – erotischen, familiären oder freundschaftlichen – Emotion, welche von der tugendhaften Gegenseite verlangt wird.1 1 Lukas: Anthropologie und Theodizee, a. a. O., S. 155.
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Freilich zielte die tendresse amoureuse im Kontext der sentimental comedy von Cibber und Steele – anders als im französischen siècle classique – nicht auf ein höfisches Szenario, sondern auf eine Beziehungskonstellation des (landed) gentry ab. Es ging um die Positivierung von innerehelicher Liebe bzw. Treue, die im Zuge der poetischen Gerechtigkeit und der ‚virtue rewarded‘ eine in den Restaurationskomödien noch fehlende Aufwertung erfuhr. Der rake als flat character der alten restoration comedy durchlief so eine Konversion und wurde zum Protagonisten eines aus moralischer Beschämung resultierenden Gesinnungswandels, ausgelöst durch die ungebrochen zärtliche Geste seines treuen Ehepartners. Dieser Umbruch findet also zu einem Zeitpunkt statt, an welchem, wie der bereits zitierte Familien- und Sexualhistoriker Jean-Louis Flandrin festgestellt hat, die eheliche Liebe innerhalb des Adels „in Mode“ kam.2 In diesem Kapitel wenden wir uns nun der Tragikomödie der Zärtlichkeit zu. Wir untersuchen also jetzt jene gattungsmäßige Vermischung von Tragödie und Komödie, wie sie der Begriff des rührenden bzw. weinerlichen Lustspiels beschreibt. Dieses Genre wurde erstmals von dem Abbé Pierre Francois Desfontaines in dessen Observations sur les écrits modernes von 1738 zur Kenntnis genommen, jener Text, auf den Voltaire noch im selben Jahr mit seiner Critique des Observations sur les écrits modernes harsch reagierte. Im deutschsprachigen Raum begann die Diskussion der neuen Komödienform jedoch erst elf Jahre später mit dem Franzosen Pierre Mathieu Martin de Chassiron und dessen 1749 veröffentlichten Reflexions sur le Comique-larmoyant: Eine ebenfalls fundamentale Kritik, die sich ihrerseits auf den 1741 verfassten Lettre sur Mélanide des Franzosen F.-G. Merigot, also auf Nivelle de La Chaussées Komödie Mélanide bezog.3 Die comédy larmoyante entwickelte sich in Frankreich jedoch schon in den 1720er und 1730er Jahren, wo sie durch Philippe Néricault Destouches, Nivelle de La Chaussée und Pierre Carlet de Marivaux eine zunehmend dominante Stellung auf der Bühne erlangte. Nach Ansicht Voltaires wurde das von Chassiron kritisierte Motiv der Comique-larmoyant sogar schon in der Tragödie des 17. Jahrhunderts entwickelt: „dans notre nation la tragédie a commencé par s’approprier le langage de la comédie“4, so schreibt Voltaire im Vorwort seiner Tragikomödie Nanine. Voltaire sah also in der französischen Tragödie zur Zeit des Kardinal Richelieu den Ursprung dieses neuen Genres, und dachte dabei neben Racine vor allem an die auf einer italienischen Vorlage beruhende Tragödie La Sophonisbe des Franzosen Jean Mairet aus dem Jahre 1634. In deren Zentrum steht eine von den Römern besiegte numidische Königin, die Selbstmord begeht, um nicht in einem Triumphzug durch Rom geführt und zur Schau gestellt zu werden. Nicht jedoch in dieser Tragik, sondern vor allem in den Liebesdarstel-
2 Jean-Louis Flandrin: Familles. Parente, maison, sexualité dans l’ancienne société, Paris 1976, S. 165. 3 F. G. Merigot: Lettre sur Mélanide et sur le jugement qui en a été porté dans le temple de la critique par MM. Despréaux, de Fénelon, Racine, Molière et de La Mothe [Edition de 1741]. 4 Œuvres complètes de Voltaire, Band 3: Notice sur Voltaire. Théatre, Paris 1859, S. 2.
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lungen der Tragödie des 17. Jahrhunderts sah Voltaire die Parallele zur neuen Komödie: Si on y prend garde, l’amour dans beaucoup d’ouvrages, dont la terreur et la pitié devraient être l’âme, est traité comme il doit l’être en effet dans le genre comique. La galanterie, les déclarations d’amour, la coquetterie, la naïveté, la familiarité, tout cela ne se trouve que trop chez nos héros et nos héroïnes de Rome et de la Grèce dont nos théâtres retentissent. De sorte qu’en effet l’amour naïf et attendrissant dans une comédie, n’est point un larcin fait à Melpomène, mais c’est au contraire Melpomène qui depuis longtemps a pris chez nous les brodequins de Thalie.5
Sicherlich argumentiert hier ein Autor, der selber aus der tragédie tendre des 17. Jahrhunderts kommt, wie wir am Beispiel von Voltaires Zaire von 1732 bereits zeigen konnten. Dies gilt für die ersten Autoren der comédie larmoyante – Destouches, La Chaussée und Marivaux – hingegen nicht, deren Quelle ist vielmehr die britische sentimental comedy. Die erste theoretische Reflexion dieser neuen englischen Theaterform datiert in Frankreich wohl auf jenen Moment, als Marivaux nach dem Vorbild des 1711 von Joseph Addison in London gegründeten Spectator seinen Le Spectateur français veröffentlichte, der zwischen 1721 und 1724 erschien. Destouches hatte die sentimental comedy allerdings schon 1717, also während seiner sechsjährigen, bis 1723 andauernden Tätigkeit als Diplomat in England kennengelernt.6 Entsprechend sind seine Dramen der späten 1720er und 1730er Jahre, also Le Philosophe marié ou le Mari honteux de l’être von 1727, Les Philosophes amoureux von 1730, oder Le Glorieux von 1732, Beispiele dieses neuen Genres. Zeugen seine frühen Dramen L’Ingrat (der Undankbare, 1712), L’Irrésolu (der Unentschlossene, 1713), Le Médisant (der Verleumder, 1715) oder Le Jaloux (der Eifersüchtige, 1716) noch deutlich vom Einfluss der Typenkomödie Molières, so gehen die sentimental-empfindsamen Lustspiele des Destouches auf seinen Englandaufenthalt zurück. Dabei ist es jedoch weniger Steele oder Cibber, sondern vor allem Joseph Addison, dessen The Drummer, or the Haunted House von 1733 Destouches 1736 unter dem Titel Le Tambour nocturne übersetzte. Wie verhält sich die Tragikomödie der Zärtlichkeit zu ihrem gattungsmäßigen Vorläufer, der Komödie der Zärtlichkeit? Die Antwort ist vergleichsweise schlicht: Anders als in der sentimental comedy ist in der comédie larmoyante die Rührung des Zuschauers das primäre Wirkungsziel. Diese Intention war in der sentimental comedy nachrangig, insofern deren primäres Anliegen die Belehrung des Publikums im Sinne der poetischen Gerechtigkeit war. Dagegen konnten wir die Idee der Rührung schon in der tragédie tendre Racines ausmachen, in der Voltaire daher entsprechend eine Art Vorgänger der comédie larmoyante sah. Im Genre der comédie larmoyante beginnt die Rührung jedoch unabhängig von Racine, und zwar in den Liebeskomödien Marivaux’, was uns das Phänomen genauer zu klären hilft. Das 5 Ebd. 6 Vgl.: Ira O. Wade: Destouches in England, in: Modern Philology, Vol. 29, No. 1 (Aug., 1931), S. 27–47.
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Prinzip der Rührung des Publikums resultiert bei Marivaux nämlich aus einer emotionalen Überraschung seines Publikums, also aus der Darstellung eines vom Zufall herbeigeführten, d.h. unvermerkten und ungewollten Sich-Verliebens zweier Liebespartner. Die Rührung entwickelte Marivaux demnach aus der dem Zärtlichkeitsdiskurs der sentimental comedy noch unbekannten Motivik einer neu entstehenden Liebe, einer amour naissante. Dieses neue Liebesmotiv steht am Beginn der Entwicklung der rührenden Komödie, wenn sich die comédie larmoyante von der sentimental comedy löst und in der Rührung des Publikums ihr eigenes Profil entwickelt. Aus soziologischer Perspektive ist dieser Prozess deshalb von Wichtigkeit, weil mit Marivaux – um die bereits erläuterte Systematik Günter Saßes zu zitieren – weniger die zärtliche, denn vielmehr eine Art Vorform der romantischen Liebe einsetzt.7 Hier gilt es jedoch präzise zu sein. Zärtlich war die Liebe auch in der sentimental comedy, wenn dort der geläuterte Ehepartner in den Hafen der Ehe zurückkehrt, wie wir es bei Steele und Cibber sahen. In diesem Sinne wurde das alte Vorurteil des Adels, Ehe und Liebe seien unvereinbar, ad absurdum geführt, also die verlockende Bereitschaft zum lustvollen Seitensprung zugunsten eines sittlich motivierten Entschlusses zu innerehelicher Treue geläutert. Das Publikum wurde jedoch dadurch nicht gerührt.8 Dies geschieht erst, wenn es statt mit einem Gesinnungswandel nunmehr mit einem Gefühlswandel konfrontiert wird, wie er sich in der comédie larmoyante entfalten wird. Am Beginn dieser um 1730 einsetzenden Entwicklung steht der von plötzlicher Empfindsamkeit geprägte Gefühlswandel des Stoikers bzw. Misantropen: In Philippe Néricault Destouches’ Komödie Les philosophes amoureux von 1730 wird diese schon in Regnards Komödie Democrite entwickelte komische Verliebtheit des Stoikers von ihren ‚molièreschen‘ Implikationen gelöst und in eine empfindsame Thematik überführt. Hinter dieser Läuterung des Stoikers lässt sich natürlich die zeittypische „Ehefeindlichkeit des RégenceAdels“9 erkennen, die in Regnards Democrite, Destouches’ Les philosophes amoureux, aber auch in Destouches’ Le Glorieux durch die glückliche Fügung der Liebe therapiert wird. Allerdings sind die Dramen des Destouches noch sehr der britischen sentimental comedy und deren Läuterungsdidaktik verpflichtet, insofern ist nicht Destouches der eigentliche Begründer der comédie larmoyante. Wirklich rührend wird es nämlich erst, wenn sich auf der Bühne eine emotionale Überraschung ereignet, wie dies wohl erstmals 1730 in Marivaux’ Le jeu de l’amour et du hazard der Fall ist. Auch bei Marivaux wird die in Adelskreisen noch dominante Konvenienzehe durch eine Liebesehe kontrastiert, insofern die einander Versprochenen (Silvia und Dorante) durch einen jeweiligen Rollentausch mit ihren Bediensteten in der Lage sind, den bzw. die Auserwählte in cognito kennen 7 Vgl. zur Unterscheidung zwischen zärtlicher und romantischer Liebe die Arbeit von Günter Saße: Die Ordnung der Gefühle, a.a.O., S. 38ff. bzw. 48ff. 8 Vgl. dazu: Aparna Gollapudi: „Why did Steele’s The Lying Lover Fail? Or, The Dangers of Sentimentalism in the Comic Reform Scene“, a.a.O., S. 185–211. 9 Vgl. dazu: Antoine Adam: Au temps de Crébillon, in: Studie in Onore die Italo Siciliano, Firenze 1966, S. 1–7.
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und dann auch wirklich lieben zu lernen. Aber die Läuterung ist nun eine primär emotionale, wohingegen die Belohnung eines tugendhaften Wandels in den Hintergrund tritt. In ähnlicher Weise rührend ist auch etwa der glückliche Umschwung im Leben der Waise, deren Liebe zu einem Adligen durch eine unerwartet noble Abstammung plötzlich realisierbar wird, wie es dann etwa Destouches in Le Glorieux (1732) oder später Voltaire sowohl in der Tragödie Zaire (1732) als auch in seiner comédie attendrissante mit dem Titel Nanine (1749) inszenieren wird. Und überaus rührend in eben diesem von Marivaux entwickelten Sinne ist dann natürlich vor allem die Wiederbegegnung zweier lange getrennter, per Zufall versöhnter Ehepartner wie in La Chaussées Mélanide von 1741, jener Gattung, mit welcher die eigentliche Kontroverse in Frankreich einsetzte. Die Rührung des Publikums scheint also mit dem unerwarteten Gelingen einer Liebe zwischen den Ständen zusammenzuhängen, im Unterschied zur ‚süßen Grausamkeit‘ der Bérénice Racines, die eben aus dem Scheitern dieser Liebe hervorging. Vor diesem Hintergrund ist nun auch zu betonen, dass sich mit dieser Rührung des Publikums eine zunehmende Verbürgerlichung der zärtlichen Empfindsamkeit verknüpft. Dies liegt in der Logik der Sache, also in der Mesalliance als einer Art Matrix der rührenden Komödie. Dieses schon bei Marivaux und Destouches begegnende Motiv erfährt aber erst durch die Komödien Nivelle de La Chaussées jene politische Interpretation, bei welcher das Bürgertum als Opfer des Adels erscheint: Insofern lässt sich durchaus von La Chaussées Verbürgerlichung der comédie larmoyante sprechen. Dieser Umstand erklärt auch, warum erst mit La Chaussée die kritische Diskussion um die ‚weinerliche Komödie‘ einsetzt, obwohl La Chaussée keineswegs der erste französische Autor der zärtlich-empfindsamen Tragikomödie ist. Denn offenbar reagierte die Kritik auch auf die Tatsache, dass La Chaussée dieses neue Genre erstmals unter ein dezidiert „bürgerliches“, die Kleinfamilie fokussierendes Vorzeichen stellte, wie sich vor allem am Beispiel der Mélanide von 1741 zeigen wird. Wie bewusst, ja entschieden La Chaussée die den aristokratischen Salons des siècle classique entstammende zärtliche Empfindsamkeit in eine bürgerlich-sentimentale Form transformierte, zeigt indes vor allem seine 1735 veröffentlichte Komödie Le Préjugé à la mode. Denn diese Komödie richtet sich gegen die zeitgenössische These, dergemäß in Adelskreisen die Ehe von der Liebe zu trennen sei, ein Vorurteil, das von La Chaussée als bloße Heuchelei im Dienste eines fragwürdigen sozialen Renommees identifiziert wird. Der Titel Le préjugé à la mode addressiert also primär die stoische Geste einer sich der Zärtlichkeit versagenden Aristokratie. Allerdings werden wir im Folgenden sehen, dass schon bei Destouches der vermeintlich stoische Aristokrat am Ende von der zärtlichen Liebe überzeugt wird, weshalb La Chaussées comédie larmoyante ohne die Vorläuferschaft des Destouches nicht zu denken ist. Gleiches gilt für das Motiv der Rührung, welches – wie gesagt – entscheidend von Marivaux’ emotionaler Überraschung des Publikums herrührt, wie diese im Jeu d’amour et du hazard von 1730 entwickelt wird. Aber auch aus einem anderen Grunde wird in Chassirons réflexions sur le Comique-larmoyant von 1749 nur La Chaussée als Autor der weinerlichen Komödie genannt und überaus scharf kritisiert. Denn La Chaussée hat in seiner Mélanide
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von 1741 sowie der l’École des mères von 1744 die Rührung des Publikums ohne jegliche, bei Marivaux noch vorhandene Ironie inszeniert. Voltaire, der im Vorwort seiner Komödie Nanine von 1749 gegen Chassiron sehr entschieden für das neue Genre der comédie attendrissante eintrat, hat sich wohl auch deshalb von der von Chassiron kritisierten comédie larmoyante La Chaussées distanziert, deren Rührungsideal also im Sinne einer Anrührung – attendrissante – variiert. Wie immer dem sei: Klar ist, dass die Verbürgerlichung der rührenden Komödie, wie sie von La Chaussée ausging, nur vor dem Hintergrund einer bereits zuvor existierenden, also vorbürgerlichen Tradition der rührenden bzw. zärtlich-empfindsamen Komödie gedacht werden kann.10 Die ursprüngliche Genese der comédie larmoyante beginnt mit dem dramatischen Werk des engagierten, von den ‚Moral Weeklies‘ beeinflussten Destouches, der seinerseits unter dem starken Eindruck der sentimental comedy steht. Diese Zusammenhänge zeigen sich insbesondere in der Komödie Les Philosophes amoureux von 1730, die wir im Folgenden durch einen Vergleich mit der noch sehr an Molière orientierten Komödie Democrite des Jean-François Regnard in ihrer Spezifik erläutern wollen.
Die zärtliche Regung der Stoiker: Regnards Democrite (1700) und Destouches’ Les philosophes amoureux (1730) Mit Destouches beginnt nicht nur die Geschichte der comédie larmoyante, sondern zudem ein gegenüber den sentimental plays neuwertiges Thema: Die Läuterung nicht nur des ländlichen Amtsadels – dies diente schon Steele und Cibber als Komödiengegenstand –, sondern auch des Schwertadels, die allerdings ähnlich wie in den sentimental plays in einer plötzlichen Öffnung für die neue Idee der tendresse amoureuse besteht. Auch darum ist Destouches neben La Chaussée, Marivaux, Voltaire und Fagan derjenige Gewährsmann in Gellerts Abhandlung vom rührenden Lustspiel, der „mit Beibehaltung der Freude und der komischen Stärke, auch Gemütsbewegungen an dem gehörigen Orte angebracht haben, welche aus dem Innersten der Handlung fließen und den Zuschauern gefallen“11: Ausreichende Beweiskraft für die Notwendigkeit einer rührenden Komödie. Anders gesagt: Wenn 10 Vor allem Lessing hat dies in seinem Kommentar zu Gellerts Pro commoedia commovente mit Blick auf Destouches sehr präzise formuliert, wenn er die Abhandlung Gellerts wie folgt kommentierte: „Ich habe schon gesagt, daß man niemals diejenigen Stücke getadelt habe, welche Lachen und Rührung verbinden; ich kann mich dieserwegen unter andern darauf berufen, daß man den Destouches niemals mit dem La Chaussée in eine Klasse gesetzt hat, und daß die hartnäckigsten Feinde des letztern, niemals dem erstern den Ruhm eines vortrefflichen komischen Dichters abgesprochen haben, so viel edle Charaktere und zärtliche Szenen in seinem Stücke auch vorkommen. Ja, ich getraue mir zu behaupten, daß nur dieses allein wahre Komödien sind, welche so wohl Tugenden als Laster, so wohl Anständigkeit als Ungereimtheit schildern, weil sie eben durch diese Vermischung ihrem Originale, dem menschlichen Leben, am nächsten kommen.“ Ebd., S. 55. 11 Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 4, München 1970 ff., S. 42.
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Teile des Publikums „nur deswegen den Komödien beiwohnen wollen, damit sie in laute Gelächter ausbrechen können, so weiß ich gewiß, daß sich die Terenze und die Destouches wenig um sie bekümmern werden.“12 Wenn dieses Publikum hingegen gerührt werden will, dann – so kann man Gellerts Argument ergänzen – ist es bei Destouches gerade richtig. Dass insbesondere jenes später auch von Gellert übernommene zärtliche Liebesgefühl durch Destouches Eingang in die französische Komödie fand, zeigt sich am deutlichsten im komischen Motiv des verliebten Philosophen bzw. Stoikers. Joachim Schulze konnte zeigen, dass sich dieses Motiv aus Molières Komödie Le misanthrope, also dem stoischen Lebenswandel des Alceste herleitet, dessen misanthrope Einsamkeit die von Alceste begehrte und überaus reizende Célimène nicht zu teilen bereit ist.13 Schon Regnards Komödie Democrite, die 1700 im Theätre Francais erstmals mit großem Erfolg aufgeführt wurde, hatte sich dieser Thematik bedient, denn auch Regnards Philosoph Democrite hat sich in die Einöde zurückgezogen, um den Menschen, die er hasst und verachtet, zu entgehen. Doch auch Democrite verliebt sich trotz forgeschrittenen Alters in die junge und sehr hübsche Criseis, die Pflegetochter des Bauern Thaler: das einzige weibliche Wesen, dem er in seiner Einsamkeit begegnet. Zu seinem Leidwesen hat sich nun jedoch der König von Athen namens Agelas auf einer Jagd verirrt, und traf auf seinem Weg zu Democrite ebenfalls auf die Criseis, in die er sich natürlich auch prompt verliebt. König Agelas lädt daraufhin diese Landbevölkerung zu sich an den Hof von Athen, eine Einladung, der sich Democrite zunächst verweigert, der jedoch alle übrigen Aufgeforderten nachkommen. Und dabei werden die Leidenschaften des Königs für Criseis so groß, dass er, obwohl bereits der Prinzessin Ismene versprochen, der schönen und unverdorbenen Pflegetochter seine Liebe gesteht. Er würde Criseis auch zu seiner Gattin machen, dann aber stellt sich heraus, dass sie die eigentliche Erbin des Thrones von Athen ist. Zuvor aber hat Democrite, der ähnlich wie Molières Alceste erkannte, dass Criseis für ihn nun verloren ist, enttäuscht und gedemütigt den königlichen Hof verlassen, um in die Einsamkeit zurückzukehren. Mit dieser Haupthandlung ist noch eine Nebenhandlung verbunden, die um den oberflächlichen Strabon kreist, der vor zwanzig Jahren seine Frau verlassen hatte und als Gefährte Democrites mit diesem in der Einsamkeit lebt. Als auch er als Begleiter Democrites am Hof von Athen einkehrt, verliebt er sich, ohne sie wiederzuerkennen, in seine verlassene Frau. Die Liebe findet Erwiderung, zudem erkennt sich das Ehepaar und heuchelt plötzliche Abneigung, um sich zuletzt doch wieder zu versöhnen. So deutlich Regnard in seiner Komödie von Molières Misanthrope beeinflusst ist, so unverkennbar verfolgt Regnard mit dieser Komödie dennoch mehr denn 12 Ebd., S. 52. 13 Joachim Schulze: Hahnrei und verliebter Ehemann. Höfische und ‚bürgerliche‘ Einstellung zu Ehe, Liebe und Geselligkeit in der französischen Komödie zwischen 1661 und 1750, in: Rudolf Behrens, Udo L. Figge (Hrsg.), Entgrenzungen. Studien zur Geschichte kultureller Grenzüberschreitungen, Würzburg 1992, S. 201–220.
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eine bloße Charakterskizze: Vielmehr portraitiert er zugleich sein eigenes Zeitalter. Zwar lässt der Name seines Helden vermuten, dass es in dieser Komödie um den griechischen Philosophen geht, mit diesem jedoch hat Regnards Titelheld bis auf den Namen wenig gemein. Die Komödie skizziert und portraitiert eher den Franzosen des 17. Jahrhunderts, insofern dürfte der Hof des Königs von Athen nicht verschieden sein von dem Ludwigs XIV., der in dieser Komödie als Ausgangspunkt aller Verderbtheit dem Spott preisgegeben wird: Lächerliche Äußerlichkeiten, Unaufrichtigkeit und feige Schmeichelei markieren die sittenlosen Zustände des Hofes, über welche sich Democrite empört und die er durch sein Lachen der Verachtung preisgibt. Davon zeugt insbesondere die sehr komische vierte Szene im zweiten Akt, in welcher Democrite, gerade am Hof des Königs von Athen angekommen, von einem Verwalter, einem Butler und vier weiteren Bediensteten begleitet wird. Die Prozession erregt die zynischen Kommentare des Philosophen, denn nachdem ihm die Offiziere ihre vom König auferlegten Aufgaben hinsichtlich der Betreuung des Philosophen erklärt haben, scheint Democrite all dies überflüssiger Luxus. Daraufhin versuchen der Verwalter und der Butler, die zynischen Bedenken des Democrite zu entkräften, indem sie einander loben, zugleich aber dem sie begleitenden Democrite stets ins Ohr flüstern, wie geheuchelt und übertriebenen eben dieses Lob gerade gewesen ist. Während also die Diener sich ins Gesicht Schmeicheleien sagen und sich hinter dem Rücken verleumden, findet Democrite hohnvolle, weil gleichfalls lobende Worte: DÉMOCRITE: Messieurs, je suis ravi qu’en vous rendant service, Tous deux, en même temps, vous vous rendiez justice. Allez, continuez, aimez-vous bien toujours, Et servez-vous ainsi le reste de vos jours: Cette rare amitié, cette candeur sublime Me fait naître pour vous encore plus d’estime. Adieu.14
Aber auch Democrite ist in seiner Misanthropie und seinem Abscheu gegen die Menschheit keineswegs von einem hohen sittlichen Ideal getragen. Seine Menschenverachtung beruht vielmehr auf einem äußerst narzistischen Bewusstsein der geistigen Überlegenheit, dem Anspruch, über all seinen Mitmenschen zu stehen. Geistiger Hochmut und äußerste Geringschätzung des gesamten Menschengeschlechtes sind also die Grundzüge dieses Philosophen, wie sein Diener und Schüler Strabon, der seit zwei Jahren bei ihm weilt, berichtet. Wenn Democrite etwa die natürliche Bedingung zum Leben, das Verlangen nach Speise und Trank, als tierische Begierde verurteilt, oder das harmlose Vergnügen der Jagd als eines klugen Menschen unwürdig ansieht, dann sind diese Ansichten faktisch lächerlich. Vor allem aber resultiert die Lächerlichkeit des Regnardschen Helden aus dessen Liebe zu einem 15jährigen Mädchen, welche angesichts seines fortgeschrittenen Alters äußerst unpassend erscheint und zudem seiner stoischen Weltanschauung wider14 Oeuvres de Jean François Regnard, Bd. III, hg.v. M. Garnier, Paris 1820, S. 47f.
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spricht. Der bisher stets Aufrichtige und Wahrheitsliebende ist plötzlich ängstlich bemüht, seine Neigungen und Liebesgefühle zu verbergen, derer er sich schämt. Ausgerechnet er, dem die Welt so verhasst ist, der, um den verachteten Menschen zu entrinnen, in die Einsamkeit geflüchtet ist, entsagt diesen Lebensgewohnheiten, um sich Criseis zuliebe an den Hof zu begeben: Ein äußerst seltsamer Wandel, der Democrite in einen schweren Konflikt zwischen Liebe und Vernunft bringt. Auf die liebenswürdige Frage von König Agelas, wie er sich am Hofe befinde, antwortet Democrite offen: „Fort mal“15, also sehr schlecht, weshalb er Agelas darum bittet, mit Criseis und Strabon den Hof verlassen zu dürfen. Allerdings will Criseis zu seinem Entsetzen ihr jetziges Leben am Hof nicht aufgeben, weshalb Democrite nun ungeachtet des anwesenden Königs seinen tiefsten Hass über die Sittenverderbnis des Hofes ausspricht. Democrite ist ein liebender, aber dennoch auch lächerlicher Charakter, der – von König Agelas dazu beauftragt, diesen bei dessen Werbung um Criseis zu unterstützen – in all seiner Wahrhaftigkeit auf eine harte Probe gestellt wird. So etwa zeigt er sich bei der Ausführung des Auftrages als edler, altruistischer Mensch, wenn er der Geliebten den Rat erteilt: „Suivez les mouvemens que votre coeur inspire.“16 Als die Criseis ihre Neigung für den König eingesteht, erinnert Democrite sie schweren Herzens daran, dass sie ihm eigentlich versprach, niemals einer Liebe zu verfallen: „Vous m’aviez tant promis qu’aucun homme en votre ame,/N’exciteroit jamais une amoureuse flamme.“17 Als Criseis jedoch in ihrer unverstellten und authentischen Naivität antwortet, dass sie zum Zeitpunkt dieses Versprechens auch nur die Maßstäbe des Democrite kannte – „Je n’en connoissois point; et je les croyois tous,/Tels que vous les disiez, et formes comme vous“18 –, lässt ihn diese Offenherzigkeit erst recht das Ausmaß seiner Gefühle für Criseis erkennen. Democrite ist also eben jener Liebe verfallen, die er zuvor als menschliche Narrheit und Schwäche getadelt hat. Das Gefühl der Überlegenheit, das ihn einst in so starkem Maße beherrschte, ist völlig verschwunden, an dessen Stelle tritt eine übermächtig werdende Misanthropie, die aus enttäuschter Liebe hervorgeht. Und dennoch lässt sich diese Komödie als Vorform der comédie larmoyante lesen, da schon Regnard in dieser Komödie die Töne und Genres vermischt, wenn er seinen Helden als einen lächerlichen, von Impotenz geplagten Liebhaber darstellt, aber zugleich Tragikomödien und Intrigen verwendet, also einige zum Lachen komische Szenen mit ernsten Themen vermengt. Allerdings zählt Regnard für seine Zeitgenossen noch nicht zu den Vertretern des neuen Lustspiels: Lessing beispielsweise bemerkte vielmehr die vielen „Fehler und Ungereimtheiten“, wenngleich diese „nur willkürliche Regeln betreffen“, etwa die fehlende „Einheit des Ortes“ oder die fehlende Übereinstimmung der Hauptfigur zum „wahren Demokrit“, zudem
15 16 17 18
Ebd., S. 65. Ebd., S. 71. Ebd., S. 73. Ebd., S. 73.
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sei „sein Athen […] ein ganz anders Athen, als wir kennen“19. Zudem bemängelte Lessing inhaltliche Defizite wie etwa den „Mangel des Interesses, die kahle Verwickelung, die Menge müßiger Personen, das abgeschmackte Geschwätz des Demokrits“, betonte jedoch die gute Laune, die man bei der Lektüre des Stücks bekomme, und die insbesondere von den beiden Nebenfiguren, von Strabo und Thaler ausgehe. Ersterer ändere „seinen Ton gegen jeden, mit dem er spricht; bald ist er ein feiner witziger Spötter, bald ein plumper Spaßmacher, bald ein zärtlicher Schulfuchs, bald ein unverschämter Stutzer. Seine Erkennung mit der Cleanthis ist ungemein komisch, aber unnatürlich.“20 Und von Bauer Thaler heißt es, er sei der „beste, drolligste und ausgeführteste Charakter […]; ein wahrer Bauer, schalkisch und geradezu; voller boshafter Schnurren; und der, von der poetischen Seite betrachtet, nichts weniger als episodisch, sondern zur Auflösung des Knoten ebenso schicklich als unentbehrlich ist.“21 Dennoch bleibt festzuhalten, dass Lessing die Komödie nicht zum Genre der comédie larmoyante zählte, Regnards Democrite kann also allenfalls als Vorbereitung dieses Genres gelten. Diese vorbereitende Funktion ist jedoch unbestritten, wie der Vergleich zu Destouches zeigt, dessen fünfaktige Komödie Les Philosophes amoureux von 1730 die Geschichte der comédie larmoyante quasi eröffnet. Schon Gellert zählte Les Philosophes amoureux zu den Beispielen jener von Chassiron kritisierten Gattung, „an welcher mehr auszusetzen zu sein scheinet, weil Scherz und Spott weniger darinne herrschen, als die Gemütsbewegungen, und weil ihre vornehmsten Personen entweder nicht gemein und tadelhaft, sondern von vornehmen Stande, von zierlichen Sitten und von einer artigen Lebensart sind, oder, wenn sie ja einige Laster haben, ihnen doch nicht solche ankleben, dergleichen bei dem Pöbel gemeiniglich zu finden sind.“22 Auffallend sei an diesen Komödien, dass „diejenige Person, auf die es in dem Stücke größten Teils ankömmt, entweder von guter Art ist, oder doch keinen allzulächerlichen Fehler an sich hat.“23 Es ist daher kein Zufall, dass Lessing in seiner Kommentierung der Abhandlung Gellerts für seine Neudefinition der Komödie insbesondere Destouches als Maßstab wählte: Ich habe schon gesagt, daß man niemals diejenigen Stücke getadelt habe, welche Lachen und Rührung verbinden; ich kann mich dieserwegen unter andern darauf berufen, daß man den Destouches niemals mit dem la Chaussée in eine Klasse gesetzt hat, und daß die hartnäckigsten Feinde des letztern, niemals dem erstern den Ruhm eines vortrefflichen komischen Dichters abgesprochen haben, so viel edle Charaktere und zärtliche Szenen in seinem Stücke auch vorkommen.24
Auch nach Joachim Schulz ist erst in Destouches’ Komödie Les Philosophes amoureux eine wirkliche Differenz zu Molière zu erkennen, gerade weil der verliebte 19 20 21 22 23 24
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 4, München 1970 ff., S. 309. Ebd., S. 310. Ebd., S. 310f. Ebd. Ebd., S. 45f. Ebd., S. 54.
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Stoiker hier nicht allein der Lächerlichkeit preisgegeben wird.25 Dennoch steht am Beginn der Komödie von Destouches die auch von Alceste und Democrite geteilte Ansicht, dass es der Vernunft nicht gezieme, sich durch die Liebe überwinden zu lassen: Der wahrhaft Weise solle von derartigen Regungen frei sein.26 Bei Destouches wird diese Ansicht allerdings nicht von einem betagten Mann, sondern von zwei jungen Philosophen – Léandre und Damis – vertreten, die miteinander in einen Wettstreit treten. Das Analogon zu den Helden Molières und Regnards ist dabei Léandre, der fernab von der Stadt Paris auf seinem Landgut ein Leben in der Zurückgezogenheit lebt: Nur sein Freund Damis pflegt ihn dort zu besuchen. Aber die beiden stoischen Moralphilosophen werden aus ihrer Ruhe herausgerissen, denn Lisidor, ein alter Freund von Léandres Vater Polemon, ist mit Verwandten und Freunden auf dem Landgut angekommen, um seine Tochter Clarice mit Léandre zu verheiraten, wie er bereits in der ersten Begegnung mit diesem offen betont. Mit der Tochter Clarice allein gelassen, fällt dem Léandre jedoch schon in der folgenden Unterredung schnell auf, wie sehr er sich von Lisidors Tochter unterscheidet: Clarice ist vergnügungssüchtig, liebt „L’opéra,/ Le bal, la comédie“27, Léandre hingegen lebt still und zurückgezogen, so dass sie beide wünschen, die geplante Verbindung möge nicht geschlossen werden. Denn wie Molières Célimène, so möchte auch Clarice auf diese Vergnügungen keinesfalls zugunsten einer bloß ehelichen Liebesgemeinschaft verzichten, zudem kann sie sich generell – hierin dem von La Chaussée später sogenannten Préjugé à la mode folgend –, einen liebenden Ehemann nicht vorstellen: „Un homme du grand monde et de condition/ Vouloir aimer sa femme! Oh, quelle vision!“28 Clarice traut Léandre also nicht zu, dass er wirklich ein „mari bourgeoise“ sein wolle, weshalb dieser sich zu der Erklärung genötigt sieht, dass er als Ehemann nicht auf mondäne Weise „comode“, sondern tatsächlich „bourgeois, et très bourgeois“ zu sein gedenke, die Eifersucht eingeschlossen.29 Dem Vater wollen sie diesen Entschluss mitteilen, doch findet sich hierzu vorläufig keine Gelegenheit, bis dann später Clarisse ihm ihre Abneigung gegen Léandre deutlich zu erkennen gibt. Nun redet Polemon seinem Sohn und ebenso Lisidor seiner Tochter Clarisse zu, ihre Abneigung zu verbergen: Darum beschließen beide, wenn auch jeder ohne Wissen des andern, ihr Benehmen zu ändern. Léandre stellt sich so, wie vorher Clarisse, Clarisse wie Léandre, wodurch natürlich erst recht eine Vereinigung der beiden hintertrieben wird. Inzwischen hat nämlich Léandres Lehrer Damis, der sich anfangs noch seiner Standhaftigkeit rühmte, sich von seinem Prinzip verabschiedet und in Artenice, der Tochter Aramintens, Lisidors Schwester, die für einen Philosophen passende Frau gefunden. Zwar fühlte sich diese anfangs eher zu dem ihr ähnlichen Léandre hingezogen, sie nimmt aber am Ende mit Damis doch den 25 Schulze: Hahnrei und verliebter Ehemann, a.a.O., S. 210ff. 26 Vgl. dazu auch: Alexander Kosenina: Der gelehrte Narr. Gelehrtensatire seit der Aufklärung, Göttingen 2003, S. 87f. 27 II, 4, S. 219. 28 Ebd., S. 222 29 Ebd., S. 221.
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Spatz in der Hand. Und Damis wiederum findet so die für einen Philosophen passende, seine philosophischen Neigungen teilende Frau. Allerdings geht Léandre damit als Sieger aus dem Wettstreit hervor, da er nicht der Liebe verfiel. Die Komödie zeigt also zwei stoische Moralphilosophen, die sich zum „Roi de ses passions“30 machen wollen, dabei allerdings an der Liebe scheitern und sich schließlich nicht eben ungern geschlagen geben: Anders als Regnards lange hadernder Democrite. Insofern ist dem Urteil Joachim Schulzes zuzustimmen, nach welchem das Stück zeige, „dass ein gesellschaftskritisch eingestellter Philosoph nicht allein in seiner ‚solitude‘ leben muss. Es gibt Frauen, die mit ihm leben können, weil die Freiheit im ‚beau monde‘ für die nicht der höchste Wert ist.“31 Anders gesagt: Gerade weil das Stück nurmehr danach fragt, „ob die ins Auge gefassten Frauen zum Leben in der ‚solitude‘ bereit sind, gibt es in dieser Komödie eigentlich kein ‚vice‘ oder ‚travers‘, was die Personen komisch macht.“32 Mit Blick auf die folgenden Beispiel der comédie larmoyante ist diese Motivik freilich eine des Übergangs, insofern der Gefühlswandel des Damis keineswegs als amour naissante im Sinne Marivaux’ beschrieben werden kann. Die Rührung basiert hier ganz auf jener von Gellert später so genannten „stärkere[n] Empfindung der Menschlichkeit […], welche so gar mit Tränen, den Zeugen der Rührung“, begleitet wird.33 Gellert wird in Die zärtlichen Schwestern von 1747 an diese von Destouches entwickelte Version der comédie larmoyante anschließen, welche durch zärtliche Didaktik die Liebesunwilligen therapiert. Zugleich aber werden wir bei Gellert auch Ansätze jener anrührenden Momente eines plötzlichen Liebesgefühls erkennen, wie es Marivaux entwickelte.
Die Neudeutung der Rührung: Destouches’ Le Glorieux (1729/32) Im Jahre 1729 entstand Philippe Néricault Destouches’ fünfaktige Verskomödie Le Glorieux, die als erste comédie larmoyante in französischer Sprache gelten kann, und die drei Jahre nach der schriftlichen Fassung, also am 18. Januar 1732 in Paris uraufgeführt wurde. Das Stück handelt von dem Comte de Tufière, einem ehrsüchtigen Vertreter des Schwertadels, dem noblesse d’épée. Mit ihm treffen in dieser Komödie zwei verschiedene aristokratische Welten aufeinander, denn der Graf wohnt seit drei Monaten im Hause Lisimons, einem geadelten Bürger bzw. einem „riche bourgeois ennobli“34. Ein zentrales Thema dieser Komödie ist also der Gegensatz zwischen altem und neuem Adel, repräsentiert durch den jungen Grafen Tufière und dessen – wie sich im Verlauf des Stückes zeigen wird – zukünftigem Schwie30 31 32 33 34
I, 4; S. 203. Schulze: Hahnrei und verliebter Ehemann, a.a.O., S. 212. Lessing: Werke. Band 4, a.a.O., S. 51. Ebd., S. 52f. Destouches: Oeuvres choisies, Tome premier, Paris 1832, S. 140.
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gervater Lisimon. Während der Graf Tufière sein aristokratisches Selbstverständnis auf die Ausübung militärischer Funktionen gründet und sich im Bewusstsein der oft bürgerlichen Ursprünge der noblesse de robe als Hort des alten Adels und der Tradition versteht, sieht sich Lisimon als die – von der Ausweitung der staatlichen Finanz- und Rechtsverwaltung begünstigte – neue funktionale Elite der Amtsadligen. Und während der Graf Tufière vom verblichenen Ruhm seiner Familie lebt, weiß Lisimon, dass die Macht und die Zukunft dem gehören, der Geld hat. Dieser gesellschaftliche Abstieg des alten Adels wird von Destouches recht deutlich markiert: Diente der Graf einstmals im Krieg, so verdient er sich nun seinen Lebensunterhalt durch Glücksspiele. Dennoch ist er nach wie vor dünkelhaft und stolz, wie schon sein Umgang mit seinen Dienern La Fleur und Pasquin zeigt: Ein Charakterfehler, der ihm entsprechende Hindernisse für seine Werbung um Lisimons Tochter Isabelle in den Weg legt. Zwar will Lisimon seine Tochter Isabelle mit diesem eitlen und adelsstolzen Grafen verheiraten, eben weil dieser von altem Adel ist. Isabelles Mutter würde jedoch einen Bewerber bürgerlicher Herkunft, nämlich den schüchternen und linkischen Philinte vorziehen. Isabelle selbst wiederum weiß zwar sehr genau, dass sie den bürgerlichen Philinte keinesfalls akzeptieren kann. Sie ist sich jedoch hinsichtlich ihrer Gefühle für den Grafen Tufière nicht sicher, wie ihre Kammerzofe Lisette gleich zu Beginn des Stückes bemerkt: LISETTE: Tant mieux. Le Comte votre maître est froid et sérieux; Et depuis trois grands mois qu’avec nous il demeure, Je n’ai pas encore pu lui parler un quart-d’heure. Quel est son caractère? Entre nous, j’entrevois Que ma maîtresse l’aime; et cependant je crois Qu’il ne doit pas long-temps compter sur la tendresse; Car avec de l’esprit, du sens, de la sagesse, Des graces, des attraits, elle n’a pas le don D’aimer avec constance. Avant qu’aimer, dit-on, Il faut connoître à fond; car l’Amour est bien traître. Pous Isabelle, elle aime avant que de connoître; Mais son penchant ne peut l’aveugler tellement, Qu’il dérobe à ses yeux les défauts d’un amant.35
Die Sympathien des Destouches für diesen alten Adel sind unverkennbar: Darin liegt die große Differenz zu Nivelle de la Chaussée. Seine Gewogenheit zeigt sich etwa in der Figur dieser Kammerzofe Lisette, eine Vertraute Isabelles, die ihrerseits den Plan des Vaters Lisimon unterstützt, also den Grafen Tufière als Heiratskandidaten für Isabelle bevorzugt. Denn Lisette fühlt sich dem Grafen Tufière auf eine besondere Weise verbunden, weil sie – was freilich erst im Laufe der Komödie deutlich wird – seine Schwester, also ebenfalls von altem Adel ist. Dagegen weist sie den sie umgarnenden Lisimon zurück, der damit in Anlehnung an Molières Le misanthrope die lächerliche Figur des begehrenden Alten darstellt. Da auch sein 35 Ebd., S. 143.
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Sohn Valère die Zofe Lisette umwirbt, wird Lisimon zudem zum Nebenbuhler des eigenen Sohnes.36 Valères Liebe zu Lisette ist jedoch nicht lüstern, sondern aufrichtig, allerdings will diese nur einer in aller Förmlichkeit vollzogenen Heirat einwilligen. Dieser Anspruch hat mit Lisettes Herkunft zu tun, von welcher sie zwar nichts Genaueres weiß, welche sie aber deutlich empfinden lässt, dass sie nicht zum Dienen geboren ist. In dieser Ahnung wird sie von einem alten Bettler namens Lycandre ermutigt, der sich um Lisette kümmert, und dieser zudem mitteilt, dass sie von vornehmer Herkunft sei: Eine unverhoffte Perspektive, die dem sich liebenden Paar Valère und Lisette neue Hoffnung auf eine Vermählung gibt. Wie später bei La Chaussée, so resultiert nun auch bei Destouches die Rührung aus einer der sentimental comedy fehlenden emotionalen Überraschung, die aus der plötzlichen Wiederbegegnung einander unbekannter Familienmitglieder hervorgeht. Rührend ist jener ergreifende Moment, in welchem Lisette erkennt, dass sie die Tochter des Lycandre ist: „Quoi, c’est vous-même! O ciel! Que mon ame eft ravie! Je goûte le moment le plus doux de ma vie.“37 Der alte Lycandre ist jedoch nicht nur der Vater Lisettes, sondern auch des Grafen Tufière. Er ist also ein Adliger, und somit wie sein Sohn das Opfer der Transformationsprozesse innerhalb der Aristokratie. Einst hatte er eine hohe Stellung am Hof des Königs inne, die er aber durch dunkle Machenschaften verlor: In diesem Sinne ist Lycandre das von Destouches gewählte Beispiel jener historischen Verdrängung des alten Adels aus der geburtsrechtlichen Herrschaftsteilhabe bzw. dessen Ersetzung durch neuaristokratische Emporkömmlinge. Verarmt lebt Lycandre nun inkognito in der Nähe seiner Kinder, was den ruhmseligen Tufière freilich in Verlegenheit bringt, da er bisher mit seinem adligen Status so geprahlt hatte. Darum gibt Tufière seinen Vater zunächst gar als seinen Verwalter aus, um so die geplante Ehe mit Isabelle nicht zu gefährden, und tatsächlich lässt sich Lycandre – wenn auch zähneknirschend – als Intendant eines imaginären Schlosses an der Garonne ausgeben, um die Heiratsprojekte seines Sohnes nicht zu gefährden. Während dann jedoch der Heiratsvertrag aufgesetzt wird, geht Lycandre zum moralisch-didaktischen Angriff über, indem er seinen ignoranten Sohn als Lügner und Habenichts entlarvt. Diese äußerst peinliche Beschämung des Sohnes ist durchaus gewollt: „L’état où je parois, et sa confusion,/D’un excessif orgueil sont la punition./( au Comte.) Je la lui réservois… Je bénis ma misère,/Puisqu’elle t’humilie, et qu’elle venge un père.“38 Und erst im Zuge dieser Konfrontation wandelt sich der gedemütigte Glorieux in einen reuigen und zärtlichen Sohn, der sich zu seiner Familie bekennt und auf Isabelle verzichten will: LE COMTE: Je ne puis résister à ce ton respectable. Eh bien! vous le voulez; rendez-moi méprisable. Jouissez du plaisir de me voir si confus. 36 Doris Jonas: Untersuchungen zu den Komödien von Philippe Néricault Destouches, Köln 1969, S. 117. 37 Destouches: Oeuvres choisies, a.a.O., S. 228. 38 Ebd., S. 256.
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Mon cœur, tout fier qu’il est, ne vous êtes mon père. Rendez votre tendresse à ce retour sincère.39
Durch diesen positiven Gesinnungswandel gewinnt der Graf nun natürlich doch noch die Gefühle der anfangs zögerlichen Tochter Isabelle, die sich zunächst von Tufières falschem Stolz abgestoßen fühlte und ihre Zofe Lisette gar beauftragte, den Grafen auf die Hässlichkeit seines Verhaltens aufmerksam zu machen. Nun jedoch sind nicht nur Isabelle, sondern auch deren Eltern von der Richtigkeit des zukünftigen Schwiegersohns überzeugt. Vor allem Isabelles Vater Lisimon sieht sich jetzt am Ziel seiner Wünsche, denn da Tufière arm ist, wird ihm dessen Dünkel nichts nützen, er wird von seinem wohlhabenden bürgerlichen Schwiegervater Lisimon abhängig sein. Das Stück endet entsprechend mit einer Doppelhochzeit: Isabelle heiratet den Grafen Tufière und ihr Bruder Valère dessen Schwester, die ehemalige Kammerzofe Lisette. Im rührenden Schlusstableau vollzieht sich also auch die Angleichung der beiden Adelsgruppen, insofern der alte Adel verbürgerlicht und der neue Adel veredelt wird. Die rührende Wirkung dieser Komödie geht jedoch nicht allein aus der Läuterung des ‚ruhmseligen‘ Grafen Tufière hervor, dessen Mangel an Zärtlichkeit – „S’il a quelque défaut; c’est son peu de tendresse“40, so heißt es aus dem Mund der Isabelle –, am Ende in sein Gegenteil verkehrt wird. Weit wichtiger für diese comédy larmoyante ist die vom Zuschauer mit Spannung erwartete Wiederbegegnung zwischen Vater und Tochter bzw. Sohn. Eben darin erkennen wir die Erweiterung, welche Destouches an der englischen Empfindsamkeit ergänzte, insofern sich mit dieser Rührung ein zentrales, später insbesondere in den rührenden Komödien Voltaires und La Chaussées wiederkehrendes Motiv ankündigt: Die Szenen der Zusammenführung zwischen verlorenen oder aber verloren geglaubten Familienmitgliedern, wie sie dann etwa in La Chaussées Mélanide oder Voltaires Nanine ins Zentrum rücken.41 Dies verdeutlichen die Aussagen der Lisette, wenn sie im vierten Akt in der dritten Szene mit dem eigenen Vater spricht, unwissend, dass eben dieser es ist, auf den Sie sehnsüchtig und voll Zärtlichkeit wartet: LISETTE: Il m’en sera plus cher; et loin qu’il m’importune, Il verra que mon Coeur, plein de son infortune, Redoubla pour lui de tendresse et d’amour. Tout baigné de mes pleurs, avant la fin du jour, Il sera possesseur du peu que je possède. Mon zèle à ses malheurs servira de remède. Je ferai tout tout pour lui. Si je n’ai point d’argent, J’ai de riches habits dont on m’a fait présent: Je garde un diamant que m’a laissé ma mère. Je vais tout engager, tout vendre pour mon père. 39 Ebd., S. 257. 40 Ebd., S. 175. 41 Vgl. dazu: Elsa Jaubert-Michel: Voltaire dramaturge comique: un ‚auteur amphibie?‘, in: Revue Voltaire 6 (2006), S. 155–168, hier S. 160.
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Heureuse, si je puis et mille et mille fois Lui prouver que je l’aime autant que je le dois. LYCANDRE: Arrêtez. Laissez-moi respirer, je vous prie. Donnez quelque relàche à mon ame attendrie. Vous aimez votre père; il n’est plus malheureux.42
Während der Zuschauer hier schon die Zusammenhänge erahnt, ist der Höhepunkt der Rührung natürlich dann erreicht, wenn sich der Vater seiner Tochter Lisette zu erkennen gibt: LYCANDRE: Vous n’irez pas bien loin pour goûter cette joie. Vous voulez la chercher, et le Ciel vous l’envoie. Oui, ma fille, voici ce père malheureux; Il vous voit, il vous parle, il est devant vos yeux. LISETTE (se jetant à ses pieds): Quoi! c’est vous-même? O Ciel! que mon âme est ravie! Je goûte le moment le plus doux de ma vie. LYCANDRE: Ma fille, levez-vous. Je connois votre cœur. Et, je vous l’ai prédit, vous ferez mon bonheur. Mais, hélas! que je crains de revoir votre frère!43
Erst jetzt gibt Lycandre allen seine wahre, nun wieder hergestellte gesellschaftliche Stellung bekannt, bestätigt den Heiratsvertrag seines Sohnes und verheiratet Lisette mit Valère, dem Lisimon eine Markgrafschaft kauft. Und doch ist neben diesem neuen Motiv der Wiedererkennung auch die der sentimental comedy entlehnte Moraldidaxe unverkennbar, wenn Lycandre seinen eitlen und von falschem Stolz getriebenen Sohn durch sein von Armut gezeichnetes Erscheinungsbild zu beschämen und zu läutern weiß. Johann Elias Schlegel hat diese Mixtur in seinen Gedanken zur Aufnahme des dänischen Theaters von 1747 folgendermaßen umschrieben: Es ist dem Destouches nicht genug, den Charakter des Ruhmredigen oder Stolzen obenhin zu schildern. Er giebt ihm eine Liebste, deren Herz erst durch allerhand kleine Bemühungen erobert seyn will; einen Schwiegervater, der sich mit allen Leuten du heißt, und ohne Ceremonie seyn will, einen Rival, der ein großer Complimentenmacher ist, und sich dadurch bey der Mutter seiner Geliebten einschleicht; einen Vater, der bescheiden ist, der im Elende lebt, und in so dürftigen Umständen erscheint, daß der bloße Anblick desselben seinen Stolz beschämt.44
1745 übersetzte Johann Elias Schlegel die Komödie Le Glorieux des Destouches unter dem Titel Der Ruhmredige, und zwar anonym. Schlegel betont nicht nur die sympathische Geste des Destouches, sich als Komödienschreiber weit unter seinem Vorläufer Molière einzuordnen, sondern auch die Tatsache, dass die Komödie Le Glorieux dennoch „von dem witzigen und eklen Paris mit dem meisten Beyfalle
42 Destouches: Oeuvres choisies, a. a. O., S. 226. 43 Ebd., S. 228. 44 Johann Elias Schlegel: Ausgewählte Werke, a. a. O., S. 578.
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aufgenommen worden“45 sei. Zugleich und vor allem aber ist diese Übersetzung auch ein Plädoyer für die gereimte Komödie, deren Kritiker Schlegel – wie auch die Kritiker der Oper – mit einem identischen Argument distanziert: Wer sich gegen den Reim ausspricht, da dieser dem wirklichen Leben widerspräche, der verkenne die Rolle des Materials in der Kunst: Wie der Marmor das Material der Statue, so sei der Reim das Material der Komödie in Versen. Diese schon 1740 in seinem Schreiben Über die Comödie in Versen gegen Gottlob Benjamin Straube ins Spiel gebrachten Argumente wiederholen sich also im Zuge der Übersetzung des Glorieux, handle es sich bei der Verskomödie doch um eine französische Spezialität: „dass die Comödie in Versen den Franzosen nicht unmöglich sey, und daß es bei ihnen nicht nothwendig sey, daß die dialogische Art zu reden darunter leide, haben Molière, Destouches, Regnard, der Verfasser des Modevorurtheils etc. durch thätige Beiweise gezeigt.“46
Die zarte Genese der amour naissant: Marivaux’ Le jeu de l’amour et du hazard (1730) Welche Neuerung führt nun Marivaux in die comédie larmoyante ein? Gemeinsam ist den Komödien des Destouches und des Marivaux, dass es sich um Liebeskomödien handelt, und dass in diesen die Motive der Verwechslung, der Verstellung und der Verkleidung eine wichtige und auch für das rührende Lustspiel in Deutschland später einflussreiche Rolle spielen. Eine weitere Gemeinsamkeit liegt zudem darin, dass in beider Komödien die Liebespartner zunächst durch große Standesunterschiede voneinander getrennt scheinen, sich letztlich aber als sozial gleichrangig und damit als zueinander passend erweisen. Das Motiv der tendresse amoureuse entfaltet sich also bei beiden Autoren zwischen den Ständen, so etwa in Destouches Le Glorieux, in Marivaux’ La Surprise de l’amour von 1722 (die Überraschung der Liebe); La double inconstance von 1723 (die beiderseitige Unbeständigkeit); Le Prince travesti von 1723 (der verkleidete Fürst) oder Le Jeu de l’amour et du hasard von 1730 (Das Spiel von Liebe und Zufall). Marivaux entdeckt jedoch erstmals die nicht gegen äußere, sondern gegen innere Widerstände sich durchsetzende Liebe: Während bei Destouches ähnlich wie zuvor in Richard Steeles The tender husband das Zusammenspiel von Liebesintrige und Charakterenthüllung auf zwei verschiedene Personen bzw. Ehepartner bezogen ist, demaskieren sich bei Marivaux die ungewollt Verliebten selbst. Im Laufe einer seelischen Veränderung, die sie zunächst nicht wahrnehmen, dann dem eigenen Bewusstsein gegenüber zu leugnen versuchen, führen sie sich selbst in den komischen Konflikt – und aus diesem wieder heraus. Dieser innere Wandel tritt an die Stelle der von außen motivierten Konversion, der innere Vorgang wird zum konstitutiven Element der rührenden 45 Ebd., S. 528. 46 Ebd., S. 530.
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Komödie, an deren Ende nicht die Reue, sondern das Innewerden der Liebe und die Preisgabe des Widerstandes steht. Die dreiaktige Komödie Le Jeu de l’amour et du hasard – Johann Christian Krüger übersetzte diese 1747 unter dem Titel Spiel der Liebe und des Zufalls – wurde am 23. 1. 1730 im Pariser Théâtre-Italien durch die Truppe der Comédiens-Italiens uraufgeführt. Wie kein anderes Werk Marivaux’ verrät diese Komödie die Herkunft aus der Tradition der commedia dell’arte, in der das Motiv des Rollentausches zwischen Herr und Diener, zwischen Magd und Herrin ein Grundschema der Handlungsverwicklung bildet. Im Unterschied zur commedia dell’arte sind Marivaux’ Charaktere jedoch keine Typen, sondern echte Individuen mit enormer psychologischer Echtheit und Genauigkeit. Zwar übernahm Marivaux zum Teil Figuren der durch das Théâtre-Italien nach Frankreich gebrachten commedia dell’arte: Beispielsweise den Arlequin. Dieser wird als Verehrer der Lisette jedoch keineswegs zur Karikatur im Sinne der komischen Figur, wenngleich seine durchaus vulgäre Art in Diskrepanz zu seiner ihm angedachten Rolle sowie zum ‚galanten‘ setting dieser Komödie steht. Und doch bewegt sich Marivaux aufgrund dieser Bindung an die italienische Tradition immer auch an der Grenze der im 17. Jahrhundert sich entwickelnden tendresse amoureuse. Diese Grenze ist im Begriff der Marivaudage angezeigt, der eine Form der Tändelei bezeichnet, also stets jene subtile bzw. graziöse Ironie impliziert, wie sie im deutschsprachigen Theater später ähnlich im Werk Christoph Martin Wielands zu finden ist. Rainer Warning sprach mit Blick auf Marivaux daher auch von einer „Komik der sich zugleich zeigenden und verbergenden tendresse“47, die zu unterscheiden ist von jener Idee aufrichtiger Zärtlichkeit, wie sie etwa bei Destouches, La Chaussée oder dann Gellert dominiert. Inhaltlich geht es in Le Jeu de l’amour et du hasard um eine für Marivaux sehr typische Transformation der uns bereits durch verschiedenste Beispiele vertrauten, zärtlichen Liebesintrige. Diese geht aus von den Hauptfiguren Silvia und Dorante, die auf Wunsch ihrer Väter miteinander vermählt werden sollen. Da sie sich jedoch noch nie gesehen haben, wird es ihnen freigestellt, den Partner, sollte er ihnen nicht gefallen, abzulehnen. Um der Verlegenheit einer offenen Erklärung zu entgehen und aus instinktivem Mißtrauen gegen die Ausrichtung ihrer Gefühle durch andere, kommen sie beide unabhängig voneinander, und ohne die geheime Entsprechung zu ahnen, auf dieselbe Idee: Silvia tauscht mit ihrer Zofe Lisette, Dorante mit seinem Diener Arlequin die Rollen, um inkognito bzw. aus der Dienerperspektive das wahre Ich des zugeteilten Ehepartners kennenzulernen. Nur Silvias Vater, Monsieur Orgon, und ihr Bruder Mario sind durch einen Brief von Dorantes Vater in den Doppelplan eingeweiht, von welchem sie sich zudem viel versprechen. Sie fungieren also als die geheimen Spielleiter, die dafür sorgen, dass der Zufall nicht auf Kosten der Liebe überhand nimmt. Dennoch aber werden all diese sorgsamen Vorkehrungen zunichte gemacht, nachdem Dorante Silvia mit Lisette und Silvia Dorante mit dessen Diener Arlequin verwechselt. Wir haben es also mit einer vier47 Rainer Warning: Gespräch und Aufrichtigkeit, in: Karlheinz Stierle und Rainer Warning (Hg.): Das Gespräch. München 1984, S. 425–466, hier S. 463.
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fachen Verkleidungs- und doppelten Verwechslungsintrige zu tun, die später auch Mozart in Cosí fan tutte verwendet. Im Unterschied zu den meisten Liebesintrigen der empfindsamen Komödie wird die vorgetäuschte Rolle jedoch bei Marivaux mit einer dem Stand nicht entsprechenden inneren Qualität des sich Maskierenden kontrastiert, was wiederum zunächst die Neugierde, und schließlich die Liebe in den einander betrügenden Betrügern entstehen lässt. Zu Beginn dieser Komödie führt die Tochter Monsieur Orgons, die Silvia, ein Streitgespräch mit ihrer Zofe Lisette über die rechte Einstellung zur Ehe. Die unkomplizierte und spontan empfindende Zofe Lisette plädiert dafür, schlichtweg der Stimme des Herzens und der Natur zu folgen. Eben dieser Maxime gemäß handelt sie auch in ihrer Begegnung mit Arlequin, der auf eine eher tölpelhaft-preziöse Weise um die vermeintliche Tochter des Hauses wirbt. Die nicht wenig entzückte Lisette findet eben dies sympathisch, weshalb sie ihm – mit gebotener Rücksicht auf ihre meist anwesende Herrin Silvia – ihre Sympathien auch umstandslos signalisiert und schließlich zur Heirat bereit ist. Eben diese sehr schlichte Form der Liebeswahl tadelt Lisettes Herrin Silvia, aus deren eher positiv preziöser Warte die Ursprünglichkeit Lisettes als unvernünftige „sotte naïveté“48 erscheint. Silvia selbst versagt sich diese allzumenschlichen Gefühlsregungen – „comme celui de tout le monde“49 –, sie will stattdessen mit einer vom Intellekt gesteuerten List ihr Ziel erreichen. Dies ist freilich keine ausschließlich weibliche Koketterie, denn auch die männliche Hauptfigur Dorante vertraut lieber seinem ‚esprit‘ denn seinem ‚coeur’. Schon bei der ersten Begegnung entwickeln die verkleideten Verlobten, nach gegenseitigem Erstaunen über die Anmut und den Geist des anderen, ein wechselseitiges Interesse, aus welchem schon bald eine immer stärkere Zuneigung füreinander wird: So entsteht jene „naissance de l’amour“, jenes langsame Aufkeimen der Liebe. Diese aufkeimende Liebe wird von ihrem Beginn bis hin zu jenem Moment geführt, an dem sich Dorante und Silvia erstmals ihrer wahren Liebesgefühle bewusst werden. Dabei erinnert diese Liebe in ihrer verschlungenen, ungeradlinig und vor allem phasenreich verlaufenden Entwicklung durchaus an die Carte de Tendre, auf die Marivaux auch in anderen Komödien anspielte.50 Denn ähnlich wie im Clélie-Roman lässt sich auch in der Komödie Marivaux’ eine Stufung der Gefühle erkennen, die zudem wie in der Carte de Tendre aufeinander aufbauen, wobei
48 Pierre Carlet de Chamblain de Marivaux: Les jeux de l’amour et du hasard: Comédie en 3 actes, en prose, Paris 1790, S. 3. 49 Ebd. 50 Ich denke dabei insbesondere an Marivaux’ allegorische Komödie La Reunion des Amours von 1730, in welcher Marivaux in der allegorischen Figur der „amour“ die zärtliche Liebe des 17. Jahrhunderts im Sinne der Scudéry auftreten lässt, und dieser in der Figur des streitbaren Cupido, dem Gott der Sinne und der Wollust, eine konträre Liebesauffassung gegenüberstellt. Der Streit zwischen Amor und Cupido konfrontiert also die sittlich-zärtliche Liebe, wie sie in der Astrée und in den Romanen der Scudéry dargestellt ist, mit einer weitaus sinnlicheren Variante. Am Ende befiehlt die Minerva, dass beide sich vereinen und einander von ihrem Wesen mitteilen sollten, der Streit wird schließlich von Jupiter geschlichtet: Beide Liebesmodelle vereinigen sich, um so das Herz des Prinzen Dauphin in der Liebe zu bilden.
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eine Stufe gleichsam die nächste voraussetzt.51 Anders als in der Scudéryschen Idee der amitié tendre ist hier freilich das Endresultat, also das Stadium der tendresse als echter Liebesempfindung, grundsätzlich anders als all deren Vorstufen, weshalb die beiden Betroffenen äußerst überrascht auf diese Empfindung reagieren. Klaus Heitmann beschrieb dies wie folgt: Neugier, amüsierte Anteilnahme, Verwunderung, verständnisvolle Nachsicht, Achtung, Sympathie, unerklärliche Unruhe gehören zu den Präliminarien der Empfindung, die immer stärker von Silvia Besitz ergreift, die sie den ihr Vertrauten nicht einzugestehen wagt, die sie – ohne es zu wollen und zu wissen – aber doch deutlich erkennbar werden läßt in unerklärlicher Launenhaftigkeit, in einzelnen vom Bewußtsein unkontrollierten Gesten und Äußerungen und vor allem in der Emphase, mit der sie dem Partner darlegt, er werde selbst in dem Falle, daß es ihm gelingen sollte, ihr Herz zu erobern, nie davon erfahren.52
Das eigentliche Hindernis für diese Liebe ist aber die von der konventionellen Ordnung bestärkte Eigenliebe bzw. amour-propre der Silvia, die sich durch eine dem Selbstschutz dienende Koketterie vor der Bedrohung der Liebe zu schützen versucht. Diese von Marivaux portraitierte Eigenliebe kann quasi als weibliches Äquivalent zu jener von Destouches portraitierten männlichen Ruhmseligkeit gelesen werden. Und auch Silvias Koketterie erscheint in dieser Komödie als genuin weiblicher Wesenszug, der das Spiel der Werbung erst eigentlich zur Entfaltung bringt. So führt Silvia das im Grunde überflüssige Geständnis Dorantes, er werde auch eine Kammerzofe heiraten, vor allem um des persönlichen Triumphs willen herbei, als Bestätigung ihres amour-propre, den sie anders als Dorante auch an keiner Stelle der Komödie überwinden muss. Denn Silvia geht im Unterschied zu Dorante davon aus, sie könne ihre Gefühle vor Dorante und der Umwelt geheimhalten, gerade weil sie sich über die Intensität ihrer Gefühle nicht bewusst ist. Selbst in jenem Moment, in welchem sie ihre Liebe zu Dorante langsam erahnt, versucht sie weiterhin, sich zu betrügen, was sie auch – in einer folgenreichen Verkennung bzw. Verwechslung des verkleideten Dorante – dem Geliebten gegenüber in aller Unbefangenheit ausspricht: SILVIA: Oh! il n’est pas si curieux à savoir que le mien, je t’en assure. DORANTE: Que peux-tu me reprocher? Je ne me propose pas de te rendre sensible. SILVIA (à part): Il ne faudrait pas s’y fier. DORANTE: Et que pourrais-je espérer en tâchant de me faire aimer? Hélas! quand même j’aurais ton cœur… 51 Werner Wolf sah in dieser Liebeskomödie daher eine Symbiose zwischen Empfindsamkeit und aristokratischen Normen und in der Heldin Silvia eine „aristokratische Empfindsame“, weil sich bei ihr das Ideal gegenseitiger Hingabe und tiefer Harmonie, wie es die „seconde preciosite“ unabhängig von der Ehe forderte, mit der Angst verbinde, eine solche Liebesverbindung nicht mit einem Ehemann erleben zu können. Vgl.: Werner Wolf: Ursprünge und Formen der Empfindsamkeit im französischen Drama des 18. Jahrhunderts, Frankfurt am Main u. a. 1984, S. 77–88. 52 Klaus Heitmann: Marivaux: Le jeu de l’amour et du hasard, in: Das französische Theater vom Barock bis zur Gegenwart, hg.v. Jürgen von Stackelberg, Düsseldorf 1968, Bd. 2, S. 34–54, hier S. 39.
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SILVIA: Que le ciel m’en préserve! Quand tu l’aurais, tu ne le saurais pas, et je ferais si bien, que je ne le saurais pas moi-même. Tenez, quelle idée il lui vient là! DORANTE: Il est donc bien vrai que tu ne me hais, ni ne m’aimes, ni ne m’aimeras? SILVIA: Sans difficulté. DORANTE: Sans difficulté! Qu’ai-je donc de si affreux? SILVIA: Rien, ce n’est pas là ce qui te nuit. DORANTE: Eh bien, chère Lisette, dis-le-moi cent fois, que tu ne m’aimeras point. SILVIA: Oh, je te l’ai assez dit, tâche de me croire.53
Obwohl Dorante ihr versichert, er wolle sie nicht in Liebesgefühle verstricken, und obwohl Silvia den Himmel darum bittet, ihr Herz nicht zu verlieren, wird ihr eben dies geschehen. Der Aufforderung des Dorante, ihr hundert Mal zu beteuern, dass sie ihn nicht liebe, kann sie eben deshalb nicht nachkommen. Diese psychologischen Vorgänge und Transformationen stehen im Zentrum der an sich sehr symmetrischen aufgebauten Komödie, in welcher schließlich die Liebe den Sieg davonträgt, was freilich niemanden mehr überrascht als die liebende Silvia selbst. Zugleich aber ist Silvia äußerst gewillt, dieses Liebes- und Versteckspiel für sich zu entscheiden, wenn sie etwa ihren Bruder Mario dazu bewegt, sich als ihr Liebhaber auszugeben und den Eifersüchtigen zu mimen, was bei Dorante sogar kurzfristig zur Resignation führt. Im Gegensatz zu Dorante, für den es als Mann weniger abschreckend und folgenschwer scheint, sich in eine Zofe zu verlieben, sucht Silvia aus Gründen des emotionalen Selbstschutzes sofort die Distanz, als ihr bewusst wird, dass sie einen Diener liebt: Woraufhin sich Dorante ihr zu erkennen gibt. Obwohl sie sich ihrer Sache nunmehr sicher ist, drängt sie dennoch auf eine letzte Bestätigung seines Gefühls für sie und nötigt dem noch immer ahnungslosen Dorante trotz des Standesunterschieds einen Heiratsantrag ab. Freilich macht sie sich damit auch umgekehrt abhängig, denn sie hat ihre Liebe nunmehr an seine Entscheidung gebunden, sie auch als Zofe zu heiraten. Anders als bei Silvia behauptet sich bei Dorante jedoch das liebende Ich gegenüber dem gesellschaftlichen Status, und er macht ihr einen Heiratsantrag – [ ... ] je t’adore, je te respecte; il n’est ni rang, ni naissance, ni fortune qui ne disparaisse devant une âme comme la tienne. J’aurais honte que mon orgueil tînt encore contre toi, et mon cceur et ma main t’appartiennent.54
–, woraufhin Silvia schließlich ihre Maske fallen lässt. Nimmt man den Titel ernst, dann sind die wahren Protagonisten von Marivaux’ Komödie nicht Dorante und Silvia, sondern die im Titel genannten transzendenten Gewalten, die mit den beiden Liebenden eine Art Marionettentheater spielen. Der Mensch denkt, doch der Zufall lenkt, denn er führt jene Störung der von Konventionen bestimmten Ordnung herbei, durch die Silvia und Dorante zur echten Freiheit ihrer Gefühle gelangen. Im Unterschied zu den bisherigen Komödien werden die Akteure der Liebesintrige also nun zu Spielbällen zweier überpersönlicher Mächte: Der Liebe und des 53 Marivaux: Les jeux de l’amour et du hasard, a.a.O., S. 28. 54 Ebd., S. 50.
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Zufalls. Sie spielen ein ähnlich intrigantes Spielchen, bei welchem das Herz als Organ der Liebe dem Zufall ein Stelldichein gibt: Das Jeu de l’amour et du hasard. Dennoch aber wäre es wohl überzogen, den Titel der Komödie im Sinne einer mittelalterlichen Moralität zu deuten, in welcher nicht Menschen, sondern Allegorien wie der Tod, also zu realen Wesenheiten hypostasierte abstrakte Begriffe interagierten. Zwar ist die spielerische Genese der Liebe bei Marivaux immer auch eine spielerische Genese des Zufalls, ist der Sieg der Liebe also zugleich der Sieg des Zufalls: Eben deshalb sprachen die Zeitgenossen auch von Marivaux’ „metaphysique du coeur“, was Lessing später in seiner Hamburgischen Dramaturgie mit der Formulierung einer „metaphysischen Zergliederung der Leidenschaften“55 umschrieb. Aber mit dem Begriff des Zufalls scheint hier eher die Tatsache markiert, dass ein nicht kalkulierbares, in den moralischen Gesetzmäßigkeiten der sentimental comedy nicht aufgehendes Prinzip ergänzt wird: Das unerwartete und insofern überraschende Liebesgefühl. Der Jeu de l’amour et du hasard führt also nunmehr ein spielerisches, sich dem Unwägbaren öffnendes Element ein, welches im erwähnten Begriff der marivaudage zu fassen ist, jenem Dialogstil, der auf der Grundlage einer ironisch geprägten Tändelei echte Liebesgefühle entstehen lässt.56
Die Verbürgerlichung der comédie larmoyante: Nivelle de La Chaussées Le préjugé à la mode (1734) Wir haben mit Marivaux und Destouches die Gründer der rührenden Komödie erarbeitet und kommen nun zum Werk Nivelle de La Chaussées, mit dem die Verbürgerlichung der comédie larmoyante einsetzt. Diese für die vorliegende Studie grundlegende These wollen wir im Folgenden anhand der 1735 in Paris uraufgeführten Komödie Le préjugé à la mode – übersetzt ins Deutsche mit Das modische Vorurteil – belegen. La Chaussée ist also nicht der Schöpfer der comédie larmoyante als solcher, wohl aber entwickelte er die bürgerlich-sentimentale Spielart dieser Komödienform, und zwar mit dem Argument, wahrer und moralischer als die Komödie des Destouches und Marivaux’ zu sein. Dieser Wahrheitsanspruch resultiert aus der (bürgerlichen) Widerlegung eines (aristokratischen) Vorurteils, in Le préjugé à la mode wendet sich La Chaussée also gegen die zu seiner Zeit in Adelskreisen übliche Auffassung, dass Ehe und Liebe zu trennen seien. Zugleich entlarvt er – hierin der sentimental comedy nachfolgend – die in aristokratischen Kreisen vorherrschende libertinistische Lebensanschauung, die er jedoch im Unterschied etwa zu Jeremy Collier nicht so sehr auf eine bestimmte Form der Unmoral, denn vielmehr auf Heuchelei dem sozialen Renommee zuliebe zurückführt. Diese Heuchelei kennzeichnet auch den Aristokraten d’Urval, dessen Beziehung zu seiner Frau in dieser Komödie insofern im Mittelpunkt steht, als sie einerseits 55 Lessing: Werke, Band 4, a.a.O., S. 312. 56 Frédéric Deloffre: Une préciosité nouvelle, Marivaux et le marivaudage. Étude de langue et de style. Société d’Édition les Belles Lettres, Paris 1955.
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die Haupthandlung bestimmt, und andererseits auch das Verhalten des mit den d’Urvals befreundeten Paares Sophie und Damon orientiert. Denn Sophies Weigerung, ihren Verlobten Damon zu heiraten, basiert wesentlich auf dem Umgang des mondänen d’Urval mit seiner Frau Constance, der seiner Gattin ganz im Sinne eines Aristokraten der Regence mit kalter Höflichkeit begegnet und sich nebenbei Mätressen hält, was seine ihn aufrichtig liebende Gattin natürlich über alle Maßen kränkt. Das Ziel dieser Komödie ist es freilich, dem Publikum das Unsinnige dieser aristokratischen Trennung von Liebe und Ehe zu verdeutlichen, indem d’Urval schließlich zu einer Bejahung der Ehe bekehrt wird, also zum wahren Eheglück zurückfindet. Zunächst aber kämpfen in ihm zwei Antagonismen miteinander: die Liebe zu seiner Frau und die Angst vor dem „Qu’en dira-t-on“, dem „Was die Leute sagen“. Er fürchtet jedoch nicht nur die spöttischen Kommentare der feinen Gesellschaft, sondern weiß zudem nicht, ob seine Frau seine Liebe erwidern wird, oder im Moment seines Ehebekenntnisses womöglich als Siegerin dasteht. Erst gegen Ende wird sich d’Urval von diesen Verhaltensweisen frei machen und sich ihr wieder neu nähern, zunächst aber verursacht sein ‚modisches Vorurteil‘ der Ehefeindschaft das traurige Schicksal seiner Gattin Constance d’Urval, die ihre Trauer über die Seitensprünge ihres Mannes nur mühsam hinter Sanftmut und Freundlichkeit zu verbergen vermag. Ihre Cousine Sophie zumindest durchschaut den unglücklichen Zustand der Ehe ihrer Freunde. Zwar versucht sie helfend einzugreifen, für sich selbst aber zieht sie daraus den Schluss, der Ehe zu entsagen, hat sie doch für sich erkannt, wie schwer Constance sowohl unter der Gesellschaft als auch vor allem unter den diversen Liebesabenteuern ihres Gatten leidet. Dies wiederum trägt natürlich auch zum Unmut von Sophies Verlobten Damon bei, der deshalb gegenüber d’Urval, aber auch gegenüber allen ähnlich denkenden Ehemännern eine harsche Kritik formuliert: Ce reproche convient à l’un tout comme à l’autre. Eh! pourquoi voulons- nous qu’il soit soumis au nôtre? Mais le traitons-nous mieux , quand nous l’avons séduit? Notte empire commence où le sien est détruit. Nous plaindrons-nous toujours, injustes que nous sommes, De ce sexe qui n’a que le défaut des homes? Quel ridicule orgueil nous fait mésestimer Ce que nous ne pouvons nous empêcher d’aimer!57
Diese aufrichtigen, überzeugenden Worte Damons beseitigen alle Bedenken d’Urvals, denn nun will auch er endlich um die Liebe der Constance werben. Im selben Augenblick erscheinen jedoch seine vermeintlichen ‚Freunde‘ Damis und Clitandre, mit deren Ankunft d’Urvals guten Vorsätze wieder dahin sind. Er verliert den Mut, ihren unverschämten Äußerungen entgegenzutreten, wenngleich er sich zunächst von deren für die Aristokraten der Regence sehr typischen Ansichten 57 Pierre Claude Nivelle de La Chaussée: Oeuvres Band 1: La fausse antipathie; Le préjugé à la mode; L’école des amis, Paris 1778, S. 177.
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zu distanzieren schien. Zu allem Überfluss muss er nun sogar mit ansehen, wie die beiden ‚Freunde‘ seiner Gattin unverhohlen den Hof machen, was jedoch dazu beiträgt, dass erstmals auch in ihm ein bisher unbekanntes Gefühl erwacht: Die Eifersucht. Das Auftreten der beiden geckenhaften Marquis und ihre Intrigen implizieren also eine Art Demaskierung des nun doch liebenden und eifersüchtigen Gatten. Zugleich entwickelt sich auch bei La Chaussée eine für die Gattung typische Szene der Beschämung, die letztlich jedoch zur inneren Befreiung d’Urvals beiträgt. Denn als d’Urval seiner Gattin in der Maske Damons gegenübertritt, gesteht ihm Constance, die den Freund vor sich zu haben glaubt, das ganze leidvolle Martyrium ihrer Ehe, in welcher ihr Gatte ihre Liebe missachtet und ihr keine Schande ersparte. Allerdings trägt sie ähnlich wie Cibbers Lady Easy dies nicht in Form einer Anklage vor, vielmehr zeugen ihre Worte von einer unendlichen und selbstlosen Liebe. Darin liegt auch bei La Chaussée der Moment der Konversion, wenn d’Urval in einer Mischung aus schlechtem Gewissen und emotionaler Erleichterung seiner Gattin zu Füßen sinkt und um Verzeihung bittet. Natürlich vergibt ihm die Constance, und erst jetzt, nachdem er sich endlich von seinen Vorurteilen befreit hat, empfindet er jenes Eheglück, dass er im Grunde schon immer ersehnt hat: Non, il n’est point d’état plus heureux dans la vie, Pour ceux que la raison et l’amour ont unis. L’hymen seul peut donner des plaisirs infinis; On en jouit sans peine et sans inquietude: On se fait l’un pour l’autre une heureuse habitude D’égards, de complaisance, et.des soins les plus doux. S’il est un sort heureux, c’est celui d’un époux Qui rencontre à la fois dans l’objet qui l’enchante Une épouse chérie , une amie , une amante. Quel moyen de n’y pas fixer tous ses désirs! Il trouve son devoir dans le sein des plaisirs.58
Diese Liebesgeschichte ist quasi die Negativfolie jener zweiten schon erwähnten Liebesgeschichte zwischen Damon und Sophie. Denn in einer solchen Gesellschaft, in der eheliche Liebe zur Lächerlichkeit wird und Ehegatten sich schämen, als glückliches Paar aufzutreten, zieht Sophie es vor, unverheiratet zu bleiben. Dem Drängen ihres Verlobten Damon begegnet sie daher mit dem Einwand, dass sie nur dann zu einer Sinnesänderung zu bewegen sei, wenn das unmoralische Verhalten d’Urvals gegenüber seiner Frau von Grund auf anders werde. Damon versucht, den Sinn seines Freundes zu erforschen und entdeckt dabei, dass d’Urval sich wohl von neuem zu seiner Frau hingezogen fühlt, aber nicht wagt, ihr dies deutlich zu verstehen zu geben, und noch viel weniger, es seine Umgebung merken zu lassen. D’Urval ist also der unglückliche und zugleich komische Gefangene seines gesellschaftlichen Vorurteils, der jedoch letztlich geheilt werden kann, weshalb schließlich auch 58 Ebd., S. 182.
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Sophie angesichts des wiederhergestellten Ehefriedens ihrem Damon die Heirat verspricht. Dem charakterschwachen d’Urval, der nicht den Mut hat, den Vorurteilen seiner Zeit entgegenzutreten, steht als Gattin eine Frauenfigur gegenüber, die diese comédie larmoyante zweifellos der sentimental comedy entlehnt hat. Constance ist eine idealisierte Mischung aus Mutter, Gattin und Geliebte, deren demütig sich hingebende Frauenliebe die Grundlage jener uns schon mehrfach begegnenden Liebesdidaktik der Beschämung ist. Diese therapiert bei Le Chaussée eine zeittypische Lieblosigkeit des aristokratischen Gatten, dessen unwürdiges Verhalten die Gattin zwar zutiefst verletzt, die sie jedoch mit wahrer Engelsgeduld erträgt. Dabei ist auffallend, dass Constance niemandem aus ihrer Umwelt von jenem Schmerz erzählt, den dieses Martyrium einer Ehe darstellt. Vielmehr beteuert sie stets ihr Eheglück und hält sich an ihre Verpflichtung, nicht zu klagen und keinem ihren Kummer zu zeigen, nicht einmal ihrem Gatten. Aus eben dieser zutiefst selbstlosen, fast demütig sich hingebenden Liebe entwickelt sich also die Grundlage einer am Ende belohnten Tugend. Erst als die Umstände sie dazu zwingen, gesteht sie jene Qualen, die sie während dieser Ehe zu ertragen hatte: Ohne freilich in Anklage zu verfallen. Im Sinne dieser innigen und selbstlosen Liebe wird die Tugend belohnt, nicht jedoch das Laster bestraft, sondern von seinen Vorurteilen befreit und somit ebenfalls ins innereheliche Glück überführt: Me verrai je toujours dans l’embarras cruel D’affecter un bonheur qui n’a rien de réel Oui, je dois m’imposer cette loi rigoureuse Le devoir d’une épouse est de paraître heureuse. L’éclat ne servirait encor qu’à me trahir D’un ingrat qui m’est cher je me ferais haïr: Du moins, n’ajoutons pas ce supplice à ma peine; Son inconstance est moins affreuse que sa haine.59
„O mère la plus tendre et la plus adorable!“ La Chaussées Mélanide (1741) Damit man mir aber nicht ein Unding zu bestreiten, Schuld geben könne, so muß ich hier die Maximen eines Apologisten der ‚Mélanide‘, dieser mit Recht so berühmten Komödie, von welcher ich noch oft in der Folge zu reden Gelegenheit finden werde, einrücken. ‚Warum wollte man, sagt er, einem Verfasser verwehren, in eben demselben Werke das Feinste, was das Lustspiel hat, mit dem Rührendsten, was das Trauerspiel darbieten kann, zu verbinden. Es tadle diese Vermischung wer da will; ich, für mein Teil, bin sehr wohl damit zufrieden. Die Veränderungen sogar in den Ergötzungen lieben, ist der Geschmack der Natur – – – Man geht von einem Vergnügen zu dem andern über; bald lacht man, und bald weinet man. Diese Gattung von Schau-
59 Ebd., S. 152.
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spielen, wenn man will, ist neu; allein sie hat den Beifall der Vernunft und der Natur, das Ansehen des schönen Geschlechts und die Zufriedenheit des Publikums für sich.‘ Von dieser Art sind die gefährlichen Maximen, gegen die ich mich zu setzen wage; denn man merke wohl, daß ich von einer aufrichtigen Bewunderung des Genies der Verfasser durchdrungen bin, und niemals etwas anders als den Geschmack ihrer Werke, oder vielmehr das weinerlich Komische überhaupt genommen, angreife.60
Mit diesen Argumenten richtet sich Pierre Matthieu de Chassirons Abhandlung über das Weinerlich-Komische gegen die Mélanide La Chaussées. Die Lettres sur Mélanide, 1741 in Paris verfasst, nahmen die von La Chaussée entwickelte neue Gattung in Schutz, während Chassiron in seinen Reflexions sur le Comique-larmoyant sich gegen sie erklärt. Worin aber liegt das Weinerlich-Komische? Mit Blick auf das Lustspiel Mélanide ist diese Frage recht schnell zu beantworten: Weinnerliche bzw. rührende Momente liegen in dieser Tragödie im Moment des Wiedersehens bzw. Wiedererkennens zweier lange getrennter Ehepartner. Diese beiden Partner sind die Titelheldin Mélanide und der Graf d’Orvigny, mit dem sie verheiratet war, obwohl Mélanides Eltern in unerbittlicher Härte eine Heirat ihrer Tochter mit dem Marquis d’Orvigny verboten hatten. Dennoch hatte sich Mélanide dem Geliebten freiwillig hingegeben: „Je ne pus resister au penchant le plus doux./ Sur la fois des sermens … nous devînmes époux.“61 Aus dieser heimlichen Liebe ging der gemeinsame Sohn d’Arviane hervor, dennoch aber haben Mélanides Eltern diese Ehe annuliert und die junge Mélanide in die Bretagne verbannt. Dort lebt sie lange Zeit in tiefster Zurückgezogenheit, ohne Kontakt zu ihrem früheren Gatten und ganz fokussiert auf die Erziehung ihres Sohnes d’Arviane. Um d’Arviane jedoch nicht als ein dem Gesetz nach außereheliches Kind ausgeben zu müssen, erzählt sie ihrem Sohn, er sei eine elternlose Waise und sie, Mélanide, seine Tante. Nach 17 langen Jahren der Trennung tritt nun ihr inzwischen volljähriger Sohn d’Arviane in den Kriegsdienst ein, weshalb Mélanide nach Paris zu ihrer Freundin Dorisée zieht, um dort ein altes Vermögen zu retten und evtl. auch dem geliebten Gatten wieder zu begegnen. Tatsächlich lebt auch d’Orvigny in Paris und verkehrt gar in Dorisée’s Familie, allerdings trägt er nun den Namen d’Ormancy. Die beiden Ehepartner ahnen also nichts voneinander, da Mélanide überhaupt nicht an die Öffentlichkeit tritt und sich zudem niemandem anvertraut hat. Zudem wirbt d’Orvigny bzw. d’Ormancy um Dorisées schöne Tochter Rosalie. Als nun Mélanides vermeintlicher Neffe – also Sohn – d’Arviane während eines Fronturlaubs in Paris seine vermeintliche Tante – also Mutter – besucht, verstricken sich die Bezüge, denn er verliebt sich ebenfalls in diese Rosalie, so dass nun Vater und Sohn als einander unbekannte Nebenbuhler miteinander konkurrieren. Dies ist die in diesem rührenden Lustspiel erst im vierten Akt vollkommen aufgeklärte Vorgeschichte. Das Stück beginnt mit einem Gespräch zwischen Mélanide und Dorisée, die d’Ormancy wegen seines Reichtums in der Bewerbung um Rosa60 Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 4, München 1970 ff., S. 16–37, hier S. 19. 61 Pierre Claude Nivelle de La Chaussée: Mélanide, comédie en cinq actes et en vers, Paris 1772, S. 20.
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lie den Vorzug gibt, sich jedoch bei Mélanide wegen der Zurücksetzung ihres Neffen entschuldigt. Mélanide jedoch, bei weitem autoritätsglaubiger als ihr Sohn/ Neffe, akzeptiert sofort die Argumente der Freundin und verbietet ihrem Sohn/ Neffen ausdrücklich den Kontakt zu Rosalie. D’Arviane solle also trotz der Verlängerung seines Urlaubs Paris sofort verlassen und unverzüglich zu seiner Garnison zurückkehren, so die Forderung der Mélanide. Denn Mélanide ist eine strenge, wenn auch gütige Erzieherin, die ihren Sohn zur Pflichterfüllung, vor allem aber zur Mässigung seines häufig sehr aufbrausenden Naturells gemahnt. Und doch ist dieses Pflichtgefühl der Mélanide ambivalent, denn obwohl sie damit eigentlich nur dem Wunsch der Dorisée nachkommt, im Marquis d’Orvigny eine möglichst vorteilhafte Partie für deren Tochter zu gewinnen, fördert sie nichtahnend auch die Ziele ihres ehemaligen Gatten. Dieser scheint jedoch im Ringen um Rosalie im Nachteil zu sein, denn in einem langen Gespräch zwischen d’Arviane und Rosalie rät diese ihm zwar ebenfalls zur Abreise, lässt aber zugleich ihre Liebe für ihn durchblicken und bestärkt d’Arviane so in dessen von Liebe und Eifersucht getragenem Entschluss, zu bleiben. D’Arviane, ein äußerst ungestümer und rebellischer Charakter, weigert sich also im Unterschied zu seiner vermeintlichen Tante Mélanide, die gegebenen Hierarchien und Gesetzmäßigkeiten einer Konvenienzehe anzuerkennen: Lordre est trop inhumain. C’ est une cruaute qui n’eut jamais d’egale; Et l’on ne permer pas que mon depit s’exhale. Il faut paisiblement digérer ce poison? Non, malgre ma douceur, j’enrage et j’ai raison.62
Als nun im zweiten Akt der Marquis d’Ormancy erstmals auftritt, schwärmt er gegenüber seinem Vertrauten Theodon von seiner großen Jugendliebe und Exfrau Mélanide: Seit dem durch die Hartherzigkeit des Vaters veranlassten Bruch dieser heimlichen Ehe habe er jeder Liebe entsagt. Er hat sie lange gesucht, ihr lange die Treue bewahrt, er hat sie als Tote betrauert; aber nun – im Augenblick eines möglichen Wiedersehens – wird er durch Theodon, den Schwager von Rosalies Mutter Dorisées, auf Rosalie aufmerksam. Und obwohl der Marquis selbst diese Liebe zu einem jungen Mädchen für unangemessen hält – „J’ai trahi mes serments, j’ai vaincu mes scrupules;/Et c’est pour me couvrir des plus grands ridicules“63 –, sucht er die Unterstützung des Theodon. Dieser trifft nun jedoch Mélanide und erfährt von ihr die Geschichte ihres Lebens, weshalb er weiß, dass jener d’Orvigny ihr Gatte, also der Marquis d’Ormancy ist. Auf Theodons Veranlassung beobachtet nun Mélanide die Gäste ihrer Freundin und erkennt unter denselben auch tatsächlich ihren Ex-Mann. Zu ihrem tiefsten Schmerz muss sie jedoch zugleich von ihrer Freundin Dorisée erfahren, dass ihr ehemaliger Gatte soeben um Rosalies Hand angehalten habe, und dieser nur die Wahl zwischen ihm und dem Kloster bleibt. 62 Ebd., S. 9. 63 Ebd., S. 16.
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Diese Rosalie ist ein regelrechtes Muster der Tugend, eine wohlerzogene und sittsame Jungfrau, die über ihre eigene Liebe und Neigung als höchste Macht das Gebot ihrer Mutter stellt. Um jedoch einer verhassten Ehe mit dem Marquis d’Ormancy zu entgehen, wählt sie das Kloster – obwohl sie d’Arviane liebt. Und doch verbirgt sie ihre Liebe, um d’Arvianes Schmerz durch das Bewusstsein, wieder geliebt zu werden, nicht zu vermehren. Denn sie glaubt, er werde noch unglücklicher sein, wenn er sich von ihrer Liebe überzeuge. Erst ganz am Ende wird ihr diese Entsagung durch die Liebe d’Arvianes entlohnt, zunächst stellt sie sich ihm gegenüber gleichgültig und desinteressiert. Vor diesem Hintergrund bemüht sich nun Onkel Theodon, der bislang Ormancy’s Hoffnung und Liebe zur Rosalie genährt hatte, um eine Versöhnung der beiden Liebenden. Und um die drohende Ehe zwischen d’Ormancys und Rosalie zu verhindern, erwirkt er durch eine seiner Nichte in Aussicht gestellte reiche Mitgift die Zustimmung Dorisées zur Vermählung Rosalies und d’Arvianes. Zudem versucht er den unabsichtlich von ihm erweiterten Riss zwischen den ehemaligen Ehepartnern zu heilen, also d’Ormancy und Mélanide wieder zusammenzuführen. Allerdings versichert ihm der Marquis sogleich, dass er diese vergessene Frau nicht mehr liebe, obwohl er sich bemühen werde, zum Wohle aller zu handeln, um so der Tugend den Sieg über die Leidenschaften zu sichern. Zudem muss Theodon nun von d’Arviane hören, dass dessen Tante/Mutter Mélanide ihm die Verbindung mit Rosalie untersagte, ohne ihm dies genauer zu begründen. Nur die Zuschauer wissen, dass Mélanide dies tat, um ihrer Freundin d’Arviane’s wirkliche Herkunft nicht enthüllen zu müssen. Erst im vierten Akt erklärt Mélanide dem aufrichtigen Theodon, dass sie ihre Zustimmung versagte, um d’Arvinian nicht als ein dem Gesetz nach außereheliches Kind ausgeben zu müssen. In diesem Moment treffen sich jedoch die beiden Nebenbuhler, Vater und Sohn, in Dorisée’s Haus und geraten in Streit. Um das Schlimmste abzuwenden, gibt sich Mélanide nun auch gegenüber d’Arvinian als Mutter zu erkennen. Freilich ist die Ehe Rosalies mit d’Ormancy bzw. d’Orvigny faktisch schon dadurch verhindert, weil Rosalie nicht mehr an das Geheiß ihrer Mutter gebunden ist, also dem geliebten d’Arvinian den Vorzug geben kann und wird. Vor diesem Hintergrund versucht Théodon auf die geschiedenen Gatten einzuwirken, indem er den Marquis auf die anwesende Ex-Gattin verweist, Mélanide aber bittet, sich d’Orvigny mit ihrem Sohne zu Füssen zu werfen, um im VaterSohn-Konflikt das Schlimmste zu verhüten. Dabei vernimmt Mélanide mit Schrecken, dass d’Arvinian den Marquis absichtlich beleidigt hat und so die Möglichkeit, wenn nicht Notwendigkeit eines Duells herbeiführte. Denn d’Arvinian kennt seinen Vater ja noch nicht, auch wenn er bereits ahnt, dass der Marquis derjenige war, der Mélanide einst verlassen hatte. Ihm zeigt dies freilich nur, dass der Marquis trotz dieser Wiederbegegnung Mélanide und ihn der Schande preisgibt. Im Moment dieser äußersten Verhärtung der Fronten kann Théodon eine Eskalation nur dadurch verhindern, indem er Orvigny’s Rachegedanken entkräftet, ihm also im Nebenbuhler den eigenen Sohn erkennen lässt. Und nun erreicht diese comédie larmoyante ihren durchaus beispiellosen Höhepunkt, nämlich eine dreifache Wiedererkennung: Zwischen Mutter und Sohn,
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zwischen Vater und Sohn und zwischen Gattin und Gatten. Dabei ist die VaterSohn-Szene besonders hervorgehoben und dem Pathos der Tragödie dadurch angenähert, insofern ein Eifersuchtsduell zwischen den beiden Bewerbern um Rosalie droht. Als d’Arvinian dem Vater voll Ehrfurcht, aber auch mit der Bitte gegenübertritt, er möge ihn niederstoßen, da er ihm die Geliebte geraubt hat, gibt d’Orvigny sich pathetisch dem Sohn als Vater zu erkennen. Im gleichen Moment stürzt Mélanide herbei, entsagt in rührendem Schmerze ihrer Liebe zu d’Orvigny und will nur den Sohn anerkannt wissen. Als Mutter und Sohn sich d’Orvigny schließlich tatsächlich zu Füssen werfen, ruft dieser aus: „Mon coeur et mon amour vont se renouveller!“64, und nimmt sie mit offenen Armen auf. Als reuiger und für die zurückgewonnene Tugend belohnter Gatte und Vater formuliert er im Schlusswort des dramatischen Lustspiels die Moral der Geschichte: „O Ciel! tu me fais voir, en comblant tous mes vœux,/Que le devoir n’est fait que pour nous rendre heureux.“65 In der Forschung geht man immer davon aus, die Mélanide sei das Rührstück par excellence: Während man schon in den früheren Stücken la Chaussées die Tendenz erkennt, das komische Element zu verdrängen, findet sich hier weder in den Charakteren noch in den Situationen eine Spur von Komik. Selbst die Sprache nähert sich besonders da, wo Mélanide ihren traurigen Empfindungen Ausdruck verleiht, der Tragödie an. Zwar ist die glückliche Auflösung dieser Komödie stets zu erahnen. Aber La Chaussée hat bis zum Ende jene Konfrontation ausgereizt, die sich zwischen d’Arviane und dessen Vater ergeben hat, und die von kalter Höflichkeit bis hin zu jener nahezu gewaltsamen Beleidigung und Provokation reicht. Und auch in jenem Moment, in welchem sich der Vater dem Sohn zu erkennen gibt, fallen sich die beiden keineswegs schluchzend in die Arme, wie Maurice Descotes mit Recht betonte.66 Es dominiert die Skizze eines Aristokraten, der Marquis fühlt nichts; er versucht auch nicht, sich durch Ausflüchte aus dieser peinlichen Situation zu bringen, um so die Freundschaft zu erhalten. Vielmehr muss d’Arviane ihn unter Androhung von Gewalt zur Kapitulation zwingen. Hinter einer äußerst zärtlichen Mutter-Sohn-Beziehung liegen also als Folie diese äußerst verhärteten, weil politisch überhöhten Fronten von aristokratischem Vater und rebellischem Sohn, die an Schillers Kabale und Liebe denken lässt. Aber es geht dabei auch um Spannungsbögen, die La Chaussée wie kein zweiter ausreizt. Die beiden zentralen Szenen dieses unlustigen Lustspiels – d’Arvianes Entdeckung seiner Mutter bzw. seines Vaters – verdeutlichen dies. Der Ton d’Arvianes gegenüber seiner Mutter ist freilich ein anderer denn derjenige gegenüber seinem Vater, dem Nebenbuhler. La Chaussées entscheidende Technik jedoch ist es, das Publikum möglichst lange gebannt zu halten. Die erste Einsicht in die eigene Herkunft ist in der fünften Szene im vierten Akt angesiedelt. Mélanide weiß, dass d’Arviane ein Duell mit dem Marquis provozierte, da dieser nun damit droht, den eigenen Vater zu töten. Das Publikum weiß natürlich längst, dass Mélanide ihrem 64 Ebd., S. 52. 65 Ebd., S. 56. 66 Maurice Descotes: Le Public de théatre et son histoire, Paris 1964, S. 173–207.
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Sohn nun offenbaren muss, dass sie seine Mutter ist. Anders als bei Marivaux liegt die Kunst La Chaussées jedoch in der Verzögerung, im Auskosten eines dem Publikum längst ersichtlichen Zusammenhangs. Versucht Mélanide ihren Sohn d’Arviane zunächst nur zu stoppen, ohne ihm seine Ursprünge zu erklären, so ist sie in einem zweiten Schritt dazu gezwungen, ihm zu gestehen, dass er keine Waise ist. Und erst in einem dritten Schritt bekennt sie gegenüber d’Arviane, dass sie seine Mutter ist. Wie sehr sie an ihrem Sohn hängt, zeigt sich in diesem Moment, der ganz von der angstvollen Sorge der Mutter bei diesem Geständnis geprägt ist: Wird all die Liebe, die sie ihrem Sohn trotz dieser Verleumdung stets entgegengebrachte, nun zerstört? Wird d’Arvinian ihr glücklich in die Arme sinken, oder wird er sich verächtlich von ihr abwenden? Und wir begreifen die tiefe Freude der Mutter beim Ausruf ihres Sohnes, der ihr in diesem Moment keine Vorwürfe macht, sondern sie im Gegenteil als zärtlichste aller Mütter tituliert: MÉLANIDE: Votre mere se rend; vous l’emportez sur elle... Ah, mon fils! D’ARVIANE: Quoi, c’est vous? mon edeur est fatisfait. Le ciel a fait pour moi le choix que j’aurais fait. MÉLANIDE: - - Hélas! votre destin n’est pas moins déplorable. D’ARVIANE: O mère la plus tendre et la plus adorable!67
Die Rezeption der comédie larmoyante in Deutschland Wir hatten schon mehrfach betont, dass die Rezeption der comédie larmoyante ihren argumentativen Höhepunkt erst mit der von Chassiron ausgehenden Kontroverse um La Chaussées Mélanide erreicht. Nun erahnen wir zudem, warum dies so gewesen ist, denn mit La Chaussée beginnt nicht nur die Verbürgerlichung der tendresse, sondern zudem deren Verlagerung von einer zwischengeschlechtlichen auf eine innerfamiliäre Ebene, wenn wir an die zärtliche Beziehung zwischen Mutter Mélanide und Sohn d’Arviane denken. Rein chronologisch gesehen beginnt die Rezeption der comédie larmoyante in Deutschland jedoch mit den Komödien des Destouches: Von den drei von Louise Gottsched übersetzten Lustspielen des Destouches erschien 1741 im 2. Band der Deutschen Schaubühne die Komödie Das Gespenst mit der Trommel, oder der wahrsagende Ehemann nach Destouches’ Le Tambour nocturne von 1736.68 Dies gibt ausreichend Anlass zu der Vermutung, dass auch die Zärtlichkeitsmotivik der Komödie zunächst am Beispiel des Destouches, nicht am Beispiel La Chaussées wahrgenommen wurde, der ja erst 15 Jahre später
67 La Chaussée: Mélanide, a.a.O., S. 48. 68 Neben Das Gespenst mit der Trommel, oder der wahrsagende Ehemann (1741) nach Destouches’ Le Tambour nocturne (1736) übersetzte die Gottschedin zudem: Der Verschwender, oder die ehrliche Betrügerin (1741) nach Destouches’ Le Dissipateur (1736); sowie Der poetische Dorfjunker (1741) nach Destouches’ La Fausse Agnes (1736).
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durch Gellerts Anhandlung über die rührende Komödie in den Blick geriet.69 Aber auch die später für Gellert und Lessing so wichtige Unterscheidung zwischen alter und neuer Komödie ging auf die Deutsche Schaubühne Gottscheds zurück, und zwar auf den sechsten Band, der 1745 in Leipzig erschien. Dies zeigt das Vorwort Gottscheds, welches wohl erstmals die Vorzeichen einer neuen Komödienform registrierte. Der Tenor des Vorworts ist durchaus provokant, denn er richtet sich vehement gegen die Komödie Molières, welcher aufgrund ihrer niederen Herkunft die Feinheit der Komödie des Destouches abgehe. Nach Gottsched sei das Lustspiel Destouches’ also „dem Molière weit vorzuziehen“, weil „Destouches eben so lange an dem englischen Hofe mit lauter vornehmen Leuten umgegangen war, als Molière mit einer Bande gemeiner Comödianten in ganz Frankreich herum gezogen war.“70 Mehr noch: Wer die Lebensart eines höheren Standes als der Bürgerliche ist, nicht kennen gelernet, und keine andre Sitten gesehen, als die auf Schulen und Universitäten im Schwange gehen, der wird sich vergebens bemühen, die feine Art des Umganges und Scherzes zu erreichen, die im Destouches herrschet.71
Wie sehr Gottsched die Differenz des neuen Komödienstils des Destouches gegenüber demjenigen Molières hervorhob, geht auch aus einer Bemerkung in seiner Einführung zu der Komödie Die ungleiche Heirat der Gottschedin hervor, in welcher es heißt: „Sie hat sich darinn mehr die edle Art der Lustspiele des Herrn Destouches, als die niedrigen molierischen Comödien zum Muster genommen.“72 Zwar ist zugleich zu bemerken, dass sich die Deutsche Schaubühne keineswegs als Sprachrohr dieser Komödienform des Destouches verstand, da neben diesen ersten rührenden Lustspielen von der Gottschedin für die Deutsche Schaubühne auch klassische Komödien übersetzt wurden: Neben Molières Misanthrope auch Dufresnys L’esprit de contradiction. Dennoch aber ist ein kontinuierliches Interesse der Gottschedin am neuen Genre des rührenden Lustspiels unverkennbar, denn sie übersetzte zehn Jahre nach ihren Übertragungen des Destouches, also 1751, auch Madame Graffignys Cenie, die Lessing schon zwei Jahre nach dieser Übersetzung als „Meisterstück in dem Geschmacke der weinerlichen Lustspiele“73 lobte. Insofern sind die Übersetzungen der Gottschedin der erste und wichtige Impuls für die Rezeption des rührenden Lustspiels: Erst vier Jahre nach ihren ersten Übersetzungen, also 1745, erschien zunächst anonym die von Johann Elias Schlegel angefertigte Übersetzung von Destouches’ Glorieux unter dem Titel Der Ruhmredige. Etwas anders sieht es dagegen mit Blick auf Marivaux aus, was sich wohl durch Marivaux’ Reetablierung des von Gottsched bekanntlich von der Bühne verdamm69 1748 erschien nach dem Vorbild der Gottschedschen Schaubühne in Die Schöhnemannsche Schaubühne dann u.a. die Übersetzung von Destouches’ Le Philosophe marié (1727) unter dem Titel Der verehlichte Philosoph. 70 Johann Christoph Gottsched: Die deutsche Schaubühne, Bd. 6, a.a.O., Vorrede. 71 Ebd. 72 Gottsched: Die deutsche Schaubühne, Bd. 4, a.a.O., S. 10. 73 Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. II, S. 503.
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ten Arlequin im Lustspiel Le jeu de l’amour er du hazard erklärt. 1747 erschien die erste der zweibändigen Sammlung einiger Lustspiele des Marivaux in der Übersetzung von Johann Christian Krüger74, der im Vorwort dieser Übersetzung zugleich den engen Bezug Marivaux’ zur comédie dell’arte hervorhob und im zeitgenössischen Disput um die Verwendung des Harlequin eine Gegenposition zu Gottsched einnahm, also die Verwendung dieser Figur grundsätzlich verteidigte. Auffallend dabei ist, dass Krüger in seiner Verteidigung die derbkomische Variante des Arlequin, welche dem „verderbte[n] Geschmacke der Italiänischen Bühne“75 zurückzuführen sei, ablehnt, den von Marivaux inszenierten Arlequin also insbesondere deshalb gegen Gottsched verteidigt, weil in dessen Komödie „das menschliche Herz durch Ausschweifungen am meisten gerühret“76 werde. Marivaux ist also zu loben – und zu übersetzen –, weil dieser „sich die bezaubernde Masque des Arlequins zu Nutze zu machen, dem Ungeheuer Natur und gute Eigenschaften zu geben“77 wusste, um so „das menschliche Herz gleichsam zu betrügen“, also „durch die äußerliche Ausschweifung [anzulocken], und durch die innerliche Natur und Wahrheit [zu beschämen] und zu edlen Trieben [anzureizen].“78 Freilich geht Krüger noch nicht von einem einheitlichen Genre des rührenden Lustspiels aus, wie sein Vergleich von Destouches und Marivaux verdeutlicht: „Ich werde freylich“, so heißt es im Vorwort zu den Übersetzungen, „den Destouches nicht das geringste weniger verehren, weil er in seinen entzückenden Lustspielen keinen Arlequin reden läßt; ich werde mich aber auch nicht entschließen können, ihm den Marivaux darum nachzusetzen, weil er die äußerliche Form seiner meisten Lustspiele nach dem Geschmacke der Italiänischen Bühne in Paris eingerichtet hat.“79 Vor dem Hintergrund dieser Übersetzungen müssen jene Debatten um das neue Genre gelesen werden, wie sie im Rahmen der von Johann Andreas Cramer und Carl Christian Gärtner begründeten, in Bremen 1744–1748 erschienenen Zeitschrift Neue Beyträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes, die Bremer Beiträge entstanden, die sich ja gegen die von Gottsched beeinflußten Belustigungen des Verstandes und Witzes richteten. Zu ihren Autoren gehörten neben den Gründern Cramer und Gärtner auch Schriftsteller wie Schlegel und Gellert, die sich bekannt74 Jeder Band enthält sechs von Krüger übersetzte Lustspiele Marivaux’, und zwar der erste: Das Spiel der Liebe und des Zufalls (Le Jeu de Vainour et du hazard), Der Betrug der Liebe (La Surprise de l’amour), Der andere Betrug der Liebe (La seconde surprise de l’amour), Der durch die Liebe gewitzigte Arlequin (Ärlequin poli par l’amour), Die Sklaveninsel (L’Isle de Esclaves), und Der Bauer mit der Erbschaft (L’Heritier de village); und im zweiten Band: Die beyderseitige Unbeständigkeit (L’inconstance mutuelle), Das falsche Kammermädchen, oder der gestrafte Betrüger (La fausse suivante ou le faiirhe puni), Der bekehrte Petitmaitre (Le Petitmaitre corrige), Die Insel der Vernunft oder die kleinen Leute (L’Isle de la raison, ou les petits hommes), Der unvermuthete Ausgang (Le Denouement imprevu), und Die Wiedervereinigung der Liebesgötter (La Reunion des amours). 75 Johann Christian Krüger: Werke: kritische Gesamtausgabe, hg. v. David Gethin John, Tübingen 1986, S. 521. 76 Ebd. 77 Ebd., S. 522. 78 Ebd. 79 Ebd., S. 523.
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lich um die Adaption der neuen Komödienform verdient gemacht hatten. Dass zudem das Zärtlichkeitsmotiv in dieser Zeitschrift ein Thema ist, verdeutlicht das erste Dokument bzgl. dieser Thematik, das von Nicolaus Dietrich Giseke verfasste Schreiben über die Zärtlichkeit in der Freundschaft an Herrn L**, welches 1746 im vierten Band der Beyträge erschien.80 Zudem erschienen in dieser Zeitschrift die ersten rührenden Lustspiele deutscher Sprache, nämlich Gellerts rührende Komödien Die Betschwester und Das Loos in der Lotterie. Steffen Martus hat in seiner Arbeit zu Hagedorn genauer dargelegt, wie diese Vermittlungsprozesse gewesen sind. Demnach bemerkte Bodmer 1747, dass Friedrich von Hagedorn als erster in Hamburg „Zärtlichkeit“, „Witz“ und „schlaue[n] Scherz“ eingeführt habe: „Bei ihrer Ankunft floh der falschen Frommen Schein“.81 Dieser Einschätzung Bodmers entspricht die Tatsache, dass es die Initiative Hagedorns gewesen ist, die zur Rezeption der comédie larmoyante im Rahmen der Bremer Beiträge führte. In einem Brief an Giseke vom 29. April 1745 verwies Hagedorn erstmals auf die einschlägigen Dramen dieses neuen Genres und macht Giseke den Vorschlag, neben Steeles The conscious Lovers auch Philippe Néricault Destouches Les philosophes amoureux von 1730, wahrscheinlich auch dessen Lustspiel Le philosophe marié ou le mari honteux de l’etre von 1732, Marivaux’ L’isle des esclaves von 1732, sowie La Chaussées rührendes Lustspiel Mélanide übersetzen zu lassen: Also sämtliche Klassiker dieses neuen Genres.82 Eben diesen Anregungen, die erkennbar programmatischer sind als die Arbeiten der Gottschedin, scheint Johann Elias Schlegel noch im gleichen Jahr gefolgt zu sein, wenn er 1745 Destouches’ Le Glorieux übersetzte. Die Diskussion um ein einheitliches Genre namens rührendes Lustspiel fand jedoch erst vor dem Hintergrund der Kritik des Franzosen Pierre Mathieu Martin de Chassiron statt, wenngleich die Rezeptions- und Adaptionsprozesse schon vorher zu beobachten sind, denn 1747 verfasste Gellert mit seinem Lustspiel Die zärtlichen Schwestern bekanntlich das erste rührende Lustspiel in deutscher Sprache. Zudem reklamierten Johann Adolf Schlegel sowie sein Bruder Johann Elias Schlegel ebenfalls 1747 erstmals eine neue französische Komödienform. In seinen Gedanken zur Aufnahme des dänischen Theaters von 1747 verwies Johann Elias Schlegel auf die Komödien La Chaussées und Destouches und bezeichnete die Gouvernante La Chaussées als Beispiel eines Theaterstücks, in welchem „Handlungen niedriger Personen […] die Leidenschaften erwecken“. Schlegel betonte in dieser Schrift zwar mehrfach den zärtlich-empfindsamen Charakter der „Franzosen“, „sprach jedoch diesbezüglich weder von einem rührenden Lustspiel noch von einem bürgerlichen Trauerspiel. Allerdings rechnete er den Ehrgeizigen und Die Unbedachtsame des Destouches zu jenen Theaterstücken, in denen „Handlungen ho80 Vgl.: Anonymus: Schreiben über die Zärtlichkeit in der Freundschaft an Herrn L**, in: Neue Beyträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes, 3. Bd., 4. St., Bremen und Leipzig 1746, 243 bis 255. 81 Steffen Martus: Friedrich von Hagedorn – Konstellationen der Aufklärung, Berlin New York 1999, S. 413. 82 Friedrich von Hagedorn: Briefe: Bd. 1: Text. Bd. 2: Apparat/Kommmentar, S. 149.
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her oder niedriger, oder vermischter Personen […] theils die Leidenschaften, teils das Lachen erregen“83; was dem späteren Merkmal der Vermischung der Genres schon sehr nahe kommt. Vier Jahre später werden eben diese Dramen in Gellerts berühmter Abhandlung Pro commoedia commovente von 1751 wiederkehren, die bekanntlich – als bewusste oder unbewusste Reaktion auf Chassirons Reflexion sur le Comique larmoyante von 1749, vor allem aber als direkte Reaktion auf Voltaires Vorwort zu seiner comédie attendrissent mit dem Titel Nanine von 1749 – den entscheidenden Einsatz zur Positivierung des ‚rührenden oder weinerlichen Lustspiels‘ lieferte. Es ist in der Forschung bisher kaum bemerkt worden, dass Gellerts Abhandlung bis in die einzelnen Formulierungen hinein an diesem Vorwort Voltaires orientiert ist, das sich seinerseits bereits sehr intensiv mit der Abhandlung Chassirons auseinandersetzte. Zudem hatte Gellert seine rührenden Komödien, also Die Betschwester (1745), Das Los in der Lotterie (1746) und Die zärtlichen Schwestern (1747) schon verfasst, als er in dieser seiner Leipziger Antrittsvorlesung Pro comoedia commovente von 1751, die Lessing 1755 gemeinsam mit der Abhandlung Chassirons übersetzte, eine Definition des neuen Genres lieferte. Lessings Übersetzung bildete die Programmatik der Theatralischen Bibliothek, die 1754 bis 1758 in Berlin erschien. Zwar ist die Thematik der beiden frühen Lustspiele Gellerts, welche in den Bremer Beiträgen erschienen, eher konventionell, wie ein Überblick über Das Loos in der Lotterie von 1746 verdeutlicht.84 Nach Gellerts eigener Einschätzung ist diese frühe Komödie jedoch ein einschlägiges Beispiel für seine Theorie des rührenden Lustspiels: Die Zuschauer pflegten „in dem letzten Auftritte des ‚Loses in der Lotterie‘ gerührt zu werden“, wie Gellert in seiner Abhandlung durchaus selbstbewusst betont: Damons Ehegattin und die Jungfer Caroline haben durch ihre Sitten die Gunst der Zuschauer erlangt. Jene hatte schon daran verzweifelt, daß sie das Los wiederbekommen würde, welches für sie zehntausend Taler gewonnen hatte, und war auf eine anständige Art deswegen betrübt. Ehe sie sich’s aber vermutet, kömmt Caroline und bringt ihrer Schwägerin mit dem willigsten Herzen dasjenige wieder, was sie für verloren gehalten hatte. Hieraus nun entstehet zwischen beiden der edelste Streit freundschaftlicher Gesinnungen, so wie bald darauf zwischen Carolinen und ihrem Liebhaber ein Liebesstreit; und da sowohl dieser als jener schon für sich selbst, als ein 83 Schlegel: Ausgewählte Werke, a.a.O., S. 567f. 84 Frau Dämon hat für 4 Thaler heimlich ein Los in der Berliner Lotterie gekauft. Herr Orgon, dem sie sich anvertraut, erzählt es seiner Frau und diese, eifersüchtig auf Frau Dämon, die mit einem Gewinnst vielleicht schöne Kleider und Schmuck haben könnte, macht dem geizigen Herrn Dämon davon Mitteilung, als dieser über die Verschwendung seiner Frau ganz außer sich ist, rät sie ihm, das Los zu suchen und zu verkaufen. Dämon findet das Los und giebt es für die 4 Thaler an seinen Mündel Simon. Eben von Paris zurückgekehrt, sucht Simon die Galanterie der Franzosen nachzuäffen, macht Frau Orgon den Hof und giebt ihr das Los als Präfent. Von Frau Orgon erhält es die arme Freundin der Frau Damon, Karoline zum Geschenk. Nun kommt die Nachricht von Berlin, daß das Los 10000 Taler gewonnen. Erfreut macht Frau Samon ihrem Mann Mitteilung, der nun ganz entsetzt von Simon das Los zurückverlangt und verzweifelt, als er hört, daß es Frau Orgon habe. Frau Dämon bedauert den Verlust hauptsächlich darum, weil sie das Geld als Heiratsgut für Karoline bestimmen wollte, und sie ist beglückt, als sich Karoline selbst als Eigentümerin des Loses dokumentiert und nun ihren Geliebten Anton heiraten kann.
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angenehmes Schauspiel, sehr lebhaft zu rühren vermögend, zugleich auch nicht weit hergeholet, sondern in der Natur der Sache gegründet und freiwillig aus den Charakteren selbst geflossen sind: so streitet ein solcher Ausgang nicht allein nicht mit der Komödie, sondern ist ihr vielmehr, wenn auch das übrige gehörig beobachtet worden, vorteilhaft. Mir wenigstens scheint eine Komödie, welche, wenn sie den Witz der Zuhörer genugsam beschäftiget hat, endlich mit einer angenehmen Rührung des Gemüts schließet, nicht tadelhafter als ein Gastgebot, welches, nachdem man leichtern Wein zur Gnüge dabei genossen, die Gäste zum Schlusse durch ein Glas stärkern Weins erhitzen und so auseinandergehen läßt.85
Gellerts Rührstück Die zärtlichen Schwestern (1747) Auch in seinem 1747 veröffentlichten Rührstück Die zärtlichen Schwestern hat Gellert die Verlagerung ins Familiär-Private im Sinne La Chaussées übernommen: Im Zentrum dieser Komödie stehen die Geschwister Lottchen und Julchen, deren Vater Clean und deren Oheim, aufgerufen mit dem Titel „der Magister“. Hinzu kommen der beiden Mädchen Liebhaber Siegmund und Damis, sowie schließlich des Damis‘ „Vormund“ namens Simon. Insofern ist von den jungen Leuten nur der später als fehlgehender Charakter identifizierte Siegmund, Liebhaber des Lottchens, ohne elterliche Bezugsfigur; im Vergleich zu La Chaussée fällt zudem auf, dass die elterlichen Bezugsfiguren in diesem Stück durchweg männlich sind.86 Dennoch aber sind Clean und Simon verständige und liebenswürdige Vaterfiguren, während der Onkel, der als einzige Figur des Stücks keinen Eigennamen trägt, als Karikatur eines pedantischen Vernunftaufklärers zwangsläufig die Rolle der lustigen Person innehat. Inhaltlich geht es in diesem Rührstück um ein zu diesem Zeitpunkt durchaus sehr modernes Thema, nämlich die moderne Liebesehe. Diese basiert weder auf dem Versorgungsgedanken einer ökonomisch motivierten Konvenienzehe, deren „Zwangsmittel“87 im Stück selbst scharf distanziert werden, noch auf einer von Leidenschaften getragenen Verliebtheit: Grundlage der Liebesehe ist vielmehr die tendresse amoureuse, bei welcher man nicht „verliebt“, sondern „zärtlich“88 ist. Schon Nikolaus Wegmann betonte mit Blick auf diese Form der 85 Lessing: Werke Bd. II, S. 262f. 86 Dieses auffallende Fehlen der Mutterrolle bei Gellert betonte vor allem Sybille Späth: „Die Mutter als emotionaler Rückhalt, als Hort des Vertrauens und der Sicherheit […] ist Gellert und seinen Zeitgenossen noch unbekannt. Nie findet sich bei Gellert eine liebende Mutter, die es versteht, ihre Kinder bzw. Töchter mit Gewinn für die bürgerliche Gesellschaft zu erziehen. Entweder fehlen in Gellerts Stücken die Mütter ganz, meist sind sie durch ihren frühen Tod nicht mehr präsent, oder sie sind durch ihre charakterlichen Fehler nicht in der Lage, Erziehungsfunktionen zu übernehmen. Mütterlichkeit als Synonym für emotionale Geborgenheit und liebevolle Zuwendung spielt in dieser Beziehungskonstellation noch keine Rolle.“ Vgl.: Sybille Späth: Väter und Töchter oder die Lehre von der ehelichen Liebe in Gellerts Lustspielen, in: Bernd Witte (Hg.): „Ein Lehrer der ganzen Nation“. Leen und Werk Christian Fürchtegott Gellerts. München: Fink 1990, S. 52. 87 Die zärtlichen Schwestern, S.6. 88 Ebd., S. 7f. Auch Sibylle Späth betonte, dass Gellert „in seinen literarischen wie akademischen Arbeiten immer wieder das aufkommende Ideal der Liebesehe“, vgl.: Dies,: Lehre von der ehelichen Liebe in Gellerts Lustspielen, a. a. O., S. 57.
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Zärtlichkeit deren a-sexuelles Vorzeichen: „Als ideale Synthese aus Sinnlichkeit, Vernunft und Moral schließt [die Zärtlichkeit] die Risiken einer sexuell-erotischen und leidenschaftlichen Liebe per Definition schon aus.“89 Günter Saße erklärte die von Gellert intendierte zärtliche Liebe auch in Hinblick auf eine „Bedingtheit der kleinen Gefühlsgemeinschaft“: Schon der Titel des Gellertschen Dramas signalisiert, worum es im Dramengeschehen geht: um die Darstellung von zwei weiblichen Familienangehörigen, die auf vorbildliche Weise das erfüllen, was ihnen die empfindsame Liebesdoktrin der Zeit auferlegt. Sie lieben zärtlich, und das heißt: Von einer Leidenschaft, die rückhaltlos auf Erfüllung drängt, wissen sie nichts, auch nichts von einer Liebe, die allein den Geliebten ins Zentrum des Fühlens stellt und so eine Empfindungswelt stiftet, vor der alles andere zweitrangig wird. […] Ihre Liebe grenzt sich nicht ab, sondern stiftet eine Nahwelt Gleichgesinnter und Gleichgestimmter, die alle die einschließt, welche die Gebote tugendhafter Empfindsamkeit erfüllen.90
Diese Zärtlichkeit ist in diesem Rührstück entscheidendes Indiz für die Tugendhaftigkeit der als verliebt gezeichneten Helden: Ein Plot, der zugleich durch Strukturelemente der neuen französischen Komödienform erweitert wird, denn Gellert bedient sich diesbezüglich der schon von Destouches und La Chaussée bemühten Thematik der Läuterung eines Liebesunwilligen. Allerdings ist dieser satirische Typus nicht wie bei Molière oder Destouches ein eitel bzw. gar stoisch agierender Aristokrat, sondern die jüngere (und hübschere) der beiden Töchter namens Julchen. Deren falsch verstandene Freiheitsliebe ist eine für Julchens soziale Umwelt ärgerliche Marotte, im Grunde aber verbirgt sich dahinter sich Julchens Eigensinn, ihre Unsicherheit und Angst vor dem Erwachsenwerden.91 Sie widerstrebt also dem Eheglück an der Seite ihres reichen und ihr herzlich zugetanen Verehrers Damis, der seinerseits freilich eher verliebt denn zärtlich gestimmt ist, und aus eben diesem Grunde im Laufe des Stückes seine Liebesgefühle auch eher mäßigen soll. Mit ihrer Verweigerung des Jawortes plagt Julchen aber nicht nur ihren Verehrer Damis, 89 Vgl. Wegmann (1988), S. 43. 90 Saße (1994), S. 105. 91 Sibylle Späth erklärte den Eigensinn Julchens vor dem Hintergrund der aufklärerischen Erziehungsidee: „In diesem Lustspiel geht es vordergründig um die Durchsetzung der aufklärerischen Eheauffassung. Der Übernahme dieser gesellschaftlichen Aufgabe widersetzt sich Julchen, die jüngere der beiden Protagonistinnen. Ihr Eigensinn, ihre falsch verstandene Autonomieforderung ist die Ursache, die diese Erziehungsmaßnahme notwendig macht. Eigensinn, dies lehrt nicht nur die christliche Moral, sondern auch die aufklärerische Popularphilosophie, verstößt gegen die menschliche Natur, die den Menschen zu einem sozialen Wesen bestimmt hat. […] Daß ein junges Mädchen in Gellerts rührendem Lustspiel so etwas wie Eigensinn entwickeln und gegen die Einwände aller für sie relevanten Personen durchsetzen kann, ist ein Ergebnis der neuen, aufgeklärten Erziehungsstrategie. Die weitgehende Autonomie, die dem Mädchen hier zugestanden wird, erfährt ihre Grenzen nicht mehr durch die väterliche Autorität und Gehorsamspflicht des Kindes […], sondern in der freien Einsicht in gesellschaftliche „Notwendigkeiten“ und Anforderungen, über die sich die aufgeklärte Freundesgemeinschaft im theoretischen Diskurs verständigt.“ Vgl.: Sibylle Späth: Väter und Töchter oder die Lehre von der ehelichen Liebe in Gellerts Lustspielen. Bernd Witte (Hrsg.): „Ein Lehrer der ganzen Nation“. Leben und Werk Christian Fürchtegott Gellerts. München 1990, S . 51–65, hier S. 56.
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sondern auch ihren mit materiellen Gütern nicht gesegneten alten Vater, der seine Töchter gerne versorgt wüsste: Ein freilich aus Sicht der Zärtlichkeitsidee eher konventionelles Anliegen. Aber auch ihre Schwester Lottchen, die die ökonomische Heiratspolitik des Vaters explizit distanziert, sorgt sich um Julchen. Zudem ist sie der festen Überzeugung, dass zwischen Damis und Julchen wechselseitig Liebesgefühle existieren, insofern sei Julchens „Halstarrigkeit“ nur eine „letzte Bemühung […], der Liebe den Sieg sauer zu machen.“92 Aus diesem Grunde ersinnt Lottchen eine unschuldige Intrige, bei welcher Julchens Verehrer Damis seine „Zärtlichkeit in Hochachtung verwandeln“93, dem Julchen also für eine Weile nur noch als guter Freund begegnen soll. Die Rolle des zudringlichen Liebhabers solle stattdessen nun Siegmund übernehmen, um auf diese Weise die noch zögerliche kleine Schwester ihrem Verehrer Damis näherzubringen: LOTTCHEN (zu Siegmunden): Und Sie müssen dem Herrn Damis zum Besten einen kleinen Betrug spielen und sich gegen Julchen zärtlich stellen. Dieses wird ihr Herz in Unordnung bringen. Sie wird böse auf Sie werden. Und mitten in dem Zorne wird die Liebe gegen den Herrn Damis hervorbrechen. Tun Sie es auf meine Verantwortung. SIEGMUND: Diese Rolle wird mir sehr sauer werden.94
Diese zärtlich gemeinte Intrige bemüht ein altes Motiv der Restaurationskomödie, welches nun jedoch in neuem Licht erscheint: Die „Sprache der Verstellung“. Wie der von Ursula Geitner untersuchte Begriff der Simulatio bzw. Dissimulatio „in den Texten der Rhetorik- und Poetik-, der Politik- und Klugheitslehren des 17. und noch frühen 18. Jahrhunderts“, so sind dissimulatio bzw. Verstellung auch in Gellerts Die zärtlichen Schwestern „moralisch und ästhetisch weitgehend unbelastete technische Termini“.95 Zugleich aber beginnt in diesem Rührstück die nach Geitner in der „Sattelzeit“ schleichend einsetzende Kritik einer negativierten „Verstellungskunst“96, wie sie in Die zärtlichen Schwestern von Lottchens vermeintlichem Verehrer Siegmund verfolgt wird. Denn dieser verrät genau in jenem Moment seine Treue zu Lottchen, als sich ihm plötzlich die Chance bietet, über Julchen an viel Geld zu kommen. Im siebten Auftritt des zweiten Aufzugs überbringt Simon Lottchen die Nachricht, dass eine verstorbene Muhme, also Tante, ihrer Schwester Julchen „ein ganzes Rittergut vermacht“ habe. Mit dieser neuen Konstellation beginnt die zweite, diesmal freilich kritisch konnotierte Verstellungsstrategie, die nun nicht länger von Lottchen, sondern von Siegmund ausgeht. Vom Gedanken an die reiche Erbschaft besessen, beginnt Siegmund, Julchen nun ernsthaft den Hof zu machen. Damit scheint Siegmund die Rolle des aristokratischen Verführers bzw. des rake zuzufallen, allerdings ist die 92 93 94 95
Christian Fürchtegott Gellert: Werke, Band 1, Frankfurt a.M. 1979, S. 381. Ebd., S. 383. Ebd., S. 381. Zitiert nach: Ursula Geitner: Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert, de Gruyter 2002, S. 2. 96 Ebd.
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Konstellation etwas verstrickter. Denn die Erbschaft der Tante verweist ja auf Julchens Abstammung von adligen, ritterlichen Vorfahren, da eine solche Abstammung ja die Voraussetzung für die Aufnahme in den Ritterstand sowie den Besitz eines Rittergutes ist. Zudem ist auch Lottchens Pate ein Hofrat, also das Mitglied eines an Fürstenhöfen bestehenden Ratsgremiums. Von übler Verstellungskunst kann mit Blick auf Siegmund zwar die Rede sein, er ist aber dennoch kein durchtriebener Hofmann im Sinne etwa der britischen Restaurationskomödien, wird er doch von Selbstzweifeln geplagt, wie seine Monologe zeigen: SIGMUND allein: Welche entsetzliche Nachricht! ... Julchen! ... Ein ganzes Rittergut! Julchen ... die so viel Reizungen, so viel Schönheit und Anmut besitzt! ... Kennte ich Lottchens Wert nicht: so würde Julchen ... Aber ist Julchen nicht auch tugendhaft ... großmütig ... klug ... unschuldig ...? [ ... ] Muß man auch wider seinen Willen untreu werden? ... Warum konnte jene nicht die reiche Erbschaft bekommen? Sahe die Muhme auch, daß die jüngste mehr Verdienste hatte? ... Ich Elender! Ich bin ohne meine Schuld um das größte Vermögen gekommen ... Aber habe ich weniger Vorzüge als Damis? Julchen widersteht ja seiner Liebe ... Ist es ein Verbrechen?97
Zudem trägt anders als in der Restaurationskomödie schließlich die sanfte und zurückhaltende Zärtlichkeit des Damis den Sieg über die anfängliche Gleichgültigkeit Julchens davon. Während Julchen also das Unglück vermieden hat, insofern sie den edlen Damis letztlich doch nicht verschmähte, droht nun Lottchen eine fatale Entscheidung in Sachen Liebe, da sie nämlich den betrügerischen Siegmund nach wie vor zu heiraten gedenkt. Erst in der letzten Szene des Stücks verstößt Lottchen ihren betrügerischen Liebhaber, wobei sie ihn durch Vergebung und ein Geschenk beschämt: „Sie werden morgen durch meine Veranstaltung so viel Geld erhalten, daß Sie künftig weniger Ursache haben, ein redliches Herz zu hintergehen.“98 Für Sibylle Schönborn ist Lottchen dennoch ein „tragischer Charakter […], der nicht mehr durch den Glanz seiner Tugendhaftigkeit nachgeahmt werden, sondern im Triumph über sein Scheitern Mitleid erzeugen soll“.99 Dies lässt sich insbesondere an Lottchens letzten Worten erkennen, die als Ansprache an die Zuschauer bzw. als Appell an deren Mitgefühl verstanden werden können: O Himmel! laß es dem Betrüger nicht übelgehen. Wie redlich habe ich ihn geliebt, und wie unglücklich bin ich durch die Liebe geworden! Doch nicht die Liebe, die Torheit des Liebhabers hat mich unglücklich gemacht. Bedauern Sie mich.100
97 Gellert: Werke, Band 1, a.a.O., S. 408. 98 Ebd., S. 442. 99 Sibylle Schönborn: Christian Fürchtegott Gellert: Die zärtlichen Schwestern. Dramatisierung der Affekte, in: Dramen vom Barock bis zur Aufklärung. Stuttgart: Reclam 2000, S. 225. 100 Gellert: Werke, Band 1, a.a.O., S. 442.
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Wenn die Tugendheldin Lottchen sich mit diesen letzten, von Lessing später in der Emilia Galotti wieder zitierten Worten appellierend ans Publikum wendet, dann ist damit ein Grundprinzip der Komödie, eben die Rührung des Publikums entwickelt. Das im Titel des Stücks erscheinende Attribut „zärtlich“ ist also nicht nur ein Schlüsselwort der Empfindsamkeit, sondern auch eine tragende Säule der mit diesem Schlusswort ausgelösten Poetik der Rührung.
Von der Konvenienz- zur Liebesehe? Die Heiratspolitik der zärtlichen Schwestern Die Frage, welche sich vor dem Hintergrund unserer bisherigen Ausführungen stellt, betrifft die in dieser Komödie verhandelte Liebesidee. Ganz eindeutig steht die Zärtlichkeit dieser Komödie im Sinne eines auf Entsagung basierenden Verzichts „auf die Ansprüche der eigenen Person“101 in der Tradition der tendresse, welche ja identische Konzepte der Entsagung beinhaltete, wenn wir an die Carte de Tendre der Madeleine de Scudéry oder Racines Bérénice denken. Denn in beiden Fällen wurde die affektiv geprägten Momente der Leidenschaft, der Feindseligkeit oder aber der Gleichgültigkeit – das zentrale Probleme der zögerlichen Tochter Julchen – durch Gesten der Zuneigung und Wertschätzung gedämpft, ausdifferenziert und dem Zärtlichkeitsideal unterworfen. Diese alte Idee der Zärtlichkeit als einer moderaten Form der Zuneigung begegnet uns auch in Gellerts Komödie: CLEON: Hätte ich doch nicht gedacht, daß du so verliebt wärest. LOTTCHEN: Zärtlich, wollen Sie sagen. Ich würde unruhig sein, wenn ich nicht so zärtlich liebte, denn dies ist es alles, wodurch ich die Zuneigung belohnen kann, die mir Herr Siegmund vor so vielen anderen Frauenzimmern geschenkt hat.102
Das Wort zärtlich bietet Lottchen hierbei die Möglichkeit, ihre Gefühle, die sie Siegmund gegenüber empfindet, zu bestärken. Die Zärtlichkeit des Gellertschen Lustspiels ist jedoch weniger als Vorform einer romantischen Liebe, denn vielmehr als Erbe einer altfranzösischen Tradition der Galanterie zu deuten, wie unser umfangreicher Rekurs auf das 17. Jahrhundert und die Carte de Tendre, die Grundlage der Zärtlichkeitsdiskurse des 17. und 18. Jahrhunderts, bereits mehrfach zeigte. Wie einschlägig diese Tradition noch für eine Deutung der zärtlichen Schwestern ist, zeigt deren Logik des goldenen Mittelweges, der sich an Dankbarkeit, Wertschätzung und Zuneigung orientiert und so die bedrohlichen Sphären der Feindseligkeit, der Indifferenz oder gefährdenden Leidenschaften umgeht, wie wir mehrfach anhand der Carte de Tendre zeigten. Die amitié tendre ist daher im Sinne der Nikomachischen Ethik des Aristoteles zu verstehen, dergemäß es im sozialen Miteinander darum gehe, den Mittelweg zu finden, also die Extreme zu vermeiden. Und es ist auffallend, dass eben diese aristotelische Logik in fast allen wissenschaftlichen Um101 Ebd., S. 230. 102 Ebd., S. 378.
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schreibungen der Gellertschen Zärtlichkeit erkennbar ist. So etwa betonte Nikolaus Wegmanns in seiner Studie über die Diskurse der Empfindsamkeit, die Zärtlichkeit markiere „die Mitte einer Skala. Einerseits besteht sie aus einem im Vergleich zur universalen Form der Liebe gesteigerten Bezug zum Mitmenschen, begrenzt sich daher auch auf einen enger gefaßten Personenkreis, ohne andererseits bereits nach der strikten Exklusivität und risikobereiten Intensität der leidenschaftlichen und sinnlichen Liebe zu verlangen.“103 Ganz ähnlich bezeichne die Zärtlichkeit Gellerts nach Hans Peter Ecker „ein ideales Liebeskonzept mittlerer Intensität zwischen den Extrempolen leidenschaftlicher Passion und allgemeiner Menschenliebe. Selbstverleugnung, Uneigennützigkeit, Moralität und gesellschaftliche Konformität sind zentrale Charakteristika dieser gemäßigten und vernunftkontrollierten Form der Zuneigung.“104 Und auch nach Ansicht Günter Saßes gehe es in Gellerts Komödie „um die Darstellung von zwei weiblichen Familienangehörigen, die auf vorbildliche Weise das erfüllen, was ihnen die empfindsame Liebesdoktrin der Zeit auferlegt. Sie lieben zärtlich, und das heißt: Von einer Leidenschaft, die rückhaltlos auf Erfüllung drängt, wissen sie nichts, auch nichts von einer Liebe, die allein den Geliebten ins Zentrum des Fühlens stellt und so eine Empfindungswelt stiftet, vor der alles andere zweitrangig wird.“105 Entsprechend integrativ ist dieses zärtliche Liebesideal, das nach Saße eine „Gefühlsgemeinschaft“ entstehen lasse, also „eine Nahwelt Gleichgesinnter und Gleichgestimmter, die alle die einschließt, welche die Gebote tugendhafter Empfindsamkeit erfüllen.“106 Basis dieser Gemeinschaft sei die Maxime der Aufrichtigkeit,107 weshalb die „rigide Ausgrenzung des Heuchlers aus der Gemeinschaft der Tugendhaften“ ein zentrales Motiv der Gellertschen Komödie sei, wie das Beispiel von Lottchens Trennung von Siegmunds zeige. Mit Horst Steinmetz ließe sich dieser Zusammenhang folgendermaßen formulieren: Das ‚traurige Wesen‘, das mit der Liebe verbunden ist, wird ja gerade als das notwendig zum Glück der Liebe Gehörende herausgestellt. Es begründet geradezu die ‚zärtliche‘ Liebe. ‚Zärtlichkeit der Liebe heißt einerseits, daß man auf die Verwirklichung seiner eigenen Wünsche vorbehaltlos zugunsten der des Geliebten verzichtet. Zur ‚zärtlichen‘ Liebe gehört andererseits aber auch unbedingt der sich im ‚traurigen Wesen‘ offenbarende Seelenzustand. Die Intrige hat keinen anderen Zweck, als Julchen der ‚Zärtlichkeit‘ zu überführen, die schon zu Beginn des Stücks in ihr angelegt ist, die
103 Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit, S. 43. 104 Hans-Peter Ecker: Süßer Schein der Traurigkeit. Christian Fürchtegott Gellerts weinerliches Lustspiel ‚Die zärtlichen Schwestern‘, in: Zagadnienia Rodzajów Literackich 43 (Lódź) (2000), Nr. 1–2, S. 16–25, hier S. 20. 105 Günter Saße: Aufrichtigkeit: Von der empfindsamen Programmatik, ihrem Kommunikationsideal, ihrer apologetischen Abgrenzung und ihrer Aporie, dargestellt an Gellerts Zärtlichen Schwestern, in: Texttyp, Sprechergruppe, Kommunikationsbereich. Studien zur deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Hugo Steger zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Heimich Löffler, Karlheinz Jakob und Bernhard Kelle. Berlin und New York 1994, S.105–120, hier S. 105. 106 Ebd. 107 Ebd.
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nur aufgrund eines Vorurteils nicht zum Durchbruch gelangen konnte. Je deutlicher Julchen ihre Liebe zu Bewußtsein kommt, desto ‚wehmütiger‘, desto ‚trauriger‘ wird sie.108
Aber ist auch die Liebe zwischen Julchen und Damis identisch mit dieser moderaten Liebesidee, wie sie in Lottchens Intrige angelegt ist? Ist die in dieser Komödie entwickelte tendresse amoureuse tatsächlich darauf konzentriert, dass man nicht „verliebt“, sondern „zärtlich“109 ist? Oder haben wir es in dieser Komödie zugleich mit einer den Lustspielen Marivaux’ vergleichbaren Form einer amour naissante zu tun? Speziell die jüngere Forschung scheint dies anzunehmen: Sibylle Späth etwa betonte, dass Gellert „in seinen literarischen wie akademischen Arbeiten immer wieder das aufkommende Ideal der Liebesehe“110 inszeniert habe. Zweifellos wendet sich die Liebesvorstellung dieser Komödie gegen den Versorgungsgedanken einer rein ökonomisch motivierten Konvenienzehe, deren „Zwangsmittel“111 im Stück selbst scharf distanziert werden. Nach Einschätzung Sibylle Schönborns ist die in Gellerts Komödie entfaltete „zärtliche Liebe“ jedoch in zweierlei Hinsicht zu deuten: Zum einen in einer konventionell „aufgeklärten“ Form, wie sie von Lottchen, Damis und Cleon vertreten wird. Schon in diesen äußere sich ein Angriff auf „überkommene Ehevorstellungen“ im Namen eines Liebesideals: „Zärtliche Liebe als Basis bürgerlicher Ehe und damit der neuen empfindsamen Menschengemeinschaft“112. Allerdings formuliere Tochter Julchen einen bleibenden „Vorbehalt“ gegen dieses Liebesprogramm, weil es „nichts von Lust und Erfüllung weiß, sondern auf Verzicht, Selbstverleugnung und Selbstzwang“ basiere.113 Anders gesagt: Die schließlich zwischen Damis und Julchen entstehende Liebe sei nicht identisch mit der von Lottchen propagierten, der „jene Körpersprache des Herzens“ fehle, „die eine mimisch-gestische Aufführung der Affekte durch Verstummen, Tränen, Seufzen, Blicke umfaßt.“114 Lottchen und Siegesmund blieben daher beide „im gelehrt-theoretischen Diskurs der Aufklärungsphilosophie stecken.“115 Anders bei Julchen und Damis, erst bei ihnen „erfüllt sich die wahre zärtliche Liebe“, erst bei ihnen komme „das empfindsame Ideal an sein Ziel.“116 Schönborns Indikator war die folgende Szene zwischen Damis und Julchen, welche von einem stockenden Dialog geprägt ist, da die sich liebenden Protagonisten sich „nur unzusammenhängend äußern, abbrechen, seufzen“. Beide reden gemäß der Regieanweisung mit „beweglicher Stimme“, sie gehen aufeinander zu, um sich wieder
108 Horst Steinmetz: Nachwort, in: Christian Fürchtegott Gellert: Die zärtlichen Schwestern, hg.v. Horst Steinmetz. Stuttgart 1965,., S. 139–158, hier S. 152. 109 Ebd. 110 Vgl.: Sibylle Späth: Die Lehre von der ehelichen Liebe in Gellerts Lustspielen, a. a. O., S. 57. 111 Gellert: Werke, Band 1, a.a.O., S. 377. 112 Sibylle Schönborn: Christian Fürchtegott Gellert, ‚Die zärtlichen Schwestern’: Dramatisierung der Affekte. In: Dramen vom Barock bis zur Aufklärung, 2000, S. 224–250, hier S. 230. 113 Ebd., S. 233. 114 Ebd., S. 238. 115 Ebd. 116 Ebd., S. 234.
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zu trennen, sie küssen sich und halten Händchen: „Diese Liebessignale und -beweise folgen einer anderen Sprache, sie sind wahre Zeichen der zärtlichen Liebe“117: JULCHEN: Nein, ich irre mich. Herr Siegmund hat nach ihr gefragt und meine Schwester sprechen wollen und mich gebeten... (Sie sieht ihn an.) In Wahrheit, Sie sehen so traurig aus, daß man sich des Mitleidens... (Sie wendet das Gesichte beiseite.) DAMIS: Meine Juliane! Ihr Mitleiden... Sie bringen mich zur äußersten Wehmut. JULCHEN: Und Sie machen mich auch traurig. Warum hielten Sie mich zurück? Warum weinen Sie denn? (Sie will ihre Tränen verbergen.) Was fehlt Ihnen? Verlassen Sie mich, wenn ich bitten darf. DAMIS: Ja. JULCHEN (für sich): Er geht? DAMIS (indem er wieder zurückkehrt): Aber darf ich nicht wissen, meine Schöne, was Ihnen begegnet ist? Sie waren ja Vormittage nicht so traurig. JULCHEN: Ich weiß es nicht. Sie wollten ja gehn. Ist Ihnen meine Unruhe beschwerlich? Sagen Sie mir nur, warum Sie... Sie reden ja nicht. DAMIS: Ich? JULCHEN: Ja. DAMIS: O wie verschönert die Wehmut Ihre Wangen! Ach, Juliane! JULCHEN: Was seufzen Sie? Sie vergessen sich. Wenn doch Lottchen wiederkäme! Bedenken Sie, wenn sie Sie so betrübt sähe und mich... Was würde sie sagen?118
Schönborn sah hier eine Parallele zu den Schäferspielen Gellerts, die den „blöden“ Schäfer und seine naive „spröde“ Schöne in ähnlicher Form zu einer gemeinsamen „Sprache ihrer Herzen“119 finden ließen. Mir scheint dies zutreffend. Denn wenn es eine Differenz zu Schlegels Triumph der guten Frauen gibt, dann liegt er in eben dieser überraschenden Liebesbekundung, deren rührende Qualität gegenüber jener didaktischen Funktionalisierung im Sinne der poetischen Gerechtigkeit weit höher anzusiedeln ist. Man kann also davon ausgehen, dass sich in der Gellertschen Komödie eine neue Form des sprachlosen Liebesgefühls entwickelt, die durchaus mit den Komödien Marivaux’ vergleichbar ist, wenn wir an Le jeu de l’amour et du hasard von 1730 denken. Angesichts unserer bisherigen Ausführungen bestätigt die These Sibylle Schönborns daher unsere Unterscheidung zwischen der Komödie und der Tragikomödie der Zärtlichkeit.
Von der comédie larmoyante zur comédie attendrissante: Voltaires Nanine (1749) Man hat zu unsern Zeiten, besonders in Frankreich, eine Art von Lustspielen versucht, welche nicht allein die Gemüter der Zuschauer zu ergötzen, sondern auch so zu rühren und so anzutreiben vermögend wäre, daß sie ihnen so gar Tränen auspresse. Man hat dergleichen Komödie, zum Scherz und zur Verspottung, in der französischen Sprache 117 Ebd. 118 Gellert: Werke, Band 1, a.a.O., S. 402f. 119 Schönborn: Christian Fürchtegott Gellert, ‚Die zärtlichen Schwestern‘, a.a.O., S. 236.
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comédie larmoyante, das ist die weinerliche genennt, und von nicht wenigen pflegt sie als eine abgeschmackte Nachäffung des Trauerspiels getadelt zu werden.120
Mit diesen Beobachtungen eröffnet Gellert 1751 seine Abhandlung über das rührende Lustspiel mit dem Titel Pro comoedia commovente. Sie setzt ein mit einem Verweis auf eine Vorrede Voltaires zu dessen 1749 in Paris publizierte und am 16. Juni des gleichen Jahres uraufgeführte Komödie Nanine, ou le préjugé vaincu, ins Deutsche übertragen unter dem Titel Nanine, oder das besiegte Vorurteil. Im Vorwort zu seiner Komödie hatte Voltaire die Argumente Chassirons aus dessen Reflexion sur le Comique larmoyante aufgegriffen, also dessen Kritik an der Vermischung der Gattungen auf die Frage hin fokussiert, „s’il est permis de faire des comédies attendrissantes?“121 Dabei scheint Voltaire Chassirons vehemente Kritik grundsätzlich zu teilen, wenn er zugesteht, dass Gattungen wie die comédie larmoyante oder die tragedie bourgeoise „une espèce bâtarde“122 seien, und die Vermischung von Komischem und Tragischem nicht mehr denn Zeichen eines Unvermögens, also „un monstre né de l’impuissance de faire une comédie et une tragédie véritable.“123 Allein, und darin liegt die argumentative Schwierigkeit für Voltaire, ist sein eigenes Stück Nanine eben ein Beispiel dieser von Chassiron kritisierten neuen Komödienform. Voltaires Reaktion ist daher ambivalent: Einerseits hat er die Nanine im Vorwort zur gedruckten Ausgabe als „bagatelle“, anderseits in Abgrenzung zur comédie larmoyante als eine comédie attendrissante bezeichnet, den polemischen Ausdruck ‚weinerlich‘ also durch ‚anrührend‘ ersetzt, um so die Genrekritik Chassirons zu umgehen. Aufgrund von Chassirons Verurteilung der Comique larmoyante unterscheidet Voltaire demnach seine Nanine als Beispiel einer anrührenden comédie attendrissante von der tränenreichen und weinerlichen comédie larmoyante, wie sie zu diesem Zeitpunkt Autoren wie La Chaussée oder Destouches repräsentierten. Eine comédie attendrissante sei demnach eine im erhabeneren Sinne anrührende Form der Komödie, geprägt von einer „grand comique“124. Zwar resultiere auch diese Anrührung aus einer Vermischung mit Elementen der Tragödie, allerdings fehle es nicht an Komik, wohingegen der weinerlichen Komödie die Komik abgehe, sie also nur „larmoyante“ und eben deshalb fehlerhaft und abgeschmackt sei. Voltaire hält also eine punktuelle Annäherung der Komödie an die Tragödie bzw. des einfachen an den sublimen Stil durchaus für zulässig, vorausgesetzt, beide Gattungen würden danach zu sich selbst zurückkehren: „chacun dans leur véritable carrière.“125 Eben in dieser Treue der Gattung zu ihrer wesentlichen Bestimmung unterscheidet sich Voltaires comédie attendrissante von der comédie larmoyante: 120 Christian Fürchtegott Gellert: Pro Comoedia Commovente, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. V: Poetologische und Moralische Abhandlungen. Autobiographisches, hg. v. Werner Jung, John F. Reynolds und Bernd Witte, Berlin New York 1994, S. 147. 121 Voltaire: Oeuvre complètes, Bd. 1, Paris 1835, S. 582. 122 Ebd. 123 Ebd. 124 Ebd. 125 Ebd.
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La comédie encore une fois peut donc se passionner, s’emporter, attendrir, pourvu qu’ensuite elle fasse rire les honnêtes gens. Si elle manquait de comique, si elle n’était que larmoyante, c’est alors qu’elle serait un genre très vicieux, et très désagréable.126
Ob und inwiefern sich diese Voltairesche Differenzierung auch am theatralen Beispiel nachvollziehen lässt, muss uns ein Überblick über die Inhalte seiner Komödie zeigen. Deren Titelheldin Nanine ist ein Mädchen von niedriger Herkunft, die seit ihrer Kindheit im Hause des seit zwei Jahren verwitweten Landedelsmanns und Grafen d’Olban von der alten Marquise, der Mutter des Grafen, erzogen wurde. Sie gilt als sehr aufgeweckt, liebenswürdig und bescheiden, weshalb der Graf eine tiefe Zuneigung zu ihr entwickelt, über deren Ausmaß sich der Graf zu Beginn gar nicht recht bewusst ist, glaubt er doch nur Mitleid mit dem abhängigen und liebenswürdigen Kind zu haben. Als dann jedoch sein eher tölpelhafter Gärtner Blaise um Naninens Hand anhält, wird sich der Graf darüber klar, dass es echte Liebe ist, die er für Nanine empfindet. Allerdings lebt auf dem Schloss auch eine Verwandte des Grafen, die ebenfalls seit kurzem verwitwete Baronin de l’Orme, die mit ihrem Vetter über lange Zeit durch eine wirtschaftliche Geschäftsbeziehung verbunden war, nun jedoch zu der Überzeugung gelangt ist, ein Ehebündnis mit diesem einzugehen. Freilich möchte sie den Grafen auch heiraten, um damit möglichen juristischen Prozessen ein Ende zu bereiten, die ihr verstorbener Mann mit dem Grafen geführt hatte. Allerdings ist die Baronin, wie es gleich schon in der Personenbeschreibung heißt, eine herrische, ja gar herrschsüchtige und säuerliche Frau, „une femme impérieuse, aigre, difficile à vivre“127, weshalb sie die drohende Mesalliance zwischen d’Olban und Naine aus ihrer aristokratischen Warte scharf kritisiert: Ahnt sie doch, dass der Graf Nanine liebt. Der Titel dieser Komödie erklärt sich durch eben diese Ansichten der Baronin, die der Graf seinerseits als bloßes ‚Vorurteil‘ disqualifiziert: LE COMTE: Dites les préjugés. Je ne prends point, quoi qu’on en puisse croire, La vanité pour l’honneur et la gloire. L’éclat vous plaît; vous mettez la grandeur Dans des blasons: je la veux dans le cœur. L’homme de bien, modeste avec courage, Et la beauté spirituelle, sage, Sans bien, sans nom, sans tous ces titres vains, Sont à mes yeux les premiers des humains.128
Allerdings hat er Mühe, seine dem Vorurteil widersprechenden, also aufklärerischen und fortschrittlichen Ideen gegenüber der Baronin zu vertreten, denn schließlich handelt es sich bei der Nanine um ein einfaches Bauernmädchen, die als Findelkind unter der Obhut der Baronin aufgewachsen und von dieser erzogen worden 126 Ebd. 127 Ebd., S. 584. 128 Ebd., S. 585.
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ist. Vor diesem Hintergrund diskutieren Graf und Baronin nun die Möglichkeiten der Mesalliance: Pocht die Baronin auf die ‚Ehre‘ und nennt es eine Degradierung, wenn ein Adliger ein Bauernmädchen heiratet, so behauptet der Graf, nicht auf die Geburt oder den Titel, sondern auf die Reinheit des Herzens, also die Tugend komme es an. Der Graf wünscht sich also vor allem eine liebevolle und nachsichtige, anpassungsfähige Frau, egal welchen Standes: … une femme indulgente Dont la beauté douce et compatissante, A mes défauts facile à se plier, Daigne avec moi me réconcilier, Me corriger sans prendre un ton caustique, Me gouverner sans etre tyrannique, Et dans mon Coeur penetrer pas à pas, Comme un jour doux dans des yeux délicats.129
Freilich lässt die Baronin auch die kleine Nanine, deren Attraktivität sie mit Eifersucht erfüllt, diese ihre Geringschätzung spüren, und zwar auf äußerst harsche Art und Weise.130 Zudem will sie das Mädchen mit dem Gärtner Blaise verkuppeln, angesichts der zunächst zögerlichen Reaktion der Nanine droht sie gar damit, das junge Mädchen in ein Kloster zu sperren. Zu ihrer Überraschung willigt Nanine jedoch ein, unter anderem auch, weil sie ihrerseits eine geheime Neigung zum Grafen hegt, die sie bei ihrer Lage und ihrem Status als einfache Bauerntochter jedoch für verwerflich hält. Nanine ist also von demütiger Schüchternheit: „Un jeune objet, beau, doux, discret, sincère“131, wie ihr der Graf später attestiert. Sie zeichnet sich durch eine überaus rührende Mischung aus Scham und Grazie aus, und eben diese Mischung macht die gegenüber der eifersüchtigen Baronin nicht nur optisch, sondern auch moralisch überlegen. Allerdings kann sich Nanine diese ihre Schüchternheit zunächst nicht wirklich erklären, „je crains d’être aimée!/ Mais moi, mais moi! je me crains encor plus;/Mon cœur troublé de lui-même est confus.“132 Die Konsequenzen zeigen sich in der Begegnung mit dem Grafen: Als schon am nächsten Morgen Nanines Abreise ins Kloster bevorsteht, lässt der Graf Nanine kommen und gesteht ihr seine Liebe, was aber den Entschluss des jungen Mädchens nicht zu ändern vermag. Denn eben aufgrund dieser Schüchternheit verschweigt sie dem Vorgesetzten ihre sehr innige Neigung zu ihm, um ihn nicht zu kränken. Als der Graf d’Olban die von ihm geliebte Nanine im Augenblicke ihrer Abreise ins Kloster ein weiteres Mal zu sich kommen lässt und seine Liebeserklärung erneuert, wiederholt Nanine ihr Zögern, und zeigt ihre in aller Schüchternheit große Seele, ihre „âme ingénue“. Dabei reicht Nanines Bescheidenheit so weit, dass sie gar den Grafen davor warnt, sich in seiner Liebe zu ihr zu sehr zu erniedrigen: 129 130 131 132
Ebd. Ebd., S. 587. Ebd., S. 589. Ebd.
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NANINE: Quoi! vous m’aimez?… Ah gardez-vous de croire, Que j’ose user d’une telle victoire. Non, monsieur, non, je ne souffrirai pas, Qu’ainsi pour moi vous descendiez si bas. Un tel hymen est toujours trop funeste ; Le goût se passe, et le repentir reste. J’ose à vos pieds attester vos aïeux… Hélas sur moi ne jetez point les yeux.133
Dieses scheue Zurückweichen der Nanine vor dem eigenen wie dem fremden Liebesgeständnis resultiert aus ihrer Angst, der Graf würde die Verbindung mit einem einfachen Mädchen später bereuen: Ein Charakterzug extremer, ja fast tragischer Schamhaftigkeit, den Lessing in seiner Miss Sara Sampson aufgreifen und im Rahmen der Vater-Tochter-Beziehung reinszenieren wird. Bei Voltaire hingegen führt der eher standesbedingte Selbstzweifel der Nanine zu dem zunächst fatalen Entschluss, an ihren Vater zu schreiben und diesem ihren Kummer mitzuteilen: Ein Briefwechsel zwischen Vater und Tochter, der uns ebenfalls in der Miss Sara Sampson erneut begegnen wird. Ist es bei Lessing jedoch Vater Sir William, so ist es bei Voltaire die Tochter Nanine, die einen anonymen Brief ihrem Diener Blaise zusammen mit einem Paket und einer Geldbörse übergibt, damit dieser alles an einen gewissen Philippe Hombert – ihren aus bäuerlichen Verhältnissen stammenden Vater – überliefert. Brief und Geld will Blaise besorgen, der froh ist, der Angebeteten einen Dienst erweisen zu können. Auf seinem Weg begegnet er jedoch der Baronin d’Orme und überlässt dieser den Brief, den die Baronin natürlich sogleich liest. Da Naninens Schreiben sehr zärtlich – „Ma joie et ma tendresse/ Sont sans mesure, ainsi que mon bonheur;/ Vous arrivez, quel moment pour mon cœur!“134 –, zugleich aber sehr allgemein gehalten und ohne Unterschrift ist, vermutet die Baronin darin einen an einen potentiellen Verehrer Nanines gerichteten Liebesbrief. Und eben darum überreicht sie siegesgewiss dieses vermeintliche „Billet doux“135 dem Grafen, der sich in der Tat täuschen lässt: Nanine wird aus dem Schloss gejagt, die Baronin glaubt gesiegt zu haben. In diesem Moment kehrt jedoch die alte Marquise, die Mutter des Grafen, von einer längeren Abwesenheit zurück. Sie ist wenig erfreut zu hören, dass der Sohn die von ihr verabscheute, weil herrschsüchtige Baronin de l’Orme heiraten will; denn sie fürchtet, bei deren ehrgeizigem und eigenwilligem Charakter ihren mütterlichen Einfluss auf den Grafen einzubüßen. Sehr betrübt aber ist die im Grunde herzensgute Dame über die Behandlung ihres Schützlings, der Nanine, obwohl sie weiß, dass die Gesellschaft „sich das Maul zerreißen wird“, sollte sie davon erfahren, dass ihr Sohn das einfache Mädchen heiraten will: „La famille/ Étrangement, mon fils, clabaudera.“136 Sollte der Graf Nanine jedoch nicht heiraten, so werde sie 133 134 135 136
Ebd., S. 593. Ebd., S. 595. Ebd. Ebd., S. 603.
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sich des Mädchens annehmen: sie habe bereits eine vorteilhafte Partie im Auge, den „propre neveu du procureur fiscal“ namens „Jean Roc Souci“: „C’est un bijou que je veux enchâsser./ je vais la marier.“137 Sie teilt also die fortschrittlichen Ansichten ihres Sohnes bzgl. der Mesalliance, auch wenn sie die ihr äußerst sympathische Nanine im Grunde an keinen Verehrer verlieren möchte. Allerdings haben sich diese alternativen Heiratspläne der Marquise in eben jenem Moment erübrigt, als jener Philippe Hombert im Schloss erscheint und sich als Nanines Vater entpuppt, der seine Tochter schon in früher Kindheit bei Verwandten abgab. Wir haben es also mit einem Lieblingsmotiv des rührenden Lustspiels zu tun, der von Voltaire aufs Äußerste ausgekosteten rührenden Wiederbegegnung getrennter Familianmitglieder: Dauert es doch ganze vier Aufzüge, bis sich Vater und Tochter schließlich in die Arme fallen: LA MARQUISE: Embrasse-moi cent fois, ma chère enfant. Elle est vêtue un peu mesquinement: Mais qu’elle est belle, et comme elle a l’air sage! NANINE (courant entre les bras de Philippe Hombert, après s’être baissée devant la marquise.): Ah! la nature a mon premier hommage. Mon père! PHILIPPE HOMBERT: O ciel! ô ma fille! ah, monsieur, Vous réparez quarante ans de malheur.138
Dieses letzte Bild, in dem Nanine ihren Vater trifft, nachdem sie zuvor als ein in Obhut der Baronin aufgewachsenes Waisenkind galt, zählt als familiäre Wiedererkennungsszene seit Destouches’ Le Glorieux und La Chaussées Mélanide zu den entscheidenden Bestandteilen der cornedie larmoyante, wie Jaubert-Michel betonte.139 Und auch Voltaire dient dieser über mehrere Akte hinausgezögerte Augenblick der Zusammenführung der Spannungssteigerung, die mit dem finalen Sieg der Tugend eben jene für die comédie larmoyante charakteristische Rührung auslöst, die nach Voltaire die „grand comique“ ausmacht. Philippe Hombert war also der Vater und kein heimlicher Geliebter Nanines, zudem willigt die Marquise, gerührt von der Schönheit und Hochherzigkeit der jungen Nanine, in die Heirat mit dem Grafen ein, sodass die Heirat des Grafen mit dem Bauernmädchen nun doch vollzogen wird und die Baronin ihr Spiel verloren hat. Die so unendlich rührende Tugendhaftigkeit der Nanine zu belohnen sei mehr wert als alle Adelstitel der Welt: Cette vertu qu’il faut recompenser Doit m’attendrir, et ne peut m’abaisser. Dans ce vieillard, ce qu’on nomme bassesse Fait son mérite; et voilà sa noblesse.140
137 Ebd., S. 600. 138 Ebd., S. 603. 139 Elsa Jaubert-Michel: Voltaire dramaturge comique: un ‚auteur amphibie’?, in: Revue Voltaire, 6 (2006), S. 155–168, hier S. 160. 140 Voltaire: Oeuvre complètes, Bd. 1, a.a.O., S. 603.
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Insofern obsiegt am Ende die bürgerliche Tugend über das aristokratische Vorurteil, eine Moral, die von der Marquise, der Mutter des Grafen, entsprechend deutlich, also in Anspielung auf Richardsons Pamela formuliert wird: „Que ce jour/Soit des vertus la digne récompense.“141 Dann fügt sie freilich als allerletzten Vers hinzu: „Mais sans tirer jamais à consequence“142, womit die Mesalliance zugleich als großzügige Ausnahme von der Regel markiert wird. Insofern lautet die vollständige Moral der Geschichte: Die ständische Ordnung der Gesellschaft muss dennoch unangetastet bleiben. Wenn also ein einfaches Bauernmädchen wie Nanine durch eine Liebesheirat in den Adelsstand aufgenommen wird, so kann das nur auf Initiative der Herren geschehen – beanspruchen darf das Mädchen so etwas nicht. Deswegen bleibt Nanine anfangs so bescheiden und demütig, wie sie war, auch nachdem sie für ihre Tugend mit der Hand des Grafen belohnt worden ist. Diese Moral hat Voltaire im Untertitel zusammengefasst: Es geht um Le Préjugé Vaincu; um die Überwindung des Vorurteils, ein Adelsmann könne kein nicht standesgemäßes Mädchen heiraten. Diese Besonderheit ist in der Forschung schnell bemerkt worden: Voltaires Nanine, so schreibt Stackelberg in seinen Ausführungen, unterscheide sich bereits durch diesen Untertitel markant von der Vorlage Richardsons: Während in der Pamela die Rede von der „virtue rewarded“ war, so spicht Voltaire von „le préjugé vaincu“.143 Es geht also nicht nur um eine Belohnung der Tugend, sondern um die Widerlegung eines Standesvorurteils. Das lässt natürlich sogleich an La Chaussée denken, der ja in seinem rührenden Lustspiel ebenfalls ein ‚préjugé à la mode‘ zu entkräften veruchte. Ging es bei La Chaussée jedoch um eine Kritik an der vermeintlich in Adelskreisen üblichen Trennung von Ehe und Liebe, wie dies in der Tat in Dramen des Destouches angedeutet wird, so kritisiert Voltaire in seiner Widerlegung eines Vorurteils eher die vom Adel vertretene Behauptung, eine Vermählung mit einer einfachen Bauerstochter sei inakzeptabel. Neu an Voltaires Komödie ist also nach Stackelberg die Tatsache, dass es in Voltaires Nanine „wirklich um ein Mädchen aus den unteren Schichten und nicht um ein Findelkind ging, dass sich schließlich als Marquisse oder Comtesse entpuppt.“144 Dennoch aber zeugt Voltaires Komödie von einer wenn auch ungewollten Nähe zur comédie larmoyante, denn wie bei Destouches und La Chaussée, so wird auch bei Voltaire der Adelsstolz zur Zielscheibe, weil er die zarten Regungen der Liebe verkümmern lässt oder gar unterdrückt. Sowohl in Voltaires Nanine wie in Destouches Le Glorieux werden also die Adligen verspottet, die den Neuadel des auf seinen Reichtum stolzen Bürgers verachten, ohne zu erkennen, dass eben dieser aufstrebende Bürger dem Adel längst den Rang abgelaufen hat. Die finale Rührung im Sinne der überraschenden Wiederbegegnung getrennter Partner hat Elsa Jaubert-
141 142 143 144
Ebd., S. 604. Ebd. Jürgen von Stackelberg: Über Voltaire, München 1998, S. 62. Ebd.
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Michel daher als einen auch von Voltaire geteilten „paroxysme emotionnel“145 beschrieben, ähnlich sprach Ewa Mayer in ihrer Studie zum Théâtre de la proximité von einem „Höhepunkt der Sentimentalität“, auf welchen das Publikum „durch den jammervollen und weinerlichen Ton der Figuren während des gesamten Stücks vorbereitet“146 werde. Gerade weil die Nanine anfangs durch die Verdächtigungen der Baronin de l’Orme in einer völlig aussichtslosen Lage zu sein scheint, wirke diese finale Szene „um so stärker (und rührender)“, weil mit dieser „alle Missverständnisse und falschen Bekenntnisse geklärt werden und das Mädchen zur Verkörperung der reinsten Tugend erhoben wird.“147 Es bleibt also das schon bemerkte Paradox, dass Voltaire im Anschluss an Chassirons Verurteilung der Comique larmoyante seine Nanine als Beispiel einer anrührenden comédie attendrissante von der tränenreichen und weinerlichen comédie larmoyante abgrenzt, dennoch aber deren wichtigstes dramaturgisches Prinzip adaptierte. Welche Auswirkungen dies wiederum für den Rezeption der comédie larmoyante in Deutschland hatte, zeigt unserer abschließender Blick auf Gellerts Pro comoedia commovente.
„Pro comoedia commovente“ (1751): Gellerts Theorie des rührenden Lustspiels Mit seiner 1751 entstandenen Abhandlung über das rührende Lustspiel unter dem Titel Pro comoedia commovente hat Christian Fürchtegott Gellert das weinerliche Lustspiel vier Jahre nach Die zärtlichen Schwestern auch theoretisch-poetologisch zu begründen versucht. Gellerts Reflexion reagierte bekanntlich auf die harsche Kritik des Franzosen Pierre Mathieu Martin de Chassiron an der Vermischung von Komödie und Tragödie: einerseits im Sinne der Entwicklung der heroischen Tragödie zur bürgerlichen, andrerseits im Sinne der Entwicklung der Komödie zum rührenden Lustspiel. Um die Kritik Chassirons zu widerlegen, bemüht auch Gellert die Autorität der Tradition, indem er daran erinnert, dass sowohl Griechen als auch Römer eine „doppelte Gattung von Komödie“148 kannten, also neben der „lächerlichen“ Variante, die die Verspottung von Lastern zu ihrer vornehmsten Aufgabe erhob, auch eine „sittliche“ Komödie, in welcher bereits ernsthafte und rührende Elemente verwendet wurden.149 Zudem bezieht er sich auf zwei weitere Vorläufer für seine Theorie der rührenden Komödie, und zwar auf Joseph Trapps Praelectiones Poeticae von 1722 sowie auf Batteux’ Les beaux Arts réduits à un meme principe von
145 Jaubert-Michel: Voltaire dramaturge comique, a.a.O., S. 160. 146 Ewa Mayer: Théâtre de la proximité. Wandel der Ästhetik im französischen Theater an der Schwelle zum 18. Jahrhundert (Voltaire, Crébillon (père) und Houdar de La Motte), Berlin 2009, S. 180. 147 Ebd. 148 Lessing: Werke. Band 4, a.a.O., S. 38. 149 Ebd.
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1746, man könnte auch noch auf Bernard de Fontenelle Préface génerale des siebten Bandes seines Werkes von 1751 verweisen.150 Daneben behandelt und entkräftet Gellert einen weiteren Einwand Chassirons gegen die rührende Komödie: Diese sei widersprüchlich, „weil sie rühren wolle, denn darum „können entweder die Laster und Ungereimtheiten der Menschen darinne nicht zugleich belacht werden, oder, wenn beides geschieht, so sind es weder Komödien noch Tragödien, sondern ein drittes.“151 Und dieses Dritte gleicht einem verzerrten Mischwesen, wie Gellert mit Blick auf Ovids Beispiel vom Minotaurus referiert. Gegen dieses Argument bemüht Gellert nun jene von uns bereits erörterten Beispiele der comédie larmoyante, verweist also auf Autoren wie „Destouches, de la Chaussée, Marivaux, Voltaire, Fagan und andre, deren Namen und Werke längst unter uns bekannt sind, dasjenige glücklich geleistet haben, was wir verlangen, wann sie nämlich, mit Beibehaltung der Freude und der komischen Stärke, auch Gemütsbewegungen an dem gehörigen Orte angebracht haben, welche aus dem Innersten der Handlung fließen und den Zuschauern gefallen; was bedarf es alsdann noch für andre Beweise?“152 Zudem lösten das Mitleiderregende und Zärtliche die stärksten Eindrücke auf dem Theater aus, auch im Rahmen dieses neuartigen Genres der Komödie, die gar schon durch Molières Misanthrope vorgebildet sei. Die Stücke von Destouches, La Chaussée, Marivaux und Voltaire zeigten des Weiteren, dass es „Tugenden“ im „Privatleben“ gebe, die nicht zum Verlachen seien, auch wenn sie nur zur bürgerlichen „Rechtschaffenheit“ gehörten und nicht zur „Größe“ des Adligen, dem die Tragödie vorbehalten ist. Daher solle das „Artige“ in der Komödie das „Grimassenhafte“ überwiegen.153 Die Paradoxie dieser Abhandlung liegt nun darin, dass sich Gellert zwar in seiner Verteidigung des rührenden Lustspiels u. a. auf Voltaire beruft, seine Argumentation aber dennoch gegen „die Vorrede des Hrn. v. Voltaire zu seiner ‚Nanine‘ im IX. Teile seiner Werke, Dresdner Ausgabe“154 gerichtet ist, wie Gellert einleitend bemerkt. Voltaires Vorwort dient also nur als negatives Beispiel dafür, dass man diese neue „Komödie, zum Scherz und zur Verspottung, in der französischen Sprache comédie larmoyante“155 genannt habe. Und doch können wir dieses Paradox inzwischen nachvollziehen, denn es entspricht ja der eigentümlichen Tatsache, dass Voltaire mit seiner Nanine zwar in der Tat eine rührende Komödie im Stile des Destouches und La Chaussées verfasste, in seinem Vorwort zur Nanine jedoch wesentliche Argumente der Kritik Chassirons bestätigte. Trotzdem aber – und darin 150 Denis Diderot bemüht sich dann als Theoretiker und Praktiker der Bühne, die Zwischenstellung zwischen Tragödie und Komödie auszufüllen. Er glaubt zweierlei grundverschiedene Typen der Komödie herauszustellen: die heitere („comédie gaie“) und die ernste Komödie („comédie serieuse“). Die erstere behandelt das Lächerliche des Lasters, die letztere aber muß die Tugend und die Pflichten des Menschen zum Gegenstand haben. 151 Lessing: Werke. Band 4, a.a.O., S. 42. 152 Ebd. 153 Ebd., S. 41. 154 Ebd., S. 57. 155 Ebd., S. 37.
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liegt das eigentliche Paradoxon – hat Gellert ganz offenkundig sein entscheidendes Argument aus Voltaires Vorrede zur Nanine übernommen: Dass nämlich das Rührstück im Unterschied zur Tragödie eine zärtliche Liebe zum Gegenstand habe. Wie Voltaire, so fragt also auch Gellert: „Was ist aber nun zwischen der Liebe, welche die Tragödie anwendet, und derjenigen, welche die Komödie braucht, für ein Unterscheid?“156 Und wie Voltaire, so beantwortet auch Gellert dies mit der in der Tragödie vorhandenen Form des „heroischen“, der „lärmenden“ und der „verzweifelnden“ Liebe; wohingegen in der Komödie „eine angenehm unruhige Liebe“ vorherrsche. Daraus folgt also, „daß nicht jede Liebe, besonders die zärtlichere, sich für [die Tragödie] schickt“157, ein bis in die Formulierung hinein von Voltaire entlehntes Argument, wie ein Zitat aus dessen Vorwort zur Nanine verdeutlicht: Cet académicien judicieux blâme surtout les intrigues romanesques et forcées dans ce genre de comédie, où l’on veut attendrir les spectateurs, et qu’on appelle, par dérision, comédie larmoyante. Mais dans quel genre les intrigues romanesques et forcées peuvent-elles être admises? ne sont-elles pas toujours un vice essentiel dans quelque ouvrage que ce puisse être? Il conclut enfin en disant que, si dans une comédie l’attendrissement peut aller quelquefois jusqu’aux larmes, il n’appartient qu’à la passion de l’amour de les faire répandre. Il n’entend pas, sans doute, l’amour tel qu’il est représenté dans les bonnes tragédies, l’amour furieux, barbare, funeste, suivi de crimes et de remords; il entend l’amour naîf et tendre, qui seul est du ressort de la comédie.158
Trotz dieser argumentativen Nähe zu Voltaire beginnt jedoch mit Gellerts Abhandlung ein entscheidendes und durchaus folgenschweres Missverständnis. Denn Voltaire leitete die rührende Komödie nicht wie Chassiron und später Gellert aus einer Transformation der Komödie des frühen 18. Jahrhunderts, sondern aus einer Transformation der Tragödie des 17. Jahrhunderts ab. Schon bei den Vorklassikern Mairet und Tristan l’Hermite sei die Tragödie zunehmend galanter geworden, gleiches gelte für die Helden Corneilles oder Racines, in deren Tragödien sich die Helden bisweilen wie verliebte Romanfiguren bzw. wie galante Liebhaber auszudrücken pflegten. Das Argument Chassirons wird also nicht wie bei Gellert durch eine Affirmation der Gattungsvermischung von Komödie und Tragödie widerlegt, sondern durch eine alternative Genealogie neu perspektiviert: Nicht die neuere Komödie etwa Nivelle de la Chaussées ist schuld an der Vermischung von Komischem und Tragischem, sondern die alte Tradition der tragédie classique. Voltaire betont also, dass dans notre nation la tragédie a commencé par s’approprier le langage de la comédie. Si on y prend garde, l’amour dans beaucoup d’ouvrages, dont la terreur et la pitié devraient être l’âme, est traité comme il doit l’être en effet dans le genre comique. La galanterie, les déclarations d’amour, la coquetterie, la naïveté, la familiarité, tout cela ne se trouve que trop chez nos héros et nos héroînes de Rome et de la Grèce dont nos théâtres retentissent. De sorte qu’en effet l’amour naîf et attendrissant dans une comé156 Gellert: Pro Comoedia Commovente, S. 153. 157 Ebd. 158 Voltaire: Oeuvre complètes, Bd. 1, a.a.O., S. 582.
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die, n’est point un larcin fait à Melpomène, mais c’est au contraire Melpomène qui depuis longtemps a pris chez nous les brodequins de Thalie.159
Aus zweierlei Gründen ist diese Herleitung Voltaires von Wichtigkeit. Zum einen wird dadurch die Entstehungsgeschichte des rührenden Theaters auf fast 100 Jahre vordatiert: Nicht die Komödien Nivelle de La Chaussées, die um 1740 entstanden, sondern schon die Tragödien Corneilles und Racines entwickelten elementare Bausteine eines empfindsamen Theaters, nämlich Szenen der Rührung und der Zärtlichkeit. Und zum anderen wird dadurch die gängige soziologische Erklärung des empfindsamen Theaters als Ausdruck einer genuin bürgerlichen Gefühlskultur fragwürdig, wenn Voltaire etwa Corneilles 1642 veröffentlichte Herrschertragödie Cinna ou La Clémence d’Auguste oder Racines 1668 erschienene Tragödie Andromaque als Beispiel eines rührenden Theaters anführt. Damit ist ein altes Erklärungsmodell des rührenden Lustspiels als der ursprünglichen Quelle des empfindsamen Bürgerlichen Trauerspiels nachhaltig in Frage gestellt.160 Dennoch aber ist dieses Voltairesche Argument in der Forschungsgeschichte zum rührenden Lustspiel bis heute systematisch überlesen worden. Dies liegt vor allem daran, weil Gellert in seiner Verteidigung des Weinerlich-Komischen diese Argumentation Voltaires ausgeblendet, man könnte auch sagen verschwiegen hat. Dies ist aus zweierlei Gründen erstaunlich: Zum einen, weil ein berühmter Zeitgenosse Gellerts, nämlich Johann Christoph Gottsched, noch ein Jahr vor Gellerts Abhandlung der Argumentation Voltaires beipflichtete. Im zehnten Band seiner auch Gellert sicherlich bekannten Rezensionszeitschrift Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste besprach Gottsched im Jahr 1750 nicht nur die Voltairesche Komödie, sondern bemerkte zudem an deren Vorrede, dass „nämlich in Frankreich, das Trauerspiel seit einiger Zeit angefangen, sich die Sprache des Lustspieles zuzueignen.“161 Und zudem ist Gellerts Ausblendung der Genealogie Voltaires deshalb so eigentümlich, weil Gellert ja sein wichtigstes Argument von Voltaire entlehnte, also im Grunde Voltaires Vorwort zur Nanine als Beleg hätte verwenden können. Dieses eigentümliche Verschweigen der Vorreiterrolle Voltaires ist folgenreich. Schon 1754 hatte Lessing in seiner Theatralischen Bibliothek Gellerts Abhandlung für das rührende Lustspiel gemeinsam mit Chassirons Betrachtungen über das weiner159 Voltaire: Oeuvre complètes, Bd. 1, Paris 1835, S. 582. 160 Vgl. zu dieser sehr bekannten Herleitung des Bürgerlichen Trauerspiels aus dem rührenden Lustspiel etwa: Lothar Pikulik: ‚Bürgerliches Trauerspiel‘ und Empfindsamkeit; Helmut Hoopmann: Drama der Aufklärung, S. 101; Walter Hinck: Das bürgerliche Lustspiel im 18. Jahrhundert, S. 17, oder Horst Steinmetz: Die Komödie der Aufklärung, Stuttgart 1966, S. 48. Im Sinne dieser Forschung heißt es später bei Peter-André Alt: „Besondere Bedeutung für die neue Gattungsform [des bürgerlichen Trauerspiels, B.M.S.] besitzt die Abkehr von der Dramaturgie der Bewunderung, wie sie die Gottsched-Ära bestimmt hatte. An ihre Stelle tritt das Wirkungsziel der Rührung, das das bürgerliche Trauerspiel wiederum von der comédie larmoyante bzw. der englischen sentimental comedy erbt.“, vgl.: Peter-André Alt: Tragödie der Aufklärung. Eine Einführung, Tübigen und Basel: Francke 1994, S. 152. 161 Johann Christoph Gottsched (Hg.): Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste. 10. Bd, Leipzig Verlegts Bernhard Christoph Breitkopf, 1750, S. 72–80, hier S. 74.
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lich Komische veröffentlicht, um die Diskussion um das Pro und Contra dieser neuen Gattung zu dokumentieren. Dabei hatte Lessing die Argumente Voltaires offenkundig gekannt, wenngleich er die von Voltaire entwickelte Herleitung der Rührung aus der tragédie tendre nicht eigens erwähnt. In seiner zusammenfassenden Betrachtung am Ende seiner Abhandlung entwickelt Lessing jedoch eine sehr deutlich an Voltaire orientierte Lösung. Lessing nimmt also die Diskussion zwischen Gellert und Chassiron zum Anlass, um neben dem weinerlichen Lustspiel sowie dem Possenspiel eine – der „grand comique“ Voltaires entsprechende – „wahre Komödie“ zu definieren, deren Absicht es sei, Rührung und Lachen zugleich zu erregen: Noch einmal also mit einem Worte: das Possenspiel will nur zum Lachen bewegen; das weinerliche Lustspiel will nur rühren; die wahre Komödie will beides. Man glaube nicht, daß ich dadurch die beiden erstern in eine Klasse setzen will; es ist noch immer der Unterscheid zwischen beiden, der zwischen dem Pöbel und Leuten von Stande ist. Der Pöbel wird ewig der Beschützer der Possenspiele bleiben, und unter Leuten von Stande wird es immer gezwungne Zärtlinge geben, die den Ruhm empfindlicher Seelen auch da zu behaupten suchen, wo andre ehrliche Leute gähnen. Die wahre Komödie allein ist für das Volk, und allein fähig einen allgemeinen Beifall zu erlangen, und folglich auch einen allgemeinen Nutzen zu stiften. Was sie bei dem einen nicht durch die Scham erlangt, das erlangt sie durch die Bewunderung; und wer sich gegen diese verhärtet, dem macht sie jene fühlbar.162
Dennoch aber beruft sich Lessing an dieser Stelle nicht auf Voltaire: Wir haben es also offenkundig auch bei Lessing mit einer systematischen Ausblendung der tragédie tendre als Ursprung des empfindsamen Theaters zu tun. Und erst durch dieses Vergessen der noch von Voltaire und Gottsched gewussten Tradition der tragédie tendre konnte sich im Deutschland der 1740er Jahre der einflussreiche Glaube entfalten, das Bürgerliche Trauerspiel sei die historisch erste Form der rührenden Tragödie. Zwar stimmt dies noch nicht für Friedrich Nicolai, der 1757 in seiner Abhandlung vom Trauerspiele die Gattung der rührenden bzw. bürgerlichen Trauerspiele noch am Beispiel von Crebillons Thyest, Corneilles Medea und Voltaires Zaire erläuterte, also die Voltairesche Genealogie übernahm.163 Lessing hingegen wird von jener durch Gellert geprägten und aus historischer Sicht verblüffenden Prämisse ausgehen, dergemäß das rührende bzw. empfindsame Theater erst mit dem Lustspiel La Chaussées einsetzt. Denn angesichts dieser Prämisse stellt Lessing die für seine Tragödie wohl zentrale Frage: Wie lässt sich die Zärtlichkeit zu einem Thema der Tragödie bzw. des bürgerlichen Trauerspiels machen, wenn sie doch nach Gellert einzig in der Komödie denkbar ist? Lessing wird also nun davon ausgehen, dass die ‚Rührung‘ in der Komödie entstand, weil die zärtliche Didaktik gemäß der poetischen Gerechtigkeit belohnt wurde. Und er wird, dies gilt es im folgenden Kapitel zu zeigen, seine Poetik des ‚Mitleid‘ dadurch entstehen lassen, dass er in seiner Tragödie die zärtliche Didaktik entgegen der poetischen Gerechtigkeit untergehen lässt. So entsteht die nun zu erläuternde Krise der Zärtlichkeit. 162 Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 4, München 1970 ff., S. 55. 163 Schulte-Sasse: Briefwechsel über das Trauerspiel, a.a.O., S. 25.
ZWEITER TEIL: DAS ENDEN DES ZÄRTLICHEN THEATERS (1740–1780)
I. DIE KRISE DER ZÄRTLICHKEIT:
Lessings Weg von der Miss Sara Sampson zur Emilia Galotti Wir haben in den letzten Kapiteln drei grundlegende Varianten des empfindsamen bzw. rührenden Theaters kennengelernt: Die französische tragédie tendre, die britische sentimental comedy und die französische comédie larmoyante. Alle drei Theaterformen ließen sich mehr oder weniger deutlich als Produkte des Zärtlichkeitsdiskurses des französischen siècle classique identifizieren: Racines tragédie tendre war unmittelbares Resultat dieses Diskurses; die comédie larmoyante war ebenso wie deren Vorläufer, die sentimental comedy, eine Korrektur jener seit Molière kursierenden satirischen Kritik der tendresse, die Molière noch als Indikator einer gekünstelten Preziösität deutete. In beiden Komödienformen wurde die tendresse bzw. tenderness einer Positivierung unterzogen, und konnte so zur Grundlage der um 1700 entstehenden Komödie der Empfindsamkeit werden. Die Zärtlichkeit wurde so ein elementarer Bestandteil der empfindsamen bzw. rührenden Komödie, sowohl in den im England der Jahrhundertwende entstandenen Komödien Colley Cibbers und Richard Steeles, als auch in den im Frankreich der 1720er und 1730er Jahre entstandenen Komödien von Destouches, La Chaussée und Marivaux. Zudem ließen sich Einflüsse erkennen: Auf Gellerts rührendes Lustspiel wirkte weit stärker die comédie larmoyante, auf Johann Elias Schlegels Lustspiele hingegen weit stärker die sentimental comedy. Diese Differenz zeigte sich insbesondere in dem nur bei Schlegel nachweisbaren Motiv der Beschämung als dem zentralen didaktischen Prinzip der sentimental comedy. Diese Didaktik der Beschämung konnten wir auf den Einfluss der Erziehungslehre John Lockes zurückführen und in ihrer Wirkung sowohl in Schlegels Tragödien – dem Canut – als auch in seinen Komödien, also dem Triumph der guten Frauen nachzeichnen. Dagegen ließ sich das Wirkungsprinzip der Rührung stärker im französischen Theater, in der tragédie tendre sowie der für Gellert wichtigen comédie larmoyante nachweisen. Vor diesem Hintergrund werden wir nun das Werk Lessings innerhalb der Geschichte des empfindsamen Theaters neu zu verorten suchen. Wir gehen davon aus, dass Lessings sehr genaue Kenntnis sowohl der empfindsamen Herrschertragödie, also der tragédie tendre Racines und Voltaires, als auch des rührenden Lustspiels die wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung seines Tragödienkonzeptes gewesen ist. Freilich wurde Lessings Tragödienkonzept bisher stets anhand der Theorie des sogenannten „bürgerlichen Trauerspiels“ untersucht.1 Und das bürgerliche Trauer1 Vgl. dazu etwa: Lothar Pikulik: ‚Bürgerliches Trauerspiel‘ und Empfindsamkeit; Helmut Hoopmann: Drama der Aufklärung, S. 101; Walter Hinck: Das bürgerliche Lustspiel im 18. Jahrhundert, S. 17, oder Horst Steinmetz: Die Komödie der Aufklärung, Stuttgart 1966, S. 48.
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spiel wurde zumeist über die Opposition zur französischen tragédie classique definiert: Wo die klassizistische Tragödie aristokratische Personen auf die Bühne bringt, fokussiert das bürgerliche Trauerspiel einen privaten bzw. ‚häuslichen‘ Bereich, in welchem es sein neuartiges Ethos einer tugendhaften Empfindsamkeit verwirklicht sieht – so lautet bis heute eine Grundformel der Forschung. So fraglos Lessings Beitrag zur Empfindsamkeit ist2, so fraglos ging man davon aus, dass die Herrschertragödien der französischen Klassik für Lessings Theater der Empfindsamkeit keinerlei Rolle spielten, da sie inhaltlich am Motiv der Staatsräson und formal am Wirkprinzip der Bewunderung orientiert seien. Einflussreich für Lessings Bürgerliches Trauerspiel sei allenfalls Gellerts empfindsame bzw. rührende Komödie sowie deren französisches – Pierre Nivelle La Chaussée und dessen comédie larmoyante3 – und vor allem englisches Pendant, die sentimental comedy. Dagegen ist die von uns bisher erarbeitete, von Autoren wie Racine, Dryden, Otway, Rowe, Voltaire oder Schlegel geprägte Gattung der empfindsamen Herrschertragödie bzw. der tragédie tendre in der Lessing-Forschung bis heute weitestgehend unbekannt. Wenn neben dem rührenden Lustspiel überhaupt ein Genre der Tragödie als Vorläufer des Bürgerlichen Trauerspiels diskutiert wurde, dann war dies die englische domestic tragédy, wie wir schon eingangs in unserem Rekurs auf die Diskussion zwischen Szondi und Pikulik verdeutlichten. Freilich ist das Personal der Miss Sara Sampson dem englischen Theater entlehnt, und unbestreitbar ist zudem Lessings intensive Auseinandersetzung mit der britischen Tradition des moral sense im Sinne der Gefühlsethik Shaftesburys, aus welcher er in den 1750er Jahren wesentliche Anregungen für seine Mitleidspoetik gewann.4 Fragwürdig ist jedoch jene bis heute die Forschung zu Lessing dominierende Prämisse, nach welcher man Lessings wohl wichtigste Tragödie, die Miss Sara Sampson, als Produkt einer ausschließlich englischen Variante der Empfindsamkeit begreifen müsse. Schon Gisbert Ter-Nedden sprach äußerst kritisch von dieser einflussreichen „Deutung der Sara als ‚einer Zusammensetzung aus den Grundmotiven des Kaufmanns von London, des ersten bürgerlichen Trauerspiels einerseits, und der Clarissa Harlowe, des ersten bürgerlichen Familienromans, andererseits.‘“5 Diese gehörte jedoch nicht nur in den 1980er Jahren „zum literarhistorischen Handbuchwissen“6, sondern ist trotz der überzeugenden Kritik Ter-Neddens stetig
2 Vgl.: Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt: Sinn und Unsinn literaturwissenschaftlicher Innovation. Mit Beispielen aus der neueren Forschung zu G.E. Lessing und zur „Empfindsamkeit“, in: Aufklärung 13 (2001), S. 33–69. 3 Es ist auffallend, dass in der Forschung – etwa in Peter André Alts Studie zur Tragödie der Aufklärung – die comédie larmoyante höchst selten am Beispiel von Destouches und Marivaux untersucht wird. Als Vorläufer für jenes das „bürgerliche Trauerspiel“ kennzeichnende „Wirkungsziel der Rührung“ werden bei Alt nur Steele und La Chaussée genannt, vgl.: Alt: Tragödie der Aufklärung, a.a.O., S. 149–162, hier S. 152ff. 4 Vgl. dazu: Jan Engbers: Der „Moral-Sense“ bei Gellert, Lessing und Wieland. Zur Rezeption von Shaftesbury und Hutcheson in Deutschland, Heidelberg 2001. 5 Vgl.: Ter-Nedden: Lessings Trauerspiele, a.a.O., S. 14. 6 Ebd.
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neu kolportiert worden.7 Beide Quellen – Richardson sowie Moore und Lillo – dienen einer nach wie vor erkennbar an Sauders Bürgerlichkeitsthese orientierten Lessing-Forschung dazu, die Miss Sara Sampson als „Lessings englisches Trauerspiel“ zu identifizieren: geprägt vom „Mut eines jungen deutschen Komödienschreibers, die englische Eigenwilligkeit einer ‚domestic tragedy‘ erstmals für den Kontinent zu reklamieren, [um so] die Emanzipation der deutschen Literatur vom französischen Über-Ich“8 zu betreiben. Und noch der jüngsten Forschung gilt „Miss Sara Sampson als Fall von Richardson-Rezeption“9, wenngleich Ter-Nedden „Lessings Skepsis gegenüber dem zweideutigen Asketismus Richardsons“10 sehr überzeugend nachwies. Hintergrund dieser Forschungsprämisse ist zweifellos der berühmte 17. Literaturbrief Lessings vom 16. Februar 1759, welcher im Namen Shakespeares die französische Tragödie und deren Forum, Gottscheds Deutsche Schaubühne scharf kritisierte. Peter-André Alt sprach diesbezüglich von Lessings „Abkehr von der Dramaturgie der Bewunderung, wie sie die Gottsched-Ära bestimmt hatte“, ging also von Lessings kritischer Distanzierung der Tragödientradition des frühen 18. Jahrhunderts aus: „An ihre Stelle tritt das Wirkungsziel der Rührung, das das bürgerliche Trauerspiel wiederum von der comédie larmoyante bzw. der englischen sentimental comedy erbt.“11 Allerdings war diese Abkehr auch ein Umbruch im Werk Lessings selbst, denn noch 1753 sah Lessing in Gottsched einen Gelehrten, „dem die deutsche Bühne so viel zu danken hat, und dem sie immer so schlecht gedankt hat.“12 Selbst wenn Lessing also im 17. Literaturbrief zur Opposition gegen Gottsched aufruft, dann kann dies keinesfalls über seine enge Bindung an Gottsched in den 1740er und frühen 1750er Jahren hinwegtäuschen. Schon Paul Rilla betonte, dass Lessings Komödien „durchaus nach dem von Gottsched aufgestellten Muster gearbeitet wurden“13, und auch Amadou Booker Sadijs Studie über Lessing und das französische Theater von 1982 ging davon aus, dass „Lessing, als er die Messestadt Leipzig im November 1748 verließ, um nach Berlin zu gehen, noch wie alle deutschen Schriftsteller der damaligen Zeit Anhänger der Gottschedschen 7 Zwar wurde diese Herleitung schon durch die wichtige Studie von Paul Peter Kies widerlegt, der bekanntlich das Personal der Miss Sara Sampson in der britischen Restaurationskomödie wiederfand, also etwa in Thomas Shadwells The Squire of Alsatia. Dennoch aber ist dieser Einfluss immer wieder betont worden, ganz emphatisch noch in der Studie von Brita Hempel: Sara, Emilia, Luise: drei tugendhafte Töchter. Das empfindsame Patriarchat im bürgerlichen Trauerspiel bei Lessing und Schiller. Heidelberg 2006, S. 41–47. 8 Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden: Band 3: Werke 1754–1757, a.a.O., S. 1212f. 9 Hartmut Reinhardt: Märtyrerinnen des Empfindens. Lessings Miss Sara Sampson als Fall von Richardson-Rezeption, in: Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert, hg. v. Hans E. Friedrich, Fotis Jannidis, Marianne Willems, Tübingen 2006, S. 343–375. 10 Ter-Nedden: Lessings Trauerspiele, a.a.O., S. 18. 11 Vgl.: Peter-André Alt: Tragödie der Aufklärung. Eine Einführung, Tübigen und Basel: Francke 1994, S. 152. 12 Gotthold Ephraim Lessing: Werke 1751–1753, hg. v. Jürgen Stenzel, in: Ders.: Bd. 2, Frankfurt/ Main, 1998, S. 521. 13 Paul Rilla: Lessing und sein Zeitalter, München, 1973, S. 31.
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und infolgedessen der Voltaireschen Dramatik oder des französischen Klassizismus war“14, also „bis zum 17. Literaturbrief keinesfalls die französische Tragödie in großen und ganzen ablehnte.“15 Lessing kannte das empfindsame Theater im Sinne der französischen comédie larmoyante sicherlich schon vor jener Diskussion um Nivelle de La Chaussée, wie sie Chassiron und Gellert führten. Dies zeigt seine 1750 gemeinsam mit Christlob Mylius verfassten Rezension von Voltaires Nanine, die Voltaires Komödie als comédie attendrissant von der comédie larmoyante unterschied, weshalb Lessing wohl entsprechend bemerkte, dass sich deren „Materie mehr zu einem bürgerlichen Trauerspiele als zu einer guten Tragikomödie schickt.“16 Klang dies noch kritisch, so findet sich schon zwei Jahre später eine regelrecht begeisterte Rezension der Voltaireschen Tragödie Amélie ou le Duc de Foix, die Lessing 1752 in der Berlinischen Privilegierten Staats- und Gelehrten Zeitung veröffentlichte.17 Ähnlich emphatisch klingt zudem seine am 24. Mai 1753 für die Berlinische Zeitung verfasste Rezension der Cénia; ein Rührstück, welches die französische Schriftstellerin Madame de Graffigniy 1750 verfasste und die Louise Gottsched im Jahre 1753 übersetzte: Cenie ist ein Meisterstück in dem Geschmacke der weinerlichen Lustspiele. Die Kunstrichter mögen wider diese Art dramatischer Stücke einwenden was sie wollen; das Gefühl der Leser und Zuschauer wird sie allezeit verteidigen, wenn ihre Verfasser anders das sanftere Mitleiden ebenso geschickt zu erwecken wissen als die Frau v. Graffigny. Sie hat an der Frau Gottschedin die würdigste Übersetzerinn gefunden, weil nur Diejenigen zärtliche Gedanken zärtlich verdolmetschen können, welche sie selbst gedacht zu haben fähig sind.18
Lessing kannte und schätzte das französische Theater jedoch nicht nur als Rezensent. Wir wissen seit der grundlegenden Studie von Jutta Golawski-Braungart, dass Lessing zudem als Mittler französischer Dramatiker und Theoretiker fungierte, und zwar nicht erst seit seinen Übersetzungen Diderots. Schon den dritten Teil der für die medientheoretischen Reflexionen seines Laokoon äußerst wichtigen Réflexions Critiques des Abbé Dubos übersetzte Lessing unter dem Titel Des Abts du Bos Ausschweifung von den theatralischenVorstellungen der Alten 1755 als drittes Stück der Theatralischen Bibliothek.19 Ebenso einflussreich war seine 1750 unter dem Titel Die Schauspielkunst, an die Madame*** entstandene Übersetzung von Antoine 14 Amadou Booker Sadji: Lessing und das französische Theater, Stuttgart, 1982, S. 76. 15 Ebd., S. 78. 16 Lessing/Mylius: Beiträge zur Historie und Aufnahme des Theaters. Erstes Stück, V (1750), in: Lessings Werke. Vollständige Ausgabe in fünfundzwanzig Teilen, hg.v. Julius Petersen und Waldemar von Ohlshausen, Berlin u. a. 1925ff., Bd. XII, S. 73. 17 „Was für ein Dichter! welcher auch in seinem Alter das Feuer seiner Jugend beibehalten hat; so wie er in seiner Jugend die bedächtliche Kritik des Alters gleichsam sich im voraus weggenommen hatte. Man besorge nur nicht, dass er wohl noch das Schicksal des großen Corneille haben könne. Und gesetzt; was wäre es mehr? Sind nicht auch in den jüngsten Stücken dieses Dichters tausend Stellen, wovon eine einzige einen ganzen ‚Colligny‘ wert ist?“ Vgl.: Gotthold Ephraim Lessing: Werke 1751–1753, hg. v. Jürgen Stenzel, in: Ders.: Bd. 2, Frankfurt/Main, 1998, S. 466. 18 Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. II, S. 503. 19 Jutta Golawski-Braungart: Die Schule der Franzosen, Tübingen und Basel 2005, S. 93ff.
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Francois Riccobonis Abhandlung L’Art du Theatre. A Madame ***, die Lessing nicht nur als Regelwerk für Schauspieler deutete, sondern zudem als dramaturgische Handreichungen zur Entwicklung empfindender Protagonisten, wie Galowski-Braungart gerade am Beispiel der Miss Sara Sampson zeigte: Wir werden darauf zurückkommen.20 Insofern gehe ich nicht davon aus, dass Lessing erst durch eine Loslösung von Gottsched und dessen an der tragédie classique entwickelten Regelpoetik zu seinem Theater der Empfindsamkeit kam, das in Richardson und der domestic tragedy seine Vorläufer hat. Eine genauere Deutung des 17. Literaturbriefes wird vielmehr verdeutlichen, dass diese in der Forschung so häufig kolportierte These nicht länger zu halten ist. Stattdessen ist davon auszugehen, dass gerade der 17. Literaturbrief eine Intensivierung der Auseinandersetzung Lessings mit der französischen Tradition der empfindsamen Tragödie darstellt.
Der 17. Literaturbrief, oder: Lessing, Voltaire und die Krisendiagnose der Zärtlichkeit ‚Niemand‘, sagen die Verfasser der Bibliothek ‚wird leugnen, daß die deutsche Schaubühne einen großen Teil ihrer ersten Verbesserung dem Herrn Professor Gottsched zu danken habe.‘ Ich bin dieser Niemand; ich leugne es geradezu. Es wäre zu wünschen, daß sich Herr Gottsched niemals mit dem Theater vermengt hätte. Seine vermeinten Verbesserungen betreffen entweder entbehrliche Kleinigkeiten oder sind wahre Verschlimmerungen. […] [Gottsched] hätte aus unsern alten dramatischen Stücken,welche er vertrieb, hinlänglich abmerken können, daß wir mehr in den Geschmack der Engländer als der Franzosen einschlagen; daß wir in unsern Trauerspielen mehr sehen und denken wollen, als uns das furchtsame französische Trauerspiel zu sehen und zu denken gibt; daß das Große, das Schreckliche, das Melancholische besser auf uns wirkt als das Artige, das Zärtliche, das Verliebte; daß uns die zu große Einfalt mehr ermüde als die zu große Verwickelung usw.21
Diese berühmten Eröffnungsworte des 17. Literaturbriefes sind bisher kaum in ihrer Paradoxie erkannt worden. Denn das Eigentümliche an dieser einleitenden Erklärung ist die Tatsache, dass Lessing hier ein Theater der „Zärtlichkeit“ und „Verliebtheit“ – also ein Theater der Empfindsamkeit – auf eine von Gottsched popularisierte französische Tradition zurückführt, gegen welche er sich dann im Namen Shakespeares abgrenzt. Wie zutreffend diese Bemerkung ist, hat unser umfangreicher Rekurs auf die Gattung der empfindsamen Herrschertragödie erwiesen, die in der Tat von Racine ausging und in Gottscheds Deutscher Schaubühne Bekanntheit und Rezeption erlangte. Nun hatte Lessing jedoch sowohl in der Miss Sara Sampson als auch – wie noch zu zeigen ist – in seiner Emilia Galotti an einem Theater der Zärtlichkeit partizipiert, obwohl dieses nach Lessings eigener Aussage auf Racine zurückgeht. Lessing distanziert also im 17. Literaturbrief die eigenen, 20 Ebd., S. 35–62. 21 Lessing: Werke in drei Bänden, Band 2, hg. v. Herbert Georg Göpfert, München 1982, S. 624.
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bis hin zur Miss Sara Sampson wirkungsmächtigen Wurzeln [s]eines empfindsamen Theaters. Dieses bereits betonte Paradox wird in seinem Umfang vollends deutlich, wenn wir den 17. Literaturbrief hinsichtlich seiner diskursiven Vernetzung untersuchen. Denn die von Lessing formulierte Polarisierung geht letztlich zurück auf Voltaire, also auf einen weiteren französischen Vertreter der tragédie tendre. Lessing reformuliert im 17. Literaturbrief einen Gedanken, den Voltaire zu Beginn seiner theatergeschichtlichen Arbeiten entwickelte, als ihm während eines 1726 beginnenden Englandaufenthaltes die enorme Bedeutung Shakespeares für ein modernes Theater deutlich wurde. Schon 1730 hatte Voltaire die Vorzüge des englischen Theaters für sich erkannt, als er mit Blick auf Racine und Shakespeare den Unterschied des französischen und des englischen Dramas bestimmte. Im Vorwort zu seiner Tragödie Brutus, dem Discours sur la tragédie aus dem Jahre 1730, warb Voltaire im Rahmen seiner Übersetzung der Brutus-Rede aus der dritten Szene des zweiten Aktes von Shakespeares Julius Caesar für das englische Theater. Zur gleichen Zeit gestand er einem Briefpartner, dem britischen Politiker Henry St. John, dem 1. Viscount Bolingbroke, offen den Mangel an Handlung in den französischen Dramen zu: „Mais vos pièces les plus irrégulières ont un grand mérite, c’est celui de l’action. […] Nous craignons de hasarder sur la scène des spectacles nouveaux devant une Nation accoutumée à tourner en ridicule tout ce qui n’est pas d’usage.“22 Im besagten Vorwort seiner Tragödie Brutus, dem Discours sur la tragédie, diskutierte Voltaire den neuen empfindsamen Tonfall der französischen tragédie tendre, deren Einfluss auf das britische Theater bzw. die Dramen Thomas Otways bereits erkennbar sei: On reproche à notre nation d’avoir amolli le théâtre par trop de tendresse; et les Anglais méritent bien le même reproche depuis près d’un siècle, car vous avez toujours un peu pris nos modes et nos vices. Mais me permettez-vous de vous dire mon sentiment sur cette matière? Vouloir de l’amour dans toutes les tragédies me paraît un goût efféminé; l’en proscrire toujours est une mauvaise humeur bien déraisonnable. Le théâtre, soit tragique, soit comique, est la peinture vivante des passions humaines. L’ambition d’un prince est représentée dans la tragédie; la comédie tourne en ridicule la vanité d’un bourgeois. Ici, vous riez de la coquetterie et des intrigues d’une citoyenne; là, vous pleurez la malheureuse passion de Phèdre: de même, l’amour vous amuse dans un roman, et il vous transporte dans la Didon de Virgile. L’amour dans une tragédie n’est pas plus un défaut essentiel que dans l’Énéide; il n’est à reprendre que quand il est amené mal à propos, ou traité sans art.23
Zwei Jahre später betonte Voltaire in dem seinem Versepos La Henriade angehängten Essai sur la poésie épique dagegen die Differenz der englischen und der französischen Kultur: „combien grande est la difference entre les goûts des nations.“24 Und an anderer Stelle: „Qu’on examine tous les autres arts, il n’y en a aucun qui ne re22 Œuvres complètes de Voltaire, Band 1, Paris 1859, S. 209. 23 Ebd., S. 215. 24 Oeuvres completes de Voltaire, Band 2, Paris 1859, S. 356.
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coive des tours particuliers du génie différent des nations qui les cultivent!“25 Wenn Voltaire diesbezüglich „La force, l’énergie, la hardiesse“ als die genuinen Stärken der englischen Tragödie begreift, und dagegen „la clarté, l’exactitude, l’élégance“26 zu den Stärken der französischen Bühne zählt, dann liegt dies freilich daran, weil er das Drama Corneilles und Racines nun nicht mehr mit Otway, sondern mit Shakespeare verglich. Diese mehrfach wiederholten Urteile Voltaires hatte bereits 1755 in seinen Briefen über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften der damals 22jährige Friedrich Nicolai reformuliert. So heißt es im 11. Brief, es sei „zu wünschen, daß die engländische Schauspiele bei uns nicht so gering geschätzet würden.“27 Den Schuldigen für diese fehlende Wertschätzung sah schon Nicolai in Gottsched, zudem verwies schon Nicolai auf die „Größe und die Mannigfaltigkeit der Charaktere“ als einem jener Vorzüge, die „die Deutschen von den Engländern lernen können.“28 Und schon Nicolais Beispiel dafür ist Shakespeare, ein „Mann ohne Kenntnis der Regeln, ohne Gelehrsamkeit, ohne Ordnung“29, dessen „Ruhm“ auf die „Mannigfaltigkeit“ und „Stärke“ seiner Charaktere zurückgehe. Auch Lessings kritisches Urteil über ‚die Franzosen‘ bereitet Nicolai vor, erkennbar auf Voltaires Abhandlung Discours sur la tragédie aus dem Jahre 1730 Bezug nehmend: Die Franzosen gestehen es selbst, daß ihre allzugroße Zärtlichkeit und Weichlichkeit ihnen nicht erlaubt, viel Charaktere auf ihr Theater zu bringen, die auf dem engländischen Theater die glücklichste Wirkung tun.30
Lessing reformulierte also lediglich jene von Nicolai den Schriften Voltaires entlehnte Unterscheidung zwischen französischer und englischer Bühne, wenn er im 17. Literaturbrief betont, dass gerade die Handlungsfülle Shakespearescher Dramen dem deutschen Geschmack eher entspräche: „Wir wollen in unseren Trauerspielen mehr sehen und denken als uns das furchtsame französische Trauerspiel zu sehen und zu denken gibt. […] die zu große Einfalt ermüdet uns mehr als die zu große Verwicklung.“31 Seine Unterscheidung verschiedener Stimmungen der Phantasie – die Vorliebe der Engländer für „das Große, das Schreckliche, das Melancholische“, die Hinneigung der Franzosen zu „dem Artigen, dem Zärtlichen, dem Verliebten“ – ist daher zweifellos den Essays Voltaires bzw. den Voltaires Argumente reformulierenden Briefen Nicolais entlehnt. Lessings Ende der 1750er Jahre vollzogener Wandel, also seine Loslösung vom Klassizismus der Schaubühne Gottscheds ist demnach auf den Einfluss des jungen Nicolai zurückzuführen bzw. als letztlich Voltairesche Argumentation zu verstehen. Wenn dieser offenkundige Ein-
25 Ebd., S. 354. 26 Ebd., S. 355. 27 Friedrich Nicolai: Kritik ist überall, zumal in Deutschland, nötig: Satiren und Schriften zur Literatur, München 1775, S. 188. 28 Ebd. 29 Ebd. 30 Ebd., S. 189. 31 Lessing: Werke. Band 5, München 1970 ff., S. 70.
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fluss Voltaires auf Lessing bisher kaum wirklich untersucht wurde32, dann liegt dies freilich daran, weil Voltaire im 17. Literaturbrief – obwohl er Lessing das Argument liefert (!) – zu seinen Ungunsten mit Shakespeare verglichen wird. Und zwar geschieht dies in einer eigentümlichen Argumentation, die zwar Voltaire als Kopisten Shakespeares diskreditiert, ihn aber zugleich als durchaus einmaligen Autor der Rührung beschreibt: Der Engländer erreicht den Zweck der Tragödie fast immer, so sonderbare und ihm eigene Wege er auch wählet; und der Franzose erreicht ihn fast niemals, ob er gleich die gebahnten Wege der Alten betritt. Nach dem ‚Ödipus‘ des Sophokles muß in der Welt kein Stück mehr Gewalt über unsere Leidenschaften haben, als ‚Othello‘, als ‚König Lear‘, als ‚Hamlet‘ etc. Hat Corneille ein einziges Trauerspiel, das Sie nur halb so gerühret hätte, als die ‚Zayre‘ des Voltaire? Und die ‚Zayre‘ des Voltaire, wie weit ist sie unter dem ‚Mohren von Venedig‘, dessen schwache Kopie sie ist, und von welchem der ganze Charakter des Orosmans entlehnet worden?33
Dieses eigentümliche Verschweigen der Einflüsse Voltaires kennen wir bereits aus Gellerts Abhandlung pro comoedie commovente, welche ja ebenfalls über Voltaire hinauszugehen meinte, aber zugleich das entscheidende Argument aus Voltaire entlehnte. Auch Gellert bediente sich in seiner Verteidigung der empfindsamen Komödie der Argumente Voltaires, welche dieser gegen die Genrekritik Chassirons vorprägte. Denn wie Voltaire, so verteidigte auch Gellert die rührende Komödie mit dem Argument, dass diese im Unterschied zur Tragödie eine zärtliche Liebe zum Gegenstand habe. Dieser Hinweis entspricht – wie im letzten Kapitel bezeigt – der Antwort Voltaires auf den Vorwurf Chassirons, in der rührenden Komödie wäre die Grenzziehung zur Tragödie nicht mehr möglich. Angesichts des Schlusssatzes der Abhandlung Chassirons über die Comique-larmoyant – „Il conclut enfin en disant, que si dans une comédie l’attendrissement peut aller quelquefois jusqu’aux larmes, il n’appartient qu’à la passion de l’amour de les faire répandre.“34 – bemerkte Voltaire: „Il n’entend pas sans doute l’amour tel qu’il est représenté dans les bonnes tragédies, l’amour furieux, barbare, funeste, suivi de crimes et de remords; il entend l’amour naîf et tendre, qui seul est du ressort de la comédie.“35 Gellert stellte in seiner Abhandlung die identische Frage: „Was ist aber nun zwischen der Liebe, welche die Tragödie anwendet, und derjenigen, welche die Komödie braucht, der Unterscheid?“36 Und Gellert sah ganz wie Voltaire die – von Chassiron übersehene – Differenz in jener „heroischen“, „lärmenden“ und „ver-
32 Eine der wenigen Untersuchungen diesbezüglich stammt von Armand Nivelle: Aspekte der ‚Disputirkunst‘ bei Voltaire und Lessing, in: Streitkultur: Strategien des Überzeugens im Werk Lessings; Referate der Internationalen Lessing-Tagung der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und der Lessing Society an der University of Cincinnati, Ohio/USA, vom 22. bis 24. Mai 1991 in Freiburg im Breisgau, hg. v. Wolfram Mauser, Tübingen 1993, S. 420–427. 33 Lessing: Werke, Bd. 5, a.a.O., S. 71. 34 Voltaire: Oeuvres complètes Band 1, a.a.O., S. 582. 35 Ebd. 36 Lessing: Werke. Band 4, a.a.O., S. 39f.
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zweifelnden“ Liebe, die nur der Tragödie bekannt sei.37 Dagegen präge die rührende Komödie „eine angenehm unruhige Liebe, welche zwar in verschiedene Hindernisse und Beschwerlichkeiten verwickelt wird, die sie entweder vermehren oder schwächen, die aber alle glücklich überstiegen werden.“38 Während demnach die Affekte des Mitleidens und Schreckens der Tragödie angehörten; und das Lustige und Lächerliche für die klassische Komödie bzw. Farce kennzeichnend sei, wäre in der rührenden Komödie das Zärtliche und Mitleiderregende zu verorten. Eine Komödie rührt also dann, wenn sie „eine tugendhafte, gesetzte und außerordentliche Liebe vorstellet“, woraus Gellert wiederum folgerte, „daß nicht jede Liebe, besonders die zärtlichere, sich für [die Tragödie] schickt“39. 1754 hatte Lessing in seiner Theatralischen Bibliothek Gellerts Abhandlung für das rührende Lustspiel gemeinsam mit Chassirons Betrachtungen über das weinerlich Komische veröffentlicht, um die Diskussion um das Pro und Contra dieser neuen Gattung zu dokumentieren. Schon im Titel nimmt Lessing auf Voltaire Bezug, insofern Lessings Abhandlung über das weinerliche oder rührende Lustspiel Voltaires Unterscheidung zwischen comédie larmoyante und comédie attendrissante variiert. Insofern kannte er zweifellos die Argumente Voltaires, die Gellert in seiner Abhandlung ja schlichtweg reformulierte. Um so erstaunlicher ist daher, dass Lessing in seiner Konfrontation von englischer und französischer Tragödie bzw. von Shakespeare und tragédie classique in nahezu identischer Art und Weise auf Voltaire Bezug nahm, um ihn dann gleichsam ‚mit dem Bade auszuschütten’: Wie schon Gellert es tat. Ganz so einfach wie bei Gellert ist die Sache freilich nicht. Denn Lessing musste sich ja gerade hinsichtlich seiner Miss Sara Sampson die Frage stellen, wie man die Zärtlichkeit zu einem Thema der Tragödie bzw. des bürgerlichen Trauerspiels entwickeln kann, wenn sie doch nach Voltaire und Gellert einzig in der Komödie denkbar ist? Diese Möglichkeit einer Dramatisierung der zärtlichen Beziehung schloss Gellert kategorisch aus: Ein Votum, welches Lessing aufgrund seiner Übersetzung und Kommentierung der Gellertschen Abhandlung zweifellos bekannt und vertraut war. Wie gelingt Lessing aber dann die Dramatisierung der zärtlichen Liebe, also deren Wendung ins Tragische? Zweifellos musste Lessing diese Problematik gerade hinsichtlich jener wichtigen Entwicklung von den frühen Lustspielen hin zum ‚Bürgerlichen Trauerspiel‘ der 1750er Jahre bewusst gewesen sein. Meine These ist nun, dass Lessing diese Frage mit Voltaire beantwortete. Dies ist im Grunde schon seinen zusammenfassenden Betrachtungen am Schlusse seiner Abhandlung von dem weinerlichen oder rührenden Lustspiel zu entnehmen. Denn in diesen ging Lessing – wie zuvor Voltaire in seiner Theorie der comédie attendrissant – davon aus, dass das weinerliche Lustspiel ebenso wie das Possenspiel nur eine Untergattung der wahren Komödie sei, die darauf abziele, Rührung und Lachen zugleich zu erregen: „Noch einmal also mit einem Worte: das Possenspiel will nur 37 Ebd., S. 40. 38 Ebd. 39 Ebd.
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zum Lachen bewegen; das weinerliche Lustspiel will nur rühren; die wahre Komödie will beides.“40 Dass Lessing eine nahezu identische Erweiterung bzw. Radikalisierung der Rührung auch im Rahmen seiner Trauerspieltheorie entwickelte, verdeutlicht seine erneute Auseinandersetzung mit den Überlegungen Voltaires in seiner Hamburgischen Dramaturgie. Diese ist möglicherweise auch dadurch zu erklären, dass Moses Mendelssohns in seinen Briefen über die Empfindungen ausgerechnet Voltaires Zaire gemeinsam mit Lessings Miss Sara Sampson als Beispiel einer Tragödie des Mitleidens diskutierte.41 Vor diesem Hintergrund geht Lessing im 15., 16. und vor allem 80. Stück seiner Hamburgischen Dramaturgie erneut auf Voltaires Tragödientheorie ein. Und in Anlehnung an den 1761 erschienenen Essay Des divers changemens arrivés à làrt tragique, in welchem Voltaire im Sinne Saint-Évremonts betonte, „que ce qui doit former la pitié fait tout au plus de la tendresse; que l’émotion tient lieu de sentiment, l’étonnement de l`horreur; qu’il manque à nos sentimens quelque chose d’assez profond“42, kommt auch Lessing zu dem Befund, dass zur Errettung des Theaters in Zukunft Mitleid an die Stelle der Zärtlichkeit, Erschütterung an die Stelle der Rührung, und Schrecken an die Stelle des Erstaunens treten müsse.43 Schon im Briefwechsel mit Nicolai und Mendelssohn hatte Lessing im Rahmen seiner Kritik an Johann Elias Schlegels Canut einen ähnlichen Gedanken formuliert. Zwar ist dieser Schlegelsche Held nach Lessing „ein Muster der vollkommensten Güte“. Um jedoch „Mitleid erregen“ zu können, müsste Ulfo „ihn gefangen nehmen und ermorden. Mitleiden im höchsten Grade!“44 Eben dies geschieht aber bei Schlegel nicht, weil er eben nicht die Tugend in Gestalt des Canut, son40 Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 4, München 1970 ff., S. 55. Zur Beziehung zwischen Lessings Miß Sara Sampson und der Gattung des rührenden Lustspiels vgl. etwa Wilfried Barner: lessing. Epoche – Werk – Wirkung, München 1982, S. 162ff. 41 „Orosman und Mellefont würden wenig Anteil an unserm Mitleid haben, das Zayre und Sara allein zu verdienen scheinen. Jene haben sich gewissermaßen unsern Unwillen zugezogen. Ihre Unart scheinet das Unglück angerichtet zu haben, das wir in der Person ihrer Geliebten beweinen. Allein jetzt fühlt ihr zerknirschtes Herz die Leiden tausendfach, die uns nur lichte Thränen kosten; jetzt sehen sie mit versteinerten Blicken auf die geliebte Leiche. Sie brechen in eine verzweiflungsvolle Reue aus, und stoßen den Dolch in ihre beklemmte Brust. Sie sind dahin! Den Augenblick verschwindet aller Unwille über ihre Unbesonnenheit. Ein wehmüthiges Mitleid überrascht uns plötzlich, und wir zerfließen in Thränen. Woher diese seltene Veränderung? Nichts als ein gelegentlicher Selbstmord hat den zweideutigen Charakter dieser Personen in ihr gehöriges Licht gesetzt und das Siegel auf ihre Güte gedrückt. Unsere Verwünschung hat sich in Wohlwollen, unser Gram in Gewogenheit, und unser Unwille in Mitleiden verwandelt.“ Vgl.: Moses Mendelssohn: Ästhetische Schriften, Ästhetische Schriften. Mit einer Einleitung und Anmerkungen hg. v. Anne Pollok, Hamburg 2006, S. 44. 42 Oeuvres complètes de Voltaire, Band 10, Paris 1826, S. 82. 43 „Der einzige Saint-Évremont hat diesen Fehler aufgemutzt; er sagt nämlich, daß unsere Stücke nicht Eindruck genug machten, daß das, was Mitleid erwecken solle, aufs höchste Zärtlichkeit errege, daß Rührung die Stelle der Erschütterung, und Erstaunen die Stelle des Schreckens vertrete; kurz, daß unsere Empfindungen nicht tief genug gingen. Es ist nicht zu leugnen: Saint-Évremont hat mit dem Finger gerade auf die heimliche Wunde des französischen Theaters getroffen.“ Vgl.: Lessing: Werke. Band 4, München 1970 ff., S. 601. 44 Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 4, München 1970 ff., S. 192.
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dern – im Sinne der poetischen Gerechtigkeit – das Laster in Gestalt des Ulfo bestraft und dem Untergang weiht. Genau daran entzündet sich die Kritik Lessings, wennn er im Namen seiner Mitleidspoetik gegen die poetische Gerechtigkeit Johann Elias Schlegels und deren bloß ‚rührende‘ Wirkung plädiert. Die Einsicht in die Notwendigkeit einer solchen Radikalisierung fand Lessing (auch) in den poetologischen Reflexionen Voltaires. Es wird im Folgenden zu zeigen sein, dass sich Lessings Idee vom mitleiderregenden Untergang der Tugend erst nach dem Ende seiner Lustspielproduktion, also ab Mitte der 1750er Jahre entwickelte, und zwar ausgehend von eben dieser Idee einer Radikalisierung der Rührung. Diese Radikalisierung ist Grundlage seiner Mitleidspoetik, welche in der Miss Sara Sampson von 1755 sowie im Briefwechsel über das Trauerspiel von 1756/57 entwickelt wird. Und sie ist der Ausdruck von Lessings den Essays Voltaires entlehntem Versuch, die Tradition der Empfindsamkeit innerhalb ihrer eigenen Logik zu radikalisieren. Die Auseinandersetzung mit Voltaire spielt aber auch deshalb eine wesentliche Rolle, insofern dessen Komödie Nanine für die Miss Sara Sampson, und dessen Tragödie Zaire für die Emilia Galotti eine ausgesprochen wichtige Vorlage darstellte, wie noch zu zeigen ist. Voltaire ist für Lessing deshalb so beispielhaft, weil auch er ein Krisendiagnostiker der Zärtlichkeit war, und sich dennoch – in einer Lessing sehr ähnlichen, weil paradoxen Art und Weise – in seinen eigenen Stücken am Theater der Zärtlichkeit orientierte. Dagegen ist der so häufig behauptete Einfluss der englischen Empfindsamkeit und deren für das Genre des Lustspiels grundlegenden Gefühlsethik wohl primär für Lessings Frühwerk wie etwa das Lustspiel Der Freigeist von Relevanz, wie zunächst gezeigt werden soll. Lessings eigentliche ‚englische‘ Phase beginnt also nicht mit der Miss Sara Sampson, sondern datiert auf seine frühen Berliner Jahre zwischen 1751 und 1755, in denen er z. B. unter dem starken Eindruck der Theorie des moral sense stand.45 Die Miss Sara Sampson hingegen hatte als Ausgangspunkt ein in sich schon der Krisendiagnose der tendresse antwortendes Lustspiel zur Vorlage, und zwar eben jene Nanine Voltaires, die Lessing wie gesehen schon 1750 als Bürgerliches Trauerspiel identifizierte.
45 Hutchesons Einfluss auf Lessings Mitleidspoetik betont etwa Arnold Heidsieck: Der Disput zwischen Lessing und Mendelssohn über das Trauerspiel, in: Lessing Yearbook 11 (1979), S. 7–34; später dann Jutta Meise: Lessings Anglophilie. Frankfurt/M., Berlin [u.a.] 1997, S. 131–133; Peter-André Alt: Tragödie der Aufklärung. Eine Einführung. Tübingen, Basel 1994, S. 177f. und Thomas Martinec: Lessings Theorie der Tragödienwirkung: Humanistische Tradition und aufklärerische Erkenntniskritik. Tübingen 2003, S. 129–163. Der Einfluss von Hutcheson auf Lessing wird hingegen bestritten von Hugh B. Nisbet: Lessing’s Ethics, in: Lessing Yearbook 25 (1993), S. 1–40, hier vor allem S. 6.
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Lessings Adaption des „Moral sense“ von Shaftesbury und Hutcheson „In Aufklärung und Rokoko“, so schreibt Manfred Beetz, „wird im Gefolge Shaftesburys die Tugend lebensfroh und schön.“46 In der Tat liegt Shaftesburys großes gedankliches Anliegen in dem Nachweis, dass die Äußerlichkeit des Ästhetischen und die Innerlichkeit des moralisch Guten keineswegs zwei getrennte Sphären darstellen, sondern im Gegenteil einander entsprechen. In diesem Zusammenhang sind drei Konzepte von Relevanz, die schon in der frühen Rezeption Shaftesburys im deutschsprachigen Raum im Mittelpunkt stehen, wie Mark-Georg Dehrmann zeigen konnte. Shaftesburys Denken basiert im Wesentlichen auf der Idee der Moral Grace, der kalokagathia und der Figur des Virtuoso. Alle drei Konzepte implizieren auf je unterschiedliche Art und Weise eine Entsprechung von Schönem und Gutem, von äußerer und innerer Grazie. Wenn Shaftesbury im dritten Buch seines Soliloquy vom „decorum of this inward kind“47 spricht, dann ist damit eben diese „moral Grace“ gemeint. Auf diesem Hintergrund entwickelt Shaftesbury die Theorie des moral sense, also eines moralischen Sinnes zur Beurteilung menschlicher Handlungen. Er versteht unter ihm „a real antipathy or aversion to injustice, a natural prevention or prepossession of the mind in favour of the moral distinction“48, wie es im Inquiry concerning virtue and merit heißt. ‚Tis undeniable however, that the Perfection of Grace and Comeliness in Action and Behaviour, can be found only among the People of a liberal education. And even among the graceful of his kind, those still are found the gracefullest, who early in their Youth have learnt their Exercises, and form’d their Motion under the best Masters.49
Es gibt nach Shaftesbury eine rein äußerliche Grazie und Schönheit, und es gibt eine innere Grazie und Schönheit: Beide verfügen über die gleiche moralische Grazie. Ein Schriftsteller soll und muss diese innere Form der Schönheit und Wohlgeratenheit, dieses „Decorum of this inward kind“50 kennen, sonst besitzt er keinen Geschmack. Er kann dann auch nicht Verdienst und Tugend darstellen. Es geht also um den Sinn für das innere Decorum, um das Gespür für die innere, also moralische Grazie, die ihrerseits den Virtuosen ebenso kennzeichnet wie die Tu46 Manfred Beetz: Von der galanten Poesie zur Rokokolyrik. Zur Umorientierung erotischer und anthropologischer Konzepte in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Literatur und Kultur des Rokoko, hg. v. Matthias Luserke, Reiner Marx und Reiner Wild, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2001, S. 33–62, hier S. 47. 47 Anthony Ashley Cooper, third Earl of Shaftesbury: Standard Edition. Complete Works, selected Letters and posthumous Writings. In English with parallel German Translation. Bd. I,1, Edited, translated and commented by Gerd Hemmerich and Wolfram Benda, Stuttgart Bad Cannstadt 1981, S. 268. 48 Shaftesbury: Standard Edition. Complete Works, selected Letters and posthumous Writings, Bd. II,2, S. 90. 49 Shaftesbury: Standard Edition. Complete Works, selected Letters and posthumous Writings, Bd. I,1,, S. 88. 50 Ebd., S. 268.
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gend selbst.51 Stets dann, wenn Shaftesbury von der Grazie spricht, spricht er auch vom decorum. Dies ist sowohl in Soliloquy als etwa auch im Sensus Communis zu beobachten: „Every one is a Virtuoso, of a higher or lower degree: Every one pursues a Grace, and courts a Venus of one kind or another. The Venustum, the Honestum, the Decorum of Things, will force its way.“52 Wie eng diese Passage an Ciceros De officiis orientiert ist, verdeutlicht die Assoziation von Honestum und Decorum, die deutlich anspielt auf Ciceros Lehre vom Schicklichen bzw. der Trias von iustum, honestum und decorum, wie sie in De Officiis entfaltet ist. Auch der Begriff der Venustas spielt schon bei Cicero eine Rolle. Und doch geht es Shaftesbury im Vergleich zu den Mäßigungsvorschriften, wie sie Cicero für den Redner entfaltete, um etwas ganz anderes. Bei Cicero hat der Begriff des decorum die Funktion, „die Variablen einer Handlung auf das Ehrenhafte (honestum) auszuwählen und so die richtige Handlung (officium) zu gewährleisten.“53 Schicklich im Sinne des decorum ist demnach dasjenige Handeln, durch welches sich der Mensch Mäßigung auferlegt.54 Bei Shaftesbury dagegen geht es um ein „inneres“ Decorum, eine aus dem Innenleben erscheinende Moralität, welche den Virtuosen kennzeichnet. Sie steht ganz im Unterschied zu Cicero unter dem Vorzeichen innerer Schönheit, innerer, also moralisch-sittlicher Grazie. Dies wiederum liegt daran, weil nach Shaftesbury jedes Schreiben über „Men and Manners“ die „Poetical and Moral Thruth, the Beauty of Sentiments, the Sublime of Characters“55, also: jene „natural grace“ in den Blick nehmen müsse, die jeder Handlung ihren anziehenden Reiz verleiht: ’Tis the like moral grace and Venus which, discovering itself in the turns of character and the variety of human affection, is copied by the writing artist. If he knows not this Venus, these graces, nor was ever struck with the beauty, the decorum of this inward kind, he can neither paint advantageously after the life nor in a feigned subject where he has full scope.56
All dies ist bekannt. Betont werden aber sollte an dieser Stelle, dass die Überlegungen Shaftesburys in Deutschland vor allem in den Erziehungsidealen Johann Christoph Gottscheds wiederkehren, wie sie etwa in der ab 1727 von Gottsched in Leipzig herausgegebenen Moralischen Wochenschrift Der Biedermann formuliert sind. Der Biedermann ist nicht nur von den eingangs illustrierten Erziehungsgedanken John Lockes, sondern auch von der schottischen Gefühlsethik geprägt: Wie diese betont auch Gottsched, „dass die Tugend eine innere Schönheit an sich habe, welche die Hertzen gewinnet.“57 Shaftesburys selbst wird in den deutschen Wo51 Ebd., S. 268f. 52 Shaftesbury: Complete Works, I,3, S. 116. 53 So formuliert es Max Klopfer in: Ethik-Klassiker von Platon bis John Stuart Mill: Ein Lehr- und Studienbuch, Stuttgart 2008, S. 120. 54 Ebd., S. 206. 55 Shaftesbury: Complete Works, I. 1, S. 266. 56 Ebd., S. 268. 57 Vgl.: Gottsched: Der Biedermann, 2 Theile, Leipzig 1728/29, II, S. 57.
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chenschriften zwar nur selten erwähnt, ein Beispiel – bezogen auf den test of ridicule – findet sich jedoch später etwa in Johann Justinus Gebauers Das Reich der Natur und der Sitten von 1759.58 Wenn Johann Georg Heinrich Feder in seinen Grundlehren zur Kenntniss des menschlichen Willens von 1782 gar von einem „Trieb zum Wohlanständigen“59 sprechen wird, dann hat dies seinen Grund in der Lehre vom moral sense. Lessing wiederum dürfte Shaftesbury im Rahmen seiner Arbeit Pope ein Metaphysiker! zur Kenntnis genommen haben, die 1754 entstand: In jenem Jahr also, in welchem Lessing auch Hutchesons System of moral philosophy zur Kenntnis nahm und teilweise übersetzte. Wichtig ist nun, dass Hutchseon in seinem System of moral philosophy auch das von Locke in Some thoughts concerning education entwickelte Prinzip der Beschämung differenziert, also im Sinne von Shaftesburys Theorie der moral grace als Ausdruck eines inneren moral sense entwickelt. Vor dem Hintergrund der von Shaftesbury entwickelten Theorie der „inneren Schönheit“ der Tugend entwickelt Hutcheson nun eine an John Lockes Erziehungsideale erinnernde Theorie der Beschämung. Dergemäß stellt der „sense of shame“, den Hutcheson im System of moral philosophy diskutiert, eine nicht von außen, sondern von innen motivierte Ausdrucksform der Tugendhaftigkeit dar. Schamhaft zu reagieren, ist Zeichen eines moralischen Sinnes, und dieser wiederum Ausdruck innerer Schönheit. Hutcheson hat dieses Argument im 5. Buch seines System of Moral Philosophy auch am Beispiel des Ehrgefühls erläutert. Shaftesbury hingegen berücksichtigte im Rahmen seiner moral grace-Lehre weder die Ehre noch die Scham, wenngleich die Scham auch bei ihm eine ganz eigene Reflexion erfährt: Allerdings lediglich in seinem Letter concerning enthusiasm. In diesem begreift Shaftesbury die Scham als ein Indiz dafür, dass schwärmender Enthusiasmus nicht auf echten Überzeugungen basiert, sondern substanzlos ist. Anders gesagt: Scham steht bei Shaftesbury im Kontext seiner Theorie der Satire, seiner Begründung bzw. Legitimation des satirischen Witzes und seines berühmten „test of ridicule“, der auf einem ebenfalls der Lockeschen Didaktik verwandten, d.h. von außen motivierten Beschämung aufbaut. Bei Hutcheson wie bei Shaftesbury steht dieses Gefühl der Scham – wie auch das Ehrgefühl – im Zentrum ihrer berühmten Gefühlsethik. Scham ist daher nicht länger der Ausdruck und das Zeichen schlechten Gewissens bzw. befürchteter Angst, sondern vielmehr Zeichen eines moralischen Gefühls, einer natürlichen, aller Erziehung vorausliegenden Sittlichkeit. Scham ist also insofern Indiz einer sittlichen Grazie. Nach Hutcheson ist der moralische Sinn60 ein Teil des „internal sense“, eine Art Instinkt der Billigung oder Mißbilligung.61 Hutcheson reflektiert diesen Zusammenhang in seinem System of Moral Philosophie bzw. den Reflexionen über die moralische Güte, die „moral goodness“. Diese, so heißt es im 4. Kapitel 58 Johann Justinus Gebauer: Das Reich der Natur und der Sitten. Eine moralische Wochenschrift, Band 5, Halle 1759, S. 140. 59 Johann Georg Heinrich Feder: Grundlehren zur Kenntniss des menschlichen Willens und der natürlichen Gesetze des Rechtverhaltens, Band 1, Göttingen 1785, S. 46f. 60 „decori et honesti sensus“, „laudi et vituperii sensus“, Philos. moral. I, 1–2. 61 Vgl.: Inquir. 5, 1753, p. 43 ff., 125 ff., 159.
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des ersten Buches, entstehe weder durch die Aussicht auf Vergnügungen, noch schaffe sie dem derart Handelnden Vorteile. Sie entsteht auch nicht durch die Einhaltung formaler Gesetzmäßigkeiten, allgemeiner Wahrheiten oder genereller Anstandskriterien. Moralische Güte gehe vielmehr aus einem in sich moralischen Gefühl hervor. Dieses moralische Gefühl, welches es stetig zu verbessern gelte, sei dazu bestimmt, die übrigen Seelenkräfte zu dominieren, zu ordnen und in Schranken zu halten. Und die beiden wichtigsten Empfindungen dieses moralischen Gefühls sind das Gefühl der Ehre und der Scham bzw. Schande. Die Lessing zugeschriebene Übersetzung von Francis Hutchesons A System of Moral Philosophy wurde in der Forschung bisher vor allem bemüht, um Quellen der Mitleidsdramaturgie aufzuspüren, wie Thomas Martinec betonte.62 Lessings Übersetzung stammt aus dem Jahre 1756, wurde also ein Jahr nach Beendigung der Miss Sara Sampson abgeschlossen und erschien unter dem Titel Sittenlehre der Vernunft. Wenn Lessing dabei den von Hutcheson geprägten Begriff des ‚moral sense‘ durchgehend mit ‚moralisches Gefühl‘ übersetzt, dann wird seine Deutung der schottischen Moralphilosophie als Schule einer Gefühlsethik deutlich. Schon Arnold Heidsieck vertrat daher die These, dass „Lessings Mitleidsauffassung [...] wichtige Aspekte mit Hutchesons Lehre vom moral sense“63 teile. Angesichts zahlreicher Analogien kommt Heidsieck zu dem Schluss, dass Lessing durch seine „Annäherung an die Moral-Sense-Theorie [...] seinem Mitleidsbegriff eine spezifische philosophisch-anthropologische Struktur“64 unterlege. Ich gehe hingegen davon aus, dass der Einfluss von Hutcheson und Shaftesbury, also die schottische Gefühlsethik im Sinne der Lehre vom moral sense, sich lediglich auf Lessings Komödienwerk beschränkt. Vor allem in seiner Komödie Der Freigeist von 1750 ist die Idee des moral sense, aber auch die von Locke und Shaftesbury entwickelte Philosophie der Beschämung grundlegend, wie nun zu zeigen ist. Dagegen ist die Entwicklung von den frühen Lustspielen hin zur Miss Sara Sampson weit eher durch Lessings Übersetzungen theatertheoretischer Texte Riccobonis und Sainte-Albines motiviert, wie wohl erstmals Jutta Golawski-Braungart und Helmut Berthold betonten.65
62 Thomas Martinec: Übersetzung und Adaption: Lessings Verhältnis zu Francis Hutcheson, in: „ihrem Originale nachzudenken“: Zu Lessings Übersetzungen. Hrsg. v. Helmut Berthold. Tübingen: Niemeyer, 2008. S. 95–113 (= Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung; Bd. 31). 63 Arnold Heidsieck: Der Disput zwischen Lessing und Mendelssohn über das Trauerspiel, in: Lessing-Yearbook 11 (1979), S. 7–34, hier S. 12. 64 Ebd., S. 28. 65 Jutta Golawski-Braungart: Die Schule der Franzosen, Tübingen und Basel 2005. Siehe auch: Dies.: Lessing und Riccoboni: Schauspielkunst und Rollenkonzeption im Trauerspiel Miss Sara Sampson, in: Sprache und Literatur, H. 75/76 (1995), S. 184–204; sowie: Helmut Berthold: Übersetzung Riccobonis, Auszug aus Sainte-Albine – Aspekte des Illusionsbegriffs, in: ‚ihrem Originale nachzudenken’. Zu Lessings Übersetzungen, hg. v. Helmut Berthold. Berlin/New York 2008, S. 129–146.
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Beschämung: Der „test of ridicule“ in Lessings Der Freigeist Wir werden von Lessings Lustspielen der 1740er Jahre nun eben jenes untersuchen, das den engen Bezug zur schottischen Moralphilosophie am deutlichsten belegt: Die Komödie Der Freigeist, welche Lessing unter dem Eindruck der gleichnamigen Tragödie Der Freygeist Joachim Wilhelm von Brawes auch als Der beschämte Freigeist bezeichnete.66 Dieses Konzept der Beschämung, welches für diese Komödie zentral ist, dürfte entweder von der Erziehungslehre John Lockes, oder aber von Shaftesburys berühmtem „test of ridicule“67 beeinflusst sein, der 1708 in der Schrift A letter concerning enthusiasm entfaltet wurde. Dessen Spuren sind aber auch in der 1709 verfassten Schrift The Moralists. A philosophical Rhapsody zu finden, die beide 1711 unter dem Titel Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times etc. veröffentlicht wurden. Lessing bezeugte vor allem in seinem 1754 veröffentlichten Essay Pope ein Metaphysiker! eine ausgesprochen genaue Kenntnis des Moralists, aus welchem er nach eigener Aussage etwa die später von Pope entlehnten Passagen präzise zu identifizieren gewusst hätte. Dass zudem „Pope den Shaftesbury zwar offenbar gelesen und gebraucht habe, dass er ihn aber ungleich besser würde gebraucht haben, wenn er ihn gehörig verstanden hätte“68, lässt im Umkehrschluss auf eben diese sehr gründliche Kenntnis Lessings schließen. Desweiteren geht Lessing in Pope ein Metaphysiker! auch davon aus, dass die Theodizee von Gottfried Wilhelm Leibniz, erschienen ein Jahr nach der Rhapsody, also 1710, in vielen Teilen Shaftesbury verpflichtet gewesen sei. Es ist daher anzunehmen, dass Lessing auch jene Passagen aus der Rhapsody vertraut waren, in welchen sich Shaftesbury der Scham widmete, eben diese aber stehen in unmittelbarem Bezug zu seiner Theorie des ridicule. Dass Lessings Lustspiel Der Freigeist inspiriert ist von Shaftesbury, dies dürfte also nicht nur am Motiv des Deismus liegen. Zu erkennen ist es auch an der Aktualisierung des platonischen Dialogs, welcher in The Moralists zwischen der Figur des Theokles und des Philokles stattfindet, die sich über Shaftesburys Schrift Inquiry austauschen und eine erkennbare Folie für die Protagonisten Adrast und Theo66 „Den funfzehnten Abend (Dienstags, den 12ten Mai,) ward Lessings Freigeist vorgestellt. Man kennet ihn hier unter dem Titel des beschämten Freigeistes, weil man ihn von dem Trauerspiele des Hrn. von Brawe, das eben diese Aufschrift führet, unterscheiden wollen. Eigentlich kann man wohl nicht sagen, daß derjenige beschämt wird, welcher sich bessert. Adrast ist auch nicht einzig und allein der Freigeist; sondern es nehmen mehrere Personen an diesem Charakter Teil. Die eitle unbesonnene Henriette, der für Wahrheit und Irrtum gleichgültige Lisidor, der spitzbübische Johann, sind alles Arten von Freigeistern, die zusammen den Titel des Stücks erfüllen müssen. Doch was liegt an dem Titel? Genug, daß die Vorstellung alles Beifalls würdig war. Die Rollen sind ohne Ausnahme wohl besetzt; und besonders spielt Herr Böck den Theophan mit alle dem freundlichen Anstande, den dieser Charakter erfordert, um dem endlichen Unwillen über die Hartnäckigkeit, mit der ihn Adrast verkennet, und auf dem die ganze Katastrophe beruhet, dagegen abstechen zu lassen.“ Vgl.: Lessing: Werke. Band 4, a.a.O., S. 296. 67 Shaftesbury: Complete works, Bd. I. 1, S. 318. 68 Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 3, München 1970 ff., S. 664.
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phan darstellen, die in Der Freigeist ähnliche Dialoge führen. Lessings im Jahr 1755 erschienenes Lustspiel zählte man bisher stets zum Genre der „sächsischen Typenkomödie“, deren Ziel nach Gottsched eine aufgeklärte Pädagogik ist, welche ein unvernünftiges Verhalten, eine menschliche Schwäche oder ein Vorurteil lächerlich macht, um den Zuschauer zu „belustigen“ und zu „erbauen“.69 Einer solchen Probe der Lächerlichkeit im Sinne des ‚test of ridicule‘ wird in diesem Lustspiel der „Freigeist“ Adrast ausgesetzt. Ihn zu beschämen und somit vom Irrweg des Deismus zu befreien, ist das Ziel seines Opponenten, des jungen protestantischen Geistlichen Theophan. Da beide zudem um die Töchter des Lisidor, Henriette und Juliane, werben, entwickelt sich in dieser Typenkomödie auch eine gesellige Interaktion, die durchaus Züge jener Höflichkeit trägt, wie sie schon Shaftesbury in seinen Dialogen entwickelte. Dass Lessing – ganz im Sinne unserer Ausführungen zur Tradition des polite writing – die Komödie Shaftesburys in einer von Horaz ausgehenden Tradition der höflichen Satire verortete, die aufgrund ihrer Geste der Beschämung von jener ‚strafenden‘ Satiretradition zu unterscheiden ist, die wiederum auf die indignatio des Juvenal zurückgeht, verdeutlicht sein im Sommer 1753 entstandener Kommentar zu den satyrischen Gedichten von Christian Naumann: Es ist zu wenig, wenn man Schriften, welche lächerliche freye Handlungen der Menschen als lächerliche schildern, unter gewissen Umständen erlaubte Schriften nennet. Man muß sie unter die nützlichsten zählen, welche oft mehr als eine mit Fluch und Hölle belästigte Predigt das Reich der Tugend erweitern. Man weiß daß die Meister derselben verschiedne Wege gegangen sind. Man weiß worinne die Satyren eines Horaz von den Satyren eines Juvenals und Persins unterschieden sind. Man weiß daß allzu strenge Kunstrichter, welche sich vielleicht zu genau an willkürliche Erklärungen gebunden haben, den letztem den Namen der Satyrenschreiber absprechen. Sie donnern anstatt zu spotten. Sie führen Laster auf anstatt Ungereimtheiten. Sie machen mehr verhaßt als beschämt. Ihr Lachen ist voller Galle; ihre Scherze sind Gift. Herr Naumann selbst giebt uns das Recht, ihn unter die Nachfolger dieser allzu ernsthaften Rächer der Tugend zu setzen. Was sind seine Empfindungen für dic Tugend anders als das, was sein Muster indignatio nennet?70
In der höflichen Satire bzw. dem polite writing geht es also darum, den kritisierten Gegenstand zu beschämen statt ihn verhasst zu machen. Diese Überlegung ist zweifellos dem ‚test of ridicule‘ entlehnt, dem sogenannten „Probierstein der Wahrheit“71, wie Mendelssohn es 1755 in einem Brief an Lessing formulierte. Lessings Komödie entwickelt jedoch eine der Lächerlichkeitsprobe Shaftesburys entlehnte Probe der Aufrichtigkeit, welcher sich in dieser Komödie der junge Priester 69 „Die Comödie ist nichts anders, als ein Nachahmung einer lasterhaften Handlung, die durch ihr lächerliches Wesen den Zuschauer belustigen, aber auch zugleich erbauen kann.“ Vgl.: Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. 12 Bände, Band 6,2, Berlin und New York 1968– 1987, S. 347. 70 Gotthold Ephraim Lessing: Sämmtliche Schriften, Band 3, hg. v. Karl Lachmann, Berlin 1838, S. 171. 71 Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden: 1. Briefe von und an Lessing, 1743–1770. 2. Briefe von und an Lessing, 1770–1776, München 1987, S. 84.
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Theophan unterziehen muss, um auf diese Weise die Freundschaft zum Titelhelden Adrast zu gewinnen. Dies ist freilich nicht ganz einfach, denn Adrast ist ein gebildeter, weltläufiger Freigeist, der konventionellen religiösen Werten mit Stolz und Verachtung begegnet, weshalb er seinen zukünftigen Schwager, den Geistlichen Theophan, für einen Heuchler hält und kategorisch ablehnt. Adrasts Vorurteile, sein Hass auf die Priesterschaft und sein scharfer Ton entspringen persönlichen Erfahrungen: „Priestern habe ich mein Unglück zu danken. Sie haben mich gedrückt, verfolgt; so nahe sie auch das Blut mit mir verbunden hatte.“72 Der tiefere Grund für Adrasts Hass liegt jedoch in seiner Eifersucht auf Theophan, denn dieser ist Juliane versprochen. Dagegen soll Adrast die Henriette heiraten, obwohl er eben in deren Schwester Juliane verliebt ist. Seine Liebe zur tugendhaften Juliane zeigt aber, dass es ihm nicht allein um Prinzipien geht. An ihrer Schwester Henriette moniert er, dass sie Pflicht, Tugend, Anstand und Religion verspotte, obwohl ihr Verhalten vermutlich auf ihn selbst zurückgeht, wie Juliane im vierten Akt bemerkt. Henriette wiederum tadelt Adrasts Zynismus und Herablassung und hebt dagegen Theophans vorurteilslose Freundlichkeit hervor. In der Tat ist Theophan aufrichtig um Adrasts Freundschaft bemüht, zeigt Verständnis für dessen Freigeisterei und führt sie auf seine Jugend zurück. Zudem will er Adrast auch finanziell zur Seite stehen, denn dieser hat ein ausschweifendes Leben geführt, für das er sich bewusst verschuldete. Den großmütigen Hilfeangeboten Theophans begegnet Adrast jedoch mit Argwohn, und als sein Gläubiger Araspe, ein Vetter Theophans, eintrifft, verdächtigt er ausgerechnet den ahnungslosen Theophan der Rufschädigung. Theophans Versuch, ihm die Wechsel ohne Rückzahlung auszuhändigen, steigert sein Misstrauen ebenso wie alle weiteren Versuche Theophans, ihm zu helfen und sein Vertrauen zu gewinnen: ADRAST sieht ihm einige Augenblicke nach: Was für ein Mann! Ich habe tausend aus seinem Stande gefunden, die unter der Larve der Heiligkeit betrogen; aber noch keinen, der es, wie dieser, unter der Larve der Großmut, getan hätte. – – Entweder er sucht mich zu beschämen, oder zu gewinnen. Keines von beiden soll ihm gelingen. Ich habe mich, zu gutem Glücke, auf einen hiesigen Wechsler besonnen, mit dem ich, bei bessern Umständen, ehemals Verkehr hatte. Er wird hoffentlich glauben, daß ich mich noch in eben denselben befinde, und wenn das ist, mir ohne Anstand die nötige Summe vorschießen. Ich will ihn aber deswegen nicht zum Bocke machen, über dessen Hörner ich aus dem Brunnen springe. Ich habe noch liegende Gründe, die ich mit Vorteil verkaufen kann, wenn mir nur Zeit gelassen wird. Ich muß ihn aufsuchen.73
Nun ist Adrast zwar ein Freigeist, aber kein Vertreter lasterhaften Verhaltens. Er will seine Schulden auf ehrlichem Wege begleichen, nicht nur aus Stolz gegenüber Theophan, sondern aus Wahrheitsliebe. Auf den Vorschlag seines Dieners Johann,
72 Lessing: Werke und Briefe: Werke 1743–1750, hg. v. Jürgen Stenzel, Frankfurt am Main 1989, S. 368. 73 Ebd., S. 406.
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die Gültigkeit der Wechsel abzustreiten, reagiert er mit Empörung.74 Und als er Juliane schließlich seine Liebe und Julianes Vater Lisidor seine tiefe Verbundenheit gesteht, zeigt er damit eine durchaus idealistische Gesinnung. Insofern geht es in diesem Lustspiel nicht um ein Verlachen eines Lasters, sondern vielmehr um eine aus der Güte Theophans hervorgehende, aus gattungstypischer Beschämung entstandene Läuterung des Adrast, der keineswegs ein starrer Charakter im Sinne der Sächsischen Typenkomödie ist. Denn als Theophan durch Adrasts anhaltende Feindseligkeit die Geduld verliert und endlich ärgerlich wird, lenkt Adrast erstaunt ein und gibt seine bornierte Haltung auf. Und als er obendrein erfährt, dass Juliane ihn liebt, fällt mit der Eifersucht auch das Hauptmotiv seines Handelns weg. Damit steht am Ende auch der Freundschaft der beiden Männer nichts mehr im Wege. Eben diese sich schlussendlich entwickelnde Freundschaft der Männer inszeniert Lessing als eine aus der Beschämung des Adrast hervorgehende rührende Szene: ADRAST. Sie wollen dem Lisidor sagen, daß Sie Julianen nicht lieben? THEOPHAN. Was sonst? ADRAST. Daß Sie eine andere Person lieben? THEOPHAN. Vor allen Dingen; um ihm durchaus keine Ursache zu geben, Julianen die rückgängige Verbindung zur Last zu legen. ADRAST. Wollten Sie wohl alles dieses gleich jetzo tun? THEOPHAN. Gleich jetzo? ADRAST (beiseite). Nun habe ich ihn! – Ja, gleich jetzo. THEOPHAN. Wollten Sie aber auch wohl eben diesen Schritt tun? Wollten auch Sie dem Lisidor wohl sagen, daß Sie Henrietten nicht liebten? ADRAST. Ich brenne vor Verlangen. THEOPHAN. Und daß Sie Julianen liebten? ADRAST. Zweifeln Sie? THEOPHAN. Nun wohl! so kommen Sie. ADRAST (beiseite). Er will? THEOPHAN. Nur geschwind! ADRAST. Überlegen Sie es recht. THEOPHAN. Und was soll ich denn noch überlegen? ADRAST. Noch ist es Zeit. THEOPHAN. Sie halten sich selbst auf. Nur fort! – (Indem er vorangehen will.) Sie bleiben zurück? Sie stehen in Gedanken? Sie sehen mich mit einem Auge an, das Erstaunen verrät? Was soll das? ADRAST (nach einer kleinen Pause). Theophan! THEOPHAN. Nun? – Bin ich nicht bereit? ADRAST (gerührt). Theophan! – Sie sind doch wohl ein ehrlicher Mann. THEOPHAN. Wie kommen Sie jetzt darauf? ADRAST. Wie ich jetzt darauf komme? Kann ich einen stärkern Beweis verlangen, daß Ihnen mein Glück nicht gleichgültig ist? THEOPHAN. Sie erkennen dieses sehr spät – aber Sie erkennen es doch noch. –
74 Ebd.
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Liebster Adrast, ich muß Sie umarmen. ADRAST. Ich schäme mich – lassen Sie mich allein; ich will ihnen bald folgen.75
Die Grundlagen dieser Beschämung liegen im Kontrast der Charaktere, steht doch dem Freigeist Adrast der junge Geistliche Theophan in seiner offenherzigen, edelmütigen, aufrichtigen und vorbehaltlosen Freundlichkeit gegenüber. Auch geht er weit toleranter mit der verhängnisvollen Konstellation der Partnerwahl um, denn er zeigt gegenüber Adrast keine Zeichen von Eifersucht, wenngleich seine Geliebte Henriette ja zu seinem Leidwesen Adrast versprochen ist. Er nimmt als Theologe im Gegensatz zu seinem zukünftigen Schwager Adrast also die eindeutig vorurteilsfreiere Haltung ein, wohingegen Adrast stets auf dem Gegensatz ihrer beider Denkungsart besteht und Theophan eben jene Vorurteile unterstellt, die er von Geistlichen gewohnt ist, tatsächlich aber selbst verkörpert. Es ist Adrasts Voreingenommenheit, die die Freundschaft der beiden verhindert, wohingegen Theophan sich sichtlich darum bemüht, jene Vorurteile gegen Geistliche durch sein positives Beispiel zu korrigieren: Gegenüber seinem Vetter Araspe, der ein Gläubiger Adrasts ist und diesen zur Rechenschaft ziehen will, ergreift er Partei für Adrast und erklärt seine Philosophie wie folgt: „Ich habe es mir fest vorgenommen, ihn nicht mit gleicher Münze zu bezahlen; sondern ihm vielmehr seine Freundschaft abzuzwingen, es mag auch kosten was es will.“76 Dass Theophans schließlich Bekehrung des Adrast auch im Namen einer neuartigen Gefühlsethik argumentiert, dergemäß ein moral sense dem Menschen unmittelbar zu verstehen gibt, wie er sich zu verhalten habe, dies zeigt bereits die erste Szene des ersten Aktes, in welcher Theophan den Freigeist Adrast dazu auffordert, seine Vorurteile gegenüber Geistlichen aufzugeben und stattdessen „seinen eigenen Empfindungen“ zu folgen, um zu einer „Zierde“ der Menschheit zu werden.77 Denn hier wird zwar ein Argument Shaftesburys aufgegriffen und widerlegt. Zugleich aber steht der gesamte Verlauf des Dramas im Zeichen einer dem test of ridicule entlehnten „Probe meiner Aufrichtigkeit“78, die zwar von Adrast zunächst als „Probe seiner Schmeichelei“79 diskreditiert wird, letztlich aber den Sieg davon trägt.
Scham, Grazie und Zärtlichkeit in der Schauspieltheorie der Zeit Lessings Weg von den frühen Lustspielen hin zur Miss Sara Sampson besteht primär in einer Lösung von der Typenkomödie ‚sächsischer‘ Prägung. Und diese Loslösung hat wesentlich mit seinen Übersetzungen theatertheoretischer Texte zu tun, wie 75 Ebd., S. 436. 76 Ebd., S. 396. 77 Auf diesen Zusammenhang verweist auch: Jan Engbers: Der „Moral-Sense“ bei Gellert, Lessing und Wieland: zur Rezeption von Shaftesbury und Hutcheson in Deutschland, Heidelberg 2001, S. 67. 78 Lessing: Werke und Briefe: Werke 1743–1750, a.a.O., S. 366. 79 Ebd.
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Jutta Golawski-Braungart und Helmut Berthold zeigen konnten.80 Dies belegen Lessings Schriften zum Theater, welche eine sehr wichtige Quelle in der Theaterreform Antonio Francesco Riccobonis hatten. Diese Notwendigkeit einer Theaterreform, die ein Leitmotiv im Werk Riccobonis darstellt, bezog dieser sowohl auf die Texte als auch auf den Aufführungsstil. Er plädierte für eine schrittweise Abschaffung der Improvisation als einer Hauptquelle für Anstößiges und forderte, dass der Schauspieler nur Interpret eines gedruckten und somit kontrollierbaren Textes sein solle. Nach Riccobonis Reformvorstellungen sollte die Liebesthematik in der Komödie reduziert und dafür der Vorführung von Tugend und Moral ein breiterer Raum zugestanden werden. An seinen eigenen Szenarien ist die Tendenz zu einer größeren Realitätsnähe und Emotionalisierung des Bühnengeschehens und zu einer psychologischen Vertiefung der Figuren zu beobachten, Züge, die auf eine Identifizierung des Zuschauers mit dem Dargestellten abzielen. Es überrascht daher nicht, dass Riccoboni als einer der ersten die revolutionäre Bedeutung von Nivelle de la Chaussées L’école des amis (1737) für die weitere Entwicklung des Theaters (auf das bürgerliche Drama hin) erkannte und begrüßte (Lettre sur L’école des amis, 1737). Riccobonis De la réformation du théâtre von 1743 gilt darum auch als erste Quelle der Popularisierung der comédie larmoyante. Riccobonis L’Art du Théâtre erscheint 1750 in Paris, Lessing publizierte seine Übersetzung dieses Textes noch im selben Jahr in Heft 3 der Beyträge zur Aufnahme und Historie des Theaters, wie Helmut Berthold betonte.81 Dagegen erschien Lessings Übersetzung und Kommentierung der schon 1747 in Paris veröffentlichten Abhandlung Le Comédien des Journalisten Pierre Rémond de Sainte-Albine erst 1754. Dennoch ist mit Helmut Berthold davon auszugehen, dass beide Übersetzungen Lessings etwa zeitgleich entstanden82, Lessing war zu diesem Zeitpunkt also bestens vertraut mit diesen beiden konkurrierenden Methoden einer „heißen“ und einer „kalten“ Verstellung. Vertreter der „heißen“ ist Saint-Albine, Vertreter der „kalten“ ist Riccoboni, der gewissermaßen Argumente Diderots antizipiert hat. In Le Comédien untersuchte Sainte-Albine die Anforderungen an den Schauspieler und sein Handwerk. Im Gegensatz zu Franciscus Lang, der eine idealisierte Nachahmung der Natur für wahre Schauspielkunst hielt, forderte Sainte-Albine eine Nachahmung der „sinnlich wahrnehmbaren Umwelt“.83 Denn dramatische Dichtungen gefallen uns umso mehr, je ähnlicher sie wahrhaften Geschichten sind: „Les fictions dramatiques nous plaisant d’autant plus, qu’elles sont plus semblables 80 Jutta Golawski-Braungart: Die Schule der Franzosen, Tübingen und Basel 2005. Siehe auch: Jutta Golawski-Braungart: Lessing und Riccoboni: Schauspielkunst und Rollenkonzeption im Trauerspiel Miss Sara Sampson, in: Sprache und Literatur, H. 75/76 (1995), S. 184–204; sowie: Helmut Berthold: Übersetzung Riccobonis, Auszug aus Sainte-Albine – Aspekte des Illusionsbegriffs, in: ‚ihrem Originale nachzudenken’. Zu Lessings Übersetzungen, hg. v. Helmut Berthold. Berlin/New York 2008, S. 129–146. 81 Berthold: Übersetzung Riccobonis, a. a. O., S. 130. 82 Ebd., S. 130ff. 83 Vgl. zum Folgenden: Jens Roselt: Seelen mit Methode – Schauspieltheorien vom Barock bis zum postdramatischen Theater, Berlin 2005, S. 97.
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à des aventures réelles.“84 Wahrheit im Theater resultiere aus den Wahrscheinlichkeiten, welche dazu dienten, den Zuschauer zu täuschen: „On y entend par ce mot le concours des apparences qui peuvent servir à tromper les spectateurs.“85 Zudem sollten nicht Affekttypen dargestellt werden, sondern individuelle Figuren, die in sozialen und persönlichen Beziehungen zueinander stehen. Das Theater sollte „komplexe emotionale Zustände“ gestalten, der Schauspieler sollte sich jederzeit der sozialen Situation, des Alters und Ranges seiner Rolle bewusst sein und sie entsprechend darstellen. So waren die Zuschauer nicht länger Publikum sondern Beobachter einer intimen Situation. Im Sinne dieser illusionistischen Täuschung kam die Guckkastenbühne mit ihrer imaginären vierten Wand ins Spiel. Die Schauspieler sollten nicht länger als Darsteller wahrgenommen werden, sondern als real handelnde Personen, die die dargestellten Gefühle im Sinne des Begriffes des „heißen“ Schauspielers auch wirklich empfinden. Wenn man die gezeigten Empfindungen nicht selber fühlt, dann entstehe ein bloß unvollkommenes Abbild: Au Théâtre, lorsqu’on n’éprouve pas les mouvemens qu’on a dessein de faire paroître, on ne nous en présente qu’une imparfaite image, & l’art ne tient jamais lieu du Sentiment. Dès qu’un Acteur manque de cette qualité , tous les autres présens de la nature & de l’étude sont perdus pour lui.86
Nach Sainte-Albine ist ein Akteur ohne echte Empfindung kein Schauspieler, sondern höchstens ein Deklamator: „Un acteur qui manque de sentiment ne passe point pour un comédien; il n’est regardé que comme un déclamateur.“87 Belegt wird dieses Ideal des „heißen“ Schauspielers durch ein Zitat des römischen Dichters Horaz: „Pleurez si vous voulez que je pleure.“88 Für die Schauspieler gelte es daher vor allem, seine Zuschauer in Bewegung zu setzen, da eine frostige Handlung auf der Bühne der größte Fehler sei: „La première règle est de remuer l’Auditoire, & au Théâtre le jeu froid est toujours le plus défectueux.“89 Drei Jahre später, also 1750, erschien nun Francesco Riccobonis L´Art du théâtre, eine Abhandlung, die Lessing mit Die Schauspielkunst übersetzte, und die gegenüber den Anweisungen Saint-Albines als Dokument einer „kalten“ Schauspielkunst gilt: Jutta Golawski-Braungart unterscheidet diesbezüglich zwischen Riccobonis „mittelbaren“ und Saint-Albines „unmittelmaren Gesten“.90 Bei Riccoboni, der im Unterschied zum Schriftsteller Saint-Albine ein Schauspieler ist, wird die Bewegung demnach unabhängig vom Ausdruck und ohne Bezug auf den Charakter behandelt. Die Bewegungen sollen natürlich und nicht unangenehm sein, wobei ihm der Begriff der Anmut eine wichtige Rolle spielt. Der entscheidende Aspekt ist, dass die Bewegungen immer vom ganzen Körper ausgehen sollen. Riccoboni 84 85 86 87 88 89 90
Pierre Rémond de Sainte-Albine: Le Comédien ouvrage divisé en deux parties, Paris 1747, S. 135. Ebd. Ebd., S. 32. Vgl. auch: Jens Roselt: Phänomenologie des Theaters, Paderborn 2008, S. 242. Sainte-Albine: Le Comédien, a.a.O., S. 48. Ebd., S. 91. Vgl. auch: S. 84. Ebd., S. 49. Golawski-Braungart: Die Schule der Franzosen, a.a.O., S. 40ff.
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wendet sich ausdrücklich gegen die Benutzung von Spiegeln, vielmehr solle der Schauspieler seine Bewegungen fühlen. Riccoboni verlangt also eine Art Internalisierung der Rolle, die dann nicht gelänge, wenn man vor dem Spiegel probt. Denn dabei würde man die Bewegungen nur nachstellen und von einer Pose in die andere fallen. Zudem fürchtet er, der Schauspieler würde nur noch solche Posen einnehmen, die er selbst als schön empfindet. Gerade wegen seinem Interesse an der Anmut verlangt Riccoboni also weiche und flüssige Bewegungen, die gleichsam von innen her entstehen: Nur so ließe sich das übliche „Spiel der Statuen“ auflösen. Damit das Zusammenspiel „angenehm“ erscheint, vergleicht Riccoboni das Spiel mit einem Orchester, die Schauspieler mit Tonkünstlern. Es spricht nicht mehr jeder für sich, sondern achtet auf den anderen, adaptiert dessen Ton und Bewegungen und übernimmt beides erst allmählich in den Sinn der Figur. Erst dann hat man als Ergebnis ein Spiel, welches dem Charakter entspricht. Es gibt bei Riccobonis so etwas wie einen ästhetischen Überschuss, der über dasjenige, was aus der Perspektive des Charakters heraus gesagt und getan werden kann, hinausgeht. Dessen zentrales Kriterium ist die Anmut91, dargelegt im Abschnitt über Die Bewegung. Riccoboni versteht unter der Bewegung „nicht allein die Bewegung der Arme, sondern überhaupt aller Teile des Körpers“, von deren „Übereinstimmung hängt die ganze Anmut eines Schauspielers ab“.92 Dabei gehe es u.a. darum, dass „die Bewegung des Armes weich sei“, auch sollten „die Finger […] nicht gänzlich gestreckt, sondern mit Anmut gebogen sein“93, zudem gilt: „je langsamer und weicher die Bewegung ist, desto angenehmer wird sie“94. Gleichzeitig aber betont Riccoboni auch: Wenn den Schauspieler aber eine heftige Leidenschaft dahin reißt, so kann er alle diese Regeln vergessen; er kann sich mit mehr Geschwindigkeit bewegen, und die Arme wohl bis über den Kopf erheben. Wenn er aber einmal gewohnt ist, sich zärtlich und anmuthig zu bewegen, so werden auch seine lebhaftesten Bewegungen noch allezeit den besten Grundsätzen gemäß erscheinen.95
91 Unverkennbar ist daher auch der Einfluss Riccobonis auf die Diskussion um die Anmut, parallel zu Hogarths The analysis of beauty (1753). Dies bezeugt etwa Johann Friedrich Löwens Abhandlung Kurzgefasste Grundsätze von der Beredsamkeit des Leibes“ von 1755. Die Natürlichkeit, welche Löwens Mimik anstrebt, zeugt zum einen vom Einfluss der Ekhofschen Akademie, zugleich aber legt Löwen unter dem Eindruck Hogarths und Riccobonis viel Gewicht auf den Begriff der Schönheit. Löwen ist also davon überzeugt, dass Hogarths Gesetze von der Schönheit Schauspielern Anmut in der Bewegung verleihe. Allerdings weist er Francisco Riccobonis Lehre über die Bewegungen der Arme und Hände zurück, wie Löwen überhaupt alle Pedanterie in der Darstellung verpönt, um so ausfälliger ist daher seine Sympathie für Hogarth. Löwens Traktat steht in der Tradition von Hogarth und Riccoboni, unterschiedslos wird hier von Mimik und von Beredsamkeit des Leibes, vom Redner und vom Schauspieler gesprochen. 92 Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden: Lieder. Epigramme. Fabeln. Lustspiele. Beiträge zur Historie und Aufnahme des Theaters. Werke, 1743–1751, S. 889. 93 Ebd., S. 892. 94 Ebd., S. 893. 95 Ebd., S. 893.
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Hinsichtlich der Darstellung der Affekte unterteilt Riccoboni nun in heftige und zärtliche Affekte, ein Aspekt, den Jutta Golaski-Braungart besonderes bemerkte.96 Denn damit verbinden sich verschiedene Klassen von Affekten („sentimens“): Die „zärtlichen“ (tendres), die aus der Liebe entspringen, und die „heftigen“ („forts“), die mit dem Zorn zusammenhängen. „Das Zärtliche“ unterscheidet Riccoboni zudem von den Empfindungen, denn dieser Begriff sei zu allgemein, um die „zärtlichen Stellen („momens attendrissans“) zu bezeichnen. Rührende bzw. zärtliche Stellen in diesem Sinne dürfen nun keineswegs zu gehäuft aufeinander folgen, man solle nach Riccoboni vielmehr vermeiden, ständig zu erweichen, also weinerlich zu wirken. Dabei bemerkte Helmut Berthold, dass Lessing Riccobonis Anweisung: „il faut bien sentir“, mit der Wendung: „so muß man wohl untersuchen“ übersetzte. Die Formulierung: „Lorsqu la scène oblige à prendre le ton attendrissant, il faut bien sentir de quelle espece est cette tendresse.“97 – erscheint somit bei Lessing als: „Wann die Stelle notwendig einen zärtlichen Ton erfodert, so muß man wohl untersuchen, von welcher Art die Zärtlichkeit sei, die man ausdrücken soll.“98 Lessing betonte damit nach Einschätzung Bertholds ein „Diktat der Zielsprache“. Gemeint war damit der Aspekt „kalter“ Schauspielerei, also die Tatsache, dass der Schauspieler nach Riccoboni nicht wirklich im Affekt sein und dann noch spielen kann, was wiederum eine gewisse Nähe zu Diderot bezeugt. Einerseits also müsse der Schauspieler in Wallung geraten, zugleich aber muss ihm klar bleiben, dass er nicht wirklich empfindet, er darf sich nicht selbst betrügen. Es gehe also beim „Ausdruck“ des Schauspielers um eine Form von „Geschicklichkeit, durch welche man den Zuschauern diejenigen Bewegungen, worin man selbst versetzt zu sein scheint, empfinden läßt.“99 Riccoboni betont jedoch explizit, dass es sich um einen Schein handelt: „nicht, daß man wirklich darein versetzt ist.“100 Lessing betonte dieses analytische Spiel nicht von ungefähr mit Blick auf Riccobonis wichtige Differenzierung des rührenden bzw. zärtlichen Spiels:
96 „Lessing hat an Sara und Marwood die zwei ‚Classen‘ von Empfindungen (‚sentimens’) Riccobonis erprobt. Die ‚zärtlichen‘ (‚tendres’), die aus der Liebe entspringen, und die ‚heftigen‘ (‚forts’), die mit dem Zorn zusammenhängen“, vgl: Golawski-Braungart: Lessing und Riccoboni: Schauspielkunst und Rollenkonzeption, a. a. O., S. 193. 97 Zitiert nach: Berthold: „ihrem Originale nachzudenken“, a.a.O., S. 140. 98 Ebd. 99 Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden: Lieder. Epigramme. Fabeln. Lustspiele. Beiträge zur Historie und Aufnahme des Theaters. Werke, 1743–1751, a.a.O., S. 903. 100 Ebd. Vgl. auch: „Wann ein Schauspieler mit der gehörigen Stärke die Empfindungen seiner Rolle ausdrückt, so sieht der Zuschauer das vollkommenste Bild der Wahrheit an ihm. Ein Mensch der wirklich in einer dergleichen Gemüthsbeschaffenheit wäre, würde sich nicht anders ausdrücken, und so weit muß man auch, wenn man gut spielen will, die Verstellung treiben. Da also viele durch eine so vollkommene Nachahmung des Wahren in Erstaunen gesetzt wurden, so nahmen sie es für das Wahre selbst, und glaubten, der Schauspieler habe wirklich die Empfindungen, die er vorstellte. Sie überhäuften ihn also mit Lobsprüchen, die er zwar verdiente, die aber aus einem falschen Begriffe herflossen: und der Schauspieler, der seine Rechnung dabey fand, unterstützte sie in ihrem Irrthume durch seinen Beyfall.“ Ebd.
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Wann die Stelle nothwendig einen zärtlichen Ton erfodert, so muß man wohl untersuchen, von welcher Art die Zärtlichkeit sey, die man ausdrücken soll. Die Zärtlichkeit einer Mutter gegen ihre Tochter, eines getreuen Unterthanen gegen seinen König, eines Liebhabers gegen seine Geliebte, sind alle von besonderer Art, und jede muß anders ausgedrückt werden. Die gesunde Vernunft läßt diese Regel leicht begreifen. Allein es gehört viel Feinheit dazu, wenn man die Verschiedenheiten einer Empfindung unterscheiden soll, welche anfangs durchgängig einerley zu seyn scheint. Ich kann mich nicht anheischig machen alle Töne auseinander zu setzen, deren eine einzige Empfindung fähig ist. Empfindliche Gemüther mögen sie selbst wahrnehmen.101
Passagen wie diese lassen es unmittelbar einleuchtend erscheinen, mit Berthold und Golawski-Braungart einen hohen Einfluss der Riccoboni-Übersetzung auf die Miss Sara Sampson anzunehmen. Denn natürlich ist die zärtliche Vater-TochterBeziehung in der Miss Sara Sampson von gänzlich anderer Art als die Lessing zu diesem Zeit bekannten: Etwa die Beziehung zweier zärtlicher Schwestern (Gellert), die Beziehung zwischen Bruder und Schwester (Schlegel, Canut) oder die zwischen Mann und Frau (Racine, Voltaire, Destouches etc.). Diese für Lessing wohl einflussreiche Differenzierung Riccobonis trifft nun auf einen anderen Aspekt, der Lessing gleichfalls sehr eindrücklich gewesen sein dürfte, weil damit gewisse Überlegungen der später von Moses Mendelssohn geprägten Theorie der „vermischten Empfindungen“ vorweggenommen sind. Denn Riccoboni betont, dass die „Zärtlichkeit nie eine einfache Bewegung“ („mouvement unique“) ist, sondern „meistenteils von einer anderen begleitet wird, welche die die Stellung („situation“) bestimmen und dem Schauspieler in der Art, wie er sich zärtlich zeigen soll, zum Wegweiser dienen.“ Dies aber trifft präzise die Idee vermischter Empfindungen, wie wir sie auch bei Miss Sara Sampson noch finden werden: Bald ist es die Furcht für den Gegenstand unserer Liebe, bald die Unruhe ihn zu verlieren, bald die Betrübnis sich von ihm getrennt zu sehen. Manchmal ist es die Verzweiflung ihm nicht zu gefallen, manchmal das Mitleiden mit seinen traurigen Umständen. Oft können es auch die Gewissensbisse einer unrechtmäßigen Liebe seyn, oder der Zorn über den Misbrauch der Vertraulichkeit, welcher um so viel lebhafter ist, weil er deswegen die Zärtlichkeit nicht unterdrückt, und tausend andre Bewegungen, die man leicht beobachten kann, wenn man die Regel, die ich gegeben habe, vor Augen hat.102
Es sei schon an dieser Stelle betont, dass eben diese von Riccoboni bemerkte „Begleitung“ der Zärtlichkeit durch annähernde Emotionen wie Furcht, Unruhe, Betrübnis oder Verzweiflung einen entscheidenden Einfluss auf Lessings Dramatisierung der Zärtlichkeit hatte. Sara empfindet anders als die zärtlichen Schwestern Gellerts niemals bloße Zärtlichkeit, weder für Mellefont noch für ihren Vater. Stets ist diese Empfindung vermischt mit gegenläufigen Emotionen wie etwa der Angst oder gar der Scham. Wir haben uns Lessings Dramatisierung der Zärtlichkeit, die nun erstmals die Bühne des Trauerspiels betreten wird, also auch vor dem Hinter101 Ebd., S. 909. 102 Ebd.
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grund seiner Übersetzung Riccobonis zu erklären. Um dies zu verdeutlichen, skizziere ich zunächst den Inhalt der Tragödie der Miss Sara Sampson.103
Die Dramatisierung der zärtlichen Didaktik: Miss Sara Sampson Lessings Miss Sara Sampson spielt im Wesentlichen in einem englischen Gasthof, das Personal entstammt entsprechend dem englischen Landadel, dem sogenannten Gentry.104 Das Stück beginnt mit dem Auftritt von Saras Vater Sir William Sampson, der gemeinsam mit seinem Diener Waitwell in diesem Gasthaus auf der Suche nach seiner vermeintlich „verführten“ Tochter, dem „Sarchen“ ist, und zugleich „Rache gegen ihren verfluchten Verführer“105 zu nehmen gedenkt. Allerdings erweist sich diese Einschätzung schnell als verfehlt. Zum einen wird deutlich betont, dass Mellefont die Beziehung mit Sara auch als eine Gelegenheit ansieht, um sein ehemaliges Faible für „lasterhafte Weibsbilder“106 endgültig abzulegen. Zudem befindet sich Sir Williams tugendhafte Tochter zwar tatsächlich mit ihrem Geliebten auf dem Weg nach Frankreich; sie wurde jedoch weder ent- noch verführt. Vielmehr ist sie mit Mellefont regelrecht durchgebrannt, gerade weil ihr Vater dieser Verbindung seine Zustimmung verweigert hatte. Seit neun Wochen und mit einem stetig anwachsenden Zwiespalt lebt sie nun schon gemeinsam mit Mellefont in diesem „elenden Wirthshause“107, da Mellefont den Plan hat, das Königreich England zu verlassen und in Frankreich zu heiraten. Dieser Plan hängt mit der rechtlichen Grundlage der Liebesehe zusammen, die sich ohne Einwilligung der Eltern zu diesem historischen Zeitpunkt nur in Frankreich vollziehen ließ, dagegen „in dem Königreiche nicht vollzogen werden kann“108, wie Mellefont gegenüber seinem Diener Norton betont. Die Eröffnungsszene liefert also eine für die gesamte Tragödie entscheidend wichtige Situation der Verzögerung im Sinne der „Verschiebung einer Zeremonie“, die den speziell von Sara ersehnten „Segen“ der Heirat bringen würde: MELLEFONT: Sie sind schwach, liebste Miß. Sie müssen sich setzen. SARA sie setzt sich: Ich beunruhige Sie sehr früh; und werden Sie mir es vergeben, daß ich meine Klagen wieder mit dem Morgen anfange?
103 Jutta Golawski-Braungart: Lessing und Riccoboni. Schauspielkunst und Rollenkonzeption im Trauerspiel ‚Miß Sara Sampson‘, in: Sprache und Literatur 75/76 (1995), S. 184–204. 104 Die zeitgenössischen Hinweise auf diese Lokalisierung im aristokratischen Milieu bemerkte bereits Dieter Borchmeyer, vgl.: Geschichte der deutschen Literatur Band I/1: Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart: Band I/1, hg. v. Viktor Zmegac (Hrsg.), Weinheim 41996, S. 111. 105 Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 2, München 1970 ff., S. 11f. 106 Ebd., S. 14. 107 Ebd., S. 11. 108 Ebd., S. 16.
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MELLEFONT: Teuerste Miß, Sie wollen sagen, daß Sie mir es nicht vergeben können, weil schon wieder ein Morgen erschienen ist, ohne daß ich Ihren Klagen ein Ende gemacht habe. SARA: Was sollte ich Ihnen nicht vergeben? Sie wissen, was ich Ihnen bereits vergeben habe. Aber die neunte Woche, Mellefont, die neunte Woche fängt heut an, und dieses elende Haus sieht mich noch immer auf eben dem Fuße, als den ersten Tag.109
Während Sara also – trotz eines schlechten Gewissens ob ihres besorgten Vaters – auf die Heirat drängt, bleibt Mellefont zögerlich. Vor dem Hintergrund dieser belastenden Verzögerung erklären sich jene Alpträume, die Sara nachts heimsuchen, und die sich angesichts des späteren Auftritts der Marwood als wahre Prophetien ausweisen, wenn Sara von einer „ihr ähnlichen Person“110 vor dem Sturz in einen Abgrund bewahrt, dann aber von eben dieser Person erdolcht wird: „,Ich rettete dich‘, schrie sie, ‚um dich zu verderben!‘“111 Dennoch verzögert Mellefont die Heirat, und zwar vor allem, weil er auf das Erbe eines Vetters wartet. Dieses kommt ihm nur unter der Bedingung einer Zweckehe zu, die er mit einer ihm wiederum verhassten nahen Verwandten einzugehen hätte. Die Abneigung beruht auf Gegenseitigkeit, weshalb Mellefont sich mit der Verwandten darauf geeinigt hat, das Erbe zu teilen. Und erst diese Erbschaft ermöglicht ihm eine seiner Sara angemessene finanzielle Ausstattung. Seine Bereitschaft zu dieser Zweckehe resultiert also aus dem Wunsch, Sara „ihrem Stande gemäß in der Welt erscheinen zu lassen.“112 Nun ist Mellefont jedoch ein Franzose, Sara hingegen die Tochter eines englischen Landedelmanns, weshalb die Frage nach dem Heiratsort eine weitere Problematik darstellt: „Grausamer! so soll diese Verbindung nicht in meinem Vaterlande geschehen?“113, so lautet Saras empörter Kommentar. Die ausstehende Erbangelegenheit verstärkt das für die Dramaturgie der Miss Sara Sampson grundlegende Leitmotiv der Verzögerung, welches im dritten Aufzug seinen Höhepunkt erreicht. Hintergrund dieser Verzögerung ist auch das in einem doppelten Sinne schlechte Gewissen des Vaters Sir William Sampson: Nicht nur fühlt er sich verantwortlich für Saras aus seiner Sicht fatale Beziehung mit Mellefont: „Ohne mich würde Sara diesen gefährlichen Mann nicht haben kennen lernen.“114 Zudem glaubt er mit gewissem Recht, die Flucht der beiden entscheidend verursacht zu haben: „Wenn ich meine zu späte Strenge erspart hätte, so würde ich wenigstens ihre Flucht verhindert haben.“115 Darum verfasst er einen Brief an seine Tochter, in dem er den beiden vergibt und sie auffordert, zu ihm zurückzukehren. Die Tatsache, dass es sich dabei um einen Brief und nicht um ein 109 Ebd., S. 16f. 110 Ebd., S. 18. 111 Ebd. Später wird Sara diese Person in Mellefonts früherer Geliebten Marwood wiedererkennen, und – ungeachtet dieser traumhaften Vorzeichen – jegliche „Ähnlichkeit“ mit dieser Rivalin entschieden von sich weisen. 112 Ebd., S. 20. 113 Ebd., S. 21. 114 Ebd., S. 43. 115 Ebd., S. 44.
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klärendes Gespräch handelt, ist für die dramatische Zuspitzung der tragischen Verzögerung von entscheidendem Interesse: Wir werden darauf noch genauer eingehen. Das entscheidende Äquivalent dieser Dramaturgie ist natürlich der Auftritt der ehemaligen Geliebten Mellefonts: Ist doch die Marwood dem das eigene Glück der Ehe tragisch hinauszögernden Liebespaar zielstrebig auf der Spur. Marwood möchte Mellefont zurückgewinnen, allerdings nicht aus wahrer Liebe, sondern aus einem verletzten Ehrgefühl heraus. Dabei dient ihr auch die gemeinsame Tochter Arabella bzw. „Bella“, die sie als „Lockmittel“ einsetzt, dazu, den ehemaligen Geliebten zu erweichen. Dies ist deshalb markant, weil so die Beziehung Mellefonts zu Marwood als Beispiel einer sinnlichen, nicht aber zärtlichen Liebe erscheint, wohingegen für Mellefont und Sara eindeutig die Maxime Ringeltaubes gilt: „Die zärtliche Liebe richtet ihre Empfindungen nicht nach der Sinnlichkeit, sondern nach der Sittlichkeit ein.“116 Von dieser zärtlichen Liebe scheint auch Mellefont erfüllt, zumindest hat er „in dem Umgange mit einer tugendhaften Freundin, die Liebe von der Wollust unterscheiden gelernt.“117 Allerdings zieht die Marwood als ehemalige Geliebte und Mutter der gemeinsamen Tochter alle Register: Nicht nur setzt sie die Tochter Arabella als Druckmittel ein, sondern lockt zudem auch den Vater der Braut an den Ort des Geschehens. Sir William Sampson wurde also von Marwood in dieses Gasthaus geladen, wie sie gegenüber Mellefont bemerkt: „Geben Sie dem weinenden Alter seine Stütze wieder, und schicken Sie eine leichtgläubige Tochter in ihr Haus zurück.“118 Da auch die Tochter Arabella den Vater nicht verlieren möchte, scheint Mellefont zunächst gar bereit, sich von Sara loszusagen. Letztlich aber bleibt er entschlossen, Sara zu ehelichen, und zudem seine Tochter mitzunehmen. In diesem Moment versucht Marwood zunächst vergeblich, Mellefont zu erstechen, um ihm dann – als letzte List – die fatale Erlaubnis abzugewinnen, seiner neuen Geliebten Sara unter dem Namen „Lady Solmes“ als „Anverwandte“ Mellefonts gegenübertreten zu dürfen. Mit diesem Auftritt der Marwood entfaltet sich nun die zweite entscheidende Ebene dieser Tragödie, die Polarisierung von Aufrichtigkeit und Verstellung, die nach Einschätzung von Jutta Golawski-Braungart als Resultat der schauspieltheoretischen Einflüsse der frühen 1750er Jahre zu lesen ist. Die zuvor erläuterten Differenzen zwischen einer kalten und einer heißen Schauspielkunst lassen sich also auf das Aufeinandertreffen der aufrichtigen Sara und der sich verstellenden Marwood beziehen, welche sich nun als „Lady Solmes“ ausgibt. Zudem zeigen die ersten drei Szenen des vierten Aufzugs dem Zuschauer, dass Mellefont in Wahrheit der Hochzeit zögerlicher entgegensieht als bisher angenommen: Er fürchtet den Bund mit Sara und die Fessel der Ehe, entsagt aber schließlich dem „zügellose[n]
116 Zitiert nach: Michael Ringeltaube: Von der Zärtlichkeit, Breslau-Leipzig 1765, S. 97. Vgl. dazu auch: Saße: Die Ordnung der Gefühle, a.a.O., S. 38–47. 117 Lessing: Werke. Band 2, a.a.O., S. 29. 118 Ebd., S. 35.
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Leben“119: Auch angesichts der offenen Kritik seines Dieners Norton. Zudem macht Mellefont der Marwood ein Friedensangebot, indem er sich bereit erklärt, für die gemeinsame Tochter Arabella zu sorgen. Die kalte Schauspielkunst im Sinne Sainte-Albines repräsentiert in diesem Moment die Marwood, die sich zuvor als „eine neue Medea“ identifizierte, dann aber ihre aggressives Ressentiment kunstvoll verstellt, also nur in den Monologen „unbemerkt einmal Atem schöpfen, und die Muskeln des Gesichts in ihre natürliche Lage fahren lassen“120 kann. In der Maske der Verstellung trifft sie ihre Rivalin Sara und verrät dem Zuschauer – „Beiseite“ gesprochen – ihren Mordplan, nachdem sie Mellefont durch einen falschen Boten entfernt hat. Im Gespräch mit Sara warnt sie diese zunächst vor Mellefonts „Flatterhaftigkeit“121, woraufhin Sara ausgerechnet Mellefonts Trennung von der Marwood wiederum als positives Beispiel dafür heranzieht, dass Mellefont sich stets von den lasterhaften Damen trennte. Der immer noch ahnungslosen Sara erzählt die maskierte Lady Solmes die wahre „Geschichte der Marwood“, die Anmut und Namen, aber kein Vermögen besaß: Ein „Frauenzimmer, voll des zärtlichsten Gefühls“122. Dass Mellefont sich von Marwood trennte, hatte demnach mit einer Scheinehe zu tun, die er zwecks einer Erbschaft einging: Darin spiegelt sich das Schicksal von Marwood und Sara. Zudem erfährt Sara nun erstmals von beider Tochter Arabella, schließlich betont die Lady Solmes, dass Mellefont die Marwood noch immer liebe, und Sara diesen noch ohne Schande verlassen könne. Saras Antwort ist aus heutiger Sicht in der Tat seltsam: Sie hätte sich nicht schwängern lassen, und wenn, dann hätte sie anschließend nicht 10 Jahre hinter ihm hergetrauert. Als sie die Lady Solmes zudem bittet, mit der „verhärteten Buhlerin“123 Marwood nicht verglichen zu werden, löst eben dies deren tödliche Rache aus. Diese gibt sich zu erkennen, woraufhin Sara flieht, und Marwood nunmehr den Giftmord an die Stelle einer Erdolchung treten lässt.
Der Einfluss von Voltaires Nanine: Zärtlichkeit als tragische Beschämungsvermeidung Saras Vater, der englische Landadelige Sir William Sampson, ist anders als Odoardo Galotti kein bürgerlicher Tugendrichter, sondern ein „zärtlicher Vater“124. Er hat erkannt, dass seine Strenge die eigentliche Ursache der Flucht Saras gewesen ist. Im Unterschied zu Odoardo Galotti leidet Sir William Sampson auch nicht an der Verletzung von Tugend und Sitte, sondern nur an der „Abwesenheit“ der Tochter, an der zerstörten Integrität der Familie. Er kann Sara „länger nicht entbehren“, will 119 120 121 122 123 124
Ebd., S. 65. Ebd., S. 71. Ebd., S. 75. Ebd., S. 77. Ebd., S. 81. Lessing: Werke. Band 2, a.a.O., S. 45.
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„lieber von einer lasterhaften Tochter als von keiner geliebt sein“, und sieht ihren Fehltritt als den „Fehler eines zärtlichen Mädchens“125 an, welcher gar „besser“ sei als „erzwungene Tugenden“. Anders als in der Emilia Galotti fehlt es also in der Miss Sara Sampson an einer autoritären Vaterfigur, an die Stelle der sehr rigiden Tugendkonventionen einer bürgerlichen Familie tritt hier die auf „Zärtlichkeit“ beruhende Gemeinschaftsform des Landadels. Diese Zärtlichkeit lässt sich wohl kaum mit jener von Peter Szondi betonten Weinerlichkeit erklären, mit welcher das Bürgertum seine politische Ohmacht empfunden hätte. Und selbstverständlich steht die Zärtlichkeit zwischen Vater und Tochter auch nicht unter einem ödipalen Vorzeichen. Wir haben die zwischen Vater und Tochter bestehende Beziehung aber auch zu unterscheiden von derjenigen, die sich kurzzeitig zwischen Marwood und Mellefont anzubahnen scheint, der sich Mellefont jedoch widersetzt.126 Zwar scheint die Marwood auf diese Zärtlichkeit mit Recht anzuspielen, wenn sie Mellefont an seine Jugendsünden erinnert.127 Aber diese Zärtlichkeit ist von einer weitaus stürmischeren Art als die für das Drama weit wichtigere zwischen Vater und Tochter.128 Die Sampsons besitzen nämlich jene „Fertigkeit, das Moralische bald zu empfinden und dadurch leicht gerührt zu werden“ sowie „in andern bald sittliche Empfindungen hervorzubringen oder sie merklich zu rühren“, wie Ringeltaube zehn Jahre nach der Miss Sara Sampson in seiner Abhandlung Von der Zärtlichkeit bemerkt.129 Diese Zärtlichkeit drückt sich 125 Ebd., S. 11. 126 „Vergebens, Marwood, suchen Sie alle Waffen hervor, mit welchen Sie sich erinnern, gegen mich sonst glücklich gewesen zu sein. Ein tugendhafter Entschluß sichert mich gegen Ihre Zärtlichkeit und gegen Ihren Witz.“ Vgl. Ebd., S. 30. 127 „Ich will Sie an den ersten Tag erinnern, da Sie mich sahen und liebten; an den ersten Tag, da auch ich Sie sahe und liebte; an das erste stammelnde, schamhafte Bekenntnis, das Sie mir zu meinen Füßen von Ihrer Liebe ablegten; an die erste Versicherung von Gegenliebe, die Sie mir auspreßten; an die zärtlichen Blicke, an die feurigen Umarmungen, die darauf folgten; an das beredte Stillschweigen, wenn wir mit beschäftigten Sinnen einer des andern geheimste Regungen errieten, und in den schmachtenden Augen die verborgensten Gedanken der Seele lasen; an das zitternde Erwarten der nahenden Wollust; an die Trunkenheit ihrer Freuden; an das süße Erstarren nach der Fülle des Genusses, in welchem sich die ermatteten Geister zu neuen Entzückungen erholten. An alles dieses will ich Sie erinnern, und dann Ihre Kniee umfassen, und nicht aufhören um das einzige Geschenk zu bitten, das Sie mir nicht versagen können, und ich ohne zu erröten annehmen darf, – um den Tod von Ihren Händen.“ Vgl.: Ebd., S. 32. 128 Dagegen zeigt die „erste Träne“ Mellefonts (I/5), dass die Liebe zu Sara ihn dem Weltleben entfremdet, zur zärtlichen Familienmoral bekehrt hat: „Wo ist die alte Standhaftigkeit, mit der ich kein schönes Auge konnte weinen sehen? Wo ist die Gabe der Verstellung hin, durch die ich sein und sagen konnte, was ich wollte?“ Mellefont zeigt sich als ein Charakter, der zwischen den Werthaltungen bürgerlicher Familiarität und der Verstellungskunst der ‚großen Welt‘ der Aristokratie schwankt. Zu der ersteren neigt er aufgrund seiner vielfach geäußerten ‚Zärtlichkeit’; seine Abhängigkeit von den Normen der ‚Welt‘ hingegen – die aus bürgerlicher Sicht nur ein System der Unsittlichkeit bilden – offenbart sich in seiner ‚unbürgerlichen‘ Scheu vor der Ehebindung. Auch Sara entfernt sich in gewisser Weise von den bürgerlichen Standeskonventionen; sie ist bereit, eine Ehe mit Mellefont geheim zu halten und die ‚Schande‘ nach außen hin zu tragen, aber trotzdem beharrt sie auf der „Zeremonie“ der Heirat, nicht vom Standpunkt der Ehrbarkeit aus, sondern um ihrer selbst und der Einwilligung des Himmels willen. 129 Michael Ringeltaube: Von der Zärtlichkeit, Breßlau und Leipzig 1765, S. 95f.
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nicht nur in jenen Tränen aus, welche man in der Forschung häufig als wichtigstes Symptom der Sittlichkeit, der intakten Moral des Herzens fokussierte. Die sittliche Qualität der Zärtlichkeit äußert sich zudem in einer bestimmten Didaktik der Beschämung, die wir bereits anhand von Colley Cibbers The careless husband oder Gellerts Die zärtlichen Schwestern kennenlernten. Bei Lessing tritt uns diese Didaktik nun in potenzierter Form, dass heißt als eine noch feinere Form der Schamvermeidung, genauer gesagt als ‚Beschämungsvermeidung‘ entgegen. Diese ‚Beschämungsvermeidung‘ hat Lessing möglicherweise der bereits erläuterten Komödie Voltaires mit dem Titel Nanine entlehnt, in welcher die Titelheldin zunächst vor dem Liebesgeständnis des Grafen scheu zurückweicht, aus Angst, der Graf würde die Verbindung mit einem einfachen Mädchen dereinst bereuen. Eine sehr vergleichbare Form der Rücksicht entfaltet sich bei Lessing im dramaturgisch wichtigen dritten Akt der Miss Sara Sampson. In diesem wird das schon erläuterte Motiv der Verzögerung durch einen Briefwechsel zwischen Vater und Tochter – auch dies erinnert an Voltaires Nanine – erneut aufgegriffen. Hintergrund dieses Briefwechsels ist der Wunsch des Vaters, den beiden Flüchtigen zu vergeben und sie aufzufordern, zu ihm zurückzukehren: Der Brief des Vaters formuliert also gegenüber der Tochter des Vaters Bereitschaft zur Vergebung sowie zur Anerkennung des Mellefont als zukünftigem Schwiegersohn. Diese Bereitschaft äußert Sir William in Form eines Briefes, er bedient sich also keines klärenden Gespräches, was wiederum für die dramatische Zuspitzung des Geschehens von entscheidender Wichtigkeit ist. Begründet wird diese vom Vater Sir William später bereute Form der schriftlichen Kontaktaufnahme durch eine Rücksicht, die er folgendermaßen erläutert: Ich werde ihrer Gesinnungen dadurch gewiß, und mache ihr Gelegenheit, alles, was ihr die Reue Klägliches und Errötendes eingeben könnte, schon ausgeschüttet zu haben, ehe sie mündlich mit mir spricht.130
Nun überreicht Diener Waitwell den Brief an die Tochter. Von Sir William ist er grob über dessen Inhalt informiert, und entsprechend beschreibt er Tochter Sara das Schreiben als den „Brief eines zärtlichen Vaters, der sich über nichts, als über ihre Abwesenheit beklaget.“131 Waitwell übermittelt der besorgten, von schlechtem Gewissen geplagten Sara also vor deren Lektüre des Briefes die Intention seines Vorgesetzten: „Sir William ist noch immer der zärtliche Vater, so wie sein Sarchen noch immer die zärtliche Tochter ist, die sie beide gewesen sind.“132 Dies ist für Sara zunächst überraschend, da sie aufgrund ihres Ungehorsams den Verlust der zärtlichen Liebe des Vaters befürchtete.133 Sie könnte nun also die Vergebung erleichterten Herzens annehmen und ihrerseits ebenfalls positiv reagieren. Aus eigen130 131 132 133
Lessing: Werke. Band 2, a.a.O., S. 44. Ebd. Ebd., S. 47. „Was sagst du? Du bist ein Bote des Unglücks, des schrecklichsten Unglücks unter allen, die mir meine feindselige Einbildung jemals vorgestellet hat! Er ist noch der zärtliche Vater? So liebt er mich ja noch?“ Vgl.: Ebd.
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tümlichen Gründen aber ziert sie sich, den Brief des Vaters anzunehmen, da sie ihn nicht zu falscher Toleranz ihrer Flucht gegenüber verleiten möchte: Dafür würde sich ihr Vater später schämen. Sie verweigert den Brief also aus Rücksicht, obwohl sie durch Waitwell weiß, dass ihr Vater zu vergeben und zu vergessen bereit ist. Eben darin jedoch sieht Sara das Problem: Du irrst dich, Waitwell. Sein sehnliches Verlangen nach mir verführt ihn vielleicht, zu allem ja zu sagen. Kaum aber würde dieses Verlangen ein wenig beruhigt seyn, so würde er sich seiner Schwäche wegen vor sich selbst schämen. Ein finsterer Unwille würde sich seiner bemeistern, und er würde mich nie ansehen können, ohne mich heimlich anzuklagen, wie viel ich ihm abzutrotzen mich unterstanden habe.134
Auch als Diener Waitwell nun wider besseren Wissens die Möglichkeit in Aussicht stellt, dass der Brief ja evtl. keine „Liebe und Vergeltung“ beinhalte, bleibt Sara zögerlich. Erst als er betont, dass Sara anders sei als jene „Leute[n], die nichts ungerner, als Vergebung annehmen, und zwar, weil sie keine zu erzeigen gelernt haben“, scheint sie bereit. Waitwell macht Sara also klar, dass deren Zögerlichkeit bzw. Saras „Weigern nur eine rühmliche Besorgnis, nur eine tugendhafte Schüchternheit sei. Leute, die eine große Wohltat gleich, ohne Bedenken, annehmen können, sind der Wohltat selten würdig. Die sie am meisten verdienen, haben auch immer das meiste Mißtrauen gegen sich selbst. Doch muß das Mißtrauen nicht über sein Ziel getrieben werden.“135 Erst jetzt ist Sara bereit, den Brief zu Ende zu lesen und dem Vater zu antworten. Eben diese Briefszene ist den Szenen ll 4 und 5 der Nanine entnommen: Nanine (seule): Allons, il faut ecrire II faut ... par où commencer, et que dire? Quelle surprise! Ecrivons promptement, Avant d’oser prendre un engagement. (elle se met à ecrire) [ ... ] (écrivant toujours) [...] (écrivant) A chaque mot mon embarras redouble; Toute ma lettre est pleine de mon trouble.136
Wie wichtig diese Voltaire entlehnte Briefepisode für das weitere Geschehen der Miss Sara Sampson ist, verdeutlicht nun wiederum der letzte Akt, in welchem der tragische Tod der Sara Sampson auch auf diese verzögerte Aussöhnung zurückgeführt wird: „Wenn du mich an mein Vergeben erinnerst, so erinnerst du mich auch daran, dass ich gezaudert habe. Warum vergab ich dir nicht gleich?“137 Die Antwort auf diese wichtige Frage liefert also der dritte Akt, in welchem die Gründe für 134 Ebd., S. 49. 135 Ebd., S. 52. 136 Übersetzt: „Wohlan, ich muß schreiben, ich muß ... aber wo beginnen und was sagen? Wie befremdlich! Ich will schnell schreiben, bevor ich mich auf etwas einlasse. (Sie setzt sich zum Schreiben) { ... } (immer schreibend) ( ... ) (schreibend)Bei jedem Wort verdoppelt sich meine Bedrängnis; mein ganzer Brief ist voll meiner Verwirrung.“ 137 Lessing: Werke. Band 2, a.a.O., S. 94.
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das tragische „Zaudern“ des Vaters entfaltet werden. Es handelt sich um eine der Voltaireschen Nanine sehr vergleichbare Form der Rücksicht, die es dem Vater gebietet, die Tochter nicht sogleich aufzusuchen, um sie angesichts ihres peinlichen Fehlgehens – der unerlaubten Flucht mit dem Geliebten Mellefont – nicht zu sehr zu beschämen. War es bei Voltaire der Brief der Tochter, so ist es bei Lessing der Brief des Vaters: Dieser tritt an die Stelle einer direkten Begegnung, er gibt der Tochter „Gelegenheit, alles, was ihr die Reue Klägliches und Errötendes eingeben könnte, schon ausgeschüttet zu haben, ehe sie mündlich mit mir spricht.“138 Was bei Voltaire freilich zu einer Steigerung der Komödienspannung führt, endet bei Lessing tragisch. Denn bei Sara stellen sich ganz ähnliche Bedenken ein, nachdem sie den Brief des Vaters erhalten hat: An die Stelle einer sowohl vom Vater wie von der Tochter gewünschten Vergebung tritt so ein Zaudern, welches sich wechselseitig verstärkt. Vaters „sehnliches Verlangen nach mir“, so die Einschätzung Saras, würde ihn anfangs zwar alles verzeihen lassen. „Kaum aber würde dieses Verlangen ein wenig beruhiget sein, so würde er sich, seiner Schwäche wegen, vor sich selber schämen.“139 Diese eigentümliche Verzögerung im zentralen Akt der wechselseitigen Vergebung erscheint selbst dem Diener Waitwell kaum nachvollziehbar – „ist denn nicht das Vergeben für ein gutes Herz ein Vergnügen“140 –, wird aber schließlich von ihm als Zeichen einer „rühmliche[n] Besorgnis“, also „nur eine tugendhafte Schüchternheit“141 sei. Dass Sara beim Verfassen eines Antwortschreibens ebenfalls wertvolle Zeit verliert, hat wiederum auch mit ihrer Scham zu tun, die Fehler einzugestehen; freilich weiß sie um das Problem: Das Schämen kann überall an seiner rechten Stelle sein, nur bei dem Bekenntnisse unserer Fehler nicht. Ich darf mich nicht fürchten, in Übertreibungen zu geraten, wenn ich auch schon die grässlichsten Züge anwende.142
Wie einflussreich dieses Motiv der schambedingten tragischen Verzögerung für die weitere Entwicklung des Trauerspiels der 1750er Jahre ist, zeigt sich etwa in Benjamin Pfeils 1756 erschienener Tragödie Lucie Woodvil, in welcher ein identisches Motiv – die Scham des Vaters vor dem Eingeständnis eines unehelichen Kindes – das tragische Geschehen zuspitzt und so allererst ermöglicht. Und wir können wohl davon ausgehen, dass dieses nunmehr tragische Motiv der Beschämung von Lessing der Voltaireschen Komödie Nanine entlehnt ist. Zudem fällt auf, dass Lessing ein ähnliches Motiv in der Voltaires Tragödie Alzire, Ou Les Americains von 1736 angelegt sah. Im Briefwechsel mit Nicolai und Mendelssohn erläuterte Lessing anhand der Schamreaktion des Voltaireschen Helden die rührende bzw. ergreifende Wirkung dieser Tragödie. Anhand der Tragödie Voltaires über die von den spanischen Kolonialherren inhaftierte Inkaprinzessin Alzire, welche von ihrem Verlob138 139 140 141 142
Ebd., S. 44. Ebd., S. 49. Ebd., S. 52. Ebd. Ebd., S. 55.
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ten, dem Inkafürst Zamore, gerächt wird, erläutert er also seine auch für die Miss Sara Sampson wichtige Poetik des rührenden Mitleids. Nachdem Alzire gegen ihren Willen mit dem gewalttätigen Spanier Gusman verheiratet wird, Zamore daraufhin den Nebenbuhler tödlich verletzt, sich aber zugleich weigert, durch Bekehrung zum Christentum sein Leben zu retten, geschieht zweierlei: Der sterbende Gusman vergibt noch im Sterben dem Inkafürst – dies nahm Mendelssohn zur Grundlage seiner These von der Bewunderung als Reaktion des Zuschauers –, der reumütige Zamore reagiert in diesem Moment mit Scham, und eben das ist nach Lessing das eigentliche Faszinosum. Nicht also die Bewunderung des Gusman steht für Lessing im Vordergrund, sondern das eng mit der Schamreaktion Zamores verknüpfte Mitgefühl für den heidnisch-unzivilisierten Inkafürst: Ich bin, als ich diese Scene zum erstenmahl las, über die Vergebung des Gusman erschrocken. Denn den Augenblick fühlte ich mich in der Stelle des Zamor. Ich fühlte seine Beschämung, seine schmerzliche Erniedrigung, ich fühlte es, was es einem Geiste, wie dem seinigen, kosten müsse, zu sagen: ich schäme mich der Rache! Zum Tode, dem kleinern Uebel, war er vorbereitet; zur Vergebung, dem größern, nicht.143
Die Hintergründe von Lessings Argumentation haben wir nun genauer zu rekapitulieren: Zogen Friedrich Nicolai und Moses Mendelssohn in ihrer Dramaturgie der Bewunderung unter anderem das Beispiel des im Tode seinem Widersacher vergebenden Gusman aus Voltaires Tragödie heran, so verweist Lessing in seinem Plädoyer für das Mitleid als dem basalen Affekt der Tragödie auf die Figur des Zamore. Denn dessen auch im Original formuliertes Schamgefühl – „Honteux d’être vengé, je t’aime et je t’admire.“144 – scheint für den Rezeptionsvorgang nach Lessing offenbar relevanter und wirkungsmächtiger denn die Vergebungsgeste Gusmans. Man darf und muss nun fragen, ob dieses Art des Feinsinns, der Rücksicht, der zögerlichen, aus empathischem Schamgefühl hervorgehenden Interaktion für Lessing ein Zeichen eben jener gesellschaftlichen Schicht ist, die hier interagiert: Der gentry. Die Zärtlichkeit des Vaters hat zumindest auch mit der rücksichtsvollen Vermeidung allzu großer Beschämung zu tun, ist demnach auch ein Indiz seines Landadligen Habitus’.
Zur Vorlage der Miss Sara Sampson: Die aristokratische Welt in der comedy of manners Diese zärtliche Rücksicht gegenüber dem Anderen, die strikte Vermeidung beschämender Konfrontation zeugt von einer Höflichkeit, die als Import verstanden werden muss. Saras sowie ihres Vaters feiner Sinn für Scham scheint vorgeprägt durch die Philosophie des moral sense, durch die Einsicht also, dass der „sense of shame 143 Lessing Mendelssohn Nicolai. Briefwechsel über das Trauerspiel, hg. v. Jochen Schulte-Sasse, München 1972, S. 63. 144 Voltaire: Œuvres complètes de Voltaire, avec des notes et une notice sur la vie, S. 359.
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and honor“ von Innen kommt.145 Man kann, ja man muss wohl die im Drama Miss Sara Sampson entfaltete Schammotivik in die Tradition der verecundia stellen, also als eine in hohem Maße tugendhafte, dennoch aber tragische Form der Zurückhaltung identifizieren, wie Diener Waitwell es tut, der Saras zögerliche Handlungen als „eine tugendhafte Schüchternheit“ identifiziert. Das eigentlich zärtlich-empfindsame Trauerspiel Lessings, die Miss Sara Sampson von 1755, ist also gerade nicht als „bewusste bürgerliche Opposition“146 gegen, sondern vielmehr als Mimesis an die adlige Gesellschaftsschicht entwickelt. Es ist die Welt des britischen Gentry, des Landadels, die das Drama Miss Sara Sampson entfaltet, es handelt sich bei den Sampsons um eine Familie des ländlichen britischen Adels.147 Es sei in diesem Zusammenhang nochmals daran erinnert, dass Lessing das Personal dieser Tragödie der altenglischen comedy of manners entlehnte: Die Namen der Figuren aus der Miss Sara Sampson entstammen der Restaurationskömodie Congreves und Shadwells, wie Paul Kies schon 1926 zeigte.148 Kies verwies auf Thomas Shadwells The Squire of Alsatia, Charles Johnsons Caelia und Mrs. Susanna Centlivres The Perjur’d Husband, zudem werden Samuel Richardsons Clarissa von 1747/48, Henry Fieldings Tom Jones von 1749 und William Congreves The Way of the World von 1700 genannt. Vor allem aber habe Lessing den Handlungsumriss und die Verführung eines Mädchens durch den männlichen Protagonisten mit einer eventuellen Eheschließung sowie die Motive der Flucht aus dem Elternhaus, anschließende Reue und die darauf folgende väterliche Vergebung aus Thomas Shadwells The Squire of Alsatia übernommen.149 Darüber hinaus fänden sich in diesem Stück die Vorbilder der drei Hauptfiguren aus Lessings Stück, Marwood, Mellefont und Sara wieder. So etwa sei die Figur der Marwood recht deutlich angelehnt an eine vergleichbare Figur aus dem Squire, die frühere Geliebte des Helden Sir Belfond, eine Mrs Termagant, die in ähnlicher Form durch ihre Einmischung das Leben der Lucia bedroht, mit der Sir Belfont eine Beziehung einging. Ähnlich wie Lessings Mellefont, so ist im Squire der Sir Belfont Senior der mißratene Sohn, der sich in der schlechten Gesellschaft der Alsatians einem zügellosen Leben hingibt. Ist es jedoch bei Lessing die Sara, so wird in Shadwells Drama eben dieser männliche Held am Ende eines Bessern belehrt und kehrt reuig zu seinem Vater zurück. Diese Quellen sind bekannt, weniger jedoch wohl die Tatsache, dass auch Lessings Interesse an der restoration comedy eng mit dem Einfluss Voltaires verknüpft ist. In seiner 1750 erstmals publizierten Schrift mit dem Titel Beyträge zur Historie 145 Vgl. zur Scham als Form der „inneren Schönheit“: Burkhard Meyer-Sickendiek: Shame and Grace. The Paradox of the ‚Beautiful Soul‘ in the 18th Century, in: Habitus in Habitat I – Emotion and Motion, hg. v. Sabine Flach Daniel Margulies & Jan Soeffner, Berlin 2010, S. 121–130. 146 Victor Zmegac: Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, a.a.O., S. 116. 147 Vgl. dazu Lothar Pikulik: ‚Bürgerliches Trauerspiel und Empfindsamkeit, Köln Graz 1966, S. 6. 148 Paul P. Kies: The Sources and Basic Model of Lessings Miss Sara Sampson, in: Modern Philology 24 (1926–27), S. 65–90. 149 Paul P. Kies: The sources and basic model of Lessing’s Miss Sara Sampson, Modern Philology 24 (1926), S. 65–90.
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und Aufnahme des Theaters referiert Lessing Des Herrn von Voltaire Gedanken über die Trauer- und Lustspiele der Engländer. In diesem Zusammenhang beschreibt Lessing bzw. Voltaire die soziale Welt der comedy of manners am Beispiel der Komödien William Congreves, in dessen „in ihrer Art vortrefflich“ geratenen Komödien nur die „ausgebildeten und feinen Charaktere“ zu finden seien, frei aller „übeln Scherze“. „Alle Personen führen bei ihm die Sprache der ehrliebenden Leute, ob sie gleich alle als Betrüger handeln; welches ein deutlicher Beweis ist, daß er die Welt wohl kannte, und mit Leuten umgieng, die zu leben wussten.“150 Diese Ausführungen sind deshalb erwähnenswert, weil das Personal der Miss Sara Sampson an eben diesen „ehrliebenden“ und doch zugleich als „Betrüger“ agierenden feinen und ausgebildeten Leuten orientiert ist, die Personennamen also den Komödien Congreves entstammen. Den Namen „Sara“, in der englischen Literatur des 18. Jahrhunderts häufiger gebraucht, dürfte Lessing also weniger aus Richardsons Roman Pamela, denn vielmehr aus William Congreves Komödie The Mourning Bride von 1697 entlehnt haben.151 Der Name „Sampson“ ist wohl dem Sir Sampson aus William Congreves Komödie Love for Love von 1695 entlehnt, wobei Lessing den Namen in der zweiten Fassung von 1772 dem englischen Sprachgebrauch folgend von „Sir Sampson“ in „Sir William“ variiert. Der sprechende Name der Figur des Mellefont, gemäß dem englischen Ausdruck ‚fond [of ] mel‘ mit ‚Honigfreund‘ zu übersetzen, was wohl auf die von Blüte zu Blüte fliegende Honigbiene anspielt, geht auf Congreves The Double Dealer von 1693 zurück; der sprechende Name der Marwood, gemäß dem englischen ‚to mar‘ und ‚would‘ eine Person, ‚die gern schaden würde‘, entstammt Congreves The Way of the World von 1700, gleiches gilt für den Diener Waitwell, dessen sprechender Name – ‚to wait‘ und ‚well‘ meint ‚der gut Dienende’ – ebenfalls Congreves The Way of the World entlehnt ist. Inhaltlich scheint die Miss Sara Sampson am ehesten mit der 1693 uraufgeführten Komödie The Double Dealer verwandt zu sein, in welcher wie bei Lessing ein Mellefont, Neffe und designierter Erbe des kinderlosen Lord Touchwood, eine junge Cynthia heiraten will und in der intriganten Lady Touchwood eine Gegnerin hat. Diese versuchte zunächst erfolglos, Mellefont zu verführen, um ihn dann aus Eifersucht und gekränktem Stolz gegenüber ihrem Mann als den eigentlichen Verführer zum Ehebruch zu verleumden, woraufhin der erzürnte Lord den Neffen enterbt. Zwar gibt es bei Congreve noch den intriganten Geliebten Lady Touchwoods mit Namen Maskwell, der mittels einer rafinierten Täuschung – er gibt sich als Mellefonts Freund und getreuen Ratgebers von Lord Touchwood aus – Mellefont als Erbe Lord Touchwoods und Bräutigam Cynthias verdrängen kann. Auf diese Figur verzichtet Lessing jedoch, und auch das versöhnliche Ende Congreves, bei welchem die Intrige von Maskwell und Lady Touchwood entlarvt, Mellefont rehabilitiert und die Ehe mit Cynthia schließlich vollzogen wird, wendet Lessing in der Miss 150 Zitiert nach: Lessing: Werke, Band 10, hg.v. Julius Petersen, Hildesheim New York 1970, S. 47. 151 Vgl. G. E. Lessing: Werke und Briefe in 12 Bänden, Bd. 3: „Werke 1754–1757“, hg. von Conrad Wiedemann unter Mitwirkung von Wilfried Barner und Jürgen Stenzel, Frankfurt a. M. 2003, S. 1262.
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Sara Sampson natürlich ins Tragische. Dennoch aber sind diese Einflüsse unbestritten. Weit weniger wichtig – darauf verwies schon Kies – ist dagegen der von Szondi behauptete Einfluss der domestic tragedy George Lillos, also die in der Welt des englischen Finanzbürgertums spielende Tragödie The London merchant. Und gänzlich zu vernachlässigen ist der Einfluss Diderots, dessen Père de famille ja erst drei Jahre nach der Miss Sara Sampson entstand. Wenn man dagegen nach Lessings Impulsen für diese Orientierung an der britischen Restaurationskomödie fragt, dann hat man wohl auch diesbezüglich den Einfluss Voltaires zu bedenken, an dessen von Mylius unter dem Titel „Briefe über die Engländer“152 übersetzten Lettres philosophiques sich Lessings Ausführungen zur restoration comedy schon 1750 orientierten.153 Allerdings betrifft dies nur den Stoff. Die Dramaturgie der Miss Sara Sampson können wir erst dann angemessen verstehen, wenn wir nun auch auf Lessings Briefwechsel mit Moses Mendelssohn und Friedrich Nicolai vom Herbst 1756 bzw. dem Frühjahr 1757 eingehen. Dabei fragen wir im Folgenden jedoch vor allem, welche Rolle die Autoren und Theoretiker der französischen tragédie tendre – Racine, Voltaire, Dubos – in diesem Briefwechsel spielen.
Lessings Briefwechsel mit Nicolai und Mendelssohn: Dokument einer Theorie des Bürgerlichen Trauerspiels? Man hat den Briefwechsel zwischen Mendelssohn, Nicolai und Lessing bisher häufig als ein Dokument verstanden, in welchem eine noch dem konservativen Tragödienverständnis Gottscheds verpflichtete Dramaturgie der Bewunderung – vertreten durch Nicolai und Mendelssohn – von Lessing mit dessen neuartiger Dramaturgie des Mitleidens konfrontiert wird. Was dabei in der Forschung bisher oft übersehen wurde, das ist die Auseinandersetzung aller drei Autoren mit dem Paradigma der Rührung, wodurch die herkömmliche Rollenzuteilung freilich weitaus komplizierter wird. Denn wir konnten ja bisher zeigen, dass sich diese Idee der Rührung im französischen Theater entwickelte, und zwar in der Tragödie bei Racine und Voltaire, und in der weinerlichen Komödie bei Destouches, Marivaux und La Chaussée – also Autoren, die erst durch Gottscheds Die deutsche Schaubühne in Deutschland bekannt wurden! Zudem spielt die Rührung in der u.a. von der französischen tragédie classique her entwickelten Argumentation des Franzosen Jean Baptiste Dubos bereits für Nicolais Abhandlung von dem Trauerspiel und Mendelssohns Briefe über die Empfindungen eine der Bewunderung mindestens gleichgewichtige Rolle. Rührung als Grundlage der daraus abgeleiteten Mitleidspoetik wurde also nicht erst von Lessing, sondern schon von den beiden ‚konservativen‘ Autoren Nicolai und Mendelssohn in die Trauerspieldiskussion eingebracht. Diese dem französischen Theater entstammende Poetik der Rührung beginnt mit Racines tragédie tendre, also um 1675: „Les comédies de M. Racine ont quelque 152 Lessing: Werke, Band 10, hg.v. Julius Petersen, Hildesheim New York 1970, S. 41. 153 Ebd., S. 13.
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chose de fort touchant, et ne manquent guère d’imprimer les passions qu’elles représentent.“154, so formuliert es Dominique Bouhours in seinen remarques nouvelles sur la langue francaise. Wir konnten bereits umfangreich darlegen, wie sehr die von Racine in der Bérénice entwickelte Wirkungsästhetik dieser Einschätzung entsprach. Und wir deuteten zudem an, dass Racine eben deshalb eine wichtige Rolle in den Reflexionen des Abbé Jean Baptiste Dubos spielte, der wiederum die Diskussion um die Kategorie der Rührung in Deutschland entscheidend beeinflusste. Dubos’ Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture wurden erstmals 1719 veröffentlicht und erschienen 1750 in der deutschsprachigen Übersetzung des Gottfried Benedikt Funck unter dem Titel Kritische Reflexionen über die Poesie und Mahlerey. Und eben diese Reflexionen Dubos’ markieren jene ‚empfindsame‘ Wende der Ästhetiktheorie, die sich ihrerseits aus der zentralen These dieser Abhandlung herleitet: Kunst solle nicht nur schön sein, sondern vor allem die Herzen rühren: „On mérite le nom de poète en rendant l’action que l’on traite capable d’émouvoir.“155 An anderer Stelle heißt es ähnlich: Le sublime de la poésie et de la peinture est de toucher et de plaire, comme celui de l’éloquence est de persuader. Il ne suffit pas que nos vers soient beaux, dit Horace en style de législateur, pour donner plus de poids à la décision; il faut encore que ces vers puissent remuer les cœurs et qu’ils soient capables d’y faire naître les sentiments qu’ils prétendent exciter.156
Diese „remuement des cœurs“, diese „sensibilité“ erklären die sensitive Erfahrung bzw. das Gefühl erstmals zu einem ästhetischen Prinzip an sich.157 Dubos’ Reflexions gründen Kunst und Literatur also erstmals auf der Grundlage des Gefühls, und sie bedienen sich dabei den Konzeptionen der klassischen Affektenlehre. Aber während das movere in der antiken Poetik und Rhetorik noch in ein komplexes Regelkorpus eingebettet war und zudem weniger die Wirkung, sondern vielmehr die Ähnlichkeit mit tradierten Vorbildern Hauptzweck des Kunstwerks war, wird bei Dubos die Fähigkeit, die sensibilite des Rezipienten kunstvoll und künstlich wachzurufen, zum zentralen Merkmal seiner Definition von Kunst und Literatur: 154 Bouhours: Remarques novelles sur la langue francaise, Paris 1675, S. 93. 155 Jean Baptiste Dubos: Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture, nouvelle edition, Paris 1993, S. 71. 156 Ebd., S. 171. 157 Dubos ist für die ästhetische Diskussion des 18. Jahrhunderts vor allem deshalb von Bedeutung, weil er unter dem Eindruck von Bayle und Locke den englischen Sensualismus in die französische Ästhetik einführt. Gemäß dem Lockeschen Grundsatz, nihil est in intellectu, quid non fuerit in sensu betonte auch Dubos das Primat der Empfindung vor der Erkenntnis. Vom Gesichtspunkt der Wirkung her stellt sich für Dubos das traditionelle Problem der Naturnachahmung auf eine neue Weise. Nicht das Verhältnis von Vorlage und Nachahmung, von Naturwahrem und Kunstwahrem, sondern das von Naturwirkung und Kunstwirkung wird bedeutsam. Die Erfahrung, die nun die normierende Rolle der Theorie ersetzt, zeigt uns, daß die wirklichen Leidenschaften den Menschen stärker affizieren als die nachgeahmten. Dadurch, daß diese uns in einer gewissen Distanz belassen und nicht wirklich betreffen, entsteht das ästhetische Gefallen (plaisir). Wer bewegen will, muß selbst bewegt sein und bedarf „göttlicher Begeisterung“. Kunst als Gefühlsausdruck kann wiederum nur vom Gefühl beurteilt werden.
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Puisque le premier but de la Poésie & de la Peinture est de nous toucher, les poemes & les tableaux ne sont de bons ouvrages qu’a proportion qu’ils nous emeuvent & qu’ils nous attachent.158
Dubos beginnt seine Reflexions Critiques mit einer Überlegung zur „necessité d’être occupé pour fuir l’ennui, et de l’attrait que les mouvemens des passions ont pour les hommes“159, eine These, auf die sich später auch Nicolai in seiner Abhandlung vom dem Trauerspiel bezieht, wenn er betont, dass „unser Geist die Unthätigkeit hasset, und die Beschäfftigung liebet.“160 Die weiteren Kapitel, in denen sich Dubos dann mit der Rührung befasst, behandeln etwa die Beschaffenheit des Stoffes, den die Maler und Dichter bearbeiten („de la nature des sujets que les peintres et les poëtes traitent“161), und zwar hinsichtlich der Frage, ob der Stoff nicht schon in sich rührend sein müsse: „Comment serons-nous touchez par la copie d’un original incapable de nous affecter?“162 Die Antwort ist eindeutig: „Comment la copie me toucherait-elle si l’original n’est pas capable de me toucher?“163 Vor dem Hintergrund dieser auf den Stoff bezogenen Theorie der Rührung geht Dubos entsprechend davon aus, dass die Tragödie uns stärker affiziere denn das Lustspiel – „la tragedie nous affecte plus que la comédie à cause de la nature des sujets que la tragedie traite“164 –, der in der Tragödie zugrunde gelegte historische Stoff gewährleiste also zu einem nicht unwesentlichen Teil die Rührung des Zuschauers. Daraus ergibt sich für Dubos freilich auch das Kriterium der Wahrscheinlichkeit bzw. der vraisemblance, weshalb sich etwa ein ein ganzes Kapitel der Reflexions critiques auf Racines historische Fehler bezieht. Diese lägen etwa in der Bérénice vor, wenn Titus sich von alltagspsychologischen Erwägungen leiten lasse, wie überhaupt die Bérénice Dubos’ zentrales Beispiel ist für jene „tragedies dont le sujet est mal choisi.“165 Dennoch aber teilt er mit Racine die Wertschätzung der Rührung, zudem unterstreicht er diesbezüglich gar die wichtige Rolle, die der Stil bzw. die Sprache der Tragödie spiele. Es gebe also einzelne Sätze, die unmittelbar rührende Wirkung erzielen können, die also die „langage du coeur“ sprechen, wie Dubos auch am Beispiel von Corneilles 1642 in Paris uraufgeführter Tragödie Cinna ou La Clémence d’Auguste betont: La poësie du stile consiste à prêter des sentimens interessans à tout ce qu’on fait parler comme à exprimer par des figures, et à présenter sous des images capables de nous émouvoir, ce qui ne nous toucheroit pas s’il étoit dit simplement en stile prosaîque.166
158 159 160 161 162 163 164 165 166
Dubos: Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture, a.a.O., Bd. II, S. 339. Dubos: Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture, a.a.O., Bd. I, S. 1. Zitiert nach: Lessing, Mendelssohn, Nicolai: Briefwechsel über das Trauerspiel, a. a. O., S. 12. Dubos: Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture, a.a.O., Bd. I, S. 18. Ebd. Ebd., S. 19. Ebd., S. 20. Ebd., S. 41. Ebd., S. 94f.
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Diverse dieser Überlegungen des Dubos finden sich in Friedrich Nicolais 1756 erschienener Abhandlung vom Trauerspiele. So etwa teilt Nicolai mit Dubos die These vom Primat der Erregung der Leidenschaften, auch für ihn ist die Rührung der primäre Zweck des Trauerspiels. Nicolais einflussreiche Aristoteles-Kritik, die bekanntlich gegen die aristotelische Katharsis-Lehre gerichtet war und damit Lessings Widerspruch hervorrief, ist auf diese Grundthese Dubos’ vom Primat der Rührung bezogen.167 Dies zeigt insbesondere seine Kritik am aristotelischen Tragödiensatz, dessen Version aus jener 1753 erschienenen Übersetzung von Michael Conrad Curtius von Nicolai einer systematischen Kritik ausgesetzt wird. In der Übersetzung definierte Aristoteles die Tragödie als: Die Nachahmung einer ernsthaften, vollständigen und eine Größe habenden Handlung, durch einen mit fremden Schmuck versehenen Ausdruck, dessen sämmtliche Theile aber besonders wirken, welche ferner nicht durch die Erzählung des Dichters sonder durch die Vorstellung der Handlung selbst, uns vermittelst des Schreckens und Mitleidens, von den Fehlern der vorgestellten Leidenschaften reiniget.168
Unter Bezugnahme auf Dubos’ Theorie der Rührung eleminierte Nicolai die moralisierende Tendenz dieser zentralen Definition, indem er den Grundsatz folgendermaßen kürzt: „Das Trauerspiel ist die Nachahmung einer einzigen, ernsthaften, wichtigen und ganzen Handlung durch die dramatische Vorstellungen derselben; um dadurch heftige Leidenschaften in uns zu erregen.“169 Mit eben dieser Konzentration auf die Leidenschaftserregung schließt Nicolai an Dubos an, denn „was ist aber wohl mehr vermögend uns in Bewegung zu setzen, als die Leidenschaften? Und ist nicht daher derjenige unseres Beyfalls gewiß, dem es gelingt uns zu rühren?“170 Aber auch die weiteren Argumente der Abhandlung Nicolais bedienen sich aus den Reflexions Critique, so etwa Nicolais später von Mendelssohn und Lessing übernommene Identifikation von Rührung und vermischter Empfindung171, aber auch die Zuordnung der Rührung zum Genre des „bürgerlichen 167 Im deutschen Sprachbereich sind es zunächst vor allem die Kunsttheoretiker J. J. Breitinger, J. J. Bodmer und J. G. Sulzer, die sich auf Dubos als einen Gewährsmann in Fragen der Gefühlsästhetik beziehen. Es ist anzunehmen, daß auch Lessing die Réflexions gekannt hat, denn dort findet man eben jene Kategorien, mit denen Lessing im Laokoon (1766) die Grenzen von Dichtung und Malerei auslotete. Für Mendelssohn hingegen ist Dubos ein entscheidend wichtiger Referent seiner Theorie der vermischten Empfindungen, die insbesondere in den Briefen über die Empfindungen von 1755 formuliert ist. Im Dreizehnten Brief, den der Protagonist Palemon an Euphranor schreibt, verweist dieser auf Dubos’ „unzählige Beyspiele von Ergötzlichkeiten ganzer Nationen, an welchen die Grausamkeit mehr Anteil gehabt zu haben scheinet; als die Menschlichkeit.“ Vgl.: Lessing, Mendelssohn, Nicolai: Briefwechsel über das Trauerspiel, a. a. O., S. 143. 168 Ebd., S.11. 169 Ebd. 170 Ebd., S. 12f. 171 „Von dieser Art sind die Nachahmungen der Leidenschaften, die das Trauerspiel hervorbringt; unser Geist wird gerühret, er empfindet auch Schmerz, aber ein Schmerz, der nicht wirklich sondern nur nachgeahmt ist, ist eben deßwegen nicht vermögend die Rührung, welche wirklich geschieht, zu überwältigen; das Unangenehme der Leidenschaft verschwindet also, und es bleibet uns nichts übrig als das Vergnügen gerührt zu werden, als das süße Zittern, das von der Bewegung der Leidenschaft hervorgebracht wird.“ Vgl.: Ebd., S. 13.
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Trauerspiels“. Denn diesem Genre ordnete Nicolai vor allem die Dramen der tragédie tendre zu, also Corneilles 1635 verfasstes Drama Medea, Prosper Jolyot Crébillons Drama Atrée et Thyeste (1707), sowie Voltaires Merope (1743) und dessen Zaire (1732). Im weiteren Verlauf wird zudem vor allem Racine erwähnt, wenn Nicolai seine Thesen zur Rührung spezifiziert: In dem Trauerspiele muß alles in Bewegung seyn, und auf die Rührung abzielen, also auch die tragische Sprache. Jeder Ausdruck der uns die vollkommenste Rührung empfinden läßt, ist der beste. Eine Zeile die uns einen ganzen Charakter einsehen läßt, ein: Ecoutez Bajazet je sens que je vous aime der Roxane; ein: Je crains Dieu cher Abner et n’ai point d’autre crainte des Hohenpriesters in Racinens Athalie; ein: Qu’il mourut des alten Horaz; ein: Mais Orosmane m’aime et j’ai tout oublié der Zayre; ein: Cognosco fratem des Thyest, sind mit keinen prächtigen Beschreibungen zu ersetzen. Mit solchen Sentimens, die zwar nicht alle so stark, aber jedes nach Maßgebung des Verhältnisses in dem es steht, rühren, muß das Trauerspiel erfüllet seyn, und eben so der Rührung gemäß, muß sie der Dichter ausdrucken.172
Vor diesem Hintergrund ist nicht wirklich verwunderlich, dass der eigentliche Widerstand gegenüber der von Lessing in den folgenden Briefen formulierten Mitleidspoetik von Mendelssohn formuliert wird, dem das wirkungsästhetische Kriterium der Bewunderung weit stärker am Herzen lag denn Nicolai. Zwar entwickelte Lessing seine Mitleidstheorie in Abgrenzung zu Nicolais Abhandlung vom Trauerspiele, die ihm Gelegenheit gebe „zu widersprechen“.173 Aber Lessing ist durchaus einverstanden mit dem Grundsatz: „Die Tragödie soll Leidenschaften erregen.“174 Allerdings sieht er darin nur ein ‚Mittel‘ der Tragödienwirkung, Ziel ist und bleibt dagegen die Maxime: ‚Das Trauerspiel soll bessern’175. Aus der These des Aristoteles und der Antithese von Nicolais und Dubos entwickelt Lessing also eine Synthese: Die Leidenschaftserregung schließt eine Besserung des Zuschauers nicht aus, wenn wir die zu erzeugenden Leidenschaften auf das „Mitleiden“ konzentrieren.176 So entsteht Lessings berühmter Beitrag zur sogenannten Gefühlsethik, inso-
172 173 174 175 176
Ebd., S. 41. Ebd., S. 52. Ebd., S. 53. Ebd. Ebd.
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fern Ethik und Gefühl, Tugend und Affekt, Besserung und Leidenschaftserregung keinen Gegensatz mehr darstellen, gemäß der berühmten und vielzitierten Passage: Wenn es also wahr ist, daß die ganze Kunst des tragischen Dichters auf die sichere Erregung und Dauer des einzigen Mitleidens geht, so sage ich nunmehr, die Bestimmung der Tragödie ist diese: sie soll unsre Fähigkeit, Mitleid zu fühlen, erweitern. Sie soll uns nicht bloß lehren, gegen diesen oder jenen Unglücklichen Mitleid zu fühlen, sondern sie soll uns so weit fühlbar machen, daß uns der Unglückliche zu allen Zeiten, und unter allen Gestalten, rühren und für sich einnehmen muß. Und nun berufe ich mich auf einen Satz, den Ihnen Herr Moses vorläufig demonstrieren mag, wenn Sie, Ihrem eignen Gefühl zum Trotz, daran zweifeln wollen. Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmut der aufgelegteste. Wer uns also mitleidig macht, macht uns besser und tugendhafter, und das Trauerspiel, das jenes tut, tut auch dieses, oder – es tut jenes, um dieses tun zu können.177
Die anderen von Nicolai angesprochenen Theateraffekte, also „Schrecken und Bewunderung“178, werden dagegen zu diesem Zeitpunkt – anders als später in der Hamburgischen Dramaturgie – als zweite bzw. „mitgeteilte Affekte“179 nachgeordnet, also lediglich in Abhängigkeit vom Mitleid bestimmt. Dabei verweise ich an dieser Stelle auf die umfangreiche Forschungsliteratur zu jenen Argumenten, welche im weiteren Briefwechsel von Mendelssohn zum Paradigma der Bewunderung formuliert wurde.180
Die Radikalisierung der Rührung: Mendelssohn Briefe über die Empfindungen Wir konnten zeigen, dass Nicolais in der Abhandlung vom Trauerspiele formulierte Begründung der Tragödie auf dem Prinzip der Leidenschaftserregung auf Dubos’ Theorie der Rührung zurückging: Nicolai betont, dass Dubos den „wahren Grund alles Vergnügens, das wir aus den schönen Wissenschaften schöpfen“181, formuliert habe: „Ist nicht daher derjenige unsers Beyfalls gewiß, dem er gelinget uns zu rühren?“182 Erst der Vergleich von Nicolais Abhandlung mit Mendelssohns Briefen über die Empfindungen wird uns jedoch erkennen lassen, welcher Umbruch sich mit dem Einfluss Dubos’ um 1750 in Deutschland verknüpft. Denn die von Dubos ausgehende Diskussion um die vermischten Empfindungen gibt der um 1750 noch unter dem Einfluss Shaftesburys stehenden Gefühlsethik eine vollkommen neue Perspektive. Nicht nur aus philosophischer Sicht besteht ja ein bedeutender 177 178 179 180
Ebd., S. 162. Ebd. Ebd., S. 203. Vgl.: Meier: Dramaturgie der Bewunderung, a.a.O., S. 192–200; Alt: Tragödie der Aufklärung, a.a.O., S. 175–190; Schulz: Tugend, Gewalt und Tod, a.a.O., S. 248–255. 181 Lessing, Mendelssohn, Nicolai: Briefwechsel über das Trauerspiel, a.a.O., S. 12. 182 Ebd., S. 13.
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Unterschied zwischen jenem von Shaftesbury und Hutcheson entwickelten moral sense und der sich über Dubos generierenden Diskussion vermischter Empfindungen.183 Wichtig ist dies auch und gerade hinsichtlich der Tragödientheorie, insofern es sich nur bei Dubos um eine genuin auf das Theater bezogene Wirkungsästhetik handelt: Nicht von ungefähr bezog sich Nicolai in seiner Aristoteles-Kritik ausschließlich auf die von Dubos entwickelte Gefühlstheorie. Sie ist Grundlage jener „Leidenschaften“, die das Trauerspiel hervorbringt: „unser Geist wird gerühret, er empfindet auch Schmerz“184. Dagegen repräsentiert Lessings Plädoyer für das Mitleiden eine von Shaftesbury her entwickelte Argumentation, insofern das Mitleiden als Variante des moral sense zwischen reiner Rührung und reiner ‚Besserung‘ vermitteln kann. Während man jedoch in der Forschung in der Regel betont, dass Lessings progressive Argumentation für den moral sense der Mitleidsreaktion sich gegen die konservative These von der Bewunderung richtet, erscheint vor dem Hintergrund der Einflüsse Dubos’ nun ein differenzierteres Bild, in welchem Nicolai und Mendelssohn eigentlich schon ‚weiter‘ dachten als ihr Widersacher Lessing. Dies wird deutlich, wenn wir nun den Einfluss Dubos’ auf Mendelssohn und dessen Briefe über die Empfindung in den Blick nehmen. Denn in Mendelssohns Briefen, die Lessing mit den Philosophischen Gesprächen 1755 publizierte, liegt im Unterschied zu Nicolais Abhandlung vom Trauerspiele sowohl eine Auseinandersetzung mit Dubos als auch mit dem wichtigsten Theoretiker des moral sense, also mit Shaftesbury vor. Es ist durchaus kennzeichnend, dass die Briefe zunächst gegen Dubos argumentierten, Mendelssohn dann jedoch in der 1761 veröffentlichten Schrift Rhapsodie, oder Zusätze zu den Briefen über die Empfindungen wieder positiv an Dubos anschloss. Mendelssohns Theorie vermischter Empfindungen entwickelte sich also aus der Rezeption Dubos’, und zwar in den Briefen noch im Namen einer Widerlegung, in der Rhapsodie jedoch dann im Sinne einer Rehabilitierung der einflussreichen Thesen Dubos’. Bekanntlich baute Mendelssohn seine Theorie der Empfindungen auf den „Grundsatz der Vollkommenheit“185 auf und stellt sich damit in die Tradition der Leibniz-Wolff’schen Philosophie, deren Prinzipien bereits Alexander Gottlieb Baumgarten in seiner Aesthetica von 1750 – eine Lehre von den Empfindungen und der Theorie des Schönen – zugrunde gelegt hatte. Im Unterschied zu Baumgarten unterscheidet Mendelssohn ganz im Sinne Shaftesburys strikt zwischen begrifflicher Erkenntnis und ästhetischer Empfindung. Damit nimmt er Einsichten der englischen Moralphilosophie und Ästhetik auf, sind doch die fünfzehn Briefe Über die Empfindungen in Form und Diktion eine Nachbildung von Shaftesbury’s Essay The Moralists von 1711.186 Den Ausgangspunkt des Briefwechsels bildet die 183 Vgl. dazu das Dubos-Kapitel in: Carsten Zelle: ,Angenehmes Grauen’. Literarhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert, Hamburg 1987, S. 139–157. 184 Lessing, Mendelssohn, Nicolai: Briefwechsel über das Trauerspiel, a.a.O., S. 13. 185 Moses Mendelssohn: Ästhetische Schriften, a.a.O., S. 168. 186 Mit dem Essay Shaftesburys teilen die Briefe über die Empfindungen nicht nur die Themen Tugend, Natur und Weltordnung bzw. Religion und Schönheit, sondern auch die darstellende Ge-
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These des Protagonisten Euphranor, dass eine allzu sorgfältige Zergliederung der Schönheit das Vergnügen stört, weil „das dunkele Gefühl […] unsere[r] Glückseligkeit“187 verschwinde, wenn alle Begriffe deutlich werden. Schönheit beruhe in einer undeutlichen Vorstellung einer Vollkommenheit, die untrennbar sei von unserm Lustgefühl, also auch von der Empfindung des Schönen. Dagegen betont der wohl die Position des Autoren Mendelssohn repräsentierende Palemon, dass die Klarheit der Vorstellung das Vergnügen am Schönen nicht aufhebe, sondern befördere. Dafür unterscheidet Palemon im fünften Brief zwischen Schönheit und Vollkommenheit: Schönheit bestehe in der gefälligen äußeren Verknüpfung des Mannigfaltigen in der Form, Vollkommenheit in dem vernünftigen inneren Zusammenhang. Diese Gesetzmäßigkeit bzw. Einheit im Mannigfaltigen sei notwendiges Attribut alles Schönen, dessen Ordnung und äußere Vollkommenheit ein Lustempfinden bzw. Vergnügen erzeuge. Dieses Vergnügen basiere jedoch auf der Einschränkung unserer Seelenkräfte, welche bei Gott nicht stattfinde. Vollkommenheit erfordere also keine Einheit, sondern eine Übereinstimmung des Mannigfaltigen, deren Wahrnehmung ein Vergnügen bereite, auch wenn dieses nicht aus jener nur Gott möglichen Einsicht in die Einheit des Mannigfaltigen resultiere. Es gibt also nach Palemon eine niedrige und eine höhere Schönheit, wobei diese letztere nur Gott zugänglich sei, da sie einer höchsten Vollkommenheit gleichkommt. Der Vertreter einer Dubos’schen Ästhetik vermischter Empfindungen ist in den Briefen nun der die Ansichten Mendelssohns (noch) nicht repräsentierende Euphranor. Dies zeigt der für unsere Fragestellung wichtige achte Brief, in welchem Euphranor weitere Einwürfe gegen Palemons Theorie der Schönheit formuliert. Euphranor wendet sich gegen das von Palemon formulierte Prinzip, dass der Grund des Vergnügens entweder in Vollkommenheit oder Schönheit zu suchen sei, denn es gäbe ja auch sinnliche Lüste, die von aller Vollkommenheit entfernt seien, sich also auf eine Unvollkommenheit stützten. In Euphranors achtem Brief setzt also die Reflexion vermischter Empfindungen ein: Der grausige Anblick einer überhängenden Felsklippe, die jeden Augenblick einzustürzen drohe, errege statt der Furcht ein eigentümliches ästhetisches Gefallen. Ähnlich verhalte es sich in der Tragödie, wo Mitleid und Schrecken kein schmerzliches Mitgefühl, sondern vielmehr Empsprächsform von Rede und Gegenrede. Bei Shaftesbury handelt es sich um eine Aufeinanderfolge von Briefen, in denen Philokles zunächst (Teil 1) ein Gespräch mit Palemon erinnernd wiederholt, um dann (Teil 2, 3) seine Dialoge mit Theokles über die zuvor mit Palemon besprochenen Gegenstände mitzuteilen. Den Höhepunkt der Schrift bildet der Hymnus des Theokles, in dem die Natur, „the universal One“, als Einheit und Sympathie der Dinge, als ein Ganzes begriffen wird, dessen sympathisierende Teile auf einen gemeinsamen Zweck hingeordnet sind. Bei Mendelssohn sind es dagegen die fingierten Freunden Palemon und Euphranor, die in den Briefen eine psychologische Theorie der Schönheit entwickeln. Hierbei ist es nun allerdings die von Baumgarten im ersten Band seiner „Aesthetica acroamatica“ gegebene Definition des Begriffs der Schönheit (,§ 14: „Aesthetices finis est perfectio cognitionis sensitivae qua talis. Haec autem est pulchritudo“) als der sinnlichen Erkenntnis der Vollkommenheit, die bei den nachfolgenden Diskussionen den Ausgangspunkt bildet, über die aber Mendelssohn im Verlauf der Abhandlung weit hinaus geht. 187 Mendelssohn: Ästhetische Schriften, a.a.O., S. 13.
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findungen in uns hervorrufen, die wir im höheren Sinne als Lustgefühle bezeichnen müssen. Damit greift Euphranor die Argumente der ersten Sektion von Dubos’ reflexions critique auf: Ainsi nous courons par instinct après les objets qui peuvent exciter nos passions, quoique ces objets fassent sur nous des impressions qui nous coutent souvent des nuits inquietes et des journées douloureuses: mais les hommes en general souffrent encore plus à vivre sans passions, que les passions ne les font souffrir.188
Euphranor verknüpft diese Überlegungen zum Unvollkommenen nun mit Argumenten des Engländers Lindamour (= Charles Gildon), der den Selbstmord seines Freundes Charles Blount moralisch verteidigte. Anhand dieser Thematik erläutert Euphranor seinen Begriff des Mitleidens als dem Indikator eines am Unvollkommenen orientierten Lustgefühls. Dabei argumentiert er beispielhaft mit den jeweiligen Reaktionen der Zuschauer auf zwei bekannte Selbstmörder des Theaters: Den Orosmane aus Voltaires Zaïre und den Mellefont aus Lessings Miss Sara Sampson. Wie weitreichend diese Argumente Euphranors sind, verdeutlicht die Tatsache, dass weder Orosmane noch Mellefont tugendhafte Charaktere darstellen, und sich zudem durch den Selbstmord moralisch fragwürdig machen. Der Zuschauer empfindet also Mitleid mit moralisch unvollkommenen Protagonisten, denen es an Tugend mangelt und die überdies Selbstmord begehen. Euphranor betont nun jedoch, dass gerade dieser Selbstmord dem Zuschauer ermögliche, die beiden tragischen Protagonisten positiver zu sehen. Die Mitleidsreaktion des Zuschauers zeige, dass ihm diese nicht primär tugendhaften Helden Voltaires und Lessings durch deren Suizid „schätzbarer“189 geworden sei. Dass dies so ist, hänge mit der jeweiligen dramatischen Situation zusammen: Sowohl Orosmane als auch Mellefont begehen Selbstmord an der Leiche der durch ihre Schuld zu Tode gekommenen Geliebten: Orosman und Mellefont würden wenig Anteil an unserm Mitleid haben, das Zayre und Sara allein zu verdienen scheinen. Jene haben sich gewissermaßen unsern Unwillen zugezogen. Ihre Unart scheinet das Unglück angerichtet zu haben, das wir in der Person ihrer Geliebten beweinen. Allein jetzt fühlt ihr zerknirschtes Hertz die Martern tausendfach, die uns nur leichte Thränen kosten; jetzt sehen sie mit versteinerten Blicken auf die geliebte Leiche. Sie brechen in eine verzweifelungsvolle Reue aus, und stossen den Dolch in ihre beklemte Brust. Sie sind dahin! Den Augenblick verschwindet aller Unwille über ihre Unbesonnenheit. Ein weh- müthiges Mitleid überrascht uns plötzlich, und wir zerfließen in Tränen. Woher diese seltne Veränderung? Nichts als ein gelegentlicher Selbstmord hat den zweideutigen Charakter dieser Personen in ihr gehöriges Licht gesetzt, und das Siegel auf ihre Güte gedrückt. Unsere Verwünschung hat sich in Wohlwollen, unser Gram in Gewogenheit, und unser Unwille in Mitleiden verwandelt. Kann dieses ein Bubenstück? Vermag dieses eine Handlung, die dem menschlichen Geschlechte immerdar ein Greuel ist?190 188 Dubos: Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture, a.a.O., Bd. I, S. 4. 189 Mendelssohn: Ästhetische Schriften, a.a.O., S. 73. 190 Ebd., S. 44.
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In den folgenden Briefen geht Palemon auf diese durch Euphranor von Dubos her entwickelten Fragen nur partiell ein, sein zentrales Anliegen ist zunächst die erneute Explizierung des zuvor im Namen Shaftesburys Gesagten: Alles Vergnügen gründet sich auf die Vorstellung einer sinnlichen oder verständlichen Vollkommenheit. Selbst die sinnlichen Lüste gewähren unserer Seele eine dunkle Vorstellung von der Vollkommenheit des Körpers, wie Mendelssohn am Beispiel der physiologischen Bedingungen der Empfindungen des Schönen erläutert. Im Zentrum stehen also zunächst der Zusammenhang und die Wechselwirkung der physiologischen und der psychischen Empfindungen mit Bezug auf das Schöne: Daraus ergeben sich im elften Brief drei verschiedene Quellen für das Gefühl des Angenehmen: A) Die Einheit im Mannigfaltigen oder die sinnliche Schönheit, B) die Einhelligkeit im Mannigfaltigen oder die Vollkommenheit, und C) der verbesserte Zustand unserer Leibesbeschaffenheit oder die sinnliche Lust. Auf die wichtigen Überlegungen Euphranors bzgl. der vermischten Empfindungen geht Palemon hingegen nur im Rahmen der Selbstmord-Diskussion ein, die durch den besonderen Zweck der Tragödie erläutert wird, der – ganz im Sinne Nicolais und somit auch Dubos’ – darin bestehe, Leidenschaften zu erregen: Daher ist der Selbstmord theatralisch gut. Die Nachreu eines Orosmans, die Gewissenswunden eines Mellefonts, würden ihre Brust nur schwach zu beklemmen scheinen, wenn sie uns nicht durch den allerentsetzlichsten Entschluß von dem Gegenteile überzeugeten.191
Damit sind die Einwände Euphranors freilich nur partiell beantwortet. Erst der den Briefen über die Empfindungen von Mendelssohn später hinzugefügte „Beschluss“192 nimmt die Argumente aus Euphranors achtem Brief wieder auf, erst hier setzt also die eigentliche Auseinandersetzung mit Dubos ein. Denn nun bezieht sich Mendelssohn explizit auf Dubos und dessen für die spätere Diskussion insbesondere mit Lessing so entscheidend wichtiges Thema der ‚vermischten Empfindungen’: Man wird sich zu erinnern wissen, dass Euphranor in dem angeführten Schreiben vorgegeben, die schmerzhaft angenehmen Empfindungen (so nannten sie der Kürze halber diejenigen, welche dem Anscheine nach mit einer Unvollkommenheit verknüpft sind) stritten wider Palemons Theorie, weil sie uns nichts weniger, als die Erkenntnis einer Vollkommenheit zu gewähren scheinen. Er gestand dem Palemon mündlich, dass ihn Dubos zu diesem Gedanken verführt. Dieser Schriftsteller häuft unzählige Beispiele von Ergötzlichkeiten ganzer Nationen, an welchen die Grausamkeit mehr Antheil gehabt zu haben scheint, als die Menschlichkeit. Die Kampfplätze, die Turniere, das Hetzen der Thiere, das Hahnengefecht der Engländer, und endlich die tragische Schaubühne führt er zum Beweise auf, dass die Seelen sich nur bewegt zu werden sehnen, und sollten sie auch von unangenehmen Vorstellungen bewegt werden. Sie stimmten alle darin überein, Dubos müsse niemals das Vergnügen der Seele von der sinnlichen Lust getrennt, und in seinem Elemente, mit dem bloßen 191 Ebd., S. 58. 192 Ebd., S. 69.
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Wollen verglichen haben; denn da die Bestimmung unserer Vorstellungskraft in beiden Fällen einerlei, und nur dem Grade nach unterschieden ist, so kann das Vergnügen so wenig als der Wille, etwas anderes, als eine wahre oder anscheinende Güte zum Beweggrunde haben. Ja Eudox bemerkte mit Recht, dass nach Dubos’ Hypothese die Menschen eben sowohl an Abscheu, Reue oder Schrecken Gefallen haben müssten, weil ihre Seele davon bewegt wird, dawider aber die Erfahrung zeugt.193
Im ‚Beschluss‘ liegt nun freilich kein Briefwechsel mehr vor, sondern ein fiktiver Erzähler berichtet von Gesprächen zwischen den beiden Briefpartnern, die dem Argument Dubos’ nun zustimmen, um dieses sodann zu präzisieren: Sie konnten aber nicht so leicht einig werden, wie der Ursprung der schmerzhaftangenehmen Empfindungen, deren Dubos erwähnt, zu erklären sei, bis endlich Palemon das Wort ergriff und der Schwierigkeit folgendermaßen abzuhelfen suchte. Es ist aus der Natur unserer Seele erwiesen, sprach er, dass sie nichts wollen, dass sie sich an nichts vergnügen könne, was sich ihr nicht unter der Gestalt einer Vollkommenheit darstellt. Und die Erfahrung stritte dawider? — Wir wollen sehen. Die Beispiele, die dawider angeführt werden, sind nicht alle von einerlei Natur. Bei einigen blutigen Ergötzlichkeiten muss man, so zu sagen, alles Mitleiden, alles menschliche Gefühl unterdrücken, wenn man Vergnügen daran finden will. Die zärtlichen Griechen mussten sich nach und nach gewöhnen, ihre mitleidsvollen Empfindungen zu überwältigen, ehe sie an dem Fechterkampf der Römer Geschmack finden konnten; und wenn bei den Zuschauern der Turniere, der Jagd, oder des Hetzens der Thiere nur eine einzige wehmütige Empfindung erwacht, so stört sie unstreitig ihr Vergnügen. Andere lockende Schauspiele hingegen müssen unser Mitleiden rege machen, um uns zu gefallen. Von dieser Art sind die Trauerspiele, die rührenden Gemälde für wohlerzogene Leute, und ein blutiges Schaugerüste für den unempfindlichern Pöbel. Das Vergnügen, das sie uns gewähren, richtet sich nach Maßgabe des Mitleids, das sie bei uns erregen.194
Vor diesem Hintergrund kommt Mendelssohn dann zunächst wieder auf seinen schon im Briefwechsel favorisierten Begriff der Bewunderung, um das Vergnügen an tragischen Gegenständen zu erklären. Dabei unterscheidet er zwischen „jenen schmerzhaften Ergötzlichkeiten, daran das Mitleiden keinen Antheil hat“: diese „stützen sich auf nichts, als auf die Geschicklichkeit der handelnden Personen oder Thiere. Man bewundert die Behendigkeit ihrer Glieder und die geschickten Wendungen, die sie sich zu geben wissen, um den Gegentheil zu überwältigen oder ihm zu entwischen.“195 Die Beobachtung des Dubos, nach welcher man auch am Unvollkommenen ein ästhetisches Vergnügen haben kann, wird also nun wie im Briefwechsel mit Lessing durch den Verweis auf eine Bewunderung des Unvollkommenen erklärt. Anders ist dies nun bei Mendelssohns zweitem Beispiel einer vermischten Empfindung, dem Mitleiden:
193 Ebd., S. 70. 194 Ebd., S. 70f. 195 Ebd., S. 71.
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Bei der zweiten Art von Ergötzlichkeiten aber findet dieses alles nicht statt. Es gehört unstreitig eben so viel Geschicklichkeit dazu, ein Schiff in vollem Laufe, als eins, das dem Untergange nahe ist, abzubilden, und der Maler selbst befindet sich in beiden Fällen außer Gefahr. Nicht anders verhält es sich mit dem tragischen Dichter; die Gefahr, das Unglück, das er abbildet, betrifft ihn nicht selber, sie hat ihn also nicht in Verwirrung setzen können, und gleichwohl wissen wir es ihm Dank, dass er lieber Unglücksfälle, als die glücklichsten Begebenheiten hat abbilden wollen. Warum? Nichts als das Mitleiden ist in diesen Fällen die Seele unsers Vergnügens. Es ist die einzige unangenehme Empfindung, die uns reizet: und dasjenige, was in den Trauerspielen unter dem Namen des Schreckens bekannt ist, ist nichts als ein Mitleiden, das uns schnell überrascht: denn die Gefahr droht niemals uns selbst, sondern unserm Nebenmenschen, die wir bedauern. Was hat also diese Empfindung vor allen andern voraus, dass sie unangenehm sein, und uns dennoch gefallen kann? […] Allein was ist das Mitleiden? Ist es nicht selbst eine Vermischung von angenehmen und unangenehmen Empfindungen? Hier zeigt sich ein merklicher Vorzug, durch den sich diese Gemütsbewegung von allen andern unterscheidet. Sie ist nichts, als die Liebe zu einem Gegenstande mit dem Begriffe eines Unglücks, eines physikalischen Übels verbunden, das ihm unverschuldet zugestoßen. Die Liebe stützt sich auf Vollkommenheiten, und muss uns Lust gewähren, und der Begriff eines unverdienten Unglücks macht uns den unschuldigen Geliebten schätzbarer, und erhöht den Wert seiner Vortrefflichkeiten. Dieses ist die Natur unserer Empfindungen. Wenn sich einige bittere Tropfen in die honigsüße Schale des Vergnügens mischen, so erhöhen sie den Geschmack des Vergnügens und verdoppeln seine Süßigkeiten, jedoch nur alsdann, wenn die beiden Arten von Empfindungen, daraus die Vermischung bestellt, nicht einander schnurstracks entgegengesetzt sind.196
An dieser Stelle formuliert Mendelssohn also nunmehr ein Zugeständnis an die von Lessing im Briefwechsel verteidigte Kategorie, eben weil das Mitleiden nach Mendelssohn jetzt ein Beispiel jener von Dubos diskutierten Fälle vermischter Empfindungen ist, die wiederum auf eine Unvollkommenheit beziehbar seien, also eine Reaktion des Zuschauers auf eine dargestellte Unvollkommenheit bezeichneten. Speziell auf dem Theater wird so nunmehr das Mitleiden zu einem Spezialaffekt: Um wie viel mehr muss also nicht die theatralische Vorstellung unzähliger Unglücksfälle, denen ein Tugendhafter unterliegt, unsere Liebe zu seinen Vollkommenheiten erhöben und ihn in unsern Augen würdiger machen? Wenn uns gleich in der Natur ein solcher Anblick unerträglich sein würde, weil das Missvergnügen über sein unverdientes Unglück das Vergnügen , das aus der Liebe entspringt, bei weitem überträfe, so gefällt er dennoch auf der Schaubühne. Denn die Erinnerung, dass es nichts als ein künstlicher Betrug sei, lindert einigermaßen unsern Schmerz*, und lässt nur so viel davon übrig, als nöthig ist, unserer Liebe die gehörige Fülle zu geben.197
In seiner Rhapsodie oder Zusätze zu den Briefen über die Empfindungen von 1761 hat Mendelssohn diese Überlegungen nochmals verfeinert, und dabei eingestanden: „Ich habe also den Dubos mit Unrecht getadelt, wenn er sagt, die Seele sehne sich 196 Ebd., S. 72. 197 Ebd., S. 74.
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nur bewegt zu sein, und sollte sie auch von unangenehmen Vorstellungen bewegt werden.“198 Die Gedanken, die auf dieses bemerkenswerte Zugeständnis hinleiten, basieren also nun auf der Zurücknahme der noch in den Briefen entwickelten Definition der angenehmen Empfindungen als einer Vorstellung, die wir lieber haben als nicht haben, und der unangenehmen Empfindung als einer Vorstellung, die wir lieber nicht haben als haben wollen. In dieser Worterklärung, so Mendelssohn, liege eine „kleine Unrichtigkeit“199. Sie übersehe den Unterschied zwischen der Vorstellung und dem Gegenstand der Vorstellung. Wir wünschen in solchen Fällen nicht das Nichthaben der Vorstellung, sondern bloß das Nichtsein des Gegenstandes. Wir missbilligen das gesehene Böse. Die Vorstellung davon hat jedoch, wenn wir daran unschuldig sind, einen starken Reiz auf uns. Nach dem Erdbeben in Lissabon, so Mendelssohns Beispiel, nahmen unzählige Menschen die Stätte der Verwüstung in Augenschein, und sie fanden ein „schauervolles Ergötzen“200 dabei. Die Vollkommenheitstheorie aus den Briefen über die Empfindungen wird dabei auch in der Rhapsodie aufrechterhalten. Was jedoch hinzukommt, ist das Eingeständnis, dass die objektive Unvollkommenheit keine reine Unlust, sondern eine vermischte Empfindung errege: Nur in Beziehung auf den Gegenstand empfänden wir Missfallen, während das Subjekt als solches an der Beschäftigung seiner Erkenntnis- und Begehrenskräfte, also an der Steigerung seiner Realität, Lust empfinde. Das Lustmoment ist also immer noch an eine – wenn auch subjektive – Vollkommenheit geknüpft.
Von Shaftesbury zu Dubos und Voltaire: Lessings Neudeutung des Mitleids in der Hamburgischen Dramaturgie Wir konnten erkennen, dass sowohl Mendelssohn als auch Nicolai sich der Dubos’schen Theorie der Rührung anschlossen. Lessing hingegen fragte im Briefwechsel mit Nicolai, inwiefern die Rührung einerseits als sittliche Empfindung fungieren, andererseits aber die Spannung eines Dramas oder einer Komödie über mehrere Akte hin halten kann. Aus dieser Frage entwickelt sich nun jene schon zu Beginn des Briefwechsels erkennbare Intention Lessings, die Rührung Dubos’ in Richtung einer Poetik des Mitleidens zu radikalisieren, was letztlich zu deren gezielter Überwindung führen wird. Dies zeigen insbesondere seine im Brief an Niolai vom 29. November 1756 unterschiedenen „drey Grade des Mitleids, deren mittelster das weinende Mitleid ist“. Mitleid wird hier aufgefächert in die sich steigernden drei Grade „Rührung, Thränen, Beklemmung“. Dazu schreibt Lessing erläuternd:
198 Ebd., S. 148. 199 Ebd., S. 142. 200 Ebd.
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Rührung ist, wenn ich weder die Vollkommenheiten, noch das Unglück des Gegenstandes deutlich denke, sondern von beyden nur einen dunkeln Begriff habe; so rührt mich z. E. der Anblick jedes Bettlers. Thränen erweckt er nur dann in mir, wenn er mich mit seinen guten Eigenschaften so wohl, als mit seinen Unfällen bekannter macht, und zwar mit beyden zugleich, welches das wahre Kunststück ist, Thränen zu erregen.201
Diese Unterscheidung unterstreicht einmal mehr Lessings schon in seinem Kommentar zu Gellerts Pro commoedia commovente deutlich werdendes Unbehagen an der Rührungspoetik. Im Kommentar zu Gellert geschah dies im Namen einer „wahren Komödie“, eine identische Distanzierung scheint im Brief an Nicolai seinem Begriff des „weinenden Mitleids“ vorauszugehen. Die Unterscheidung ist zweifellos vor dem Hintergrund der Trauerspieldiskussion zu sehen, denn die von Lessing favorisierten Tränen entstehen im Unterschied zur Rührung, wenn sowohl die moralische Vollkommenheit als auch das Unglück des Helden ersichtlich wird: Eine dem rührenden Lustspiel Gellerts wahrlich fehlende Kennzeichnung der Hauptfiguren. Die Lessing wichtige Mischung aus Unglück und moralischer Vollkommenheit liegt etwa dann vor, wenn der Bettler bemerkt: „ich hungere, und mit mir hungert eine kranke liebenswürdige Frau; und mit uns hungern sonst hoffnungsvolle, jetzt in der Armuth vermodernde Kinder; und wir werden gewiß noch lange hungern müssen. Doch ich will lieber hungern, als niederträchtig seyn; auch meine Frau und Kinder wollen lieber hungern, und ihr Brot lieber unmittelbar von Gott, das ist, aus der Hand eines barmherzigen Mannes, nehmen, als ihren Vater und Ehemann lasterhaft wissen.“202 Entscheidend ist nun Lessings weitere Erläuterung dieser graduellen Differenz zur Rührung, also der dritte Grad des Mitleids, den Lessing im Begriff der Beklemmung angelegt sieht. Diese entsteht in jenem Moment, wenn sich das Schicksal dieses moralisch vollkommenen Bettlers in seiner Tragik radikalisiert: Er wird überall schimpflich abgewiesen; unterdessen nimmt sein Mangel zu, und mit ihm seine Verwirrung. Endlich geräth er in Wuth; er ermordet seine Frau, seine Kinder und sich. — Weinen Sie noch? — Hier erstickt der Schmerz die Thränen, aber nicht das Mitleid, wie es die Bewundrung thut.203
Das Erstaunliche diese Gradierung des Mitleids ist zunächst einmal, dass Lessing einen Protagonisten des Singspiels zum Tragödienhelden macht: Die Figur des Bettlers war zu diesem Zeitpunkt durch die ‚Ballad opera‘ des englischen Schriftstellers und Tory-Satirikers John Gay bekannt, auf dessen Beggars Opera von 1728 sich Lessing an dieser Stelle bezieht. Lessing macht also erstmals im November 1756 ein genuin bürgerliches, ja gar unterhalb der bürgerlichen Mittelschicht anzusiedelndes soziales Schicksal zum Helden seiner Trauerspieltheorie. Zugleich sprengt er mit diesem Beispiel sowohl die Grenzen der von Nicolai und Mendels201 Ebd., S. 176. 202 Ebd., S. 177. 203 Ebd.
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sohn favorisierten Poetik der Bewunderung als auch die von Gellert favorisierte Poetik der Rührung: Der sich und die eigene Familie opfernde Bettler löst in seiner Not zwar nach wie vor Mitleid, vor allem aber Beklemmung aus. Rührend hingegen ist dessen Handlung gewiss nicht. Wir hatten bereits betont, dass Lessing diese Überlegungen erneut aufgriff, als er sich in seiner Hamburgischen Dramaturgie, also dem 15., 16. und vor allem 80. Stück, nochmals mit Voltaire auseinandersetzte. Denn nun fand er in Voltaires 1761 erschienenem Essay Des divers changemens arrivés à làrt tragique eine Bestätigung seiner im Briefwechsel mit Nicolai und Mendelssohn angestrengten Überlegungen: Auch Voltaire betonte in seiner Radikalisierung der tragédie tendre Racines, „que ce qui doit former la pitié fait tout au plus de la tendresse; que l’émotion tient lieu de sentiment, l’étonnement de l`horreur; qu’il manque à nos sentimens quelque chose d’assez profond“204. Lessing zitiert affirmativ die Übersetzung dieser Worte, betont also ebenfalls, dass zur Errettung des Theaters in Zukunft Mitleid an die Stelle der Zärtlichkeit, Erschütterung an die Stelle der Rührung, und Schrecken an die Stelle des Erstaunens treten müsse.205 Im Unterschied zu seinem 17. Literaturbrief sah Lessing in Voltaire also nunmehr eine Art Verbündeten, einen Autor, der sich wie er selbst die Aufgabe stellte, das Racinesche Theater der Empfindsamkeit bzw. Zärtlichkeit innerhalb seiner eigenen Vorgaben zu radikalisieren. Lessings Hamburgische Dramaturgie lässt sich daher als eine Überarbeitung bzw. Weiterentwicklung seiner im Briefwechsel formulierten Mitleidspoetik verstehen. Für diese Weiterentwicklung des Mitleidens, also dessen Lösung vom moral-senseGedanken, ist neben Voltaire auch Mendelssohns erneute Auseinandersetzung mit Dubos einflussreich. Denn in der Rhapsodie begann schon Mendelssohn, den Begriff des Mitleidens – weit entschiedener als Lessing dies im Briefwechsel tat – als Beispiel einer vermischten Empfindung zu diskutieren, also den moral-sense-Gedanken Shaftesburys durch eine stärkere Betonung der emotionalen Ambivalenz zu ergänzen. Schon in seinem Brief an Mendelssohn vom 18. Dezember 1756 hatte Lessing darauf verwiesen, wie wichtig ihm dieser von Mendelssohn im Sinne Dubos’ geprägte ambivalente Aspekt des Mitleidens war. Lessing sei „selbst wider Aristoteles, welcher mir überall eine falsche Erklärung des Mitleids zum Grunde gelegt zu haben scheint.“206 Dies aber habe er, so der Hinweis an Mendelssohn, „allein Ihrem bessern Begriffe vom Mitleiden zu danken.“207 Dessen Überlegenheit basiert auf der Mendelssohnschen Betonung einer gewissen Ambivalenz des Mitleidens im Sinne einer vermischten Empfindung: „Das Mitleiden, das in eben dem Verhältnis204 Oeuvres complètes de Voltaire, Band 10, Paris 1826, S. 82. 205 „Der einzige Saint-Évremont hat diesen Fehler aufgemutzt; er sagt nämlich, daß unsere Stücke nicht Eindruck genug machten, daß das, was Mitleid erwecken solle, aufs höchste Zärtlichkeit errege, daß Rührung die Stelle der Erschütterung, und Erstaunen die Stelle des Schreckens vertrete; kurz, daß unsere Empfindungen nicht tief genug gingen. Es ist nicht zu leugnen: Saint-Évremont hat mit dem Finger gerade auf die heimliche Wunde des französischen Theaters getroffen.“ Vgl.: Lessing: Werke. Band 4, München 1970 ff., S. 601. 206 Briefwechsel über das Trauerspiel, a. a. O., S. 82. 207 Ebd.
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se wächst, in welchem Vollkommenheit und Unglück wachsen, hört auf, mir angenehm zu sein, und wird desto unangenehmer, je größer auf der einen Seite die Vollkommenheit, und auf der andern das Unglück ist.“208 Um genauer zu ermessen, wie dieser Einwand zu nehmen ist, hilft der Blick auf das 74. Stück der Hamburgischen Dramaturgie, in welchem Mendelssohns Positivierung des Mitleids aus der Rhapsodie erneut aufgegriffen wird: „Das Mitleid,“ sagt der Verfasser der Briefe über die Empfindungen, „ist eine vermischte Empfindung, die aus der Liebe zu einem Gegenstande, und aus der Unlust über dessen Unglück zusammengesetzt ist. Die Bewegungen, durch welche sich das Mitleid zu erkennen gibt, sind von den einfachen Symptomen der Liebe, sowohl als der Unlust, unterschieden, denn das Mitleid ist eine Erscheinung. Aber wie vielerlei kann diese Erscheinung werden! Man ändre nur in dem betauerten Unglück die einzige Bestimmung der Zeit: so wird sich das Mitleiden durch ganz andere Kennzeichen zu erkennen geben. Mit der Elektra, die über die Urne ihres Bruders weinet, empfinden wir ein mitleidiges Trauern, denn sie hält das Unglück für geschehen, und bejammert ihren gehabten Verlust. Was wir bei den Schmerzen des Philoktets fühlen, ist gleichfalls Mitleiden, aber von einer etwas andern Natur; denn die Qual, die dieser Tugendhafte auszustehen hat, ist gegenwärtig, und überfällt ihn vor unsern Augen. Wenn aber Ödip sich entsetzt, indem das große Geheimnis sich plötzlich entwickelt; wenn Monime erschrickt, als sie den eifersüchtigen Mithridates sich entfärben sieht; wenn die tugendhafte Desdemona sich fürchtet, da sie ihren sonst zärtlichten Othello so drohend mit ihr reden höret: was empfinden wir da? Immer noch Mitleiden! Aber mitleidiges Entsetzen, mitleidige Furcht, mitleidiges Schrecken. Die Bewegungen sind verschieden, allein das Wesen der Empfindungen ist in allen diesen Fällen einerlei. Denn, da jede Liebe mit der Bereitwilligkeit verbunden ist, uns an die Stelle des Geliebten zu setzen: so müssen wir alle Arten von Leiden mit der geliebten Person teilen, welches man sehr nachdrücklich Mitleiden nennet. Warum sollten also nicht auch Furcht, Schrecken, Zorn, Eifersucht, Rachbegier, und überhaupt alle Arten von unangenehmen Empfindungen, sogar den Neid nicht ausgenommen, aus Mitleiden entstehen können? – Man sieht hieraus, wie gar ungeschickt der größte Teil der Kunstrichter die tragischen Leidenschaften in Schrecken und Mitleiden einteilet. Schrecken und Mitleiden! Ist denn das theatralische Schrecken kein Mitleiden? Für wen erschrickt der Zuschauer, wenn Merope auf ihren eignen Sohn den Dolch ziehet? Gewiß nicht für sich, sondern für den Aegisth, dessen Erhaltung man so sehr wünschet, und für die betrogne Königin, die ihn für den Mörder ihres Sohnes ansiehet. Wollen wir aber nur die Unlust über das gegenwärtige Übel eines andern, Mitleiden nennen: so müssen wir nicht nur das Schrecken, sondern alle übrige Leidenschaften, die uns von einem andern mitgeteilet werden, von dem eigentlichen Mitleiden unterscheiden.“209
Diese Erweiterung des Mitleids um den Aspekt der Ambivalenz – „mitleidiges Entsetzen, mitleidige Furcht, mitleidiges Schrecken“210 – wird nun zur Grundlage der berühmten Aristoteles-Kritik Lessings, die in den unmittelbar folgenden Kapiteln der Hamburgischen Dramaturgie zu finden ist und in deren Zentrum der Begriff der 208 Ebd. 209 Gotthold Ephraim Lessing: Werke, Vierter Band: Dramaturgische Schriften, hg. v. Karl Eibl und Herbert Georg Göpfert, München 1973, S. 577. 210 Ebd.
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Katharsis und das Zusammenspiel von eleos und phobos steht. Bekanntlich basiert die aristotelische Lehre von der Katharsis auf vier Begriffen: A) Der Hamartia, also dem Fehler, B) dem Pathos, also dem Leiden, C) dem Phobos, also dem Schauder und D) dem Eleos, also dem Jammer. Der vorbildliche Held gerät bei Aristoteles demnach durch ein augenblickliches Fehlverhalten in ein Unglück, welches zunächst beim Helden selbst ein Leiden auslöst, waraufhin dann das Publikum wiederum mit Schauder und Jammer reagiert. Durch das Ausagieren dieser Affekte im neutralen Medium des Theaters wird der Zuschauer von diesen starken Affekten befreit und seelisch stabilisiert. Lessings Kritik richtet sich nun gegen den französischen Theoretiker Corneille, demgemäß die aristotelischen Begriffe Phobos und Eleos in einer Tragödie nicht notwendig gemeinsam und kombiniert auftreten: […] j’ai bien peur que le raisonnement d’Aristote sur ce point ne soit qu’une belle idée, qui n’ait jamais son effet dans la vérité.211
Und an anderer Stelle: Nous n’avons qu’à dire que par cette façon de s’énoncer il [Aristoteles] n’a pas entendu que ces deux moyens y servissent toujours ensemble, et qu’il suffit selon lui de l’un des deux pour faire cette purgation.212
Lessing setzt an genau diesem Punkt an und spricht sich gegen Corneille für strikte Treue gegenüber Aristoteles aus, obwohl er die Katharsis-Theorie de facto erheblich umdeutet. Ähnlich wie Corneille, der „phobos“ mit „crainte“ und „eleos“ mit „pitié“ übersetzt hat213, verdeutscht Lessing die aristotelischen Begriffe als „Furcht“ und „Mitleid“: Das Wort, welches Aristoteles braucht, heißt Furcht: Mitleid und Furcht, sagt er, soll die Tragödie erregen; nicht, Mitleid und Schrecken. Es ist wahr, das Schrecken ist eine Gattung der Furcht; es ist eine plötzliche, überraschende Furcht. Aber eben dieses Plötzliche, dieses Überraschende, welches die Idee desselben einschließt, zeiget deutlich, daß die, von welchen sich hier die Einführung des Wortes Schrecken, anstatt des Wortes Furcht, herschreibet, nicht eingesehen haben, was für eine Furcht Aristoteles meine.214
Die zweite Abweichung Lessings von Aristoteles liegt also darin, dass die Zuschauer nicht von den tragischen Affekten zu reinigen sind – vielmehr betrifft die „Reinigung“ die tragischen Affekt selbst, die in ein zweckmäßiges Gleichgewicht gebracht werden sollen. Die entscheidende Innovation Lessings liegt in der Erläuterung des aristotelischen Phobos-Begriffs als „Furcht“. Der Zuschauer, der sich durch die geringe Distanz zum Bühnenhelden mit diesem emotional identifizieren
211 212 213 214
Pierre Corneille: Oeuvres complètes, Paris 1870, S. 179. Ebd., S. 180. Lessing: Dramaturgische Schriften, München 1973, S. 575. Ebd.
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kann, muss fürchten, ein ähnliches Unglück wie der Held zu erleiden.215 Und diese Furcht als Modifikation des Mitleids erfordert eben jene von Corneille verleugnete Kombination von phobos und eleos im Drama: Es beruhet aber alles auf dem Begriffe, den sich Aristoteles von dem Mitleiden gemacht hat. Er glaubte nämlich, daß das Übel, welches der Gegenstand unsers Mitleidens werden solle, notwendig von der Beschaffenheit sein müsse, daß wir es auch für uns selbst, oder für eines von den Unsrigen, zu befürchten hätten. Wo diese Furcht nicht sei, könne auch kein Mitleiden Statt finden. Denn weder der, den das Unglück so tief herabgedrückt habe, daß er weiter nichts für sich zu fürchten sähe, noch der, welcher sich so vollkommen glücklich glaube, daß er gar nicht begreife, woher ihm ein Unglück zustoßen könne, weder der Verzweifelnde noch der Übermütige, pflege mit andern Mitleid zu haben. Er erkläret daher auch das Fürchterliche und das Mitleidswürdige, eines durch das andere.216
Diese Kombination beider Affekte ist also vor allem in Hinsicht auf die Wirkungsstrategie wichtig: Ohne die Furcht würde die Wirkkraft des Mitleids nur kurzfristig bis zum Ende des Schauspiels andauern − in Verbindung mit der Furcht verlängert sie sich jedoch ins Alltagsleben hinein.217 Auf diese Weise verwandeln sich die Leidenschaften nach Lessing in tugendhafte Fertigkeiten: Da nämlich, es kurz zu sagen, diese Reinigung in nichts anders beruhet, als in Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten, bei jeder Tugend aber, nach unserm Philosophen, sich diesseits und jenseits ein Extremum findet, zwischen welchem sie inne stehet: so muß die Tragödie, wenn sie unser Mitleid in Tugend verwandeln soll, uns von beiden Extremis des Mitleids zu reinigen vermögend sein; welches auch von der Furcht zu verstehen.218
Die Differenz von Lessings einstiger Mitleidspoetik im Briefwechsel über das Trauerspiel (‚der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch’) zum Trauerspiel-Konzept der Hamburgischen Dramaturgie basiert auf einer unterschiedlichen Wirkungsabsicht: Die Evokation eines extremen Maßes an Mitleid wird zugunsten eines gesunden Mittelmaßes aufgeben. Zugleich aber berief sich Lessings neue Theorie des Mitleidens auf Moses Mendelssohn und dessen – zunächst gegen, später mit Du215 „Er [Aristoteles, B.M.S.] spricht von Mitleid und Furcht, nicht von Mitleid und Schrecken; und seine Furcht ist durchaus nicht die Furcht, welche uns das bevorstehende Übel eines andern, für diesen andern, erweckt, sondern es ist die Furcht, welche aus unserer Ähnlichkeit mit der leidenden Person für uns selbst entspringt; es ist die Furcht, daß die Unglücksfälle, die wir über diese verhänget sehen, uns selbst treffen können; es ist die Furcht, daß wir der bemitleidete Gegenstand selbst werden können. Mit einem Worte: diese Furcht ist das auf uns selbst bezogene Mitleid.“ Vgl.: Ebd., S. 578. 216 Ebd., S. 580. 217 „Sobald die Tragödie aus ist, höret unser Mitleid auf, und nichts bleibt von allen den empfundenen Regungen in uns zurück, als die wahrscheinliche Furcht, die uns das bemitleidete Übel für uns selbst schöpfen lassen. Diese nehmen wir mit; und so wie sie, als Ingredienz des Mitleids, das Mitleid reinigen helfen, so hilft sie nun auch, als eine vor sich fortdauernde Leidenschaft, sich selbst reinigen.“ Ebd., S. 588. 218 Ebd., S. 580.
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bos argumentierende – Theorie ‚vermischter Empfindungen‘, die die Grundlage der gegen Corneille gerichteten These einer Untrennbarkeit von Furcht und Mitleid wird. Dieser Entwicklung entspricht auch die erneute Beschäftigung mit Voltaires 1761 verfasstem Essay Des divers changemens. Arrivés à l’Art tragique, in welchem Voltaire unter Berufung auf den Franzosen Saint-Évremont betonte, „daß das, was Mitleid erwecken solle, aufs höchste Zärtlichkeit errege, daß Rührung die Stelle der Erschütterung, und Erstaunen die Stelle des Schreckens vertrete; kurz, daß unsere Empfindungen nicht tief genug gingen. Es ist nicht zu leugnen: SaintÉvremont hat mit dem Finger gerade auf die heimliche Wunde des französischen Theaters getroffen.“219 Lessing hat dieses Plädoyer Voltaires für eine Radikalisierung der theatralen Rührung als notwendiger Entwicklung der empfindsamen Tragödie sehr ernst genommen, und er hat es – wie nun zu zeigen ist – insbesondere in der Emilia Galotti sehr entschieden verfolgt. Wir haben schon betont, dass sich diese Radikalisierung auch gegen die Tragödie Corneilles wendete, deren ‚Schwäche‘ Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie aus Corneilles falscher Deutung des Aristoteles ableitete, da Corneille die Begriffe eleos und phobos nicht angemessen übersetzt habe. Man darf daraus jedoch keinesfalls ableiten, dass sich Lessing in den 1760er Jahre vollständig gegen die Tradition der französischen Tragödie wendete: Dies würde den äußerst wichtigen Einfluss insbesondere der Tragödie Voltaires verkennen. Ungeachtet der sehr entschiedenen Bezugnahme auf Shakespeare ist unbedingt hervorzuheben, dass Lessing in seiner Hamburgischen Dramaturgie auch unter dem Eindruck Voltaires eine Dramaturgie entwickelte, die an die alte Stelle der Zärtlichkeit, der Rührung und des Erstaunens nunmehr das Mitleid, die Erschütterung und den Schrecken setzen wird, um so die Empfindungen ‚tief genug‘ gehen zu lassen. Das Resultat dieser Auseinandersetzung zeigt sich nun in der Emilia Galotti.
Eine tragédie tendre: Voltaires Zaire als Vorlage der Emilia Galotti Die Zaire Voltaires ist eines jener Dramen, welche Friedrich Nicolai in seiner Abhandlung vom Trauerspiele von 1757 als „rührende“ bzw. im engeren Sinne als „bürgerliche Trauerspiele“220 bezeichnete. Damit fokussierte Nicolai vor allem die Qualität der Rührung, also die Tatsache, dass Voltaires Zaire im Unterschied zu den „heroischen“ bzw. den „vermischten“ Trauerspielen nicht an der Dramaturgie der Bewunderung teilhabe.221 Es entspricht dem die Tatsache, das auch Lessing im 17. Literaturbrief betonte, Corneille habe nicht „ein einziges Trauerspiel, das Sie nur halb so gerühret hätte, als die ‚Zayre‘ des Voltaire“222, eine Bemerkung, die 219 220 221 222
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 4, München 1970 ff., S. 601. Lessing, Mendelssohn, Nicolai: Briefwechsel über das Trauerspiel, a.a.O., S. 25. Ebd. Ebd., S. 71.
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freilich im Widerspruch steht zu jener Polemik aus der Hamburgischen Dramaturgie, die der Zaire bekanntlich einen „Kanzeleistil der Liebe“223 unterstellte. Allerdings konnten wir bereits zeigen, dass diese polemische Formel nur einen Bruchteil von Lessings sehr genauer Analyse der Zaire darstellt, die bis hin zum Vergleich von vier verschiedensprachigen Übersetzungen der Zaire reicht. Liest man daher in Lessings Hamburgischer Dramaturgie neben dem eher polemischen 15. auch das 16. Stück, dann findet sich dort neben der Kritik eine sehr präzise Beobachtung der rührenden Qualitäten der Tragödie, die Lessing insbesondere an der komplexen Figur Orosmanes herausarbeitete. Demnach bestehe die Herausforderung einer schauspielerischen Deutung des Orosmanes darin, dass sie „aus einer Gemütsbewegung in die andere übergehen“224 müsse: Erst zeiget sich Orosman in aller seiner Großmut, willig und geneigt, Zaïren zu vergeben, wann ihr Herz bereits eingenommen sein sollte, falls sie nur aufrichtig genug ist, ihm länger kein Geheimnis davon zu machen. Indem erwacht seine Leidenschaft aufs neue, und er fodert die Aufopferung seines Nebenbuhlers. Er wird zärtlich genug, sie unter dieser Bedingung aller seiner Huld zu versichern. Doch da Zaïre auf ihrer Unschuld bestehet, wider die er so offenbar Beweise zu haben glaubet, bemeistert sich seiner nach und nach der äußerste Unwille. Und so geht er von dem Stolze zur Zärtlichkeit, und von der Zärtlichkeit zur Erbitterung über.225
Wie im Kapitel zu Tragödie der Zärtlichkeit dargelegt, sind Lessings Beschreibungen auf Orosmanes berühmte Frage – „Zaire, vous pleurez?“226 – bezogen, die zweifellos einen der rührendsten und zärtlichsten Momente in der Geschichte der empfindsamen Tragödie überhaupt darstellt: Von gefühlskalter Galanterie kann da keine Rede sein. Zudem konnten wir zeigen, wie sehr sich Voltaire einer der comédie larmoyante entlehnten Motivik bediente, also jener bei Marivaux, La Chaussée und Destouches zu beobachtende emotionalen Überraschung im Sinne etwa von Marivaux’ Le Jeu de l’amour et du hasard. Diese Überraschung setzt Voltaire ein, wenn die verwirrte Zaire aufgrund ihrer Liebe zu Orosmane plötzlich zu weinen beginnt. Der zitierte sowie der später folgende Ausruf Orosmans – „Zaire, vous m’aimez!“227 – signalisieren dessen emotionale Überraschung, aus welcher die rührende Wirkung dieser Tragödien wesentlich hervorgeht. Sie basiert darauf, dass Orosmane weder die Geliebte noch sich selbst wiedererkennt, sich gar regelrecht machtlos fühlt gegenüber dieser Gefühlsintensität, ausgelöst durch seine zärtliche und doch „grausame“ Geliebte. Wie markant diese Sätze sind, betonte schon Nicolai in seiner Abhandlung vom Trauerspiele: „Jeder Ausdruck, der uns die vollkommenste Rührung empfinden lässt, ist der beste.“228 Vor diesem Hintergrund ist nun
223 224 225 226 227 228
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 4, München 1970 ff., S. 298. Ebd., S. 306. Ebd. Voltaire, Band 8, a. a. O., S. 492. Ebd. Lessing, Mendelssohn, Nicolai: Briefwechsel über das Trauerspiel, a.a.O., 41.
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Lessings Zusammenfassung der Zaire im 15. Stück der Hamburgischen Dramaturgie vom 19. Juni 1767 zu lesen: Ein junger feuriger Monarch, nur der Liebe unterwürfig; ein stolzer Sieger, nur von der Schönheit besiegt; ein Sultan ohne Polygamie; ein Seraglio, in den freien zugänglichen Sitz einer unumschränkten Gebieterin verwandelt; ein verlassenes Mädchen, zur höchsten Staffel des Glücks, durch nichts als ihre schönen Augen, erhöhet; ein Herz, um das Zärtlichkeit und Religion streiten, das sich zwischen seinen Gott und seinen Abgott teilet, das gern fromm sein möchte, wenn es nur nicht aufhören sollte zu lieben; ein Eifersüchtiger, der sein Unrecht erkennet, und es an sich selbst rächet: wenn diese schmeichelnde Ideen das schöne Geschlecht nicht bestechen, durch was ließe es sich denn bestechen? Die Liebe selbst hat Voltairen die Zayre diktiert: sagt ein Kunstrichter artig genug. Richtiger hätte er gesagt: die Galanterie.229
Mit diesen Worten erfasst Lessing die zentrale Thematik des Stückes: Die Tragödie einer Mätresse, deren Vater sie zum Christentum bekehren will, wenngleich ein muslimischer Herrscher sie zu heiraten bereit ist. Wenn man dies mit Lessings Emilia Galotti vergleicht, dann bleibt der Eindruck, dass hier eine Vorlage für Lessings eigene Tragödie beschrieben wird. Denn nicht nur um das Herz der Zaire streiten „Zärtlichkeit und Religion“, also der Geliebte Orosmane und Zaires Vater Lusignan. Auch Emilia wurde von ihrem Vater eine religiös begründete Angst vor der eigenen Sinnlichkeit eingeimpft, wie Alois Wierlacher in seiner Studie über das berühmte „Haus der Freude“ zeigen konnte.230 Und wie Orosmane von der Schönheit besiegt ist, so ist auch Hettore Gonzaga seit seiner ersten Begegnung mit dem vom Maler Conti angefertigten Portrait der Emilia Galotti verfallen: „ich liebe sie, ich bete sie an“, so heißt es in I, 6. Wie ausgesprochen ähnlich sich Orosmane und Hettore sind, zeigt der zentrale emotionale Konflikt des Prinzen Lessings: „Mein Herz wird das Opfer eines elenden Staatsinteresse.“231 Diese Verpflichtung auf die Staatsräson bezieht sich auf die bevorstehende Ehe des Prinzen mit der Prinzessin von Massa: Er sieht sich also zu einer höchst unangenehmen Konvenienzehe gezwungen. Wichtig ist zudem, dass auch Hettore Gonzaga – wie Voltaires Orosmane – ein Prinz bzw. „Sultan ohne Polygamie“232 ist, dem die zu diesem historischen Zeitpunkt freilich gegebene Aussicht auf eine neben dieser neuen Gattin existierende Geliebte keine Lösung darstellt. Zwar wäre in dieser adligen Welt eine Mätresse keineswegs verboten: „Neben so einer Gemahlin sieht die Geliebte noch immer ihren Platz.“233 Wie Orosmane, so bekennt sich jedoch auch der Prinz zur Liebesehe, auch wenn diese eine Heirat mit einem „Mädchen ohne Vermögen und ohne Rang“234 impliziert. Insofern ist die These von Jutta Greis zu bezweifeln, nach 229 Lessing: Werke. Band 4, a.a.O., S. 298. 230 Vgl. Alois Wierlacher: Das Haus der Freude oder Warum stirbt Emilia Galotti?, in: Lessing Yearbook 1973, S. 147–162. 231 Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti, in: Ders.: Werke. Band 2, München 1970 ff., S. 135 232 Lessing: Werke. Band 4, a.a.O., S. 298. 233 Lessing: Emilia Galotti, a.a.O., S. 135. 234 Lessing: Werke. Band 4, a.a.O., S. 298.
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welcher in der Emilia Galotti „ein im Sinne der empfindsamen Liebe angelegtes Liebespaar fehlt.“235 Zumindest ist der Prinz in echter Liebe zur Emilia entbrannt, gerade weil er der neuen Liebesidee gegenüber aufgeschlossen ist, wie sein Dialog mit Marinelli in I,6 deutlich macht: MARINELLI: Die Sache ist sehr geheim gehalten worden. Auch war nicht viel Aufhebens davon zu machen. – Sie werden lachen, Prinz. – Aber so geht es den Empfindsamen! Die Liebe spielet ihnen immer die schlimmsten Streiche. Ein Mädchen ohne Vermögen und ohne Rang, hat ihn in ihre Schlinge zu ziehen gewußt, – mit ein wenig Larve; aber mit vielem Prunke von Tugend und Gefühl und Witz, – und was weiß ich? DER PRINZ: Wer sich den Eindrücken, die Unschuld und Schönheit auf ihn machen, ohne weitere Rücksicht, so ganz überlassen darf; – ich dächte, der wär’ eher zu beneiden, als zu belachen.236
Auch die von Marinelli benannte Gefahr, dass dem Grafen Appiani nun „der Zirkel der ersten Häuser […] verschlossen“ sei, entkräftet der Prinz durch den äußerst kritischen Hinweis, dass in diesen Häusern eh nur „das Zeremoniell, der Zwang, die Langeweile, und nicht selten die Dürftigkeit herrschet.“237 Hettore Gonzaga ist also keinesfalls ein typischer Vertreter adliger Verführungskünste, im Gegenteil. Vielmehr ist er es, der schon zu Beginn des Dramas vom Ideal einer empfindsamen Liebe träumt, wie Jochen Schulte-Sasse mit Recht bemerkte. Es ist also nur folgerichtig, dass Prinz Hettore für sich die Möglichkeit, Emilia als bloße Geliebte in Anspruch zu nehmen, kategorisch ausschließt. Der entsprechende Vorschlag des Marchese Marinelli – „Was Sie versäumt haben, gnädiger Herr, der Emilia Galotti zu bekennen, das bekennen Sie nun der Gräfin Appiani. Waren, die man aus der ersten Hand nicht haben kann, kauft man aus der zweiten; – und solche Waren nicht selten aus der zweiten um so viel wohlfeiler“238 – wird von ihm als abwegig verworfen. Wir haben es daher sicherlich nicht mit einem adligen Verführer im Sinne des rakes der restoration comedy zu tun, auch wenn die Bedenken der Mutter Emilias gegen die „Sprache der Galanterie“239 eben dies suggerieren. Aber entscheidend ist es, die Differenz zwischen Fremd- und Selbstwahrnehmung als konstitutives Prinzip der Tragödie zu erkennen. Hettore beherrscht die „Sprache der Galanterie“, die ihm Emilias Mutter nach der Begegnung mit der Tochter in der Messe unterstellt, gerade nicht. Als Marinelli in III, 3 dem Prinzen die galante Verführungskunst als Strategie empfiehlt, betont Hettore unmissverständlich, das er über diese „Kunst zu gefallen, zu überreden“240, gerade angesichts seiner Empfindsamkeit nicht verfügt. Emilias ängstliche Schamreaktion, wie sie in II, 6 der Mutter beschrieben wird – „aus Scham mußt’ ich standhalten: mich von ihm loszuwinden, 235 236 237 238 239 240
Jutta Greis: Drama Liebe, a.a.O., S. 103. Lessing: Werke. Band 2, a.a.O., S. 136. Ebd. Ebd., S. 140. Ebd., S. 152. Ebd., S. 165.
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würde die Vorbeigehenden zu aufmerksam auf uns gemacht haben“241 – hat der Prinz in seiner einfühlsamen Reaktion nicht nur bemerkt, sondern gar empathisch geteilt, wie seine Replik auf Marinelli deutlich betont: Ich habe von dieser Kunst schon heut’ einen zu schlechten Versuch gemacht. Mit allen Schmeicheleien und Beteuerungen konnt’ ich ihr auch nicht ein Wort auspressen. Stumm und niedergeschlagen und zitternd stand sie da; wie eine Verbrecherin, die ihr Todesurteil höret. Ihre Angst steckte mich an, ich zitterte mit, und schloß mit einer Bitte um Vergebung. Kaum getrau’ ich mir, sie wieder anzureden.242
Auch die Strategie, die heiß begehrte, tugendhafte Bürgertochter Emilia gewaltsam für sich zu gewinnen, geht nicht vom Prinzen, sondern von Marinelli aus. Des Prinzen Kammerherr Marinelli vollführt also nicht im Auftrag seines Herrn den Anschlag auf das Paar, bei dem Graf Appiani getötet wird. Es ist vielmehr seine eigene Initiative, Emilia auf das Schloss der Prinzen bringen zu lassen. Dass Hettore sich dagegen zu diesem Zeitpunkt noch vollkommen seinen Gefühlen überlässt, verdeutlicht jener von Schulte-Sasse fokussierte Akt, in welchem der Prinz seine von Zärtlichkeit geprägte Gefühlslage folgendermaßen kommentiert: Geschmachtet, geseufzet hab’ ich lange genung, – länger als ich gesollt hätte; aber nichts getan! und über die zärtliche Untätigkeit bei einem Haar’ alles verloren! – Und wenn nun doch alles verloren wäre? Wenn Marinelli nichts ausrichtete? – Warum will ich mich auch auf ihn allein verlassen? Es fällt mir ein, – um diese Stunde, Nach der Uhr sehend. um diese nämliche Stunde pflegt das fromme Mädchen alle Morgen bei den Dominikanern die Messe zu hören. – Wie wenn ich sie da zu sprechen suchte?243
Was diese und weitere Auftritte des Prinzen sehr deutlich machen, das ist seine von Grund auf zärtliche Disposition. Diese macht es ihm letztlich unmöglich, den Staatsgeschäften, den Klagen und Bittschriften, aber auch den Todesurteilen in jener Form nachzugehen, wie es die Staatsräson von ihm verlangt. Er erlaubt sich damit jedoch nicht jene von Karl Eibl so genannten „bürgerlichen Gefühle“, wenn in seinen Handlungen „die fremden Sphären von Macht und Empfindung vermischt werden.“244 Dies wäre eine Deutung im Sinne der alten Theorie einer genuin bürgerlichen Empfindsamkeit, die Lessing jedoch ganz bewusst transformiert. Lessing entwickelt vielmehr das Profil eines empfindsamen Herrschers im Sinne der tragédie tendre. Am deutlichsten wird diese Charakterisierung in jener berühmten Anspielung auf das Ende von Gellerts Die zärtlichen Schwestern, deren Schlussseufzer Lessing dem Hettore Gonzaga in den Mund legt. Der Prinz wird also mit dem Lottchen aus Gellerts Lustspiel identifiziert, wie sich in Szene I, 6 besonders pointiert zeigt: „DER PRINZ: ‚So verzeihen Sie mir, Marinelli; – (indem er sich ihm
241 242 243 244
Ebd., S. 151. Ebd., S. 165. Ebd., S. 141. Eibl: Identitätskrise und Diskurs, a.a.O., S. 147.
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in die Arme wirft) und bedauern Sie mich.“245 Es ist vor diesem Hintergrund ganz unverkennbar, dass die ‚zärtlichen‘ Impulse zur Versöhnung gerade nicht von den bürgerlichen Galottis, sondern vielmehr vom Prinzen selbst ausgehen.246 Der Prinz sucht den Kontakt zu Emilias Vater, achtet ihn, bittet ihn gar um Rat. Und er fällt keineswegs wieder „in die intriganten Handlungsmöglichkeiten seines Standes zurück“247, sondern formuliert auch in späteren Akten ganz im Stile der zitierten Worte von Voltaires Orosmane, dass Emilia Gewalt über seine empfindsame Natur habe: DER PRINZ: Wie, mein Fräulein? Sollten Sie einen Verdacht gegen mich hegen? – EMILIA die vor ihm niederfällt: Zu Ihren Füßen, gnädiger Herr – DER PRINZ sie aufhebend: Ich bin äußerst beschämt. – Ja, Emilia, ich verdiene diesen stummen Vorwurf. – Mein Betragen diesen Morgen, ist nicht zu rechtfertigen; – zu entschuldigen höchstens. Verzeihen Sie meiner Schwachheit. Ich hätte Sie mit keinem Geständnisse beunruhigen sollen, von dem ich keinen Vorteil zu erwarten habe. Auch ward ich durch die sprachlose Bestürzung, mit der Sie es anhörten, oder vielmehr nicht anhörten, genugsam bestraft. – Und könnt’ ich schon diesen Zufall, der mir nochmals, ehe alle meine Hoffnung auf ewig verschwindet, – mir nochmals das Glück Sie zu sehen und zu sprechen verschafft; könnt’ ich schon diesen Zufall für den Wink eines günstigen Glückes erklären, – für den wunderbarsten Aufschub meiner endlichen Verurteilung erklären, um nochmals um Gnade flehen zu dürfen: so will ich doch – Beben Sie nicht, mein Fräulein – einzig und allein von Ihrem Blicke abhangen. Kein Wort, kein Seufzer, soll Sie beleidigen. – Nur kränke mich nicht Ihr Mißtrauen. Nur zweifeln Sie keinen Augenblick an der unumschränktesten Gewalt, die Sie über mich haben. Nur falle Ihnen nie bei, daß Sie eines andern Schutzes gegen mich bedürfen. – Und nun kommen Sie, mein Fräulein, – kommen Sie, wo Entzückungen auf Sie warten, die Sie mehr billigen. Er führt sie, nicht ohne Sträuben, ab.248
Seit der wichtigen Studie von Jochen Schulte-Sasse wissen wir zudem um die empfindsame Natur des Hettore Gonzaga, dem Prinzen von Guastalla, der – „geschmachtet, geseufzet“249 – sich gerade zu Beginn der Tragödie in „zärtliche[r] Untätigkeit“250 vergeht. Allerdings bleibt die empfindsam-emphatische Disposition Hettores auch nach dem vermeintlichen Entschluss zur Handlung konstant: Er teilt die Gefühle Emilias, auch und gerade deren schamhafte Ängstlichkeit. Von einem Handeln im Sinne einer Verantwortung des kriminellen Geschehens kann also keine Rede sein. Insofern ist Hettore ein typisch empfindsamer Herrscher, vergleichbar mit Krügers Mahomed, Schlegels Canut, Mösers Arminius oder eben dem Orosmane Voltaires, dessen Weg „von dem Stolze zur Zärtlichkeit, und von der Zärtlichkeit zur Erbitterung“251 Lessing nicht nur präzise charakterisierte, sondern in seiner Emilia 245 Lessing: Emilia Galotti, a.a.O., S. 138. Vgl. dazu: Christian Fürchtegott Gellert: Die zärtlichen Schwestern, Hg.v. Horst Steinmetz. Stuttgart 1965, S. 5. 246 Vgl.: Ter-Nedden: Lessings Trauerspiele, a.a.O., S. 185ff. 247 Schulte-Sasse: Literarische Struktur und historisch-sozialer Kontext, a.a.O., S. 64. 248 Lessing: Werke. Band 2, a.a.O., S. 168. 249 Ebd., S. 141. 250 Ebd. 251 Lessing: Werke. Band 4, S. 306.
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Galotti bis zur Hälfte mitvollzog. Hettore Gonzaga ist wie Voltaires Orosmane ein Monarch, der „nur der Liebe unterwürfig“ ist. Aber auch die Emilia Galotti teilt mit dem Drama Voltaires jene innere Zerrissenheit der weiblichen Heldin, insofern sie ähnlich wie Voltaires Heldin Zaire „gern fromm sein möchte, wenn es nur nicht aufhören sollte zu lieben“252. Und auch sie schwankt wie die Zaire zwischen „Zärtlichkeit und Religion“, zwischen Liebesbegehren und bürgerlich-religiösem Tugendideal hin- und her, und kann eben deshalb immer nur schuldig werden, weil sie entweder den zärtlichen Verehrer oder den streng religiösen Vater enttäuschen wird.
Das „Haus der Freude“ und das Sérail. Eine These zur „Halsstarrigkeit“ der religiösen Tugend Es gibt in der Forschung seit Gerd Hillens Aufsatz über Die Halsstarrigkeit der Tugend von 1970 eine Umdeutung der Schuldfrage in der Tragödie Lessings. Demgemäß repräsentiere Emilias Vater Odoardo ein wider das Leben selbst gerichtetes Tugendideal, das auf einer vollkommenen Repression der Sinnlichkeit basiere. So ist also nicht länger der Prinz, sondern der bürgerliche Vater Odoardo der Hauptverantwortliche für das tragische Ende der Emilia.253 Seine Tochter ist demnach kein Opfer aristokratischer Verführungskünste, sondern einer rigiden Erziehung zur Tugend, die jegliche Form von sinnlichem Begehren als Sünde im religiösen Sinne verurteilt. Vor allem die einflussreiche Studie von Alois Wierlacher trug entscheidend zu dieser Negativierung Odoardos bei, da Wierlacher in einer Rekonstruktion der Formel vom „Haus der Freude“ die religiösen Wurzeln der Tragödie entdeckte. Demgemäß habe Lessing neben dem Gehorsam in der Frömmigkeit die höchste Tugend eines unverheirateten Mädchens gesehen, die Formel vom „Haus der Freude“254 bezeichne also kein Freudenhaus, sondern „die biblische Ideologie der tödlichen Gefahren der sozialen Welt“, angesichts derer „die Sorge, stets Opfer adliger Willkür werden zu können“255, unwichtig sei. Wierlacher bezog sich dabei auf jene Szene, in welcher Emilia ihren Vater flehentlich bittet, sie zu töten, da sie fürchtet, zu unerfahren und daher zu leicht verführbar zu sein, um den galanten Schmeicheleien und Nachstellungen des Prinzen weiter standhalten zu können. Emilia, die die Absicht des Prinzen zwar durchschaut, aber nicht fürchtet, drängt ihren Vater also dazu, statt des Prinzen die eigene Tochter zu erdolchen. Dies liegt wiederum an ihrem durch den Gang der Handlung bzw. die Szene im Nebenzimmer erklärbaren schlechten Gewissen. Es erklärt sich dadurch, daß sich Emilia trotz ihrer aus dem römischen Mythos der Virginia entlehnten grundlegenden Unschuld 252 Ebd. 253 Gerd Hillen: Die Halsstarrigkeit der Tugend. Bemerkungen zu Lessings Trauerspielen, in: Lessing Yearbook II (1970), S. 115–134. 254 Wierlacher: Das Haus der Freude, a.a.O., S. 153. 255 Ebd., S. 159.
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keineswegs erhaben zeigt gegenüber dem adligen Verführer, wie sie dies ihrem Vater Odoardo gesteht: ODOARDO: Auch du hast nur ein Leben zu verlieren. EMILIA: Und nur Eine Unschuld! ODOARDO: Die über alle Gewalt erhaben ist. – EMILIA: Aber nicht über alle Verführung. – Gewalt! Gewalt! Wer kann der Gewalt nicht trotzen? Was Gewalt heißt, ist nichts: Verführung ist die wahre Gewalt. Ich habe Blut, mein Vater, so jugendliches, so warmes Blut als eine. Auch meine Sinne sind Sinne. Ich stehe für nichts. Ich kenne das Haus der Grimaldi. Es ist das Haus der Freude. Eine Stunde da, unter den Augen meiner Mutter; – und es erhob sich so mancher Tumult in meiner Seele, den die strengsten Übungen der Religion kaum in Wochen besänftigen konnten! – Der Religion! Und welcher Religion? – Nichts Schlimmeres zu vermeiden, sprangen Tausende in die Fluten, und sind Heilige! – Geben Sie mir, mein Vater, geben Sie mir diesen Dolch.256
Mit diesen Worten entscheidet sich Emilia – anders als Zaire – für den Freitod, um auf diese Weise ihre jungfräuliche Unschuld, ihre bürgerliche Ehre und ihre Tugend zu retten. Dabei erhält die Anspielung auf das „Haus der Freude“ freilich eine vollkommen andere Bedeutung, wenn wir darin eine wohl anzunehmende Bezugnahme auf die Tragödie Voltaires sehen, also auf das „Serail“. War nach Ansicht Wierlachers das „Haus der Freude“ zu Zeiten Lessings noch nicht mit ‚Freudenhaus‘ gleichzusetzen, so scheint diese These äußerst fragwürdig, wenn wir in Lessings Tragödie eine Bezugnahme auf Voltaires Zaire erkennen, was angesichts der aufgeführten Bezüge nun wohl anzunehmen ist. Denn gerade im 18. Jahrhundert war das Serail ja ein regelrechter Inbegriff der exotischen Vorstellungen der Europäer von der (Hof-)Kultur des Osmanischen Reiches, wie sie exemplarisch in Mozarts Oper Die Entführung aus dem Serail zum Ausdruck kommen. Und schon bei Voltaire wird die „triste austérité“ des Serail hervorgehoben, zugleich aber jene Umwertung betont, die – wie Lessing es reformulierte – den „Seraglio, in den freien zugänglichen Sitz einer unumschränkten Gebieterin verwandelt“257: „Et vous, allez, Zaire,/Prenez dans le serail un souverain empire.“258 Lessing hat Voltaires Positivierung des antimuslimischen Klischees vollkommen nachvollzogen, er hat erkannt, dass Voltaire einen „Sultan ohne Polygamie“ evozierte, der die Mätresse zur Frau nimmt, ganz so, wie wohl auch Hettore Gonzaga es zu tun bereit war. Lessing fehlte jedoch wohl der Mut, seiner Emilia eine ähnliche Bejahung der Mätressenexistenz zuzumuten, wie dies Voltaire mit der Zaire tat. Es ist daher kein Zufall, dass Hettore Gonzaga erst durch die Gräfin Orsina, seine ehemalige Mätresse, zum Schuldigen erklärt wird. Denn das Ziel der Gräfin ist es ja, Hettore für sich zurückzugewinnen. Sie wird jedoch von diesem nicht vorgelassen und von Marinelli für verrückt erklärt – was sie, die bei Hofe wegen 256 Gotthold Ephraim Lessing: Werke 1770–1773, hg.v. Klaus Bohnen, Frankfurt am Main 2000, S. 369. 257 Lessing: Werke. Band 4, a.a.O., S. 298. 258 Oeuvres completes de Voltaire, a.a.O., S. 230.
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ihres scharfen Verstandes als unbequeme „Philosophin“ gilt, mit den berühmten Worten quittiert: „Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verlieret, der hat keinen zu verlieren.“259 Sie handelt demnach aus gekränkter Ehre und Enttäuschung über die Zurückweisung des Prinzen und entwickelt ihre eigene Version der Gerechtigkeit, wenn sie Odoardo, den ebenfalls soeben eintreffenden und ohnehin misstrauischen Vater Emilias, zu überreden versucht, Appianis Tod zu rächen, indem er Hettore ermordet. Erst die hinzukommende Gräfin Orsina stiftet den Zwist mit den Galottis, wenn sie Emilias Vater über die falschen Absichten des Prinzen informiert. Denn dies geschieht ja in der Hoffnung, Emilias Vater würde den Prinzen aus Rache töten. Odoardo lässt sich also zu diesem Zweck von der Gräfin einen Dolch aufdrängen, bleibt jedoch unschlüssig und verlangt zunächst ein Gespräch unter vier Augen mit seiner Tochter, um deren Unschuld zu prüfen. Schließlich aber wird er zum Werkzeug der Orsina, der Figur aus der ‚alten‘ Tragödie, die von Rache und Eifersucht motiviert ist. Insofern macht Lessing die von den bürgerlichen Repräsentanten wie Claudia und Odoardo Galotti formulierte Hofkritik gerade nicht zu seiner eigenen Grundthese bzw. zur Moral seiner Tragödie. Lessings eigene „Position“ ist diffiziler, sie geht eher in Richtung jener von Ter-Nedden so benannten „Antikritik der Hofkritik“260.
Emilia Galotti: Bürgerliche Tragödie oder „Hoftrauerspiel im Conversationstone“? Was die Gattungszuordnung der Emilia Galotti anlangt, so herrschte diesbezüglich lange Zeit Einigkeit. So etwa schrieb Robert Hippe: „Emilia Galotti ist das erste klassische (bürgerliche) Trauerspiel der deutschen Literatur“261, und auch nach Gerhard Bauer ist die Emilia Galotti „das erste voll gelungene bürgerliche Trauerspiel.“262 Mit dieser Gattungszuordnung verband sich lange Zeit die These von der hofkritischen Tragödie, welche insbesondere in einer frühen Arbeit von Helmuth Kiesel entwickelt wurde.263 Kiesel sah in der Emilia Galotti eine Polarisierung von „gefühlloser Immoralität, die am Hof angesiedelt wurde, und empfindsamer Moralität, die auf dem Lande eine Stätte der Selbstverwirklichung suchte.“264 Allerdings betonte schon Gisbert Ter-Nedden mit Nachdruck, dass Lessing die von den vermeintlich bürgerlichen Repräsentanten wie Claudia und Odoardo Galotti formulierte Hofkritik gerade nicht zu seiner eigenen Grundthese bzw. zur Moral seiner Tragödie mache. Lessings eigene „Position“ sei diffiziler, denn nach Ansicht 259 260 261 262 263
Lessing: Werke. Band 2, a.a.O., S. 187. Ter-Nedden: Lessings Trauerspiele, a.a.O., S. 175 sowie S. 193. Robert Hippe: Erläuterungen zu Lessings Emilia Galotti, S. 14. Gerhard Bauer: Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti, München 1987, S. 7. Helmuth Kiesel: ‚Bei Hof, bei Höll’. Untersuchungen zur literarischen Hofkritik von Sebastian Brand bis Friedrich Schiller, Tübingen 1979, S. 220 ff. 264 Ebd., S. 231.
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von Ter-Nedden handele es sich wie gesagt um eine „Antikritik der Hofkritik.“265 Die Tragik der Emilia Galotti liege demnach weniger in der Willkürherrschaft des Fürsten, denn vielmehr in der Figur des Vaters, der bei Lessing erstmals in äußerst rigider, vor allem die eigene Gattin verstörender Form als Vertreter eines religiös überhöhten Tugendideals auftritt.266 Während die Mutter Claudia als Städterin die Nähe zum Hof regelrecht sucht, also im Grunde eine dem britischen Gentry vergleichbare town-lady im Sinne John Drydens darstellt, ist der Vater Odoardo in seiner ‚strengen Tugend‘ ein Vertreter der ländlichen Provinz. Ihm zuliebe entzieht sich die Tochter den adligen Liebesavancen, und ihm zuliebe wählt sie angesichts ihrer Verführbarkeit, die im berühmten „Gequicke“ und „Gekreusche“267 angedeutet wird, den Märtyrertod, um eine moralische Schuld von vornherein zu vermeiden. Diese Tragik macht die bürgerliche Tochter jedoch keineswegs zu einem Identifikationsangebot an den Zuschauer, dessen Mitleiden durch das tugendhafte Wesen der bürgerlichen Heldin ausgelöst wird. Diese Deutung ist angesichts der vehementen Kritik an marxistischen Interpretationen, wie sie seit den 1980er Jahren in Arbeiten von Gisbert Ter-Nedden, Raimund Neuß oder Karl Eibl formuliert wurde, wohl kaum mehr aufrecht zu halten. Dass es zu einer derart tragischen Form des Entsagens, also zum Selbstmord bzw. zur Opferung der Tochter kommt, lässt sich nicht länger durch eine Poetik des Mitleidens erklären, ausgelöst durch das Bürgertum als dem Opfer adliger Tyrannenwillkür. Viel eher ist dies ein Beispiel jener Poetik der Beklemmung, welche Lessing im Brief an Nicolai anhand der Opferungsbereitschaft eines beispielgebenden Bettlers erläuterte. Emilia Galotti droht ja keineswegs eine adlige Zwangsehe, viel eher ist sie das Opfer ihres von sehr rigiden Tugendidealen geleiteten Vaters, der sie ins Kloster sperren und eher zur Märtyrerin denn zur Mätresse machen will. Insofern folgt Lessings Dramaturgie des bürgerlichen Trauerspiels dem Entwurf der tragédie tendre Voltaires: Raserei, Vergeltung und Rache, wie diese bis hin zu Shakespeare im Zentrum der tragischen Schuldmotivik standen, werden nun ersetzt durch spontane Reue, durch Vergebung, durch eine spezifische Form weiblicher Opferbereitschaft. Aber ist diese Opferbereitschaft tatsächlich Ausdruck einer Tragödie, die sich als Bürgerliches Trauerspiel treffend beschreiben lässt? Dazu zunächst nochmals jene Passage, die die Zuordnung der Emilia Galotti zum ‚Bürgerlichen Trauerspiel‘ begründete: Sein [Lessings] jetziges Sujet ist eine bürgerliche Virginia, der er den Titel Emilia Galotti gegeben. Er hat nehmlich die Geschichte der römischen Virginia von allem dem abgesondert, was sie für den ganzen Staat interessant machte; er hat geglaubt, daß das Schicksal einer Tochter, die von ihrem Vater umgebracht wird, dem ihre Tugend werther ist, als ihr Leben, für sich schon tragisch genug, und fähig genug sey, die ganze Seele zu erschüttern, wenn auch gleich kein Umsturz der ganzen Staatsverfas-
265 Ter-Nedden: Lessings Trauerspiele, a.a.O., S. 175 sowie S. 193. 266 Vgl.dazu etwa den Auftritt II, 4. 267 Lessing: Werke. Band 2, a.a.O., S. 178.
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sung daraus folgte. Seine Anlage ist nur von drey Akten, und er braucht ohne Bedenken alle Freyheiten der englischen Bühne.268
Wenn man Emilia Galotti als bürgerliches Trauerspiel identifiziert, dann gilt in der Regel dieser Brief Lessings an Nicolai als wichtigste Quelle: Wird doch das „Sujet“ der geplanten Tragödie als eine „bürgerliche Virginia“ bezeichnet. Allerdings datiert dieser Brief vom 21. Januar 1758; Lessing machte danach eine längere Pause und nahm die Arbeit erst zwischen 1767 und 1770 – während seiner Hamburger Zeit – wieder auf, schließlich schloss er die Arbeit an der Emilia Galotti 1772 ab. Zudem ist deutlich zu betonen, dass die Figuren der Emilia Galotti – sieht man ab von den Bediensteten und dem Maler Conti – wohl allesamt dem Adel entstammen.269 Denn auch die Galottis gehören durch die Position des Vaters, einem „Oberst“270, eher dem hohen Schwertadel denn dem Bürgertum an. Vor diesem Hintergrund stellt sich dann aber die grundlegende Frage, ob es sich bei Lessings Trauerspiel Emilia Galotti tatsächlich um eine Bürgerliche Tragödie handelt. Oder haben wir es, um eine Formulierung von Raimund Neuß aufzugreifen, eher mit einem „Hoftrauerspiel im Konversationstone“271 zu tun? Neuß bezog sich mit dieser Zuordnung auf die folgende Analyse von August Wilhelm Schlegel, der in seinen Vorlesungen Über dramatische Kunst und Litteratur von 1811 die Zuordnung der Emilia Galotti zum Genre des Bürgerlichen Trauerspiels bestritt: In dem Glauben, das Schauspiel wirke am stärksten, wenn es täuschende Copieen des Bekannten und nahe Liegenden darbietet, verkleidete Lessing eine alte, berühmte, unauslöschlich in die Weltgeschichte eingezeichnete That rauher Römertugend, die Ermordung der Virginia durch ihren Vater, unter erdichteten Namen in neu-Europäische Verhältnisse und heutige Sitten. Aus der Virginia wurde eine Gräfin Galotti, aus dem Virginius Graf Odoardo, aus dem Appius Claudius ein italiänischer Prinz, aus dem unverschämten Diener seiner Lüste ein Kammerherr, u. S. w. Es ist nicht eigentlich ein bürgerliches Trauerspiel, sondern ein Hoftrauerspiel im Conversationstone, zu welchem für einige Rollen der Staatsdegen und Hut unter dem Arme eben so wesentlich gehört als zu vielen französischen Lustspielen.272
Im Anschluss an Schlegel lieferte auch Neuß den Nachweis, dass in der Emilia Galotti keineswegs der Sozial- oder Standeskonflikt im Vordergrund steht. „Weder ein Konflikt zwischen Bürgertum und Adel noch eine Auseinandersetzung zwischen altständischem und bürgerlich-egalitärem Denken spielen in diesem Trauerspiel eine beherrschende Rolle.“273 Stattdessen ginge es zum einen um eine „Opposition zwischen stoizistischer und empfindsamer Ethik“, zum andern um den 268 Vgl. Lessings Brief an Friedrich Nicolai vom 21. Januar 1758, zitiert nach: Wilfried Barner: Lessing: Epoche – Werk – Wirkung, a.a.O., S. 204. 269 Vgl. dazu schon Bauer: Emilia Galotti, a.a.O., S. 11. 270 Vgl. dazu den 5. Aufzug des dritten Auftritts. 271 Raimund Neuß: Tugend und Toleranz. Die Krise der Gattung Märtyrerdrama im 18. Jahrhundert, Bonn 1989 (Literatur und Wirklichkeit; 25), S. 220. 272 August Wilhelm Schlegel: Ueber dramatische Kunst und Litteratur. Vorlesungen. Zweyter Theil. Zweyte Abtheilung. Heidelberg 1811, S. 390f. 273 Neuß: Tugend und Toleranz, a.a.O., S. 220.
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„Gegensatz zwischen Hof/Stadt- und Landleben.“274 Diese beiden Gegensätze spalten jedoch vor allem die Familie der Galottis selbst, stellen sie doch die zentrale Kontroverse zwischen Odoardo und Claudia Galotti dar, wie etwa die Szene II, 4 verdeutlicht. Ein vergleichbarer Riss findet sich zwischen dem Aristokraten und der Emilia dagegen nicht, schon Karl Eibl betonte nachdrücklich, dass Hettore Gonzaga keineswegs einen absolutistischen Herrscher, sondern weit eher einen von seinem Staatsamt völlig überforderten Souverän darstelle.275 Zwar gibt Hettore Gonzaga seinem intriganten Kammerherrn Marchese Marinelli freie Hand, Emilias bevorstehende Hochzeit mit dem Grafen Appiani zu verhindern. Doch nur auf Marinellis eigenmächtige Anordnung hin wird die Kutsche, in der sich die beiden Verlobten in Begleitung der Brautmutter auf dem Weg zur Hochzeit befinden, überfallen. Und nur auf Marinellis Befehl hin wird Appiani von dem bezahlten Mörder Angelo erschossen und Emilia mit ihrer Mutter Claudia auf das in der Nähe gelegene Lustschloss des Prinzen in scheinbare Sicherheit gebracht. Im Gegensatz zu ihrer empörten Mutter, die den fingierten Überfall bald als inszenierte Intrige zu durchschauen beginnt, ahnt jedoch weder die völlig verwirrte Emilia noch der Prinz selbst etwas von diesen Machenschaften Marinellis. Er ist also nicht ganz unzutreffend charakterisiert, wenn ihm Marinelli in dessen Gespräch mit der eifersüchtigen Gäfin Orsina eine gewisse „Zerstreuung“276 unterstellt: Klar in jedem Fall ist, dass sich der Prinz als verliebter Privatmann zeigt, ganz im Sinne seiner Schlussworte, nach welchen das „Unglücke so mancher“ auch und vor allem darin besteht, dass „Fürsten Menschen sind.“277 Vor dem Hintergrund der Frage nach der Gattungszugehörigkeit möchte ich daher nochmals an die Beobachtung von Jochen Schulte-Sasse anschließen, der hinsichtlich dieser Tragödie vom Typus des „empfindsamen Herrschers“ sprach. Als Beleg dient Schulte-Sasse der erste Aufzug des Dramas, in welchem der Prinz unter dem Eindruck des vom Maler Conti erstellten Portraits der Emilia noch vom Ideal einer empfindsamen Liebe träume, ehe er in Szene I, 7 diese zärtliche Passivität erstmals ablege.278 Im Augenblick seiner Entschlossenheit, den Traum handelnd verwirklichen zu wollen, werde er jedoch von den Zwängen seiner Rolle eingeholt. Bei Schulte-Sasse wird dies letztlich ganz im Sinne Sauders als Rückfall in absolutistische Verhaltensformen gedeutet: „Kristallisiert sich in diesen Zeilen nicht die Brüchigkeit bürgerlicher Illusionen, die bis dahin uneingeschränkt das bürgerliche Trauerspiel beherrscht haben? Fällt hier nicht ein zunächst empfindsamer Herrscher in die intriganten Handlungsmöglichkeiten seines Standes zurück?“279 Dass der Prinz Hettore weiterhin ein empfindsamer Herrscher bleibt, wie insbesondere seine Kontroverse mit Marinelli bzgl. der Strategie berechnend-galanter Verstellung 274 Ebd. 275 Karl Eibl: Identitätskrise und Diskurs. Zur thematischen Kontinuität von Lessings Dramatik, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 21, 1977, S.147f. 276 Lessing: Werke Band 2, S. 179. 277 Ebd., S. 203. 278 Jochen Schulte-Sasse: Literarische Struktur und historisch-sozialer Kontext, Paderborn 1975, S. 64. 279 Ebd., S. 64
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in III.3 zeigt, wird von Schulte-Sasse dabei übersehen. Unbeantwortet bleibt damit jedoch auch die Frage, inwiefern wir es nicht nur mit einem empfindsamen Herrscher, sondern zugleich mit einer empfindsamen Herrschertragödie zu tun haben. Wie ungeklärt und doch entscheidend diese Frage ist, dies zeigt allein ein Blick auf die wohl wichtigste Vorlage der Emilia Galotti, nämlich Johann Samuel Patzke 1755 verfasstes Drama Virginia, in dessen Vorwort folgendes zu lesen ist: Ein deutscher Trauerspieldichter kennet den erhabnen Corneille, den zärtlichen Racine, den erhabnen und zärtlichen Voltaire, und den ihnen zur Seite gehenden Schlegel nicht, wenn er nicht bey seinen Arbeiten Furchtsamkeit und Mistrauen zeiget. Und doch soll er sie kennen, und doch sollen dieß die Muster seyn, denen er nachahmen soll; keine geringern müssen es seyn. Bis auf die Stufe des Mittelmäßigen ist ein großer Theil der deutschen Schriftsteller gekommen, wenige bis auf die Stufe des Außerordentlichen, und doch sollen sie alle bis dahin steigen.280
Patzkes Virginia stellt eine unmittelbare Vorlage der „bürgerlichen Virginia“ Lessings, also der Emilia Galotti dar. Äußerst erstaunlich ist jedoch, wie eng die Orientierung Patzkes an jener von uns bereits dargestellten Gattung der empfindsamen Herrschertragödie ist. Wolfgang Lukas sprach diesbezüglich vom „aufgeklärten Herrscherdrama“, mit Blick auf die von Patzke charakterisierte Gattung der tragédie tendre scheint es jedoch passender, den Begriff der empfindsamen Herrschertragödie zu wählen. Denn Zärtlichkeit, Verliebtheit und Artigkeit sind – ganz im Sinne des 17. Literaturbriefes Lessings – die zentralen Motive dieser durch die Tragödie Racines und später Voltaires geprägten Gattung. In den deutschsprachigen Dramen von Gottscheds Schaubühne wird diese Motivik ab 1743 zum Grundbestand des ‚empfindsamen Herrscherdramas‘, geprägt von Autoren wie Quistorp und Krüger, deren Genre dann später Schlegel, Möser und eben Patzke aufgreifen. Es sind Tragödien, die sich nach Wolfgang Lukas durch einen empfindsamen, mit Güte statt Strenge regierenden Herrscher auszeichnen: Mahomed IV., Canut und Arminius sind deren typische Protagonisten. Auch Lessings als Bürgerliches Trauerspiel geläufiges Drama Emilia Galotti lässt sich als Beispiel dieser – 1759 von Lessing kritisch kommentierten – Tradition des empfindsamen Herrscherdramas lesen: Dies ist die zentrale These dieses Kapitels.
Lessings Stellung in der literarischen Empfindsamkeit Fassen wir die Ergebnisse dieses Kapitels noch einmal thesenartig zusammen: a) Lessings wesentlicher Beitrag zum Zärtlichkeitsdiskurs der Aufklärung besteht in dessen Überführung ins Tragische, eine Erweiterung, die eindeutig auf den zentral wichtigen Einfluss Voltaires zurückzuführen ist. Vor Lessing galt die Zärtlichkeit als genuines Thema, ja gar als Legitimationsgrund der rührenden Komödie: Unter Berufung auf Voltaires Vorrede zu dessen Komödie Nanine 280 Johann Samuel Patzke: Virginia. Ein Trauerspiel, Frankfurt und Leipzig 1755, S. 4.
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betonte Gellert in Pro commoedia commovente, dass „nicht jede Liebe, besonders die zärtliche, sich für [die Tragödie] schickt“, sondern allenfalls die „heroische“, die „lärmende“ und die „verzweifelnde“ Liebe. War die Zärtlichkeit nach Gellert also einzig im Genre der Komödie – nicht aber der Tragödie – beheimatet, so überträgt Lessing im Anschluss an Voltaires Zaire das Zärtlichkeitsmotiv auf das Genre der Tragödie. Zärtlichkeit prägt das zögerliche Verhalten Sara Sampsons und ihres Vaters, die beide aufgrund ihrer zärtlichen Beziehung zu lange im beschämten Zaudern verharren, statt sich nach dem Fehltritt Saras – der unerlaubten Flucht aus dem Elternhaus – umgehend wieder zu versöhnen. Die Tragik dieses Dramas basiert wesentlich auf dieser Zögerlichkeit, deren Gründe vielschichtig sind, und deren Konsequenz sich im zwischenzeitlichen Handeln der Marwood zeigt. Deren Rachfeldzug gegen die neue Geliebte ihres Ex-Mannes wäre zu verhindern gewesen, wären Vater und Tochter schon früher aufeinander zugegangen. Dass beide dies nicht taten, hat mit einer sehr feinsinnigen und einfühlsamen Vorsicht, mit einer Art Schamvermeidung zu tun, also dem Bedürfnis, den nahestehenden Anderen nicht zu beschämen. Diener Waitwells Formulierung von Saras „tugendhafte[r] Schüchternheit“ bezeichnet eben diese in hohem Maße tugendhafte, dennoch aber tragische Form einer einfühlsamzärtlichen Zurückhaltung. Auffallend ist dagegen, dass Lessing der sozialen Scham – angelegt etwa in der alleinerziehenden Marwood – kaum Raum lässt. b) Diese zärtliche Rücksicht gegenüber dem Anderen, die strikte Vermeidung beschämender Konfrontation zeugt von einer Höflichkeit, die ganz eindeutig aristokratische Quellen hat. Dieses didaktische Prinzip des rührenden Theaters, die Idee der wohlwollenden Beschämung, geht auf John Lockes Some thoughts concerning education von 1698 zurück. Zudem geht Saras sowie ihres Vaters feiner Sinn für das Beschämen auf Hutchesons philosophischer Version des moral sense zurück, d.h. auf jene Lehre, nach welcher der „sense of shame and honor“ von Innen kommt. In diesem Sinne ist die Didaktik der Beschämung auch ein Teilbereich der sogenannten Gefühlsethik, also dem von Shaftesbury entwickelten Ideal des moral sense. Hutchesons Version dieser Ethik, also der sogenannte sense of shame, wird in der Miss Sara Sampson demonstriert. c) Diese Gefühlsethik ist die Grundlage der von Lessing rezipierten und adaptierten Didaktik der Zärtlichkeit, die bis hin zu Der Freigeist von 1750 eine in den Lustspielen Lessings zur Rührung des Publikums beitragende Läuterung des fehlgehenden Helden darstellt. Unter dem Eindruck Voltaires wird diese Didaktik jedoch schon in der Miss Sara Sampson zugunsten einer neu entwickelten Mitleidspoetik ins Tragische gewendet. Den letzten Schritt geht Lessing dann wiederum in seiner Emilia Galotti von 1772, in welcher die zärtliche Didaktik gänzlich fehlt bzw. durch jenen erstmals von Joachim Schulte-Sasse sowie später Gerhard Bauer betonten Tugendrigorismus der bürgerlichen Helden ersetzt wird.281 Entsprechend wandelt sich das Prinzip der Beschämung als wichtigstes 281 Vgl. dazu: Joachim Schulte-Sasse: Das Opfer der Tugend. Zu Lessings ‚Emilias Galotti‘ und einer Literaturgeschichte der ‚Vorstellungskomplexe‘ im 18. Jahrhundert, Bonn 1983, S. 150; Gerhard
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Element der zärtlichen Didaktik, welches in den Lustspielen ganz im Sinne der Tradition insbesondere der englischen moral sense-Idee ein konstitutives Moment der Läuterung fehlgehender Protagonisten darstellt, in der Miss Sara Sampson hingegen in einer in der erläuterten Strategie der Vermeidung von Lessing ins Zentrum des tragischen Geschehens rückt. Eben diese zärtliche Didaktik der Beschämung ist in der Emilia Galotti nicht mehr vorhanden, sondern durch einen schon das Drama des Sturm und Drang andeutenden Schamkonflikt der Heldin ersetzt, wie er später etwa auch die bürgerlichen Töchter aus Wagners Die Kindermörderin, Schillers Kabale und Liebe oder dann Hebbels Maria Magdalena ins Unglück treiben wird. Insofern ist Odoardo Galotti ähnlich wie der Metzger Humbrecht, der Musikus Miller oder der Meister Anton ein vergleichbar „autoritärer Haustyrann, dessen Handeln und Urteilen von strengem Tugendrigorismus und einem unnachgiebigen bürgerlichen Ehrbegriff geprägt ist.“282 d) Diese Tragik macht die bürgerliche Emilia – im Unterschied zur Miss Sara Sampson –nicht zu einem Identifikationsangebot an den Zuschauer. Ebensowenig macht Lessing die von seinen bürgerlichen Repräsentanten Claudia und Odoardo Galotti formulierte Hof- und Galanteriekritik zu seiner eigenen Grundthese bzw. zur Moral seiner Tragödie. Eine solche Deutung ist angesichts der vehementen Kritik an marxistischen Interpretationen, wie sie seit den 1980er Jahren in Arbeiten von Gisbert Ter-Nedden, Raimund Neuß oder Karl Eibl mit Recht formuliert wurde, nicht länger aufrecht zu halten. Lessings „Position“ geht eher in Richtung jener von Ter-Nedden so benannten „Antikritik der Hofkritik“283. Dies erklärt sich durch die enge Orientierung Lessings an der von Racine und Voltaire geprägten Gattung der empfindsamen Herrschertragödie. e) In der jüngeren Forschung scheinen die äußerst wichtigen Arbeiten von von Gisbert Ter-Nedden, Raimund Neuß oder Karl Eibl in Vergessenheit geraten zu sein, so etwa deutete die Arbeit von Martina Schönenborn die Emilia Galotti als eine „hofkritische Tragödie“ und betonte „die in Guastalla herrschende absolute Autorität des Prinzen.“284 Wir dagegen teilen die erstmals von Jochen SchulteSasse entwickelte These von der empfindsamen Natur des Hettore Gonzaga, dem Prinzen von Guastalla, der sich während der gesamten Tragödie als ein von „zärtliche[r] Untätigkeit“ geprägter Herrscher zeigt. Als empfindsamer Souverän ist Hettore Gonzaga vergleichbar mit dem Titus Racines oder dem Orosmane Voltaires. Sprach Raimund Neuß vor diesem Hintergrund von einem „Hoftrau-
Bauer: Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti, München 1987, S. 41. Auch Albert Meier wies in seiner Studie zum ‚Drama der Bewunderung‘ auf vater Odoardos Tugendrigorismus, bei dem ein „an sich moralisches, billigenswertes Verhalten in Unmenschlichkeit umschlägt“, vgl.: Meier: Dramaturgie der Bewunderung, a.a.O., S. 300. 282 So das Argument von Christine Bähr: Der flexible Mensch auf der Bühne: Sozialdramatik und Zeitdiagnose im Theater der Jahrtausendwende, Bielefeld 2012, S. 93. 283 Ter-Nedden: Lessings Trauerspiele, a.a.O., S. 175 sowie S. 193. 284 Martina Schönenborn: Tugend und Autonomie. Die literarische Modellierung der Tochterfigur im Trauerspiel des 18. Jahrhunderts, Göttingen 2004, S. 153.
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erspiel im Conversationstone“285, so wollen wir dies präzisieren: Lessings Emilia Galotti ist eine empfindsame Herrschertragödie in der Tradition von Racines Bérénice, Voltaires Zaire oder Schlegels Canut. Allerdings radikalisiert Lessing dieses Genre im Sinne einer – im Briefwechsel über das Trauerspiel reflektierten – Dramaturgie der Beklemmung. Und diese Radikalisierung resultiert aus seiner Einführung eines bürgerlichen Tugendrigorismus, den diese Gattung bis zu Lessing nicht kannte. f ) Ungeachtet dieser Einschränkung gilt dennoch: Erst Lessings Emilia Galotti entfaltet die moralische Polarität von Adel und Bürgertum. Erst Lessing setzt jene Aufkündigung der Ständeklausel um, die die Trauerspieldiskussion seit den 1750er Jahren forderte. Und erst Lessings Emilia Galotti löst das Ideal des moral sense aus jener ‚höfischen‘ Verankerung, die diesem noch im Trauerspiel der 1750er Jahre zukam. Insofern mag die Emilia Galotti zwar einen der „Höhepunkte der Dramatik der Aufklärungsepoche“ darstellen, allerdings im Sinne eines Übergangs. Sie steht zwischen der „zärtlichen Empfindsamkeit“ der 1750er und 1760er Jahre einerseits, und „der Vorbereitungs- und Aufbruchsphase der Sturm-und-Drang-Dramatik“286 andererseits, wie 1980 schon Andreas Huyssen betonte. Die Folgen sind bekannt: Das Drama des Sturm und Drang ist ohne die in der Emilia Galotti entwickelte Lösung von der Ständeklausel wohl nicht wirklich vorstellbar. Dies betrifft jedoch nur das Motiv, nicht die Bewertung. Die nun zu erklärende Loslösung der Stürmer und Dränger von der bis hin zu Lessing äußerst einflussreichen Tradition der Zärtlichkeit geht vielmehr zurück auf Jean-Jacques Rousseau. Dies gilt es nunmehr zu erläutern.
285 Raimund Neuß: Tugend und Toleranz, a.a.O., S. 220. 286 Andreas Huyssen: Drama des Sturm und Drang. Kommentar zu einer Epoche, München 1980, S. 15.
II.
DIE ÜBERWINDUNG DER ZÄRTLICHKEIT:
Rousseau und das Drama des Sturm-und-Drang Wir werden in diesem Kapitel zu zeigen versuchen, dass die von Lessings Emilia Galotti ausgelöste Polarisierung von Aristokratie und Bürgertum sich im Drama des Sturm und Drang zunehmend vereindeutigte. Damit beginnt jedoch – entgegen der einflussreichen These Sauders von der bürgerlichen Empfindsamkeit – das eigentliche Ende der Empfindsamkeit. Denn der von Lessing entfaltete Tugendrigorismus des bürgerlichen Vaters wird sich im Drama der 1770er Jahre ausweiten, bis hin zu jener katastrophischen Konstellation aus Wagner Die Kindermörderin von 1776, in welchem die rigide Moral des Vaters die eigentliche Ursache für die aus einem Schuldkonflikt resultierende Mordtat der jungen Mutter Evchen Humbrecht an ihrem Neugeborenen darstellt. Die Gründe haben wir benannt: Mit Beginn des ersten genuin Bürgerlichen Trauerspiels, also mit Lessings Tragödie Emilia Galotti, transformiert sich die zärtliche Didaktik und deren wichtiges Element der Beschämung. Jene reintegrative Idee der Beschämung, die – ausgehend von der britischen sentimental comedy – im aufgeklärten Fürstendrama Schlegels und Mösers, im Rührstück Gellerts oder in Lessings Frühwerk, aber auch in der britischen sentimental comedy und der französischen comédie larmoyante nachweisbar war, gerät spätestens mit dem Sturm und Drang aus dem Blickfeld des Dramas. Die enorme Wirkkraft von John Lockes Ideas Concerning Education, die diese reintegrative Idee der Beschämung als Erziehungsprinzip eines Gentlemans erstmals entfalteten, geht spätestens gegen Ende der 1760er Jahre verloren. Die Dramen aus den 1770er Jahren scheinen jene Didaktik der wohlwollenden Beschämung, wie sie die Konfliktbewältigung in The careless husband, The tender husband, in Die zärtlichen Schwestern, Canut, Triumph der guten Frauen oder Der Freigeist auszeichnete, nicht mehr zu kennen. Vor dem Hintergrund der endgültigen Lösung des Bürgerlichen Trauerspiels von der aristotelischen Ständeklausel entfaltet das Drama nunmehr eine ganz eigene, gleichsam genuin bürgerliche Schamkultur, die wohl erstmals in Lessings 1772 uraufgeführtem Trauerspiel Emilia Galotti zum Ausdruck kommt. Der wesentliche Initiator dieses Paradigmenwechsels, der das Ende der Zärtlichkeitskultur einleiten wird, ist ohne Zweifel Jean-Jacques Rousseau. Genauer gesagt, es ist die Kulturkritik Rousseaus, die jene in den vorhergehenden Kapiteln nachgezeichnete Tradition der Zärtlichkeit radikal beendet. Dies bezieht sich zum einen auf die Didaktik der Zärtlichkeit, deren Grundidee der integrativen Beschämung
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wir anhand von Lockes Ideas concerning education entfaltet haben. Rousseau setzt dem ein Ende. Schon im Vorwort des Emile wird auf „Lockes Buch“1 verwiesen, im ersten Buch wird auf Lockes Warnung vor der Arzneikunst positiv Bezug genommen, es überwiegen jedoch die kritischen Kommentare. So etwa werden von Rousseau jene „Höflichkeitsformeln“, wie sie Locke im §141 seines Werkes entfaltet, scharf distanziert, gleiches gilt für „Lockes Hauptgrundsatz [...], man solle mit den Kindern vernünftig reden“2, wie es im §81 der Ideas entfaltet wird. Rousseau weist Locke im zweiten Buch des Emile eine Fülle von Widersprüchen nach und verwirft nachdrücklich jene Berufsperspektiven, wie sie in Lockes Ideas für den jungen Aristokraten bzw. Gentleman entworfen werden; Emile solle zwar ein Handwerker, aber keinesfalls „ein Goldsticker, ein Vergolder, ein Lackierer werden wie Lockes Edelmann.“3 Insofern ist anzunehmen, dass die Rousseauschen Kommentare zur Scham aus dem vierten und fünften Buch des Emile auch als Kommentierung der Lockeschen Erziehungslehre zu verstehen sind. Denn von Locke stammt der in der Pädagogik bekanntlich äußerst einflussreiche Vorschlag, die Kinder nicht körperlich zu züchtigen, sondern durch gezielte Strategien der Beschämung zu Schamhaftigkeit und Bescheidenheit zu erziehen: „corporal punishments must necessarily lose that effect, and wear out the sense of shame, where they frequently return.“4 Stattdessen setzte Locke auf Beschämungsstrategien, die wir in den vorhergehenden Kapiteln als integrative Form der Didaktik bzw. als ein zentrales Element einer Ethik der Zärtlichkeit nachzeichnen konnten: „Shame in children has the same place that modesty has in women, which cannot be kept and often transgress’d against.“ Rousseaus Antwort auf diese zentrale Innovation der Ideas finden sich im vierten Buch des Emile, sie ist nicht nur unmissverständlich, sondern zudem ausgesprochen folgenreich: Obgleich die Schamhaftigkeit dem menschlichen Geschlecht natürlich ist, haben doch die Kinder von Natur keine. Die Schamhaftigkeit entsteht erst mit der Erkenntnis des Bösen, und wie sollten die Kinder, welche diese Erkenntnis nicht haben noch haben sollten, die Regung spüren, welche die Wirkung davon ist? Ihnen Lehren über Schamhaftigkeit und Ehrbarkeit geben, heißt sie lehren, dass es schändliche und unehrbare Dinge gibt; das heißt ihnen eine geheime Begierde beibringen, diese Dinge kennenzulernen. Sie kommen kurz oder lang dazu; und der erste Funken, den die Einbildungskraft auffängt, beschleunigt gewiss die Entzündung der Sinne. Wer errötet, ist schon schuldig, die wahre Unschuld schämt sich vor nichts.5
Mit dieser apodiktischen These – „Wer errötet, ist schon schuldig“ – ist ein Ton angeschlagen, der für das Theater des Sturm und Drang von enormer Wirkung gewesen ist. Mit Rousseau ändert sich also die Idee der Tugend, die zweifellos rigi1 Jean-Jacques Rousseau, Emile oder Von der Erziehung. Emile und Sophie oder Die Einsamen, München 1979, S. 6. 2 Ebd., S. 82. 3 Ebd., S. 239. 4 Locke: Some Thoughts Concerning Education, a.a.O., S. 38. 5 Rousseau, Emile oder Von der Erziehung, a.a.O., S. 265.
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der wird. Schon an Lessings Emilia Galotti konnten wir diesen Wandel hin zum Tugendrigorismus insbesondere des Bürgertums erkennen. Allerdings kontrastierte Lessing den bürgerlichen Tugendrigorismus noch mit einer Gegenwelt „aristokratischer“ Figuren, wobei eben diese Landadligen, aber auch Teile des Hofes, von Lessing mit dem Habitus der Zärtlichkeit ausgestattet wurden. Diese Form des Adels kennt das Drama des Sturm und Drang nicht mehr, in diesem dominiert einzig jener von Norbert Elias sogenannte Schwert- bzw. Militäradel, der auch historisch am Paradigma der Zärtlichkeit kaum partizipierte. Eben deshalb aber steht der bürgerliche Tugendrigorismus im Drama des Sturm und Drang unter einem neuen Vorzeichen: Ihm fehlt nun die Kontrastierung durch eine Welt zärtlicher Galanterie. Dies zeigt sich insbesondere in Heinrich Leopold Wagners Die Kindermörderinn: Der adlige Leutnant von Gröningseck hat die bürgerliche Tochter Evchen Humbrecht mit einem Schlaftrunk, also gegen ihren Willen gefügig gemacht. Evchen Humbrecht ist aber nicht das Opfer Gröningsecks, sondern auch ihres von extremem Tugendrigorismus geprägten Vaters, dem jegliche Einfühlung im Sinne eines Sir William Sampson vollkomen fehlt. Sie tötet ihr neugeborenes Kind also auch aus Angst vor Ehrverlust, öffentlicher Schande, Scham und Verzweiflung. Ein ähnlich radikales Thema wird sich in Klingers Das leidende Weib von 1775 zeigen: Eine sozial hochstehende, in glücklicher Ehe lebende Frau gibt sich einem mittellosen Geliebten hin; beide verzehren sich anschließend in Scham und Reue über die Tat. Diese Dramen gehen zweifellos aus der Rousseau-Rezeption hervor, wenngleich schwer zu beurteilen ist, ob und inwiefern der neue Tugendrigorismus des Sturmund-Drang Theaters als Kritik oder Affirmation der Tugendlehre Rousseaus zu deuten ist. Weit eindeutiger ist hingegen die Tatsache, dass mit Rousseaus Kulturkritik die Zärtlichkeit selbst beendet wird. Denn Rousseaus Tugendideal basiert bekanntlich auf der Idee des Naturzustandes, weshalb er die im 17. Jahrhundert entwickelte Idee der Zärtlichkeit im Zuge seiner einflussreichen Kultur- bzw. Zivilisationskritik vehement als fatales Resultat einer korrumpierenden Überfeinerung der Lebensart verurteilt hat. Vor allem in seinem Discours über die Wissenschaften und Künste prangert er die von der Aufklärung so gepriesene Zartheit des Zeitalters, d.h. für ihn die Urbanität der Sitten, als „notre fausse délicatesse“ an.6 Diese Form der Verfeinerung sei lediglich ein Symptom wachsender Unaufrichtigkeit und damit ein Indiz für den moralischen Verfall der Zivilisation. Zudem wird Rousseau im Rahmen seiner Geschichtsphilosophie, die er im Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes entwickelte, den Nachweis zu führen versuchen, daß eine authentische Zärtlichkeit („sentiment tendre et doux“)7 unter den Menschen nur im untergegangenen ‚goldenen Zeitalter‘ einer vorbürgerlichen Geselligkeit möglich war, in der die Individuen noch die glückliche Balance halten konnten zwischen innerer Unabhängigkeit und Orientierung an den Mit6 Jean-Jacques Rousseau: Discours sur les sciences et les arts 2 (1750), in: Œuvres complètes, hrsg. von B. Gagnebin und M. Raymond Bd. III, Paris 1964, S. 21. 7 Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes (1755), a.a.O. 3, 169.
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menschen. Das im Zuge des Zivilisierungsprozesses geschichtlich erreichte Stadium der Zärtlichkeit ist für Rousseau dagegen geprägt durch eine Verweichlichung und Verweiblichung8, die letztlich Ausdruck wechselseitiger Abhängigkeit, eines Bedürfnisses nach Luxus und eines Sinns für die äußere Anpassung an herrschende Konventionen sei. Im Unterschied etwa zu Diderot versteht Rousseau also unter der Wiederherstellung der Natur nicht die Befreiung von der Tugend, sondern ganz im Gegenteil die Befreiung der Tugend selbst. Dies ist in seiner Konsequenz letztlich eine als Tugendrigorismus beschreibbare Argumentation, wenngleich Rousseau natürlich – im Unterschied zu den theatralen Vertretern des Tugendrigorismus wie etwa Lessings Odoardo Galotti, Wagners Metzger Humbrecht oder Schillers Musikus Miller – ein höchst sensibler Vertreter der „délicatesse“9 ist. Rousseaus Tugendideal ist also ein Zartgefühl, das sich allerdings – hierin durchaus rigide – ausschließlich als das echte und wahre Zartgefühl begreift, wohingegen er die historische tendresse als Ausgeburt einer raffinierten Geselligkeit bzw. einer degenerierten Kultur äußerst vehement kritisierte. Einflussreich ist diese im Namen natürlicher Tugend formulierte Kulturkritik für die Stürmer und Dränger vor allem deshalb, weil Rousseau sie am Beispiel des modernen Theaters, also in seinem berühmten Lettre à D’Alembert sur les spectacles von 1758 formulierte.
Die Krise des Theaters: Rousseaus Lettre à d’Alembert von 1758 Rousseaus Kritik des Theaters ist bekanntlich eine Reaktion auf jenen 1757 im VII. Band der Enzycloédie erschienenen Artikel Genève des Jean-Baptiste le Rond, genannt d’Alembert, in welchem dieser die Errichtung eines Theaters in Genf forderte. Rousseaus öffentlicher Brief an d’Alembert ist ein emphatischer und breit angelegter Widerspruch, wenngleich Rousseau das Theater als ein Medium des Vergnügens grundsätzlich zu akzeptieren scheint. Es werde jedoch für die Stadt Genf zu einem zweifelhaften Vergnügen, wenn es dessen Bürger dazu verführe, die Zeit zu verschwenden: „Ein Vater, ein Sohn, ein Ehemann, ein Bürger haben so kostbare Pflichten zu erfüllen, daß für Langeweile keine Zeit übrig bleibt.“10 Rousseaus Kritik richtet sich dabei vor allem gegen die Scheinwelten des Theaters, welche er wiederum aus der Notwendigkeit dieses Mediums herleitet, um der Wirkkraft und Popularität willen die Wahrheit zu unterlaufen. Die Welt des Scheins entfalte das Theater also deshalb, weil es sich an den Bedürfnissen des Publikums orientiere: „Dem Volk zuliebe braucht man Schauspiele, welche seine Neigungen
8 Rousseau: Discours sur les sciences et les arts, a.a.O., S. 22. 9 Ebd., S. 15. 10 Jean-Jacques Rousseau: Schriften, Band 1, hg. v. Henning Ritter, Frankfurt am Main 1988, S. 348.
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begünstigen, statt dass man solche braucht, die sie mäßigten.“11 Dieses nach Rousseau unstrittige Faktum relativiert nicht nur die alte Idee vom Theater als einem Medium der ‚Verbesserung‘ von Meinungen und Sitten, sondern auch diejenige vom Theater als darstellendem Medium der ‚wahren Verhältnisse‘ in einer sozialen Gemeinschaft. Das von Rousseau angelegte Wahrheitskriteriums werde also im Theater in all seinen Genres verfehlt, d. h.: In der Komödie werde der einfache, wahre Mensch aufgrund von Komikeffekten unterlaufen, in der Tragödie werde er aufgrund falscher Heroisierungen überhöht. Die gängigen Themen auf der Bühne bezeugten diese doppelten Verfehlungen: „Berühmte Taten, große Namen, große Verbrechen und große Tugenden in der Tragödie, das Komische und Lustige in der Komödie, und in beiden immer die Liebe.“12 Dass das Theater in der griechischen und römischen Gesellschaft einen so wichtigen Platz eingenommen hatte, betrachtet Rousseau vor diesem Hintergrund als eine historische Besonderheit, die sich nicht auf einen zeitgenössischen Kontext, also nach Genf, übertragen lasse. Dies zeige sich nicht zuletzt am Beispiel der Komödien, deren Charaktere dem französischen Bürger am ehesten entsprächen, und die Rousseau entsprechend ausführlich am Beispiel der Komödien Molières kritisiert. Auch hier ist das entscheidende Kriterium dasjenige der Echtheit bzw. der Werthaltigkeit der Komödie für eine bürgerliche Gesellschaft: Deren Fehlen demonstriert Rousseau ausgiebig am Beispiel von Molières 1666 entstandener Verskomödie Le Misanthrope. An dieser könne man nach Ansicht Rousseaus zweierlei erkennen: „Erstens, dass Alceste in diesem Stück ein rechtschaffener, offenherziger, achtbarer Mann, ein wahrhaft guter Mann ist, und zweitens, dass der Verfasser aus ihm eine lächerliche Person macht.“13 Dagegen werde der Betrüger und Manipulator Philinte als überlegener Charakter dargestellt, weshalb die Komödie Molières im Wesentlichen von einem moralischen Defizit zeuge. Dieses Defizit geht jedoch wiederum aus einem Wirkungskalkül hervor, denn hätte Molière seine Komödien an einem echten moralischen Maßstab orientiert, dann hätte das Publikum nichts zu lachen gehabt. Dabei übernimmt Rousseau in seiner Kritik, wie schon Rene Wellek zeigte, im Grunde die Position des im Misanthrope in der Tat ausgesprochen spöttisch behandelten Helden Alcestes.14 Ist Alcestes bei Molière eine lächerliche Figur, so ist er nach Rousseau „ein guter Mann, der die Sitten seines Jahrhunderts und die Bosheit seiner Zeitgenossen verabscheut, der gerade weil er seinesgleichen liebt, bei ihnen das Böse, das sie sich gegenseitig tun, und die Laster, aus denen es entsteht, haßt.“15 Angesichts der Tatsache, dass die bürgerliche Ehre im Mittelpunkt des Misanthrope steht, fordert Rousseau gar ein neues Stück mit Alcestes als positivem Helden. Insofern könnte man im Sinne von Louis-Sébastian Mercier 11 12 13 14
Ebd., S. 350. Ebd., S. 360. Ebd., S. 369. Vgl.: Rene Wellek: Geschichte der Literaturkritik: Das späte 18. Jahrhundert, das Zeitalter der Romantik, Berlin 1978, S. 73. 15 Rousseau: Schriften, Band I, a. a. O., S. 370.
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und den deutschen Stürmern und Drängern aus dieser unmissverständlichen Kritik Rousseaus auch Bausteine für ein ‚besseres‘ Theater entwickeln. Wenn Rousseau sich nun dem Thema der Liebe, und somit dem ‚Reich der Frauen‘ zuwendet, dann geschieht dies einerseits vor dem Hintergrund des skizzierten Kriteriums einer Echtheit bzw. Tugendhaftigkeit, welche durch die verderbten Sitten des Theaters in seinem Bestand bedroht sei. Andererseits ist anzunehmen, dass Rousseaus Kritik der Frauen vorgeprägt ist durch Molières so vehement kritisierte Komödie Le Misanthrope, insofern Rousseau in der Figur der Célimène, der Geliebten des Alcestes, einen weiblichen Wesenszug erkannte, der später in seinem Émile bzw. dem Buch über Sophie wiederkehren wird: Die weibliche Gefallsucht bzw. die Koketterie.16 Vorform dieser Kritik der Koketterie ist seine Analyse der weiblichen Macht, wie sie der Brief an d’Alembert entfaltet. Auch hier wiederum dient der historische Vergleich zur Fundierung des Argumentes: Weibliche Macht und Verstellungskunst widerspreche der natürlichen Ordnung der Geschlechter, wie sie Rousseau im alten Sparta angelegt und gelebt sah. In Sparta seien nur die bescheidenen und schweigsamen Frauen wertgeschätzt worden: „Bei uns hingegen wird diejenige Frau geschätzt, die am meisten Aufsehen erregt, von der man am meisten redet, die man am häufigsten in Gesellschaft sieht.“17 Eben deshalb aber würde die Errichtung eines Theaters in Genf diese durch das Theater selbst forcierte Untugend der Verstellung nur verstärken, würde also die Verstellungskunst des Theaters die natürliche Mentalität der ländlichen Bevölkerung Genfs nur stören. Dies habe auch damit zu tun, dass Schauspieler und Schauspielerinnen Menschen von fragwürdiger Moral und Lebensführung seien, es seien Gaukler bzw. Meister der Künstlichkeit, der Verstellung: Was ist das Talent des Schauspielers? Die Kunst, sich zu verstellen, einen anderen als de eigenen Charakter anzunehmen, anders zu erscheinen, als man ist, kaltblütig sich zu erregen, etwas anderes zu sagen, als man denkt, und das so natürlich, als ob man es wirklich dächte, und endlich seine eigene Lage dadurch zu vergessen, daß man sich in die eines anderen versetzt. Was ist der Beruf des Schauspielers? Ein Gewerbe, bei dem er sich für Geld selbst zur Schau stellt, bei dem er sich der Schande und den Beleidigungen aussetzt, die auszusprechen man sich das Recht erkauft, und bei dem er seine Person öffentlich zum Verkauf anbietet.18
Wir haben auf die Entwicklung dieses Gedankens im Werk Rousseaus bereits verwiesen: Im Brief an d’Alembert geht Rousseau noch von einer Art natürlicher weiblicher Schamhaftigkeit aus, wie sie gegen Ende des Briefes entfaltet wird. Erst im fünften Buch des Émile wird sich diese Wertung umkehren; im Brief an d’Alembert dagegen dient eine natürliche weibliche Schamhaftigkeit noch zur Kontrastierung der schamlosen Theaterwelt. Die natürliche Würde des weiblichen Geschlechtes basiere also auf einer Bescheidenheit, in welcher Scham und Scheu nicht von Ehr16 Zur Koketterie als Charakterzug der Célimène vgl.: Ebd., S. 377, 390. 17 Ebd., S. 382. 18 Ebd., S. 414.
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barkeit zu trennen sei, weshalb sich jede Frau entehre, „die sich zur Schau stellt.“19 Anders gesagt: „Jede Frau ohne Scham ist schuldig und verderbt, weil sie ein Gefühl, das ihrem Geschlecht natürlich ist, mit Füßen tritt.“20 Und da die Männer einen natürlichen Respekt für diese natürliche Schamhaftigkeit der Frauen hätten, bedrohe ein Umgang mit schamlosen Schauspielerinnen letztlich auch die männliche Moral. Weibliche Scheu und Scham wird also letztlich gegen die Künstlichkeit des Schauspiels gestellt, und eben deshalb wird die d’Alembertsche Idee der Errichtung eines Theaters in Genf entschieden abgelehnt.
Das zärtliche Theater als drohendes Entfremdungsmedium Der entscheidende Einwand gegen das Theater ist auch im Brief an d’Alembert die schon skizzierte These Rousseaus, dergemäß die Kunst eine Entfremdung des an sich tugendhaften Bürgers verursache. Der zeitgenössischen Vorstellung, nach welcher das Theater einen moralischen und somit sozialen Nutzen habe, wird also vehement widersprochen: Die einzige Funktion des Theaters sei allenfalls eine bestimmte Form der Unterhaltung, die aber weder eine moralische noch eine genuin soziale Wirkung habe. Denn das Theater provoziert die Leidenschaft des Publikums, schürt Vorurteile und Aberglauben, da sowohl der Dramatiker als auch der Schauspieler die kollektiven Leidenschaften des Publikums zu ihren eigenen Zwecken nutzen, ohne diese zu verbessern. Damit widerspricht Rousseau dezidiert und explizit der Aristotelischen Tragödientheorie, die ja im Grunde bis hin zum Briefwechsel zwischen Nicolai, Mendelssohn und Lessing die Grundlage des am Prinzip der Rührung und des Mitleids orientierten Theaters gewesen ist. Aristoteles Ziel war bekanntlich die Entlastung der dramatischen Poesie von jenem durch Plato gegen sie erhobenen Vorwurf der sozialen Disfunktionalität. Rousseau erhebt diesen Vorwurf erneut, und zu diesem Zweck bestreitet er vehement die aristotelische Theorie der Katharsis. Diese Kritik basiert zum einen auf der Analyse zeitgenössischer Dramen – Molière und Racine –, vor allem aber auf der Analyse der Dramatik als Kunstform im Allgemeinen. Katharsis als reinigender Effekt des Theaters sei ein Mythos, den Künstler und Theoretiker entwickelt hätten, der einer genaueren Prüfung jedoch nicht standhalte. Die Idee, dass die Tragödie durch eine Erregung der Leidenschaften von eben diesen Leidenschaften zu befreien vermöge, lasse sich nach Rousseau also empirisch nicht bestätigen. Das während einer Vorstellung leidenschaftlich erregte Theaterpublikum kehre nämlich nach dem Ende der Vorstellung nicht beruhigt und gereinigt nach Hause, im Gegenteil. Zudem gebe es keinerlei Garantie dafür, dass die erregten Leidenschaften nicht in Laster entarten könnten. Nur durch die Vernunft und deren Gebrauch könne eine Beruhigung der Leidenschaften gewährleistet sein, dies aber vertrage sich nicht mit den tragischen, mitleidigen, 19 Ebd., S. 418. 20 Ebd., S. 421.
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rührenden oder zärtlichen Emotionen des Theaters. Es gebe auf der Bühne keine stoischen Charaktere, und deshalb hielten der emotionale Aufruhr, das zärtliche Mitleiden und die weinerliche Rührung auch nach dem Ende der Vorstellung weiter an: Das Böse, welches man dem Theater vorwirft, besteht nicht eigentlich darin, verbrecherische Leidenschaften zu erregen, sondern die Seele für allzu zärtliche Gefühle zu öffnen, denen man nachher auf Kosten der Tugend nachgibt. Die angenehmen Gefühle, die man im Theater empfindet, haben an sich selber keinen bestimmten Gegenstand, sondern erwecken das Bedürfnis danach, sie flößen nicht eigentlich Liebe ein, sondern sie befördern nur die Empfindung der Liebe, sie wählen nicht eine Person aus, die man lieben soll, sie zwingen uns nur, diese Wahl zu treffen. Also sind sie unschuldig oder verbrecherisch nur nach dem Gebrauch, den wir je nach unserem Charakter von ihnen machen, und dieser Charakter ist von dem Vorbild unabhängig.21
Entscheidend ist nun jedoch für Rousseau weniger die fehlende therapeutische Wirkung der Katharsis denn vielmehr die bedrohliche Neigung des Zuschauers zur Identifikation mit den Protagonisten des Theaters. Diese Identifikation ist insofern moralisch verwerflich, als sie die ausgesprochen irreführenden Identifikationen mit den irrealen Schmerzen und Leiden des Protagonisten impliziert, die letztlich zu einer Flucht des Zuschauers vor den Aufgaben und Verantwortlichkeiten des sozialen Lebens führten. Das Argument basiert auf der Rousseauschen These eines dem Menschen angeborenen, also natürlichen Gefühls für Moral und Schönheit. Dieses erlerne man nicht aus der Kunst, ebenso wenig sei dieser moralische Sinn aus einer externen Quelle erworben, sondern ebenfalls angeboren. Der genuine Sinn für Moral und Schönheit bedürfe weder der Kunst noch des Theaters, vielmehr könne das Theater nachträglich nur eine Zerstörung der moralischen Instinkte der bürgerlichen Zuschauer bewirken. Dies erklärt sich aus der dem Theater imanenten Wirkung, also der illusionären Identifikation des Zuschauers mit den Helden des Theaters, was die moralischen Pflichten auf eine rein imaginäre Ebene verlagere. So entstehe nicht nur ein falsches Gefühl von Befriedigung, sondern letztlich eine Gleichgültigkeit gegenüber den Sorgen und Nöten des wahren Lebens. Rousseau, der wie viele seiner Zeitgenossen den empfindsamen Roman Richardsons bewunderte, erkannte also eben deshalb die große Gefahr der Zärtlichkeit und Empfindsamkeit der Epoche, weshalb er den Akt der Empathie als eine ernsthafte moralische Gefahr identifizierte: Wenn es auch wahr wäre, daß man auf dem Theater nur rechtmäßige Leidenschaften schilderte, folgte daraus denn, daß die eindrücke davon schwächer und ihre Wirkungen nicht so gefährlich sind? Als ob die lebhaften Bilder einer unschuldigen Zärtlich21 Ebd., S. 385. Vgl.: „Le mal qu’on reproche au Théâtre n’est pas précisément d’inspirer des passions criminelles, mais de disposer l’âme a des sentiments trop, tendres qu’on satisfait ensuite aux dépens de la vertu. Les douces émotions qu’on y ressent n’ont pas par elles-mêmes un objet détermine, mais elles en sont naître le besoin; elles ne donnent pas précisément de l’amour, mais elles préparent à en sentir; elles ne choisissent pas la personne qu’on doit aimer, mais elles nous forcent à faire ce choix.“ Ebd., S. 135.
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keit nicht so angenehm, nicht so verführerisch und weniger geeignet wären, ein empfindsames Herz zu erregen, als die Bilder einer verbrecherischen Liebe, der der Schrecken des Lasters wenigstens als Gegengift dient!22
Rousseaus kritisiert am Theater also weniger dessen Tendenz, „verbrecherische Leidenschaften zu erregen“, denn vielmehr diejenige, „die Seele für allzu zärtliche Gefühle zu öffnen.“23 Dieses Argument kennen wir freilich schon durch Saint-Évremont und Voltaire, entsprechend beruft sich auch die rousseausche Kritik an der Zärtlichkeit des französischen Theaters auf das negative Beispiel von Racines Bérénice. Nach Rousseau mache sich Racine vor allem einer Sache schuldig: Der fehlerhaften Inszenierung männlicher Liebe. In der Bérénice ist es die Figur des Titus, der nach langem Schwanken zwischen seinen staatsbürgerlichen Pflichten einerseits, seiner Liebe zu Bérénice andererseits sich schließlich gegen die Geliebte entscheidet. So nobel und pflichtbewusst diese Entscheidung jedoch auch immer erscheinen mag, die Art und Weise, wie Racine die Liebe von Titus und Bérénice dargestellt hat, führe nach Ansicht Rousseaus lediglich dazu, dass sich das Publikum am Ende mit der verlassenen Heldin identifiziere. Freilich ist dies zutreffend, denn obwohl Titus und Bérénice schon seit Jahren in Liebe miteinander verbunden sind, verlangt der römische Senat – nach der Erhebung des Titus zum Kaiser – die Trennung von Bérénice. Der Zuschauer, so das Argument Rousseaus, verachte zwar grundsätzlich eine Unschlüssigkeit des Kaisers, eine mangelnde Pflichterfüllung bzw. eine Verweigerung gebotener Staatsraison. Allerdings nur, sofern er die Tragödie Racines noch nicht wirklich zur Kenntnis genommen hat. Anders gesagt: Sobald der tugendhafte Bürger im Theater die Racinesche Tragödie zur Kenntnis nimmt, wird er vom fatalen Virus des Mitleidens infiziert: „Demselben Menschen, den er eben noch verachtete, beklagt er jetzt, weil er an derselben Leidenschaft, die er ihm eben vorwarf, jetzt Anteil nimmt.“24 Der entscheidende Kritikpunkt Rousseaus ist jedoch die Tatsache, dass „das Hauptinteresse Bérénice galt und daß es das Geschick ihrer Liebe war, das die Art der Katastrophe bestimmt.“25 Denn dies ist der eigentliche Grund dafür, dass dem Zuschauer die würdevolle Pflichterfüllung des Staatsmannes vollends unwichtig wird. Selbst die fast stoische Entsagung, welche am Ende ja von Bérénice selbst ausgeht, kann Rousseau nicht wirklich gelten lassen: „die Zuschauer waren lebhaft gerührt, sie begannen zu weinen, als Bérénice nicht mehr weinte.“26 Anders gesagt: „Titus soll nur Römer bleiben, er steht allein damit, die Zuschauer haben alle Bé-
22 Ebd., S. 385. Im Original heißt es: „Quand il serait vrai qu’on ne peint au Théâtre que des passions légitimes, s’ensuit-il de-là que les impressions en sont plus faibles, que les effets en sont moins dangereux? Comme si les vives images d’une tendresse innocente étaient moins douces, moins séduisantes, moins capables d’échauffer un coeur sensible que celles d’un amour criminel, à qui l’horreur du vice sert au moins de contrepoison?“ Ebd., S. 136. 23 Rousseau: Schriften I, a.a.O., S. 385. 24 Ebd., S. 386. 25 Ebd., S. 387. 26 Ebd.
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rénice geheiratet.“27 Das Publikum entzieht sich also seiner bürgerlichen Verpflichtung auf die Staatsraison: Es hätte Bérénice zur Frau genommen. Diese Form der Verweichlichung bzw. Effeminisierung des Publikums ist es, die Rousseau in seinem Brief an d’Alembert mit aller Vehemenz kritisiert. Das Finale dieser Argumentation ist daher unmissverständlich: Ich glaube, ich habe darüber genug gesagt, und ich denke kaum besser über die Helden Racines, diese so gezierten, so süßlichen und verzärtelten Helden, die unter einem mutigen und tugendhaften Äußeren doch nur Musterbeispiele jener jungen Leute sind, von denen ich sprach, und die sich der Galanterie, der Verweichlichung, der Liebe und allem, was den Mann weibisch macht und ihm die Lust zu seinen wahren Pflichten schwächt, überlassen. Das ganze französische Theater atmet nur Zärtlichkeit. Sie ist die große Tugend, der man dort alle anderen opfert oder die man dort zumindest den Zuschauern am teuersten macht.28
Weibliche Koketterie: Vom Brief an d’Alembert zur „Sophie“ im Émile Ein entscheidender Hintergrund dieser radikalen, fast nietzscheanisch anmutenden Effeminisierungskritik Rousseaus ist zweifellos sein äußerst kritisches Bild moderner Weiblichkeit. Rousseaus Kritik der Zärtlichkeit basiert wesentlich auf der Frage, inwiefern sich Weiblichkeit über den Begriff der Schamhaftigkeit verstehen lässt, vor allem aber, inwiefern eben dieser weiblichen Schamhaftigkeit getraut bzw. geglaubt werden kann. Was Rousseau demnach im Brief an d’Alembert schon andeutet, radikalisiert sich vier Jahre später im fünften Buch seines Romans Émile mit dem Titel Sophie oder Die Frau. Denn dieses eröffnet mit folgenden Überlegungen: Obgleich die Schamhaftigkeit dem menschlichen Geschlecht natürlich ist, haben doch die Kinder von Natur keine. Die Schamhaftigkeit entsteht erst mit der Erkenntnis des Bösen, und wie sollten die Kinder, welche diese Erkenntnis nicht haben noch haben sollten, die Regung spüren, welche die Wirkung davon ist? Ihnen Lehren über Schamhaftigkeit und Ehrbarkeit geben, heißt sie lehren, dass es schändliche und unehrbare Dinge gibt; das heißt ihnen eine geheime Begierde beibringen, diese Dinge kennenzulernen. Sie kommen kurz oder lang dazu; und der erste Funken, den die Einbildungskraft auffängt, beschleunigt gewiss die Entzündung der Sinne. Wer errötet, ist schon schuldig, die wahre Unschuld schämt sich vor nichts.29
Mit dieser apodiktischen These – „Wer errötet, ist schon schuldig“ – ist zweifellos das reizende bzw. anmutige Erröten im Sinne etwa der Anakreontik gänzlich ad absurdum geführt.30 Wo aber hat diese schuldbesetzte Scham ihren sozialen Ort, wenn sie den Kindern noch nicht vertraut ist? Schon in seinem Lettre à d’Alembert 27 28 29 30
Ebd. Ebd., S. 453. Ebd., S. 265. Meyer-Sickendick: Vom reizenden zum lähmenden Erröten, a.a.O.
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von 1758 beantwortete Rousseau diese Frage durch eine geschlechtsspezifische Zuordnung der Scham, wie Ursula Geitner zeigen konnte. Die These Rousseaus, nach welcher die Scham ein genuin weibliches Gefühl sei, entstand im Lettre vor dem Hintergrund einer fundamentalen Kritik des Schauspiels und des Theaters: „Das Theater“, so betont Geitner, diene bei Rousseau „als kontrastiver Bezugsrahmen, die Natur der Weiblichkeit festzulegen und abzugrenzen.“31 Dies war aber noch kein Zeichen von Schuld. Erst angesichts der kritischen Auseinandersetzung mit dem didaktischen Beschämungskonzept aus Lockes Ideas stellt Rousseau im fünften Buch des Emile die einflussreiche Frage nach der Glaubwürdigkeit bzw. Echtheit der weiblichen Schamreaktionen. Die Antwort deuteten wir bereits an: Weibliche Schamhaftigkeit gerät in Rousseaus Emile unter den Verdacht der Koketterie, und zwar in doppelter Hinsicht. Da Gott als das „höchste Wesen“ nicht den Mann, sondern die Frau jenen „uneingeschränkten Begierden überlässt“, fügte er nach Meinung Rousseaus „diesen Begierden die Scham bei, um sie in Schranken zu halten.“ Zugleich aber bewaffnete die Natur die „Schwachen“ mit „Sittsamkeit und Scham“, „um den Starken zu bezwingen.“32 Ein Paradigmenwechsel also: Im Lettre a d’Alembert forderte die Scham – so erläuterte es Sidonia Blättler – „als Zeichen von Naivität, Schwäche und widerstrebender Verführbarkeit zur Mäßigung der sexuellen Gier auf.“33 Im Emile ist es hingegen gerade die Scham, die die sexuelle Gier anstachelt, wie Friederike Kuster betont: „In ihrer doppelten Funktion korrespondiert die Scham als natürliche Tugend der Frau den natürlichen Voraussetzungen der Geschlechterdifferenz: Sie reguliert die schrankenlose Begierde der Frau und weckt ineins die Begehrenskraft des Mannes.“34 Im fünften Buch des Emile liest sich dieses Argument wie folgt: Wenn die Frau dazu geschaffen ist, zu gefallen und sich zu unterwerfen, dann muß sie sich dem Mann liebenswert zeigen, statt ihn herauszufordern. Ihre Macht liegt in ihren Reizen; durch sie muß sie ihn zwingen, seine eigene Kraft zu entdecken und sich ihrer zu bedienen. Die sicherste Kunst, diese Kraft zu beflügeln, ist, sie durch Widerstand notwendig zu machen. Alsdann vereinigt sich die Eigenliebe mit der Begierde, und die eine triumphiert über den Sieg, den die andere sie davonträgen lässt. Daraus entsteht der Angriff und die Verteidigung, die Kühnheit des einen Geschlechts und die Furchtsamkeit des andern, kurz, die Sittsamkeit und die Scham, womit die Natur den Schwachen bewaffnete, um den Starken zu bezwingen.35
Das entscheidende Stichwort Rousseaus findet sich in der Anmerkung, nach welcher „Verweigerungen aus Verstellung und Koketterie fast allen Weibchen, selbst 31 Ursula Geitner, Zur Rhetorizität moderner Weiblichkeit. Die Figur der Schauspielerin, in: Rhetorik: Band 29(2010), hg. v. von Anja Hill-Zenk, S. 19–34, hier S. 25. 32 Jean-Jacques Rousseau, Emil (wie Anm. 38), S. 468. 33 Sidonia Blättler, Rousseau: Die Transformation der Leidenschaften in soziale Gefühle, in: Klassische Emotionstheorien, hg. v. Hilge Landweer, Ursula Renz Ursula und Alexander Brungs, Berlin, New York 2008, S. 437–456, hier S. 445ff. 34 Friederike Kuster, Rousseau – die Konstitution des Privaten: zur Genese der bürgerlichen Familie, Berlin 2005, S. 180. 35 Jean-Jacques Rousseau, Emil, a. a. O., S. 467f.
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unter den Tieren, gemeinsam sind, auch wenn sie am geneigtesten sind, sich hinzugeben.“36 Damit schließt Rousseau an die Überlegungen an, wie sie in seiner Kritik am Molièreschen Misanthrope mit Blick auf die Figur der Célimène bereits vorgeprägt wurde. Das Argument wird jedoch von einer Ausnahme zu einem allgemeinem Kennzeichen weiblicher Schamreaktionen: Diese ist nun Indikator einer Verstellungskunst, deren Ziel es ist, den Starken zu bezwingen. In Rousseaus Émile steht die weibliche Schamhaftigkeit also unter dem Generalverdacht der Koketterie. Denn die Scham der Frau, mit der sie ihre Begierden beschränkt, entspricht nunmehr in dieser zivilisatorischen Rationalisierungsstrategie der männlichen Vernunft, die Leidenschaften zu beherrschen. Der Frage, „Warum ... soll für eine Frau beschämend sein, was es für den Mann nicht ist?“, wird von Rousseau – diesmal den Zustand der Natur vom gesellschaftlichen des Eigentums und der Familie ableitend – der Hinweis auf ihre biologische Mutterschaft entgegengehalten: „Als ob all die strengen Pflichten der Frau nicht allein daher kämen, daß ein Kind einen Vater haben muß!“37 Anders gesagt: Den Weibchen der Tiere ist jene Schamhaftigkeit nicht eigen. Sie haben aber auch nicht wie die Frauen ein schrankenloses Verlangen, welchem jene Scham als Zügel dient. Das Verlangen tritt bei ihnen nur mit dem Bedürfnisse hervor. Mit Befriedigung desselben hört das Verlangen auf. Sie weisen das Männchen nicht aus Verstellung, sondern in vollem Ernste ab. Ihre Handlungsweise ist der der Tochter des Augustus gerade entgegengesetzt: Wenn das Schifflein seine Ladung hat, nehmen sie keine Reisenden mehr auf. Selbst in der Freiheit ist die Zeit ihrer Willfährigkeit nur von kurzer Dauer und geht schnell vorüber. Der Instinkt treibt sie und hält sie zurück. Worin wäre wohl für die Frauen ein Ersatz dieses negativen Instinktes zu finden, wenn man ihnen das Schamgefühl rauben würde? Wollte man warten, bis sie sich nichts mehr aus den Männern machen, so hieße das warten, bis ihnen dieselben nichts mehr nützen können. Das höchste Wesen hat das Menschengeschlecht in jeder Weise bevorzugen wollen. Indem es dem Manne Neigungen ohne Maß eingepflanzt, stellt es ihn zugleich unter das Gesetz, welches sie regelt, damit er frei sei und sich selbst beherrsche. Mit den maßlosen Leidenschaften verband es wiederum die Vernunft, um sie zu leiten. Den grenzenlosen Begierden, die es im Weibe anfachte, stellte es die Scham zur Seite, um sie in Schranken zu halten. Zum Ueberfluß hat es der guten Anwendung der verliehenen Fähigkeiten noch eine Belohnung zuerkannt, das Wohlgefallen nämlich, das man am Sittlichen empfindet, sobald man es zur Richtschnur seiner Handlungen gemacht hat. Dies alles kann man wohl mit Recht zum Instinkte der Tiere gleichstellen.38
36 Ebd., S. 468. 37 Jean-Jacques Rousseau, Brief an d’Alembert über das Schauspiel, Schriften, hrsg. v. Henning Ritter, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1988, 1, 420. 38 Ebd., S. 328.
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Die Reaktionen auf den Brief an d’Alembert: Auf Rousseaus Lettre à d’Alembert reagierte in Frankreich zuerst d’Alembert selbst, 1759 dann der Enzyklopädist Jean-Francois Marmontel39, dessen Antwort bereits 1766 unter dem Titel Rettung des Theaters oder Zergliederung des Briefes von Herrn Rousseau, Bürger zu Genf, an Herrn d’Alembert ins Deutsche übersetzt wurde. Noch vor dieser Übersetzung wurde Rousseaus Brief in Deutschland erstmals 1760 in Johann Georg Sulzers Philosophische Betrachtungen über die Nützlichkeit der dramatischen Dichtkunst wahrgenommen und kommentiert. Sulzers Reaktion ist unschwer als Verteidigung des Theaters, also als Widerlegung der Kritik Rousseaus zu lesen. Zwar seien manche Theaterstücke „den guten Sitten schädlich“40. Doch im Grunde scheinen Sulzer die „heilsamen Wirkungen der dramatischen Poesie so wahr und unleugbar“, dass ihn die Rousseausche Kritik schlichtweg befremde. Rousseaus Forderung, man solle ihm nachweisen, wie und durch was für Mittel „das Theater Gesinnungen, die wir nicht haben, in uns hervorbringen, und uns von moralischen Dingen anders urtheilen lehren könne, als wir selbst davon urtheilen“41, sie ist Sulzer nicht nachvollziehbar. „Die Forderung des Herrn Rousseau ließe sich, wie es scheint, mit besserm Grunde auf die Malerey anwenden.“42 Und doch ist auffallend, dass Sulzer die eigentliche Radikalität Rousseaus, die auch als Plädoyer für ein neues Theater lesbar ist, verkennt, bzw. besser gesagt: verwirft. Herr Rousseau [...] behauptet, daß ein nützliches und so nützliches Theater, als wir hier voraussetzen, eine Chimäre sey. Niemals, sagt er, wird man den Geschmack und die Sitten durch das Theater verbessern, weil diejenigen Stücke, welche mit den herrschenden Sitten streiten, keinen Beyfall finden werden. Ich antworte hierauf, daß es eben nicht darum zu thun sey, allemal Nationalsitten und Meynungen anzugreifen.43
Eben darin liegt jedoch die entscheidende Differenz zum Drama des Sturm und Drang, das eben diese Rousseausche Forderung nach einem mit den herrschenden Sitten streitenden Drama einlösen wird, wie noch auszuführen ist. In den 1760er Jahren ist man von einem solchen Verständnis jedoch noch recht weit entfernt, was sich auch an der ersten Übersetzung des Rousseauschen Briefes erkennen lässt. Denn die 1761 in Zürich erschienene Schrift Herrn Rousseau, Bürgers in Genf, Patriotische Vorstellungen, gegen die Einführung einer Schaubühne für die Comödie, in der Republik Genf. Aus seinem Schrieben an Herrn d’Alembert gezogen. Nebst dem Schreiben, eines Bürgers von Sanct Gallen: Von den wahren Angelegenheiten einer kleinen, freyen, kaufmännischen Republik ist ausgesprochen fehlerhaft und übertrug zudem nur Teile des Originals. Insofern finden sich in den 1760er Jahren fast aus39 Reponse De Monsieur Marmontel A La Lettre Adressee Par J. J. Rousseau, A M. D’Alembert De L’Academie Des Sciences (1759). 40 Johann Georg Sulzer: Vermischte Philosophische Schriften: Aus den Jahrbüchern der Akademie der Wissenschaften zu Berlin gesammelt. Erster Theil, Leipzig 1782, S. 150. 41 Ebd., S. 156. 42 Ebd., S. 157. 43 Ebd., S. 162.
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schließlich Reaktionen, die den eher spöttischen Kommentar Sulzers teilen. So etwa besprach auch Johann Adam Hiller 1763 im dritten Teil seiner Sammlung Anecdoten zur Lebensgeschichte berühmter französischer, deutscher, italienischer, holländischer und anderer Gelehrten – betitelt mit Merkwürdigkeiten zur Geschichte der Gelehrten und besonders der Streitigkeiten derselben vom Homer an bis auf unsere Zeiten – diese „Streitigkeit über die dramatische Poesie“, und endete dabei mit dem spöttischen Schluss: Ja, tugendhafter Rousseau! Wenn die Schauspiele strafbar sind, wenn sie die Vorläufer des Verfalls kleiner Staaten sind, so ist es um dein Vaterland geschehen; man kann aus sehr vielen Merkmalen schließen, daß dasselbe ein Theater bey sich einführen wird.44
Auch Johann Gotthelf Lindner kam in seinem Buch Kurzer Inbegrif der Aesthetik, Redekunst und Dichtkunst zu dem Befund, dass der „paradoxe Genfer“ in „seinem Eifer gegen die schönen Künste“ zu sehr verallgemeinere, also „den gelegentlichen üblen Einfluß mit Wirkungen an sich“45 vermische. Man kann also einerseits eine recht intensive Rezeption des Rousseauschen Briefes beobachten, weshalb etwa Michael Hißmann bereits 1777 davon ausgehen konnte: „Marmontels Apologie des Theaters und Sulzers philosophische Betrachtungen über die Nützlichkeit der dramatischen Dichtkunst sind bekannt genug.“46 Andererseits geht jedoch die eigentlich produktive Auseinandersetzung mit Rousseaus Brief an d’Alembert weder von Sulzer noch von Marmontel, sondern von Louis-Sébastien Mercier aus, dessen 1773 entstandenes und 1776 von Heinrich Leopold Wagner übersetztes Werk Du Théatre ou Nouvel Essai sur l’Art Dramatique in Deutschland unter dem Titel Neuer Versuch über die Schauspielkunst ausgesprochen einflussreich gewesen ist: Wir werden darauf noch genauer zu sprechen kommen.
Die Genese des bürgerlichen Tugendrigorismus: Ein Effekt der Rousseau-Rezeption? Wenn wir die Frage nach dem Verlust der Zärtlichkeitskultur im Drama des Sturm und Drang untersuchen, dann können wir diesen Verlust nicht allein soziologisch erklären. Er hat auch und vor allem diskursive Gründe, von denen der entscheidende sicherlich die überaus einflussreiche Kulturkritik Rousseaus gewesen sein dürfte. Angesichts der bisherigen Ausführungen ist die Frage nach der Wirkkraft des Lettre à d’Alembert auf die Generation der Stürmer und Dränger zwar nicht in Form direkter Zitate zu belegen. Man kann jedoch davon ausgehen, dass sich mit dem 44 Johann Adam Hiller: Merkwürdigkeiten zur Geschichte der Gelehrten und besonders der Streitigkeiten derselben vom Homer an bis auf unsere Zeiten; Aus dem Französischen übersetzt. Erster Teil, oder der Anecdoten Dritter Theil, Leipzig 1763, S. 335. 45 Johann Gotthelf Lindner: Kurzer Inbegrif der Aesthetik, Redekunst und Dichtkunst, Erster. Theil, Königsberg und Leipzig 1771, S. 97. 46 Michael Hißmann: „Ueber den Hauptzweck der dramatischen Poesie“, in: Deutsches Museum, hg.v. Heinrich Christian Boie,Christian Wilhelm von Dohn, 1777, S. 556.
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Brief, aber auch jener im Émile fortgeführten Reflexion weiblicher Wesenszüge ein Verdacht gegen das zärtliche Theater entfaltete, der in den 1770er Jahren äußerst wirkmächtig und einflussreich gewesen ist. Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, inwiefern der in den Dramen des Sturm und Drang so auffallend dominante bürgerliche Tugendrigorismus ebenfalls aus der skizzierten Hymne Rousseaus auf die ursprüngliche Tugendhaftigkeit des von Kunst und Gesellschaft noch nicht korrumpierten Bürgertums hervorgegangen ist. Diese schwierige Frage werden wir in den folgenden Dramenanalysen ins Zentrum stellen. Zweifellos ist aber jetzt schon zu betonen, dass dieser neuartige Tugendbegriff Rousseaus das Sturm und DrangDrama und dessen Bild der Frau(en) nachhaltig veränderte. Es gibt in den Dramen des Sturm und Drang eine ausgesprochen auffallende Inszenierung weiblicher Verstellungskunst, die zweifellos im Geiste Rousseaus, also als Affirmation der skizzierten Verdächtigungen Rousseaus zu lesen und zu deuten ist. Vor allem seine Kritik der Koketterie ist ausgesprochen wirkmächtig gewesen.47 Von den überaus zahlreichen Textbeispielen für die Wirkkraft dieser These aus dem fünften Buch des Émile sei nur an die Frauenfiguren bei Klinger, Wagner oder Lenz erinnert, etwa an die Marie Wesener aus Lenz’ Die Soldaten von 1776, eine äußerst kokette Kaufmannstochter, die trotz ihrer Verlobung mit dem Tuchhändler Stolzius eine Beziehung sowohl mit dem jungen Offizier Desportes als auch später mit dem jungen Grafen de La Roche eingeht. Wir werden diese Wirkung nun genauer am Beispiel von Wagners 1776 veröffentlichtem Drama Die Kindermörderinn und deren Antiheldin Evchen Humbrecht untersuchen, aber auch an der Figur der Malgen aus Klingers Drama Das leidende Weib von 1775, eine verheiratete Tochter eines Geheimrats, die sich von einem Adeligen verführen ließ. Bevor wir diese Frage nach den möglicherweise von Rousseau beeinflussten Dramen der 1770er Jahre erörtern, sind jedoch die wirklich nachweisbaren Auseinandersetzungen mit den Überlegungen Rousseaus zu nennen. Dies wären Leonhard Meisters Fliegende Blätter größtentheils historischen und politischen Innhalts von 1783, Theodor Gottlieb von Hippels Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber von 1792, Carl Friedrich Pockels Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts von 1797, und schließlich Friedrich Maximilian von Klingers erstmals 1803 veröffentlichten Betrachtungen und Gedanken über verschiedene Gegenstände der Welt und der Literatur: Alle vier Texte diskutieren unter dem Eindruck Rousseaus die Frage nach der Koketterie der weiblichen Schamhaftigkeit. Schon in Leonhard Meisters Fliegenden Blättern gibt es neben einem noch der alten Tradition der Galanterie verpflichteten „Zauber der Koketterie“ eine „geheuchelte Koketterie“48, die neuerdings „Mode“ geworden sei. Ähnlich begreift auch Hippels in seiner be47 Burkhard Meyer-Sickendiek: Weibliche Koketterie: Zur Wirkkraft Rousseaus im Sturm und Drang, in: Zwischen Vielfalt und Imagination. Praktiken der Jean-Jacques Rousseau-Rezeption, hg. v. Jesko Reiling und Daniel Tröhler, Genf 2013, S. 101–120. 48 Leonhard Meister, Fliegende Blätter größtentheils historischen und politischen Innhalts, Basel 1783, S. 118f.
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rühmten Studie Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber die Schamhaftigkeit als eine Tugend, die nur „in der Ehe lebt“, d. h., „wenn sie nicht von Männern und Weibern zugleich geübt wird, so artet sie in Zierei und weibliche Taschenspielerkünste aus.49 Und schließlich kommt auch Friedrich Pockels in seinem Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts mit und gegen Rousseau zu der Einschätzung, dass die weibliche Schamhaftigkeit der „Reinigkeit des Herzens und des Charakters“ als fester Grundlage bedürfe; denn „ohne jene Reinigkeit und Unschuld des Herzens“ werde sich die Schamhaftigkeit „zur Coquetterie und Affectation gesellen, und die Männer zur Sinnlichkeit reizen, anstatt daß sie eine Schutzwehr dagegen seyn soll.“50 Diese Argumente Rousseaus gegen die weibliche Koketterie finden sich auch in den Aphorismen Klingers aus dem Jahre 1800. Schon seinem Roman Geschichte eines Teutschen der neuesten Zeit von 1798 galt Klinger der Emile Rousseaus als „das erste Buch unseres Jahrhunderts, das erste Buch der neuen Zeit“; in begeisterten Worten heißt es dort: „Der Jüngling, der keinen Führer hat, wähle diesen. Er wird ihn sicher durch das Labyrinth des Lebens leiten, ihn mit Stärke ausrüsten, den Kampf mit dem Schicksal und den Menschen zu bestehen. Diese Bücher sind unter der Eingebung der lautersten Tugend, der reinsten Wahrheit geschrieben; sie enthalten eine neue Offenbarung der Natur, die ihrem Liebling ihre heiligsten Geheimnisse zu einer Zeit entschleierte, da die Menschen sie bis auf die Ahnung verloren zu haben schienen.“51 Um 1800 wird nunmehr jener Aspekt diskutiert, den Rousseau im fünften Buch des Émile entfaltete. Sie nehmen ihren Ausgangspunkt in der Überzeugung Klingers, dass man gerade junge Knaben früh dazu erziehen solle, ein gegebenes Wort und Versprechen zu halten, insofern dies einen entscheidenden Einfluss auf den Charakter habe und zur Festigung der Moral beitrage. Allerdings stellt auch Klinger die Rousseausche Frage: Aber warum vorzüglich die Knaben? Weil Mädchen nicht immer halten müssen und dürfen, was sie mit den Augen versprechen – weil sie überhaupt nie alle Versprechen erfüllen müssen, die der Mund aus geheimen Gründen des Herzens leise ausspricht – weil wir den Vorbehalt ihres Herzens wissen und gestatten – weil sie durch süße Lockungen und herbe Versagungen reizen – und weil sie die völlige Erfüllung des Versprechens von ihrer Seite sättigt und übersättigt. Ihre Moral erfordert überhaupt eine eigene Behandlung und besondre Regeln, da sie mehr geschaffen sind, den Thätigen das Leben zu versüßen, als selbst thätig zu seyn. Diese Moral müssten die Liebe, die Klugheit und die feine Koquetterie schreiben. Aber Rousseau hat das Thema in seiner Sophie erschöpft und ich hätte immer schweigen können.52
49 Theodor Gottlieb von Hippel, Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber, Berlin 1792, S. 156. 50 Carl Friedrich Pockels, Versuch einer Charakteristik des weiblichen Geschlechts. Ein Sittengemälde des Menschen, des Zeitalters und des geselligen Lebens, Hannover 1797, S. 190. 51 Friedrich Maximilian Klinger: Geschichte eines Deutschen der neuesten Zeit, 2011, S. 65. 52 Friedrich Maximilian Klinger: Sämmtliche Werke in zwölf Bänden. 11. Band, Stuttgart und Tübingen 1842, S. 133f.
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Inwiefern, so meine Frage, ist diese Argumentation auch im Drama des Sturmund-Drang angelegt? Freileich ist Rousseaus Einfluss eher implizit denn explizit, sieht man ab von Friedrich Maximilian von Klingers Das leidende Weib von 1775, jenem Text, dessen Auseinandersetzung mit Rousseau wir nun genauer erläutern müssen.
Eine rousseauistische Tragödie: Friedrich Maximilian von Klingers Das leidende Weib (1775) Die Frage nach der Wirkung Rousseaus lässt sich mit Blick auf Klingers 1775 erschienenes Trauerspiel Das leidende Weib beantworten, das nicht nur von Lenzens ein Jahr zuvor veröffentlichtem Lustspiel Der Hofmeister sowie Lessings Emilia Galotti, sondern vor allem von Rousseaus Kulturkritik beeinflusst ist. Es ist in seinen fünf Akten eines der repräsentativen Werke der Geniezeit, dem jede Kenntnis der zärtlichen Didaktik vollkommen fremd ist. In dieser Tragödie dominiert vielmehr der Zwiespalt zwischen Geist und Trieb, Herz und Verstand, Freiheit und Gesetz. Ganz unverkennbar ist zudem die Kritik Klingers an der demoralisierenden Wirkung der „Schöngeisterei“, die insbesondere von der Figur des Magisters formuliert wird. Aber auch die Standesunterschiede und Spannungen zwischen (Hof-)Adel und Bürgertum sind in dieser Tragödie weit deutlicher als bei Lessing formuliert. Nach einer kurzen Einführung des Liebespaares Läufer – einem Hofmeister – und Sussgen, der Tochter des Herrn Magister, welcher die Dichter und Lehrer hasst, da seine Frau durch Lektüre den Tod gefunden hat, schwenkt der Fokus zum eigentlichen Konflikt des Dramas. Die Gesandtin liebt seit ihrer Jugend den mittellosen Soldaten Von Brand, der seinerseits von „brennender Leidenschaft“53 zu dieser seiner einstigen Jugendliebe erfüllt ist, die er zärtlich „Malgen“ nennt. Allerdings ist er von Malgens Vater, einem Geheimrat am fürstlichen Hof, aus ökonomischen Gründen als potentieller Ehemann stets ablehnt worden, weshalb die gehorsame Tochter sich dem Diktum des Vaters gefügt und den Gesandten geheiratet hat. Ihre fortdauernde Liebe zu Von Brand führte jedoch zum heimlichen Ehebruch, den die Gesandtin als Verführte nur zu gern geschehen ließ, wenngleich sie sich nun schwere Vorwürfe macht, ist sie doch nicht nur verheiratet, sondern zudem Mutter zweier Kinder. Die beiden sich Liebenden werden also von extremen Schuldgefühlen geplagt: Insbesondere Von Brand, dem bisher stets „die Keuschheit das Heiligste am Weibe“54 gewesen ist, sieht sich nun als deren „Zerstörer“55. Dieser vom Bekenntnis zum sittlichen Wert der Gattentreue und dem übermächtigen Drang nach dessen libidinöser Zerstörung geprägte Schuldkonflikt plagt jedoch
53 Friedrich Maximilian Klinger: Historisch-kritische Gesamtausgabe: Otto. Das leidende Weib. Scenen aus Pyrrhus Leben und Tod. (Bd. 1): Bd. 1, Tübingen 1987, S. 111. 54 Ebd. 55 Ebd.
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auch die Gesandtin, die in einem der Emilia Galotti entlehnten Konflikt zerrissen ist zwischen Begehren und verinnerlichtem Tugendideal: VON BRAND: Du weinst, Engel, du weint. GESANDTIN: Ueber meine Sünde, Brand! Und in meiner Brust brennts – o fühls, ich bin bereit, neue zu begehen. Mächtiger, über diesen Sternen! VON BRAND: Du zerreißt mir noch das Herz mit deinem Geschwätz. Ich halts nicht aus, ja ich wills thun. GESANDTIN: Was willst du thun? VON BRAND: Mich totschießen; vor deinen Augen will ichs thun. Ich bin nichts, ganz nichts ohne dich. Und du, Grausame!56
Zwar versprechen sich Malgen und von Brand im Rahmen eines Gartenspaziergangs ewige Treue, durch eine List erfährt jedoch der seinerseits ebenfalls in die Gesandtin verliebte Graf Louis von dieser Liaison. Und da dieser Graf ein skrupelloser Neider und Nebenbuhler ist, den die Erscheinung der Gesandtin „rasend“57 vor Begehren macht, plant er sein geheimes Wissen um diese Affäre zu nutzen. Zu diesem Zweck eröffnet er im zweiten Akt dem Baron Blum seine Liebe zu Malgen, aber auch seine Kenntnis von deren außerehelicher Affäre, und bittet Blum um Hilfe bei der Eroberung Malgens, was dieser als Freund Von Brands entrüstet ablehnt. Allerdings agiert der höfische Geck Graf Louis nicht allein als begehrender Intrigant, sondern zugleich als Rächer des Adels, insofern der Geheimderath als Vater Malgens offene Kritik an den „feinen Kavaliers“58 übte, „die nichts tun als Weiber und Töchter verführen“59. Schließlich geht auch Von Brand fälschlicherweise davon aus, dass seine Malgen ein Verhältnis mit Graf Louis habe, weshalb er die beiden heimlich auf einem Maskenfest zu ertappen hofft. Veranstaltet wird dieses ländliche Fest von Graf Louis, der Malgen so glaubt verführen zu können. Als Malgen nun auf dem Fest erscheint, wird sie auch von Von Brand sehnsüchtig beobachtet, dieser vermeidet es aufgrund des Zuredens von Blum jedoch, zu ihr zu gehen. Unterdessen ergötzt sich Graf Louis an seiner erfolgten sexuellen Attacke auf Malgen, in der es ihm sogar gelungen ist, ihre Brust zu berühren. Darum ist Malgen verzweifelt und flieht sich aus Angst vor der Gesellschaft dieses Herren in ein naheliegendes Haus, wohin ihr zunächst Louis und dann auch Von Brand folgt. Im Affekt erschießt er den Grafen Louis, der sich in seiner Unbeherrschtheit vergaß und kurz davor war, Malgen zu missbrauchen. Zur gleichen Zeit entwickelt sich ein zweiter Erzählstrang um zwei Liebende, nämlich Franz, dem Bruder von Malgen, und der Harfenspielerin Julie, die sich zu Beginn des dritten Aktes gegenseitig Minna und Tellheim nennen und sich zu einer verabredeten Zeit nachts am Fenster wie Romeo und Julia ewige Liebe schwören. Allerdings brennt Julie schließlich mit Läufer durch und lässt den Liebenden Franz verzweifelt zurück. Doch damit des Unglücks nicht genug. Nachdem sich Malgen im anschlie56 57 58 59
Ebd., S. 123. Ebd., S. 130 Ebd., S. 134. Ebd.
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ßenden fünften Akt ihrem Mann offenbart hat, ist ihr Vater an einem Herzschlag gestorben. Und obwohl ihr Mann ihr den Seitensprung vergibt, sinnt ihr Bruder Franz nach blutiger Rache, kann seine Schwester jedoch nicht töten, denn diese ist zuvor schon von alleine – wohl am gebrochenen Herz – gestorben. Unterdessen ist von Brand auf Anraten seines Freundes Blum geflohen, sorgt sich aber weiterhin um seine Geliebte, bevor er von einem Bewohner aus der Stadt erfährt, dass Malgen und der Geheimderath gestorben und bereits beerdigt sind. Nachdem also der Geheimderath einem Schlaganfall erlag und die Gesandtin Gift nahm, begeht auch von Brand Selbstmord, indem er Malgens Sarg ausgräbt, um sich darauf schließlich zu erstechen. Ein Jahr später sieht man dann Franz und den Gesandten, ihrer Ämter ledig, als Landgutsbesitzer ihren Geliebten, wenn nicht nachtrauern dann zumindest in Gedanken verharrend. Die Familie des Gesandten, der man aus Rache „Vermögen und Ehrenstellen“ weggenommen hat, findet in einer von körperlicher Arbeit erfüllten, an Rousseaus Ideale erinnernden ländlichen Existenz ein friedvolles Auskommen. Damit sieht auch Franz, Bruder der Gesandtin, der einer der heftigsten Kritiker am Hof war und, des Ränkespiels ringsum überdrüssig, aufs Land zu ziehen gedachte, seinen Wunsch auf überraschende Weise erfüllt. Er, der ganz auf das Gefühl vertraut, hatte um Julie geworben und sie schließlich an einen der Kriecher und Schwätzer verloren, der dem von Klinger karikierten Kreis der Schöngeister nahesteht. Die Haupthandlung weist deutliche Bezüge zu Rousseaus Roman La Nouvelle Heloise auf, mit dem das Drama in wesentlichen Handlungsmomenten übereinstimmt. So entwirft auch Rousseau eine leidenschaftliche Liebe, die durch soziale Unterschiede verhindert wird, und lässt seine Protagonistin eine Konvenienzehe schließen. In der von Rousseau gestalteten ländlichen Idylle gelingt den Liebenden in der Folge die tugendhafte Unterdrückung der Leidenschaften – erst kurz vor ihrem Tod gesteht Julie, dass sie ihre Liebe zu Saint-Preux nie endgültig überwunden hat. Klinger lässt die Widersprüche zwischen individuellen Gefühlen, gesellschaftlichen Forderungen und sittlichen Normen, die bei Rousseau noch eine fragile empfindsame Vermittlung erfahren, hingegen offen hervorbrechen, wenngleich die Nebenhandlung um den „rousseauistischen“ Bruder Franz kontrapunktisch in das eigentliche, auf die tragische Zuspitzung der Dreieckssituation konzentrierte Geschehen integriert ist. Die Bezüge zu Rousseau zeigen sich also darin, dass Julie die von Franz empfohlenen Gedichte Petrarcas und den zweiten Teil von Rousseaus Nouvelle Heloise, in denen Liebessehnsüchte unerfüllt bleiben, als geeigneten Stoff für ihre gemeinsamen Lesestunden ablehnt, den ersten Teil von Rousseaus Roman, der die leidenschaftliche Liebe zwischen Julie und ihrem Hauslehrer St. Preux schildert, jedoch von beiden als geeignete Vorlage für ihre eigene Liebesgeschichte akzeptiert wird. Die rousseauistische Idylle, in die sich der Gesandte und Franz am Ende der Tragödie nach dem Tod der Gesandtin zurückziehen, steht also ganz im Zeichen des trauernden Rückblicks auf eine nicht mehr zu realisierende Harmonie.60 Typisches 60 Zur spezifischen Rezeption von Rousseaus Roman im Sturm und Drang vgl. Jacques Voisine: Von den ‚Wonnen des Gefühls’ zum ,Bildungsroman’. Der Einfluß der Neuen Heloise auf die
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Produkt dieser rousseauistisch inspirierten Tragödie ist jedoch zweifellos Malgens Bruder Franz, der alle Eigenschaften eines „Kraftgenies“61 in sich vereint und durch sein Temperament und sein Gemüt den leidenschaftlich stark, aber eben nicht mehr zärtlich empfindenden Menschen darstellt. Als Typus ist er klassischer Vertreter des Sturm-und-Drang, der Rousseau liebt, Shakespeare verehrt und alle Formen einer systematisch-vernünftigen Weltsicht verachtet. Insofern trägt Das leidende Weib deutliche Spuren des Rousseauismus, dem ein nur auf Vernunftgründen fußendes persönliches Glück ähnlich unmöglich erscheint. Ohne die Liebe ist es Malgen so wenig zuteil geworden wie Rousseaus Julie, wenngleich dem Menschen an sich das Recht auf ein aufrichtiges Gefühl und auf Liebe zusteht. Eine Gesellschaft, die dem Menschen dies Recht nimmt, raubt ihm auch das Glück, wie die Schlußszene des Trauerspiels verdeutlicht, die in Rousseaus Rückkehr zur Natur, in einer utopischen Flucht aus der Gesellschaft, den Ausweg aus diesem Dilemma skizziert.
Ein neues Theater, mit und gegen Rousseau: Louis-Sébastien Merciers Neuer Versuch über die Schauspielkunst (1776) Klingers Tragödie bezog sich auf Rousseaus Naturutopie, und nicht auf dessen Theatertheorie. Erst nach Klingers Das leidende Weib entstand dieser für die Lösung vom Theater der Zärtlichkeit weit wichtigere Diskurs. Dabei ist Louis-Sébastian Mercier der sicherlich entscheidende Vermittler des Rousseauismus an die Generation der Stürmer und Dränger in Deutschland. Denn Mercier ist ein echter Schüler: Mit Rousseau und dessen Nouvelle Héloise ging er davon aus, dass die ursprüngliche Naturmoral des Individuums vor der Korruption einer wodurch auch immer korrumpierten Gesellschaft bewahrt werden müsse. Und wie Rousseau im Lettre à d’Alembert betonte: „tout amusement inutile est un mal“62, so schreibt auch Mercier der Kunst und dem Theater vor, nützlich zu werden: Ein nützlicher Schriftsteller müsse im Sinne Rousseaus „auf die Sitten seiner Mitbürger einen Einfluß haben, sie mit einer hellen und gesunden Moral verfeinern, das heißt, sich des
Generation des Werther, in: Hans Peter Herrmann (Hrsg.), Goethes Werther: Kritik und Forschung, Darmstadt 1994, S. 174–192. Voisine verweist darauf, dass sich die Stürmer und Dränger v.a. für den ersten Teil der Nouvelle Heloise begeisterten, wo Rousseau ein „leidenschaftliches Abenteuer“ und eine emotionale „Revolution gegen die Gesellschaft“ entwirft; der Thematik der „Selbsterziehung des Menschen“, die im zweiten Romanteil in den Vordergrund tritt, schenkten sie hingegen nur wenig Beachtung, vgl.: Ebd., S. 179–177. „Die Generation des Sturm und Drang hat nur eine Teilinterpretation anerkennen wollen; sie hat ihre Augen wissentlich vor der wahren Bedeutung des Werkes verschlossen, das Mme de Stael so treffend als ,die Darstellung und Dramatisierung einer großen Moralvorstellung‘ definierte“, ebd., S. 191. 61 Helmut Schmiedt: Merkwürdige Helden. Zum Typus Kraftgenie im Sturm und Drang, in: LenzJahrbuch 12 (2002/2003, [ersch. 2005]), S. 139–154. 62 Oeuvres complètes de J.J. Rousseau: avec des notes historiques, Band 3, Paris 1838, S. 118.
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schönen Vorrechts der menschlichen Natur bemeistern.“63 Mercier schrieb 1767 im Geiste Rousseaus einen Homme Sauvage, eine Geschichte von der ursprünglichen Reinheit des Menschen, und mit der Utopie L’An 2440 von 1770 einen Roman, in welchem „Rousseaus Emile mit seiner natürlichen, vor zivilisatorischen Schäden bewahrten Empfindung […] zum durchschnittlichen Bürger des Gemeinwesens“ wird.64 Und er veröffentlichte gemeinsam mit Gabriel Brizard, François Henri Stanislas de L’Aulnaye und Pierre Prime Félicien Le Tourneur zwischen 1788 und 1793 die auf 37 Bände angelegte erste Gesamtausgabe der Werke Rousseaus, die œuvres complètes. 1776 übersetzte Heinrich Leopold Wagner die 1773 von Mercier verfasste Abhandlung Du théatre ou nouvel essai sur l’art dramatique unter dem Titel Neuer Versuch über die Schauspielkunst. Merciers Abhandlung beginnt mit einer Formulierung, die den Einfluss von bzw. die Auseinandersetzung mit Rousseaus Brief an d’Alembert unmittelbar erkennen lässt: „Das Schauspiel ist eine Lüge, es kommt darauf an, sie der Wahrheit so nahe zu bringen, als möglich.“65 An mehreren Stellen beruft sich Mercier entsprechend auf Rousseaus Brief an d’Alembert, so etwa in dem Zitat „Die Sitten malen, sagt Rousseau, heißt noch nicht sie bessern“66, oder dem Plädoyer, auf dem Theater „die Pflichten des bürgerlichen Lebens zu schildern.“67 Unverkennbar übernimmt Mercier zudem jene Argumente und Perspektiven, wie sie Rousseau in seiner Kritik an Molières Misanthrope entwickelte. Diese Kritik haben wir bereits skizziert: Molière habe im Misanthrope die uneigennützige Tugend zugunsten der egoistischen Weltklugheit lächerlich gemacht, da er den Bürger Alceste in eine lächerliche Rolle gedrängt habe, obwohl dieser doch ein an sich gerader, schätzenswerter, aufrichtiger Mann sei, ein wahrhafter „homme de bien“68. In eben diesem Sinne forderte auch Mercier, dass das Prestige des Bürgers im Theater nicht angetastet werden dürfe, und verwies dabei gleichfalls auf Molière, denn dieser habe „die reine und simple Ehrbarkeit in der Madam Jordan, lächerlich gemacht; er hat die Bürgerschaft, die ohne Widerrede die ehrwürdigste Klasse des Staats, oder besser zu reden, diejenige Klasse ist, welche den Staat ausmacht, demütigen wollen.“69 Zugleich reformuliert Mercier die rousseausche Kritik an Racine: Man muß auf der Bühne die Leidenschaft der Liebe in ihrer ganzen Stärke zeigen, oder sie gar nicht behandeln. Ich behaupte dies deswegen, weil eine starke Leidenschaft die Seele erhebt, eine gemeine aber sie schwächt; darinn find ich aber den Racine strafwürdig, daß er alles der Liebe unterordnet, auf dieses Gefühl allein das vornehmste Interesse seiner Stücke gebaut hat. Nichts entnervt, entkräftet die Seele mehr 63 Louis Sébastian Mercier: Neuer Versuch über die Schauspielkunst. Aus dem Französischen. Mit einem Anhang aus Goethes Brieftasche. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1776. Mit einem Nachwort von Peter Pfaff. Heidelberg: Lambert Schneider 1967, S. 2. 64 Vgl. das Nachwort von Peter Pfaff, ebd, S. III-XXX, hier S. IVf. 65 Ebd., S. 1. 66 Ebd., S. 72. 67 Ebd., S. 137. 68 Oeuvres complètes de J.J. Rousseau: avec des notes historiques, Band 3, a.a.O., S. 128. 69 Mercier: Neuer Versuch über die Schauspielkunst, a.a.O., S. 116f.
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als solche weiche Eindrücke, hauptsächlich wenn sie sich auf das Beispiel der Helden gründen.70
Die Schrift widerlegt jedoch auch rousseauistische Statements: Statt die Schriften der Alten, solle man lieber das Leben der Jetzigen studieren, heißt es bei Mercier: „Nur die Pedanten, […] die Schulfüchse können ausrufen, es leben die Griechen!, es leben die Griechen! Der verständige Mann wird sagen: Seht eure Landsleute, oder schreibt nicht, ihr sollt nicht den Menschen überhaupt, den Menschen aus dem Zeitalter […] sollt ihr schildern.“71 Nur so könne dem Drama ein „Karakter von Nützlichkeit für die Gegenwart“72 eingeprägt werden. Zudem geht Mercier anders als Rousseau davon aus, dass „die sanfte und reizvolle Rührung“73 und die „Reize der Sympathie“74 den „innern moralischen Sinn“75 des Zuschauers entwickeln könnten. Entsprechend verweist Mercier darauf, man solle einmal den Rousseau davon überzeugen, dass ein Mensch, der auf der Bühne seine Leidenschaften mässigen würde, interessieren könnte, und dass das Portrait eines Stoikers, auf den alle Unglücksfälle zusammenstürmten und ihn doch nicht erschütterten, eine der öffentlichen Auftritte würdige Rolle wäre. Diese Hinweise sind zweifellos auf den Brief an d’Alembert bezogen.76 Zudem lehnt Mercier die von Rousseau zumindest implizit geforderte poetische Gerechtigkeit ab, wie schon Wolfgang Wittkowski77 bemerkte: Laßt uns bemerken, daß die Alten dieses Gesetz, welches immer glückliche Entwicklungen vorschreibt, nicht gekannt haben; sie trockneten ihre Thränen nicht ab, sie ließen den Unwillen in dem Busen der Zuschauer keimen und Wurzel faßen: Hekuba, Ajax, Herkules sterben unter den Martern; und diese Entwicklungen waren nicht ohne Absicht. Man höre auf von dem Dichter zu verlangen, daß er das Laster immer strafe; wenn ers verabscheut, so mag er ungestraft seinen Triumph schildern; die Schande wird es darum nicht weniger begleiten.78
Bei Mercier wird also sowohl mit als auch gegen Rousseau gedacht: Wo Rousseau nachhaltig bezweifelt, dass man „im Stück den Ton des Theaters dem Ton der Welt annähern könne“, also mit dem von Mercier zitierten Argument die Ablehnung des Theaters begründet, plädiert Mercier ganz im Gegenteil dafür, die soziale und politische Wirksamkeit des Trauerspiels zu intensivieren. Im Anschluss an die Rousseausche Theaterkritik fordert Mercier daher eine neue Wahrheit des Theaters, d. h. vor allem die Bereitschaft, die „Pflichten des bürgerlichen Lebens zu schildern.“79 70 71 72 73 74 75 76 77
Ebd., S. 380. Ebd., S. 199. Ebd. Ebd., S. 19. Ebd., S. 10. Ebd., S. 19. Auf die Einflüsse Rousseaus verweist auch Peter Pfaff, vgl.: Ebd., S. XIIIf. Wolfgang Wittkowski: Plädoyer für die Dramen Heinrich Leopold Wagners, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 35 (1994), 151–180. 78 Mercier: Neuer Versuch über die Schauspielkunst, a. a. O., S. 333. 79 Ebd., S. 137.
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„Die Kunst“, so heißt es, „ist aller Muthmaßung nach noch nicht auf ihrem Gipfel, weil noch nicht alle Stände der Einwohner gleich großen Gefallen daran finden.“80 Was man im französischen Theater, also in den „Tragödien des Korneille, des Racine, des Voltaire“, oder den „Komödien des Molière“ nicht finden könne, sei „das Gemälde unsrer jetzigen Sitten, das innre unsrer Häuser, dieses Innre, das einem Reich ist, was die Eingeweide dem menschlichen Körper sind.“81 Vor Mercier hat wohl kein Theoretiker des Trauerspiels derart intensiv dafür plädiert, die soziale und politische Wirksamkeit des Theaters zu intensivieren. Vor dem Hintergrund einer sich täglich ändernden Welt, in der das Alte für das Heutige zunehmend irrelevant geworden ist, verpflichtet Mercier das Theater also auf Aktualität und gegenwärtige Realität. Man solle dem Drama anmerken können, „in welchem Jahr es verfertiget ist.“82 Denn man habe zwar „die Alten studiert und hat wohl daran gethan; aber bey ihnen wird man keine detaillierte Kenntniß der jetzigen Menschen finden. Neue Generationen haben in diese moralische Existenz, in diesen Protheus, der, indem er entschlüpft alle Gestalten annimmt, große Veränderungen gebracht.“83. Mercier radikalisiert also die Lösung des Dramas von der Ständeklausel der klassischen Tragödie, und rückt an deren Stelle die Darstellung bürgerlichen Lebens. Wie wichtig diese Erneuerung wiederum für das Theater des Sturm und Drang war, zeigt vor allem jene Passage aus dem Versuch Merciers, die sich als unmittelbare Anweisung für Wagners Tragödie Die Kindermörderin von 1776 lesen lässt: Wenn du den Tag über gearbeitet hast, so meide jene glänzende Nachtschmaußereyen, wo man nur den Witz findet der an dem Tag oder vielmehr an dem Orte Mode ist: lade dich freundschaftlich beym ehrlichen Bürgersmann zu Gast, dessen unschuldige und bescheidene Tochter voll Freude deiner Ankunft entgegenlächelt. Hier wirst du ungeschminkte, sanfte, offne, mannichfaltige Sitten erblicken; hier siehst du das Gemälde des bürgerlichen Lebens, so wie Richardson und Fielding es sahn; hier siehst du vielleicht diese Stutzerchen en chenille als feine Betrüger in der Absicht erscheinen, den guten Alten zu prellen oder seine Tochter zu verführen. Dies ist der Augenblick, nimm deine Palette und laß jedem sein Recht widerfahren.84
Wagners Die Kindermörderinn (1776) Kein Theaterstück des Sturm und Drang hat so affirmativ auf die Theatertheorie Merciers reagiert wie die Tragödie Die Kindermörderin von Heinrich Leopold Wagner. Sie entstand 1776, also im Jahr von Wagners Übersetzung Merciers, und beschreibt, wie ein bürgerliches Mädchen durch eine ungewollte Schwangerschaft sowie die damit verbundenen Intrigen des Militäradels zur Ermordung ihres un80 81 82 83 84
Ebd., S. 4. Ebd., S. 135f. Ebd., S. 199f. Ebd., S. 198f. Ebd., S. 109f.
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ehelichen Kindes getrieben wird. Diese verzweifelte Kindermörderin ist Evchen Humbrecht, von dem adligen Leutnant von Gröningseck geschwängert und von dessen intrigantem Kollegen, Leutnant Hasenpoth, strategisch getäuscht. Zwar ist Leutnant von Gröningseck ein Mann von Ehre, was etwa seine unmittelbare Bereitschaft bezeugt, Evchen nach seiner regelrechten Vergewaltigung zu heiraten. Aber die Intrige seines Kameraden von Hasenpoth lässt einen an sich harmlosen Urlaub von Gröningsecks als Flucht vor der Verantwortung erscheinen: Eine Konstellation, die Wagners Titelheldin in einen Scham- und Schuldkonflikt treibt, der letztlich im Kindesmord endet. Wagner bedient sich dabei einer Thematik, die auch unsere bisher analysierten Theaterschauspiele stets neu variiert haben: Die ungleiche Liebesbeziehung zwischen den Ständen, die schon bei Regnard, Destouches, La Chaussée, Voltaire oder Lessing im Zentrum stand. Allerdings macht Wagner – anders als Lessing, und anders als nach ihm Jakob Michael Reinhold Lenz – keinen Gebrauch von der historischen Figur der Mätresse: Sein Evchen Humbrecht ist schlicht „zur Hure gemacht“85 worden, zur „Allerweltshure“86, deren mögliche Ehe mit dem Leutnant von Gröningseck keineswegs als Gunst erscheint, im Gegenteil: „Dein Vater war ein Bösewicht./ Hat deine Mutter zur Hure gemacht“87, so lautet jenes Lied, welches sie ihrem Neugeborenen kurz vor dessen Ermordung vorsingt. Der Grund für diese Einschätzung Evchens ist einerseits die fehlende Gewissheit, die sie bzgl. der durchaus vorhandenen Ehebereitschaft von Gröningsecks hat, und andererseits die äußerst rigide Moralvorstellung von Evchens dem einfachen Bürgertum entstammendem Vater. Weit deutlicher als Lessing lässt Wagners Tragödie erkennen, dass die schlimme Tat Evchen Humbrechts wesentlich von ihrem Vater zu verantworten ist, insofern dessen rigider bürgerlicher Ehrbegriff die Tochter in den Gewissenskonflikt treibt: In diesem Sinne liest sich Die Kindermörderinn als eine Zuspitzung des in Lessings Emilia Galotti angelegten Tugendrigorismus. So etwa ist Meister Humbrechts gemäß seiner bürgerlichen Standesethik davon überzeugt, dass „für Bürgersleut“ allein schon ein einfacher Ballbesuch verboten gehört.88 Wenn Vater Humbrecht am Ende des zweiten Aktes zudem die Geschichte eines in seinem Haus lebenden Mädchens erzählt, das von einem Sergeanten geschwängert wurde und deshalb ihm als dem Vermieter ein Dorn im Auge ist, dann verdeutlicht dies die drohende Gefahr, welche seine der Handwerkszunft entstammende rigide Moral auch für seine schwangere Tochter Evchen darstellt. Evchen kann in ihrer an sich schon schweren Lage vom eigenen Vater also keinerlei Hilfe, sondern allenfalls schwerste Sanktionen erwarten, was dem Vater anlässlich einer seiner häufigen Wutausbrüche von der Ehegattin allerdings auch vorgehalten wird: „kein Wunder, wenn sie sich vor dir fürchtet.“89 Denn Wagners Martin 85 86 87 88 89
Heinrich Leopold Wagner: Die Kindermörderin, Leipzig 1776, S. 21. Ebd., S. 78. Ebd., S. 112. Wagner: Kindermörderin, S. 20. Ebd., S. 48.
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Humbrecht ist nicht nur kompromislos, sondern überdies durchaus gewaltbereit: Als ihm im fünften Akt sein Vetter, der Magister, einen Brief vorlegt, aus dem Evchens Schwangerschaft und von Gröningsecks fehlende Heiratsbereitschaft hervorgeht – später wird sich dieser Brief als eine durch Hasenpoth initiierte Täuschung erweisen –, droht er paradoxerweise nicht dem Verführer, sondern der Tochter mit extremer körperlicher Sanktion: „die Rippen im Leib tret ich ihr entzwey, und ihrem Bastert dazu!“90 Zugleich aber ist er von einer ein wenig an Hebbels borstigen Tischler Meister Anton erinnenden Menschlichkeit geprägt, wenn er den Fausthammer (= Gerichtsknecht), der die von Frau Humbrecht „verlorene“ Tabaksdose überbringt, schwer verprügelt, da dieser einst ein bettelndes Kind zu Tode geprügelt hat, ohne dafür bestraft zu werden.91 Dass sein rigider Ehrbegriff sein ursprünglich humanes Empfinden jedoch letztlich überlagert, zeigt seine Reaktion auf die Enthüllungen des Fiskals über den ‚Verlust‘ einer Tabaksdose. Als dadurch bekannt wird, dass Gröningseck mit Frau Humbrecht und Evchen in einem Bordell war, will er seiner Frau an den Kragen: HUMBRECHT beißt die Zähne übereinander: Der Herr Beelzebub und seine lebendige Großmutter! – Bestie! den Hals dreh ich dir um – Will auf sie los, Fiskal tritt dazwischen. Jetzt gehn mir auf einmal die Augen auf: hat’s mir doch immer vom Teufel geträumt! – der verfluchte Ball! – Bestie, vermaledeite Bestie! hast deine Tochter zur Hure gemacht!92
Wagners Tragödie hat zudem seinen historischen Hintergrund in jenem vor allem durch die Figur des Gretchen aus Goethes Faust bekannten Fall der Kindsmörderin Margaretha Brandt, die 1772 in Frankfurt enthauptet wurde, weil sie nach einer Verführung durch einen Reisenden das neu geborene Kind getötet hatte, „um der Scham und dem Vorwurf der Leute zu entgehen“93, wie es in den Kommentaren zum Faust heißt. Die Kindstötung war also ein epochales Phänomen, ausgelöst durch eine den ledigen Müttern zu dieser Zeit drohenden Verachtung, einer Mischung aus Bannung durch die Kirche und sozialem Sturz ins Bodenlose. Angesichts dieser fehlenden Solidarität gingen offenbar viele junge Frauen der Zeit davon aus, durch Abtreibung oder Kindstötung diesem Schicksal entgehen zu können. Kennzeichnend für die Gesellschaft des 18. Jahrhunderts sind jedoch nicht nur die hohen Sanktionen für Kindermörderinnen, die eben in der Regel mit dem Schaffott endeten. Kennzeichnend ist auch die Spezifik der Schamkonflikte dieser Epoche, sind diese in den 1770er Jahren doch keineswegs Indikatoren einer symbolisch reproduzierten sozialen Ungleichheit, wie Sighard Neckel dies mit Blick auf moderne Schamkonflikte definierte.94 Scham ist vielmehr zu verstehen als 90 91 92 93
Ebd., S. 62. Ebd., S. 63. Ebd., S. 69. Johann Wolfgang von Goethe: Poetische Werke. Dramatische Dichtungen III. (= Berliner Ausgabe, Band 8), Berlin 1971, S. 751. 94 Vgl. Sighard Neckel: Status und Scham. Zur symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit, Frankfurt: Campus 1991.
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eine „Flucht vor öffentlicher Unehre“, wie es Matthias Luserke sehr anschaulich mit Blick auf die ab Mitte der 1770er Jahre einsetzende Diskussion der „Kindermorde“ im Rahmen der Mannheimer Preisfrage von 1780 beschrieben hat: Die Angst vor sozialer Schande bedeutete dabei im zeitgenössischen Diskurs mehr als Scham über das Geschehene, über die verbotene Sexualität. Angst vor sozialer Schande als Motiv für den Kindsmord meint hier, was die Autoren als Flucht vor öffentlicher Unehre oder ähnlich benennen. Diese und nicht die Scham wird als Hauptursache des Kindsmords angesehen. Mit Blick auf das historische Material scheint es so, als stellten sich bei den Kindsmörderinnen sowohl die Scham über den Tabubruch als Adaption eines bürgerlichen Konstrukts und Ideals wie auch das Bekenntnis der Furcht vor Schande erst als Verteidigungsstrategie im Prozess der juristischen Ahndung, unter dem Druck des Richters, des Arztes, des Pfarrers etc. ein, erst dann also, wenn mit weltlicher oder religiöser Bestrafung gedroht wird.95
Nach Luserke sei also die eigentliche Motivation für den Kindermord eine Art rigider Ehrenkodex, der zu einer Angst vor öffentlicher Schande führe, ausgelöst durch den „Druck des Richters, des Arztes, des Pfarrers“96. Nicht das internalisierte Sittlichkeitsideal, aber auch nicht der noch von Lessing oder Wieland so intensiv beschworene moral sense motiviere das schlechte Gewissen der beschuldigten Frauen, kein genuines Schamgefühl, sondern im Gegenteil die Angst vor „weltlicher oder religiöser Bestrafung“97. Diese Beobachtung ist freilich nicht auf Dramentexte, sondern auf die berühmte Mannheimer Preisfrage von 1780 bezogen, die da lautete: „Welches sind die besten ausgeführten Mittel, dem Kindermord abzuhelfen, ohne die Unzucht zu begünstigen?“ Die zeitgenössischen Antworten auf diese Frage scheinen – glaubt man Luserke – einer Geisteshaltung zu entstammen, die sich eher als Ehrkonflikt denn als Schamkonflikt beschreiben lässt. Der Zweitplatzierte Philipp Engel Klippstein etwa nannte „Scham für der Welt, Furcht für strengen Eltern und Verwandten und obrigkeitlicher Strafe, Haß gegen untreue Verführer und Mangel an Mittel sich und das unglückliche Kind zu erhalten“ als Ursachen für den Kindsmord.98 Unter Bezugnahme auf eine Arbeit Christian Begemanns deutet Luserke diese Schamkonflikte als Resultat einer drohenden sozial-religiösen Sanktion.99 In der Tragödie Die Kindermörderin geht es also primär um eine Bedrohung der Ehre, und zwar nicht allein der Ehre Evchens, sondern auch derjenigen ihrer Familie, den Humbrechts. Diese Bedrohung geht anfänglich aus der Kunst bzw. dem Vergnügen hervor: Leutnant Gröningseck führt Evchen und deren Mutter nach einem Fastnachtsball in ein „Wirtshaus“, dass allerdings ein Bordell darstellt. Während Evchen nie zuvor auf einem Ball war, da ihr Vater sie bisher nie aus dem Haus 95 Matthias Luserke: Medea. Studien zur Kulturgeschichte der Literatur, Tübingen und Basel: Francke-Verlag, S. 163. 96 Ebd. 97 Ebd. 98 Ebd. 99 Christian Begemann: Furcht und Angst im Prozess der Aufklärung. Zu Literatur und Bewußtseinsgeschichte des 18. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1987.
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gelassen – sie ist eine „simple Natur“100, die auch den Punsch nicht kennt101 –, lässt sich ihre Mutter Humbrecht hingegen von der Lebensform der höheren Schichten beeindrucken. Und weil „uns der Herr Leutnant so viel Ehr gezeigt“102, verkennt Mutter Humbrecht nicht nur den ominösen Ort des Geschehens, ein Bordell, sondern unterschätzt auch das wahre Ansinnen Gröningsecks, d. h. jenen Plan einer gewaltbereiten Verführung Evchens. Die Ehre der Humbrechts wird also durch Gröningseck bedroht, der zu Beginn eindeutig als rake auftritt. Er lebt das lasterhafte Leben des Adels, der etwa die Magd Marianel für den Beischlaf, aber auch für die Verabreichung des Schlafmittels an Evchens Mutter bezahlt. Er ist ein „Teufelskind“, ein gewissenloser Verführer, gegen dessen Annäherungen sich Evchen – anders als etwa Lessings Emilia Galotti – sehr vehement und bestimmt zur Wehr setzt: EVCHEN: Um Himmels willen sehn Sie mich nicht so an; ich kann’s nicht ausstehn. VON GRÖNINGSECK: Warum denn nicht, Närrchen? (Küßt ihr mit vieler Hitze die Hand, und sieht ihr bei jedem Kuß wieder starr in die Augen.) EVCHEN: Darum! – ich will nicht. – (Er will sie umarmen und küssen, sie sträubt sich, reißt sich los, und lauft der Kammer zu.) Mutter! Mutter, ich bin verloren. – VON GRÖNINGSECK (ihr nacheilend.) Du sollst mir doch nicht entlaufen! – (Schmeißt die Kammertür zu. Inwendig Getös; die alte Wirtin und Marianel kommen, stellen sich aber, als hörten sie nichts: nach und nach wird’s stiller.)103
Während es bei Lessing ein wohl eher lustvolles ‚Gequicke und Gekreusche‘ zu vernehmen gab, und Emilia von ihrem eigenen Begehren sprach, vollzieht sich bei Wagner zweifellos eine Vergewaltigung, wie schon Günter Saße mit Nachdruck und mit Recht betonte. Eben deshalb sieht Evchen in Gröningseck einen „Henkersknecht“, einen „Teufel in Engelsgestalt“, fühlt sich aber zugleich „zur Hure gemacht.“ Allerdings ändert sich dies, nachdem Gröningseck ihr verspricht, sie innerhalb von fünf Monaten, also mit dem Erreichen seiner Volljährigkeit, zu heiraten. Evchen nimmt das Angebot an, ja küsst ihn: weiß sie doch offenbar, dass sie so ihre Ehre wiederherzustellen in der Lage wäre. Um jedoch die Vertrauenswürdigkeit des Leutnants zu prüfen, lässt sie ihn versprechen, sie nicht mehr zu küssen, bis er sie zum Traualtar geführt haben wird. Es ist angesichts dieser zunächst versöhnlich scheinenden Wendung des Geschehens in der Forschung häufig gerätselt worden, warum sich Evchen Humbrecht am Ende so in ihr tragisches Schicksal flüchtet, warum sie die Verzeihung des Vaters oder die Ehe mit von Gröningseck nicht weit stärker ersehnt hat. Ist dies eine vermeidbare Kontingenz, also ein Zufall? Wenn also von Gröningseck früher von seinem zwei Monate währenden Heimaturlaub zurückgekehrt wäre, hätte Evchen ihr Kind dann nicht ermordet, sondern ihn geheiratet? Günter Saße hat in diesem Zusammenhang eine sehr bedenkenswerte Gegenthese formuliert. Evchen kalku100 101 102 103
Wagner: Kindermörderin, a.a.O., S. 35. Ebd., S. 13. Ebd., S. 14. Ebd., S. 16.
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liere bewusst dieses Scheitern ein, sowohl was eine mögliche Versöhnung mit dem ob ihrer Schwangerschaft empörten Vater als auch ihre Ehe mit Gröningseck anlangt. Sie verhindere geradezu, dass ihr Vater „ihrer Tat durch Verzeihung zuvorkommt“104, und löse sich im Laufe des Dramas sehr entschieden vom anfangs so euphorisch vernommenen Heiratsversprechen Gröningsecks: „Noch bevor sie ihr Kind tötet, entsagt sie entschieden der Heirat mit ihm.“105 Den Grund für diese Bereitschaft sieht Saße in Evchens Einsicht in die wahre Natur von Gröningsecks, die ihr von der Lohnwäscherin Frau Marthan eröffnet worden sei: Evchen sei in „ein Bordell gegangen“, und „da hat sie und der Uffezier der Mutter etwas zu trinken gegeben, daß sie einschlief“. Diese Information habe Evchens ursprünglichen Glauben, Gröningseck sei „von seinen Trieben übermannt worden“, durch das Wissen ersetzt, „daß v. Gröningsecks Verhalten in gezielter Manipulation bestand“106 bzw. er „ihre Vergewaltigung von langer Hand geplant hatte.“107 Die katastrophische Wirkung dieser Einsicht erklärt Saße dann durch das schichtspezifisch geltende Tabu der vorehelichen Sexualität: Während dieses Gebot in bäuerlichen und adligen Kreisen nicht strikt galt, war in der zünftigen Welt des Handwerks der Geschlechtsverkehr für Frauen rigoros an die Ehe gebunden. Das hängt mit dem hohen Stellenwert der ehrlichen Geburt zusammen, elementare Voraussetzung einer Existenz als zünftiger Handwerker oder als dessen Ehefrau. […] Meister Humbrecht ist als Sachverwalter zünftiger Ordnung dazu verpflichtet, deren Fundament, die ehrliche Geburt und die sexuelle Unbescholtenheit der Tochter – zwei Seiten einer Medaille –, strikt zu kontrollieren und bei Verstößen strikt zu ahnden.108
Ist mit diesen Hinweisen Saßes auf die besondere Tabuisierung vorehelicher Sexualität in der Handwerkszunft die Bereitschaft Evchens zum Kindsmord tatsächlich hinreichend erläutert? Die Erklärung für Evchens extreme Reaktion, für ihr Kind und sich selbst mit dem Leben abzuschließen, ohne die mögliche Wiederkehr Gröningsecks bzw. die mögliche Bereitschaft des Vaters zum Verzeihen abzuwarten, kann meines Erachtens nur bedingt durch diesen rechtlichen Hintergrund erklärt werden. Und auch die Verweise auf die besonderen Auflagen, die im 18. Jahrhundert für den Nachweis einer Vergewaltigung seitens der weiblichen Opfer aufzubringen waren – auf diese verweisen neben Arbeiten von Anke Meyer-Knees und Kirsten Peters auch Saße sowie Niels Werber109 –, können meines Erachtens Evchens Reaktion nicht hinreichend erklären. Frau Humbrecht etwa verteidigt ihren
104 105 106 107 108 109
Saße: Die Ordnung der Gefühle, a.a.O., S. 212. Ebd., S. 213. Ebd., S. 213f. Ebd., S. 221. Ebd., S. 219. Anke Meyer-Knees: Verführung und sexuelle Gewalt. Untersuchung zum medizinischen und juristischen Diskurs im 18. Jahrhundert, Tübingen 1992, S. 53. Vgl. auch: Kirsten Peters: Der Kindsmord als schöne Kunst betrachtet: eine motivgeschichtliche Untersuchung der Literatur des 18. Jahrhunderts, Würzburg 2001, S. 68.
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Ballbesuch – „gehn nicht so viel andre honette Laute auch drauf?“110 – und betont mit Nachdruck, dass ihr Gatte „noch ganz von der alten Welt“ sei, man können sich gar „nicht vorstellen, wie ich mein Kreuz mit ihm hab!“111 Sie teilt also keineswegs die ‚zünftigen‘ Tugendideale ihres Mannes. Insofern scheint sich die extreme Bereitschaft der Tochter, einen tödlichen Schuldkonflikt zu internalisieren, nicht allein aus den soziologischen, sondern zudem aus den ethisch-moralischen (Rousseau) bzw. poetologischen (Mercier) Voraussetzungen Wagners zu erklären.
Wagners rousseauistische Deutung der Scham Selbstverständlich reflektiert das Drama Wagners die sozialen Konflikte der 1770er Jahre, wie sie etwa in Lenzens Abhandlung Über die Soldatenehen, aber auch in der Mannheimer Preisfrage von 1780 nachlesbar sind. Es ist aber dennoch nicht auf diese zeitgenössischen Diskussionen reduzierbar, sondern verfolgt einen sehr eigenwilligen Diskurs, der mit einer bestimmten Deutung der Scham zusammenhängt. Wie genau sich Wagners Verständnis von Scham auf die Tragödie von Evchen Humbrecht auswirkt, darüber gibt eine zweite Begegnung zwischen Evchen und Gröningseck im vierten Akt Auskunft. Zu mitternächtlicher Stunde taucht Gröningseck in Evchens Schlafzimmer auf, um von ihr Abschied zu nehmen, da er für zwei Monate nach Hause reisen will. Dabei kommt es zu folgendem Dialog: EVCHEN: Sie verreisen? VON GRÖNINGSECK: So bald als möglich, um noch zu rechter Zeit wiederkommen, und Ihnen meine Hand anbieten zu können. EVCHEN: Ist das Ihr Ernst, Gröningseck? spricht Ihr Herz so? mich deucht, Sie schwuren mir’s schon ehmals. VON GRÖNINGSECK: Und wiederhol’s hier aufs feierlichste. – Ihrer beleidigten Tugend alle mir mögliche Genugtuung zu geben, war, sobald ich fand, daß Sie das nicht waren, für das ich Sie in meinem Leichtsinn versehn hatte, meine erste Empfindung, und wird auch da noch, wenn alle andren Empfindungen mit Blut und Atem stocken, meine letzte sein. – Möchte Sie dieses Versprechen doch in etwas beruhigen! Ich hab nur ein Wort.112
Der Schwur bestätigt Gröningsecks schon im unmittelbaren Anschluss an die gewaltsame Verführung Evchens formulierte Absicht, diese zu ehelichen, also sein Wort zu halten. Dann kommt Gröningseck jedoch seinerseits dazu, Evchen einen Wortbruch zu unterstellen: VON GRÖNINGSECK: Aber du, Evchen – hast mir nicht Wort gehalten. EVCHEN: Wieso! VON GRÖNINGSECK: Versprachst du mir nicht, dir Gewalt anzutun – dir nichts merken zu lassen! – 110 Wagner: Kindermörderin, a.a.O., S. 20. 111 Ebd., S. 23. 112 Ebd., S. 50f.
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EVCHEN: Es ist wahr, ich versprach, mir alle Mühe desfalls zu geben; tat’s auch, und – VON GRÖNINGSECK: Und doch kam ich niemals ins Zimmer, daß du nicht bis in die Augen rot geworden wärst! – War’s Zorn, Verachtung, Abscheu? EVCHEN: Das war’s nicht, Gröningseck! ich liebte Sie, so wie ich Sie kennenlernte, jetzt kann ich’s Ihnen sagen – sonst hätten Sie mich nicht so schwach gefunden – und kann Sie auch noch nicht hassen, wenn ich auch nie die Hoffnung hätte, die Ihrige zu werden: – aber den Gewissenswurm, der mir am Herzen nagt, zu ersticken, hab ich noch nicht gelernt! – wenn ich’s könnte, würde ich doppelt vor mir erröten.113
Mit dieser Äußerung lässt Evchen erkennen, dass sie Gröningseck schon seit ihrer ersten Begegnung liebte, und dass ihr Erröten eben diese Einsicht signalisiere. Es ist in der Forschung immer wieder gerätselt worden, wie dieses Eingeständnis angesichts der zuvor von Evchen als solches ausgesprochenen Vergewaltigung verstanden werden kann. Dabei hat sich eine von Anke Meyer-Knees entwickelte Erklärung durchgesetzt, dergemäß für einen Juristen oder Mediziner des 18. Jahrhunderts eine schwangere Frau nicht vergewaltigt worden sein konnte und eine vergewaltigte Frau nicht schwanger werde.114 Mir scheint jedoch an eben dieser Stelle der Einfluss Rousseaus unverkennbar, denn hier geht es ja um die weibliche Schamhaftigkeit, die Rousseau im fünften Buch des Emile wie gezeigt dem Verdacht der Koketterie aussetzte. Zum einen fügte Gott nach Ansicht Rousseau den weiblichen „Begierden die Scham bei, um sie in Schranken zu halten.“ Zugleich aber diene die weibliche „Sittsamkeit und Scham“ dem Ziel, „den Starken zu bezwingen.“115 „Verweigerungen aus Verstellung und Koketterie“ sei demnach „fast allen Weibchen, selbst unter den Tieren, gemeinsam […], auch wenn sie am geneigtesten sind, sich hinzugeben.“116 Anders gesagt: Obgleich die Schamhaftigkeit dem menschlichen Geschlecht natürlich ist, haben doch die Kinder von Natur keine. Die Schamhaftigkeit entsteht erst mit der Erkenntnis des Bösen, und wie sollten die Kinder, welche diese Erkenntnis nicht haben noch haben sollten, die Regung spüren, welche die Wirkung davon ist? Ihnen Lehren über Schamhaftigkeit und Ehrbarkeit geben, heißt sie lehren, dass es schändliche und unehrbare Dinge gibt; das heißt ihnen eine geheime Begierde beibringen, diese Dinge kennenzulernen. Sie kommen kurz oder lang dazu; und der erste Funken, den die Einbildungskraft auffängt, beschleunigt gewiss die Entzündung der Sinne. Wer errötet, ist schon schuldig, die wahre Unschuld schämt sich vor nichts.117
Rousseau hatte bereits im Brief an d’Alembert im Rahmen seiner Kritik an Molières Misanthrope mit Blick auf die Figur der Célimène Ansätze dieser Kritik der Koketterie formuliert: Célimènes Schamreaktion sei Zeichen einer Verstellungskunst, deren Ziel es ist, den Starken zu bezwingen. Der Frage, „Warum ... soll für eine 113 Ebd., S. 51. 114 Meyer-Knees: Verführung und sexuelle Gewalt, a.a.O., S. 53. Vgl. auch: Peters: Der Kindsmord als schöne Kunst betrachtet, a.a.O., S. 68. 115 Jean-Jacques Rousseau: Emil, a.a.O., S. 468. 116 Ebd., S. 468. 117 Ebd., S. 265.
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Frau beschämend sein, was es für den Mann nicht ist?“, wird von Rousseau der Hinweis auf ihre biologische Mutterschaft entgegengehalten: „Als ob all die strengen Pflichten der Frau nicht allein daher kämen, daß ein Kind einen Vater haben muß!“118 Freilich ist die These aus dem Émile – „Wer errötet, ist schon schuldig, die wahre Unschuld schämt sich vor nichts“ – weitaus radikaler. Aber sie umschreibt jenes Eingeständnis, welches Evchen Humbrecht sich und Gröningseck im vierten Akt macht: Entgegen der im ersten Akt formulierten Abmachung, „daß man meine Schande mir nicht auf der Stirne lesen soll“119, ist Evchen beim Wiedersehen „bis in die Augen rot geworden“. Warum? Die Antwort auf diese Frage führt all jene Anschuldigungen, die Evchen bis dato gegen ihren „Henkersknecht“ Gröningseck formulierte, quasi ad absurdum: „ich liebte Sie, so wie ich Sie kennenlernte, jetzt kann ich’s Ihnen sagen – sonst hätten Sie mich nicht so schwach gefunden.“120 Damit wird aus ihr nun plötzlich doch eine Variante der Emilia Galotti, also aus ihrer Unschuld eine vom Erröten indizierte, schuldbesetzte Bereitschaft zur ‚Sünde‘ im Sinne Rousseaus. Natürlich ist Evchen nicht kokett in dem Sinne, wie etwa Marie Wesener in Lenzens Die Soldaten als kokett geschildert wird. Evchen ist aus einem noch zu klärenden Grunde vielmehr hochgeradig melancholisch. Dennoch aber kann man annehmen, dass Rousseaus Kritik der weiblichen Koketterie bzw. die damit zusammenhängende Umdeutung der weiblichen Schamreaktion Wagner bekannt und nachdenkenswert war. Auffallend ist nämlich der hier erkennbare Paradigmenwechsel: Weder bei Rousseau noch bei Wagner ist die Schamreaktion ein Indikator von Anmut und Grazie, wie dies etwa noch ganz selbstverständlich bei Autoren der Anakreontik, bei Wieland oder dem jungen Lessing gedacht wurde. Wagner verwirft jene „tugendhafte Schüchternheit“, wie sie etwa die Miss Sara Sampson kannte: Bei ihm wird die Scham zu einem Schuldgeständnis, ist also weit davon entfernt, als Indikator einer spezifischen Sittlichkeit zu fungieren. Vielmehr erinnert Evchens Erröten an jene Szene aus Lessings Emilia Galotti, in welcher auch die Bürgertochter Emilia sich schämt, da sie sich ihrer Gefühle für Hettore Gonzaga bewusst zu sein scheint: Lessings Sara Sampson oder Gellerts Lottchen hätten so noch nicht empfunden, denn sie waren schüchtern aus Tugendhaftigkeit. Dennoch ist zu betonen, dass die Tragödie Wagners im Unterschied zu derjenigen Lessings einen Ehrkonflikt inszeniert, bei welchem die alten Formen der Höflichkeit vollkommen verloren gegangen sind, wie dies insbesondere in Wagners Portraitierung des Straßburger Militäradels zu beobachten ist. Denn dieser Militäradel erweist sich – im Unterschied zu Lessings Hettore Gonzaga – als äußerst ignorant gegenüber der Idee tugendhafter Empfindsamkeit, wie dies beispielhaft der dritte Akt zeigt. Nachdem der Major Lindsthal dem Leutnant von Gröningseck jenes Urlaubsgesuch bestätigt, welches diesen im vierten Akt Straßburg für einen zweimonatigen Heimaturlaub verlassen lässt, kommt es zu folgender Unterredung: 118 Rousseau: Brief an d’Alembert, a.a.O., S. 420. 119 Wagner: Kindermörderin, a.a.O., S. 18. 120 Ebd., S. 51.
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VON GRÖNINGSECK: Dank Ihnen für den Freundschaftsdienst – MAJOR: Wenn’s ein Freundschaftsdienst ist, wie ich wünsche, und wenn Sie’s dafür annehmen, so braucht’s keines Dankens; – man dankt für ein Almosen. VON GRÖNINGSECK: Ihre doppelte Güte beschämt – MAJOR: Paperla, paperla, pap; wieder ein andres dummes Wort, das ich mein Lebtag nicht leiden konnt: beschämen! – Ein hundsfüttischer Laffe, dem man ins Gesicht sagt, daß er ein Hundsfutt ist, der wird beschämt, kein ehrlicher Mann. […] MAJOR: Gewöhnen Sie sich dergleichen abgeschmackte Wörter ab, meine Herren! noch wird Sie’s wenig Müh kosten – ist aber ein falscher Handgriff einmal erst eingewurzelt, so hat man des Henkers Arbeit ihn wieder aus den Knochen zu bringen.121
Zweifellos reagiert der Major damit auf den Habitus Gröningsecks, der in der Tat durch seine galanten Gesten die Mitwelt zu beeindrucken versucht, indem er etwa französische Redewendungen einstreut: „Bald hätten wir das Beste übersehn, le diable m’emporte, c’est charmant; c’est divin!“122 Allerdings ist des Majors Geringschätzung der Beschämung als „abgeschmacktem Wort“ primär auf dessen eigene Vorstellungen von soldatischer Ehre zurückzuführen. Um eben diese Ehre gegenüber der Geste der Beschämung zu profilieren, erzählt der Major den Anwesenden eine Begebenheit, die er tags zuvor erlebt habe: Er wurde Zeuge, wie ein Leutnant namens Wallroth von Salis in einem Café dem Karten spielenden Offizier von Anhalt zu seinem Recht verhalf, indem er dessen Mitspieler und Kontrahenten, den Offizier von Lionnois, des Falschspiels bezichtigte. Als ihm daraufhin der beschuldigte von Lionnois eine „Maulschelle“ verpasst, erwartete Major Lindsthal eigentlich eine entsprechend gewaltsame Retour von Leutnant Wallroth. Dieser jedoch erstattete lediglich eine Anzeige, was der Major wie folgt kommentiert: MAJOR: Aber pardieu, nein! Wallroth ging zum Kommendanten, zeigte den ganzen Verlauf an, und so mußte der andre noch in der nämlichen Stunde ins Pontcouvert wandern. – Kassiert und mit Schand und Spott vom Regiment gejagt, ist’s wenigste, was ihm widerfahren wird. VON GRÖNINGSECK: Die Kanaille verdient’s auch! – und Wallroth – MAJOR: Wird bongré malgré auch quittieren müssen. MAGISTER: Wieso, Herr Major? hat er nicht als ein braver Mann gehandelt? MAJOR: Brav und nicht brav? das verstehn Sie nicht. Als ein recht braver Kerl hätt er nicht zum Kommendanten laufen; sondern seinem Mann das Weiße im Aug selbst weisen sollen. – Damit ich’s nun aussage; heut mittag kam Wallroth, wie wir schon unsrer dreizehn oder vierzehn am Tisch saßen, wie gewöhnlich auch in die Auberge; sowie er ins Zimmer trat, kehrt ihm sein Nachbar den Teller um: Er, als ob er’s nicht verstünde, setzt sich hin, und stellt ihn wieder zurecht. – Nun stand, grad als wenn sie sich alle das Wort gegeben hätten, einer nach dem andern auf, und ging zum Tempel hinaus: endlich packt ich mich auch fort, und – da hätten Sie die Fratze sehn sollen, die er machte; gemalt möcht ich sie haben! – Da könnte man sehn, wie dumm es läßt, wenn man beschämt ist.123 121 Ebd., S. 39. 122 Ebd., S. 7. 123 Ebd., S. 40f.
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Der genannte Leutnant Wallis hätte also besser daran getan, sich per Faustrecht statt per Strafrecht gegen den Offizier zur Wehr zu setzen. So habe er nun durch sein Handeln die ganze Kompanie gegen sich, die ihn mit dieser Geste isoliert bzw. beschämt habe. Allerdings dürfe es der Leutnant dabei eben nicht belassen, sondern müsse sich, um seine Ehre zu retten, nun mit der ganzen Kompanie duellieren. Dass dies eine Todesgefahr mit sich bringt, ist für den Major, welcher die Ehre höher achtet als das Leben124, ebenso zweitrangig wie die Tatsache, dass damit Leutnant Wallis, um seine Ehre zu behalten, einen Gesetzesbruch begehen würde: sind doch Duelle offiziell verboten. Der kritische Magister verweist eben deshalb auf die Doppelmoral der adligen Ehre, die nur durch das Duell wiederhergestellt werden könne, wohingegen die Todesstrafe, die den Duellanten erwartet, nicht als Schande gelte. Den äußerst gesetzestreuen Magister befremdet zudem der militärische Ehrencodex, wenn er darauf verweist, dass auch Soldaten Untertanen des Königs sind und somit seinen Gesetzen unterstehen.125 Das erkennt der Major zwar vorgeblich an, dennoch aber hält er die persönliche Ehre für wichtiger: MAJOR: Gar nicht unerhört! gar nicht; lieber das Leben als die Ehre verloren. – Das Schafott macht nicht unehrlich, sondern das Verbrechen, und ein Verbrechen, wozu man gezwungen wird, ist kein Verbrechen mehr. – Wenn ich in Wallroths Haut stäke, so schlüg ich mich, eh ich das auf mir sitzenließ, lieber mit der ganzen Garnison herum; mit einem nach dem andern versteht sich. – Und wenn er heut noch Satisfaktion von mir fordert, so soll er sie heut noch haben, wenn tausend Schafott und tausend Galgen daneben stünden. – – Wenn Sie, Herr Magister, alle Widersprüche heben, alles Krumm grad machen können, so tun Sie’s! – ich will Sie loben drum. A l’honneur, meine Herren!126
Vor dem Hintergrund dieser Soldatenehre ist auch und vor allem die Intrige des Leutnant von Hasenpoth zu erklären, wenn dieser im Namen der Ehre gegen das Tugendideal von Göningsecks vorgeht: „Wenn du mit all deinen überspannten Begriffen von Tugend sie zur Frau kriegst, so soll mich der Teufel, vier und zwanzigmal auf und ab durch die ganze Armee seiner dienstbaren Geister, Spießruthen laufen lassen!“127 Hasenpoth, der als „Compagnon de débauche“, also als Helfershelfer Gröningseck bei dessen „Ausschweifung“, also der Vergewaltigung, das „Schlafpülverchen“ besorgte, sieht in Evchen nicht jenen „Engel“, sondern ein „Weibsbild“, und will seinen Freund daher vor der Schande einer Mesalliance bewahren: Scheint ihm doch die Beziehung eines Leutnants zu einem bürgerlichen Mädchen eine „Narrheit“, weil „wider allen esprit de corps“.128 Nach der Heirat mit Evchen befände sich Gröningseck in der gleichen Lage wie der Leutnant in der Geschichte des Majors, da ihn seine Kommandanten peinlich meiden würden. Obwohl Evchen bereits von Gröningseck schwanger ist, räumt Hasenpoth der Sol124 125 126 127 128
Ebd., S. 42. Ebd., S. 41. Ebd., S. 43. Ebd., S. 45. Ebd., S. 33.
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datenehre einen höheren Stellenwert ein als der durchaus menschlichen bzw. einfühlenden Reaktion Gröningsecks. Hasenpoth verkörpert also den typischen Soldaten, während Gröningseck eine tugendhafte Wandlung vollzieht, in Evchen nun einen Engel und in Hasenpoth einen „Ausbund aller Libertins“129 erkennt.
Wagners Überwindung der poetischen Gerechtigkeit Wir haben in unseren bisherigen Ausführungen die Kultur der tendresse im Kontext einer Entwicklung erfasst, welche im Zeitalter des Absolutismus einsetzt und aus einer Überwindung des alten Feudalstaates hervorging. Die Zärtlichkeit begann im Frankreich des 17. Jahrhunderts mit der zunehmenden Verhofung des Adels, genauer gesagt des alten Schwertadels, der – abgesehen von den Möglichkeiten einer militärischen Karriere – unter Ludwig XIV. systematisch zu einer dekorativen Rolle am Hofe gezwungen, also systematisch entmächtigt wurde. Im letzten Kapitel konnten wir dagegen sehen, dass eben dieser Schwert- bzw. Militäradel in der Tragödie Wagners noch all jene groben Gepflogenheiten an den Tag legt, die er im französischen siècle classique angesichts des mächtiger und einflussreicher werdenden Amtsadel abzulegen begann. Diese Distanzierung ist jedoch durchaus programmatisch, insofern sich auch Wagner selbst – anders als Lessing – ganz bewusst über die Tradition der zärtlichen Empfindsamkeit hinweggesetzt hat. Kein Dramatiker des Sturm und Drang hat sein Unbehagen an der Tradition des zärtlichen Theaters so vehement formuliert wie Wagner. Dies zeigt sich mehr als deutlich in seiner wohl eher unfreiwilligen Umarbeitung der Kindermörderin unter dem Titel Evchen Humbrecht oder Ihr Mütter, merkt’s Euch, die drei Jahre nach der Erstveröffentlichung entstand. In dieser Version ist sich Evchen der Liebe und Heiratsbereitschaft Gröningseck bewusst, da dieser rechtzeitig von einer Reise zurückkehrt, zudem sind ihre Eltern – ähnlich wie Lessings Vater Sampson – zur Versöhnung mit der Tochter bereit, und schließlich erklärt auch von Gröningseck, dass er Evchen zur Frau nehmen und mit ihr auf seinem Anwesen leben möchte. Der entscheidende Unterschied liegt also darin, dass Evchen in der zweiten Version keine Hure, sondern bloß eine schon vor der Heirat geschwängerte Ehefrau ist. Wagner hat sich offensichtlich angesichts der harschen Kritik der Zeitgenossen an seiner Erstfassung dazu entschlossen, „den in der Kindermörderinn behandelten Stoff so zu modificiren, daß er auch in unsern delikaten tugendlallenden Zeiten auf unsrer sogenannten gereinigten Bühne mit Ehren erscheinen dörfe“130, wie es in seiner Vorrede heißt. Und nun kehrt die Zärtlichkeit mehrfach, ja geradezu plakativ wieder zurück, so etwa bestätigt die Figur des Magisters dem Evchen – hierin die Worte von Lessings Diener Waitwell aus Miss Sara Sampson wiederholend – die Liebe des Leutnants: „Gröningseck liebt sie noch ebenso zärtlich, als je; eine tödt-
129 Ebd., S. 35. 130 Ebd., S. 122.
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liche Krankheit hielt ihn ab, auf die bestimmte Zeit einzutreffen.“131 Und als dieser pünktlich – also vor der möglichen Ermordung des Neugeborenen – zurückkehrt, erklärt er seinerseits feierlich, dass er Evchen heiraten werde, wobei die Verwandten „Zeugen der Zärtlichkeit“ würden: Komm Evchen! Weib meines Herzens! Das warst du schon die ganze Zeit her, sollst es auch bald öffentlich vor den Augen der Welt werden. So bald wir kopulirt sind führ ich dich auf meine Güter, wo ich aus Vorsicht vorgegeben habe, ich wäre schon verheyrathet. Da will ich Zeitlebens allen meinen Witz, alle meine Geisteskräften aufbieten, dich so glücklich zu machen, als unaussprechlich unglücklich du beinahe durch mich geworden wärst. – Alle unsere Verwandten hier fordere ich auf von Zeit zu Zeit Zeugen der Zärtlichkeit zu seyn, mit der ich dir und der theuren Frucht unserer Liebe bis ins Grab begegnen werde. – Sie lieber Magister müssen uns begleiten; ihr freundschaftlicher Rath möge mir hie und da noch sehr nöthig seyn.132
Es ist offenkundig, dass Wagner dieses Ende als eine Art Kitsch empfand, als einen typischen Schlusssatz jener vom Publikumsgeschmack geforderten seichten Lehrstücke, wie sie zu diesem Zeitpunkt schon das Trivialdrama der Goethezeit produzierte.133 Dies zeigt meines Erachtens das ursprüngliche Ende der Tragödie, das eben nicht – im Unterschied zur überarbeiteten Fassung – versöhnlich endet. Als Gröningseck in der Erstfassung am Ende beschließt, Hasenpoth aus Rache umzubringen, auf Anraten des Magisters dann aber doch dazu tendiert, „diese arme Betrogne vom Schavott“134 zu retten, statt „Verbrechen mit Verbrechen zu häufen“135, endet die Tragödie mit einem offenen Schluss, da die Abführung Evchens nicht mehr dargestellt wird, sondern Gröningseck lediglich ankündigt, er werde in Versailles bei der gesetzgebenden Macht um Gnade für Evchen bitten. Dieses offene Ende scheint mir ganz eindeutig aus der Schauspielkunst Merciers abgeleitet zu sein: Der Dichter hätte Unrecht, wenn er immer zu verstehn geben wollte, als wenn die Unschuld erkannt und belohnt würde. Ich behaupte, daß er die Quellen des Mitleids und des Schreckens verschließen, das Gefühl der Theilnehmung, statt es so hoch als möglich hinaufzutreiben, nur schwach – berühren, uns nur für einen Augenblick beunruhigen, und diese hätige Empfindbarkeit, die immer neue Nahrung verlangt, ihrer Würkung bei rauben würde: noch mehr, er würde die Schaubühne der Welt ganz anders vorstellen als sie ist, er würde dem Menschen mehr versprechen, als ihm die Natur zugestanden hat; er würde ihn durch eine falsche und unnütze Lockspeise, welche die geringste Erfahrung kenntlich machen könnte, betrügen. Der Schriftsteller muß, wie die Tyranney, die uns hin und her stoßt, unerbittlich seyn, uns alle Leiden, die unsrer harren, entdecken, unsern Muth gegen die bevorstehende Uebel, die uns um ringen, stählen, er muß unser Aug gewöhnen die Auftritte dieses Lebens starr 131 Ebd., S. 129. 132 Ebd., S. 132. 133 Markus Krause: Das Trivialdrama der Goethezeit: 1780–1805. Produktion und Rezeption, Bonn 1982. 134 Wagner: Die Kindermörderin, a.a.O., S. 111. 135 Ebd.
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anzusehn, kurz, sich mit den dunkeln Tinten, aus welchen das jämmerliche Gemälde des menschlichen Zustands zusammengesetzt ist, bekannter zu machen. Dies Gemälde würde denjenigen gleichen, die Rembrant gezeichnet hat, schwarze Schatten stächen allerwärts hervor.136
Wie konsequent sich Wagner an dieses Plädoyer Merciers gehalten hat, verdeutlicht nicht allein das offene Ende der Tragödie, sondern vor allem die Bereitschaft, das „jämmerliche Gemälde des menschlichen Zustands“ durch „schwarze Schatten“ zu betonen. Denn am Ende hebt Evchen einen Wesenszug, ihre todbringende Melancholie hervor: „Sagt ich nicht, Gröningseck! mein Schicksal wäre mit Blut geschrieben?“137 Schon im zweiten Akt berichtet der Magister von Evchen besorgniserregender Gemütslage – „Beständig sitzt sie in ihrem Zimmer, die Melancholie frißt sie noch auf“138 –, die sich u.a. durch Evchens Lektüre von Youngs Night Thoughts zeige. Das entspricht offenbar genau ihrer Seelenlage, nimmt sie doch aus einer pessimistischen Lebensstimmung heraus Zuflucht zu christlicher Haltung und Jenseitserwartung im Sinne jener nächtlichen Gedanken ‚on Life, Death and Immortality‘, wie es im Untertitel bei Young heißt. Für ihre Mitwelt ist diese Art der Melancholie freilich nur ärgerlich, weshalb Evchens Mutter die Tochter dazu anhält, „das ewige Geächz und Gekrächz zu unterlassen.“139 Der Mutter Sorge ob der Gründe dieser Verstimmung habe nach Ansicht Evchens jedoch „sehr viel dazu beigetragen, meine Melancholie oder Kopfhängerei, wie Sie’s nennt, zu vermehren“140, daher solle die Mutter sie „nur auf ein Weilchen“ gewähren lassen. Evchen erwartet also eine Einlösung des Versprechens Gröningsecks, zeigt jedoch zugleich, dass sie bereits jenes tragische Ende im Sinne ihres eigenen Untergangs vor Augen hat: EVCHEN: Probier Sie’s einmal, Mutter! laß Sie mich ein Weilchen in meiner Träumerei so hinschlendern, tu Sie, als bemerkte Sie’s gar nicht, überlaß Sie mich mir selbst, bered Sie den Vater es auch zu tun; nur auf ein Weilchen! vielleicht hebt sich alles – es muß sich heben, und dann bin ich ganz wieder Ihre Tochter, oder – FRAU HUMBRECHT: Oder? – EVCHEN: Ein Kind des Tods. FRAU HUMBRECHT: Wieder ein neuer Stich ins Herz! – O Evchen! Evchen! Du wirst uns noch ins Grab bringen.141
Wie konsequent sich Wagner an Merciers Kritk der poetischen Gerechtigkeit im Namen der antiken Tragödie gehalten hat, verdeutlicht aber schon der sechste Akt, der im außer- bzw. unterbürgerlichen Milieu, im armseligen Zimmer der Lohnwäscherin Frau Marthan spielt. Evchen hat ihr Kind zur Welt gebracht und bei Frau Marthan Zuflucht gefunden. Dass diese, obgleich selbst in großer Armut lebend, 136 137 138 139 140 141
Mercier: Neuer Versuch über die Schauspielkunst, a.a.O., S. 328f. Wagner: Kindermörderin, S. 85. Ebd., S. 36f. Ebd., S. 46. Ebd., S. 47. Ebd.
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ein schwangeres Mädchen bei sich aufnimmt, zeugt von ihrer Vorurteilslosigkeit und spontanen Menschlichkeit. Es ist ganz offenkundig, dass Evchen im sechsten Akt ein Schicksal imaginiert, welches eben jenen Schreckensszenarien antiker Dramen entlehnt ist, wie sie bei Mercier im Rahmen seiner Distanzierung poetischer Gerechtigkeit erinnert werden: Die „Alten“, so heißt es in der Übersetzung Wagners, „ließen den Unwillen in dem Busen der Zuschauer keimen und Wurzel faßen: Hekuba, Ajax, Herkules sterben unter den Martern“. Insofern solle man vom „Dichter nicht länger „verlangen, daß er das Laster immer strafe; wenn ers verabscheut, so mag er ungestraft seinen Triumph schildern; die Schande wird es darum nicht weniger begleiten.“142 Eben diese Martern imaginiert zweifellos auch Evchen, wenn sie von der Wäscherin Frau Marthan erfährt, dass ihre Mutter, nachdem Evchens Schande stadtbekannt wurde, sich in den Fluss gestürzt habe: „gestern früh hat man sie in der Wanzenau gefunden.“143 Denn nun erwägt Frau Marthan, die Evchens wahre Identität zu diesem Zeitpunkt noch nicht kennt, dass Mutter Humbrechts Tochter möglicherweise als abschreckendes Beispiel durch die Stadt geschleift werde, wie es einst mit einem stadtbekannten Muttermörder gemacht worden sei. An diesen Fall erinnert sich Evchen in einer grell-phantastischen Vision, die ihr eigenes Schicksal mit den grausamen Martern antiker Dramen überblendet: EVCHEN: Muttermörder! gibt’s Muttermörder? FRAU MARTHAN: Ob’s ihrer gibt? wie das gefragt ist! – Weiß Sie denn nit mehr, der Kerl, wie hieß er doch? der seiner Mutter die Gurgel wollt abschneiden – EVCHEN: Ja, ja! ich besinn mich; – seine Mutter war eine Hure, er ein Bastert, im Bordell gezeugt, das warf ihm einer im Trunk vor, da gab er seiner Mutter den Lohn, der ihr gebührte; – ich erinner mich’s gar wohl. FRAU MARTHAN: Beileibe nicht! – Sie ist ganz irr dran – er wollte Geld von ihr haben. EVCHEN: Recht! recht! – er hatte Hunger und Durst; wollte sich einen Milchweck kaufen und ein Glas Bier dazu, die Mutter konnt’s ihm nicht geben, da wollt er ihr das Geld aus den Rippen schneiden – und das ward ihm versalzen! FRAU MARTHAN: Ist Sie närrisch? – bald förcht ich mich allein bei Ihr zu bleiben. – Ich will’s Ihr besser sagen, wie’s zuging. Er war von Jugend auf ein böser Bub, vertat seiner Mutter viel Geld, sie war eine kreuzbrave Frau, ich hab ihr zehn Jahr wäschen helfen, bis mich die Anne Mey ausbiß, wie das zuging, das will ich Ihr ein andermal erzählen, es ging um einen lumpichten mußlinenen Halsstrich an, der mir beim Ausschwenken davonschwamm – da ging er nun unter die Kaiserlichen, und von da, denk ein Seelenmensch! – gar unter die Preußen; disertierte aber auch da, und kam wieder heim. – Da triblierte er nun seine Mutter so lang, bis sie ihm endlich von Obrigkeits wegen das Haus verbieten ließ, denn er hat sie mehr als einmal wie einen Hund durchgeprügelt: – Damit war denn alles gut ein paar Wochen lang, da kam er einmal ’s morgens früh wieder, und gab die besten Worte, versprach recht ordentlich zu sein, und kurz, er bat wieder um gut Wetter. – Sein Mutter, die sich nichts Bös träumen ließ, fing an die bittern Tränen zu weinen, und greift in Sack und gibt ihm einen ganzen kleinen Taler – „’s ist viel Geld schon, ich verdien in vier Tagen manchmal so viel nit« – Drauf schickt er – weiß nit mehr, was er für einen Pretext nahm, die 142 Mercier: Neuer Versuch über die Schauspielkunst, a. a. O., S. 333. 143 Ebd., S. 74.
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Magd fort; und, kaum daß er allein war, fällt er mit einem Schermesser über sein Mutter her, und will ihr den Hals abschneiden; – die wehrte sich denn um ihr Leben, wie Sie leicht denken kann, so gut als möglich, schrie, was sie schreien konnt, und bekam zwei Schnitt in die Hand, und einen – aber nit gefährlich – in die Gurgel. – Drüber liefen die Hausleut hinzu, und zeigten denn, wie nit mehr als billig ist, die schöne Geschichte halt an. – Und sieht Sie, was ihm noch am meisten den Hals gebrochen hat, war, daß er das Schermesser, damit es nit zurückschnappen sollt, hinten am Stiel mit Bindfaden zusammengebunden hatte. – Wie er denn nun trapiert war, und alles eingestanden hatte, und wie’s schon drauf und dran war, daß ihm sein Urteil sollt gesprochen und sein Recht angetan werden, so ließ er sich zwei Tag vorher noch gar vom Satan, Gott sei bei uns! blenden, und tat sich im Turn mit eigner Hand ein Leids an. – Da ging’s ihm dann, wie ich gesagt habe. – Sein Vetter, der Ratsherr, ein grundreicher Mann dort in der langen Straß, hätt tausend Taler darum gegeben, wenn er’s dahin hätt bringen können, daß er in der Still wär begraben worden. So mußt er aber den Spektakel selbst mit ansehn, wie er vor dem Haus durch den Schinder vorbeigeschleift wurde. Der Kopf plozte hinten auf den Steinen auf, daß man’s nit mit ansehn konnte. – Es war greulich, wie ich Ihr sage. – Aber so Leuten geschicht’s ganz recht, warum beten sie nicht? – – Mit vielbedeutender Miene. Ich förcht, ich förcht, es möcht Ihrer Mamsell, bei der Sie war, auch nicht besser gehn. Sie ist so gut eine Muttermörderin, als – EVCHEN die während obiger Erzählung, wie sinnlos auf dem Bette saß, und nur ihr Kind anstarrte, auffahrend: Muttermörderin! – ich eine Muttermörderin?144
Als schließlich der Magister Evchen und ihren Vater über Hasenpoths Intrige aufklärt, impliziert dies für Evchen freilich auch, dass sie die alleinige Schuld am Kindsmord trägt, wie auch ihrem Vater angesichts der zerstörten Ehre der bürgerlichen Familie nur noch der Freitod durch die Einnahme von „Rattenpulver“145 bleibt. Dieser radikale Verzicht auf poetische Gerechtigkeit fehlt in der überarbeiteten Fassung. Zudem ist anzunehmen, dass der äußerst plakative Titel der Zweitfassung Ausdruck einer unfreiwilligen Verschlimmbesserung ist: Evchen Humbrecht oder Ihr Mütter, merkt’s Euch! Wer wäre damit angesprochen, wenn nicht jene zukünftige, da geschwängerte Mutter Evchen Humbrecht, die in der überarbeiteten Version nun gar vom eigenen Vater den Hinweis bekommt, dass die Tugend nicht herausgefordert werden sollte: „selten nur gelingts einem von so vielen am ende, wie dir, mit einem blauen Auge davon zu kommen. Merke dirs! – Wenns auch nur für deine künftige Tochter wäre.“146 Damit ist die ursprüngliche Fassung, die ja eine Kritik der rigiden väterlichen Moral entfaltete, schlicht ad absurdum geführt. In der überarbeiteten Fassung werden die Erziehungsvorstellungen des Vaters mit einer Art zynischer Geste affirmiert, und somit jener Erziehungskonzeption kontrastiert, welche Wagner noch in der ursprünglichen Fassung bevorzugte. Ein Gedankenexperiment mag dies verdeutlichen, denn man hätte der ersten Fassung durchaus den Untertitel Die Kindermörderin oder: Ihr Väter, merkt’s Euch! geben können. Während die ‚zähneknirschende‘ Überarbeitung in Evchen die Schuldige 144 Wagner: Kindermörderin, a.a.O., S. 98ff. 145 Ebd., S. 110. 146 Ebd., S. 133.
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sucht, formuliert die ursprüngliche Tragödie eine Kritik an den Erziehungsmethoden des Vaters, die von seiner Gattin, aber auch von seinem Vetter, dem Magister Humbrecht kontrovers diskutiert werden. Im Kommentar zur überarbeiteten Fassung ist dies deutlich ausgesprochen, wenn Wagner bemerkt, er habe notgedrungen jenen „süssen Traum“ einer Tragödie aufgegeben, die – in der ursprünglichen Fassung – einer neuartigen bzw. modernen Didaktik gefolgt sei: In unsern gleißnerischen Tagen, wo alles Komödiant ist, kann die Schaubühne freilich, wie ihr schon mehrmalen vorgeworfen worden, keine Schule der Sitten werden; dies von ihr zu erwarten müssen wir erst dem Stande der unverderbten Natur wieder näher rücken, von dem wir Weltenweit entfernet sind.147
Diese von Wagner im Vorwort zur Überarbeitung als gescheitert eingeschätzte „Schule der Sitten“ beruft sich auf die Reformpädagogik Rousseaus, wie neben der Formulierung vom „Stande der unverderbten Natur“ auch die Figurenkonstellation der Tragödie selbst verdeutlicht. Denn die Gegenfigur zum Vater ist in der ursprünglichen Fassung der Kindermörderin der Magister Humbrecht, Vetter des Hausherren und Vertreter dieser neuen Didaktik. Deren Argumente entstammen primär aus Rousseaus 1750 verfasstem Discours qui a remporté le prix à l’académie de Dijon, also dem berühmten Traktat zur Beantwortung der Frage, ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und der Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen habe.
Die rousseauistische Didaktik des Magisters Bekanntlich versuchte Rousseau in seinem Discours qui a remporté le prix à l’académie de Dijon anhand historischer Beispiele zu beweisen, dass zunehmende Zivilisation und Gelehrsamkeit stets zu Lasterhaftigkeit und Ungleichheit unter den ursprünglich natürlichen und tugendhaften Menschen geführt hätten. Eine fortschreitende Aufklärung hätte also Argwohn, Hass und Verrat mit sich gebracht, wie Rousseau durch einen Vergleich des athenischen und des spartanischen Staates zu belegen versuchte: Die Blüte der griechischen Wissenschaften und Künste in Athen habe mit einem Sittenzerfall geendet, während in Sparta, wo man Gelehrte und Künstler davonjagte, eine einfache Lebensführung die Bürger zu heroischen Taten befähigt habe. Die spartanische Erziehung bezeichnet Rousseau mehrfach als musterhaft, so etwa erziehe man die Jungen zu moralfreien Dieben und zu späteren tapferen Soldaten: Habe ich vergessen, daß im eigentlichen Schoße Griechenlands jene Stadt emporwuchs, die sowohl durch ihre glückliche Unwissenheit wie durch die Weisheit ihrer Gesetze berühmt ist. – jene Republik eher von Halbgöttern denn von Menschen – so sehr schienen ihre Tugenden denen der Menschheit überlegen zu sein. O Sparta, dauernder Gegenbeweis gegen eine eitle Doktrin! Während – geführt von den schö147 Ebd., S. 121.
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nen Künsten – die Laster in Athen zusammen ihren Einzug hielten und dort ein Tyrann mit so viel Eifer die Werke des Dichterkönigs sammelte, jagtest du die Künste und die Künstler, die Wissenschaften und die Gelehrten aus deinen Mauern.148
Wenn Rousseau Sparta zum Gegenpol athenischer Bildung und Philosophie stilisiert, dann werden die Spartaner in erster Linie an ihren heroischen Taten und an ihrer Tugend gemessen. Die zivilisierte Gesellschaft Athens hingegen überdecke mit ihrer Höflichkeit und verlogenen ‚Feinheit‘ lediglich ihre tatsächliche Rohheit und Unsittlichkeit. Auch im Émile ou De l’éducation von 1762 hat Rousseau diesen Gedanken fortgeführt, nunmehr jedoch mit Blick auf die im Émile entwickelte Reformpädagogik, nach welcher die ‚natürliche Erziehung‘ des Kindes an die Stelle der schädlichen traditionellen Erziehungsmethoden treten solle. Da die natürlichen Instinkte, die ersten Eindrücke und Gefühle und die spontanen frühesten Schlussfolgerungen, mit denen der Mensch auf seine Umwelt, die Natur, reagiert, seine besten Lehrmeister und Führer zu richtigem Verhalten seien, komme es vor allem darauf an, diese instinktiven Reaktionen des Kindes zu beobachten, sie zu fördern und zu entwickeln, statt sie, wie man es bisher tat, durch eine falsche Erziehung zu unterbinden. Diese ‚negative Erziehung‘ vermittelt keine Tugenden, doch schütze sie gegen das Laster, sie lehrt keine Wahrheiten, doch bewahre sie vor Irrtümern; sie entwickele im Kind jedoch die Fähigkeit, der Wahrheit und dem Guten zu folgen, sobald sein Verstand in der Lage sei, beide zu erkennen und zu lieben: Ich predige euch eine schwere Kunst, ihr jungen Lehrer, nämlich beherrschen ohne Vorschriften zu geben und durch Nichtstun alles zu tun. Ich gebe zu, daß diese Kunst nicht eures Alters ist, ihr könnt dabei nicht sofort mit euren Talenten brillieren und den Vätern Eindruck machen. Aber sie ist die einzige, die Erfolg verspricht. Nie wird es euch gelingen, einen Weisen zu schaffen, wenn ihr nicht zunächst einen Gassenjungen geschaffen habt. Das war die Erziehung der Spartaner; anstatt die Kinder hinter die Bücher zu setzen, brachte man ihnen zunächst bei, wie sie sich ihr Mittagessen stehlen konnten. Waren deshalb die Spartaner roh, wenn sie erwachsen waren? Wer kennt nicht die Treffsicherheit und Würze ihrer Entgegnungen? Immer zum Sieger bestimmt, vernichteten sie ihre Feinde in jeglicher Art von Krieg, und die geschwätzigen Athener fürchteten ebensosehr ihre Worte wie ihre Streiche.149
Eben diese Argumente vertritt in der Tragödie Wagners der Magister Humbrecht mit seinen für einen Geistlichen äußerst ungewöhnlichen Ansichten. Diese sind für die Tragödie insofern entscheidend, als sie das eigentliche Skandalon des ersten Aktes kommentieren: Den umstrittenen Ballbesuch von Mutter und Tochter. Bekanntlich wird Evchen zu Beginn mitsamt ihrer Mutter vom Leutnant Gröningseck nach einem Ball in ein Bordell geführt. Dort verabreicht Gröningseck der Mutter einen Schlaftrunk, vergewaltigt die Tochter, verspricht ihr, sie zu heiraten, 148 Jean-Jacques Rousseau: Über Kunst und Wissenschaft. Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, übersetzt von Kurt Weigand, Hamburg 1955, S. 21. 149 Jean-Jacques Rousseau: Emile oder Über die Erziehung, dt. Fassung nach der Edition von Martin Rang, aus dem Französischen unter Mitarbeit des Herausgebers übertragen von Eleonore Sckommodau, Stuttgart 1998, S. 264f.
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verlässt jedoch bald darauf die Stadt Straßburg, um sich auf Heimaturlaub zu begeben. Vor diesem Hintergrund kommt es im Hause der Humbrechts zu einem sehr lautstarken Disput über das Ballgehen, die Gattin lasse der Tochter „zu viel Freyheit“, so der Vorwurf von Metzger Humbrecht. Der Vetter des Hausherrn, also der Magister, kann hingegen im Tanz nichts Sündliches erkennen, wie er in deutlicher Anlehnung an die Reformpädagogik Rousseaus erklärt: MAGISTER: So würd ich, wollt ich sagen, in diesen Jahren meinen Eleven auf eine Manier behandeln, die der gewöhnlichen grad entgegen gesetzt ist. – Statt ihn in seiner Unwissenheit auf gut Glück einem bloßen Ungefähr – das unter zwanzigen gewiß neunzehn irre führt – zu überlassen; würde ich ihm den ganzen Adel, die ganze Größe seiner Bestimmung begreiflich zu machen bedacht seyn. V. GRÖNINGSECK: Das haben schon mehrere vorgeschlagen! MAGISTER: Noch mehr! – ihm auf Zeitlebens vor allen Vergehungen dieser Art einen schaudernden Ekel beizubringen, würde ich – wie die Spartaner ihre junge Leute vor dem Laster der Trunkenheit zu warnen, ihnen ein paar trunkne Sklaven zum Gespötte Preis gaben – so würde ich meinen Eleven selbst an die zügellosesten und ausgelaßensten Örter begleiten: das freche, eigennützige niederträchtige Betragen solcher feilen Buhldirnen müßte auf sein zartes noch unverdorbenes Herz ganz gewiß einen unauslöschlichen Eindruck machen, den keine Verführung jemals auslöschen könnte. V. GRÖNINGSECK: Sie können vielleicht Recht haben: – bey alle dem aber scheint mir die Kur verdammt scharf.150
Mit diesen durchaus revolutionären Gedanken über Pädagogik und Erziehung begibt sich der Magister nach eigener Aussage in die Gefahr, politisch „verfolgt“ zu werden. Dass man Jugendliche in alle Stätten des Lasters und in Lazarette und Krankenhäuser führen müsse, um ihnen für ihr ganzes Leben einen Ekel und Abscheu vor dem Laster und seinen Folgen einzugeben, entspricht zwar den Überlegungen Rousseaus151, widerspricht aber eben deshalb im hohen Maße den Grundüberzeugungen des 18. Jahrhunderts. Jedoch ist der Magister selbst ein begeisterter Ballgänger, nach seiner Ansicht gäbe es gar weniger „übertriebene Zeloten“ und „Religionsspötter“ im Land, wenn die Geistlichkeit ihrem Recht auf Vergnügungen nicht entsagte.152 Es gelte also ganz im Sinne Rousseaus, den Jünglingen deren 150 Wagner: Kindermörderin, a.a.O., S. 26. 151 Das vom Magister entlehnte Beispiel stammt allerdings aus Plutarchs Bioi parallēloi, also den biographischen Skizzen Plutarchs. Nach Plutarch sollen die guten Charaktere den Leser und den Autor zur Nachahmung anspornen, die schlechten aber von ähnlichen Taten abschrecken, wie dies der Einleitung der Demetrios-Biographie zu ennehmen ist, der das Beispiel des Magisters entlehnt scheint. Damit wird der Magister jedoch nicht zum Anhänger Plutarchs. Denn zugleich ist er – wie Rousseau – ein Anhänger der Stoiker und deren Lehre von den Adiaphora als jenen Dingen, die in ethischer Hinsicht neutral sind, sich also einer Zuordnung als gut oder böse entziehen. Eben diese Lehre wird jedoch von Plutarch in dessen Traktat Hoti paradoxotera hoi Stōikoi tōn poiētōn legusi (Die Stoiker sagen Widersinnigeres als die Dichter) ironisch distanziert, vgl.: E. König, K. H. Hülser: Adiaphora, in: Jürgen Mittelstraß (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Band 1. 2. Auflage. Metzler, Stuttgart 2005. 152 Wagner: Kindermörderin, S. 26. Nur „in Frankreich, oder auch an den geistlichen Höfen Teutschlands“ wisse man, „daß Prälaten vom ersten Rang ihrem Anspruch, den sie auf alle menschliche erlaubte Vergnügungen zu machen berechtigt sind, keineswegs entsagen.“
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Adolszenz in ihrer Größe, ihrem „Adel“ begreiflich zu machen, statt die Adolszenz mitsamt ihrem erwachenden Begehren als „Stein des Anstoßes“ moralisch zu verurteilen. Machen diese an Rousseau erinnernden pädagogischen und kirchenreformerischen Ideen den Magister zum Sprachrohr des Verfassers Wagner? Und richtet sich diese rousseauistische Moral, die in der gesamten Epoche des Sturm und Drang entdeckt wird, in der Tragödie eher gegen die Vertreter des Bürgertums oder gegen diejenigen des (Militär-)Adels? Eine Antwort auf diese Fragen liefert die im Drama selbst entfaltete Beziehungskonstellation: Der Leutnant Gröningseck schließt Freundschaft mit dem Magister – „wir müssen uns mehr sprechen, schlagen sie ein!“153 –, während Metzger Martin Humbrecht ob der Ansichten seines Vetters ganz irre wird und erbost das Haus verlässt.154 Gröningseck begegnet dem Magister zunächst geringschätzig, zeigt sich aber insbesondere von der „Ballerfahrung“ des Magisters beeindruckt, welche nicht seinem Vorurteil von einem Geistlichen entspricht: „das hätt ich wahrlich nicht hinter ihnen gesucht.“155 Zugleich aber ist der Magister auch ein scharfer Kritiker der im dritten Akt von Major Lindsthal formulierten Ansicht, nach welcher das Prinzip der Soldatenehre den Ehrenmord legitimiere: MAGISTER: Aber – die Duelle sind ja verboten? MAJOR: Verboten? – Pah! das Verbot gilt uns nicht! – gilt keinem Kriegsmann! MAGISTER: Sie erlauben, Herr Major! sind Sie nicht auch Bürger des Staats, Untertanen des Königs, so gut wie andre? und schwören nicht unsre Könige bei der Krönung keinem Duellanten, ohne Ausnahm Pardon zu geben?156
Der Magister zeichnet sich so einerseits durch seine Akzeptanz der Obrigkeit, andererseits durch seine versöhnende Grundhaltung aus: Sein Vetter hat auf sein Anraten hin der Tochter verziehen157, und Leutnant Gröningseck verzichtet auf sein Anraten hin auf eine Rache an Hasenpoth und konzentriert sich stattdessen auf eine Rettung Evchens vor dem Schaffott.158
Drei Selbstmörderinnen aus bürgerlichem Hause: Sprickmanns Eulalia, Möllers Henriette, Brandes’ Ottilie Die Theaterkritik Rousseaus hat deshalb zum Sturm und Drang Drama geführt, weil sich mit Rousseau zum einen die soziale Realität im Medium des Theaters erhöhte, und zum anderen Rousseaus noch von Sulzer verspottete Forderung einlöst 153 154 155 156 157 158
Ebd., S. 27. Ebd., S. 22f. Ebd., S. 25. Ebd., S. 41. Ebd., S. 80. Ebd., S. 84.
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wurde, welche darin bestand, die „Nationalsitten und Meynungen anzugreifen.“159 Auch wenn Ralph-Rainer Wuthenow Recht zu geben ist, dass sich Rousseaus Wirkung unschwer feststellen lasse, schwierig bzw. fast unmöglich jedoch deren Nachweis anhand eindeutiger Belegstellen sei160: Mit Rousseau endet dennoch die im siècle classique einsetzende Geschichte des zärtlichen Theaters. Wir erkennen diesen Verlust bzw. diese Überwindung der Zärtlichkeit auch und vor allem an den sich ändernden Heldinnen: Die Heroinen des Sturm-und-Drang-Dramas wie etwa Klingers Malgen, Wagners Evchen Humbrecht oder Lenzens Marie Wesener haben ein der Rousseauschen Weiblichkeitskritik geschuldetes Perönlichkeitsprofil, welches sie von den Heroinen Lessings oder Gellerts deutlich unterscheidet. Dies gilt auch für weitere Dramen der späten 1770er Jahre, wenn wir an Heinrich Ferdinand Möller, Johann Christian Brandes oder Anton Mathias Sprickmann denken. Auch wenn der Jargon der Zärtlichkeit in deren Dramen weiterhin gepflegt wird, ist ein Verlust jenes didaktischen Gehaltes unverkennbar, den etwa Gellerts Lustspiel noch kannte. Bei Möller, Brandes und Sprickmann entwickelt sich eine Dramaturgie der Überbietung, die den didaktischen Gehalt der Zärtlichkeit im Sinne etwa der zärtlichen Schwestern immer schon transzendiert. Deutlich wird dies anhand einer Motivik, die sich in all den von uns bisher untersuchten Komödien und Tragödien nicht finden ließ, wohl aber in Möller Heinrich und Henriette, Brandes’ Ottilie und Sprickmanns Eulalia: Der weibliche Selbstmord. Wenn wir uns daran erinnern, wie schwer sich Moses Mendelssohn in seinen Briefen über die Empfindungen tat, den im England um die Mitte des 18. Jahrhunderts diskutierten Selbstmord am Beispiel männlicher Helden wie Voltaires Orosmane und Lessings Mellefont moralisch zu entschuldigen bzw. zu legitimieren, dann wird der sich ab den späten 1770er Jahren im Sturm-und-Drang-Drama vollziehende Wandel noch deutlicher. Denn nun entsteht aus der zunehmenden Polarisierung von verführendem Adel und tugendhaftem Bürgertum ein Opferdispositiv, das eben diesen noch bei Mendelssohn als Tabu diskutierten Selbstmord auf der Bühne legitim erscheinen lässt. Dass die Heroine sich aus Verzweiflung das Leben nimmt, ist ein den Rahmen der Rührung wahrlich sprengender Vorgang, der beklemmend wirkt und offenbar auch beklemmen soll. Dabei nimmt das erste Trauerspiel dieses Typs, Anton Mathias Sprickmanns Eulalia von 1777, Bezug auf Lessings Emilia Galotti, denn die Tragödie reinszeniert jenen Konflikt zwischen einem mit allen Insignien der absolutistischen Macht ausgestatteten Herzog und der tugendhaften Bürgertochter Eulalia: Ohne freilich die Figur des empfindsamen Herrschers zu kennen. Vielmehr ist Sprickmanns Herzog ein rake alter Schule, der – trotz seiner Ehe mit der Tochter eines benachbarten Fürsten – die Marquisin d’Anvriers als Geliebte bzw. Mätresse zu sich an den Hof geholt hat. Dabei hat er 159 Johann George Sulzer: Philosophische Betrachtungen über den Nutzen der dramatischen Poesie, in: Neues Hamburgisches Magazin oder Fortsetzung gesammleter Schriften, aus der Naturforschung, der allgemeinen Stadt- und Land-Oekonomie, und den angenehmen Wissenschaften überhaupt, Band 43, Leipzig 1770, S. 260–287, hier S. 280. 160 Ralph-Rainer Wuthenow: Rousseau im „Sturm und Drang“, in: Sturm und Drang. Ein literaturwissenschaftliches Studienbuch, hg. v. Walter Hinck, Kronberg (Ts) 1989, S. 14–54, hier S. 14.
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deren früheren Ehemann durch deren neuen Gatten, den Marquis d’Anvriers ermorden lassen, wobei eben dieser Marquis eine Ausgeburt an Bosheit und ein Liebling des Herzogs ist, weshalb er dessen Leibelei mit der eigenen Gattin aus Kalkül akzeptiert. Der Herzog hingegen ist ganz verdorben von einer dem französischen Hof abgeschauten Immoralität, weshalb ihn seine alte Jugendfreundin Eulalia, die Frau des Grafen Brünov und Tochter des Kanzlers, auf den verlassenen Weg der Tugend zurückzuführen versucht. Bei einem mahnenden Gespräch mit ihm entfacht sie jedoch die Liebe des sinnlichen, wenngleich durch seine Heirat sowie seine Mätresse doppelt gebundenen Herzog, zudem wird das Gespräch vom Marquis d’Anvriers belauscht, was folgenreich ist. Denn obwohl der Herzog anfangs gewillt scheint, sein Leben zu verändern, gibt er sich den finsteren Machenschaften des Marquis hin. Denn dieser unterbreitet ihm einen ausgeklügelten Plan, demgemäß sich die Eulalia dadurch gewinnen ließe, indem man deren Gatten, den Graf Brünov, in diplomatischer Mission ins Ausland schickt. Als Eulalias Gatte Graf Brünov die Intrige wittert und sich weigert, wird er des Hochverrats angeklagt und verhaftet. Eulalia wird vor die Wahl gestellt, sich dem Herzog hinzugeben – dann sei ihr Mann gerettet – oder sich ihm zu versagen, was zum Tod ihres Mannes führe. Eulalia gibt vordergründig nach, fasst jedoch den Entschluss, im Gefängnis an der Seite ihres Mannes Selbstmord zu begehen: Eine Opferung, die dem Herzog ein Signal zur moralischen Besserung sein soll. Zwar zaudert sie zunächst, als jedoch der Herzog auch durch flehentliches Bitten nicht zu bewegen ist, von seinem ehebrecherischen Vorhaben abzusehen, vergiftet sie sich. Freilich ist sie frei aller die Emilia Galotti zu kennzeichnenden moralischen Ambivalenz, sondern eher im Sinne Sara Sampsons eine Ausgeburt an Tugend: noch im Sterben bittet sie ihren Mann und ihren Vater, den Herzog zu verschonen, ihm zu verzeihen und als Ratgeber zur Seite zu stehen. Ein Jahr später erschien Heinrich Ferdinand Möllers Heinrich und Henriette, das nicht auf Lessing, sondern auf Pfeils Lucie Woodvil zurückgeht. Möller variiert also das Motiv des verschwiegenen Seitensprungs, durch den eine uneheliche Tochter entstand, die sich peinlicherweise in den ehelichen Sohn verliebt. Wo es bei Pfeil jedoch der Vater war, dem dieses Missgeschick passierte, ist es bei Möller die Mutter. Und wo bei Pfeil der Vater in einen fulminanten Schamkonflikt geriet, da ist es bei Möller nunmehr die Tochter, insofern die Scham der Mutter auf die Tochter übertragen wird. Schon in Gellerts Roman Leben der schwedischen Gräfin von G*** geht ein Geschwisterpaar unwissentlich eine Inzestehe ein, ähnliches finden wir auch in Johann Christian Brandes Miss Fanny. Das Trauerspiel Möllers verläuft jedoch eher im Stile einer antiken Schicksalstragödie: Der junge Baron Heinrich hat sich gegen den Willen der Eltern mit der jungen Henriette verheiratet, obwohl deren Herkunft unklar ist. Die alte und seit der Geburt ihres Sohnes gemütskranke Baronin vermutet jedoch in ihrer neuen Schwiegertochter ihr eigenes Kind, das aus einer älteren, also vor ihrer Ehe mit dem Baron liegenden Beziehung stammt. Als nun der junge Baron Heinrich mit seiner Gattin Henriette die Eltern besucht, erkennt die alte Baronin an einem Muttermal ihre Tochter, realisiert also die unwissentlich begangene inzestuöse Blutschande des Ehepaares. Während die Baronin
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daraufhin vor Aufregung stirbt, wird Henriette wahnsinnig, und ihr Bruder von einem eifersüchtigen Nebenbuhler ermordet. Ihr moralisches Dilemma des Inzestes löst Henriette schließlich dadurch, dass sie sich das Leben nimmt. Den Schluss bildet eine wahrlich abschreckende Sentenz: Möchten alle Frauen immer bedenken, dass die kleinste Abweichung von der Tugend, der kleinste Fehltritt oft die schrecklichsten Folgen nach sich ziehe. Und Fluch dem Manne, der weiblicher Unschuld Fallstricke legt!161
Der dritte Selbstmord einer Titelheldin findet sich dann ein Jahr später in Johann Christian Brandes’ Tragödie Ottilie von 1779. Diese Bürgertochter Ottilie hat zehn Jahre lang mit dem Grafen Ottomar v. Wanfried in unehelicher Gemeinschaft gelebt und muss jetzt erfahren, dass der Graf sie aufopfert, da er wegen geldlicher Schwierigkeiten Therese, die Tochter des Obristen v. Bruno, heiraten will. Vor diesem Hintergrund wird sich Ottilie ihres Fehltritts bewusst, obgleich sie auch schon vorher nicht glücklich war: „Seit zehn traurigen Jahren war ich nie mehr bey mir, hatte nie mehr Gefühl für meine Schande, als in diesem Augenblick!“162 Allerdings scheint der Fehltritt der Titelheldin durch ihre Liebe zu ihrem Verführer Ottomar gerechtfertigt, stellt doch auch Ottilie eine Verkörperung der Tugend dar, die nun freilich realisiert, dass sie aufgrund ihrer sozialen Herkunft vom Grafen abhängig ist: „Ich bin ein Geschöpf, das von ihrer Gnad abhängt, ein unglücksel’ges Opfer der Liebe und des Leichtsinns – nicht des Graf Ottomahrs Gemahlinn!“163 Der Graf verläßt Ottilie, um Therese zu entführen, die just an diesem Abend einen anderen Mann heiraten will; er hofft, durch die Entführung Thereses deren Vater dazu zwingen zu können, daß er ihm seine Tochter samt Mitgift zur Frau gibt. Durch die Heirat mit der reichen Therese will Ottomar von Wanfried seine desolaten Vermögensverhältnisse sanieren. Um sich der guten Partie zu versichern, hat er Thereses Kammermädchen Hedwig bestochen, die daraufhin eifrig auf ihre Herrin Einfluss nimmt. Aber sie sieht die Intrige durch Ottilie, die langjährige Geliebte Ottomars, gefährdet, denn Ottilie ist bereit, mit ihrem letzten Geld die Schulden Ottomars zu begleichen. Auch hier endet die Tragödie im Selbstmord der Titelheldin, nachdem sie ihren ruchlosen Verführer ihrerseits erstochen hat: OTTOMAR: […] ich will nichts als meine Freyheit – und Ihr Zeugniß, daß Sie allen Ansprüchen auf mich entsagen. OTTILIE: Ha, ha, ha, ha! Warum das nicht? So muß man den Teufel überlisten. – OTTOMAR: Ottilie! OTTILIE: Ungeheuer! Noch sprach Liebe! Aber nun – – OTTOMAR: Ottilie! Sie wagen es? – – OTTILIE: Ja, ich wage es, Verfluchter! (ihn an der Brust ergreifend; und schleunig einen Dolch auf ihn zückend) OTTOMAR: Ottilie! 161 Heinrich Ferdinand Möller: Heinrich und Henriette, oder die unglückliche Verschwiegenheit, Leipzig 1778, S. 175. 162 Johann-Christian Brandes: Ottilie, Trauerspiel in fünf Aufzügen. Verfertigt im Jahr 1779, S. 14. 163 Ebd.
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OTTILIE: Stirb! (ersticht ihn) Deine Bestimmung. Ich folge der meinigen – (ersticht sich)164
Was zeigen diese Dramen, die einerseits das Wortfeld der Zärtlichkeit fortführen – insbesondere Möllers Heinrich und Henriette –, andererseits aber den didaktischen bzw. soziokulturellen Gehalt dieses Diskurses nicht mehr kennen? Alle drei Titelheldinnen wählen – anders als Lessings Emilia Galotti – den Freitod, um auf diese Weise ihre jungfräuliche Unschuld, ihre bürgerliche Ehre und ihre Tugend zu retten. Zwar plante auch Lessings Emilia den Selbstmord, es war jedoch dann Emilias Vater Odoardo, der seine Tochter erstoch, um zu verhindern, dass sie zur Selbstmörderin wird. Odoardo lässt sich zwar zu diesem Zweck von der Gräfin einen Dolch aufdrängen, bleibt jedoch unschlüssig und verlangt zunächst ein Gespräch unter vier Augen mit seiner Tochter, um deren Unschuld zu prüfen. Und noch eine weitere Differenz ist offenkundig: Emilia bat ihren Vater sie zu töten, da sie angesichts ihrer Verführbarkeit fürchtete, den durchaus zärtlichen Avancen des Prinzen nicht widerstehen zu können. Dies liegt wiederum an ihrem durch den Gang der Handlung bzw. die berühmte Szene im Nebenzimmer – dem Gequicke und Gebreusche – erklärbaren schlechten Gewissen. Es erklärt sich dadurch, dass sich Emilia trotz ihrer aus dem römischen Mythos der Virginia entlehnten grundlegenden Unschuld keineswegs erhaben zeigt gegenüber dem adligen Verführer, wie sie dies ihrem Vater Odoardo gesteht: ODOARDO: Auch du hast nur ein Leben zu verlieren. EMILIA: Und nur Eine Unschuld! ODOARDO: Die über alle Gewalt erhaben ist. – EMILIA: Aber nicht über alle Verführung. – Gewalt! Gewalt! Wer kann der Gewalt nicht trotzen? Was Gewalt heißt, ist nichts: Verführung ist die wahre Gewalt. Ich habe Blut, mein Vater, so jugendliches, so warmes Blut als eine. Auch meine Sinne sind Sinne. Ich stehe für nichts. Ich kenne das Haus der Grimaldi. Es ist das Haus der Freude. Eine Stunde da, unter den Augen meiner Mutter; – und es erhob sich so mancher Tumult in meiner Seele, den die strengsten Übungen der Religion kaum in Wochen besänftigen konnten! – Der Religion! Und welcher Religion? – Nichts Schlimmeres zu vermeiden, sprangen Tausende in die Fluten, und sind Heilige! – Geben Sie mir, mein Vater, geben Sie mir diesen Dolch.165
In den genannten drei Dramen wird diese im triangulären Verhältnis Vater-Tochter-Liebhaber angelegte, schuldbesetzte Ambivalenz von Wunsch und Verbot durch das Selbstopfer der Tochter aufgelöst. Zugleich sehen alle drei Dramen in der Tugend den Garanten der moralischen Überlegenheit des Bürgertums über die verachteten Feudalherren, wohingegen bei Lessing die Sphären von Schuld und Verantwortung bewusst undeutlich blieben. In den drei skizzierten Dramen wird also die noch bei Lessing deutlich erkennbare Tradition der empfindsamen Herrschertragödie aufgekündigt. Anders gesagt: Allen drei Dramen fehlt die höchst am164 Ebd., S. 105f. 165 Gotthold Ephraim Lessing: Werke 1770–1773, hg.v. Klaus Bohnen, Frankfurt am Main 2000, S. 369.
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bivalente, von Lessing erst mit Rückgriff auf Voltaire beantwortete Frage, ob und wie sich in der Tragödie eine zärtliche Liebe zwischen den Ständen tragisch inszenieren lasse: Diese schwierige Frage wird durch eine vereindeutigende Polarisierung der Stände nun unterlaufen. Meines Erachtens lässt sich dieses Defizit nicht allein durch die mangelnde ‚Klasse‘ der drei Autoren erklären. Dass die Zärtlichkeit insbesondere im deutschsprachigen Drama der 1770er Jahre zu einer leeren Formel wurde, liegt auch an dem nachhaltigen Einfluss der Kulturkritik Rousseaus, dessen vehementes Plädoyer für ein neues bürgerliches Tugendideal sich im Drama des Sturm-und-Drang offenkundig in einen neuartigen Tugendrigorismus transformierte, dessen letzte Konsequenz diese Selbstmorde der tugendhaften Bürgertöchter darstellen. Wir werden nunmehr sehen, dass erst das Theater von Jakob Michael Reinhold Lenz auf diese Entwicklung des Bürgerlichen Trauerspiels kritisch reagierte, also durch eine Rekonstruktion der von Rousseau verabschiedeten Tradition theatraler Zärtlichkeit diesem neuen Tenor des Sturm-und-Drang-Dramas entgegenwirkte.
III.
DIE REKONSTRUKTION DER ZÄRTLICHKEIT:
Zur Komödie von Jakob Michael Reinhold Lenz Der soziale Realismus, der sich im Drama des Sturm und Drang im Anschluss an die Theatertheorie Louis-Sébastian Merciers durchzusetzen beginnt, markiert einen deutlichen Bruch mit der Tradition vorbürgerlich-aristokratischer Empfindsamkeit, der sich am Beispiel von Klingers Das leidende Weib, Wagners Die Kindermörderin sowie kursorisch bei Möller, Sprickmann und Brandes nachvollziehen ließ. All diese Autoren des Sturm-und-Drang beschritten entschieden den schon in Lessings Emilia Galotti vorgeprägten Weg des Bürgerlichen Trauerspiels, indem sie die bürgerliche Tochter zum Opfer aristokratischer Verführung und Gewalt machten. Anders, dies gilt es nunmehr zu zeigen, ist dies im Theater von Jacob Michael Reinhold Lenz. Wir werden im Folgenden sehen, wie sich Lenz in seinen Komödien aus der Mitte der 1770er Jahre durch eine erneute Besinnung auf die Tradition der Empfindsamkeit vom Habitus dieser Stürmer-und-Dränger unterschied. Während Wagner, Klinger, Sprickmann, Möller und Brandes jenem schon in Lessings Spätwerk angelegten Weg folgten, der über den Tugendrigorismus der bürgerlichen Familie eine Tragödie des Schamkonfliktes entwickelt und dabei die Aristokraten als Versatzstücke alteuropäischer Verführer inszenierte: berechnend und unsensibel; versuchte sich Lenz eben diesem Trend des Bürgerlichen Trauerspiels zumindest ex negativo zu entziehen. Die ursprüngliche, in dieser Studie auf das französische siècle classique zurückgeführte Empfindsamkeit stellt für Lenz einen bleibenden Bezugspunkt dar, der insbesondere in einer von Sophie von La Roche geprägten Version gerade für das Komödienwerk von Lenz entscheidend wichtig ist. Lenz setzte jener im Drama des Sturm und Drang dominierenden sozialen Realität eine theoretische Alternative erzieherischer Nobilitierung entgegen, die entscheidende Impulse aus dem Werk der Sophie von La Roche gewann. Dieser Einfluss zeigt sich nicht nur in der Figur der ‚Gräfin La Roche‘ aus der Komödie Die Soldaten, sondern generell in einer für die Komödien Lenzens sehr kennzeichnenden Differenzierung des adligen Personals, insofern sich bei Lenz stets eine sehr präzise Unterscheidung zwischen einem sensiblen Amts- und einem verrohten Militäradel findet. Diese enge Bindung an die Sophie von La Roche hat nicht allein jene persönlichen Gründe, auf die man in der Forschung oftmals und sicher mit Recht hinwies.1 Die enge Beziehung von Lenz zur Sophie von La Roche erklärt sich auch 1 Vgl. dazu die sehr gute Analyse von Maria E Müller: ‚Da bin ich einfach paff‘: Sophie von La Roche und Jakob Michael Reinhold Lenz, in: Ich will keinem Mann nachtreten: Sophie von La Roche und Bettine von Arnim, hg.v. Miriam Seidler, Frankfurt am Main 2013, S. 65–76.
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und vor allem aus einer grundsätzlich affirmativen Beziehung Lenzens zur literarischen Tradition der Empfindsamkeit, wie im Folgenden zu zeigen ist. Deutlich wird Lenzens enger Bezug zur alteuropäischen Empfindsamkeit allein angesichts seiner auffallenden Aktualisierung der Komödie als einer Mischform im Sinne der comédie larmoyante bzw. der sentimental comedy, die im Deutschland der 1740er Jahre im „Rührstück“ eine Entsprechung fand: Monika Wiessmeyer bezeichnete Lenzens Komödien daher mit Recht als Tragikomödien.2 Sowohl Die Soldaten als auch Der Hofmeister sind Komödien im Sinne einer Mischform, wenngleich beide Theaterstücke seit jeher in der Forschung als Bürgerliche Trauerspiele3 bzw. als Dramen des Sturm-und-Drang behandelt werden.4 Unmissverständlich ist dieser Bezug zum empfindsamen Rührstück in Lenzens 1775 veröffentlichter Rezension vom Neuen Mendoza formuliert, wenn er die Trennung von Komödie und Tragödie bzw. den „Unterscheid von Lachen und Weinen“ als eine „Erfindung späterer Kunstrichter“ diskreditiert. Sein Argument beruft sich auf die Tradition des rührenden Lustspiels bzw. der comédie larmoyante, auf Autoren wie Destouches und Beaumarchais: Daher der Unterschied unter der alten und neuen Komödie, daher die Notwendigkeit der französischen weinerlichen Dramen, die alle Spöttereien nicht hinwegräsonnieren können, und die nur mit totalem Verderbnis der Sitten der Nation ganz fallen werden. Komödie ist Gemälde der menschlichen Gesellschaft, und wenn die ernsthaft wird, kann das Gemälde nicht lachend werden. Daher schrieb Plautus komischer als Terenz, und Molière komischer als Destouches und Beaumarchais. Daher müssen unsere deutschen Komödienschreiber komisch und tragisch zugleich schreiben, weil das Volk, für das sie schreiben, oder doch wenigstens schreiben sollten, ein solcher Mischmasch von Kultur und Rohigkeit, Sittigkeit und Wildheit ist.5
Sigrid Damm hat in ihren Anmerkungen zur Rezension des Neuen Mendoza mit Nachdruck betont, dass dieser Text „eine energische Weiterentwicklung von Lenzens Dramentheorie“ sei, „die er schon in den ‚Anmerkungen übers Theater‘ dargelegt hatte.“6 Während Lenz freilich in den Anmerkungen noch entschieden zwischen Komödie und Tragödie unterschied7, realisiert seine später entstandene 2 Monika U. Wiessmeyer: Gesellschaftskritik in der Tragikomödie: ‚Der Hofmeister‘ (1774) und ‚Die Soldaten‘ (1776) von Jakob Michael Reinhold Lenz, in: New German review 2 1986, S. 55– 68. 3 Vgl. dazu etwa: Franziska Schössler: Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama, Darmstadt 2003; Christian Rochow: Das Bürgerliche Trauerspiel, Stuttgart Leipzig 1999. 4 Paul Michael Lützeler: Jakob Michael Reinhold Lenz: ‚Die Soldaten‘, in: Dramen des Sturm und Drang. Interpretationen, Stuttgart 1987, S. 129–59; Thomas Kopfermann: Soziales Drama: Georg Büchner: Woyzeck; Gerhart Hauptmann: Die Weber; J. M. R. Lenz: Die Soldaten; Friedrich Wolf: Cyankali, Stuttgart 1986. 5 Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Schriften. Band 1, Stuttgart 1965–1966, S. 414–421, hier S. 417f. 6 Ebd., S. 920. 7 „Damit wir nun, unsern Religionsbegriffen und ganzen Art zu denken und zu handeln analog, die Grenzen unsers Trauerspiels richtiger abstecken, als bisher geschehen, so müssen wir von
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Selbstrezension bereits jene argumentative „Notwendigkeit der französischen weinerlichen Dramen“8, diese Gattungsdifferenz aufzuheben. Diese Weiterentwicklung ist m. E. nur vor dem Hintergrund der in den 1740er und 1750er Jahren von Autoren wie Chassiron, Voltaire, Gellert oder Lessing geführten Diskussion um die Einebnung der Gattungsdifferenz von Komödie und Tragödie nachvollziehbar. Während also die zwischen 1771 und 1773 entstandenen Anmerkungen übers Theater „die Grenzen unsers Trauerspiels richtiger abstecken, als bisher geschehen“, plädiert Lenz in seiner 1775 veröffentlichten Selbstrezension unter Bezugnahme auf „Destouches und Beaumarchais“ dafür, dass auch „unsere deutschen Komödienschreiber komisch und tragisch zugleich schreiben“ müssten: „Komödie ist Gemälde der menschlichen Gattung, und wenn die ernsthaft wird, kann das Gemälde nicht lachend werden.“9 Noch deutlicher wird der affirmative Bezug zur Empfindsamkeit jedoch durch seine seit 1994 der germanistischen Öffentlichkeit wieder zugänglich gemachten Philosophischen Vorlesungen für empfindsame Seelen, die Lenz von 1771/72 bis 1774 vor der Straßburger Société de Philosophie et des belles Lettres gehalten hatte. Sie zeigen zum einen seine nachhaltige Auseinandersetzung mit der Tradition der Empfindsamkeit, verdeutlichen aber auch, dass sich Lenz dieser Tradition aus einer sehr spezifischen Perspektive näherte, die gerade für sein Komödienwerk charakteristisch ist: Der Perspektive des Begehrens. Lenz spricht in dieser Vorlesung äußerst unverblümt über „unverschämte Sachen“, der Tonfall ist zudem bisweilen „spashaft und skurril“. Inhaltlich geht es ihm um die heikle „Konkupiszenz“10, um die Begierde, und ihre markanteste Form: den „Geschlechtertrieb“ oder, „um das Kind beym Namen zu nennen, den Trieb sich zu gatten“11. Die Konkupiszenz, das Streben nach Vereinigung, ist „die herrlichste aller Gaben Gottes“12, die göttlich geschaffene, „unverkleisterte“ Natur ist gut. Also sind auch die Triebe, die „bösen Begierden“ gut, da es keinen Genuss ohne Begierde gibt, gemäß der Maxime: „Der Geschlechtertrieb ist die Mutter aller unserer Empfindungen.“13 Dennoch aber ist nach Lenz „die Zähmung unsers Geschlechtertriebes […] der erste Grundsatz in
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einem andern Punkt ausgehen als Aristoteles, wir müssen, um den unsrigen zu nehmen, den Volksgeschmack der Vorzeit und unsers Vaterlandes zu Rate ziehen, der noch heut zu Tage Volksgeschmack bleibt und bleiben wird. Und da find ich, daß er beim Trauerspiele oder Staatsaktion, ist gleich viel, immer drauf losstürmt (die Ästhetiker mögen’s hören wollen oder nicht) das ist ein Kerl! das sind Kerls! bei der Komödie aber ist’s ein anders. Bei der geringfügigsten drollichten, possierlichen unerwarteten Begebenheit im gemeinen Leben rufen die Blaffer mit seitwärts verkehrtem Kopf: Komödie! Das ist eine Komödie! ächzen die alten Frauen. Die Hauptempfindung in der Komödie ist immer die Begebenheit, die Hauptempfindung in der Tagödie ist die Person, die Schöpfer ihrer Begebenheiten.“ Vgl.: Ebd., S. 358. So die Formulierung in der Rezension des Neuen Menoza, vgl.: Ebd., S. 418. Ebd. Lenz: Philosophische Vorlesungen für empfindsame Seelen (= Werke in zwölf Bänden, Bd. 12), hg. v. Christoph Weiß, St. Ingbert 2001, S. 15. Ebd., S. 51. Ebd., S. 14. Ebd., S. 68.
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unserer Moral“.14 Allerdings müsse dieser Trieb „nur geleitet, nicht getödtet werden“, weshalb etwa „Präkautionen, Gebeth, gute Grundsätze und Maximen“, also „die Recepte unserer heutigen Moralisten“ eher weniger hilfreich seien: Es kommt hier also auf eine Medicin an, die ihre Kraft vor der Krankheit äussert welche sie verhüten soll – und die ist – um einmal kurz zu schliessen, um mit einem Wurf das Ziel zu treffen, nach welchem wir so lange gezielt haben – weil doch unsere Seele von der Natur ist, daß sie nicht gern ein Vergnügen aufgiebt, wenn nicht auf der Stelle ein anders wieder da ist, es zu ersetzen – Die empfindsame Liebe.15
Die richtige „Medicin“ für die „Zähmung des Geschlechtertriebes“ ist also die „empfindsame Liebe“, deren Besonderheit Lenz in diesen Vorlesungen seinem Publikum erinnert. Vor dem Hintergrund dieses Modells der „empfindsamen Liebe“ kann Lenz den Begriff der Moral als eine Geschlechtermoral deuten, auch wenn es die „wohlgezogenen und delikaten [...] Ohren scandalisirt, la belle morale auf unsere Schaam zu gründen“. Die Moral dennoch auf die „Schaam“ zu gründen heißt nun nach Lenz zugleich, den Geschlechtertrieb umgekehrt aus der Empfindsamkeit abzuleiten.16 Der Geschlechtertrieb dürfe also weder im Sinne der Moralisten verboten noch im Sinne der Morallosen „verschwendet“ werden. Den im Falle einer Verschwendung drohten der Menschheit „kalte und leere Geschöpfe, Kinder ohne Dankbarkeit und Pietät, Ehegatten ohne Zärtlichkeit und eheliche Treue, Väter ohne Freude an eurem multiplicirten Selbst.“17 Die empfindsame Liebe ist also gegenüber beiden Extremen eine Art goldener Mittelweg, denn sie transformiere den Geschlechtertrieb in „Zärtlichkeit und eheliche Treue.“ Dass Lenz diese Lehre auch auf soziologischer Ebene weiter entwickelte, zeigt ein erster Blick in seine Abhandlung Über die Soldatenehen: Die verdorbenen Sitten entnerven Bürger und Soldaten. Die Schamhaftigkeit ist von unseren Weibern gewichen, die Industrie liegt, der Handel selbst muß am Ende ermatten, [...] die Ehen werden selten und die Nachkommenschaft elend. [...] Die üblen Folgen der Ehlosigkeit der Soldaten gehen da ins Unendliche [...] zerrissene Ehen, [...] sitzengebliebene Jungfrauen, [...] gefährliche Buhlerinnen, Kindermorde, Dieb14 Ebd., S. 69. 15 Ebd., S. 71f. 16 In seiner Studie zu Wilhelm Heinse und dem Sturm und Drang hat Björn Vedder gegen die einflussreichen Deutungen von Matthias Luserke und Reiner Marx eben dies präzise betont: „Wenn Marx und Luserke nun folgern, das ‚Thema der SuD-Literatur ist Sexualität, aber nicht deren anakreontische Verbrämung und Topisierung, sondern deren Scheitern wird gezeigt‘, dann benennen sie nur einen Aspekt im Werk von Lenz. Überdies ist bei Lenz entgegen der vermeintlichen Entlarvung der falschen Kompensationsstrategien des Erotischen in der Empfindsamkeit und im Rokoko gerade in den Vorlesungen für empfindsame Seelen eine Idealisierung des Eros auszumachen, die die aus der Empfindsamkeit übernommenen Strategien einer ästhetischen Mediatisierung noch steigert.“ Vgl. Björn Vedder: Wilhelm Heinse und der so genannte Sturm und Drang: künstliche Paradiese der Natur zwischen Rokoko und Klassik, Würzburg 2011, S. 110. Vedder zitiert aus: Matthias Luserke, Reiner Marx: „Die Anti-Läuffer. Thesen zur SuD-Forschung oder Gedanken neben dem Totenkopf auf der Poilette des Denkens“, in: Lenz-Jahrbuch. Sturmund-Drang-Studien, 2, 1992, S. 126–150, hier S. 135. 17 Lenz: Philosophische Vorlesungen für empfindsame Seelen, a.a.O., S. 68.
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stähle, Giftmischereien. [...] Wo das Weib dem Kerl überall nachschlendert und ihn, der ohnehin Sorgen genug hat, mit den Haussorgen vollends zum Narren macht. Wo sie, durch die Sitten unserer Zeit zu einer unbändigen Geilheit erhitzt, seinem Körper eben so zusetzt als seinem Geiste.18
So diagnostiziert Lenz in seiner Schrift Über die Soldatenehen von 1776 den gesellschaftlichen Sittenverfall, mit dem er sich freilich keineswegs zufrieden gibt. Stattdessen plädiert er in dieser Abhandlung für erleichterte, bevorzugte und mit Freuden fortgeführte Ehen der Soldaten, um so dem Leben des Soldaten einen moralischen Mittelpunkt, eine familiäre Grundlage zu geben. Wenn Lenz auch in diesem Zusammenhang eine strikte „Kontrolle der Konkupiszens“19 fordert, dann bezeichnet dies vor dem Hintergrund der Philosophischen Vorlesungen für empfindsame Seelen präzise das Spannungsfeld, innerhalb dessen sich seine Bezugnahme auf die Tugendideale der Empfindsamkeit vollzieht. Was er in den Philosophischen Vorlesungen als „Medicin“ vorschrieb – die „empfindsame Liebe“, die dazu verhelfe, „die rechten Verhältnisse und Grade in der Liebe zu finden“20 –, wird auf einer soziologischen Ebene durch eine Kultivierung von „Soldatenehen“ bzw. „Soldatenweibern“ ergänzt. In seinem Lettres à Maurepas hat Lenz diese Idee einer Pflanzschule von Soldatenweibern gar dem französischen Kriegsminister Jean-Frédéric Phélypeaux, also dem Comte de Maurepas auseinandergesetzt, was nicht nur den Ehrgeiz seiner sozialen Projekte, sondern auch deren enge Bindung an Frankreich unterstreicht. Die Idee der Soldatenehe ist also nicht nur ein – letztlich gescheitertes – literarisches Projekt, sondern vielmehr ein nachhaltiger Vorschlag zu politischen Reformen, deren Ausgangspunkt jene „Medicin“ der empfindsamen Liebe darstellt. Aus diesem Grunde trägt dieses Kapitel den Titel Die Rekonstruktion der Zärtlichkeit. Umschrieben ist damit ersten Lenzens Aktualisierung der rührenden Komödie der Empfindsamkeit, zweitens sein Plädoyer für die „empfindsame Liebe“ aus den Philosophischen Vorlesungen, drittens seine äußerst intensive Beschäftigung mit Sophie von La Roche, die als historische Figur einging in Lenzens Komödie Die Soldaten, und viertens seine sozialreformatorischen Ideen, die als Produkte einer Sittlichkeitsidee ebenfalls auf die Tradition der von Lenz aktualisierten Empfindsamkeit zurückgehen dürften. Mit diesem Schwerpunkt fokussieren wir eine in der Lenz-Forschung bisher oft gestellte, zumeist jedoch etwas einseitig beantwortete Frage: Warum hat sich der als revolutionärer Stürmer und Dränger geltende Lenz sowohl in seiner Affirmation der ‚rührenden‘ Komödienform als auch in seiner engen Beziehung zur Sophie von La Roche so intensiv mit der Tradition der Empfindsamkeit auseinandergesetzt? Ist dies primär ein parodistisch-satirisches
18 Lenz: Werke und Brief Bd. 2, a.a.O., S. 801. 19 So die Formulierung von Horst Albert Glaser: Bordell oder Familie? Überlegungen zu Lenzens „Soldatenehen“, in: Karin A. Wurst (Hrsg.): J.R.M. Lenz als Alternative? Positionsanalysen zum 200. Todestag, Köln, Weimar, Wien 1992, S. 112–122, hier S. 114. 20 Lenz: Philosophische Vorlesungen für empfindsame Seelen, a.a.O., S. 72.
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Interesse, wie dies in der Forschung insbesondere von Matthias Luserke betont worden ist? Ist das rührende bzw. versöhnliche Ende der Komödie Der Hofmeister tatsächlich eine „Satire auf alle Harmonierungssehnsüchte des bürgerlichen Trauerspiels“21, durch welches „die Aufmerksamkeit des Zuschauers gerade auf die Dissonanz und Brüchigkeit der scheinbar harmonischen Auflösung aller Verwicklungen“ gelenkt werden soll?22 Ich gehe ganz im Gegenteil davon aus, dass ein ernsthaft didaktisches bzw. therapeutisches Interesse Lenzens seine auffallende und mit Blick auf weitere Stürmer und Dränger wie Gerstenberg, Wagner oder Klinger durchaus singuläre Rückbesinnung auf die Empfindsamkeit motiviert hat. Beide im Folgenden zu diskutierenden Theaterstücke Lenzens – sowohl die 1774 anonym erschienene Komödie Der Hofmeister als auch die spätere, also im Winter 1774/75 verfasste und 1776 ebenfalls anonym veröffentlichte Komödie Die Soldaten – zeugen deutlich von diesem therapeutisch-didaktischen Interesse. Es sind regelrechte Reformideen, welche Lenz in beiden Komödien formuliert: Die Reformation des Erziehungswesens im Falle des Hofmeisters, die Reformation des Militärwesens im Falle von Die Soldaten. Zudem fällt auf, dass diese Reformvorschläge von den Protagonisten selbst formuliert werden, und zwar – auch dies ist eine strukturelle Ähnlichkeit – von den jeweils im Stück selbst als Erzieher der Hauptfigur agierenden Protagonisten. Im Falle von Die Soldaten ist dies in der Erstfassung die Gräfin La Roche, auf die wir noch zu sprechen kommen, im Falle von Der Hofmeister ist dies der Geheime Rat von Berg, ein äußerst liberal gesinnter Vertreter des Amtsadels. Mir scheint also ein entscheidender Grund für Lenzens Rekonstruktion der Zärtlichkeitslehre deren Liebesdidaktik zu sein, die in beiden Komödien ein als zerstörerisch erlebtes Ausmaß libidinöser Verstrickung zu lindern bzw. zu lancieren vermag.
Der Nobilitierungsgedanke in Lenzens Der Hofmeister oder Vortheile der Privaterziehung In Der Hofmeister richtet sich diese therapeutische Funktion der empfindsamen Didaktik zweifellos auf den Titelhelden, den Theologiestudent und Pastorensohn Läuffer. Er hat weder als Pfarrer noch als Adjunkt oder als Lehrer an einer Schule 21 Matthias Luserke: Jakob Michael Reinhold Lenz im Spiegel der Forschung, S. 52. Vgl. dazu auch die identische Einschätzung von Tamara Jerenashvili: Sexualität und Asexualität im Hofmeister, in: Lenz-Jahrbuch. 13/14. 2004–2007, S. 279–291, hier S. 291. 22 Zu diesem Befund gelangt Dieter Arendt: J. M. R. Lenz: Der Hofmeister oder Der kastrierte pädagogische Bezug, in: Lenz-Jahrbuch 2, S. 42–77, hier S. 60–62, sowie im Anschluss an Arendt auch Stefan Schmalhaus, nach dem „die übertriebene Häufung herkömmlicher Komödienmotive im Schlusstableau (Heirat, Versöhnung, Wiedererkennung usw.) die Aufmerksamkeit des Zuschauers gerade auf die Dissonanz und Brüchigkeit der scheinbar harmonischen Auflösung aller Verwicklungen“ lenke, vgl.: Stefan Schmalhaus: Literarische Anspielungen als Darstellungsprinzip: Studien zur Schreibmethodik von Jakob Michael Reinhold Lenz, Münster, Hamburg 1994, S. 154.
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eine Arbeit gefunden und arbeitet daher als Hofmeister für den Major von Berg. Dieser Major ist Bruder des Geheimen Rats von Berg, und er ist keineswegs amtsadeliger Liberaler, sondern ein Vertreter des Militäradels: eine Differenz, die sich allein in den Erziehungsvorstellungen der Brüder deutlich niederschlägt. Denn während der Geheime Rat von Berg seinen Sohn Fritz zum Missfallen des Majors auf die Stadtschule schickt, lässt der Major seinen eigenen Sohn lieber von einem Hofmeister unterrichten, da er sehr auf Sitten Wert legt: „Soldat soll er werden; ein Kerl, wie ich gewesen bin.“23 Wenn der Bruder und Geheimrat betont: „unsere Kinder sollen und müssen das nicht werden, was wir waren“24, dann wird die Differenz zwischen Militär- und Amtsadel im Hofmeister ebenso deutlich markiert wie später in der Komödie Die Soldaten. Zugleich aber stehen der Hochmut und die dünkelhafte Selbstgefälligkeit des Militäradels in der Kritik, wenn etwa der äußerst preziös agierenden Majorin der neue Hofmeister Läuffer trotz seiner Bildung noch nicht weltläufig genug erscheint. Diesem Dünkel steht in der Komödie die neue Welt des Amtsadels in der Figur des Geheimen Rates von Berg gegenüber, dem als Vertreter einer Reformpädagogik wohl die Sympathien des Autors gelten. Zumindest scheinen die Ideen des Geheimrats wohl am ehesten den Ansichten des Autors Lenz zu entsprechen, ist dieser doch ein Vertreter liberaler, zukunftsweisender Ideen: „die Zeiten ändern sich.“25 Diese Forschrittlichkeit des Geheimen Rats zeigt sich auch in dessen Kritik der öffentlichen Schule, die daran kranke, dass es zu viele privat arbeitende, also in einem Dienstverhältnis zur Aristokratie stehende Hauslehrer gebe: Würde der Edelmann nicht von euch in der Grille gestärkt, einen kleinen Hof anzulegen, wo er als Monarch oben auf dem Thron sitzt und ihm Hofmeister und Mamsell und ein ganzer Wisch von Tagdieben huldigen, so würd er seine Jungen in die öffentliche Schule tun müssen; er würde das Geld, von dem er jetzt seinen Sohn zum hochadlichen Dummkopf aufzieht, zum Fonds der Schule schlagen: davon könnten denn gescheite Leute salariert werden und alles würde seinen guten Gang gehen.26
In Lenzens Hofmeister wird aber auch die dienerische Servilität des Bürgertums kritisiert, gegen welche sich der Geheime Rat ausspricht, wenn er dem Pastor Läuffer, seinerseits Vater des Titelhelden, vorwirft, seinen Sohn als Hofmeister in Dienst gegeben zu haben: Laßt den Burschen was lernen, daß er dem Staat nützen kann. Potz hundert Herr Pastor, Sie haben ihn doch nicht zum Bedienten aufgezogen, und was ist er anders als Bedienter, wenn er seine Freiheit einer Privatperson für einige Handvoll Dukaten verkauft? Sklav ist er, über den die Herrschaft unumschränkte Gewalt hat, nur daß er so viel auf der Akademie gelernt haben muß, ihren unbesonnenen Anmutungen von weitem zuvorzukommen und so einen Firnis über seine Dienstbarkeit zu streichen.27 23 24 25 26 27
Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Schriften. Band 2, Stuttgart 1965–1966, S. 11. Ebd. Ebd. Ebd., S. 28. Ebd., S. 25.
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Statt „einem starrköpfischen Edelmann zinsbar werden“, also als Hofmeister sein Leben in „sklavische[r] Unterwürfigkeit“ zu fristen, lautet das Plädoyer des Geheimen Rats: „lernt etwas und seid brave Leut. Der Staat wird euch nicht lang am Markt stehen lassen.“28 Diese Kritik am unfreien und daher verwerflichen Status des Hofmeisters – „Wer heißt euch Domestiken werden, wenn ihr was gelernt habt?“29 – hat freilich den eigenen Werdegang des Geheimen Rats als Maßstab, wie Läuffers Vater in seiner Replik unmissverständlich betont: Das ist sehr allgemein gesprochen, Herr Rat! – Es müssen doch, bei Gott! auch Hauslehrer in der Welt sein; nicht jedermann kann gleich Geheimer Rat werden, und wenn er gleich ein Hugo Grotius wär. Es gehören heutiges Tags andere Sachen dazu als Gelehrsamkeit.30
Wie genau hier die Sympathien und Antipathien des Autoren Lenz auf seine Figuren verteilt sind, bleibt freilich schwer zu entscheiden.31 Wichtiger ist zunächst, dass sich aus eben dieser kritisch kommentierten Erziehungskonstellation jene libidinöse Verstrickung der Hauptfigur ergibt, welche in dieser Komödie im Zentrum steht. Denn der Pastorensohn Läuffer soll sich als Hofmeister nicht nur um Leopold kümmern, den Sohn des Majors von Berg, für den der Major die schon von ihm selbst eingeschlagene Laufbahn des Soldaten vorgesehen hat, sondern auch um dessen Tochter, um Gustchen. Diese scheint als Tochter des Majors zunächst ihrem Cousin Fritz von Berg, dem Sohn des Geheimrats, zugetan, zu dem sie in einer geheimen Liebe entflammt ist. Da Fritz aufgrund des geplanten Studiums die Abreise an die Universität bevorsteht und Gustchen mit ihrer Familie für eine gewisse Zeit nach Heidelbrunn zieht, schwören sich die beiden in Reminiszenz an Shakespeares Romeo und Julia ewige Liebe und Treue. Der Geheimrat, der diesen Treueschwur belauscht, missbilligt die Verbindung allerdings; ihn stört der Gestus romantischer Schwärmerei ebenso wie der fehlende Ernst beim Schwur auf einen Liebeseid. Zudem schreibt Fritz seinem Gustchen nicht die versprochenen Briefe, vielmehr ist er zum Studium bei seinem Freund und Kommilitonen Pätus eingezogen, um sich auf diese Weise von Gustchen abzulenken. Allerdings umgibt er sich dort mit falschen Freunden, denn zum einen übernimmt er für seinen verschuldeten Freund Pätus vorschnell eine Bürgschaft, was ihn schließlich ins Gefängnis bringt, zum anderen denunziert ihn der hinterhältige Seiffenblase bei seinem Vater. All dies trägt dazu bei, dass Gustchen, deren Charakterprofil deutlich von der bereits erörterten Kritik Rousseaus an der Koketterie geprägt ist, sich einsam und von Fritz verlassen fühlt und eben deshalb eine Liaison mit ihrem Erzieher Läuffer beginnt, dem sie in ähnlicher Form wie Cousin Fritz ein Romeo-und Julia-Theater vorspielt: 28 29 30 31
Ebd. Ebd., S. 26. Ebd. Vgl. dazu: Matthias Luserke: Jakob Michael Reinhold Lenz: Der Hofmeister, Der neue Mendoza, Die Soldaten, München 1993, S. 40–47.
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GUSTCHEN in der beschriebenen Pantomime: O Romeo! wenn dies deine Hand wäre – Aber so verlässest du mich, unedler Romeo! Siehst nicht, daß deine Julie für dich stirbt – von der ganzen Welt, von ihrer ganzen Familie gehaßt, verachtet, ausgespien. Drückt seine Hand an ihre Augen. O unmenschlicher Romeo! LÄUFFER sieht auf: Was schwärmst du wieder? GUSTCHEN: Es ist ein Monolog aus einem Trauerspiel, den ich gern rezitiere, wenn ich Sorgen habe. Läuffer fällt wieder in Gedanken, nach einer Pause fängt sie wieder an. Vielleicht bist du nicht ganz strafbar. Deines Vaters Verbot, Briefe mit mir zu wechseln; aber die Liebe setzt über Meere und Ströme, über Verbot und Todesgefahr selbst – Du hast mich vergessen ... Vielleicht besorgtest du für mich – Ja, ja, dein zärtliches Herz sah, was mir drohte, für schröcklicher an als das, was ich leide. Küßt Läuffers Hand inbrünstig. O göttlicher Romeo!32
Neben der Anspielung auf Shakespeare entfaltet sich nun der Bezug zu jener literarischen Vorlage, die auf das zentrale Motiv der libidinösen Verstrickung anspielt, die Selbstkastration Läuffers. Denn während Gutschen sich in die Liebe der Shakespeareschen Tragödie hineinträumt, assoziiert Läuffer mit dieser Beziehung eine ganz andere Tragik: LÄUFFER küßt ihre Hand lange wieder und sieht sie eine Weile stumm an: Es könnte mir gehen wie Abälard. GUSTCHEN richtet sich auf: Du irrst dich – Meine Krankheit liegt im Gemüt – Niemand wird dich mutmaßen – Fällt wieder hin. Hast du die Neue Heloïse gelesen?33
Dieser Verweis auf Rousseaus Briefroman Julie oder Die neue Heloise, dessen französisches Original Julie ou la Nouvelle Héloïse erstmals 1761 in Amsterdam erschien, perpektiviert die Selbstkastration Läuffers durch den historischen Fall des Petrus Abaelardus: Wie dieser äußerst umstrittene Frühscholastiker des 11. Jahrhunderts sich einst als Hauslehrer in seine Schülerin Heloisas verliebte, so verliebt sich bei Rousseau der junge bürgerliche Hauslehrer Saint-Preux in Julie d’Étanges, ein Mädchen aus einer in der Schweiz ansässigen adligen Familie. Geht es bei Rousseau jedoch primär um eine Aktualisierung der Heloise in der Figur der Julie, so geht es bei Lenz um eine Aktualisierung des Schicksals des historischen Abaelard. Denn dieser wurde einst wegen der besagten Liebesaffäre zu seiner Schülerin Heloisa von derem Onkel, dem Kanoniker Fulbert, kastriert. Auf eben dieses Schicksal, welches sich im fünften Akt der Lenzschen Komödie auch bewahrheiten wird, spielt Läuffer in dieser Szene an. Diese rousseauistische Ebene variiert Lenz ein weiteres Mal, wenn der Major auf Grund der zunehmenden Erkrankung seiner Tochter – „Ihre Gesundheit ist hin, ihre Munterkeit, ihre Lieblichkeit“34 – beschließt Landwirt zu werden: Er habe „dreizehn Bataillen beigewohnt und achtzehn Blessuren bekommen und [hab] den Tod vor Augen gesehen“35, nun wolle er sein Haus „anstecken und die Schaufel in 32 33 34 35
Ebd., S. 40. Ebd. Ebd., S. 49. Ebd.
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die Hand nehmen und Bauer werden.“36 Allerdings bleibt es hier bei der bloßen Anspielung, denn nachdem ihm seine Frau von dem Verschwinden Gustchens und des Hofmeisters berichtet, gibt er diese Pläne umgehend wieder auf, ahnt er doch den wahren Grund für Gustchens Verstimmung: Läuffer habe seine Tochter Gustchen „zur Hure gemacht“. Und während in der historischen Geschichte des Abaelard der Onkel der Heloisa ihren Verführer entmannt, erweist sich der Onkel Gustchens als Versöhner, der seinen tobenden Bruder beschwichtigt, und davon abhält, dem Paar zu folgen. Als schließlich Läuffer und Gustchen, die inzwischen erkannt hat, dass sie schwanger ist, gemeinsam in flagranti von der Majorin überrascht werden, fliehen sie getrennt. Läuffer findet Unterschlupf bei dem schrulligen, aber aufrichtigen Dorfschullehrer Wenzeslaus, der ihm ins Gewissen redet und ermahnt, seinen Sexualtrieb durch eine bestimmte Diätetik des Rauchens zu maßregeln: LÄUFFER: Ich will’s versuchen; ich hab in meinem Leben nicht geraucht. WENZESLAUS: Ja freilich, ihr Herren weiß und rot, das verderbt euch die Zähne. Nicht wahr? und verderbt euch die Farbe; nicht wahr? Ich habe geraucht, als ich kaum von meiner Mutter Brust entwöhnt war; die Warze mit dem Pfeifenmundstück verwechselt. He he he! Das ist gut wider die böse Luft und wider die bösen Begierden ebenfalls. Das ist so meine Diät: des Morgens kalt Wasser und eine Pfeife, dann Schul gehalten bis eilfe, dann wieder eine Pfeife bis die Suppe fertig ist […] LÄUFFER: Ich bin satt überhörig. WENZESLAUS: Nun so laß Er’s stehen; aber es ist Seine eigne Schuld wenn’s nicht wahr ist. Und wenn es wahr ist, so hat Er unrecht, daß Er sich überhörig satt ißt, denn das macht böse Begierden und schläfert den Geist ein. Ihr Herren weiß und rot mögt’s glauben oder nicht. Man sagt zwar auch vom Toback, daß er ein narkotisches, schläfrigmachendes, dummachendes Öl habe, und ich hab’s bisweilen auch wohl so wahrgefunden und bin versucht worden, Pfeife und allen Henker ins Kamin zu werfen, aber unsere Nebel hier herum beständig und die feuchte Winter- und Herbstluft alleweile und denn die vortreffliche Wirkung, die ich davon verspüre, daß es zugleich die bösen Begierden mit einschläfert.37
Ein Jahr später haben sich die Verhältnisse weiter entwickelt. Während der Major todesmutig in den türkisch-russischen Krieg ziehen will, erzählt ihm der Geheime Rat vom Schicksal seines Sohnes Fritz. Dieser ist in Halle aus dem Gefängnis entkommen und floh gemeinsam mit Pätus nach Leipzig, um so seinen Gläubigern zu entkommen. Unterdessen bringt Gustchen bei der alten, blinden Marthe in einer armseligen Waldhütte ihr Kind zur Welt. In einem Traum hat sie ihren verzweifelten Vater gesehen und will ihn nun um Verzeihung zu bitten, weshalb Gustchen ihr Kind zunächst bei Marthe zurücklässt. Gustchens Vater macht sich unterdessen gemeinsam mit dem geheimen Rat auf die Suche nach seiner Tochter, als sie dabei in der Dorfschule erscheinen, trifft der Major auf Läuffer und schießt ihm in den Arm. Läuffer hat Gustchen jedoch seit dem Tag seiner Flucht nicht mehr gesehen 36 Ebd., S. 48. 37 Ebd., S. 57f.
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und kennt deren Aufenthaltsort nicht, weshalb der Major schließlich weiterzieht. Unterdessen stürzt sich Gustchen während der verzweifelten Suche nach ihrem Vater in einen Teich, aus dem ihr Vater sie gerade noch rechtzeitig retten kann, woraufhin er der Tochter nun vergibt. Unterdessen bringt die blinde Marthe Gustchens Kind zu Läuffers Schule, als dieser sein Kind erkennt, kastriert er sich voller Reue, wofür ihn Wenzeslaus gar lobt: LÄUFFER: Bleibt – Ich weiß nicht, ob ich recht getan – Ich habe mich kastriert ... WENZESLAUS: Was – Kastriert – Da mach ich Euch meinen herzlichen Glückwunsch drüber, vortrefflich, junger Mann, zweiter Origenes! Laß dich umarmen, teures, auserwähltes Rüstzeug! Ich kann’s Euch nicht verhehlen, fast – fast kann ich dem Heldenvorsatz nicht widerstehen, Euch nachzuahmen. So recht, werter Freund! Das ist die Bahn, auf der Ihr eine Leuchte der Kirche, ein Stern erster Größe, ein Kirchenvater selber werden könnt. Ich glückwünsche Euch, ich ruf Euch ein Jubilate und Evoë zu, mein geistlicher Sohn – Wär ich nicht über die Jahre hinaus, wo der Teufel unsern ersten und besten Kräften sein arglistiges Netz ausstellt, gewiß ich würde mich keinen Augenblick bedenken. – LÄUFFER: Bei alle dem, Herr Schulmeister, gereut es mich. WENZESLAUS: Wie, es gereut Ihn? Das sei ferne, werter Herr Mitbruder! Er wird eine so edle Tat doch nicht mit törichter Reue verdunkeln und mit sündlichen Tränen besudeln? Ich seh schon welche über Sein Augenlid hervorquellen. Schluck Er sie wieder hinunter und sing Er mit Freudigkeit: Ich bin der Nichtigkeit entbunden, nun Flügel, Flügel, Flügel her. Er wird es doch nicht machen wie Lots Weib und sich wieder nach Sodom umsehen, nachdem Er einmal das friedfertige stille Zoar erreicht hat? Nein, Herr Kollega; ich muß Ihm auch nur sagen, daß Er nicht der einzige ist, der den Gedanken gehabt hat. Schon unter den blinden Juden war eine Sekte, zu der ich mich gern öffentlich bekannt hätte, wenn ich nicht befürchtet, meine Nachbarn und meine armen Lämmer in der Schule damit zu ärgern; auch hatten sie freilich einige Schlacken und Torheiten dabei, die ich nun eben nicht mitmachen möchte. Zum Exempel, daß sie des Sonntags nicht einmal ihre Notdurft verrichteten, welches doch wider alle Regeln einer vernünftigen Diät ist, und halt ich’s da lieber mit unserm seligen Doktor Luther: Was hinaufsteigt, das ist für meinen lieben Gott, aber was hinunter geht, Teufel, das ist für dich – Ja wo war ich? LÄUFFER: Ich fürchte, meine Bewegungsgründe waren von andrer Art ... Reue, Verzweiflung.38
Die Anspielung auf Origines rückt die Kastration in eine religiöse Dimension, denn dieser soll sich im Zuge seiner strengen Askese unter Bezugnahme auf eine Passage aus dem Matthäus-Evangelium – „Denn es ist so: Manche sind von Geburt an zur Ehe unfähig, manche sind von den Menschen dazu gemacht und manche haben sich selbst dazu gemacht – um des Himmelreiches willen. Wer das erfassen kann, der erfasse es“39 – ebenfalls selbst entmannt haben. Damit ist jedoch nur ein Teil der Lösung ersichtlich, der zweite besteht in einem Schlusstableau, welches – gemäß der eingangs zitierten Philosophischen Vorlesungen für empfindsame Seelen – eine „Zähmung des Geschlechtertriebes“ durch den Triumph einer „empfindsame[n] 38 Ebd., S. 79f. 39 Vgl.: Matthäus 19,11f.
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Liebe“ evoziert. Denn nun gewinnt Läuffer das Herz der naiven und arglosen Lise, einer jungen Dorfschönheit, die Läuffer heiraten will, obwohl sie keine Kinder bekommen können: LÄUFFER: Ich will Lisen heiraten. WENZESLAUS: Heiraten – Ei ja doch – als ob sie mit einem Eunuch zufrieden? LISE: O ja, ich bin’s herzlich wohl zufrieden, Herr Schulmeister. […] LÄUFFER: Sehn Sie, Herr Wenzeslaus! Sie verlangt nur Liebe von mir. Und ist’s denn notwendig zum Glück der Ehe, daß man tierische Triebe stillt? WENZESLAUS: Ei was – Connubium sine prole, est quasi dies sine sole ... Seid fruchtbar und mehret euch, steht in Gottes Wort. Wo Eh ist, müssen auch Kinder sein. LISE: Nein Herr Schulmeister, ich schwör’s Ihm, in meinem Leben möcht ich keine Kinder haben. Ei ja doch, Kinder! Was Sie nicht meinen! Damit wär mir auch wohl groß gedient, wenn ich noch Kinder dazu bekäme. Mein Vater hat Enten und Hühner genug, die ich alle Tage füttern muß; wenn ich noch Kinder obenein füttern müßte. LÄUFFER küßt sie. Göttliche Lise!40
Diese Wende zum Triumph der empfindsamen Liebe kennzeichnet das Komödienende als Ganzes, da nicht nur Läuffer seine „göttliche Lise“ gewinnt, nachdem er sich wider das Gebot von Lehrer Wenzeslaus in diese verliebt hat. Auch die übrigen Verwicklungen finden eine glückliche Auflösung: Nachdem Fritz mit einem Lotteriegewinn seines Freundes Pätus nach Insterburg zurückreisen kann und man den Komplott Seiffenblasens erkannt hat, findet erst der Student Pätus die Jungfer Rehaar und danach Fritz in einer Kammer sein Gustchen wieder. Zudem versöhnt sich Fritz mit seinem Vater, dem Geheimrat, und auch der Major verzeiht seiner Tochter, dem Gustchen. Und schließlich erweist sich die alte Marthe, welche unverhofft mit Gustchens neugeborenem Kind auftaucht, als die vom alten Pätus einst verstoßene Mutter. So findet nicht nur der hartherzige und nun reuige Ratsherr Pätus seine Mutter, sondern auch der Major sein Enkelkind. Alle Verwicklungen entwirren sich gemäß der comédie larmoyante, denn auch Fritz verzeiht seinem Gustchen deren Liaison mit Läuffer, will sie heiraten und ist zudem bereit, Gustchens mit Läuffer gezeugtes Kind zu adoptieren. Damit wäre jene „Medicin“ eingelöst, welche in den Philosophischen Vorlesungen für empfindsame Seelen die „Zähmung unseres Geschlechtertriebes“ leistete, also die Tradition der „empfindsamen Liebe“. Anders als Matthias Luserke sehe ich daher in diesem Schlusstableau keine „Satire auf alle Harmonierungssehnsüchte des bürgerlichen Trauerspiels“41, sondern eine im Kontext der Lenzschen Transformation des Begehrens entwickelte Erinnerung an die für eben diesen Zweck äußerst hilfreiche Didaktik der Zärtlichkeit.
40 Lenz: Werke und Schriften. Band 2, a.a.O., S. 95f. 41 Matthias Luserke: Jakob Michael Reinhold Lenz im Spiegel der Forschung, Hildesheim 1995, S. 52.
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Die Liebe der Mätresse: Lenzens Tragikomödie Die Soldaten (1776) Lenz hat diese Transformation des Begehrens im Sinne der Philosophischen Vorlesungen für empfindsame Seelen auch in seinen folgenden Theaterstücken weiter verfolgt. Dies zeigt sich an der spezifischen Thematik von Lenzens 1776 erschienener Komödie Die Soldaten: Diese ist wohl das erste Schauspiel deutscher Sprache, in dem die historische Figur der Mätresse zur Sympathieträgerin einer Tragödie gemacht wird. Damit bewegt sich Lenz in der Tradition von Voltaire Zaire und Nicolas Rowes Jane Shore, die in ihren Tragödien die Mätresse als historische Figur gleichfalls zur Titelheldin machten. Und er markiert eine deutliche Differenz zur Gattung des Bürgerlichen Trauerspiels, insofern in seiner Komödie die Mätresse die Hauptrolle, und nicht die kontrastierende Nebenrolle zur tugendhaften Bürgertochter spielt. Die Kaufmannstochter Marie Wesener ist also nach Ansicht ihres Vaters auf dem besten Wege, eine „Mätresse [zu] werden“42, denn sie beginnt eine Beziehung mit dem jungen Offizier Desportes, obwohl sie bereits mit dem Tuchhändler Stolzius verlobt ist. Maries Vater beschimpft sie zwar als Luder, erhofft sich aber zugleich von dieser Liebschaft der Tochter einen sozialen Aufstieg. Marie solle sich daher den bürgerlichen Stolzius warmhalten, falls es mit dem adligen Offizier Desportes nicht klappen sollte. Dem jungen Offizier geht es jedoch nur um eine kurze Affäre, ähnlich wie dem nächsten Bewerber und Verführer, dem mit Desportes befreundeten Soldaten Mary. Als die offenkundig zur Koketterie43 neigende Marie zudem den jungen Grafen de La Roche kennenlernt, nimmt dessen Mutter sie in ihre Obhut: Sie könne Gesellschafterin der Gräfin werden, wenn sie sich ein Jahr lang von den Männern fernhalte. Marie trifft sich jedoch weiterhin mit Mary und Desportes, die sie allerdings beide fallen lassen, weshalb Maries Verlobter Stolzius dem Stand der Soldaten mit Recht vorwirft, junge Mädchen zu verführen und zu Ausgestoßenen aus der Gesellschaft zu machen. Auch hier jedoch findet sich schließlich ein der rührenden Komödie entsprechendes Ende, wenn Maries Vater seine hungernde Tochter bettelnd auf der Straße findet und beide sich im Moment des Wiedererkennens weinend in die Arme schließen. Wie wichtig in dieser Komödie ein mit dem Mätressenmotiv aufgerufener Aufstieg qua Mesalliance ist, zeigen schon die ersten Szenen. Die Komödie beginnt mit Mariane (Marie) und Charlotte, den Töchtern des Galanteriehändlers Wesener aus Lille. Mit Hilfe ihrer Schwester unternimmt Mariane den Versuch, sich der Sprache der Galanterie anzugleichen: Mariane schreibt einen Brief, in dem sie sich für einen Besuch im Hause Stolzius bedankt, und bittet ihre Schwester Charlotte um Hilfe beim Schreiben, wenngleich sie den Inhalt des gesamten Briefes nicht preis42 Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Schriften. Band 2, Stuttgart 1965–1966, S. 194. 43 Vgl.: Burkhard Meyer-Sickendiek: Weibliche Koketterie: Zur Wirkkraft Rousseaus im Sturm und Drang, in: Zwischen Vielfalt und Imagination. Praktiken der Jean-Jacques Rousseau-Rezeption, hg. v. Jesko Reiling und Daniel Tröhler, Genf 2013, S. 101–120.
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geben möchte. Als Charlotte eine heimliche Nachricht an den jungen Stolzius vermutet, in den Mariane verliebt ist, geraten die Mädchen ins Streiten, woraufhin Mariane weinend aus dem Zimmer läuft. Unterdessen klagt der bürgerliche Stolzius in Armentières seiner Mutter über Kopfschmerzen, die diese auf einen Liebeskummer wegen Marianes Abreise zurückführt, weshalb sie ihm einen – wohl – weiteren Brief von ihr zeigt, den Stolzius sogleich beantworten will. Dass dieser Eifer unbegründet ist, zeigt indes die nächste Sequenz aus Lille, in welcher der Baron Desportes und Mariane im Hause des Vaters in Lille einander umschmeicheln. Desportes ist „ein Edelmann aus dem französischen Hennegau“44, der sich als Offizier „in französischen Diensten“ heimlich von seinem Regiment entfernt hat, um die Bürgertochter Mariane in die Komödie zu führen. Marianes Vater Wesener aber lehnt dies aus Angst vor dem „Gerede bei den Nachbarn“, aber auch aufgrund der mangelnden Bekanntschaft beider ab: Sei Marie doch „noch nicht einmal zum Tisch des Herrn gewesen, und soll schon in die Komödie und die Staatsdame machen.“45 Daraufhin überredet Desportes Mariane, heimlich mit ihm in die Komödie zu gehen. Als er schließlich das Haus verlassen hat, erklärt der Vater Mariane den Grund für seine Bedenken: „Lehr du mich die jungen Milizen nit kennen.“46 Die Relevanz dieser Eröffnung erschließt sich aus der folgenden vierten Szene, die wieder in Armentières spielt, wo nun der Feldprediger Eisenhardt, der Obrist, Graf Spannheim, ein junger Graf, sein Vetter und dessen Hofmeister sowie Untermajor Haudy, Mary und andere Offiziere über den Wert und Nutzen der Komödie diskutieren. Die Argumente, wie sie insbesondere der Feldprediger Eisenhardt vorbringt, erinnern an die Theaterkritik Rousseaus, geht es doch letztlich um die fatale Wirkung des Theaters auf die bürgerlichen Sitten. Die Komödie mache jedoch nicht den Bürger lächerlich – das war das Argument Rousseaus –, sondern leite die Offiziere an, Bürgermädchen zu verführen und bringe so Fluch und Unheil in die Familien. Dagegen verteidigt der Untermajor Haudy die Komödie mit dem eigentümlichen Argument, dass eine Hure immer eine Hure werde, ganz gleich, in wessen Hände sie gerate. Eisenhardt vergleicht dies mit gewissem Recht als eine archaische, dem Zeitalter des Oglei Oglu, Vorgänger des berühmten Dschingis Khan, zukommende Ansicht, und bleibt bei seiner Kritik: „Solang ich aber noch entretenierte Mätressen und unglückliche Bürgerstöchter sehen werde, kann ich meine Meinung nicht zurücknehmen.“47 Wenn im Anschluss an diese Diskussion die Mariane dem Vater, der Mutter und der Schwester gesteht, mit dem Baron Desportes in die Komödie gegangen zu sein, dann ist dies mehr als nur eine Selbstreflexion des Kunstwerks. Es ist auch eine Eröffnung der für die Assimilationsthematik des Stückes entscheidende soziologische Bezugsfolie: Es geht um eben dieses Wohl und Wehe einer Mätresse, zu welcher die Tochter Mariane aufgrund des Komödienbesuches zu werden droht: 44 45 46 47
Lenz: Werke und Briefe, Band 2, a.a.O., S. 182. Ebd., S. 185. Ebd., S. 188. Ebd., S. 200.
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WESENER: Was, der Baron hat dich in die Komödie geführt? MARIANE etwas furchtsam: Ja Papa – lieber Pappa! WESENER stößt sie von seinem Schoß: Fort von mir, du Luder – willst die Mätresse vom Baron werden? MARIANE mit dem Gesicht halb abgekehrt, halb weinend: Ich war bei der Weyhern – und da stunden wir an der Tür – Stotternd. und da redt’ er uns an.48
Wenn Vater Wesener daraufhin trotz seiner anfänglichen Empörung der Tochter die Erlaubnis erteilt, mit Desportes in die Komödie zu gehen, dann basiert dieser Wandel unter anderem auf seinem Kalkül, sie könne einmal eine „gnädige Frau“ werden. Mit dieser Erlaubnis ist nicht nur das Sujet der Komödie, sondern auch die Rolle der Mätresse affirmativ gewendet. Das der Tochter drohende Schicksal, „in der Leute Mäuler“49 als „Luder“ zu gelten, ist offenbar vergessen, wenn Vater Wesener gar den Ratschlag erteilt, Marie solle sich den Bürger Stolzius dennoch warmhalten: „Du mußt darum den Stolzius nicht so gleich abschrecken, hör einmal.“50 Diese doppelte Bejahung der Komödie sowie des Mätressenschicksals unterscheidet Vater Wesener markant von jenen rigiden Tugendpredigern des Bürgerlichen Trauerspiels, wie sie Lessings Odoardo Galotti, Wagners Metzger Humbrecht oder Schillers Musikus Miller Humbrecht darstellen. Seine Ansichten unterscheiden diesen „Galanteriewarenhändler“51 zudem vom Feldprediger Eisenhardt, der sich gegen eben jenen moralisch ausschweifenden Lebenswandel aussprach, wie ihn die Offiziere in dieser Komödie offensichtlich führen. Beide differieren unterscheiden sich zudem deutlich in ihrer Beziehung zum bürgerlichen Tuchhändler Stolzius, der in Armentières schon recht bald wegen des libidinösen Interesses des Baron Desportes an seiner potentiellen Braut Mariane zu verzweifeln beginnt. Anders als Vater Wesener zeigt Eisenhardt sich solidarisch: EISENHARDT: Es ist lächerlich, wie die Leute alle um den armen Stolzius herschwärmen, wie Fliegen um einen Honigkuchen. Der zupft ihn da, der stößt ihn hier, der geht mit ihm spazieren, der nimmt ihn mit ins Cabriolet, der spielt Billard mit ihm, wie Jagdhunde die Witterung haben. Und wie augenscheinlich sein Tuchhandel zugenommen hat, seitdem man weiß, daß er die schöne Jungfer heuraten wird, die neulich hier durchgegangen.52
Wenn Stolzius also vom Untermajor Haudy den Rat erhält, so bald als möglich zu heiraten, um so der Gefahr durch Desportes zu entgehen, dann sei dies keine echte Hilfestellung, wie Feldprediger Eisenhardt im Kaffeehaus in Armentières in Anwesenheit der Offiziere betont. Vielmehr sei es an der Zeit, „vom armen Stolzius abzulassen, und nicht Eifersucht und Argwohn in zwei Herzen zu werfen, die vielleicht auf ewig einander glücklich gemacht haben würden.“53 Stattdessen sind 48 49 50 51 52 53
Ebd., S. 201. Ebd., S. 197. Ebd., S. 196. Ebd., S. 182. Ebd., S. 205f. Ebd., S. 206.
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jedoch auch Untermajor Haudy und Rammler darauf aus, Stolzius in eine durch die Beziehung Marianes zu Desportes motivierte Eifersucht zu treiben, die diesen systematisch zugrunde richten soll. Damit vermischen sich zusehends die Rollen von Täter und Opfer, anders als im Bürgerlichen Trauerspiel. Denn wenn Mariane in Lille sich beim Vater über den Stolzius beklagt, da dieser sie untreu nenne, zugleich aber dem Rat des Vaters folgt, sich mit Stolzius aus strategischen Gründen nicht zu überwerfen, und zudem mit dem Nebenbuhler und Verführer Desportes weiterhin neckische Spielchen treibt, dann ist ihre Rolle als Opfer des Libertins nicht länger überzeugend. Dies verdeutlicht in der zweiten Szene des zweiten Aktes auch jenes Lied der Mutter Weseners, in welchem diese Marianes Unheil voraussieht. Wenn schließlich auch Stolzius weiterhin die Marie verteidigt, da er davon ausgeht, dass der Baron Deportes ihr den Kopf verdreht habe, und sie zu rächen bestrebt ist, dann weiß der Zuschauer längst, dass Stolzius hier einer Fehleinschätzung erlegen ist. Zwar scheint nun wiederum das Schicksal der bloß Verführten evident, wenn Jungfer Zipfersaat der Mariane im Hause Weseners von der Flucht des Baron Desportes berichtet, der in österreichische Dienste gehe und überdies beim Seidenhändler Zipfersaat eine große Summe Schulden hinterlasse. Denn nun will gar Vater Wesener für Desportes’ Schulden einstehen, lässt wegen des Wechsels nach dem Notar rufen und beschließt, Desportes’ Eltern wegen dessen Schulden und wegen seines Heiratsversprechens zu schreiben. Aber damit wird keineswegs die moralische Ambivalenz dieser Komödie zurückgenommen, im Gegenteil. Vielmehr verdeutlicht nun das weitere Geschehen, dass es Lenz um eine strukturelle Analyse eines grundlegenderen Problems geht, welches schließlich in der vierten Szene des dritten Aktes erstmals formuliert wird, wenn Feldprediger Eisenhardt über den ehelosen Soldatenstand klagt: „O Soldatenstand, furchtbare Ehlosigkeit, was für Karikaturen machst du aus den Menschen.“54 Doch die furchtbaren Konsequenzen der soldatischen Ehlosigkeit sind kaum mehr aufzuhalten, da nun auch der Major Mary in das Buhlen um Mariane eingreift. Zwar bittet Mutter Wesener die Tochter Mariane, die Einladung des Offiziers Mary zu einem Ausflug in dessen Capriolet auszuschlagen. Zugleich aber plant auch Desportes, Mariane und Mary zu verkuppeln, um ihrer ledig zu werden. Als schließlich auch noch der Graf La Roche sich einreiht in die Reihe der aristokratischen Verführer, tritt endlich jene moralische Instanz auf, die dieser tragischen Entwicklung einzig Einhalt gebieten könnte: Die Gräfin La Roche. Denn sie tadelt ihren Sohn wegen seines heimlichen Treffens mit Mariane, und fordert ihn entsprechend auf, die Stadt für eine Zeit zu verlassen. Und während Mutter und Tochter Wesener noch immer Marianes Chancen bei Mary und beim jungen Grafen ermitteln, obwohl beide offenkundig schon vergeben sind, ist die Gräfin La Roche erstmals wirklich bemüht um das Schicksal der Mariane, weshalb sie sich mit Recht als deren „zärtlichste Freundin“ bezeichnet: 54 Ebd., S. 216.
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GRÄFIN: Mein Sohn, überlaß das Mitleiden mir. Glaube mir Umarmt ihn. glaube mir, ich habe kein härteres Herz als du. Aber mir kann das Mitleiden nicht so gefährlich werden. Höre meinen Rat, folge mir. Um deiner Ruhe willen, geh nicht mehr hin, reis aus der Stadt, reis zu Fräulein Anklam – und sei versichert daß es Jungfer Wesenern hier nicht übel werden soll. Du hast ihr in mir ihre zärtlichste Freundin zurückgelassen – Versprichst du mir das? JUNGER GRAF sieht sie lang zärtlich an: Gut Mamma, ich verspreche Ihnen alles – Nur noch ein Wort eh ich reise. Es ist ein unglückliches Mädchen, das ist gewiß.55
Die Gräfin bekennt Mariane ihre Zuneigung und ihren Schmerz über deren Unglück, welches sich durch Marianes mangelnde Weltkenntnis bzw. ihr falsches Vertrauen in die Reden der jungen Leute erkläre. Vor allem aber verleite ihre Schönheit sie dazu, sich über ihren Stand hinaus nach einem Mann umzusehen, wobei sie jedoch letztlich immer nur verraten und betrogen werde. Die Gräfin stellt Marianne also erstmals die Aussichtslosigkeit ihrer Situation vor Augen. Angesichts dessen solle sie nicht nur vom jungen Grafen ablassen, sondern als Gesellschafterin in die Dienste der Gräfin treten, dabei jedoch ein Jahr lang keinen Mann sehen. Mariane steht nun also zwischen den Avancen der sie umgebenden Männer – Offizier Mary etwa hat sich in Mariane verliebt und will sie heiraten, falls Desportes sie nicht nehme – und der Gräfin, die schließlich ein Treffen zwischen Mary und Mariane am Rande des gräflichen Gartens in Lille bemerkt und Mariane daraufhin empört fortschickt. Damit ist die unmittelbare Wirkkraft der Didaktik gekappt, es bleibt als erzieherische Bezugsfigur Marianes nun einzig deren Vater, der durch einen Bediensteten der Gräfin von Marianes Flucht erfährt. Zugleich beschließen auch Mary und Stolzius, Mariane zu suchen, und auch Stolzius geht nun zu einem Rachezug über. Nachdem sich der Verführer Desportes in Armentières über Mariane, die Hure, beklagt, die ihn in Schulden und Unglück getrieben habe, und von einem Jäger erzählt, den er auf sie angesetzt habe, wirkt jenes Gift, das Stolzius sich und ihm verabreicht hat: Beide sinken gemeinsam zusammen und sterben. Zugleich spaziert Vater Wesener an einem Fluß, wo ihn seine bettelnde Tochter Mariane um ein Almosen bittet. Schließlich erkennt er sie, woraufhin sich Vater und Tochter um den Hals fallen: WEIBSPERSON: Gnädiger Herr ich bin drei Tage gewesen, ohne einen Bissen Brod in Mund zu stecken, haben Sie doch die Gnade und führen mich in ein Wirtshaus, wo ich einen Schluck Wein tun kann. WESENER: Ihr lüderliche Seele! schämt Ihr Euch nicht, einem honetten Mann das zuzumuten? Geht, lauft Euren Soldaten nach. WEIBSPERSON geht fort ohne zu antworten. WESENER: Mich deucht, sie seufzte so tief. Das Herz wird mir so schwer. Zieht den Beutel hervor. Wer weiß wo meine Tochter itzt Almosen heischt. Läuft ihr nach und reicht ihr zitternd ein Stück Geld. Da hat Sie einen Gulden – aber bessere Sie sich. WEIBSPERSON fängt an zu weinen: O Gott! Nimmt das Geld und fällt halb ohnmächtig nieder. Was kann mir das helfen? 55 Ebd., S. 222.
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WESENER kehrt sich ab und wischt sich die Augen. Zu ihr ganz außer sich: Wo ist Sie her? WEIBSPERSON: Das darf ich nicht sagen. Aber ich bin eines honetten Mannes Tochter. WESENER: War Ihr Vater ein Galanteriehändler? WEIBSPERSON: schweigt stille. WESENER: Ihr Vater war ein honetter Mann? – Steh Sie auf, ich will Sie in mein Haus führen. Sucht ihr aufzuhelfen. Wohnt Ihr Vater nicht etwan in Lille – Beim letzten Wort fällt sie ihm um den Hals. WESENER schreit laut: Ach meine Tochter. MARIANE: Mein Vater! Beide wälzen sich halb tot auf der Erde. Eine Menge Leute versammlen sich um sie und tragen sie fort.56
Diese rührende vorletzte Szene der Lenzschen Komödie – ihr folgt der Schlussdialog zwischen dem Obristen Graf von Spannheim und der Gräfin La Roche, auf den wir noch eingehen – ist zweifellos dem empfindsamen Rührstück des frühen 18. Jahrhunderts entlehnt. Die tränenselige Wiederbegegnung von Vater und Tochter Wesener hat ihre Vorlagen etwa in der Wiederbegegnung der lange getrennten, per Zufall versöhnten Ehepartner aus La Chaussées Mélanide von 1741, jener Gattung, mit welcher die rege Diskussion um die comédie larmoyante in Frankreich begann. Lenz lässt die unglückliche Liebe der Mätresse Mariane also in einer rührenden Szene enden, weshalb Die Soldaten in der Forschung mit Recht als Tragikomödie identifiziert wurden.57 Damit kommen wir nun jedoch zur eigentlich letzten Szene, in welcher die Gräfin La Roche – zumindest in der Erstfassung – auf jene seltsame „Pflanzschule von Soldatenweibern“58 anspielt, die dann in der überarbeiteten Version der Obrist Graf von Spannheim entfaltet. Bevor wir die Bezüge dieser Reformidee zur Komödie selbst durchdenken, sei jedoch die Quelle für die eigentümliche Didaktik der Komödie Die Soldaten in den Blick genommen: Lenzens Beziehung zur Sophie von La Roche, Autorin des 1771 erschienenen empfindsamen Romans Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim.
Die Beziehung von Lenz zu Sophie von La Roche Ich teile nicht die Auffassung Matthias Luserkes, der mit dem Auftreten der Sophie von La Roche als Gräfin eine von Lenz intendierte „Herrschafts- und Gesellschaftskritik“ verknüpfte. Denn dies impliziert ja eine letztlich kritische Darstellung dieser „Aristokratin“, deren warnenden Worte gegenüber der Marie Wesener für Luserke eine Angst des Adels vor der „generellen Gefahr revolutionärer Umtriebe“59 56 Ebd., S. 241f. 57 Wir verwiesen bereits auf die Arbeit von Monika U. Wiessmeyer: Gesellschaftskritik in der Tragikomödie: ‚Der Hofmeister‘ (1774) und ‚Die Soldaten‘ (1776) von Jakob Michael Reinhold Lenz, in: New German review 2 (1986), S. 55–68. 58 Lenz: Werke und Schriften. Band 2, a.a.O., S. 245. 59 Matthias Luserke: Lenz-Studien: Literaturgeschichte, Werke, Themen, St. Ingbert 2001, S. 132.
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darstellten. Vielmehr gehe ich davon aus, dass der empfindsame Tugendidealismus der Sophie von La Roche einen entscheidenden Bezugspunkt für Lenzens Komödie darstellte. Dies zeigt allein die Beziehung zwischen Lenz und La Roche, welche sich zwar nie persönlich kennenlernten, allerdings im Rahmen eines Briefwechsels intensiv austauschten. Für eine adäquate Bewertung der Gräfin de La Roche bzw. ihrer Funktion im Rahmen der Soldaten ist jedoch nicht allein die realhistorische Beziehung aufschlussreich. Zu bedenken ist darüber hinaus, dass die Beziehung beider entscheidend durch eine sehr unterschiedliche Einschätzung der Figur Christoph Martin Wielands geprägt ist. Sophie von La Roche verlobte sich 1750 mit ihrem knapp drei Jahre jüngeren Vetter Christoph Martin Wieland, der später bekanntlich als Herausgeber ihres 1771 anonym veröffentlichten Briefromans Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim fungierte; wohingegen Lenz zu Wieland in einem zweifellos weitaus gespannteren Verhältnis stand. Wie sehr Lenz den Roman der La Roche schätzte, dessen Edition und Kommentierung durch Christoph Martin Wieland jedoch vehement verurteilte, verdeutlicht schon Lenzens 1775 entstandene szenische Skizze mit dem Titel Pandaemonium germanicum. In der ersten Szene des zweiten Aktes findet sich die folgende Situation: Eine Dame, die um nicht gesehen zu werden, hinter Wielands Rücken gezeichnet hatte, unaufmerksam auf alles was vorging, giebt ihm (Wieland) das Bild zum Sehen. Er zuckt die Achseln, lächelt bis an die Ohren hinauf, reicht aber doch das Bild grossmüthig herum. Jedermann macht ihm Komplimente darüber, er bedankt sich höchstens, steckt das Bild, wie halb zerstreut, in die Tasche, und fängt ein ander Stück zu spielen an. Die Dame erröthet.60
Wer genau diese Dame ist, lässt wiederum die vierte Szene des zweiten Aktes erkennen: Lenz spielt hier an auf Wielands sehr umstrittene Edition des Briefromans Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim. In seiner einleitenden Vorrede betonte Wieland, die Verfasserin habe ihm „unter den Rosen der Freundschaft ein Werk ihrer Einbildungskraft und ihres Herzens“61 angeboten, damit er es lobe und tadle. Wieland rechtfertigte seine Publikation damit, dass er „allen tugendhaften Müttern, allen liebenswürdigen jungen Töchtern unserer Nation ein Geschenk mit einem Werke“62 mache. Zudem sollten „die Richtigkeit ihres Geschmacks, die Wahrheit ihrer Urteile, die Scharfsinnigkeit ihrer Bemerkungen, die Lebhaftigkeit ihrer Einbildungskraft und die Harmonie ihres Ausdrucks mit ihrer eigenen Art zu empfinden und zu denken, kurz, alle ihre Talente und Tugenden“63, der Verfasserin Erfolg bringen. Zugleich aber lässt es sich Wieland nicht nehmen, durch seltsam frivole Bemerkungen seinen Spott über die Thematik des Romans zu artikulieren. Bekannt ist jene Szene, in welcher Mylord Derby die tugendhafte Heldin Sophie mit Gewalt verführen will und dabei ihr Kleid zerreißt: „Warum sagte sie, er zerreisse 60 61 62 63
Lenz: Werke und Briefe, Bd. 1, a.a.O., S. 261. Sophie von La Roche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. München 1976, S. 4. Ebd., S. 5. Ebd., S. 10.
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ihr Herz, da er doch nur ihr Deshabille zerriß?“64 Wie empört Lenz auf derlei Herrenwitze reagierte, zeigt nun die folgende Szene aus Pandaemonium germanicum: GOETHE zieht WIELAND das Blatt Zeichnung aus der Tasche, das er vorhin von der Dame eingesteckt. GOETHE hält’s hoch: Seht dieses Blatt, und hier ist die Hand, die es gezeichnet hat. (Die Verfasserin der ‚Sternheim‘ ehrerbietig an die Hand fassend. EINE PRÜDE weht sich mit dem Fächer: O das wäre sie nimmer imstande gewesen, allein zu machen. EINE KOKETTE: Wenn man ein so groß Genie zum Beistand hat, wird es nicht schwer, einen Roman zu schreiben. GOETHE: Errötest du nicht. Wieland? Verstummst du nicht? Kannst du ein Lob ruhig anhören, das soviel Schande über dich zusammenhäuft? Wie, dass du nicht deine Leier in den Winkel warfst, als die Dame dir das Bild gab, demütig vor ihr hinknietest und gestandst, du seist ein Pfuscher! Das allein hätte dir Gnade beim Publikum erworben, das deinem Wert nur zu viel zugestand. Seht dieses Bild an. Stellt es auf eine Höhe. ALLE MÄNNER fallen auf ihr Angesicht; rufen: Sternheim! wenn du einen Werther hättest, tausend Leben müssten ihm nicht zu kostbar sein.65
Deutlich wird hier zweierlei: Einerseits eine auch in den Briefen von Lenz erkennbare Hochschätzung der Sophie von La Roche, andererseits der äußerste Unmut gegenüber ihrem Herausgeber Wieland. Was Lenz dabei vor allem empörte, zeigt schon der Brief vom 1. Mai 1775, der sich darüber wundert, dass die Geschichte des Fräuleins von Sternheim „unter fremdem Namen möcht’ ich beinahe sagen, vor der Welt aufgeführet wurde und mit halbsovielem Glück, als wenn jedermann gewusst, aus wessen Händen dieses herrliche Geschöpf entschlüpfte.“66 Das Ärgernis ist der Herausgeber, denn „der Name des Verfassers komischer Erzählungen war keine gute Empfehlung für einen Engel des Himmels, der auf Rosengewölken herabsank, das menschliche Geschlecht verliebt in die Tugend zu machen; dieser Name warf einen Nebel auf die ganze Erscheinung.“67 Damit wird eine Hochschätzung gerade der Tugendhaftigkeit Sophie von La Roches ersichtlich, die jene satirisch-kritischen Kommentare, wie sie Wieland in seiner Edition einstreute, für Lenz absolut indiskutabel macht. Wenngleich Wieland also „nur die Noten und die Vorrede“ zum Briefroman geschrieben hat, so hätte er dennoch „mit mehrerer Ehrfurcht dem Publikum ein Werk darstellen sollen, dessen Verfasserin zu gross war, selber auf dem Schauplatze zu erscheinen.“68 Der Brief vom 25. Juni 1775 unterstreicht erneut Lenzens enorme Verärgerung über jene von Wieland verfassten „dummen Noten, die mich allemal bey den seligsten Stellen in meinem Gefühle unterbra-
64 65 66 67 68
Ebd., S. 299. Lenz: Werke und Briefe, Bd. 1, a.a.O., S. 263f. Lenz: Werke und Briefe, Bd. 3, S. 313. Ebd., S. 314. Ebd.
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chen, gerad als wenn einem kalt Wasser aufgeschüttet wird. Gleich fühlte ich, daß in den Noten die Verfasserin nicht war.“69 Aus dieser sehr unterschiedlichen Beziehung beider zu Wieland erschließt sich meines Erachtens allererst das so schwer zu beurteilende Verhältnis von Sturmund-Drang und Empfindsamkeit, das nach neueren Forschungsresultaten ein komplementäres Wechselverhältnis bildete.70 Dazu muss man auch wissen, dass sich Lenz an die mit der formelhaften Anrede „gnädige Frau“ addressierte Sophie von La Roche in einer sehr schwierigen Phase seines Lebens wandte, geprägt vom Unverständnis seitens des eigenen Vaters für die künstlerische Existenz. Lenz sah in Sophie von La Roche in erster Linie eine „Frau von Stande“71, die ihm Führung geben solle: Ganz so, wie in seiner Komödie Die Soldaten die Gräfin La Roche der Marie Wesener Führung geben soll. Diese Suche nach Halt und Orientierung formuliert unmissverständlich der Brief vom Juni 1775: „So führen Sie mich denn!“72 Damit ist eine „Freundschaft“ intendiert, die Lenz mit all jenem Pathos der Empfindsamkeit auflud, die der Begriff um die Mitte des 18. Jahrhunderts genoss: „Ich nehme das Wort in der strengsten, eigentlichsten Bedeutung; nichts mehr, aber auch nichts weniger ist mein Herz stolz genug von Ihnen zu verlangen.“73 Zweifellos nahm Lenz solche empfindsamen Konnotationen an dieser und anderen Stellen des Briefwechsels überaus ernst, von einer satirisch-kritischen Distanz gegenüber der La Roche als einer „Dame von ihrem Rang“74 kann kaum die Rede sein. Lenz hat in Sophie von La Roche eine Art Lehrerin gesehen, die er zwar an anderer Stelle auch als „Muse“ bezeichnete, deren Funktion es jedoch sei, ihn „auf neue Bahnen [zu] leiten.“75 In diesem Sinne betonte Wolfgang Albrecht: Ebendiese lenkende Funktion kontrastiert der herkömmlichen, beispielsweise gerade in Wielands Beziehungen zu La Roche begegnenden Erwartung an eine erwählte Muse: den schreibenden Mann zu inspirieren, ihm völlig nach seinen Wünschen dienstbar und fürsorglich zu sein. Folgerichtig modifizierte Lenz weitere Konventionen geschlechtsdifferenzierter literarischer Freundschaft, die sich wiederum am Beispiel Wieland und La Roche haben feststellen lassen: Statt die Freundin als Freizeitliteratin zu behandeln, die zuvörderst für ihr Geschlecht schreiben könne und solle, zeigte Lenz sich zumindest ansatz- und zeitweise gewillt, sie als lebenspraktisch klügere und literarisch bewundernswerte, mithin als eigenständige Partnerin zu akzeptieren.76 69 Ebd., S. 320. 70 Zur neueren Forschungsdiskussion vgl. letzthin u.a. Matthias Luserke und Reiner Marx: Die Anti-Läuffer. Thesen zur SuD-Forschung oder Gedanken neben dem Totenkopf auf der Toilette des Denkers, in: LenzJahrbuch. Bel. 2. St. Ingbert 1992. S. 126–150. 71 Ebd., S. 325. 72 Ebd., S. 319. 73 Ebd. 74 Ebd., S. 320. 75 Ebd., S. 320. 76 Wolfgang Albrecht: Lenz und Sophie von La Roche. Empfindsamer Tugendidealismus als Konsensstifter für Sturm und Drang und (Spät-)Aufklärung, in: Ulrich Kaufmann, Wolfgang Albrecht, Wolfgang und Helmut Stadeler (Hrsg.): „Ich aber werde dunkel sein“. Ein Buch zur Aus-
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Nach Albrecht ist also der ‚empfindsame Tugendidealismus‘ Sophie von La Roches für Lenz in hohem Maße verbindlich und verpflichtend. Begründen lässt sich diese enge Bindung auch durch den von Albrecht betonten wirkungspoetologischen Aspekt, der für Lenz den Sternheim-Roman so beeindruckend erscheinen ließ: Ganz im Gegensatz etwa zu den Satiren Wielands. Wenn Lenz den Roman als eine Art Lebenshilfe für weibliche Leserschaft deutete, aber auch dessen Potential sah, „das menschliche Geschlecht verliebt in die Tugend zu machen“77, dann basierte diese Einschätzung nach Albrecht eben auf einer „empfindsam-rührende[n] Affekterregung (bis hin zu Tränen), wie Lenz sie von sich selbst bekundet.“78 Unmissverständlich formuliert dies bereits der erste Brief Lenzens vom 1. Mai 1775: Gnädige Frau! nennen Sie Ihr Mädgen nicht phantastisch, ich hoffe es werden Zeiten erwachen die itzt unter dem Obdach göttlicher Vorsehung schlummern, in denen Leserinnen von Ihnen Ihr Buch das sie jetzt noch als Ideal ansehen, zur getreuen Copei machen werden. Wenn Sie doch für jedes weibliche Alter dergleichen Ideale schufen! Sie würden alle einen Ton haben, weil sie aus Ihrem Herzen kämen, das sich in dergleichen Gemälden nur selbst abdruckt. Liebe gnädige Frau! der Himmel belohne Sie. – Wär’ es auch nur für all die wollüstigen Tränen die Sie mir haben aus den Augen schwärmen machen und in denen die ganze Welt um mich her verschwand.79
Es ist davon auszugehen, dass für Lenz diese Empfindsamkeit des Sternheim-Romans wesentlich übereinstimmt mit seiner eigenen Wirkungsabsicht, die wiederum von der satirischen Wirkintention der Dichtung Wielands scharf unterschieden wird. Denn dass Lenz Wieland gerade als Philosophen „ewig hassen muß“, wie er im Brief vom Juli 1775 betont, liegt daran, weil dieser glaube, der Menschen „Kräfte sein keiner Erhöhung fähig.“80 Lenz empfand ehrliche, weitreichende Hochachtung für Sophie von La Roche, und eine gleichzeitige Eifersucht auf ihren Verlobten Wieland, dessen Herabsetzung gar dazu führt, dass eigentliche Verhältnis zwischen dem Herausgeber und der anonymen Autorin umzukehren: „Wieland müsse Ihrem Umgange alles – alles vielleicht zu danken haben, was ihn schätzbar macht.“81 Allerdings geht es Lenz dabei weniger um den Versuch, eine eigene erotische Beziehung zur La Roche zu entwickeln: Vielmehr sah er in dieser eine mütterliche Freundin, eine verständnisvolle (Ersatz-)Mutter, wie Albrecht mit Recht betont.82
77 78 79 80 81 82
stellung Jakob Michael Reinhold Lenz. Im Auftrag des Mercurius e. V. und der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen. Jena: Bussert 1996, S. 24–31, hier S. 28. Lenz: Werke und Briefe Bd. 3, S. 314. Albrecht: Lenz und Sophie von La Roche, a.a.O., S. 26. Lenz: Werke und Briefe Bd. 3, S. 314. Ebd., S. 326. Ebd., S. 320. Albrecht: Lenz und Sophie von La Roche, a.a.O., S. 26f.
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Lenz, La Roche und der „weibliche Habitus“ Inge Stephan hat Jakob Michael Reinhold Lenz jüngst zu einer Stürmerin und Drängerin erklärt. Während im Kreis der Stürmer und Dränger „homosoziale Kommunikations-und Geselligkeitsstrukturen“ im Sinne des Geniekults dominiere, dessen Grundlage ein Ausschluss von Frauen sei83, werde Lenz im Konkurrenzkampf der Männer „in die ‚weibliche‘ Position gedrängt“ und habe so „all die Mechanismen von Marginalisierung, Vergessen und Verdrängen [erfahren], denen sonst weibliche Autorinnen ausgesetzt“84 seien. Auch Maria Müller betonte, dass sich „Lenz durch Goethes Machttechniken als Autor verkannt und um seinen Namen gebracht“ sah, „ähnlich wie seiner Meinung nach La Roche von Wieland disqualifiziert worden sei.“85 Dieser Identifikation fehlt freilich die gesellschaftspolitische Grundlage, wenn wir den so unterschiedlichen sozialen ‚Rang‘ bedenken, den Lenz gegenüber der historischen Sophie La Roche innehat, die in Die Soldaten nicht von ungefähr als ‚Gräfin‘ firmiert. Zu Beginn seines Schaffens hatte sich der für eine gelehrte Karriere ausgebildete Pastorensohn Lenz bekanntlich den Plänen seines Vaters für die Pastorenlaufbahn widersetzt und stattdessen den Dienst bei den kurländischen Baronen Kleist angetreten, die er 1771 nach Straßburg begleitete. Ab Herbst 1774 unterrichtete Lenz als Privatlehrer im Sinne eines Hofmeisters, eine Tätigkeit, die er in seiner gleichnamigen Komödie verarbeitete. In der sogenannten Straßburger Phase bis Frühjahr 1776, die mit der Beendigung der Komödie Die Soldaten endet, hat Lenz sich zwar äußerst intensiv als öffentlicher Autor zu etablieren versucht, also in jener äußerst produktiven Werkphase, aus welcher auch sein erster Brief an La Roche vom 1. Mai 1775 datiert. Diese hatte es zu diesem Zeitpunkt als Autorin jedoch bereits zu weit höherem Ansehen gebracht, leitete sie doch aufgrund des politischen Aufstiegs ihres Ehemanns in Koblenz-Ehrenbreitstein zwischen 1771 und 1780 ein Anwesen, das den Rahmen ihres kulturell sehr vernetzten Lebenswandels darstellte. Bekanntlich war die Sophie von La Roche eine geborene Marie Sophie Gutermann Edle von Gutershofen und wurde in Kaufbeuren als ältestes von dreizehn Kindern des Arztes Dr. med. Georg Friedrich Gutermann von Gutershofen und seiner Frau Regina Barbara, geb. Unold, geboren.86 Als Sophie elf Jahre war, erhob man ihren Vater in den Reichsadel, so dass er sich von nun an Georg Friedrich Gutermann, Edler von Gutershofen nennen durfte. Deshalb stellte Sophie von La Roches Ehe mit dem kurmainzischen Hofrat Georg Michael Frank von Lichtenfels, genannt La Roche, keine Mesalliance dar, da der Ziehvater La Roches der Aristokrat Friedrich Graf von Stadion war, bei welchem La Roche als Privatsekretär 83 lnge Stephan: Geniekult und Männerbund. Zur Ausgrenzung des ‚Weiblichen‘ in der Sturm und Drang-Bewegung, in: Text und Kritik. Zeilschrift für Literatur. Bd. 146: Jakob Michael Reinhold Lenz, hg.v. Heinz Ludwig Arnold, München 2000, S. 46–54, hier S. 49f. 84 Ebd. 85 Maria E. Müller: ‚Da bin ich einfach paff‘, a.a.O., S. 81f. 86 Vgl. dazu ausführlich: Armin Strohmeyr: Sophie von La Roche. Eine Biografie. Reclam, Leipzig 2006.
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arbeitete. Seit 1754 lebten die La Roches am kurfürstlichen Hof in Mainz; nachdem Graf von Stadion dann 1762 den Hof in Mainz verlässt, ziehen Sophie von La Roche und ihr Mann mit dem Grafen auf dessen Gut Warthausen bei Biberach. Georg Michael Frank La Roche wird Gutsverwalter des Grafen von Stadion, ist jedoch keinesfalls ein Graf, weshalb seine Gattin entsprechend auch keine ‚Gräfin‘ ist. Allerdings wurde ihr Mann 1775 in den Adelsstand erhoben, weshalb sich der Titel „Gräfin La Roche“87 möglicherweise aus diesem Zusammenhang erklärt. Von einer derart renommierten sozialen Stellung kann bei Lenz freilich keine Rede sein, und er war sich dieser Rangunterschiede wohl bewusst. Zugleich aber scheint er diese Differenz, um die ersehnte Freundschaftsharmonie nicht gleich im Ansatz zu gefährden, zu überspielen und allenfalls auf kritische Vorbehalte hin behutsam anzudeuten: Sie haben recht [ ... ]. Doch bitte ich Sie sehr, zu bedenken, gnädige Frau! daß mein Publikum das ganze Volk ist; daß ich den Pöbel so wenig ausschließen kann, als Personen von Geschmack und Erziehung, und daß der gemeine Mann mit der Häßlichkeit feiner Regungen des Lasters, nicht so bekannt ist, sondern ihm anschaulich gemacht werden muß, wo sie hinausführen.88
Ungeachtet dieser politischen Differenz gleicht die Beziehung der beiden jedoch einem Lehrer-Schüler-Verhältnis: Lenz erbat sich „strengstes Urteil“89 über seine Dramatik und erweitert die freundschaftliche Beziehung zu einem familiär vertrauten Sohn-Mutter-Verhältnis, wenn er um „strengsten mütterlichen Tadel“ und um „mütterliche Züchtigung“90 bat. Wolfgang Albrecht hat diese Adressierung der La Roche als mütterlicher Freundin als eine Kompensation Lenzens gedeutet, der so die als kaltsinnig empfundenen eigenen Eltern durch eine Ersatzbeziehung austausche.91 Allerdings ergeben sich Zweifel, ob Lenz sich wirklich als Sohn oder Zögling der Dichterin La Roche verstand, wenn er von vornherein betonte, dass er Kritik nur bedingt zu akzeptieren bereit wäre: ,,Ich will niemals fordern; aber ich bitte Sie, ach! gnädige Frau, sagen Sie mir ihre ganze Meinung; aber ich werde mich niemals ändern. Modifizieren kann sich der nur, der nicht von Jugend auf, wie ich, mit dem Kopf gegen die Wand gerennt ist.“92 Insofern ist erst noch zu klären, wo die Affinitäten im Werk von La Roche und Lenz zu verorten sind. So etwa gibt es ohne Zweifel eine große, ja unüberbrückbare Differenz beider Autoren hinsichtlich der Frage nach der ‚Konkupiszenz‘ im Sinne des heftigen erotischen Verlangens, denn während Sexualität im Werk Sophie La Roches tabuisiert wird, lässt sich mit Matthias Luserke bei Lenz durchaus von einer „regelrechte[n] Enttabuisierungs-
87 88 89 90 91 92
Lenz: Werke und Briefe, Bd. 2, S. 182. Lenz: Werke und Briefe, Bd. 3, S. 326. Ebd. Ebd., S. 331. Vgl. Albrecht, Lenz und Sophie von La Roche, bes. S. 28f. Lenz: Werke und Briefe, Bd. 3, S. 325.
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wut“ sprechen.93 Erstaunlich weitreichend sind dagegen die Affinitäten beider Autoren, wenn wir Lenzens moralisch-philosophischen Reformprojekte in den Blick nehmen, deren emphatisches Bekenntnis zur „empfindsamen Liebe“, aber auch zur Reformierung des Soldatenwesens wir andeuteten. Maria E. Müller hat diese Affinitäten folgendermaßen identifiziert: Die Analogie zwischen physischer und moralischer Welt; die visuelle Anschauungstotalität der Schöpfung; die Spekulationen zum Verhältnis von Eigenliebe und Gemeinnutz; eine verbindliche, nicht im Dogma, sondern im praktischen Christentum verankerte Ehemoral; eine auf Handeln ausgerichtete Schreibmotivation; eine daraus entwickelte Projektemacherei mit pädagogischen, landwirtschaftlichen und bei Lenz auch militärischen Mustereinrichtungen. Bei beiden Autoren kristallisieren sich diese Utopien literarisch als Landidyllen und patriarchalische Hymnen aus.94
Nun hatte Lenz nach eigenem Bekunden die „Gräfin La Roche“ aus den „Schriften und Briefen“ der historischen Sophie von La Roche nachgebildet, deren Titel dürfte also auch am Romanwerk der Sophie von La Roches orientiert sein. Und im Handeln dieser fiktiven Gräfin ist wohl am ehesten die Wirkungsabsicht des Autors Lenz zu erkennen, die er seiner Brieffreundin La Roche gegenüber so formulierte: „Ich will aber nichts, als dem Verderbnis der Sitten entgegen arbeiten, das von den glänzenden zu den niedrigen Ständen hinab schleicht, und wogegen diese die Hülfsmittel nicht haben können, als jene.“95 Dem scheint die nun zu unterbreitende These zunächst zuwider zu sein. Ich gehe aber dennoch davon aus, dass eine weitere Gemeinsamkeit beider in der moralisch durchaus begründbaren Positivierung der Mätressenexistenz zu suchen ist. Dies wird deutlich, wenn wir nun das Fräulein von Sternheim selbst, also die Figur der Sophie von Sternheim in den Blick nehmen.
Die Mätresse im Roman der Empfindsamkeit: Das Fräulein von Sternheim und Pamela Andrews Sophie von Sternheim ist die Tochter eines geadelten Obersten und einer aus altem englischem Adel stammenden Lady: Sophie sen., Schwester des „Baron von P.“. Sophie jun.’s Vater Sternheim, „von Offizieren und Gemeinen auf das vollkommenste geehrt und geliebt“96, wurde lange vor seiner Ehe mit der Lady vom Fürsten in „den Adelstand“ erhoben und erhielt vom General „das Obersten-Patent und den Adelsbrief“97. Dazu betont der im Namen des Fürsten diese Nobilitierung 93 Vgl. Matthias Luserke, Reiner Marx: Die Anti-Läuffer. Thesen zur SuD-Forschung oder Gedanken neben dem Totenkopf auf der Toilette des Denkers, in: Lenz-Jahrbuch 2 ( 1992), S. 126–150, hier S. 134. 94 Maria E. Müller: ‚Da bin ich einfach paff‘, a.a.O., S. 93. 95 Lenz: Werke und Briefe, Bd. 3, S. 326. 96 Sophie von La Roche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. München 1976, S. 12. 97 Ebd., S. 13.
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aussprechende General im Roman: „Ihr Verdienst, nicht das Glück hat Sie erhoben.“98 Der Oberst von Sternheim zeichnet sich bei seinen Feldzügen durch „Großmut, Menschenliebe und Tapferkeit in vollem Maß aus“99, er wird so Bekannter und Nachbar eines Baron von P., und verliebt sich in dessen Schwester. Die adlige Sophie sen. stellt sich trotz der von ihr erwiderten Liebe zu Sternheim dennoch die Frage, wie sie reagieren würde, „wenn ein Mann, voll Weisheit und Tugend dich liebte, um deine Hand bäte, aber nicht von altem Adel wäre?“100 Hier dominiert also die sehr konservative Unterscheidung zwischen Geburts- und Verdienstadel bzw. die Frage, ob denn des Obersts „edles Herz“ dessen „Mangel der Ahnen“101 ersetzen könne. Zwar gilt in Sophie sen.’s Familie die Maxime: „Der Adel soll durch adelige Verbindungen fortgeführt werden“102, dennoch aber gilt für Sophie sen.: „Sternheims Verdienste, mit dem Charakter eines wirklichen Obersten, der schon als adelig anzusehen ist, rechtfertigen die Hoffnung, die ich ihm gemacht habe.“103 Alle Bedenken, die insbesondere von Sophiens Schwester Charlotte formuliert werden, sind schließlich unbegründet, wie die Mutter entscheidet: „Es ist wahr, es fehlt dem Manne nichts als eine edle Geburt. Aber, Gott segne Sie beide!“104 Es folgen Schicksalsschläge, denen sich die Tochter Sophie schon früh ausgesetzt sieht: Bereits im Alter von neun Jahren verliert sie ihre Mutter, zehn Jahre später stirbt der Vater. Die sorgfältig erzogene Waise, die man in der höheren Gesellschaft als „ein wunderliches Gemische von bürgerlichem und adeligem Wesen“105 ansieht, wird daher von einer entfernten Verwandten, der Gräfin Löbau, in die Landeshauptstadt D. geholt. Dies geschieht allerdings in der schändlichen Absicht, das anmutige und schöne Mädchen dem Landesherrn als Mätresse zuzuführen. In einem Brief des Lord Seymor an den Doktor T** heißt es dazu:
98 99 100 101 102 103 104
Ebd., S. 12. Ebd., S. 13. Ebd., S. 20. Ebd., S. 21. Ebd., S. 24. Ebd. Ebd., S. 26. Trotz dieser Mesalliance aber bleibt der Oberst seiner Herkunft treu bzw. loyal: Die „Personen von demjenigen Stande an, aus welchem ich herausgezogen bin, […] will ich niemals zu denken veranlassen, daß ich meinen Ursprung vergessen habe. Sie sollen weder Stolz noch niederträchtige Demut bei mir sehen“, vgl.: Ebd., S. 31. Dies gilt übrigens auch hinsichtlich seines Verhaltens „gegen meine Untergebene […], für deren Bestes ich auf alle Weise sorgen werde, um ihrem Herzen die Unterwürfigkeit, in welche sie das Schicksal gesetzt hat, nicht nur erträglich, sondern angenehm zu machen“, ebd., S. 32. Wohltätigkeit wird dabei zum entscheidenden Stichwort der väterlichen Tugend, dieser Wesenszug dominiert auch später den Charakter seiner Tochter, des Fräuleins Sophie. Daneben aber mischt sich ein für die Empfindsamkeit der Heldin nicht unwesentlicher Zug, wenn der Vater etwa befürchtet, dass Sophies empfindungsvolle Seele einen zu starken Hang zu melancholischer Zärtlichkeit bekommen und durch eine allzu sehr vermehrte Reizbarkeit der Nerven unfähig werden möchte, Schmerzen und Kummer zu ertragen.“ Grund dafür sind Schicksalsschläge, denen sich Sophie schon früh ausgesetzt sieht: Bereits im Alter von neun Jahren verliert sie ihre Mutter, zehn Jahre später stirbt der Vater. 105 Ebd., S. 103.
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Niemals, niemals ist mein Herz so eingenommen, so zufrieden mit der Liebe gewesen! Aber was werden Sie dazu sagen, daß man dieses edle, reizende Mädchen zu einer Mätresse des Fürsten bestimmt? daß mir Mylord verboten, ihr meine Zärtlichkeit zu zeigen, weil der Graf F. ohnehin befürchtet, man werde Mühe mit ihr haben? Doch behauptet er, daß sie deswegen an den Hof geführt worden sei. Ich zeigte meinem Oncle alle Verachtung, die ich wegen dieser Idee auf den Grafen Löbau, ihren Oncle geworfen; ich wollte das Fräulein von dem abscheulichen Vorhaben benachrichtigen und bat Mylorden fußfällig, mir zu erlauben, durch meine Vermählung mit ihr, ihre Tugend, ihre Ehre und ihre Annehmlichkeiten zu retten. Er bat mich, ihn ruhig anzuhören, und sagte mir; er selbst verehre das Fräulein und sei überzeugt, daß sie das ganze schändliche Vorhaben zernichten werde; und er gab mir die Versicherung, daß, wenn sie ihrem würdigen Charakter gemäß handle, er sich ein Vergnügen davon machen wolle, ihre Tugend zu krönen. „Aber solange der ganze Hof sie als bestimmte Mätresse ansieht, werde ich nichts tun. Sie sollen keine Frau von zweideutigem Ruhme nehmen; halten Sie sich an das Fräulein C*, durch diese können Sie alles von den Gesinnungen der Sternheim erfahren: ich will Ihnen von den Unterhandlungen Nachricht geben, die der Graf F. auf sich genommen hat. Alle Züge des Charakters der Fräulein geben mir Hoffnung zu einem Triumphe der Tugend. Aber er muß vor den Augen der Welt erlangt werden.106
Entgegen ihrer natürlichen, tugendhaften Erziehung soll Sophie also die Mätresse des Fürsten werden, da sich ihr Onkel dadurch einen politischen Vorteil erhofft. Es ist anzunehmen, dass sich in diesem Motiv der Einfluss der Lektüre Richardsons bzw. dessen Roman Pamela reflektiert.107 Pamelas Mätressenschicksal droht also auch der Sophie von Sternheim. Zudem soll sie sich dem Hofe anpassen und sich um ihre Äußerlichkeiten kümmern, anstatt sich zu bilden. Angesichts dieser Konstellation ging man in der Forschung immer davon aus, dass die Geschichte der Heldin mit der Geschichte bzw. dem Aufstieg des bürgerlichen Standes im 18. Jahrhundert verbunden war. Sophie repräsentiere eine ideale bürgerliche Welt, in der Tugendhaftigkeit, Familiensinn, Bildung, Naturgefühl und Empfindsamkeit zu Hause sind, während am absolutistischen Hof eine Scheinwelt von Korruption und Opportunismus existiere.108 In der Tat ist die Kritik am Hofleben deutlich 106 Ebd., S. 76. 107 Pascal Nicklas: Aporie und Apotheose der verfolgten Unschuld: Samuel Richardson und Sophie von La Roche, in: Colloquium Helveticum 1996, N.24, S. 29–60. 108 Peter Uwe Hohendahl etwa deutete den Roman als eine auf bürgerliche Tugendideale bauende Kritik am Luxusleben, wie es in Gestalt verworfener Adliger oder intriganter Helfershelfer existiert, vgl.: Peter Uwe Hohendahl: Der europäische Roman der Empfindsamkeit (Athenaion Studientexte 1), Wiesbaden 1977, S. 78. Vgtl. Auch: Ders.: Empfindsamkeit und gesellschaftliches Bewußtsein. Zur Soziologie des empfindsamen Romans am Beispiel von ‚La Vie de Marianne‘, ‚Clarissa‘, ‚Fräulein von Sternheim‘ und ‚Werther‘, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 16, 1972, S. 176–207; hier: S. 197. Ähnlich sah Barbara Becker-Cantarino den Roman als Paradebeispiel „für das Dilemma und die ambivalente Situation der bürgerlichen Frau im 18. Jahrhundert. Sie wird als Person definiert über das Tugendgebot […]. Zugleich ist sie als Individuum nicht autonom, sondern im familiären Bereich sowie der Gesellschaft von Männern und deren Interessen abhängig (Vater, Onkel, der Fürst, Derby, Seymour)“, vgl.: Barbara Becker-Cantarino: Meine Liebe zu Büchern. Sophie von La Roche als professionelle Schriftstellerin. Heidelberg 2008: S. 96)
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formuliert: „Wie oft der Hofton, der Modegeist, die edelsten Bewegungen eines von Natur vortrefflichen Herzens unterdrückt und, um das Auszischen der Modeherren und Modedamen zu vermeiden, mit ihnen lachen und beistimmen heißt: dies erfüllt mich mit Verachtung und Mitleiden. [...] Kein Laster darf ohne Maske erscheinen; ja selbst die Tugend der Nächstenliebe erhält eine Art von Verkehrung in den ausgesuchten und feinen Schmeicheleien, die immer eines der Eigenliebe des andern macht.“109 Allerdings ist auffallend, dass sich Sophies Abneigung gegenüber dem Hofleben auf dessen französische Variante konzentriert, wohingegen sie eine große Sympathie für den englischen Adel und die englische Lebensweise generell empfindet: So etwa für Lord Derby und Lord Seymour, die beide aus gutem englischem Hause stammen.110 Zudem ist Sophie im Milieu dieses britischen Landadels ein von Gefühl und Aufrichtigkeit bestimmter Umgang möglich. Vor allem aber ist Sophie keineswegs nur ein Opfer des Hoflebens, sondern weiß sich mit dessen Rollenspielen, die uns an jene erläuterte Liebeskasuistik des Scudéry-Salons erinnern, durchaus zu arrangieren. Sie nutzt ihr Leben am Hofe also auch dazu, sich qua Phantasie in die diversen Rollen am Hofe hineinzudenken. „Meine Phantasie stellt mich nach der Reihe an den Platz derer, die ich beurteile“, um diese Personen dann im Spannungsfeld der „allgemeinen moralischen Pflichten“ sowie des je individuellen „Vermögens und der Einsicht, so diese Person hat“, zu beurteilen. Weiter heißt es dann: Auf diese Weise war ich schon Fürst, Fürstin, Minister, Hofdame, Favorit, Mutter von diesen Kindern, Gemahlin jenes Mannes, ja sogar auch einmal in dem Platz einer regierenden und alles führenden Mätresse; und überall fand ich Gelegenheit, auf mannigfaltige Weise Güte und Klugheit auszuüben, ohne daß die Charakter oder die politische Umstände in eine unangenehme Einförmigkeit gefallen waren. Bei vielen habe ich Ideen und Handlungen angetroffen, deren Richtigkeit, Güte und Schönheit ich so leicht nicht hatte erreichen, noch weniger verbessern können; aber auch bei vielen war ich mit meinem Kopf und Herzen besser zufrieden als mit dem ihrigen.111
Hier wird das Spannungsfeld deutlich, in welchem sich Sophie bewegt: Ihre kritische Haltung gegenüber dem prunkvollen und putzsüchtigen Hofleben resultiert aus ihrer Erziehung, repräsentieren ihre Eltern doch ein Gewissen, welches sich stets neu zu Wort meldet: „bei der Menge Stoffe und Putzsachen, die mir letzthin vorgelegt wurden, und wovon dieses zur nächsten Gala, jenes auf den bevorstehenden Ball, ein anderes zur Assemblee bestimmt war, wendete sich […] das Bild meiner Mama an dem Armband, und [mich] überfiel […] der Gedanke, wie un109 La Roche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim, a.a.O., S. 91f. 110 Vgl.: Gesa Dane: Sophie von La Roche. Geschichte des Fräuleins von Sternheim, in: Philipp Reclam jun. (Hrsg.): Romane des 17. und 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1996, S. 171–195, hier S. 178f; Gonthier-Louis Fink: Das Englandbild in Sophie von La Roches ,Fräulein von Sternheim‘, in: Funktion und Funktionswandel der Literatur im Geistes- und Gesellschaftsleben (= Jahrbuch für internationale Germanistik: Reihe A; 26), hg. v. Manfred Schmeling, Frankfurt am Main [u.a.], 1989, S. 41–65. 111 La Roche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim, a.a.O., S. 93.
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ähnlich ich ihr in kurzer Zeit in diesem Stück sein werde! Gott verhüte, daß diese Unähnlichkeit ja niemals weiter als auf die Kleidung gehe! […] Dieser Gedanke dünkt mich ein gemeinschaftlicher Wink der Trauer und des Gewissens zu sein.“112 Insofern begreift Sophie ihre von Tugendidealen wie etwa der Wohltätigkeit113 geprägte Erziehung als regelrechten Schutz vor einer zu affirmativen höfischen Sozialisation: Das „Einfache und Nützliche“ prallt so „auf das Künstliche und nur allein Belustigende“114. Zugleich aber bewegt sie sich sehr geschickt in der neuen Welt des fürstlichen Hofes, zudem hat sie in ihrer Briefpartnerin Emilia eine Freundin, die sie in ihrer Hofkritik korrigiert, also daran gemahnt, „nicht alles, was meinen Grundsätzen, meinen Neigungen zuwider ist, als böse oder niedrig anzusehen“115. Sophies „Unzufriedenheit mit den Hofleuten“ erscheint der Briefpartnerin Emilia also als „unbillig“ und „beinahe ungerecht“, was Sophie ihrerseits dazu bringt, die „Abneigung vor dem Hofe“ zu mässigen bzw. dessen Sinn zu erkennen: So möge auch in der moralischen Welt das Hofleben der Kreis sein, in welchem allein gewisse Fähigkeiten unsers Geistes und Körpers ihre vollkommene Ausbildung erlangen können; als z E. die höchste Stufe des feinen Geschmacks in allem, was die Sinnen rührt und von der Einbildungskraft abhängt. […] Der Hof ist auch der schicklichste Schauplatz, die außerordentliche Biegsamkeit unsers Geistes und Körpers zu beweisen; eine Fähigkeit, die sich daselbst in einer unendlichen Menge feiner Wendungen in Gedanken, Ausdruck und Gebärden, ja selbst in moralischen Handlungen äußert, je nachdem Politik, Glück oder Ehrgeiz von einer oder andern Seite eine Bewegung in der Hofluft verursachen. Viele Teile der schönen Wissenschaften haben ihre völlige Auspolierung in der großen Welt zu erhalten; gleichwie Sprachen und Sitten allein von den da wohnenden Grazien eine ausgesuchte angenehme Einkleidung bekommen. Alles dieses sind schätzbare Vorzüge, die auf einen großen Teil der menschlichen Glückseligkeit ihren Einfluß haben und wohl ganz sicher Bestandteile davon ausmachen.116
Es geht also um eine Sozialisierung am Hofe, bei welcher das Durchspielen verschiedener Rollenexistenzen einzuüben und zu beherrschen sei: „Fürst, Fürstin, Minister, Hofdame, Favorit, Mutter von diesen Kindern, Gemahlin jenes Mannes, ja sogar auch einmal in dem Platz einer regierenden und alles führenden Mätresse“117. Auch und gerade auf diese Art und Weise lässt sich „Güte und Klugheit ausüben“, und zwar „ohne daß die Charakter oder die politische Umstände in eine unangenehme Einförmigkeit“ fallen müssen: Eine Leistung, zu welcher Lenz sich sicherlich nicht in der Lage sah und die es eben deshalb zu verstehen galt. 112 Ebd., S. 50f. 113 Zur Wohltätigkeit Sophies vgl.: Gerhard Sauder: Ansichten der Empfindsamkeit im Werk Sophie von La Roches, in: „Ach, wie wünschte ich mir Geld genug, um eine Professur zu stiften“. Sophie von La Roche im literarischen und kulturpolitischen Feld von Aufklärung und Empfindsamkeit. Hg. Von Gudrun Loster-Schneider und Barbara Becker-Cantarino unter Mitarbeit von Bettina Wild. Tübingen 2010, S. 11–26. 114 La Roche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim, a.a.O., S. 89. 115 Ebd., S. 94. 116 Ebd. 117 Ebd., S. 93.
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Marie Wesener und die Gräfin La Roche Ich reformuliere nochmals die zentrale These dieses Kapitels: Lenz ist der erste Autor des Bürgerlichen Trauerspiels, der die Figur der Mätresse zur Heldin seiner Komödie macht, darin liegt der wesentliche Unterschied zu den übrigen Beispielen des Bürgerlichen Trauerspiels. Können wir davon ausgehen, dass dies aus der angedeuteten Positivierung bzw. Legitimierung dieser Figur im Roman der Sophie von La Roche erklärt werden kann? Zunächst einmal entspricht diese Positivierung der Mätresse einer Entwicklung der europäischen Tragödie, denn sowohl das britische wie auch das französische Drama der Empfindsamkeit kennt die Mätresse als Titelheldin, wenn wir nochmals an Nicholas Rowes Jane Shore (1714) und Voltaires Zayre (1732) denken. Beide Dramen spielen dabei mit dem historischen Phänomen der „maîtresse en titre“, also der am Hof verbeamteten und fest etablierten Geliebten, wofür es im Absolutismus diverse realhistorische Beispiele sowohl im England unter Charles II. wie auch im Frankreich unter Ludwig XIV. und Ludwig XV. gibt. Diese enge Verbindung der Mätresse zur Empfindsamkeit ließ sich mit Elias‘ Idee der „aristokratischen Romantik“ erklären, die sich – so die These aus Die höfische Gesellschaft – im Absolutismus innerhalb des Amtsadels bildete und u.a. von den Mätressen an den Höfen getragen und kultiviert wurde. Diese Positivierung lässt sich im deutschsprachigen Theater des 18. Jahrhunderts freilich nicht beobachten. Die Figur der Mätresse ist im bürgerlichen Trauerspiel nur als negative Kontrastfigur zur bürgerlichen Tochter vorstellbar, wenn wir an die Marwood, die Gräfin Orsina oder die Lady Wishford denken. Dies sind die Antagonistinnen, nicht die Protagonistinnen der Empfindsamkeit. Dies ändert sich auch nicht im Drama des Sturm-und-Drang, wenn wir an Klingers Das leidende Weib oder Wagners Die Kindermörderin erinnern. Wir sahen jedoch bereits, wie sehr Lessing vor dem Hintergrund der Tragödie Voltaires dazu tendierte, in seiner Emilia Galotti zumindest ansatzweise zu einer Positivierung der Mätressenexistenz vorzudringen, insofern er mit Hettore Gonzaga eine dem Orosmane Voltaires vergleichbar empfindsame Herrscherfigur entwickelte, die zur Ehe mit einer bürgerlichen Geliebten durchaus bereit zu sein schien. Dennoch aber hielt Lessing der Polarisierung von Mätresse und Bürgertochter die Treue. Insofern hat erst Jacob Michael Reinhold Lenz der Mätresse keine tugendhafte Bürgertochter gegenübergestellt: Die Marie Wesener ist tatsächlich eine Verwandte der Jane Shore des Nicholas Rowe oder der Zaire Voltaires. Die Ursache dieser Umwertung sehe ich in erster Linie in der Beziehung Lenzens zur Sophie von La Roche. Ich teile daher nicht die Auffassung Matthias Luserkes, der mit dem Auftreten der Sophie von La Roche als Gräfin eine von Lenz intendierte „Herrschafts- und Gesellschaftskritik“ verknüpfte. Denn dies impliziert ja eine letztlich kritische Darstellung dieser vermeintlichen „Aristokratin“, deren warnenden Worte gegenüber der Marie Wesener für Luserke eine Angst des Adels vor der „generellen Gefahr revolutionärer Umtriebe“118 darstellten. Mir scheint je118 Matthias Luserke: Lenz-Studien: Literaturgeschichte, Werke, Themen, St. Ingbert 2001, S. 132.
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doch der revolutionäre Impuls Lenzens auf einer etwas anderen Ebene angesiedelt zu sein. Zunächst einmal beginnt einigermaßen zeitgleich mit der Beziehung Lenzens zur historische Sophie von La Roche auch eine neues Verständnis Lenzens von der Tradition der Empfindsamkeit. Dies verdeutlichen seine Vorlesungen für empfindsame Seelen, die er unmittelbar vor der Abfassung seiner Komödie von 1771/72 bis 1774 vor der Straßburger Société de Philosophie et des belles Lettres gehalten hatte. Sie zeigten uns, dass sich Lenz der Empfindsamkeit aus einer sehr spezifischen Perspektive näherte, die auch für sein Komödienwerk charakteristisch ist: Der Perspektive des Begehrens bzw. der Konkupiszenz: „Der Geschlechtertrieb ist die Mutter aller unserer Empfindungen.“119 Zudem konnten wir zeigen, dass sich hinter der „Gräfin La Roche“ ein Erziehungsideal verbirgt, welches Lenz aus der historischen Sophie von La Roche ableitete und in der Komödie Die Soldaten umsetzte. Die Gräfin La Roche praktiziert eine aufklärerische Erziehung, deren Leitprinzip sie ihrem Sohn in einer Konfliktsituation nur zu erinnern braucht: „Du weißt ich habe dich nie eingeschränkt, mich in alle deine Sachen gemischt als deine Freundin, nie als Mutter.“120 Statt traditionell autoritär zu gebieten, will die Gräfin durch Vertrauen und freundschaftliches Verhalten überzeugen. So auch im Falle Marianes, der sie ein – vom Autor als beispielgebend intendiertes – außergewöhnliches Angebot macht: „Werden Sie meine Gesellschafterin und machen Sie sich gefaßt in einem Jahr keine Mannsperson zu sehen. Sie sollen mir meine Tochter erziehen helfen – [ ... ] Sie sollen Zeitvertreib genug bei mir haben, ich will Sie im Zeichnen Tanzen und Singen unterrichten lassen.“121 Dies ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Erstens angesichts der Rangunterschiede zwischen der adligen Gräfin und dieser einfachen, durch ihre Affären bereits stigmatisierten Händlerstochter. Zweitens, insofern Lenz mit der „Gräfin La Roche“ erstmals eine starke und einflussreiche weibliche Mutterfigur entwickelte, die dieses „gefallene“ Mädchen durch höherständischen künstlerischen Unterricht zu sensiblisieren und durch erzieherische Mildtätigkeit zur Selbsterziehung befähigen möchte. Und drittens, insofern die „Gräfin La Roche“ sogleich die zentrale Problematik realisiert, die diesem Erziehungsversuch im Wege steht: Marie Weseners affirmative Lektüre der Pamela Richardsons: GRÄFIN: […] Wissen Sie denn auch, meine neue liebe Freundin, daß man viel, viel in der Stadt von Ihnen spricht? MARIE: Ich weiß wohl, daß es allenthalben böse Zungen gibt. GRÄFIN: Nicht lauter böse, auch gute sprechen von Ihnen. Sie sind unglücklich; aber Sie können sich damit trösten, daß Sie sich Ihr Unglück durch kein Laster zugezogen. Ihr einziger Fehler war, daß Sie die Welt nicht kannten, daß Sie den Unterscheid nicht kannten, der unter den verschiedenen Ständen herrscht, daß Sie die Pamela gelesen haben, das gefährlichste Buch, das eine Person aus Ihrem Stande lesen kann.122 119 Jacob Michael Reinhold Lenz: Philosophische Vorlesungen für empfindsame Seelen (= Werke in zwölf Bänden, Bd. 12), hg. v. Christoph Weiß, St. Ingbert 2001, S. 68 120 Lenz: Werke und Briefe I, S. 226. 121 Ebd., S. 231. 122 Lenz: Werke und Schriften. Band 2, a.a.O., S. 225.
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Der von der Gräfin La Roche bemerkte Fehler der Marie Wesener – die Missachtung der Standesunterschiede – resultiert also aus deren Lektüre von Richardsons Roman, der quasi die Matrix für das kritische Verhältnis der Gräfin zur Aufstiegsphantasie der Marie Wesener darstellt. Erzählt Richardson doch die Geschichte der schönen, aber mittellosen 15-jährigen Dienerin Pamela Andrews, die von ihrem Meister, dem adligen Mr. B., aufgrund der Standesunterschiede zwar nicht gleich geheiratet, wohl aber aufs Äußerste begehrt wird. Bekanntlich will auch Mr. B. seine Dienerin verführen, ja gar vergewaltigen, wohingegen diese sich weigert, seine Mätresse zu werden, dennoch aber nach und nach realisiert, dass sie sich in ihn verliebt hat. Und nachdem Mr. B. Pamelas Briefe an ihre Eltern abgefangen und gelesen hat, verliebt auch er sich in diese so unschuldige wie intelligente Bedienstete und belohnt deren Tugend mit einem ernstgemeinten Heiratsantrag. Wenn also die Gräfin de La Roche eben diese Aufstiegsgeschichte einer Mätresse als Gefahrenquelle ihrer angehenden „Gesellschafterin“ Mariane Wesener begreift, dann liegt dies offenkundig an ihrer Überzeugung, dass sich die Standesdifferenzen zwischen Bürgertum und Adel auch nicht qua Mesalliance überwinden lassen. Darum impliziert die Pamela-Lektüre für das erzieherische Unternehmen eine enorme Problematik, derer sich die Gräfin vollauf bewusst ist. Denn auch sie müsse Marianes „Herz, nicht ihren Verstand“123 gewinnen und fügsam machen: Was ihr freilich nicht gelingt. Insofern scheitert zunächst die gute Absicht dieses moralisch-pädagogischen Experiments. Marianne entzieht sich der erzieherischen Obhut der Gräfin und läuft davon. Aber das ist keinesfalls das letzte Wort, folgt nun doch eben jene angedeutete Positivierung der Mätressenexistenz. Denn niemand anderes als die Gräfin selbst erkennt – zumindest in der Erstfassung von Die Soldaten –, dass hier ein überindividuelles bzw. sozial-politisches Problem vorliegt, nämlich die Ehelosigkeit der Soldaten. Die Gräfin wird somit zunächst zur Vertreterin einer äußerst ehrgeizigen Reformüberlegung von Lenz selbst. Der Nobilitierung einer zum Mätressenschicksal im schlechten Sinne neigenden jungen Frau ist nicht mit einem zölibatären Privatunterricht beizukommen, sondern nur mittels einer Nobilitierung dieser Existenz selbst, also einer Art militärpolitischer Variante der französischen ‚maîtresse an titre‘.
Die „Pflanzschule für Soldatenweiber“: Über die fehlende Mätressenkultur des Militäradels Um unsere These zu verdeutlichen, sei nochmals an den Umbruch im Denken von Lenz erinnert, der sich zu diesem Zeitpunkt vollzog. Bis 1774 sah Lenz die Soldaten und andere vergleichbare zölibatäre Stände aufgrund ihrer „furchtbaren Ehelosigkeit“ noch als zu bemitleidende Menschenwesen an. Entsprechend polemisch wird die empfindsame Moral als eine Geschlechtermoral umgedeutet, wenngleich 123 Ebd., S. 235.
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es „jedes wohlgezogene und delikate Ohr auf das unausstehlichste beleidigen und scandalisiren [würde], wenn man sich unterstehen wollte ein so schönes und herrliches Gebäude, als la belle morale ist, auf unsere Schaam zu gründen.“124 Dass Lenz diese freizügige Sicht der Dinge während seiner Arbeit an Die Soldaten grundlegend revidierte, zeigt ein Blick in seine im Frühjahr 1776 entstandene Abhandlung Über die Soldatenehen. In dieser sozial-reformerischen Denkschrift plädiert Lenz bekanntlich dafür, dass sie Monarchen zum Wohle des Staates eine Legitimation der Sodatenehe erwirken sollten. Weil Soldaten den Sinn ihrer Tätigkeit als Kombattanten dann erkennen, wenn sie für das Wohlergehen einer daheim gebliebenen Familie kämpfen, sei eine Legitimation der Ehe auch militärstrategisch vorteilhaft. Vor allem aber gilt Lenzens Bedenken den „verdorbenen Sitten“ seiner Zeit, in welcher „Die Schamhaftigkeit […] von unseren Weibern gewichen“125 sei, wie es durchaus rousseauistisch heißt. Aber es geht prinzipiell um die Ermöglichung der Ehe, insofern „die üblen Folgen der Ehlosigkeit der Soldaten“ unverkennbar seien: „zerrissene Ehen, [...] sitzengebliebene Jungfrauen, [...] gefährliche Buhlerinnen, Kindermorde, Diebstähle, Giftmischereien.“126 Wenn zudem „das Weib dem Kerl überall nachschlendert und ihn, der ohnehin Sorgen genug hat, mit den Haussorgen vollends zum Narren macht“127, dann ist der Bezug zur Marie Wesener unverkennbar. Wenn Lenz eine Lösung dieses Sittenverfalls in einer strikten „Kontrolle der Konkupiszens“ sieht, dann bezeichnet dies vor dem Hintergrund der Vorlesungen für empfindsame Seelen präzise den Paradigmenwechsel, der sich ab ungefähr 1775 in Lenzens Denken vollzog. Es geht ihm nun nicht mehr um ein Plädoyer für die Konkupiszenz, sondern ganz im Gegenteil um die Möglichkeit, diese Unsitte durch einen kühnen Reformvorschlag zu kontrollieren: Mittels einer Kultivierung von „Soldatenehen“ bzw. „Soldatenweibern“. Diese steht bei Lenz im Kontext einer ländlichen Idylle mit durchaus utopischen Zügen: Erst wenn ein Soldat sich im Augenblick der Schlacht daran erinnern könnte, wie sein Weib „mit Aehren und Trauben bekränzt im [!] liebevoll entgegen [kommt]“, und wenn er sähe, wie „sein Kind, das mit seiner Bärenmütze oder mit seinem Säbel spielte, an seinem Hals [hängt]“128, könnte er seinen Anforderungen vollständig gerecht werden. Alle Soldaten müssten eine Ehe mit einer Frau eingehen können, die auf dem wohl behüteten Landsitz gemeinsam mit ihren Kindern den Gatten treu erwartet, der seinerseits weitaus sorgenfreier in den Kampf ziehen könne. Der revolutionäre Status dieser Idee wird wohl erst dann deutlich, wenn wir in diesem eine Ausweitung jenes Argumentes sehen, welches Christian Thomasius 1716 hinsichtlich der Frage anführte, ob denn die Beziehung eines Fürsten zu einer Mätresse gegen geltendes Recht verstoße: 124 125 126 127 128
Ebd., S. 69. Jacob Michael Reinhold Lenz: Werke und Briefe, Nr. 2, Bd. 2, S. 801. Ebd. Ebd. Ebd., S. 799.
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Das Odium in Concubinas muß bei großen Fürsten cessieren, indem diese den legibus privatorum poenalibus nicht unterworfen, sondern allein Gott von ihren Handlungen Rechenschaft geben müssen, hiernächst eine Concubina etwas von dem Splendeur ihres Amanten zu überkommen scheinet.129
Nach Thomasius schütze der besondere Rechtsstatus des Fürsten und sein soziales Ansehen die Fürstenmätresse vor Rechtssanktionen. Dieses fürstliche Exklusivrecht will Lenz in seiner Schrift auf den Soldatenstand ausweiten, darin liegt sein entscheidender Reformgedanke. Wenn Lenz in der ersten Fassung von Die Soldaten diese Reformidee nun gar von der „Gräfin La Roche“ entwickeln ließ, dann dürfte dies möglicherweise auch aus seiner sehr genauen Lektüre des „Sternheim“-Roman herrühren. Denn schließlich war dieser Roman wie bereits gezeigt einer der ersten deutschsprachigen Texte, in welchem unter positivem Vorzeichen von „einer regierenden und alles führenden Mätresse“ die Rede war. Lenz suchte evtl. auch vor diesem Hintergrund in der Sophie von La Roche eine Art Fürsprecherin für seine Reformideen, denen letztlich eine durchaus vergleichbare Nobilitierung dieses Phänotyps zugrunde lag. Entsprechend hat Lenz die Geschichte des Fräuleins von Sternheim als eine Art Lebenshilfe für weibliche Leserschaft gedeutet, wie sein erster berühmter Kontaktbrief an Sophie von La Roche vom 1. Mai 1775 verdeutlicht. Denn ganz entgegen der ihn bekanntlich sehr empörenden Kommentare des Herausgebers Christoph Martin Wieland war die Hauptheldin des Roman nach Ansicht Lenzens prädestiniert dazu, „das menschliche Geschlecht verliebt in die Tugend zu machen“130: Sophie von Sternheim werden sich vor allem die „Leserinnen […] zur getreuen Copei machen“131. Lenz betont also in erster Linie die didaktische Qualität der Sternheimschen Empfindsamkeit, und sah offenkundig gerade in dieser die Schnittmenge zu seinen eigenen Reformvorstellungen. Vor diesem Hintergrund ergibt sich nun auch eine etwas andere Perspektive auf Lenzens Komödie und deren im Brief an Sophie von La Roche vom Juli 1775 formuliertes Ziel, „die Stände darzustellen, wie sie sind; nicht, wie sie Personen aus einer höheren Sphäre sich vorstellen.“132 Man sollte diese wichtige Aussage nicht ausschließlich auf eine Darstellung des dritten und vierten Standes beschränken, wie dies in der Forschung zu Lenz zumeist getan wurde. Diese realistische Inszenierung der Stände bezieht sich auch und vor allem auf jenen Schwert- bzw. Militäradel, welcher für Die Soldaten so entscheidend ist, welcher aber im adligen Milieu der Sophie von La Roche, aber auch etwa der Dramen Lessings nicht existiert. Lenz fokussiert in seiner Komödie wohl erstmals diesen äußerst roh sich gebärdenden Militäradel. Denn in dessen Sphäre konnte sich eine Mätresse gar nicht empfindsam entfalten, anders als in jenem amtsadligen und höfischen Umfeld, wie es im Roman der Sophie von Sternheim vorlag. Eben dieser Problematik begegnet je129 Zitiert nach: Eduard Fuchs: Illustrierte Sittengeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart in 3 Bänden, Band 2: Die galante Zeit, München 1910, S. 30. 130 Jacob Michael Reinhold Lenz: Werke und Briefe in drei Bänden: Band 3, a. a. O., S. 314. 131 Ebd. 132 Ebd., S. 325f.
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doch die vermeintlich absurd klingende Idee einer „Pflanzschule von Soldatenweibern“. Denn offenkundig suchte Lenz damit eben jene Etablierung der Mätresse nachzuholen, die sich an den französischen und englischen Höfen zu dieser Zeit bereits längst entfaltet hatte, und mit welcher auch der Sternheim-Roman zumindest ansatzweise spielt. Und wohl eben deshalb ist es in der Erstfassung von Die Soldaten die „Gräfin La Roche“, welche diese schrecklichen „Folgen des ehlosen Standes der Herren Soldaten“ moniert, und dann jene „besondere Idee“ entwickelt, dergemäß den Soldaten „von Zeit zu Zeit ein unglückliches Frauenzimmer freiwillig aufgeopfert werden muß, damit die übrigen Gattinnen und Töchter verschont bleiben.“ Diese kühne Idee wird vom „Obristen“ dann affirmativ aufgegriffen und verfeinert: OBRIST: Ihre Idee ist lange die meinige gewesen, nur habe ich sie nicht so schön gedacht. Der König müßte dergleichen Personen besolden, die sich auf die Art dem äußersten Bedürfnis seiner Diener aufopferten, denn kurz um, den Trieb haben doch alle Menschen; dieses wären keine Weiber die die Herzen der Soldaten feig machen könnten, es wären Konkubinen die allenthalben in den Krieg mitzögen und allenfalls wie jene medischen Weiber unter dem Cyrus die Soldaten zur Tapferkeit aufmuntern würden. GRÄFIN: O daß sich einer fände diese Gedanken bei Hofe durchzutreiben. Dem ganzen Staat würde geholfen sein. OBRIST: Und Millionen Unglückliche weniger. Die durch unsere Unordnungen zerrüttete Gesellschaft würde wieder aufblühen und Fried und Wohlfahrt aller und Ruhe und Freude sich untereinander küssen.133
Dass Lenz zumindest in der Erstfassung seiner Komödie die „Gräfin La Roche“ zur Urheberin seiner Reformidee machte, ist also hinsichtlich der bisherigen Ausführungen durchaus nachvollziehbar. Klar aber ist auch, dass Lenz angesichts dieser sehr kühnen Volte seiner ursprünglichen Fassung jene sprichwörtlichen „kalten Füße“ bekommen haben dürfte, wenn er dann in der Endfassung die „Gräfin La Roche“ zur ersten Kritikerin dieser Idee machte: „Wie wenig kennt ihr Männer doch das Herz und die Wünsche eines Frauenzimmers.“134 Dem steht jedoch das Schlussplädoyer des Obristen entgegen, der umgehend betont, es „müsste der König alles tun, diesen Stand glänzend und rühmlich zu machen.“135 Dies widerspricht der abschätzigen Ansicht solcher Militärs wie etwa Eisenhardt, der „entretenierte Mätressen“136 im Sinne der alten Mätressenwirtschaft für sich beanspruchte. Der Obrist tritt dem entgegen, wie die entsprechende Szene in der Endfassung verdeutlicht: GRÄFIN: Das sind die Folgen des ehlosen Standes der Herren Soldaten. OBRISTER zuckt die Schultern. Wie ist dem abzuhelfen? Schon Homer hat, deucht mich, gesagt, ein guter Ehmann sei ein schlechter Soldat. Und die Erfahrung bestä133 134 135 136
Lenz: Werke und Schriften, Band 2, a.a.O., S. 243f. Ebd., S. 245. Ebd. Ebd., S. 191.
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tigt’s. – Ich habe allezeit eine besondere Idee gehabt, wenn ich die Geschichte der Andromeda gelesen. Ich sehe die Soldaten an wie das Ungeheuer, dem schon von Zeit zu Zeit ein unglückliches Frauenzimmer freiwillig aufgeopfert werden muß, damit die übrigen Gattinnen und Töchter verschont bleiben. GRÄFIN: Wie verstehen Sie das? OBRISTER: Wenn der König eine Pflanzschule von Soldatenweibern anlegte; die müßten sich aber freilich denn schon dazu verstehen, den hohen Begriffen, die sich ein junges Frauenzimmer von ewigen Verbindungen macht, zu entsagen. GRÄFIN: Ich zweifle, daß sich ein Frauenzimmer von Ehre dazu entschließen könnte. OBRISTER: Amazonen müßten es sein. Eine edle Empfindung, deucht mich, hält hier der andern die Waage. Die Delikatesse der weiblichen Ehre dem Gedanken, eine Märtyrerin für den Staat zu sein. GRÄFIN: Wie wenig kennt ihr Männer doch das Herz und die Wünsche eines Frauenzimmers. OBRISTER: Freilich müßte der König das Beste tun, diesen Stand glänzend und rühmlich zu machen. Dafür ersparte er die Werbegelder und die Kinder gehörten ihm. O ich wünschte, daß sich nur einer fände, diese Gedanken bei Hofe durchzutreiben, ich wollte ihm schon Quellen entdecken. Die Beschützer des Staats würden sodann auch sein Glück sein, die äußere Sicherheit desselben nicht die innere aufheben, und in der bisher durch uns zerrütteten Gesellschaft Fried und Wohlfahrt aller und Freude sich untereinander küssen.137
In der Erstfassung von Die Soldaten ist die „Gräfin La Roche“ also das eigentliche Sprachrohr dieser positivierten Mätressenkultur. Darin aber liegt die Ausnahmestellung von Lenz, der die Figur der Mätresse erstmals nicht nur als negative Kontrastfigur der bürgerlichen Tochter auftreten lässt, sie also nicht länger als Antagonistin, sondern als Protagonistin der Empfindsamkeit präsentiert. Als wohl einziger Autor des Bürgerlichen Trauerspiels stellte also nur Lenz der Mätresse keine tugendhafte Bürgertochter gegenüber, insofern ist die Marie Wesener tatsächlich eine Verwandte der Jane Shore des Nicholas Rowe oder der Zaire Voltaires. Und die Ursache dieser Umwertung ist wohl aus Lenzens Beziehung zur Sophie von La Roche herleitbar, deren Hintergründe wir erarbeitet haben.
137 Ebd., S. 245f.
IV. JENSEITS DER ZÄRTLICHKEIT:
Zum Tugendrigorismus des Bürgerlichen Trauerspiels seit Schiller Mit Friedrich Schiller verschwindet die empfindsame Idee der Zärtlichkeit endgültig von der Bühne. Dieses Verschwinden hat jedoch eine etwas anders geartete Motivation als in den zuvor erörterten Beispielen des Sturm-und-Drang-Theaters. Der entscheidende Grund dafür, sich von der Zärtlichkeit zu lösen, liegt bei Schiller nicht in einem sozialen, sondern einem ästhetischen Kriterium. Schiller distanziert die Tradition empfindsamer Zärtlichkeit im Namen einer Rückkehr zu jener von Lessing sehr entschieden überwundenen Dramaturgie der Bewunderung. War also die zärtliche Liebe in den zuvor erörterten Theaterbeispielen ein auf die Rührung des Publikums abzielendes Motiv, so wird Schiller die zärtliche Liebe durch eine weit enthusiastischere ersetzen, deren entscheidendes Ziel die Auslösung von Bewunderung im Publikum ist. Dabei gehe ich davon aus, dass sich Schillers sehr entschiedene Distanzierung der Zärtlichkeit im Namen einer gleichsam „revolutionären“ Intention vollzieht, die ihren entscheidenden Impuls aus der Kulturkritik Rousseaus erhalten hat.1 Diese für die „deutsche Literaturrevolution im Ausgang des 18. Jahrhunderts“ sehr kennzeichnende Intention vollzieht sich paradigmatisch in Kabale und Liebe, jener Tragödie, die man seit Martin Auerbach immer wieder als „Dolchstoß ins Herz des Absolutismus“2 bezeichnete. Es wäre jedoch m.E. verkürzt, würde man im Sinne etwa Peter Szondis davon ausgehen, dass Schiller in dieser Tragödie eine in der bürgerlichen Familie gründende Tugendmoral gegen eine feudal-absolutistische Unmoral gewendet hätte.3 Neben einer in der Forschung häufig bemerkten „Hofkritik“4 richtet sich diese Tragödie auch gegen einer eher kleinbürgerliche Zärtlichkeitsidee, wie sie insbe1 Vgl. dazu nach wie vor: Karlheinz Stierle: Rousseau und die deutsche Literaturrevolution im Ausgang des 18. Jahrhunderts (Schiller, F. Schlegel, Hölderlin), in: Rivista di letterature moderne e comparate 60 2007, 4, S. 441–474. 2 Erich Auerbach: Musikus Miller, in: Ders.: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur (1946), Bern 1971, S. 404–411, hier S. 409. Auerbach bezog sich damit auf die Formulierung vobn Hermann August Korff, der schon 1923 von Schillers „Dolchstoß in das Herz des Absolutismus“ sprach. 3 Nach Peter Szondi habe Schiller damit seinen Beitrag zur privatistischen bürgerlichen Identität in der politischen Auseinandersetzung des 18. Jahrhunderts geleistet, vgl.: Szondi: Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels, a.a.O. 4 Helmuth Kiesel: Hofkritik in den Dramen Friedrich Schillers: Politischer Protest und Kontrastmotiv zur Konzeption des ästhetischen Staates, in: Ders.: „Bei Hof, bei Höll“. Untersuchungen zur literarischen Hofkritik von Sebastian Brant bis Friedrich Schiller, Tübingen 1979, S. 234–61.
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sondere im Trivialdrama der frühen Goethezeit entstand: Wir werden darauf zurückkommen. Im Namen einer emphatischen Votierung für die „Liebesehe“, die in dieser Eindeutigkeit bis zu diesem Zeitpunkt kaum je im deutschsprachigen Theater formuliert wurde, protestiert Schillers Kabale und Liebe gegen alle bis dato bekannten Ideen der Liebe. Dazu zählt zwar primär die von Günter Saße so benannte vernünftige Liebe, also die Konvenienzehe, die in dieser Tragödie vor allem von den Vertretern einer rigiden feudalabsolutistischen Aristokratie favorisiert wird.5 Die Liebesidee der Tragödie richtet sich aber auch gegen eine bestimmte Form sowohl zwischengeschlechtlicher als auch innerfamiliärer Zärtlichkeit, die Schiller in seiner Tragödie im (Klein-)Bürgertum verortet. Wenn der vehemente Protest der Liebenden gegen die Kabale am Ende scheitert, dann ist der Grund dafür also nicht nur in den Machenschaft des Präsidenten von Walter und dessen Sekretär Wurm zu suchen. Schiller verlagert den tragischen Konflikt zugleich in die bürgerliche Sphäre selbst, das Konfliktmodell der adligen Gegenwelt wird durch den internen Konflikt zwischen Vater Miller und seiner Tochter Luise ergänzt. Nicht nur die Machenschaften des Präsidenten also, sondern auch die Internalisierung der Ständeordnung führen Luise zu dem unumstößlichen Glauben, dass sie und Ferdinand erst im Tod eine Erlösung finden würden. Während Lessing die von Vater und Tochter gleichermaßen repräsentierten bürgerlichen Normen und Werte als ein gegen den Feudaladel gerichtetes Humanitätsideal etabliert, wird eben diese bürgerliche Ordnungswelt für Schillers Luise zum Problem. Dem bürgerlichen Tugendideal ihrer Familie stellt Luise den Wunsch entgegen, der Enge des bürgerlichen Daseins zu entfliehen. Wie Ferdinand sich beengt sieht von den Konventionen des Hofes, so wird Luise bestimmt von den Zwängen ihrer bürgerlichen Kleinfamilie. Luise erscheinen also die rigiden Forderungen nach sexueller „Reinheit“, nach Gehorsam gegenüber dem Vater und nach Befolgung der religiösen Gebote als ein Zwang, der sie letztlich zur „Verbrecherin“ werden lässt: MILLER: Jetzt weiß ich nichts mehr (mit aufgehobener Rechte) stehe dir, Gott Richter! Für diese Seele nicht mehr. Thu was du willst. Bring deinem schlanken Jüngling ein Opfer, daß deine Teufel jauchzen, und deine Engel zurüktreten – Ziehe hin! Lade alle deine Sünden auf, lade auch diese, die lezte, die entsezlichste auf, und wenn die Last noch zu leicht ist, so mache mein Fluch das Gewicht vollkommen – Hier ist ein Messer – durchstich dein Herz, und (indem er lautweinend fortstürzen will) das Vaterherz! LUISE: (springt auf und eilt ihm nach) Halt! Halt! O mein Vater! – Daß die Zärtlichkeit noch barbarischer zwingt, als Tyrannenwuth! – Was soll ich? Ich kann nicht! Was muss ich thun? 5 Von Beginn an steht die Liebe zwischen der bürgerlichen Luise Millerin und dem adligen Ferdinand im Zeichen des Protestes gegen diese Heiratspolitik des Adels, die sich schließlich in jener hinterhältigen Intrige bzw. „Kabale“ des Präsidenten von Walter und dessen Haussekretär Wurm ausgelöst, die Luise dazu zwingen, zur Errettung ihres eingekerkerten Vaters eine Liebe zu dem Hofmarschall von Kalb vorzutäuschen, die wiederum ihren Geliebten Ferdinand zum eifersüchtigen Mörder ihrer selbst werden läßt.
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MILLER: Wenn die Küsse deines Majors heißer brennen als die Tränen deines Vaters – stirb! LUISE: (nach einem qualvollen Kampf mit einiger Festigkeit) Vater! Hier ist meine Hand! Ich will – Gott! Gott! Was thu ich? Was will ich? – Vater ich schwöre – Wehe mir, wehe! Verbrecherin wohin ich mich neige! – Vater es sei! – Ferdinand – Gott sieht herab! – So zernicht‘ ich sein leztes Gedächtniß (sie zerreißt ihren Brief) MILLER: (stürzt ihr freudetrunken an den Hals) Das ist meine Tochter!6
Den durchaus gut gemeinten Versuch des Vaters, die eigene Tochter vom Selbstmord und vom Liebhaber zugleich abzubringen, beanwortet Luise mit eben dieser Formel: „Daß die Zärtlichkeit noch barbarischer zwingt, als Tyrannenwut!“. Die „Zärtlichkeit“, also das moralische Bemühen des Vaters um das Wohl der Tochter, erweist sich zwar als siegreich gegenüber der Macht des Hofes, sie ist aber in ihrer Wirkkraft der höfischen Tyrannei gleichgesetzt, ja wird gegenüber der höfischen Kabale gar als der größere barbarische Zwang verstanden.7 Hier werden also die Zwangsmechanismen der bürgerlichen Familienbindung in einer Deutlichkeit entlarvt, welche schon an Hebbels Maria Magdalena oder Hauptmanns Rose Bernd denken lässt, deren Bürgerliche Trauerspiele sich im Anschluss an Schiller ebenfalls jenseits der Zärtlichkeit situieren. Denn mit dieser Deutung der Zärtlichkeit als Form der Tyrannei ist die bürgerliche Kleinfamilie in all der Fragilität ihrer Wertvorstellungen bloßgelegt, insofern deren Moral eine deutliche Mitschuld am Untergang der bürgerlichen Tochter – sei es Luise Miller, Klara oder Rose Bernd – trifft.8 Unter dem harschen Stichwort des barbarischen Zwanges versteht Luise in dieser Szene jedoch letztlich „nur“ die Verhinderung ihres Selbstmordes durch den eigenen Vater. Und damit ist sicherlich ein weiterer Aspekt der Liebe zwischen Ferdinand und Luise markiert. Es gibt für diese keinen Raum, weder in der bürgerlichen noch der adligen noch einer anders gearteten Welt. Die Liebe scheitert also nicht nur an der von Luise internalisierten Ständeordnung. Sie scheitert aber auch nicht nur an „Ferdinands Absolutismus der Liebe“9, wenngleich er aufgrund der Intrige seines adligen Vaters an der Tugendhaftigkeit und Treue Luises zweifelt, also zunächst die Geliebte und schließlich sich selbst vergiftet. Mindestens ebenso rigide ist die Liebesidee Luises, wenn diese aufgrund eines Eides darauf verzichtet, Ferdinand in jene Kabale einzuweihen, deren Opfer sie zu werden droht. Erst im 6 Schillers Werke. Nationalausgabe. 5. Band Neue Ausgabe: Kabale und Liebe. Semele. Der versöhnte Menschenfeind. Körners Vormittag, hg.v. Herbert Kraft, Claudia Pilling und Gert Vonhoff in Zusammenarbeit mit Grit Dommes und Diana Schilling, Weimar 2000, S. 158. 7 Vgl.: Stefan Neuhaus: „Daß die Zärtlichkeit noch barbarischer zwingt als Tyrannenwut!“ Zur Problematisierung von Familienstrukturen in Schillers Dramen, in: Jahrbuch für internationale Germanistik 33 (2001), H.1, S. 98–111. 8 Im Begriff des Barbarischen scheint in Kabale und Liebe bereits eine Form problematischer Moralität antizipiert, die Schiller zehn Jahre später, in den Briefen über die ästhetische Erziehung, mit Kantischen Kategorien theoretisch zu fassen gesucht hat, vgl. dazu: Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, hrsg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert, Bd. 5, München 1962, S. 579. 9 Rolf-Peter Janz: Schillers Kabale und Liebe als bürgerliches Trauerspiel, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 20 (1976), S. 208–228, hier S. 218f;
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Moment des Todes, den Luise durch die Hand des Geliebten erleidet, offenbart sie sich ihm, erst das tödliche Gift, das Ferdinand sich und Luise verabreicht, lässt Luise ihre Verpflichtung gegenüber dem Eid vergessen. Während jedoch etwa im Falle von Lessings Emilia Galotti der Freitod der Emilia die hergebrachte Ordnung bestätigt, setzen Ferdinand und Luise durch ihren Tod dieser Ordnung jenen „dritten Ort“ des „Grabes“ bzw. des Todes entgegen, an dem die der Liebe widerstrebenden Ständedifferenzen überwunden sind.10 Die Liebe zwischen Ferdinand und Luise existiert also nur außerhalb der konkreten sozialen Bindungen, aus denen beide stammen, wie auch Hans Peter Herrmann betonte: „Luise kann ihre zunftbürgerliche Enge ebensowenig abstreifen wie ihre Vaterbindung, Ferdinand nicht seine feudalen Verfügungsgesten und das Mißtrauen seines Standes. Die Suche nach dem ‚dritten Ort‘ führt ins Nichtbewohnbare; am Ende ist er nur noch vorstellbar als Grab.“11 Diese emphatische Liebeskonzeption sprengt den Rahmen all dessen, was wir in dieser Studie bisher an Liebesbeziehungen kennenlernten. Sowohl die vernünftige Liebe im Sinne der Konvenienzehe als auch die zärtliche Liebe im Sinne einer bestimmten Sittlichkeitsidee erscheint den Helden von Schillers Kabale und Liebe als ein Zwang, der ihrem Liebeswunsch entgegensteht. Das aber bedeutet: Wir haben es mit einer neuartigen Liebesidee zu tun.
Kabale und Liebe als Entdeckung der romantischen Liebe Bekanntlich ist Schillers Drama Kabale und Liebe eines der wenigen Dramen des Bürgerlichen Trauerspiels, welches zwischen seinen Hauptfiguren, der bürgerlichen Luise und dem adligen Major Ferdinand von Walter, eine echte Liebesbeziehung evoziert. Die Frage jedoch ist, worin die Tragik dieser Liebe liegt: Ist es der Ständekonflikt zwischen Adel und Bürgertum, der zum Scheitern der Liebe der beiden Hauptfiguren Ferdinand und Luise führt? Liegt es an den diversen Bedrohungen der Liebe, ausgelöst durch das strategisch gestreute Misstrauen und die Intrigen Wurms? Ist es die Unvereinbarkeit der Liebeskonzepte von Luise und Ferdinand selbst? Liegt es also eher an jenem von Rolf Peter Janz sowie später Andreas Huyssen und Günter Saße so genannten Liebesabsolutismus, der sich vor allem „im
10 Dies ist die Deutung Guthkes: „Ferdinand und Luise haben sich gefunden – nicht im ‚Himmel‘ des empfindsam säkularisierten Denkens (der vielmehr desavouiert bleibt), sondern in der gemeinsamen Anerkenntnis jenes Richtergottes, zu dem beide zurückgefunden haben.“ Vgl.: Karl S. Guthke, Schiller: Kabale und Liebe, in: Schillers Dramen. Neue Interpretationen, hg. v. Waler Hinderer, Stuttgart 1983, S. 59–86. Guthke beruft sich dabei auf die Worte Luises aus V,1: „Er muß nicht erschrecken, Vater, wenn ich Ihm ein häßliches nenne. Dieser Ort – O warum hat die Liebe nicht Namen erfunden! den schönsten hätte sie diesem gegeben. Der dritte Ort, guter Vater – aber Er muß mich ausreden lassen – der dritte Ort ist das Grab.“ Vgl.: Kabale und Liebe V, 1. 11 Hans Peter Herrmann: Musikmeister Miller. Die Emanzipation der Töchter und der dritte Ort der Liebenden. Schillers bürgerliches Trauerspiel im 18. Jahrhundert, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 28 (1984), S. 223–247, hier S. 243.
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aristokratischen Sozialverhalten“ Ferdinands zeige?12 Ist Ferdinand trotz seiner Liebe ein verkappter Aristokrat, der sich Luises bürgerliche Ideale nur vordergründig zu eigen macht, aber in ihrer gemeinsamen Beziehung einen „Absolutismus der Liebe“ an den Tag legt? Hans Peter Herrmann gab in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass eine der wichtigsten Belege dieser Interpretation, Luises Ausspruch „dein Herz gehört deinem Stande“, gerade „keine richtige Aussage über Ferdinands Gefühle“ sei, sondern „Luises ständisch-beschränkter Verblendung“ entspräche.13 Ist es also stattdessen jener kantische Zwiespalt aus Pflicht und Neigung, in dem sich die Bürgertochter Luise bewegt, die zwischen einem gegebenen Eid und einer empfundenen Liebe letztlich nicht vermitteln kann, Ursache der Tragödie? Im Unterschied zu diesen möglichen Antworten wollen wir auf der Grundlage der bisherigen Lektüren eine anders geartete Erklärung für das tragische Scheitern dieser Liebe geben. Die Liebestragödie von Kabale und Liebe resultiert aus der Tatsache, dass hier erstmals die romantische Liebe entdeckt und inszeniert wird. Deren Tragik liegt in dem Faktum, dass sie einzig im sehnsüchtigen Gefühl des Unendlichen aufzugehen vermag, in der sozialen Welt jedoch im Unterschied sowohl zur vernünftigen als auch zur zärtlichen Liebe keinen Ort findet. Wir erkennen dieses Motiv der romantischen Liebe anhand vier verschiedener Indizien. Zum einen anhand der Tatsache, dass zwischen der Bürgertochter Luise und dem adligen Major Ferdinand erstmals eine echte Liebesbeziehung besteht, was in der Tat ein Novum in der Geschichte des Bürgerlichen Trauerspiels darstellt. Zweitens anhand der kontrastierenden Bemühungen der Nebenbuhler, die beide im Grunde noch in der alten Vorstellung von vernüftiger (Wurm) bzw. zärtlicher (Lady Milfort) Liebe verhaftet sind. Während der bürgerliche Sekretär Wurm sich also mit den Mitteln eines strategischen Kalküls um die bürgerliche Tochter Luise bemüht, wird der Präsidentensohn Ferdinand von der adligen Lady Milford, der Mätresse des Fürsten, mit den Argumenten höchst sittlicher Empfindungen umworben, wie schon Jutta Greis sehr deutlich betonte: „die fürstliche Mätresse, Kristallisationsfigur des galanten Liebescodes, liebt empfindsam.“14 Die Lady Milfort steht mit eben dieser Liebesauffassung jedoch allein, denn diese Empfindsamkeit unterscheidet sich von jener zwischen Ferdinand und Luise waltenden Liebe, die weit emphatischer ist. Wir erkennen diese romantische Liebe drittens daran, dass Luises beiden männlichen Bewerber – Ferdinand und Wurm – bei ihren bürgerlichen Eltern, den Millers, jeweils keinen ungeteilten Zuspruch 12 Rolf-Peter Janz: Schillers Kabale und Liebe als bürgerliches Trauerspiel, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 20 (1976), S. 208–228, hier S. 218f; sowie: Andreas Huyssen: Drama des Sturm und Drang. Kommentar zu einer Epoche, München 1980, S. 202–244, hier S. 212ff. 13 Herrmann: Musikmeister Miller. Die Emanzipation der Töchter und der dritte Ort der Liebenden, a.a.O., S. 239. 14 Greis: Drama Liebe, a.a.O., S. 118. Nichts verdeutlicht dies mehr als die folgenden Worte der Lady Milfort: „Gib mir den Mann, den ich jetzt denke – den ich anbete – sterben, Sophie, oder besitzen muß. (schmelzend) Laß mich aus seinem Mund es vernehmen, daß Tränen der Liebe schöner glänzen in unsern Augen als die Brillanten in unserm Haar; (feurig) und ich werfe dem Fürsten sein Herz und sein Fürstentum vor die Füße, fliehe mit diesem Mann, fliehe in die entlegenste Wüste der Welt.“
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finden: Wenngleich sie doch sowohl den Adel als auch das Bürgertum repräsentieren. Während jedoch der Hausvater und Musikus Miller die Beziehung seiner Tochter zum Major Ferdinand ablehnt, da er in diesem einen adligen Verführer fürchtet – „zu Dero Herrn Sohnes Hure ist meine Tochter zu kostbar“15 –, sieht Luises Mutter Ferdinand als den richtigen Kandidaten an, weil „es ihm pur um ihre [Luises] schöne Seele zu tun ist.“16 Dagegen ist der bürgerliche Wurm als Bewerber der Mutter zu einfach – „meine Tochter ist zu was Hohem gemünzt“17 –, obwohl Musikus Miller ihm gewisse Chancen einräumt: Unter der Bedingung, Luises Herz allein zu gewinnen, da auch Vater Miller die Konvenienzehe als indiskutabel erscheint, wie er gegenüber Wurm sehr deutlich bemerkt: Einem Liebhaber, der den Vater zu Hilfe ruft, trau ich – erlauben Sie, – keine hohle Haselnuß zu. Ist er was, so wird er sich schämen, seine Talente durch diesen altmodischen Kanal vor seine Liebste zu bringen – Hat er’s Courage nicht, so ist er ein Hasenfuß, und für den sind keine Luisen gewachsen – – Da! hinter dem Rücken des Vaters muß er sein Gewerb an die Tochter bestellen. Machen muß er, daß das Mädel lieber Vater und Mutter zum Teufel wünscht, als ihn fahren läßt – oder selber kommt, dem Vater zu Füßen sich wirft und sich um Gottes willen den schwarzen gelben Tod oder den Herzeinzigen ausbittet. – Das nenn ich einen Kerl! Das heißt lieben! – und wers bei dem Weibsvolk nicht so weit bringt, der soll – – auf seinem Gänsekiel reiten.18
Wenn demnach Vater und Mutter zwei je verschiedene Liebesideen repräsentieren, und der offenkundig fortschrittlichere Musikus Miller die Konvenienzehe zugunsten einer durchaus modernen Idee der zärtlichen Liebe distanziert, dann dient dies der Kontrastierung eines hier erstmals gestalteten romantischen Liebesdiskurses. Diese romantische Liebe erkennen wir schließlich auch daran, dass sich anders als in den Dramen Wagners oder Lessings mit der Ständedifferenz zwischen Luise und Ferdinand weder das Problem des Machtgefälles noch dasjenige der falschen Verführung verbindet, sondern einzig das Motiv einer unerfüllbaren Sehnsucht. Diese Sehnsucht ist jedoch charakteristisch für die Ehe- und Liebesidee der Romantik, der das Liebeserleben erstmals ein religiöses Erleben ist. Schiller prägt in Kabale und Liebe eine Vorform jener später in Friedrich Schlegels Roman Lucinde von 1799 dominierenden romantischen Liebe, die in der zwischengeschlechtlich-ehelichen Liebe die totale Erfüllung sah.19 Ersehnt wird dabei die Vereinigung von 15 16 17 18 19
Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, Band 1, München 31962, S. 758. Ebd., S. 757. Ebd., S. 761. Ebd., S. 761. Zu Beginn des Schlegelschen Romans wird diese Liebesidee in der „Dithyrambischen Fantasie über die schönste Situazion“ folgendermaßen beschrieben: „Warum sollten wir nicht die herbeste Laune des Zufalls für schönen Witz und ausgelassene Willkür nehmen, da wir unsterblich sind wie die Liebe? Ich kann nicht mehr sagen, meine Liebe oder deine Liebe; beide sind sich gleich und vollkommen Eins, so viel Liebe als Gegenliebe. Es ist Ehe, ewige Einheit und Verbindung unsrer Geister, nicht bloß für das was wir diese oder jene Welt nennen, sondern für die eine wahre, unteilbare, namenlose, unendliche Welt, für unser ganzes ewiges Sein und Leben.“ Vgl.:
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sinnlich-körperlicher sowie geistig-seelischer Liebe bzw. eine vollkommene Verschmelzung bzw. Vollendung des Männlichen und des Weiblichen: „Als Liebeserfüllung“, so schreibt Gert Mattenklott, „gilt Schlegel (...) die gemeinsame Sehnsucht nach unendlicher Einswerdung, erfüllte Natur also als Index des Absoluten.“20 Die romantische Liebe ist nach Mattenklott dadurch definiert, „daß die Zertrümmerung ihrer bürgerlichen Form allererst ihre allegorische Gestalt konstruiert, in der sie auf Erlösung verweist.“21 In eben dieser Utopie der Erlösung liegt die eigentliche Tragik von Kabale und Liebe, das erste Schauspiel deutscher Sprache, das die romantische Liebe in dieser Form entfaltet. Überaus deutlich sprechen dies die folgenden Worte Luises aus: Er wird nicht wissen, daß Ferdinand mein ist, mir geschaffen, mir zur Freude vom Vater der Liebenden. Sie steht nachdenkend. Als ich ihn das erstemal sah – Rascher. und mir das Blut in die Wangen stieg, froher jagten alle Pulse, jede Wallung sprach, jeder Atem lispelte: Er ists, – und mein Herz den Immermangelnden erkannte, bekräftigte, Er ists, und wie das widerklang durch die ganze mitfreuende Welt. Damals – o damals ging in meiner Seele der erste Morgen auf. Tausend junge Gefühle schossen aus meinem Herzen, wie die Blumen aus dem Erdreich, wenns Frühling wird. Ich sah keine Welt mehr, und doch besinn ich mich, daß sie niemals so schön war. Ich wußte von keinem Gott mehr, und doch hatt ich ihn nie so geliebt.22
Der entscheidende Maßstab für die Liebesdramatik des Schillerschen Trauerspiels ist also nicht nur der Ständekonflikt, sondern auch die Inkompatibilität dieses romantischen Liebesgefühls mit jeglichen Formen gesellschaftlichen Seins. Vor diesem Hintergrund ist sowohl die vernünftige Liebe im Sinne der alten Konvenienzehe als auch die zärtliche Liebe im Sinne der in diesem Buch untersuchten Liebesdidaktik ein Anachronismus, dem sich jedoch – darin liegt eine weitere Tragik – nur wenige Protagonisten dieser Tragödie bewusst sind. Der Vater Ferdinands, Präsident von Walter, etwa agiert ganz eindeutig im Geiste der KonvenienKritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Erste Abteilung: Kritische Neuausgabe, Band 5, München, Paderborn, Wien, Zürich 1962, S. 10. 20 Gerd Mattenklott: Der Sehnsucht eine Form. Zum Ursprung des modernen Romans bei Friedrich Schlegel, erläutert an „Lucinde“, in: Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaft, 8: Zur Modernität der Romantik, hg. v. D. Bänsch, Stuttgart 1977, S. 143–166, hier S. 161. Zu einer komplexeren Deutung kommt Werner Faulstich, der etwa zwanzig Merkmale der romantischen Liebe benennt: Romantische Liebe zielt auf geistig-seelische „Verschmelzung« zweier Partner (2), die nur als Dyade, als Paar gedacht werden können (3), wobei der eine sich selbst verleugnet und aufgibt (4) und der andere idealisierend erhöht wird (5). Romantische Liebe ist gegenseitig (6), ewig (7), exklusiv (8), spontan (9), einmalig (10), bedingungslos (11), hermetisch (12), total (13), einzigartig (14), schicksalhaft (15), unendlich (16), von bedingungsloser Treue geprägt (17), bar aller Eigeninteressen (18) – ‚blind‘ (19). Sie schließt im Prinzip zwar den Körper mit ein, bleibt aber auf merkwürdige Weise asexuell: keusch (20). Sexualität wird de facto ausgegrenzt. Romantische Liebe endet üblicherweise im Tod oder mit der Eheschließung. Insofern ist romantische Liebe „ein Funktionsäquivalent zur Religion“, wie in Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“ (1774), vgl.: Werner Faulstich: Liebe als Kulturmedium, Paderborn 2002, S. 34. 21 Ebd. 22 Ebd., S. 763f.
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zehe, wenn er sich für seinen Sohn die Mätresse des Fürsten, Lady Milford, als Ehegattin wünscht, um so die eigene und Ferdinands Position am Hof stärken zu können. Er verkennt damit natürlich die Tatsache, dass sein Sohn nur aus echter Liebe und nicht aus politischen Gründen zu heiraten bereit wäre und eben deshalb eine Hochzeit mit der Fürstenmätresse – in Ferdinands Augen eine „privilegierte Buhlerin“23 – ablehnt. Wenn Präsident von Walter den eigenen Sohn gar zu dessen Glück zwingen will, indem er seinen Hofmarschall von Kalb instruiert, dieser solle die anstehende Hochzeit zwischen Ferdinand und Lady Milfort als eine Art Druckmittel publik machen, dann zeigt dies freilich auch die Grenzen des Sohnes auf. Die Liebeshypertrophie Ferdinands, die sich in den Besitzansprüchen und der blinden Eifersucht dokumentiert, ist als Ausdruck der romantischen Liebe also immer schon einem äußeren sozialen Druck ausgesetzt, und somit keineswegs – wie Janz wohl missversteht – ein herrischer Gestus feudaler Provenienz. Vielmehr teilt Ferdinand mit Luise die Suche nach einer utopischen Verortung seiner Empfindungen, denn auch Ferdinand findet für seine Liebe keinen sozialen Ort, wie schon Hans Peter Herrmann gegen den von Janz, Huyssen und Saße behauteten „Liebesabsolutismus“ einwendete.24 Seine Liebe findet sich wie sein Glück in einer Welt der Innerlichkeit, wie er gegenüber dem Vater betont: FERDINAND: Weil meine Begriffe von Größe und Glück nicht ganz die Ihrigen sind – Ihre Glückseligkeit macht sich nur selten anders als durch Verderben bekannt. Neid, Furcht, Verwünschung sind die traurigen Spiegel, worin sich die Hoheit eines Herrschers belächelt. – Tränen, Flüche, Verzweiflung die entsetzliche Mahlzeit, woran diese gepriesenen Glücklichen schwelgen, von der sie betrunken aufstehen, und so in die Ewigkeit vor den Thron Gottes taumeln – Mein Ideal von Glück zieht sich genügsamer in mich selbst zurück. In meinem Herzen liegen alle meine Wünsche begraben.25
Schillers Ausgangspunkt: Die Kritik der Zärtlichkeitsmode in Gotters Mariane (1776) und Gemmingens Der deutsche Hausvater (1780) Natürlich ist Schiller kein genuiner Romantiker. Seine Inszenierung dieser romantischen Liebe resultiert vermutlich primär aus einem Unbehagen gegenüber dem Trivialdrama der Goethezeit, in welchem sich die Zärtlichkeit zu diesem Zeitpunkt geradezu in einem Ausverkauf befand.26 Anders als Gerhard Sauder, der jene zwischen 1740/50 und 1770 „erstmals deutlich zutage tretende empfindsame Tendenz“ im Sinne der Kategorie der Zärtlichkeit durch eine zwischen 1770 und
23 Ebd., S. 773. 24 Herrmann: Musikmeister Miller. Die Emanzipation der Töchter und der dritte Ort der Liebenden, a.a.O., S. 242. 25 Schiller: Sämtliche Werke, Band 1, a.a.O., S. 773. 26 Vgl.: Krause: Das Trivialdrama der Goethezeit, a.a.O.
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1780/90 beginnende eigentliche Empfindsamkeit abgelöst sah27, folgen wir damit einem Argument Georg Stanitzeks. Dieser hatte im Anschluss an Nikolaus Wegmann betont, dass „um 1770 lediglich ein Austausch des Titels für ein im wesentlichen unverändertes Programm erfolgt“ sei28, eine These, die die Diskursgeschichte des Wortes bis hin zu Schiller bestätigt. 1753 veröffentlichte Christian Nicolaus Naumann seinen Essay Von der Zärtlichkeit, nebst Seips Gedanken von der Zärtlichkeit in der Religion29, zwei Jahre später entstanden zudem die anonym verfassten Gedanken von der Zärtlichkeit30, schließlich folgte 1764 im 129. Stück der moralischen Wochenschrift Der Gesellige Johann Justinus Gebauers Abhandlung „von der zärtlichen Liebe“. Auf dieser Linie liegt auch Ringeltaubes 1765 entstandene Abhandlung Von der Zärtlichkeit, die zudem erstmals den engen Bezug zur Empfindung markiert: Die Kombination von „sinnlicher Empfindung“ und moralischem Gefühl“ führt zu einer Gleichsetzung von sinnlicher und moralischer Zärtlichkeit. Schließlich kennt Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste von 1771 im Artikel Liebe „Eine edle mit wahrer Zärtlichkeit verbundene Liebe, die nach einigen Hindernissen zulezt glücklich wird“31. Vor diesem Hintergrund sah schon Gerhard Sauder den Zärtlichkeitsdiskurs nach 1770 kontinuierlich als eine „Mode“ existieren, „die weitere Bereiche des Lebens“32 erfasste, weshalb sich ab 1773 erste kritische Stimmen gegen diese „Modekrankheit“33 erhoben hätten. So etwa etablierte sich der Begriff der Empfindelei beziehungsweise Empfindsamlichkeit als Gegenbegriff, 1779 von Joachim Heinrich Campe ausdrücklich empfohlen. Jenes „leidige Empfindsamkeitsfieber“, wie Campe es nannte, hatte dadurch allerdings keineswegs sein Ende erreicht, im Gegenteil. 1772 erschien Klemms Die seltene Zärtlichkeit, im gleichen Jahr Sophie von Hensels Die zärtliche Mutter, ein Jahr später Löwens Mißtrauen aus Zärtlichkeit, 1777 dann Johann Martin Millers dialogischer Briefroman mit dem Titel Bey27 Gerhard Sauder: Empfindsamkeit: Band 1: Voraussetzungen und Elemente: Stuttgart 1974, S. 193. Die beiden Strömungen werden von Sauder folgendermaßen unterschieden: Während in „‚Empfindsamkeit‘ besonders nach Sternes Journey der sinnliche und sensualistische Aspekt aufgehoben ist, bleibt ‚Zärtlichkeit‘ als frühe Form der Empfindsamkeit auf die ‚sittliche Empfindung‘ beschränkt. 28 Stanitzek: Blödigkeit, a. a. O., S. 97. Stanitzek zitiert aus: Nikolaus Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1988, S. 100ff. 29 Naumann skizziert Die „ersten Linien der Zärtlichkeit“. Diese werden „aus dem Erhaltungstriebe hergeleitet“, welcher sich „in die beyden grossen Aeste der Liebe gegen sich und gegen seines gleichen theilet, aus welcher die feineren Empfindungen als so vielebiegsame Zweige hervorsprossen: So ist leicht zu ermessen, daß diese leztern hauptsächlich aus der Wohlbeschaffenheit des Herzens, oder vielmehr aus der innern Güte einer belebteren Blutmischung den ersten Hub ihres Wachsthums erhalten, nicht anders, als die Saftröhren der duftenden Rose. Zur Zärtlichkeit ist es so wenig genug, dem andern überhaupt gewogen zu seyn, als es zur Liebe und zur Freundschaft genug ist, gerne mit dem andern umzugehen. 30 Gedanken von der Zärtlichkeit, in: Der Freund, Bd. 2, Oettingen 1755, 45. Stk., S. 699–714. 31 Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, a.a.O., S. 251. 32 Gerhard Sauder: Einleitung, in: Ders. (Hrsg.): Theorie der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang. Stuttgart 2003, S. 13–36, hier S. 18. 33 Ebd.
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trag zur Geschichte der Zärtlichkeit. Aus den Briefen zweier Liebenden. Die Mode der Zärtlichkeit dominiert also – ungeachtet der rousseauistischen Zäsur – nun auch das Rührstück der 1770er Jahre, zudem finden sich Themenfelder der Stürmer und Dränger unter einem rührselig-zärtlichen Vorzeichen. Diese Mischung, die für Schillers Kabale und Liebe ein wichtiger Ausgangspunkt ist, kennzeichnet etwa Friedrich Wilhelm Gotters 1776 entstandenes bürgerliches Trauerspiel Mariane, das seinerseits auf Jean-François de La Harpes Mélanie, ou les Vœux forcés von 1770 zurückgeht. In diesem wird die Titelheldin Mariane, Tochter des Präsidenten von Fels, von ihrem unbarmherzigen Vater in den Selbstmord getrieben, denn sie soll zugunsten ihres Bruders, mit dem der Vater große Pläne hat, auf ihren Anteil am Familienvermögen verzichten und sich als Nonne in ein Kloster begeben. Im Gespräch mit einem verständnisvollen, aufgeklärten Geistlichen schildert sie ihre Lage innerhalb der Familie: Mein Vater besteht auf seinem Plan, – mein Bruder auf den von mir abgetretenen Rechten – meine Mutter hat kein Ansehen – der Tag ist da – ich soll schwören – einen unwiderruflichen Schwur – einen Schwur, den ich nicht halten kann. – Genug, man will es – und fragt nicht, ob ichs überleben werde.34
Der Bruder, von seiner Mutter aufgefordert, doch von sich aus auf diesen hohen Preis seines Aufstiegs zu verzichten, antwortet ihr ohne moralische Bedenken: „O gnädige Frau! jeder Mensch hat sein Glück in seinen Händen, und wer es selbst muthwillig verscherzt, darf nicht auf Wunder vom Himmel rechnen.“35 Doch kann der sich der Einlösung solcher „Diesseits-Philosophie“ nicht erfreuen, denn als boshafter Teilnehmer an den Plänen des Vaters verletzt der Sohn des Präsidenten den Geliebten seiner Schwester, von Waller, im Duell tödlich und muss deshalb außer Landes fliehen, während den Präsidenten die Rache des Volkes erwartet. Zweifellos wirkte Gotters Mariane, die Schiller wohl in Mannheim sah36, auch auf Kabale und Liebe, zumindest kehrt die Figur des Präsidenten von Fels bei Schiller wieder. Gleiches gilt auch für Schillers Landsmann, den Freiherr Otto von Gemmingen, dessen weinerliches Familienschauspiel Der deutsche Hausvater von Schiller in einem Brief vom 12. Dezember 1781 an Dalberg als „ungemein gut“ bezeichnet wird. Dies klingt zumindest emphatischer als sein Urteil zu Wagners Kindermörderin, die nach Schiller zwar „rührende Situationen und interessante Züge“ habe, sich jedoch „über den Grad der Mittelmäßigkeit nicht“ erhebe: „Sie würkt nicht sehr auf meine Empfindung und hat zu viel Wasser.“37 Ein Grund dafür mag in dem Umstand liegen, dass die Figur der Lottchen Wermann aus Gemmingens Hausvater eben nicht in jene Opferrolle von Wagners Evchen Hum34 Friedrich Wilhelm Gotter: Mariane. Bürgerliches Trauerspiel, Ettinger 1776, S. 22. 35 Ebd., S. 29. 36 Gotters Trauerspiel hatte enormen Erfolg beim Publikum: Am 6. Dezember 1775 wurde es erstmals auf dem Gothaischen Theater aufgeführt und bis zum Schluß der Hofbühne 15 mal wiederholt, zudem inszenierte es Schröder zwischen 1776 und 1778 insgesamt 12 mal in Hamburg und Hannover. 37 Friedrich Schiller an Heribert von Dalberg. Stuttgardt d. 15. Jul. [Montag] 1782.
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brecht verfällt, sondern angesichts einer vergleichbaren Situation – sie ist eine vom Grafensohn Karl geschwängerte Tochter des Malers Wermann – um ihren Geliebten zu kämpfen beginnt: Eben dies war sicherlich einflussreich für Schillers Figur der Luise Millerin.38 Zwar ist dieses Lottchen „ein ganzes Naturkind, ganz Liebe, ganz unglückliches Opfer derselben“, vertritt also nicht wie Luise Millerin eine dezidiert bürgerliche Position. Dennoch wird in Gemmingens Hausvater die auch Kabale und Liebe prägende Begegnung zwischen adliger Mätresse und bürgerlicher Protagonistin ganz ähnlich gedeutet, wenn Lottchen Wermann die Gräfin Amaldi aufsucht, um ihren Anspruch auf den Grafensohn durchzusetzen. Denn ihre adlige Nebenbuhlerin ist keine Marwood, sondern – wie später Schillers Lady Milford – ein wahres Vorbild an Großmütigkeit. Das Personenverzeichnis beschreibt sie als „ein großes, herrliches Weib, eine männliche Seele“39, die wie Lady Milford dem Geliebten entsagt, und am Ende gar die Aussteuerung des bürgerlichen Lottchens übernimmt. Aber auch die Differenzen sind deutlich. Gemmingens Hauptfigur, der Hausvater Graf Wodmar, ist zwar ein Adliger, aber letztlich – hierin Diderot’s Père de famille verwandt – von vorbildlicher bürgerlicher Moral, „ein biederer, thätiger, deutscher Mann, bekannt mit der Welt; antiker Grundsätze über seine Familie, aber doch mehr ehrlicher Mann als Edelmann.“40 Schillers Äquivalent, der Präsident von Walter, ist dagegen „ein adliger Höfling von monströser Bosheit“, wie Erich Schön betonte. Diese Differenz führt auch zu einer „Lösung des MesallianceProblems: Bei Gemmingen dürfen die beiden Liebenden zusammenkommen; sie müssen sich nur aus der Öffentlichkeit der Residenz zurückziehen.“41 Ähnlich wie in Wagners Die Kindermörderin gerät auch im Hausvater die bürgerliche Tochter ob ihrer Schwangerschaft in Verzweiflung: Lottchen droht ihrem Karl mit einer Kindstötung und fällt – wie Evchen Humbrecht – in Ohnmacht, als ihr malender Vater ihr seinen angefangenen Bildercyklus „Die Kindsmörderin“ erläutert. Zudem scheint es eine ähnlich unversöhnliche Front der Stände zu geben, wenn Maler Wermann ein gemeinsames Essen mit Graf Wodmar ablehnt, da er bürgerlichen 38 Zu Schillers Quellen und Anregungen S. Helga Meise, Kabale und Liebe, in: Schiller-Handbuch. Leben – Werk –Wirkung, hg. von Matthias Luserke-Jacqui, Stuttgart 2005, S. 65–88, hier S. 75 f. Auf den Freiherrn von Gemmingen verweist vor allem: Peter Michelsen, Ordnung und Eigensinn. Über Schillers Kabale und Liebe, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1984, S. 198–222, hier S. 217. 39 Otto Heinrich Freiherr von Gemmingen: Der deutsche Hausvater: ein Schauspiel von O.H. Reichsfreiherrn von Gemmingen, Mannheim 1782, S. 66. Zu dieser Männlichkeit zählt freilich auch die berechnende Natur der Gräfin, wie ihre warnenden Worte an ihren ehemaligen Geliebten Karl verdeutlichen: „Ihr Mädchen, sie sei noch so vollkommen, bleibt immer Weib und, ich bin selbst ein Weib, als solche Ihnen nur so lang getreu, bis sie nichts neu findet, das ihr besser dünkt.“ Vgl.: Ebd., S. 65. 40 Ebd., S. 6. 41 Vgl. dazu: Erich Schön: Schillers Kabale und Liebe: (K)ein bürgerliches Trauerspiel. Schiller und Otto von Gemmingens Der deutsche Hausvater, in: Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert, hg.v. Hans-Edwin Friedrich, Fotis Jannidis und Marianne Willems. Max Niemeyer Verlag. Tübingen 2006, S.377–403, hier S. 379.
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Standes sei, und den aristokratischen Bewerber um seine Tochter Lottchen zunächst nicht akzeptieren will: Herr würde ich den Vornehmen sagen, wäre er von gemeinem Schlage, euer Gold und eure Titteln machen mein Mädchen nicht glücklich: und wär der Vornehme ein guter Junge, ich würde darüber trauren, daß er so vornehm ist, aber ihm mein Mädchen nicht geben. Bei Gott, selbst ihrem Sohne gäbe ich sie nicht, – – – nicht daß ich mein Mädchen oder auch meinen Stand schlechter glaube –42
Die entscheidende Differenz ist jedoch zweifellos die rührselige Intention Gemmingens, die Schiller – wie wir sahen – komplett verweigerte, und die auch bei Wagner fehlt. Diese Rührung resultiert aus der finalen Auflösung der Verwicklung: Zwar wird das schwangere Lottchen – wie Wagners Evchen Humbrecht – von Karl hingehalten, hört zudem von dessen Verbindung mit Gräfin Amaldi und kündigt daher in einem Brief an Karl einen Kindsmord an. Anders als bei Wagner kommt es jedoch nicht zur Kindstötung, da Hausvater Graf Wodmar die Mesalliance am Ende akzeptiert, nachdem er mit ansah, wie das arme Lottchen die Gräfin Amaldi anfleht, ihr Karl wiederzugeben. In einer rührseligen Szene gibt sich der hinzutretende Hausvater nun erstmals dem Lottchen als Graf Wodmar zu erkennen, woraufhin sie ihn zu seinen Füssen um Barmherzigkeit bittet. Auch Maler Wermann tritt auf seiner Suche nach Tochter Lottchen hinzu, zudem kritisiert Graf Wodmar aufs Schärfste die Gewissen- und Verantwortungslosigkeit seines Sohnes Karl gegenüber Lottchen. Karl soll also nun seine Pflicht tun: „gehe hin, nimm sie zum Weibe; dein Stand hebt die Verbindlichkeiten des ehrlichen Mannes nicht auf!“43 Karl und Lottchen werden schließlich glücklich, zudem bekommt Karl die Verwaltungshoheit über die Güter seines Vaters. So kann der Hausvater sich selbst wieder als Inkarnation des ehrlichen Deutschen feiern: „Und zum Dank für diesen Tag, höre es Himmel! Weih ich mein übriges Leben, meiner Familie, und dem Vaterlande. Meine Belohnung – – – daß ihr mich liebt? – – und dann, wenn ich einst todt bin, daß ein deutscher Biedermann an meinem Grab vorbeigehe und sage: ‚er war werth ein Deutscher zu seyn!‘“44 Dieses triviale Ende zeigt beispielhaft Gemmingens äußerst rührselige Gestaltung der drameninternen Verwicklungen, insofern zum einen die Protagonisten stets ihre überaus edelmütigen Intentionen offen bekunden, und zum anderen eben diese Verwicklungen durchweg auf ein von Schiller später entschieden verweigertes happy end hinauslaufen.
42 Gemmingen: Der deutsche Hausvater, a.a.O., S. 105. 43 Ebd., S. 127. 44 Ebd., S. 136.
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Kabale und Liebe als Satire: Schillers Bekenntnis zur poetischen Gerechtigkeit Die Gerichtsbarkeit der Bühne fängt an, wo das Gebiet der weltlichen Gerichte sich endigt. Wenn die Gerechtigkeit für Gold verblindet und im Solde der Laster schwelgt, wenn die Frevel der Mächtigen ihrer Ohnmacht spotten und Menschenfurcht den Arm der Obrigkeit bindet, übernimmt die Schaubühne Schwert und Wage und reißt die Laster vor einen schrecklichen Richterstuhl. […] Aber hier unterstützt sie die weltliche Gerechtigkeit nur – ihr ist noch ein weiteres Feld geöffnet. Tausend Laster, die jene ungestraft duldet, straft sie; tausend Tugenden, wovon jene schweigt, werden von der Bühne empfohlen. Hier begleitet sie die Weisheit und die Religion.45
Schiller hat in Kabale und Liebe die von Lessing einst verworfene Idee der poetischen Gerechtigkeit wieder aufgegriffen, wie sein 1784 gehaltener Vortrag Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet deutlich betont. Allerdings steht diese poetische Gerechtigkeit unter einem sehr speziellen Vorzeichen, weshalb man sie nicht auf alte Varianten des Bürgerlichen Trauerspiels zurückführen sollte. Schiller begreift die poetische Gerechtigkeit als Themengebiet der Satire, also als Ergänzung einer vielfach versagenden „weltliche[n] Gerechtigkeit“46. In diesem Sinne ist das zweite große Thema der Tragödie zu sehen, die Kabale. Sie betrifft die Machenschaften des Despotismus, die auf einen absolutistischen Herrscher zurückgehen, der zwar im Drama niemals persönlich auftritt, dessen Heiratspläne, dessen Hofleben und dessen Regierungshandeln jedoch einflussreich für das Wohl und Wehe aller Dramenfiguren sind. Das „machiavellistische Kalkül“ des Fürsten zeigt sich insbesondere in dessen „moralisch verwerflichen Handlungen in Regiment – Soldatenverkäufe – und Unterhaltung – Mätresse, Jagd“47, aber auch in der Abhängigkeit seiner Günstlinge: Die gebürtige Engländerin Lady Milford ist seit drei Jahren des Fürsten Favoritin, also seine Mätresse; der Präsident von Walter, Ferdinands Vater, dient an dessen Hof und wird als dessen Stellvertreter selbst zum „politisch motivierte[n] Verbrecher“. Dabei ist auffallend, wie genau Schiller in dieser Tragödie politische Mechanismen in den Blick nimmt, die im Grunde erst in der Soziologie des 20. Jahrhunderts als solche präzisiert wurden. Insbesondere jene von Norbert Elias sogenannte „Günstlingspolitik“ ist hier hervorzuheben: Das Verhalten des Präsidenten ist darauf ausgerichtet, seine Stellung bei Hofe zu festigen und sich die Gunst des Fürsten durch eine gezielte Heiratspolitik zu sichern, weshalb die geplante Ehe zwischen seinem Sohn Ferdinand und der Lady Milford allein seinen dynastischen bzw. politischen Zielen dient: Er weiß, Wurm, wie sehr sich mein Ansehen auf den Einfluß der Lady stützt – wie überhaupt meine mächtigsten Springfedern in die Wallungen des Fürsten hineinspielen. Der Herzog sucht eine Partie für die Milford. Ein anderer kann sich melden – 45 Schiller: Sämtliche Werke, Band 5, a.a.O., S. 822. 46 Ebd. 47 Zitiert nach: Schiller-Handbuch: Leben, Werk, Wirkung, hg.v. Matthias Luserke, Stuttgart 2005, S. 77.
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den Kauf schließen, mit der Dame das Vertrauen des Fürsten anreißen, sich ihm unentbehrlich machen – Damit nun der Fürst im Netz meiner Familie bleibe, soll mein Ferdinand die Milford heuraten – – Ist Ihm das helle?48
Die bürgerliche Luise will er seinem Sohn daher allenfalls als Gespielin gönnen; einer „Bürgerkanaille“ könne man zwar „Flatterien“ und „Empfindungen“ vorgaukeln, eine Heirat komme jedoch nicht in Frage: „Wenn du mich zum Lügner machst, Junge – vor dem Fürsten – der Lady – der Stadt – dem Hof mich zum Lügner machst“49, so die Drohung des Vaters. Da sich Ferdinand jedoch einer Ehe mit Lady Milford widersetzt, muss Präsident von Walter mit Hilfe seines Sekretärs Wurm eben zu jener kriminiellen Lösung einer Intrige bzw. Kabale greifen, um Ferdinand und Luise auseinander bzw. Ferdinand und Lady Milford zusammenzubringen. Schon der obskure Haftbefehl des Präsidenten gegenüber der Familie Miller verdeutlicht diese völlige Korrumpierung des Rechts, in der das Prinzip der Gewaltenteilung durch Erpressung der Bürger ersetzt wird: Um ihre Eltern zu befreien, soll Luise einen Liebesbrief an den Hofmarschall von Kalb schreiben, damit Ferdinand sich unter dem Eindruck des Briefes von Luise lossagt und so frei für Lady Milford wird. Dass dabei die Regentschaft des Präsidenten auf Lüge, Erpressung und Morddrohungen basiert, zeigt jedoch gerade jene Drohung seines Sohnes angesichts der Inhaftierung von Luises Eltern: „Kein menschliches Mittel ließ ich unversucht – ich muß zu einem teuflischen schreiten – Ihr führt sie zum Pranger fort, unterdessen Zum Präsidenten ins Ohr rufend. erzähl ich der Residenz eine Geschichte, wie man Präsident wird.“50 Erst im letzten Akt, sensibilisiert durch den Todeskampf des eigenen Sohnes, zeigt Präsident von Walter Reue, stellt sich der Justiz und beendet so seine Karriere. Was Schillers Drama von den meisten deutschsprachigen Varianten des Bürgerlichen Trauerspiels unterscheidet, das ist seine äußerst scharfsinnige Analyse des ständischen Konfliktes zwischen Adel und Bürgertum. Denn bei Schiller konkurriert der höfische Adel erstmals mit dem Bürgertum um die Gunst des Fürsten, ein Mechanismus, der den Adel in Gestalt des Präsidenten nicht von ungefähr in eine wirtschaftlich bedrohliche Lage brachte, die dieser durch jene Strategie der Heirat zu kompensieren sucht. Wie sehr diese für den modernen Absolutismus sehr kennzeichnende Günstlingspolitik in Kabale und Liebe im Zentrum steht, zeigt insbesondere die eigentliche Gegenspielerin des Präsidenten, die Lady Milford alias Johanna von Norfolk.51 Denn sie ist eben jene vom Fürsten begünstigte, d. h. aus 48 49 50 51
Schiller: Sämtliche Werke, Band 1, a.a.O., S. 768. Ebd., S. 775. Ebd., S. 797. Die Bedeutung der Reichsgräfin Franziska von Hohenheim, Mätresse des Herzog Karl Eugen, für die Figur der Lady Milford ist umstritten. Gewiß haben weder Geschicke noch Charakter Franziskas von Hohenheim etwas mit der Figur der Lady Milford gemein, aber ihre Rolle als den Despoten lenkende, beeinflussende, täglich beratende, zerstreuende und erziehende geheime Staatsgewalt, ist ihnen doch beiden gemeinsam. Vgl.: Sybille Oßwald-Bargende: Die Mätresse, der Fürst und die Macht. Christina Wilhelmina von Grävenitz und die höfische Gesellschaft, Frankfurt a. M./New York 2000, S. 14.
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England ins deutsche Exil geflohene und in Not geratene Waise, die aus Dankbarkeit die ihr entgegengebrachte Liebe erwiderte und so zur Fürstenmätresse wurde. Ursprünglich ist Lady Milford jedoch „fürstlichen Geblüts“, insofern ihr Vater Thomas Norfolk unter Maria Stuart diente und nach deren Sturz enthauptet wurde. Die Beziehung zum Fürsten erlaubt der Lady Milford demnach ein standesgemäßes Leben, welches sie jedoch im Unterschied zu Präsident von Walter keineswegs korrumpiert. Dies zeigt sich etwa im zweiten Akt, wenn Lady Milford die am Hof getriebene Verschwendung schildert, die ins Grandiose gehe und „das Mark“ der Untertanen aussauge. Ähnlich kritisch ist ihr Hinweis auf jene 7000 verschickten Landeskinder, die der Preis für den Brillantschmuck der Mätresse waren, durch welche man sie gefällig halten wolle. Sie nutzt also ihre Position am Hof, um als politisch sensibilisierte Mätresse einen besänftigenden Einfluss auf den Fürsten auszuüben: „ich habe dem Fürsten meine Ehre verkauft, aber mein Herz habe ich frei behalten – ein Herz, meine Gute, das vielleicht eines Mannes noch wert ist – über welches der giftige Wind des Hofes nur wie der Hauch über den Spiegel ging.“52 Dass sie somit quasi die Position einer höfischen Intrigantin innehat, zeigt etwa die Tatsache, dass der Heiratsplan mit Ferdinand nicht, wie allgemein angenommen, vom Präsidenten, sondern von ihr selbst eingefädelt wurde: LADY: Die Verbindung mit dem Major – Du und die Welt stehen im Wahn, sie sei eine Hofkabale – Sophie – erröte nicht – schäme dich meiner nicht – sie ist das Werk – meiner Liebe. SOPHIE: Bei Gott! Was mir ahndete! LADY: Sie ließen sich beschwatzen, Sophie – der schwache Fürst – der hofschlaue Walter – der alberne Marschall – Jeder von ihnen wird darauf schwören, daß diese Heurat das unfehlbarste Mittel sei, mich dem Herzog zu retten, unser Band um so fester zu knüpfen. – – Ja! es auf ewig zu trennen! auf ewig diese schändliche Ketten zu brechen! – Belogene Lügner! Von einem schwachen Weib überlistet! – Ihr selbst führt mir jetzt meinen Geliebten zu. Das war es ja nur, was ich wollte – Hab ich ihn einmal – hab ich ihn – o dann auf immer gute Nacht, abscheuliche Herrlichkeit –53
Zwar diente diese Intrige ihrer enthusiastischen Liebe zu Ferdinand, mit dem sie das Land verlassen will. Faktisch jedoch scheint sie dieser Plan nur noch stärker in die Abhängigkeit zum Fürsten zu treiben, wenngleich sie aus Ihrer Sicht die Fäden in diesem Spiel in der Hand zu halten meint. Wie radikal Schiller in seiner Tragödie diese absolutistischen Bedingungen seiner Zeit analysierte, zeigt aber wohl vor allem die Figur des Ferdinand von Walter. Auch er spricht von der „ungeheuren Pressung des Landes“54, zudem verachtet er die intriganten Praktiken der höfischen Welt und will gegenüber den Vätern, Miller und dem Präsidenten seine Liebe und Verbindung zu Luise durchsetzen. Doch auch er wird zum Opfer der Kabale, also zum unfreiwilligen Racheengel, der aus unbegründeter Eifersucht seine Geliebte Luise wie eine „Natter zertreten“ will und schließlich auch vergiftet. Er ist ein Op52 Ebd., S. 777. 53 Ebd., S. 778. 54 Ebd., S. 784.
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fer, kein Protagonist des Absolutismus: Erst als das Gift wirkt, bricht Luise ihr Schweigegelübde und erklärt, dass der Inhalt jenes verräterischen Briefes von Wurm stammt und sie diesen unfreiwillig schrieb, woraufhin Ferdinand selbst von der vergifteten Limonade trinkt. Hier geht es nicht um Rührung, sondern um poetische Gerechtigkeit, die jedoch erst dann erreicht ist, nachdem Ferdinand gegenüber den Vätern die Kabale als Grund dieser gemeinsamen Vergiftung anführt. Denn nun werden Wurm und der Präsident verhaftet, dem Ferdinand lediglich eine vergebende Geste entgegenbringt: Eine gezielte Bestrafung des Lasters, fern ab jedlicher Belohnung der Tugend.
Jenseits von Rührung und Mitleid: Schillers Rückkehr zur Dramaturgie der Bewunderung Wir haben in diesem Kapitel die These verfolgt, dass Schillers Kabale und Liebe gleichsam jenseits der Zärtlichkeit angesiedelt sei. Diese These begründeten wir zum einen durch die Spezifik der zwischen Luise und Ferdinand existierenden Liebe, insofern diese sich nicht länger in die Schemata einer vernünftigen bzw. zärtlichen Liebe fügte, sondern als romantische unter einem neuartig metaphysischen Vorzeichen stand. Erkennbar war diese Überbietung aus dem Unbehagen Schillers an den Trivialdramen der Goethezeit hervorgegangen, deren rührselige Dramaturgie Schiller in Kabale und Liebe eindeutig distanzierte. Dennoch aber dominiert in Kabale und Liebe ein Motiv, welches ein Grundprinzip der tragédie tendre war, wenn wir insbesondere an Racines Bérénice denken: Die Entsagung.55 Die Geste der Entsagung kennzeichnet insbesondere Millers sechzehnjährige Tochter Luise, und sie geht nicht zuletzt auf deren familiäre Bindung zurück. Luise ist Millers einziges Kind, wurde von ihren Eltern christlich erzogen und wächst äußerst behütet auf, zudem stößt sie das unmoralische Leben am Hofe ab. Auch deshalb stürzt sie die Liebe zu Ferdinand in einen Konflikt mit der Erwartungshaltung ihres Vaters, dem auf Grund seiner religiösen Überzeugung die gottgewollten gesellschaftlichen Schranken unantastbar erscheinen. Von Anbeginn an also weiß Luise, dass ihre Liebe aufgrund der Gegebenheiten einer ständischen Gesellschaft nicht zu verwirklichen ist: „Ich entsag ihm für dieses Leben. Dann, Mutter – dann, wenn die Schranken des Unterschieds einstürzen“56, werde ich die Seine sein, so ließe sich der Halbsatz Luises vollenden. Schon beim ersten Auftritt nimmt sie also die Rolle der entsagenden Tochter ein, aber auch die Kabale von Präsident von Walter veranlasst sie dazu, sich aufgrund deren bedrohlichen Ausmaßes von Ferdinand zu trennen:
55 Wolfgang Stellmacher: Zwischen Shakespeare und Racine: Schiller auf der Suche nach dem klassischen Drama, in: Literatur zwischen Revolution und Restauration: Studien zu literarischen Wechselbeziehungen in Europa zwischen 1789 und 1835, Berlin 1989, S. 70–90. 56 Schiller: Sämtliche Werke, Band 1, a.a.O., S. 764.
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LUISE: […] Wenn nur ein Frevel dich mir erhalten kann, so hab ich noch Stärke, dich zu verlieren. FERDINAND steht still und murmelt düster: Wirklich? LUISE: Verlieren! – O ohne Grenzen entsetzlich ist der Gedanke – Gräßlich genug, den unsterblichen Geist zu durchbohren, und die glühende Wange der Freude zu bleichen – Ferdinand! dich zu verlieren! – Doch! man verliert ja nur, was man besessen hat, und dein Herz gehört deinem Stande – Mein Anspruch war Kirchenraub, und schauernd geb ich ihn auf. FERDINAND das Gesicht verzerrt und an der Unterlippe nagend: Gibst du ihn auf. LUISE: Nein! Sieh mich an, lieber Walter. Nicht so bitter die Zähne geknirscht. Komm! Laß mich jetzt deinen sterbenden Mut durch mein Beispiel beleben. Laß mich die Heldin dieses Augenblicks sein – einem Vater den entflohenen Sohn wiederschenken – einem Bündnis entsagen, das die Fugen der Bürgerwelt auseinandertreiben, und die allgemeine ewige Ordnung zugrund stürzen würde – Ich bin die Verbrecherin – mit frechen, törichten Wünschen hat sich mein Busen getragen – mein Unglück ist meine Strafe, so laß mir doch jetzt die süße, schmeichelnde Täuschung, daß es mein Opfer war – Wirst du mir diese Wollust mißgönnen?57
Diese Geste der Entsagung, die das bürgerliche Trauerspiel von seiner Heldin wie auch von Lady Milford verlangt, wird die spätere Theorie Schillers erhaben nennen. In Kabale und Liebe jedoch fehlt es diesbezüglich noch an der theoretischen Grundlage, der Lektüre Kants: auch deshalb mündet diese Geste der Entsagung schließlich eher in eine märtyrerhaft überhöhte Pose, die sich deutlich aus Luises Schicksal ergibt. Zuerst wird sie vom Präsidenten als „Hure des Sohnes“58 verhöhnt und mitsamt ihrer „Brut“ seiner „brennenden Rache“ ausgesetzt, sodass sie Ferdinand „halbtot in den Arm fällt“.59 Dann wird sie von Wurm durch Gefangennahme von Mutter und Vater zur Niederschrift des verleumderischen Briefes genötigt und eben deshalb vom eifersüchtigen Ferdinand als „Schlange“60, als „Schändliche“61 beschimpft: „Ich muß dich zertreten wie eine Natter.“62 Dass Luise angesichts dieser massiven Anfeindungen auf die emotionalen Erpressungen ihres Vaters nur entgegnen kann: „Wehe mir, wehe! Verbrecherin, wohin ich mich neige“63, ist durchaus nachvollziehbar. Zugleich aber führt uns dieses ausgiebig dargestellte Leiden der Heldin zu der Frage, ob Schiller bei seinen Lesern eher Mitleid oder, angesichts der enormen Bereitschaft zur Erduldung, eher Bewunderung für Luise auszulösen versuchte. Vieles spricht dabei für die zweite Möglichkeit, insofern Luise schon im dritten Akt Züge einer Heroine entwickelt, die durch ihr Beispiel den „sterbenden Mut“ Ferdinands belebt – „Laß mich die Heldin dieses Augenbliks seyn“64 –, und entsprechend auch vom eifersüchtigen Freund schließlich als „Engel des Himmels“65 57 58 59 60 61 62 63 64 65
Schiller: Sämtliche Werke, Band 1, a.a.O., S. 800f. Ebd., S. 794. Ebd., S. 797. Ebd., S. 809. Ebd., S. 841. Ebd., S. 851. Ebd., S. 838. Ebd., S. 808. Ebd., S. 855.
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bezeichnet wird: „Das Mädchen ist eine Heilige.“66 Spätestens an dieser Stelle also wird Mitleid überflüssig, insofern sich die Heldin zunehmend einer Sphäre des Erhabenen nähert, die schon auf Schillers spätere Dramaturgie verweist. Schillers Kabale und Liebe hat sich also offensichtlich den beiden wirkungspoetischen Grundprinzipien des Bürgerlichen Trauerspiels – der Rührung und dem Mitleiden – verweigert. Vor diesem Hintergrund unterstellte die Forschung dem Drama Schillers einen Rückfall in die Bewunderungsrhetorik des barocken Märtyrerdramas67: So etwa sah Erich Schön das von Schiller entwickelte „Wirkungsprinzip der Bühne kaum verschieden von Gottsched oder von der Barockpoetik“, denn es sei „gegründet in der Anschauung eines exemplarischen (d.h. vollkommen positiven oder vollkommen negativen) Gegenstandes, die (positiv) den Affekt der Bewunderung bzw. (negativ) den des Abscheus beim Zuschauer hervorruft und zu entsprechender Nachahmung führt.“68 Zudem ist die Konsequenz dieser Nähe zum Barockdrama unverkennbar, insbesondere vor dem Hintergrund der beiden Schaubühnen-Reden, die Schiller zwei Monate nach der Aufführung des Stücks, ebenfalls in Mannheim, gehalten hatte. Denn diese lassen sich nicht nur als Kommentar zu Kabale und Liebe lesen, sondern markieren zudem die wirkungsästhetische Intention dieses Trauerspiels: Die Schaubühne führt uns eine mannigfaltige Szene menschlicher Leiden vor. Sie zieht uns künstlich in fremde Bedrängnisse und belohnt uns das augenblickliche Leiden mit wollüstigen Tränen und einem herrlichen Zuwachs an Mut und Erfahrung.69
Welcher Art ist aber dieser „Zuwachs an Mut und Erfahrung“, den das bürgerliche Trauerspiel und die tragische Kunst im Allgemeinen gemäß der Schaubühnen-Rede beim Zuschauer bewirken sollen? Er ist noch nicht gleichzusetzen mit einer Ästhetik des Erhabenen, da Schiller diese ja erst im Zuge seiner Kant-Rezeption in den 1790er Jahren, also in den Essays Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen von 1792, Über das Pathetische von 1793 und Über das Erhabene von 1801 entwickelte. Erst mit Kant konnte Schiller die Freiheit als Triumph des Sittengesetzes in uns über die Sinnlichkeit definieren, also das Mitleid, welches Lessing im Briefwechsel mit Nicolai und Mendelssohn zum wirkungsästhetischen Prinzip des Bürgerlichen Trauerspiels erhob, als bloße Bedingung der Möglichkeit 66 Ebd., S. 856. 67 Walter Rehm: Schiller und das Barockdrama, in: Ders.: Götterstille und Göttertrauer. Aufsätze zur deutsch-antiken Begegnung, München 1951, S. 62–100; Hans-Dietrich Dahnke/Lutz Vogel: Die hohe Tragödie im bürgerlichen Trauerspiel. Kabale und Liebe, in: Hans-Dietrich Dahnke/ Bemd Leistner (Hg.): Schiller. Leipzig 1982, S. 64–88. 68 Erich Schön: Schillers Kabale und Liebe: (K)ein bürgerliches Trauerspiel, a.a.O., S. 395. Schön belegte dies zum einen durch zeitgenössische Rezensionen, zum anderen durch den Nachweis, „daß wir in der Konstellation von Ferdinand einerseits, Wurm andererseits jene Intermedienkomik wiederfinden, in der im barocken Drama, vor allem natürlich in den Haupt- und Staatsaktionen der Wandertheater, Hanswurst in einer niedrigderb-komischen Parallelhandlung die hohe, ‚tragische‘ Haupt-Liebeshandlung des Prinzen bzw. der Personen von hohem Stand kontrafaktisch begleitete.“, vgl.: Ebd., S. 389. 69 Schiller: Sämtliche Werke, Band 5, a.a.O., S. 826.
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des Erhabenen begreifen. Luises Widerstände gegen das Leiden, wie es in ihrer Rede gegenüber Ferdinand formuliert wird, stehen hingegen keineswegs im Dienste der Freiheit. Zwar steht auch Luise zwischen Pflicht und Neigung im Sinne der späteren Theorie des Erhabenen, wenn sie einerseits den geleisteten Eid, andererseits die Liebe zu Ferdinand in eine Zwangslage bringt. Luises Leiden macht sie jedoch nur zum als Opfer vor allem feudaler Willkür, ihre Empörung gegen feudale Machenschaften wie auch gegen die Zwänge bürgerlicher Moral bleibt also letztlich vergeblich. Erst aus der Sicht der späteren Theorie des Erhabenen wäre dieses Leiden als erhebender Sieg des Menschen über sich selbst deutbar, eben dies jedoch ist „nicht der Sinn des Trauerspiels von Luise Millerin“70, wie schon Rolf-Peter Janz mit Recht betonte. In Kabale und Liebe tritt an die Stelle des Erhabenen das Martyrium eines bürgerlichen Tugendideals, dass in seiner Rigidität zur Matrix für die weiteren Werke des Bürgerlichen Trauerspiels werden sollte.
Jenseits der Zärtlichkeit: Zum Bürgerlichen Trauerspiel im 19. und 20. Jahrhundert Es gibt diverse Beispiele für die am Beispiel Schillers erläuterte These, dergemäß das Bürgerliche Trauerspiel nicht wie oft behauptet den Beginn, sondern vielmehr das Ende der zärtlichen Empfindsamkeit markiert, wenn wir an Wagners Die Kindermörderinn, Hebbels Maria Magdalena oder Gerhart Hauptmanns Rose Bernd, aber auch an die von Ursula Hassel untersuchten Familiendramen in der Tradition von bürgerlichem Trauerspiel und Wiener Volkstheater denken, also an Ludwig Thoma, Ödön von Horvath, Franz Xaver Kroetz, Felix Mitterer oder Kerstin Sprecht.71 Für deren (klein-)bürgerliche Familiendramen gilt der von Hassel schon am Beispiel von Hebbels Maria Magdalena bemerkte Trend: „Nicht Zärtlichkeit und Verständnis prägen die Vater-Tochter-Beziehung, sondern Zwang und Gewalt.“72 Aber lässt sich dieser Wandel wirklich ausschließlich auf die Wirkkraft der vehementen Kulturkritik Rousseaus zurückführen, die eine neue bürgerliche Moral jenseits der verweichlichten Zärtlichkeit forderte? Sicher nicht. Eine ganz andere Argumentationsform lieferte Heinz Schlaffer in seiner Studie zum bürgerlichen Helden, ausgehend vom Motivkomplex des Heroismus in der bürgerlichen Literatur des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Schlaffers These war, dass von der möglichen Erbmasse der alteuropäischen Aristokratie im Bürgerlichen Zeitalter lediglich der Begriff der Ehre erhalten geblieben sei. Freilich ist dieses aristokratische Erbe paradox, denn die Ehre sichert dem bürgerlichen Helden zwar eine gewisse Form von Heroismus, zugleich aber einen im bürgerlichen Zeitalter zunehmend anachronistischen Charakter. Der Ehrenhafte kann insofern entweder komisch 70 Janz: Schillers Kabale und Liebe als bürgerliches Trauerspiel, a.a.O., S. 228. 71 Vgl. dazu auch: Ursula Hassel, Familie als Drama. Studien zu einer Thematik im bürgerlichen Trauerspiel, Wiener Volkstheater und kritischen Volksstück, Bielefeld 2002. 72 Ebd., S. 302.
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wirken, oder aber eine Starrheit an den Tag legen, die letztlich jene von Hassel untersuchten dramatischen Züge annehmen kann, die Schlaffer freilich mit Hegel als durchaus positive Ermöglichung moderner Dramen deutet: „Die tragischen Wirkungen, welche noch im bürgerlichen Drama von der Ehre ausgehen, helfen der Schwierigkeit ab, im bürgerlichen Zeitalter Tragödien zu schreiben“, ist doch „die Ehrenproblematik vorzüglich geeignet, Konflikt, Unversöhnlichkeit und unglückliches Ende zu bewerkstelligen.“73 Von dem in dieser Studie untersuchten aristokratischen Zeitalter des Theaters bleiben also nur „archaische Ehrgesetze“ übrig, wie Schlaffer betont: Gemildert, im Prinzip jedoch nicht geändert, konstruieren aus diesen archaischen Ehrgesetzen die bürgerlichen Trauerspiele — Emilia Galotti, Luise Millerin, Maria Magdalene — ihren tragischen Ausgang und damit ihren Charakter als Tragödie, als hohe Form.74
So irritierend diese These vor dem Hintergrund der in dieser Studie entfalteten Kulturgeschichte der Zärtlichkeit ist, so sinnhaft wird sie, wenn wir das Bürgerliche Trauerspiel des 19. Jahrhunderts in den Blick nehmen. Wenn Friedrich Hebbel im Vorwort seines 1843 entstandenen Bürgerlichen Trauerspiels Maria Magdalena die „sittlichen Mächte der Familie, der Ehre und der Moral“ als Kernbestände seines Dramas identifiziert, dann scheint dies der These Schlaffers zu entsprechen. Maria Magdalene handelt von den tragischen Ereignissen im Leben einer Tischlerfamilie, die durch eine bürgerliche Scheinmoral verursacht werden, deren Grundlage nicht mehr die Zärtlichkeit, sondern nurmehr die Ehre ist. Allerdings spielt dieses als „bürgerliches Trauerspiel in drei Akten“ untertitelte Drama einzig im Bürgertum, auf die – sei’s negative, sei’s positive – Gegenwelt des Adels wird vollkommen verzichtet. Getragen wird diese Tragödie von den Sorgen des bürgerlichen Alltags: Klaras Mutter ist von schwerer Krankheit genesen, ihr Sohn Karl bittet seine Mutter um Geld zur Tilgung seiner Schulden, und auch die Tochter Klara trägt keineswegs zur Entlastung der Mutter bei, ist doch deren Buhler Leonhard steter Gefahrenherd einer möglichen Schwangerschaft der Tochter – und obendrein arbeitslos. Für Klara gilt es also, ihre Ehre zu behalten: „Ich will nicht hoffen“, so die Mutter, „daß du ihn anderswo siehst als hier im Haus.“75 Klara wurde jedoch beim letzten gemeinsamen Treffen von Leonhard verführt und – gegen ihren Willen – geschwängert. Es handelt sich im Unterschied zu Wagners Die Kindermörderin zwar nicht um eine Vergewaltigung – diese Vereindeutigung der Sachlage würde Hebbels Verständnis tragischer Schuld wahrscheinlich widersprechen76 –, wohl aber gelangte Leonhard nur über die Vermittlung eines schlechten Gewissens an sein sexuelles Ziel: „Du standst vor mir, wie einer, der eine Schuld einfordert“, so der 73 Heinz Schlaffer: Der Bürger als Held. Sozialgeschichtliche Auflösungen literarischer Widersprüche, Frankfurt am Main 1973, S. 123. 74 Ebd., S. 124. 75 Friedrich Hebbel: Maria Magdalene. Ein bürgerliches Trauerspiel in drei Akten, in: Ders.: Werke Band 1, hg.v. Werner Keller und Karl Pörnbacher, München 21987, S. 334. 76 Vgl. dazu: Burkhard Meyer-Sickendiek: Affektpoetik, a.a.O., S. 196.
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Vorwurf Klaras. Im Gegenzug wirft Leonhard seiner Klara ihre Beziehung zu derem alten Jugendfreund – dem „Sekretär“ – vor. Wenngleich beide also durch die Schwangerschaft aneinander gebunden sind, so ist die Beziehung zwischen Klara und Leonhard einzig von Reue ob dieser unhintergehbaren Schwangerschaft, von schlechtem Gewissen und ökonomischer Berechnung geprägt. Dies gilt auch für Klaras Vater Anton, der seine Tochter nur an einen ‚Ernährer‘ vergibt. Kommt Leonhard daher erst dann als Gatte in Frage, wenn er eine neue Stelle als Kassierer bekommen hat, so ist Leonhard umgekehrt vor allem deshalb an Klara interessiert, weil er es auf die 1000 Taler abgesehen hat, die ihm als Mitgift zustehen, die Vater Anton aber aus sentimentalen Gründen verschenkte. Das dramatische Geschehen kommt in Gang, nachdem Leonhard der Familie davon berichtet, dass beim Kaufmann Wolfram Juwelen aus einem Sekretär verschwunden sind, welchen Antons Sohn Karl kurz zuvor poliert hatte. Zwar ist die Mutter fest überzeugt, dass Karl mit dem Diebstahl nichts zu tun hat, nachdem sie aber von der Verhaftung ihres Sohnes hört, bricht sie schockiert zusammen und stirbt. Zudem erscheint nun Tochter Klara mit einem Brief von Leonhard, der sich von ihr lossagt, angeblich wegen der Entehrung der Familie durch die Taten von Klaras Bruder Karl. Zugleich spricht Vater Anton seine Tochter auf ihre Ehre an, woraufhin sie beteuert ihm niemals Schande zu machen. Eben diese bürgerliche Familienehre jedoch ist es, die Klara ob ihrer Schwangerschaft letztlich in den Selbstmord treibt. Denn Meister Anton verlangt von Tochter Klara nicht nur die Rettung von Ruf und Familienehre, sondern droht gar mit Selbstmord, falls sie ihn – etwa durch eine Schwangerschaft – enttäuschen sollte. Wenn die Familienehre durch den Sohn befleckt ist, dann wäre eine ungeplante Schwangerschaft der Tochter also deren und des Vaters Todesurteil: In dem Augenblick, wo ich bemerke, daß man auch auf dich mit Fingern zeigt, werd ich – (mit einer Bewegung an den Hals) mich rasieren, und dann, das schwör ich dir zu, rasier ich den ganzen Kerl weg.77
Klara ist also nicht nur entehrt und geschwängert, sondern verantwortet nun auch das Fort- bzw. Ableben ihres Vaters. Und weil dieses Leben des Vaters gewichtiger ist als ihr eigenes oder das des ungeborenen Kindes, sieht sie im Selbstmord den einzigen Ausweg, der nur durch eine Heirat mit Leonhard verhindert werden könnte. Eben dieser hat jedoch angesichts der nunmehr fehlenden Mitgift kein Interesse an der Heirat, und begründet diesen Geisteswandel mit der befleckten Ehre der Familie durch den Sohn Karl: auch wenn dessen Unschuld zwischenzeitlich erwiesen ist. Klara hingegen erklärt nun auch ihrem Jugendfreund, dem Sekretär, dass es zur Rettung der Familienehre bzw. gar des Lebens des Vaters keine Alternative zu einer Ehe mit Leonhard gäbe. Eben diese Information an den Jugendfreund treibt das dramatische Geschehen auf die Spitze: Weil der Sekretär Klaras Beweggründe nachzuvollziehen weiß, will er aus Gründen der Ehre den Verführer zum Duell mit Pistolen fordern. Als Leonhard plötzlich doch seiner Ver77 Friedrich Hebbel: Werke Bd. 2: Dramen, hg. v. Harald Fricke, München 1963, S. 355.
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pflichtung gegenüber Klara nachkommen will, wird er vom Sekretär im Duell getötet. Wie fragwürdig freilich dieser bürgerliche Ehrbegriff ist, zeigt das Ende, nachdem die Selbstmörderin Klara tot im Brunnen gefunden wurde: Zwar beobachteten Zeugen, dass sie hinein gesprungen sei, Vater Anton aber rettet die Ehre seiner Tochter noch nach ihrem Tod durch die Behauptung, angesichts der Dunkelheit sei nicht auszumachen gewesen, ob es sich um Selbstmord oder aber um einen Unfall gehandelt habe. Der Titel des Dramas entlarvt den bürgerlichen Ehrbegriff also als Zeichen einer Doppel- bzw. Scheinmoral, wie er auch das Schicksal der Ehebrecherin bzw. Sünderin Maria Magdalena darstellte.78 Wenn diese biblische Figur dem bürgerlichen Trauerspiel Hebbels den Titel gibt, dann dürfte dies seinen Grund in der Parallelität des Schicksals der Heldin Klara zu dem Maria Magdalenas haben. Und dasjenige tertium, welches sich als Parallele anböte, ist das sündige, d.h. in unserem Sinne schuldhafte und tadelnswerte Handeln, mit dem Clou freilich, dass eben diese Schuld nur eine vordergründige, auf Doppelmoral gegründete ist. Dass es Hebbel dabei nicht um Sozialkritik, sondern eher um die Reaktivierung eines durchaus archaischen Schuldverständnisses ging, zeigt sein Essay Mein Wort über das Drama von 1843: Diese Schuld [als Motiv der Tragödie, B.M.S.] ist eine uranfängliche, von dem Begriff des Menschen nicht zu trennende und kaum in sein Bewußtsein fallende, sie ist mit dem Leben selbst gesetzt. Sie zieht sich als dunkelster Faden durch die Überlieferungen aller Völker hindurch, und die Erbsünde selbst ist nichts weiter, als eine aus ihr abgeleitete, christlich modifizierte Konsequenz. Sie hängt von der Richtung des menschlichen Willens nicht ab, sie begleitet alles menschliche Handeln, wir mögen uns dem Guten oder dem Bösen zuwenden, das Maß können wir dort überschreiten, wie hier. Das höchste Drama hat es nur mit ihr zu tun, und es ist nicht bloß gleichgültig, ob der Held an einer vortrefflichen oder verwerflichen Bestrebung zugrunde geht, sondern es ist, wenn das erschütternste Bild zustande kommen soll, notwendig, daß jenes, nicht dieses, geschieht.79
Wie nachhaltig dieser bürgerliche Ehrbegriff im Sinne einer fatalen Doppelmoral die Gattung des Bürgerlichen Trauerspiels im 19. und 20. Jahrhundert geprägt hat, zeigt auch Gerhart Hauptmanns Tragödie Rose Bernd von 1903: Die tragische Affäre zwischen der 22-jährigen Titelheldin und dem knapp vierzigjährigen Dorfschulze Christoph Flamm. Es ist auch die Tragödie einer verbotenen Liebe, da Rose mit August Keil, einem unscheinbaren und schwächlichen Buchbinder, verlobt ist und 78 Der Titel des Stücks sollte ursprünglich „Klara“ sein, wurde aber auf Veranlassung des Verlegers in „Maria Magdalena geändert“. Dies in Anspielung auf die biblische Maria Magdalena, deren Figur mit der mittelalterlichen Legende Über Maria von Bethanien und der reuigen Sünderin zu einer Person verwoben wurde. Heute ist die Maria Magdalena die Symbolfigur einer Büßerin. Der Titel paßt insofern schlecht zu Hebbels Stück, da Klara eher eine Unselige als eine Büßerin ist. Die Form „Maria Magdalene“ ist durch einen Druckfehler entstanden und von Hebbel weitgehend beibehalten worden. Im Allgemeinen hat sich jedoch die Namensform der Legende, also „Maria Magdalena“ weitgehend durchgesetzt. 79 Friedrich Hebbel: Mein Wort über das Drama, in: Ders.: Werke. 3. Band, München 1965, S. 545–576, hier S. 568.
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ihn bald heiraten soll, wie es ihr alter Vater wünscht, während Flamm mit einer im Rollstuhl sitzenden Frau verheiratet ist. Zudem hat der Maschinist Arthur Streckmann den beiden aufgelauert und droht Rose mit der Bekanntmachung des Verhältnisses, woraufhin ihm Rose all ihre Ersparnisse als Schweigegeld anbietet, nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass sie schwanger von Flamm ist. Allerdings vertraut Rose dieses fatale Geheimnis ihrer Schwangerschaft zunächst auch der Frau Flamm an, woraufhin diese ihr Trost und Hilfe anbietet. Zudem drängt Rose nun auf die dem Vater versprochene Ehe mit August Keil, ersehnt sich also eine Art „Ungeschehenmachen“, was freilich auch das Stillschweigen Streckmanns zur Voraussetzung hat. Eben dies aber scheitert wiederum am bürgerlichen Ehrbegriff, denn nachdem Streckmann in einer Auseinandersetzung mit Roses Vater und August Keil die Anspielung macht, dass Rose „mit all’r Welt a Gestecke“80 habe, verklagt ihn Vater Bernd, da er sich in seiner Ehre tief verletzt fühlt. Dies zwingt nun Tochter Rose zu einem Meineid vor Gericht, den sie gegenüber der hintergangenen Gattin Frau Flamm durch einen Schamkonflikt erklärt: „Ich hoa mich geschaamt!“81 Damit jedoch überschreitet sie jene tragische Schuld, die sie sich durch die Affäre aufbürdete, und zwar derart, dass sie sowohl bei Frau Flamm – die Trotz ihres Wissens um die Liaison zwischen Rose und ihrem Mann weiterhin zur Hilfe bereit war – als auch bei Flamm und ihrem Vater auf vollkommenes Unverständnis stößt. Verzweifelt und von allen verstoßen bringt Rose ihr Neugeborenes um. Trotz des zeitliche Abstands von 60 Jahren ist die thematische Nähe von Hebbels Maria Magdalena zu Gerhart Hauptmanns Rose Bernd wirklich enorm, denn nicht nur hinsichtlich ihrer Opferrolle ist die Gutsmagd Rose der Handwerkertochter Klara äußerst verwandt. Beide müssen ihre Schwangerschaft verbergen, beide sind von gewissenlosen Verführern zur sexuellen Hingabe erpresst, und beide sind erdrückt von der moralischen Übermacht eines vom bürgerlichen Ehrenkodex getriebenen Vaters. Roses Kindesmord vollzieht sich wie Klaras Selbstmord mit einer zwanghaften Getriebenheit, die sich auf jenen schon bei Wagner und Schiller zu findenden Bürgerlichen Tugendrigorismus zurückführen lässt. Man könnte diese Entwicklung mit dem von Norbert Elias bemerkten Übergang von Fremdzwängen hin zu Selbstzwängen erklären: Eine These, die sich anhand der weiteren Entwicklung des Bürgerlichen Trauerspiels durchaus belegen lässt. Allerdings finden sich derlei konfliktuelle Formen der Affektivität, deren Konsequenz die Selbstblockade der tragischen Helden ist, eben nicht in jenen vom Zärtlichkeitsdiskurs des siècle classique geprägten frühen Werken des empfindsamen Theaters. Das empfindsame Theater etwa bei Gellert, Schlegel oder auch Lessing begriff das Motiv der Schamhaftigkeit vielmehr als ein Sittlichkeitsideal von hohem erzieherischem Wert. Erst in der nach-rousseauistischen Geschichte des Bürgerlichen Trauerspiels, also seit dem Sturm und Drang, wird die integrative Bedeutung der Scham im Sinne des in dieser Studie umfangreich erläuterten Prinzips zärtlicher Beschämung durch eine rigidere Form der Scham ersetzt, die sich aus einem bürgerlichen Tu80 Gerhart Hauptmann: Das dramatische Werk, Band 2, Wien 1974, S. 393. 81 Ebd., S. 408.
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gendrigorismus ableitet. Nicht von ungefähr bezeichnete Peter Sprengel mit Blick auch auf Gerhart Hauptmanns Tragödie Rose Bernd von 1903 das Genre des Bürgerlichen Trauerspiels als „die Tragödie der Scham, in der die Strenge der Väter über die Liebe der Töchter, die (klein)bürgerliche Moral über das Leben triumphiert.“82 Und ganz in diesem Sinne heißt es schon bei Bertolt Brecht: Gretchen, Magdalena, Rose Bernd. Sollen wir das Publikum veranlassen, sich in die Scham, in das schlechte Gewissen dieser Mädchen hineinzuleben? Wir verfechten heute, daß in dem Gewissenskonflikt der Mädchen das ‚Schlechte‘ nicht ihre Sinneslust ist, sondern ihre Selbstverfemung; die Gesellschaft ihrer Zeit, die ihnen da ein Verbot als ewiges Sittengesetz eingeredet hat, ist im Unrecht für uns.83
Das Theater der Zärtlichkeit: Historisches Intermezzo oder Vorform des Melodramas? Angesichts dieser Verfallsdiagnose bleibt nun eine wichtige Frage noch zu klären: Ist bzw. war das Theater der Zärtlichkeit lediglich ein historisches Intermezzo, das gerade angesichts unserer Datierung auf die Zeit von 1650 bis 1770 ein für das moderne Theater im Grunde irrelevantes bzw. verlorenes Modell darstellt? Dieser eher pessimistischen These scheint ein Genre zu widersprechen, welches in der Forschung ausgesprochen häufig auf die Epoche der Empfindsamkeit zurückgeführt worden ist. Ich meine die Gattung des Melodramas, deren Vorgeschichte seit den grundlegenden Arbeiten von Thomas Elsaesser und Peter Brooks häufig in der empfindsamen, gefühlskultivierten Aufklärung und deren Dramaturgie der „Rührung“ gesehen wurde. Eine „melodramatische Imagination“ (Brooks) sowie das Narrativ der Familienmelodramatik (Elsaesser) resultiere demnach ursprünglich aus der Transformation des empfindsamen Romans bzw. Theaters der Mitte des 18. Jahrhunderts.84 Dabei bezog sich Brooks bei seiner Definition des Melodramas nicht auf den melodramatischen Film, sondern gewann am Beispiel der Theaterstücke des Franzosen René-Charles Guilbert de Pixérécourt Grundzüge einer um 1800 einsetzenden melodramatischen Ästhetik des „Exzesses“, die bis hin zu Autoren wie Victor Hugo, Balzac oder Henry James wirksam gewesen sei.85 Diese 82 Peter Sprengel: Die Wirklichkeit der Mythen. Untersuchungen zum Werk Gerhart Hauptmanns aufgrund des handschriftlichen Nachlasses, Berlin: Aufbau-Verlag 1982, S. 287. 83 Bertolt Brecht: Schriften zum Theater: 1948–1956. Kleines Organon für das Theater. ‚Katzgraben‘-Notate. Stanislawski-Studien. Die Dialektik auf dem Theater, Frankfurt am Main 1964, S. 269. 84 Wie Lothar Fietz nachzuweisen vermochte, leitet sich schon das Melodrama des späten achtzehnten Jahrhunderts bei Iffland und Kotzebue aus der Tradition des bürgerlichen Trauerspiels und des Rührstücks her, vgl.: Lothar Fietz: Zur Genese des englischen Melodramas aus der Tradition der bürgerlichen Tragödie und des Rührstücks: Lillo – Schröder – Kotzebue – Sheridan – Thompson – Jerrold, in: DVjS 65 (1991), S. 99–116. 85 Peter Brooks: The Melodramatic Imagination: Balzac, Henry James and the Mode of Excess, New Haven/London 1976.
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resultiere aus jenem langsamen Prozess einer mit der französischen Revolution einsetzenden „Entsakralisierung“, in welchem die postsakrale Gesellschaft des 18. Jahrhunderts ein weltliches System ethischer Werte produziert habe, welches Brooks das „Moralisch-Okkulte“86 nennt: ein Sammelsurium profaner Reste ursprünglich sakraler Mythen, welche im melodramatischen Theater sowie im Roman Balzacs und Henry James’ artikuliert und geortet würden. Den Brückenschlag zwischen Empfindsamkeit und melodramatischem Film lieferte Thomas Elsaesser, der das Melodrama im Film als genuine Ausdrucksform des aufstrebenden Bürgertums identifiziert und seine frühesten Manifestationen im sentimentalen Roman des 18. Jahrhunderts, also bei Richardson und Rousseau, sowie im bürgerlichen Trauerspiel verortet hat.87 Elsaesser beispielhafte Dramatiker sind dabei Lessing und Schiller: Die melodramatischen Elemente sind an den Plots, die um Familienbeziehungen, um unglückliche Liebe und Zwangsehen kreisen, deutlich erkennbar. Die Schurken (oft aus edlem Geschlecht) demonstrieren ihre überlegene politische und und ökonomische Macht ausnahmslos durch sexuelle Aggression und Vergewaltigung, womit sie der Heldin keinen anderen Weg offenlassen, als Selbstmord zu begehen oder gemeinsam mit ihrem Geliebten Gift zu nehmen. Die ideologische ,Botschaft‘ dieser Trauerspiele ist, wie im Fall von Clarissa, offensichtlich: Sie verzeichnen den Kampf eines moralisch und emotional emanzipierten bürgerlichen Bewußtseins gegen die Überreste des Feudalismus. [Diese] Verinnerlichung und Personalisierung von primär ideologischen Konflikten ist, zusammen mit der metaphorischen Interpretation des Klassenkonflikts als sexuelle Ausbeutung und Vergewaltigung, ein wesentliches Element aller folgenden Formen des Melodrams, einschließlich jener des Kinos.88
Eine ähnliche Herleitung liefert die Habilitationsschrift Hermann Kappelhoffs, der in direkter Linie das moderne Film-Melodram aus dem Theater der Empfindsamkeit des 18. Jahrhunderts als der „Gründerzeit der bürgerlichen Seele“ entwickelte89: Die Empfindsamkeit mit ihrem Höhepunkt bei Diderot wird somit auch bei Kappelhoff zum „Vorläufer des Melodrams.“90 Auch Kappelhoff beruft sich dabei auf Richardson, Lessing, Rousseau und Diderot, also den empfindsamen Briefroman, aber auch Diderots realistisch-bürgerliches Trauerspiel sowie Lessings Miß Sara Sampson und die Emilia Galotti. Unter Berufung auf Elsaesser und Brooks entwickelte Kappelhoff also eine sehr weit gefasste „Matrix der Gefühle“ bzw. ein „Dispositiv eines sentimentalen Genießens, das sich in den Theorien empfindsamer Schauspielkunst abzeichnet, im Melodrama des 18. Jahrhunderts seinen para86 Ebd., S. 5. 87 Thomas Elsaesser: Tales of Sound and Fury. Anmerkungen zum Familienmelodram, in: Und immer wieder geht die Sonne auf. Texte zum melodramatischen Film, a.a.O., S. 93–130, hier S. 96. 88 Ebd. 89 Hermann Kappelhoff: Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit, Berlin 2004. 90 Peter Brooks: Die melodramatische Imagination, in: Und immer wieder geht die Sonne auf. Texte zum melodramatischen Film, a.a.O., S. 35–64, hier S. 50.
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digmatischen Ausdruck findet und noch die Inszenierung der melodramatischen Heroinen des Hollywoodkinos prägt.“91 So nachvollziehbar und erhellend dieser Ansatz Kappelhoffs ist, so wichtig bleibt zunächst die grundsätzliche Frage, welche Autoren des nicht-filmischen Melodramas des 18. und frühen 19. Jahrhunderts denn tatsächlich einflussreich für das filmische Melodrama des 20. Jahrhunderts gewesen sind. Und diesbezüglich muss man feststellen, dass es kaum Verfilmungen des theatralen Melodramas oder des empfindsamen Romans gibt. Die wichtigsten Vorlagen des filmischen Melodramas sind nicht die Theaterstücke des bürgerlichen Trauerspiels oder des Rührstücks, sind weder Voltaire noch Diderot, weder Lillo noch Lessing, sind nicht der sentimentale Roman Richardsons oder Rousseaus, sind nicht Kotzebue oder Pixérécourt. Es sind vielmehr Romane und Erzählungen des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts: Neben den diversen Verfilmungen von E.T.A. Hoffmann, Charles Dickens92, Honoré de Balzac, Henry James, Victor Hugo, Eugène Sue oder Harriet Beecher Stowe wären etwa Heinrich Manns Professor Unrat als Quelle für Josef von Sternbergs Melodrama Der blaue Engel von 1930 zu nennen, Rudyard Kiplings Captains Courageous für Victor Flemings gleichnamige Verfilmung von 1937, George Brewer Jr.s Dark Victory als Vorlage für Edmond Gouldings gleichnamige Verfilmung von 1939, oder James Hiltons Goodbye Mr. Chips als Quelle der gleichnamigen Verfilmung Sam Woods von 1939. Ähnliches gilt für Max Ophüls’ wunderbares Melodrama Letter from an unknown Woman von 1948, welches auf eine Novelle Stefan Zweigs zurückgeht, man könnte zudem auch Henry Kosters Good Morning, Mrs. Dove von 1955 nennen, eine Verfilmung eines Romans von Frances Gray, oder natürlich Rainer Werner Fassbinders Effi Briest, eine Verfilmung Theodor Fontanes. Zwei wichtige Kennzeichen des melodramatischen Films, die einerseits von Thomas Elsaesser, andererseits von Steve Neal beschrieben wurden, erklären sich aus dieser Orientierung am Roman des neunzehnten Jahrhunderts: Zum einen die von Elsaesser am Beispiel der Filme Vincente Minellis illustrierten „übertriebenen Aufstieg-und-Fall-Muster“, die aus der filmischen Kürzung der detailreichen Romane des neunzehnten Jahrhunderts auf das neunzigminütige Format des tonalen „Langfilms“ resultieren, also aus der „dramatischen Beschleunigung“ sowie der derart entstehenden „Form des starken psychologischen Drucks, der auf den Figuren lastet.“93 Zum anderen das Spiel des Regisseurs mit dem „Wissen und Point of View“ der Zuschauer und dem der Filmfiguren. Steve Neal geht davon aus, daß die eigentlich bewegenden Momente des Melodramas „das Ergebnis einer Struktur sind, bei der der Point of View einer der Figuren mit dem von der Erzählung etab91 Kappelhoff: Matrix der Gefühle, a.a.O., S. 19. 92 Zur Rolle von Dickens im melodramatischen Film vgl. den freilich kritischen Aufsatz von Sergej M. Eisenstein: Dickens, Griffith und wir, in: Ders.: Ausgewählte Aufsätze. Mit einer Einführung von R. Jurenew, Berlin 1960, S. 157–229; John Juliet: Dickens’s villains: Melodrama, character, popular culture, Oxford 2001. 93 Elsaesser: Tales of Sound and Fury, a.a.O., S. 105f.
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lierten Point of View des Lesers zusammenfällt.“94 Neben den eher formalen Aspekten, wie sie aus der Orientierung des Melodramas am Roman des neunzehnten Jahrhunderts hervorgehen, steht nun jedoch zugleich ein inhaltliches Moment, nämlich das Sehnsuchtsmotiv der Romantik, einer Epoche, deren Wichtigkeit für das Melodrama von Elsaesser und Kappelhoff zugunsten der Empfindsamkeit unterschätzt wird. Zumindest einer der ganz großen Melodramatiker des Films, Douglas Sirk alias Detlef Sierck, hat mit der Romantik weit mehr zu tun denn mit dem Bürgerlichen Trauerspiel oder dem empfindsamen Roman. Dies zeigt ein Zitat aus Siercks UFA-Melodrama La Habanera von 1937: Allein bin ich in der Nacht, meine Seele wacht und lauscht. Oh Herz, hörst du wie es klingt, in den Palmen singt und rauscht? Der Wind hat mir ein Lied erzählt, von einem Glück, unsagbar schön! Er weiß, was meinem Herzen fehlt, für wen es schlägt und glüht! Er weiß für wen. Komm! Komm! Ach! Der Wind hat mir ein Lied erzählt, von einem Herz, das mir fehlt!95
Jene für die Gattung des Melodramas grundlegende Emotionalität der Sehnsucht96, welche David N. Rodowick aus der „impossibility of an individual reconciliation of the law and desire“ herleitetet97, liegt sicherlich auch dieser berühmten Textzeile Zarah Leanders aus Siercks La Habanera zugrunde. Und dieser Bezug zum romantischen Sehnsuchtslied ist mehr denn bloßes Dekor, vielmehr verbindet sich damit eine Partizipation am Gedankengut romantischer Liebe, die insbesondere für die UFA-Filme Siercks grundlegend ist. Man könnte diesbezüglich außer auf La Habanera auch auf Zu neuen Ufern von 1937 verweisen, jene erste Zusammenarbeit zwischen Sierck und Léandre, in dem der romantische Sehnsuchtstopos sich etwa in Schlagern wie Ich steh im Regen oder Tiefe Sehnsucht äußert, aber natürlich sind auch die späteren Universal-Filme Douglas Sirks wie etwa All I desire (1953) oder All that heaven allows (1955) von diesem Motiv geprägt. Wie wichtig wiederum speziell Sirks Universal-Filme für die cineastischen Sehnsüchte Rainer Werner Fassbinders sind, dies kann wohl als bekannt vorausgesetzt werden: denken wir allein an die Sirk-Adaption in Angst essen Seele auf von 1973. Wir konnten in dieser Studie sehen, dass diese Liebessehnsucht des modernen Melodramas ein dem Theater der Zärtlichkeit noch unbekanntes Motiv darstellt. 94 Steve Neal: Melodram und Tränen, in: Und immer wieder geht die Sonne auf, a.a.O., S. 147– 166, hier S. 148. 95 Zarah Léandre in Douglas Sirks Melodrama La Habanera. 96 Thomas Elsaesser: Desire Denied, Deferred or Squared? Screen 29.3 (1988), S. 106–115. Vgl. Auch: Burkhard Meyer-Sickendiek: Affektpoetik, a.a.O., S. 201–220. 97 David N. Rodowick: Madness, Authority and Ideology. The Domestic Melodrama of the 1950s, in: Home is where the heart is, hg.v. Christine Gledhill, S. 273.
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Erst mit dem die sinnlich-körperliche und die geistig-seelische Liebe als Einheit betrachtenden Ehe- und Liebesideal der Romantik, dem das Liebeserleben erstmals ein religiöses Erleben ist, sind die Grundlagen dieser melodramatischen Liebessehnsucht gegeben. Dieses vor allem in Friedrich Schlegels Roman Lucinde von 1799 geprägte Ideal der romantischen Liebe ist von der Zärtlichkeit zu unterscheiden, denn die romantische Liebe sieht in der zwischengeschlechtlich-ehelichen Liebe kein sittliches Ideal, keine Didaktik, sondern vielmehr die totale Erfüllung, die Vollendung des Männlichen und des Weiblichen. „Als Liebeserfüllung“, so Gert Mattenklott, „gilt Schlegel (...) die gemeinsame Sehnsucht nach unendlicher Einswerdung, erfüllte Natur also als Index des Absoluten.“98 Diese Art Sehnsucht findet sich weder bei Racine noch bei Lessing, weder bei Steele noch bei Destouches. Sie prägt jedoch die Melodramen von Douglas Sirk und Rainer Werner Fassbinder: Elisabeth Läufer sah „neben der Sehnsucht nach dem Geliebtwerden, die Angst vor der Liebe und vor der Einsamkeit, die Angst vor dem Leben und wiederum die Sehnsucht nach Glück und nach dem wahren Leben“99 als deren gemeinsame Schnittmenge an. Insofern also bleibt das Theater der Zärtlichkeit ein historisches Intermezzo, das sich nicht als Vorform des filmischen Melodramas aktualisieren lässt. Denn gerade weil man dieses Theater der Zärtlichkeit nicht länger mit dem aufstrebenden Bürgertum des 18. Jahrhunderts erklären, sondern vielmehr auf die aristokratische Salonkultur des französischen siècle classique zurückführen muss, ist es letztlich wohl auch kein Paradigma der Moderne.
98 Gerd Mattenklott: Der Sehnsucht eine Form. Zum Ursprung des modernen Romans bei Friedrich Schlegel, erläutert an „Lucinde“, in: Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaft, 8: Zur Modernität der Romantik, hg. v. D. Bänsch, Stuttgart 1977, S. 143–166, hier S. 161. 99 Elisabeth Läufer: Skeptiker des Lichts. Douglas Sirk und seine Filme, Frankfurt am Main 1987, S. 191.
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NAMENSREGISTER NAMENSREGISTER Adam, Antoine 44 [fn], 158, 218 [fn] Addison, Joseph 49, 183, 191, 194, 217 Adelung, Johann Christoph 43 Agrippa (auch Herodes Agrippa I.) 117 Aischylos 193 Albrecht, Wolfgang 409, 410, 412 Alembert, Jean-Baptiste le Rond d’ 40 [fn], 46 [fn], 131, 344, 346, 347, 350– 352 [fn], 353, 354, 360–362, 370, 371 Alt, Peter-André 20, 25, 31, 266 [fn], 272 [fn], 273, 281 [fn], 312 [fn] Andilly, Robert Arnauld d’ 67 Angennes, Julie d’ 66 Anna Maria Mauricia von Spanien (auch Anna von Österreich, auch Anne d’Autriche) 64, 65, 70, 115 Arendt, Dieter 394 [fn] Ariès, Philippe 12 [fn], 22 [fn], 27 [fn], 31 [fn] Aristophanes (auch Aristophane) 36, 44, 193 Aristoteles 16, 31 [fn], 48, 80, 82, 128, 129, 175, 253, 310, 311, 313, 321– 325, 347, 391 Arndt, Richard 156 [fn] Arpajon, Louis d’ 67 Aubignac, Abbé d’ 85 Auerbach, Erich 107, 108, 425 [fn] Auerbach, Martin 425 Augustus 117, 352 Aulnaye, François Henri Stanislas de l’ 361 Aurnhammer, Achim 11 [fn] Baader, Renate 61, 66–68, 72, 80–82, 85 [fn] Baasner, Frank 13 [fn], 27, 47 Baasner, Rainer 177 Baillet, Adrien 167 Balzac, Honoré de 448–450 Barbafieri, Carine 12, 13 [fn], 43, 113, 114, 115 [fn], 116, 127
Barkhausen, Jochen 13, 198, 199 Barry, Madame du 35, 93 [fn] Barthes, Roland 126 [fn] Batteux, Charles 263 Bauer, Gerhard 333, 335 [fn], 338 Baumgarten, Alexander Gottlieb 24, 313, 314 [fn] Bayle, Pierre 308 [fn] Beaumarchais, Pierre Augustin Caron de 13 [fn], 46 [fn], 390, 391 Beaumont, Francis 193 Becker-Cantarino, Barbara 415 [fn], 417 [fn] Beetz, Manfred 28, 282 Begemann, Christian 366 Behn, Aphra 37 Belle-Isle, Louis-Charles-Auguste Fouquet de 62 [fn] Benserade, Isaac de 113 Berkeley, David S. 185 Berthold, Helmut 285, 291, 294, 295 Beyerle, Dieter 155 [fn], 164 Blättler, Sidonia 351 Boccaccio, Giovanni 81 Bodmer, Johann Jakob 54, 167, 211, 247, 310 [fn] Bohse, August 18 Boileau, Gilles 54, 85 [fn], 107, 114, 166 Borchmeyer, Dieter 15, 170, 177, 178, 183 [fn], 296 [fn] Bouhours, Dominique 40, 42, 53, 123, 308 Bourbon, Philippe I. de 37 Bourbon-Condé, Anne-Geneviève de (auch Duchesse de Longueville) 64, 66 Bourdieu, Pierre 17, 18 Boursault, Edme 114 Braithwaite, John 48, 49 Brandes, Johann Christian 382, 383–385, 389 Brawe, Joachim Wilhelm von 286 Brecht, Bertolt 448
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NAMENSREGISTER
Breitinger, Johann Jakob 54, 310 [fn] Breitkopf, Bernhard Christoph 170, 266 [fn] Brewer, George Jr. 450 Brizard, Gabriel 361 Brooks, Peter 448, 449 Brüggemann, Fritz 11, 210 Brunkhorst, Martin 132 [fn], 133, 143 [fn] Bruyère, Jean de La 130, 131 Büff, Renate 64, 65 [fn], 66, 69, 73 [fn], 84, 87, 88 Bung, Stephanie 64, 66, 69, 70 [fn], 72 Bunke, Simon 9, 48 [fn] Bürger, Peter 27 Burke, Edmund 42 Burke, Peter 30 Caesar, Gaius Iulius 117, 118, 133–137, 139, 141, 171, 211 [fn], 276 Caligula (auch Gaius Caesar Augustus Germanicus) 117 Campe, Joachim Heinrich 433 Carlson, Marvin A. 163 Casaubon, Isaac 187–189 Centlivre, Susanna 305 Cervantes 81 Chapelain, Jean 71, 114 Charles I. 109 Charles II. 93, 94, 109, 132, 418 Chassiron, Pierre Mathieu Martin de 44, 53, 55, 216, 219, 220, 224, 240, 244, 247, 248, 257, 263–267, 274, 278, 279, 391 Châteaubrun, Jean-Baptiste Vivien de 174 Châteauroux, Duchesse de 35 Chaussée, Pierre Claude Nivelle de La 19, 26, 44–47, 53, 55, 161, 164, 182, 211, 216, 217, 219, 220, 224, 225, 227–229, 232, 236–240, 243, 244, 247, 249, 250, 257, 261, 262, 264–267, 271, 272, 274, 291, 307, 326, 364, 406 Chauveau, François 15, 17 Chipley Edward Clarke von 50 Cibber, Colley 19, 26, 44, 45, 49, 52, 94, 104 [fn], 153, 186, 187, 191, 199–202, 205, 207, 210, 211, 213, 215–218, 220, 238, 271, 301 Cicero 188, 190, 283 Claudius 117
Cleopatra VII. Philopator 118, 133–142, 150 Collier, Jeremy 94, 145, 152, 186, 192–195, 206, 215, 236 Congreve, William 38, 93, 94 [fn], 100 [fn], 183 [fn], 192, 193, 194, 199, 206, 210, 305, 306 Conrart, Valentin 66 Conze, Werner 51 Corneille, Pierre 15 [fn], 36, 37, 44, 45, 53, 114-117, 123, 125, 127, 130, 131, 155, 156, 165 [fn], 166–171, 177, 265–267, 274 [fn], 277, 278, 309, 311, 323–325, 337 Corneille, Thomas 113 Cornuel, Anne-Marie Bigot de 66 Corregio, Antonio da (auch Corrège) 155, 156 Cramer, Johann Andreas 246 Crebillon, Claude-Prosper Jolyot de 154 [fn], 267 Crébillon, Prosper Jolyot 44 [fn], 154 [fn], 218 [fn], 263 [fn], 311 Cronegk, Johann Friedrich von 24 Crousaz, Jean Pierre de 54 Crowne, Oliver 133 Curtius, Michael Conrad 310 Cyrus (auch Kyros II.) 64, 96, 423 Dalberg, Heribert von 434 Damm, Sigrid 390 Daumas, Maurice 11–13, 15 [fn], 35, 46, 69 Davis, John 206 Dehrmann, Mark-Georg 282 Denis, Delphine 13, 15, 16 [fn], 72, 73 [fn], 86 [fn] Dennis, John 194 Desfontaines, Abbé Pierre Francois 216 Destouches, Philippe Néricault 19, 26, 44–47, 52, 53, 153, 161, 163, 164, 169, 170, 211, 214, 216–221, 224– 232, 234, 236, 244–247, 250, 257, 261, 262, 264, 271, 272 [fn], 295, 307, 326, 264, 390, 391, 452 Dickens, Charles 450 Diderot, Denis 20, 40 [fn], 54, 131, 264 [fn], 274, 291, 294, 307, 344, 435, 449, 450 Dirscherl, Klaus 13 [fn], 27, 53 [fn], 54
NAMENSREGISTER
Doering, Sabine 171 Dolabella, Publius Cornelius 133, 136–141 Dolce, Lodovico 187 Domitian 117 Dryden, John 19, 44, 45, 89, 92–101, 104, 105, 108, 109, 129, 132–135, 137, 139, 140–143, 149, 150, 153–155, 165, 170, 185, 188–193, 199, 206, 272, 334 Dubos, Abbé Jean Baptiste 13 [fn], 27 [fn], 53–57, 274, 307–319, 321 Duerr, Hans Peter 28 Dufresny, Charles 170, 245 Ecker, Hans Peter 254 Eco, Umberto 187 Edward IV. (auch Eduard IV.) 37, 150, 151 Eibl, Karl 322 [fn], 329, 334, 336, 339 Eisenstein, Sergej M. 450 [fn] Elias, Norbert 17, 18 [fn], 21, 22 [fn], 27, 28, 29 [fn], 30–33, 61–66, 106, 107 [fn], 110, 158, 343, 418, 437, 447 Elsaesser, Thomas 448–451 Etheredge, Sir George 93, 99 Euripides (auch Euripide) 38, 44, 131 [fn], 193 Fagan, Barthélemy-Christophe 220, 264 Fassbinder, Rainer Werner 450, 451, 452 Faulstich, Werner 431 [fn] Fawkener, Sir Everard 105 Feder, Johann Georg Heinrich 284 Feldmann, Doris 143 Fénélon, François de Salignac de la Mothe 54 Ficino, Marsilio 74, 80, 81 Fickweiler, Johann Wolffgang 50 [fn] Fielding, Henry 100 [fn], 305, 363 Fietz, Lothar 448 [fn] Flandrin, Jean-Louis 11, 12, 31, 216 Fleming, Victor 450 Fletcher, John 193 Florack, Ruth 65 Foltinek, Herbert 201, 202 [fn] Fontane, Theodor 450 Fontanges, Marie-Angelique de 35 Fontenelle, Bernard Le Bouvier de 45, 264 Forster, Leonard 14 [fn]
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Foucault, Michel 31 [fn] Fouquet, Nicolas 62 [fn] Frevert, Ute 9 Friedrich II. 107 [fn] Friedrich V. (von Dänemark) 179 Funck, Gottfried Benedikt 308 Furetière, Antoine 46, 85 [fn] Galba, Lucius Livius Ocella Servius Sulpicius 117 Gärtner, Carl Christian 246 Gay, John 320 Gebauer, Johann Justinus 42, 284, 433 Geitner, Ursula 251, 351 Gellert, Christian Fürchtegott 19, 32, 44, 45, 47, 49, 55, 57, 110, 169, 170, 178, 210, 211, 215, 220, 221, 224, 226, 232, 245–257, 263–267, 271, 272, 274, 278, 279, 290 [fn], 295, 301, 320, 321, 329, 330, 338, 341, 371, 383, 384, 391, 447 Gelzer, Florian 18 [fn], 29 Gemmingen, Freiherr Otto von 432, 434–436 Georg I. 150 Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von 394 Giraldi, Giambattista 156 [fn] Giseke, Nicolaus Dietrich 247 Glaser, Horst Albert 393 [fn] Goethe, Johann Wolfgang von 39 [fn], 107 [fn], 360 [fn], 361 [fn], 365, 375, 411, 426, 431 [fn], 432, 440 Golawski-Braungart, Jutta 274, 285, 291, 292, 294 [fn], 295, 296 [fn], 298 Goldwyn, Henriette 105 Gollapudi, Aparna 209, 218 [fn] Gotter, Friedrich Wilhelm 432, 434 Gottsched, Johann Christoph 23–25, 26 [fn], 28, 41, 51, 165–171, 174, 175, 177, 179, 182, 211 [fn], 245, 246, 266, 267, 273, 275, 277, 283, 287, 307, 337, 442 Gottsched, Louise (auch Gottschedin) 244, 245, 247, 274 Goulding, Edmond 450 Gracián, Balthasar 39 Graevenitz, Gerhard von 20, 21, 25 Graffiy, Madame de 245, 274 Gray, Frances 450 Green, Elvena M. 195
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NAMENSREGISTER
Greis, Jutta 327, 328 [fn], 429 Griffith, David Llewelyn Wark 450 [fn] Gryphius, Andreas 182, 210 Guarini, Giovanni Battista 81 Guédron, Pierre 66 Gutershofen, Georg Friedrich Gutermann von (auch Georg Friedrich Gutermann, Edler von Gutershofen) 411 Gutershofen, Regina Barbara Gutermann von 411 Guthke, Karl S. 428 [fn] Gymnich, Marion 93 [fn] Habermas, Jürgen 19, 20–22, 25, 27 [fn] Hagedorn, Friedrich von 247 Hall, Joseph 77, 188 Hardyng, John 150 Harpe, Jean-François de La 434 Harsdörffer, Georg Philipp 71 Hassel, Ursula 443 Hastings, William, 1. Baron Hastings of Hungerford 150, 151 Hauptmann, Gerhart 390 [fn], 427, 443, 446, 447, 448 [fn] Hebbel, Friedrich 339, 365, 427, 443, 444, 445 [fn], 446, 447 Hédelin, François 30 Heidsieck, Arnold 281 [fn], 285 Heinse, Wilhelm 392 [fn] Heliodor 88 Hempel, Brita 273 [fn] Henri II. de Bourbon, Prince de Condé 66 Henriette d’Angleterre (auch Henriette von England) 36, 37, 117 Hensel, Sophie von 433 Herder, Johann Gottfried 24 Herkules 362, 377 Hermite, Tristan de l’ 131, 265 Herrmann, Hans Peter 360 [fn], 428, 429, 432 Hesselmann, Peter 28 Heywood, Thomas 150 Hiller, Johann Adam 354 Hilton, James 450 Hippe, Robert 333 Hippel, Theodor Gottlieb von 355, 356 [fn] Hirsch, Arnold 29 Hißmann, Michael 354 Hitler, Adolf 106 [fn], 107 [fn] Hobbes, Thomas 191 [fn]
Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 450 Hofmannswaldau, Christian Hoffmann von 41, 169 Hogarth, William 293 [fn] Hohendahl, Peter Uwe 415 [fn] Hohenheim, Franziska von 38, 438 [fn] Holinshed, Raphael 150 Hollmer, Heide 23, 166, 172 [fn], 173, 175, 176 Homer 354, 423 Hondorf, Andreas 39 Horaz (auch Quintus Horatius Flaccus) 15 [fn], 54, 166, 188, 189, 191, 287, 292, 308, 311, Horowski, Leonhard 9, 62 [fn], 65, 67 Horvath, Ödön von 443 Howards, Patricia 35, 36, 130 Hugo, Victor 448, 450 Hume, Robert D. 100 [fn], 209 Hunold, Christian Friedrich 18 Hutcheson, Francis 42, 272 [fn], 281 [fn], 282, 284, 285, 290 [fn], 313, 338 Huyssen, Andreas 340, 428, 429 [fn], 432 Iffland, August Wilhelm Illouz, Eva 17
448 [fn]
Jackson, Wallace 150 James I. 109 James, Henry 448, 449, 450 Janz, Rolf Peter 427 [fn], 428, 429 [fn], 432, 443 Jaubert-Michel, Elsa 229 [fn], 261, 262, 263 [fn] John, Henry St., 1. Viscount Bolingbroke 276 Johnson, Ben 193 Johnson, Charles 305 Juvenal 188, 189, 287 Kant, Immanuel 107 [fn], 441, 442 Kappelhoff, Hermann 449–451 Karl II. 190 Karl Eugen, Herzog von Württemberg (auch Carl Eugen) 38, 438 [fn] Kies, Paul Peter 38 [fn], 273 [fn], 305, 307 Kiesel, Helmuth 333, 425 [fn] Kipling, Rudyard 450 Kittsteiner, Heinz D. 51 Klemm, Christian Gottlob 433
NAMENSREGISTER
Klinger, Friedrich Maximilian von 343, 355–357, 359, 360, 383, 389, 394, 418 Klingler, Helmut 145 Kluckhohn, Paul 31 [fn], 32 [fn] Knapp, Bettina 37 Kolesch, Doris 16 [fn], 30, 113 Koselleck, Reinhart 22 [fn], 51 Kosok, Heinz 150 [fn], 186 [fn], 187 [fn], 202 [fn] Koster, Henry 450 Kotzebue, August von 448 [fn], 450 Kraft, Stephan 29 Krappe, Alexander Haggerty 156 [fn] Kroetz, Franz Xaver 443 Krüger, Ephraim Benjamin 170, 173–176, 179, 182, 330, 337 Krüger, Johann Christian 246 Krüger, Reinhard 88, 89 [fn], 92 Kulessa, Rotraud von 92 [fn] Kuster, Friederike 351 Lafayette, Madame 14 Lang, Franciscus 291 Läufer, Elisabeth 452 Lauraguais, Duchesse de 35 Leander, Zarah 451 Lehmann, Elmar 99 Leibniz, Gottfried Wilhelm 286, 313 Lenz, Jakob Michael Reinhold 355, 357, 360 [fn], 364, 369, 371, 383, 387, 389–397, 400, 401, 402 [fn], 404, 406–413, 417–424 Lessing, Gotthold Ephraim 18 [fn], 19, 20, 23, 24, 26 [fn], 38, 44, 45, 47, 49, 54 [fn], 55 [fn], 56, 57, 103, 107 [fn], 110, 147, 155, 160, 162–165, 169, 170, 177, 178, 180, 182, 183, 209, 220 [fn], 223, 224, 226 [fn], 236, 240 [fn], 245, 248, 249 [fn], 253, 260, 263 [fn], 264 [fn], 266, 267, 271–282, 284–296, 299, 301–307, 309–311, 312 [fn], 313, 315–341, 343, 344, 347, 357, 364, 366, 367, 371, 374, 383, 384, 386, 387, 389, 391, 403, 418, 422, 425, 426, 428, 430, 437, 442, 447, 449, 450, 452 Lichtenfels, Georg Michael Frank von (auch La Roche, Georg Michael Frank) 411, 412 Lignereux, Cécile 13
477
Lillo, George 20, 26, 143, 150 [fn], 153, 273, 307, 448 [fn], 450 Lindner, Johann Gotthelf 168, 354 Locke, John 49–52, 182, 271, 283–286, 308 [fn], 338, 341, 342, 351 Löffler, Karin 172 [fn], 175, 176 Lohenstein, Daniel Caspar von 40, 41, 169 Longepierre, Hilaire Bernard de 130, 167 Longinos, (Pseudo-) 166 Louis II. de Bourbon, Prince de Condé 64, 65, 72 Love, Harold 89 [fn], 95 [fn], 108–110 Löwen, Johann Friedrich 293 [fn], 433 Lubert, Marie-Madeleine de 178 [fn] Lucilius, Gaius 188 Ludres, Marie-Isabelle de 35, 36 Ludwig IX. 156, 157 Ludwig XIII. (auch Louis XIII.) 12, 15 [fn], 67 Ludwig XIV. 30, 33, 36, 37, 61, 62 [fn], 63, 70, 94, 107, 113, 115, 117, 130, 222, 374, 418 Ludwig XV. 35, 418 Luhmann, Niklas 12 [fn], 23, 31, 32, 33, 69, 79, 95 Lukas, Wolfgang 24, 25, 47, 172, 179 [fn], 182 [fn], 183, 184 [fn], 215, 337 Lully, Jean-Baptiste 35 [fn], 36, 114–116, 130 Luserke-Jacqui, Matthias 28, 282 [fn], 366, 392 [fn], 394, 396 [fn], 400, 406, 409 [fn], 412, 413 [fn], 418, 435 [fn], 437 [fn], Luther, Martin 39, 47, 399 Mailly-Nesle, Louise Julie de 35 Maintenon, Madame de 33, 35, 67 Maitre, Myriam 72, 73 [fn] Mancini, Maria 117 Mandeville, Bernard 191 [fn] Mann, Heinrich 450 Mann, Thomas 107 [fn] March, John 188 Marie-Thérèse 35 Marivaux, Pierre Carlet de 13 [fn], 19, 44–47, 53, 153, 161–164, 166, 216–220, 226, 231–234, 236, 244–247, 255, 256, 264, 271, 272 [fn], 307, 326 Marmontel, Jean-Francois 353, 354
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NAMENSREGISTER
Marston, John 188 Martin, Dieter 11 [fn] Martinec, Thomas 281 [fn], 285 Martinet, Hans 117 Martus, Steffen 247 Marx, Reiner 282 [fn], 392 [fn], 409 [fn], 413 [fn] Massinger, Philip 151 Mattenklott, Gerd 20, 431, 452 Maulévrier, Marquis de 85, 86 Mauron, Charles 126 [fn] May, Johann Friedrich 166 Mayer, Ewa 154, 155, 156 [fn], 160, 161, 263 Mazarin, Jules 63, 65, 117 McHenry, Robert W. 133, 134, 141, 142 McIntosh, Carey 190 [fn], 191 Mehmed IV. (auch Sultan Mahomed IV.) 173 Meier, Albert 23, 177, 312 [fn], 339 [fn] Meier, Georg Friedrich 24 Meise, Helga 435 [fn] Meise, Jutta 281 [fn] Meister, Leonhard 355 Ménage, Gilles 107 Mendelssohn, Moses 24, 53, 54, 55 [fn], 178, 280, 281 [fn], 285 [fn], 287, 295, 303, 304, 307, 309 [fn], 310–314, 315 [fn], 316–319, 321, 322, 324, 325 [fn], 326 [fn], 347, 383, 442 Mercier, Louis-Sébastien 345, 354, 360–363, 369, 375–377, 389 Méré, Chevalier de 71 Merigot, F.-G. 55, 216 Méron, Evelyne 15 [fn], 114 [fn] Meyer-Knees, Anke 368, 370 Meyer-Sickendiek, Burkhard 10, 18 [fn], 25 [fn], 32 [fn], 48 [fn], 49 [fn], 50 [fn], 187 [fn], 188 [fn], 305 [fn], 355 [fn], 401 [fn], 444 [fn], 451 [fn] Michelsen, Peter 13, 14, 15, 55, 435 [fn] Mill, John Stuart 283 [fn] Miller, Johann Martin 433 Miller, Norbert 29 Minelli, Vincente 450 Mitterer, Felix 443 Möbius, Helga 34 Mog, Paul 21, 25, 28 Molière (auch Jean-Baptiste Poquelin) 48, 84, 88–99, 107, 108 [fn],
115, 170, 185, 206, 215, 216 [fn], 217, 220, 221, 224, 225, 227, 230, 231, 245, 250, 264, 271, 345–347, 361, 363, 370, 390 Möller, Heinrich Ferdinand 382–384, 385 [fn], 386, 389 Mönch, Cornelia 148 Mongrédien, Georges 77, 78 [fn] Montalvo, Rodríguez de 81 Montemayor, Jorge de 81 Montespan, Francoise-Athnénais de 35, 36 Montmorency, Charlotte-Marguerite de (auch Longueville, Duchesse de, bzw. Longueville, Herzogin von) 64, 66 Moore, Edward 26, 143, 153, 273 Mores, Thomas 150 Moscherosch, Johann Michael 41 Möser, Justus 25, 52, 57, 179, 183, 330, 337, 341 Moyne, Pierre Le 77, 78 [fn], 123 [fn] Müller, Maria E. 389 [fn], 411, 413 Mylius, Christlob 274, 307 Naumann, Christian Nicolaus 111, 287, 433 Navarre, Marguerite de 82 Neal, Steve 450 Neckel, Sighard 365 Nero, Claudius Caesar Augustus Germanicus 117 Neuß, Raimund 334, 335, 339, 340 Nicolai, Friedrich 24, 54, 55, 56, 165, 169, 178, 267, 277, 280, 303, 304, 307, 309–313, 316, 319–321, 325, 326, 334, 335, 347, 442 Niderst, Alain 66, 67, 72, 73 [fn] Nisbet, Hugh B. 281 [fn] Nivelle, Armand 278 [fn] Octavia Minor 29 [fn], 135–141 Oldmixon, John 145 Olearius, Gottfried 51 [fn] Ophüls, Max 450 Orléans-Longueville, Henri II. d’ 66 Otho, Marcus Salvius 117 Otway, Thomas 37, 116 [fn], 133, 142–146, 153–155, 164, 165, 186, 193, 272, 276, 277
NAMENSREGISTER
Ouvrier, Carl Siegmund 51 [fn] Ovid (auch Publius Ovidius Naso) 264 Pascal, Blaise 39 Pasquier, Étienne 81 Patzke, Johann Samuel 169, 337 Pellisson, Paul 66 [fn], 67–69, 72, 73 Pelous, Jean-Michel 15 [fn], 84 Penzkofer, Gerhard 67, 74, 79–82, 96, 97 Persius (auch Aulus Persius Flaccus) 188 Peters, Kirsten 368, 370 [fn] Petrarca, Francesco 80, 81, 359 Petriconi, Hellmuth 115 Pfeil, Johann Gottlob Benjamin 26 [fn], 177, 303, 384 Phélypeaux, Jean-Frédéric (auch Comte de Maurepas) 393 Pikulik, Lothar 19, 20, 22, 26, 112, 266 [fn], 271 [fn], 272, 305 [fn] Pinero 186 [fn] Pixérécourt, René-Charles Guilbert de 448, 450 Plato, Platon 31 [fn], 81, 283 [fn], 347 Plautus 44, 193, 390 Plessner, Helmuth 106 [fn] Plotin 31 [fn] Plutarch 381 [fn] Pockel, Carl Friedrich 355, 356 Pompadour, Madame de 34 [fn], 35, 37 Pope, Alexander 286 Porée, Charles 166 Pure, Abbé Michel de 69, 85–88, 124 Quinault, Philippe 14, 35, 36, 37, 113–116, 130 Quintilian 52 Quistorp, Theodor Johann 170, 171, 172, 173, 179, 182, 337 Racine, Jean 14, 15, 19, 27, 36, 37, 43–47, 53, 55 [fn], 103, 113–117, 118 [fn], 120 [fn], 121–125, 126 [fn], 127–135, 137–146, 153–157, 161, 164–171, 175, 177, 178, 186, 216, 217, 219, 253, 265, 266, 271, 272, 275–277, 295, 307–309, 311, 321, 337, 339, 340, 347, 349, 350, 361, 363, 440, 452 Rambouillet, Catherine de 61, 64, 66, 71, 107, 108 Ranke, Wolfgang 24
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Rapin, René 128, 129, 132, 133 [fn], 167, 192 Regnard, Jean-François 44, 52, 218, 220–226, 231, 364 Stowe, Harriet Beecher 450 Riccoboni, Antoine Francois (auch Riccoboni, Antonio Francesco) 274, 275, 285, 291–296 Richard III. 150, 151 Richardson, Samuel 215, 262, 273, 275, 305, 306, 348, 363, 415, 419, 420, 449, 450 Richelet, César-Pierre 13 Richelieu, Armand-Jean du Plessis, Premier Duc de 63, 72, 216 Ringeltaube, Michael 42, 298, 300, 433 Robortellus, Franciscus (auch Francesco Robortello) 187 Roche, Sophie von la (geborene Gutermann Edle von Gutershofen) 389, 393, 406–413, 415 [fn], 416 [fn], 417 [fn], 418, 419, 422, 424 Rochefoucault, François de la 39 Rodowick, David N. 451 Rond, Jean-Baptiste le (siehe Alembert, Jean-Baptiste le Rond d’) Roque, Antoine de la 37, 155, 156, 158, 163 [fn], 164 Rousseau, Jean Jacques 131, 166, 340–357, 359–362, 369–371, 379–383, 387, 396, 397, 401 [fn], 402, 421, 425, 443, 449, 450 Rowe, Nicholas 37, 45, 133, 142, 143, 145–153, 159, 165, 170, 186, 272, 401, 418, 424 Rubidge, Bradley 123 [fn] Rudolphi, Ludwig Eberhard Gottlob 51 [fn] Russell, Trusten Wheeler 105, 153 [fn] Rymer, Thomas 129, 132, 143, 186, 192, 195 Sablé, Madame de 67 Sadij, Amadou Booker 273, 274 [fn] Sainte-Albine, Pierre Rémond de 285, 291, 292, 299 Saint-Évremont, Abbé (auch Évremont) 44, 127, 131, 167, 280, 321 [fn], 325, 349 Sannazaro, Iacopo 81 Sanvino, Francesco 187
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NAMENSREGISTER
Sarrazin, Jean François 67 Saße, Günter 21, 22 [fn], 32, 35, 218, 250, 254, 298 [fn], 367, 368, 426, 428, 432 Sauder, Gerhard 11, 12, 14, 15, 22, 23, 26, 27, 57, 112, 143, 273, 336, 341, 417 [fn], 432, 433 Bregy, Charlotte Saumaize de 115 [fn] Sauval, Henri 85 [fn] Scaliger, Julius Caesar 166 Scarron, Paul 67, 85 Schiller, Friedrich 38, 42, 57, 107 [fn], 243, 273 [fn], 333 [fn], 339, 344, 403, 425–443, 447, 449 Schlaffer, Heinz 443, 444 Schlegel, August Wilhelm 24, 25, 49, 57, 246, 272, 335, 337, 341, 447 Schlegel, Friedrich 32, 425 [fn], 430, 431, 452 Schlegel, Johann Adolf 247 Schlegel, Johann Elias 15 [fn], 19, 44, 45, 47, 52, 168, 169–172, 177–179, 180 [fn], 182, 183, 185, 210–213, 241, 230, 231, 245, 247, 248 [fn], 256, 271, 280, 281, 295, 330, 340 Schmalhaus, Stefan 394 [fn] Schön, Erich 435, 442 Schönborn, Sibylle 252, 255, 256 Schönenborn, Martina 339 Schulte-Sasse, Jochen 267 [fn], 304 [fn], 328–330, 336–338 Schulze, Joachim 221, 225 [fn], 226 Schwabe, Johann Joachim 51 [fn] Scudéry, Georges de 64 Scudéry, Madeleine de 15, 16 [fn], 17, 22 [fn], 27, 61, 64, 66–69, 70 [fn], 72–74, 77, 78 [fn], 79–82, 84, 85, 87–90, 92, 93, 95–97, 100, 105, 112, 116, 178 [fn], 185, 206, 233 [fn], 234, 253, 416 Seidel, Robert 11 [fn] Selnecker, Nikolaus 39 Seneca (auch Lucius Annaeus Seneca) 193 Sévigné, Madame de 13, 67, 87 Shadwell, Thomas 93, 189, 198, 273 [fn], 305 Shaftesbury, Earl of (auch Cooper, Anthony Ashley) 49, 186, 189–191, 272, 282–287, 290, 312, 313, 314 [fn], 316, 319, 321, 338
Shakespeare, William 105, 108, 125, 140–142, 150, 151 [fn], 153, 155, 160, 164, 165, 182, 210, 211 [fn], 273, 275– 279, 325, 334, 360, 396, 397, 440 [fn] Sheppard, William 188 Shore, Jane 37, 150 Simons, Olaf 18 [fn], 29 Singer, Herbert 18 [fn], 29 Singer, Rüdiger 65 Sirk, Douglas (auch Detlef Sierck) 451, 452 Smegac, Victor 22 Smith, John Harrington 198 Somaize, Antoine Baudeau Sieur de 85 [fn], 86, 114, 124 Sophokles 38, 44, 131 [fn], 155, 156, 193, 278 Sorel, Charles 71, 91, 115 Sorensen, Bengt Algot 26, 27 [fn] Southerne, Thomas 145 Spangenberg, Cyriacus 39 Späth, Sybille 249 [fn], 250 [fn], 255 Spitzer, Leo 160, 162 Sprecht, Kerstin 443 Sprengel, Peter 447, 448 [fn] Sprickmann, Anton Mathias 382, 383, 389 Stackelberg, Jürgen von 15, 27, 155 [fn], 158, 234 [fn], 262 Stadion, Friedrich Graf von 411, 412 Stanitzek, Georg 175 [fn], 433 Starck, Sebastian Gottfried 50 [fn], 51 [fn] Steele, Sir Richard 19, 26, 44, 45, 49, 52, 94, 153, 156 [fn], 183, 186, 187, 191, 195–199, 206, 207, 208 [fn], 209–211, 214–218, 220, 231, 247, 271, 272 [fn], 452 Steigerwald, Jörn 9, 18 [fn], 28–30, 48, 81, 110, 185 Steinmetz, Horst 171 [fn], 254, 255 [fn], 266 [fn], 271 [fn], 330 [fn] Stender, Ralf 149, 150 Stephan, Inge 11 [fn], 411 Sternberg, Josef von 450 Stockhausen, Johann Christoph 168 Straube, Gottlob Benjamin 231 Stuart, Maria 438 Subligny, Adrien-Thomas Perdou de 128 Sue, Eugène 450 Sueton, Gaius Suetonius Tranquillus 117
NAMENSREGISTER
Sulzer, Johann Georg 24, 43, 55, 56 [fn], 310 [fn], 353, 354, 382, 383 [fn], 433 Szondi, Peter 19–21, 25, 26, 272, 300, 307, 425 Tasso, Torquato 81, 192 Tenbruck, Friedrich H. 22, 23 Terenz 44, 193, 221, 390 Ter-Nedden, Gisbert 272, 273, 330 [fn], 333, 334, 339 Thoma, Ludwig 443 Thomasius, Christian 18 [fn], 29, 30, 40, 41, 47, 110, 111, 112, 421, 422 Tiberius 117 Titus, Flavius Vespasianus 36, 37, 43, 115 [fn], 117–122, 124–127, 133–135, 137, 139, 140, 142, 175, 178, 309, 339, 349 Torra-Mattenklott, Caroline 24 Tourneur, Pierre Prime Félicien Le 361 Trajanus (auch Marcus Ulpius Traianus) 171–173 Trapp, Joseph 263 Urfés, Honoré d’ 32–34, 61, 66, 73, 74, 81, 82, 95 [fn], 100, 104 [fn] Urfey, Thomas d’ 192 Vallière, Louise de La 35 Vanbrugh, John 192, 193, 200 [fn] Vedder, Björn 392 [fn] Vergil (auch Virgile) 114 [fn], 125, 276 Vespasian 117, 118 Viala, Alain 28, 65, 128 [fn] Villar, Abbé Montfaucon de 122, 123 [fn] Villars, Pierre de 66, 123 [fn] Villiers, Abbé de 129 Vintimille, Marquise de 35 Vitellius 117 Vivonne, Catherine de 66, 72 Voltaire (auch François-Marie Arouet) 19, 36, 37, 38, 43–47, 52–55, 105, 128 [fn], 131, 153–156, 157 [fn], 158, 159 [fn], 160–165, 169, 170, 174, 216, 217, 219, 220, 229, 248, 256–258, 260–267, 271, 272, 274–281, 295, 299, 301–307, 311, 315, 319, 321, 325–327, 330–332, 334, 337–340, 363, 364, 383, 387, 391, 401, 418, 424, 450
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Wagner, Heinrich Leopold 57, 339, 341, 343, 344, 354, 355, 361, 362 [fn], 363–365, 367, 369, 371, 374–380, 381 [fn], 382, 383, 389, 394, 403, 418, 430, 434–436, 443, 444, 447 Waith, Eugene M. 116 [fn], 133, 143 Waldberg, Max Freiherr von 14 Weber, Caroline 163 [fn] Weber, Max 20 Wegmann, Nikolaus 22, 25, 31 [fn], 249, 250 [fn], 254, 433 Wehler, Hans-Ulrich 18 Weisbrod, Andrea 34 [fn], 35 Wellek, Rene 132, 345 Werber, Niels 29, 368 Wheatley, Katherine E. 133 Wieland, Christoph Martin 18 [fn], 29, 232, 272 [fn], 290 [fn], 366, 371, 407, 408, 410, 411,422 Wierlacher, Alois 327, 331 Wiessmeyer, Monika U. 390, 406 [fn] Wilcox, John 93 [fn], 94 [fn] Wild, Reiner 28, 282 [fn] Willer, Stefan 9 Willige, Wilhelm 118 [fn], 123 [fn], 125 [fn], 130 [fn] Wittkowski, Wolfgang 362 Wolf, Werner 13 [fn], 46 [fn], 234 [fn] Wood, Sam 450 Wortmann, Anke 127 [fn] Wuthenow, Ralph-Rainer 383 Wycherly, William 93, 94 [fn], 99 Young, Edward 376 Zach, Wolfgang 143 [fn], 192, 194, 207 Zweig, Stefan 450