Zirkulierende Leidenschaft: Eine Geschichte der Gefühle im China des 17. Jahrhunderts 9783412504922, 9783412503482


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Zirkulierende Leidenschaft: Eine Geschichte der Gefühle im China des 17. Jahrhunderts
 9783412504922, 9783412503482

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Angelika C. Messner

ZIRKULIERENDE LEIDENSCHAFT Eine Geschichte der Gefühle im China des 17. Jahrhunderts

2016

Böhlau Verlag Köln Weimar Wien

Veröffentlicht mit freundlicher Unterstützung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Aus Zunsheng tuyao 尊生圖要 (Bilder zum ›Respektvollen Umgang mit dem Leben‹) von Wen Zhengming 文徵明 (1470–1559). 2 Bände, Faksimile-Ausgabe des Ming-Druckes (spätes 16. Jahrhundert). Herausgegeben von Xue Bilu 薛清錄 et al., Beijing, Zhongyi guji chubanshe (Verlag für Alte Bücher der Chinesischen Medizin), 2009. Bd. 2, o. Seitenangabe. © 2016 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Kornelia Trinkaus, Meerbusch Einbandgestaltung  : Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50348-2

Für Gudu und Nader

Inhalt

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Hinweise zur Lektüre

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Fragestellung und Methode Wissenschaftstheoretische Situierung Der Kult der Emotionen

27 30 33 37 39 42

I Zeit und Ort des Geschehens

Unruhen, Banditen und Rebellen Die Ming-Loyalisten (yimin 遺民) Die Jiangnan-Makroregion in der Ming-Qing-Zeit Kognitive und soziale Positionierungen im 17. Jahrhundert Ausbruchs-Bewegungen aus der Ordnung der Dinge

47 47 52 58 63

II Textgeschichte(n) Zur polyphonen Textwerdung Fragmente eines Kanonisierungsprozesses Form und Inhalt des Shishi milu 石室秘錄 Bianzheng lu 辨証錄, Bianzheng qiwen 辨証奇聞 und Bianzheng yuhan 辨証玉函 69 Das Dongtian aozhi, das Waijing weiyan, das Maijue chanwei, das Bencao xinbian 73 73 78 79 81 83 86 96

III Lebensgeschichte(n) Chen Shiduo 陳士鐸 (1627–1707)  : Biographische Fragmente

Innere und äußere Haltungen Das Feld der moralischen Ausrichtung  : Ehrfurcht und Respekt Das Feld der Lebenspflege (yangsheng 養生) Das Feld des Religiösen  : Das Außergewöhnliche, das Spektakuläre, das Exzentrische (qi 奇) Die Begegnung mit den Himmlischen Meistern (tianshi 天師) Das Feld der Medizin

105 IV Medizin als Cluster von Praktiken und Theoremen 105 Distinktionen

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Das Gewebe der Befindlichkeiten im 17. Jahrhundert

108 Ermahnungen als Instrument zur praktischen Orientierung 117 Dezentralisierung des Wissens 122 Die politische Praxis der Medizin 126 Die Bewegung für praktisches Wissen 130 Taxonomien 130 Die Logik der Mitte (zhong 中) 132 Die Mitte im Yiguan 醫貫 (1617) des Zhao Xianke 趙縣可 140 Die Relevanz der Mitte bei Chen Shiduo 145 Kosmologische Bezüge  : Das Diagramm der Mitte 150 Differenzieren (bian 辨) in der neuen Medizin 153 Die Herausforderung der epidemischen Krankheiten 158 Differenzieren (bian 辨) bei Chen Shiduo 163 Medizin als »Imagination« und »Intuition«  : yi 醫 ist yi 意 168 Kartographische Neuerungen und die Konkretisierung der Mitte 174 Die Aura der Hohen Kultur des Heilens 174 Die unbedingte Anstrengung  : Ethische Bezüge 178 Bewältigungsstrategien  : Edukative Bezüge 187 V Das Gewebe der Befindlichkeiten im 17. Jahrhundert 189 Die Ordnung der Gefühle  : Fragmente eines »Vorwissens« 190 Gefühle als Qi-Prozesse 195 Abgleichung (tiao 調) und Harmonie (he 和)  : Die Logik der Mitte 200 Zorn  : Kartographie und Gestalten 200 Grundlegende Manifestationen 204 Differenzierungen  : Zorn als Notwendigkeit 208 Zorn als Folge von Groll 209 Blühendes Leber-Feuer (肝火熾盛) 211 Ausgetrocknetes Leber-Blut (gan ganxue 干肝血) 213 Unterwerfungssituation  : Leber (Holz) unterwirft Milz (Erde, Mitte) 214 Die Entstehung abstruser Gedankenströme (躁妄之念生) 216 Die medizinische Funktionalisierung von Zorn 219 Der Zorn und die Logik der Mitte 223 Angst 224 Termini 226 Kartographie 230 Signifikante Gestalten der Angst 230 Die Angst vor Eindringlingen 232 Die Angst vor Verzauberung

Der metabolische Leib 

236 Schmerz  : Kartographie und Lokalisationen 239 Ordnungen des Schmerzes 240 Schmerz bei Wind, Kälte und Feuchtigkeit 240 Turbulenzen in den Inneren Organen 244 »Herz«-Schmerzen 246 Niedergedrücktheit und Schwermut (yu 鬱) 246 Orte und Gestalten der Niedergedrücktheit 251 Gestalten der Schwermut (yiyu 抑鬱) 253 Übermäßiges Denken 256 Das kummervolle schwermütige Selbst 258 Liebe und Begehren 258 Sehnsucht 263 Blumen-Hinfallkrankheit und Scham 267 Begehren und die Mitte 273 Reproduktion 278 Exkurs  : Fu Shan als Vorlage 282 Freude und Glück 283 Die Lokalisation von Freude im tanzhong 膻中 287 VI Der metabolische Leib 291 Medizin als Emotionswissen 294 Metonymische Verknüpfungen 297 Anhang 297 Siglen 297 Bibliographie 297 Primärliteratur 302 Sekundärliteratur 338 Zeittafel 339 Personenregister

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Hinweise zur Lektüre

Zur Transkription des Chinesischen wurde die Umschrift Hanyu Pinyin verwendet. Chinesische Begriffe und Buchtitel sind kursiv gesetzt. Nicht kursiv gesetzt sind hingegen Eigennamen (Personennahmen, Ehrennahmen, Dynastiennamen, Ortsnamen, Regierungsdevisen) und Begriffe, die sich bereits so im westlichen Sprachgebrauch durchgesetzt haben, dass sie auch nicht mehr übersetzt werden  : Qi, Yin und Yang, Zang- und Fu-Organe (Speicher- und Palastorgane). Bei chinesischen Personennamen sind wie üblich die Nachnamen vorangestellt. Eine Zeittafel findet sich am Ende der Ausführungen, andere tabellarische bzw. bildliche Veranschaulichungen sind im Manuskript integriert.

Fragestellung und Methode

»[S]ie können nie sehr leidenschaftlich lieben, nie sich ganz hingeben, und der chinesische Liebesbegriff ist viel zu eng, um eine Verehrung oder eine Anbetung in sich zu schließen.«1 »In China ist das Gefühlsleben gleichmäßig verteilt auf die verschiedenen Lebensäußerungen, […] [so-]dass aber dadurch auch die Spannung der inneren Kräfte, die in Europa die Triebfeder aller Aktivität abgibt, wesentlich geringer ist  ; […] Das Gefühlsleben in China hat daher eine größere Breite und Unbefangenheit des Sichauslebens, während das engere Gefühlsleben Europas sich durch größere Intensität auszeichnet.«2

Diese essentialistisch gefassten Aussagen zum Erleben und Ausdruck von Gefühlen in China entstammen einer Zeit, als Gefühle in einem europäisch dominierten Wissenschaftsdiskurs als Gegenpart der Vernunft galten. Diese Dichotomie der menschlichen Verfasstheit stand noch Norbert Elias’ bahnbrechender Studie zum Prozess der Zivilisation Pate.3 Neuerer natur- und kulturwissenschaftlicher Forschung zufolge sind Gefühle hingegen unauflöslich mit Kognition verwoben. Damit ist der Dualismus emotio – ratio im Grunde obsolet geworden.4 Doch ändern die Befunde nichts an dem Faktum, dass diese Dichotomie über lange Zeit hinweg das Denken der Menschen in der westlichen Hemisphäre bestimmt hat. Die zitierten Aussagen zu China enthalten ein weiteres Oppositionsverhältnis, nämlich das von Ost und West. Beide Dichotomien erscheinen als eng miteinander verknüpft. Hierzu gehört etwa die Ansicht, dass Chinesen bzw. Asiaten »undurchdringlich seien«, ihre »Gefühle nicht zeigten« oder ihre »Wut unterdrückten« – »Gefühle zeigen« heißt in dieser Lesart, »authentisch« zu sein, 1 Vgl. Dauling Hsü 1929, 247. 2 Vgl. Wilhelm 1929, 258. Vor allem Wilhelm hat als namhafter Sinologe des frühen 20. Jahrhunderts das Chinabild in Europa entscheidend geprägt. 3 Vgl. Norbert Elias’ Prozess der Zivilisation, dessen erste Auflage aus dem Jahr 1936 stammt. Siehe auch die umfassende Kritik von Hans-Peter Dürr in seinem mehrbändigen Werk Der Mythos vom Zivilisationsprozess (zwischen 1988 und 2002 erschienen). 4 Hierzu haben insbesondere auch Befunde aus der Neurobiologie beigetragen. Vgl. hierzu beispielsweise Damasio 2000 sowie Roth 2001 und 2003.

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Fragestellung und Methode

das Gegenteil davon, »falsch« und »unaufrichtig« zu sein. Solche Vorannahmen prägen wesentlich die Begegnung zwischen dem Westen und China.5 Die vorliegende Arbeit ist mit Gefühlen, Emotionen, Befindlichkeiten und Gestimmtheiten befasst. Zeitlich ist sie im 17. Jahrhundert angesiedelt, in der Übergangszeit zwischen der Ming- (1368–1644) und der Qing-Dynastie (1644–1912) – einer Zeit signifikanter Umbrüche, die mit ungewöhnlichen Kontingenzerfahrungen einhergeht. Räumlich fokussiert sie das Gebiet des Changjiang-Flusses6, die sogenannte Jiangnan-Makroregion im Süden des Reiches. Für diese spezifische Zeit und Region wurde Ende der 1960er Jahre ein »Kult der Emotionen« ausgemacht7  : Gefühle, Leidenschaft und Liebe sind nunmehr im 16. und 17. Jahrhundert, so wird festgestellt, Inbegriff von Kultur, Inbegriff des »wahren Menschen«. Von der Signifikanz dieses Befundes angesichts der im damaligen China konventionell verbindlichen Verhaltenskodizes, wonach Gefühle möglichst nicht manifestiert werden sollten, zeugen insbesondere literarische Texte dieser Zeit. Entsprechend wurde der »Kult der Emotionen« vor allem aus literaturwissenschaftlicher Perspektive behandelt.8 Die Geschichte der Emotionen im chinesischen Kontext ist bis heute kein klar abgegrenztes Forschungsfeld, auch wenn sich Sinologen bislang vereinzelt mit Teilaspekten beschäftigt haben.9 Aus der Beschäftigung mit philosophischen Schriften erwuchsen Debatten um die Frage, ob »qing 情« in frühen chinesischen Texten Emotionen bezeichne oder nicht. Grahams Feststellung10 etwa, dass qing in vor-Han-zeitlichen Texten niemals mit Emotionen (engl. passions) in Zusammenhang gesehen werden dürfte, sondern schlicht darauf, was »Sache«, was »wirklich« sei, verweise, wird später verschiedentlich in Frage gestellt.11 Hinter diesen Debatten stehen grundlegende Fragen danach, ob das frühe China eine Psychologie kannte oder nicht, bzw. danach, inwiefern indi­viduelle innere Seinszustände thematisiert und konzeptionalisiert worden

  5 Hier sei nur auf ein frühes Beispiel von Verschriftlichung dieser Vorannahmen verwiesen. Vgl. Smith 1892, 267–276.   6 Der Changjiang 長江ist auch bekannt als Yangtsekiang, Yangzi jiang 揚子江.   7 Vgl. Wong Siu-kit 1969 und Wang 1994.   8 Vgl. Hanan 1985, 185–213 und ders. 2006, xi  ; Wang 2011.   9 Vgl. Wong Siu-kit 1969, Eberhard 1977, Trauzettel 1992, Linck 1996 sowie Kubin 2001. 10 Vgl. Graham [1967, 1986] 1990, 59–64. 11 Vgl. Hansen 1995, 181–203. Siehe dahingehend auch die Studien von Harbsmeier 1999 und 2004.

Fragestellung und Methode 

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sind.12 In keiner dieser Diskussionen geht es um einzelne Gefühlslagen und Befindlichkeiten, sondern um die Bestimmung von Schlüsselbegriffen wie qing 情, xin 心 und xing 性. Neuerdings wird auch reflektiert, dass zwischen differenten Ideosphären erhebliche Unterschiede in der Bedeutung und Verwendung von qing vorgelegen haben.13 Die ersten Befunde eines großangelegten Forschungsprojektes in Italien, das die wichtigsten literarischen Schriften aus der Ming-Qing-Zeit auf alle relevanten Emotions-Begriffe – inklusive ihrer synchronen, diachronen sowie intra- und intertextuellen Kontexte in den Blick nimmt, legen dies jedenfalls nahe.14 Allerdings vermochte auch dieses ambitionierte Projekt, das unter Anwendung datenverarbeitender Technologie die Ergebnisse sukzessive in Form von Glossaren mit Querverweisen als enzyklopädisches »Grundlagenwerk« für nachfolgende Analysen zur Verfügung stellen will15, den Gegenstand »Emotionen in der chinesischen Geschichte« bislang nicht substantiell in der Forschungslandschaft zu etablieren. Die vorliegende Monographie will grundlegend zur Etablierung der Frage nach dem Emotionswissen in der chinesischen Geschichte beitragen. Sie basiert in der Hauptsache auf der Untersuchung eines acht Werke umfassenden medizinischen Textkorpus, das bislang noch in keiner westlichen Sprache verfügbar ist. Die Auswahl der Texte ergab sich aus der Durchsicht von Enzyklopädien aus dem 17. bis 18. Jahrhundert. Sie zeichnen sich, so ein Teilbefund, im Allgemeinen durch ihren fließenden Charakter aus. Weil sie durch viele Hände gehen mussten, die ihre Korrekturen und Anmerkungen an- und einfügten, bevor sie gedruckt wurden, sind diese Texte in höchstem Maße inkohärent und instabil. Erst dann erfuhren sie die uns überlieferte Ordnung, d. h. erst die gebundene Form hielt die Blätter in einer vorerst stabilen Reihenfolge fest. Diese polyvokale Verfasstheit der Texte kommt nicht zuletzt in einer Vielzahl von Vorworten zum Ausdruck, die auf mythische oder andere »unsterbliche« Vorväter als multiple Autoren verweisen. Gleichzeitig lassen sich Passagen 12 Siehe hierzu neuerdings Roth 1991 und Brindley 2006. 13 Vgl. Eifring 2004, 22. 14 Arbeiten zu diesem Thema von Paolo Santangelo existieren bereits aus den 1980er und frühen 1990er Jahren. Siehe auch die Publikationen in Eifring 1999 und 2004, die die Ergebnisse der an der University of Oslo Mitte der 1990er Jahre abgehaltenen Symposien zum Thema »Mental States in Traditional Chinese Literature« dokumentieren. Siehe http://www.iuo.it/emotions/ home.htm und Santangelo 2003. 15 Siehe die neueste Publikation in der Reihe »Emotions and States of mind in East Asia« bei E. J. Brill  : Oki Yasushi & Paolo Santangelo 2011  ; Angelika C. Messner 2013.

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Fragestellung und Methode

ausmachen, die aus anderen früheren Texten stammen. Damit ist letztendlich auch die Urheberschaft der Texte ungeklärt. Dennoch wird hier durchgängig von Chen Shiduo als Autor die Rede sein. Nicht nur die materielle Verfasstheit der Texte offenbart Unsicherheit. Es sind insbesondere auch deren Inhalte, die vielfältige Erfahrungen von Kontingenz, Umbrüchen und Instabilitäten bergen – subtile Verweise auf radikale Veränderungen in der sozialpolitischen Welt. Die Fragen an diese Texte sind jedoch präziser Natur  : Gefragt wird nach expliziten und impliziten Verweisen auf emotionale Verfasstheiten bzw. deren Definitionen und Explikationen. Gefragt wird aber nicht danach, was die Menschen im »Innersten« bewegte, sondern danach, was sie über das »Innerste« dachten bzw. danach, ob es überhaupt ein »Innerstes« war, was sie bewegte, oder vielleicht etwas anderes. So geht es um die herrschenden indigenen Erklärungen und die Ordnung von Emotionen in der Makro-Region Jiangnan des 17. Jahrhunderts. Die Frage nach dem Wissen über Emotionen bzw. »Emotionswissen«16 impliziert die Frage nach der Ordnung des Wissens insgesamt. Wissen ist entlang verschiedener Felder17 bzw. Ideosphären18 geordnet. Wissen um Emotionen wird in ästhetischen Zusammenhängen anders verhandelt als in philosophischen, ethischen und medizinischen Kontexten. Dass dies auch in China der Fall gewesen sein muss, wird mittlerweile von der sinologischen Forschung zur Kenntnis genommen und untersucht.19 Dementsprechend ist letztlich nach den sozialen Beschaffenheiten von Emotionen Ausschau zu halten und nicht nur nach der sozialen Beschaffenheit. Es sind die unterschiedlichen Ideosphären mit der gleichen Ernsthaftigkeit in den Blick zu nehmen wie dies – ansatzweise – für die philosophischen Schriften 16 Der Begriff »Emotionswissen« erscheint als Ablösebegriff für die Begriffe »conceptual understanding« bzw. »theory of emotion« bzw. »konzeptuelles Verstehen von Emotionen« im Rahmen eines sehr jungen Forschungszweiges, der an der Schnittstelle zwischen »Emotions- und Kognitionsentwicklung« steht. Vgl. hierzu Janke 2002, 9. 17 Der Feldbegriff meint im Anschluss an Bourdieu das Produkt historisch gewachsener Relationen zwischen einzelnen Positionen, die durch die Verteilungskämpfe um Macht und von symbolischem sowie ökonomischem Kapital bestimmt sind. Das Feld ist somit eine Existenzweise des »Sozialen«. Dieser Begriff impliziert außerdem, dass eine beständige Erweiterung des Feldes angestrebt wird. Vgl. Bourdieu 1985, 69. 18 Mit Ideosphäre ist in Anlehnung an Roland Barthes »ein starkes diskursives System« gemeint, das »von einer großen Zahl von Menschen nachgeahmt, gesprochen werden kann, ohne dass sie es wüssten.« Vgl. Barthes [2002], 2005, 154. 19 An dieser Stelle ist wiederholt Santangelo 2003, 1–42 zu nennen. Diese Einsicht wird ebenfalls bei Eifring 2004, 22, diskutiert.

Wissenschaftstheoretische Situierung 

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geschehen ist und im Falle der literarischen Texte (aus der Ming-Qing-Zeit) derzeit erprobt wird. Die größte Herausforderung aber besteht nach wie vor darin, ein methodo­ logisches Instrumentarium auszuarbeiten, das die Beschreibung und A ­ nalyse von Emotionen in einer bestimmten Zeit-Raum-Relation – hier  : die MingQing-­­­­ Zeit im südlichen China – transparenter und damit auch leichter über­prüfbar macht. Nur so sind die Voraussetzungen zu schaffen, um die verschiedenen Wissensräume – literarische, juridische, philosophische und me­dizinische – »verschränkt« zu lesen, als textuelle Archive20, deren Ordnung erst im Lesen offenbar wird. »Verschränktes« Lesen kommt jedoch niemals aus ohne Vorinformationen, wozu die folgende Skizze dienen soll.

Wissenschaftstheoretische Situierung

Das Hauptanliegen der vorliegenden Arbeit ist es, wie der Untertitel verdeutlicht, zur Geschichte der Gefühle im China des 17. Jahrhunderts beizutragen. Rekonstruktion verweist auf wiederherstellende Vorgänge. Konstruktion verweist auf neu aufbauende Vorgänge. Das Vorhaben, die ­soziale Beschaffenheit von Emotionen, deren diskursive Verfasstheiten, im Untersuchungs-Zeit-Raum zu rekonstruieren, macht es notwendig, die eigenen Konstruktionsvorgänge zu reflektieren. Das erste Kapitel beschreibt als bühnengeschichtlichen Hintergrund eine Zeit massiver Umbrüche und Kontingenzen, der eine Phase außerordentlicher kultureller Blüte unmittelbar vorausgeht. Der Geschichte der Texte ist das ganze zweite Kapitel gewidmet, wobei die materiellen Verfasstheiten von Texten dieser Zeit auf die schiere Unmöglichkeit verweisen, diese auf jeweilige Ursprungstexte zurückzuführen. Sie zeichnen sich vielmehr durch ihren fließenden Charakter aus. Die Kapitel drei und vier sind miteinander verzahnt, weil sie aus jeweils verschiedenen Perspektiven die Bewegungen im Feld der Medizin verfolgen. Die Leidenschaften, die zwischen Erleiden und leidenschaftlichem Aufbegehren oszillieren, treten in allen Kapiteln durchgängig in Erscheinung. 20 »Textuelles Archiv« meint die Summe alles Geschriebenem innerhalb einer bestimmten synchronen Einheit, die einer Untersuchung zur Verfügung steht, weil sie wiederholt zugänglich gemacht worden ist  : »archiviert« worden ist. Selbstredend sind damit Texte im weiten Sinne gemeint, d. h. auch solche, die, weil sie nicht als Produkte der »Hochkultur« angesehen worden sind, noch nicht untersucht worden sind. Siehe hierzu Baßler 2005, 176–83.

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Fragestellung und Methode

Die solcherart im sozialen Raum zirkulierenden Leidenschaften finden sich auch im menschlichen Körper. Das fünfte Kapitel ist vor allem damit befasst. Wenn sie zu stark, zu groß, zu übermäßig »pulsieren«, so dass es zu Stockungen, ja zu einem Einhalt der Zirkulation, des Fließens kommt, dann geraten sie in die Beobachtungsradien von Ärzten. Deren kartographische Ordnungsmuster erfahren offensichtlich in dieser Zeit subtile Veränderungen  : Nicht nur, dass im menschlichen Körper ein neues Herrschaftszentrum »etabliert« wird – auch die Explikationen emotionaler Prozesse werden kartographisch adjustiert. Emotionen, Gestimmtheiten und Befindlichkeiten sind als prozesshafte leibliche »Geschehnisse« expliziert. Dabei sind immer mehrere Organe in Mit-­ Leidenschaft gezogen worden. Sobald das leibliche Geschehen nicht mehr in ausgeglichenen, aufeinander abgestimmten Rhythmen im Fluss ist, kommt es zur Unterbrechung. Dies läuft wiederum auf Akkumulation und damit auf die Generierung übermäßiger Emotionsmanifestationen hinaus. So sind alle Kapitel durch die theoretische Begrifflichkeit und die Fragestellung eng miteinander verschränkt. Gleichzeitig verbindet sie die Figur des Zirkulierens von Leidenschaften bzw. Energien, von denen die Menschen im Untersuchungszeitraum offenbar erfüllt und bewegt waren, mit denen sie experimentierten, die sie aber auch zu beeinflussen und zu verändern suchten – nicht zuletzt mit Hilfe des Emotionswissens aus dem medizinischen Feld. Das sechste Kapitel sucht die großen signifikanten Befunde der Gesamtarbeit zusammenzufassen  : »der metabolische Leib«, »Medizin als Emotionswissen«, »die metonymischen Verknüpfungen des Sozialen mit dem Realen«. Nicht zuletzt wird dieses Kapitel die Hypothese rekapitulieren, wonach die kartographische Ordnung die Gefühle »bewegt« und »lenkt«, ebenso wie umgekehrt die Gefühle ihrerseits – zu unterschiedlichen Zeiten und Orten auf unterschiedliche Arten und Weisen – auf die diskursiv vermittelte Kartographie der Gefühle »einwirken«. Weil der Großteil der hier untersuchten Quellen Wissens- und Handlungsfeldern der Medizin entstammt, ist die Positionierung innerhalb körpergeschichtlicher Fragestellungen erforderlich. Medizin ist per se mit dem menschlichen Körper befasst. Körpergeschichte21 muss vor allem danach fragen, wie 21 Die Anfänge der Körpergeschichte – in der westlichen Hemisphäre Folge eines Paradigmenwechsels vom Historismus zu sozial-, mentalitäts- und alltagsgeschichtlichen Fragestellungen. Sie liegen im deutschen Sprachraum vor allem im Rahmen der Historischen Anthropologie. Stellvertretend sei einzig auf eine ganze Reihe mit dem Namen Dietmar Kamper verknüpfte Forschungsprojekte zur »Wiederkehr des Körpers« seit den 1970er Jahren verwiesen. Dem waren in Frankreich Jahrzehnte intensiver Auseinandersetzung mit Funktionalismus und

Wissenschaftstheoretische Situierung 

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nicht-sprachliche Dinge ihre Bedeutung erlangen.22 Mit anderen Worten, es geht um das Verhältnis zwischen Materialität und Text, zwischen dem Realen und den Diskursformationen. Diskurse sind als regelgeleitete Ensembles von Redeweisen und Sprechmustern, festen Bündeln überlieferter Denk- und Konnotationsschemata verstanden, die sowohl in formeller als auch in konzeptueller Hinsicht darüber entscheiden, was jeweils wiss- und sagbar ist.23 Allerdings stellt sich hierbei die Frage nach der Rolle von Sprache. Wenn wir Sprache nicht ungefragt als das ausschließliche Medium der Repräsentationen von materiellen Praktiken ansehen, sondern die Materie selbst in ihrer Dynamik in den Blick nehmen wollen, dann zeigt sich das Verhältnis zwischen dem Materiellen und dem Diskursiven vielmehr als eine Beziehung der wechselseitigen Implikation.24 Bleibt nur die Frage nach der Bestimmbarkeit dieser Verhältnisse, sie zieht sich wie ein roter Faden durch die vorliegende Arbeit. Wenn wir nicht von einem »Körper« oder »Leib«25 als unveränderlicher Kategorie ausgehen, aber auch nicht von der Kategorie »Erfahrung« bzw. »Körpererfahrung«26 als letztlich autoritativer Größe in der historischen Forschung, Marxismus im Rahmen der »École des Annales« vorausgegangen. Einen kurzen Überblick über den Forschungsstand der Körpergeschichte von ihren Anfängen bis zum Jahr 2000 im europäischen Kontext liefert Lorenz 2000. Für die Medizingeschichte ist eine wesentliche Wegbereiterin die »Medical Anthropology«, die sich seit den 1970er Jahren auch als »Medizinethnologie« bzw. »Ethnomedizin« konstituiert. Siehe beispielhaft Kuriyama 1994 und 1999  ; Zito 1994, Furth 1998 sowie Zhou Yuchen 2005. Siehe hierzu neuere Diskussionen in Hsu 2003, 177–189  ; Lux 2003, 10–30. In Hinblick auf China sind als Pioniere aus dem deutschen Sprachraum für die Medizingeschichte Unschuld 1980 und für die Körpergeschichte Linck 2001 (überarbeitete Version 2011) zu nennen. Zu Linck siehe die Rezension in Mittler 2003, 115–123. 22 Zu Ansätzen meiner Argumentation siehe Sarasin 1996, 143–145 sowie ders. 1999, 437–451  ; Stoff 1999, 142–160. 23 Siehe hierzu Stoff 1999, 145f. 24 Siehe hierzu Barad 2012, 41. 25 Die kategoriale Differenzierung zwischen Körper und Leib im Sinne des Körper-Habens und Leib-Seins, wie sie grundlegend in der Phänomenologie, bei Merleau-Ponty 1964 und bei Schmitz 1990, vorgenommen wird, spielt im Folgenden keine Rolle. Die Begriffe sind vielmehr synonym gebraucht. Hermann Schmitz, als Begründer der Neuen Phänomenologie, baut auf dieser Differenzierung sein ganzes System der Philosophie auf. Diese Unterscheidung von »spürendem Leib« und »tast- und sichtbarem Körper« dient in den späteren Arbeiten von Linck als methodologischer Ansatz für einen neuen Blick auf die chinesische Philosophie- und Kulturgeschichte in komparatistischer Perspektive. Die synonyme Verwendung von Leib und Körper in der vorliegenden Arbeit rechtfertigt sich aus dem Befund, dass in den hier untersuchten Texten diese Unterscheidung nicht zum Tragen kommt. 26 Siehe hierzu Wischermann 2000, 9–31.

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Fragestellung und Methode

dann bleibt noch die Suche nach Verknüpfungen. Denn auch der im Verlaufe neuerer Theorienbildung in den Kulturwissenschaften deutlich ausgeweitete Kulturbegriff, der die Dichotomie Kultur – Natur zu umgehen sucht, beantwortet nicht die Frage nach dem menschlichen Körper in seiner historischen und kulturellen Formierung.27 Der Körper ist weder auf Sprache noch auf Text reduzierbar, doch lassen sich historische Körper und Texte nicht anders als über ihre Texturen erschließen. So geht es im Folgenden nicht nur um die Frage nach Diskursformationen, sondern darüber hinaus um die Frage nach der Verknüpfung zwischen den einzelnen Diskursformationen, vor allem aber um die Frage nach der Verknüpfung zwischen dem Materiellen und dem Diskursiven. Jede akute Herausforderung für den Arzt – wie vermehrtes Aufkommen von Epidemien, Hungersnöten oder »Sehnsuchtskrankheiten« – steht mehrschichtigen Diskursen gegenüber bzw. ist mit diesen verwoben. So bildet sich im 17. Jahrhundert aus der Auseinandersetzung mit den konkreten Notwendigkeiten und den ihnen jeweils gegenüberstehenden Diskursen etwas Neuartiges heraus, weshalb in der vorliegenden Arbeit von einem »neuen sozialen Raum«28 der Medizin die Rede ist. Auch das Verhältnis zwischen medizinischer Theorie und medizinischer Praxis lässt sich über den Fokus auf Verknüpfungen fassen  : So erscheinen die untersuchten ethisch orientierten Verhaltenskodizes für Mediziner und Patienten als gleichermaßen zwischen Anspruch und Realität positioniert, zwischen Verhaltensmustern und imaginierten Ausbrüchen.29 Es sind diese Zwischenräume, denen sich eine mikroskopisch genaue Lektüre nicht verweigern darf, da gerade sie über ihre sprachlich vermittelten Verknüpfungen Einsichten in herrschende »Fühl- und Kognitionsmuster« erlauben. Die bereits angedeutete Frage nach der Ordnung des Wissens ist ebenfalls eine Frage nach Verknüpfungen. Die hier untersuchten Texte sind nicht als Abbilder einer wie auch immer gearteten Realität zu begreifen. Sie sind vielmehr selbst Bestandteile der Realität, sie sind die Fäden des konkreten materialen Gewebes, dessen Muster sie mitunter zu bestimmen scheinen. Folglich ließe sich behaupten, dass aus der diskursiv verfassten Wissensordnung, d. h. dass 27 Zu dem weiten Kulturbegriff gehört die Definition der Kultur als »Inbegriff der subjektiven Deutungsleistungen, die Menschen erbringen müssen, wenn sie leben wollen.« Vgl. Rüsen 2000, 76. 28 In Anlehnung an Lefebvre 1991. 29 Siehe Kapitel IV.

Wissenschaftstheoretische Situierung 

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aus der generativen und kartographischen Ordnung der Emotionen vorsichtig Rückschlüsse auf die individuell gelebten »Fühlmuster« gezogen werden könnten.30 Mit anderen Worten, die vorliegende Arbeit ist von der Hypothese geleitet, dass die kartographische Ordnung die Gefühle »bewegt« und »lenkt«, und weil es sich bei den Verknüpfungen zwischen Text und materieller Realitäten wesentlich um ein Verhältnis wechselseitiger Implikationen handelt, gehen wir davon aus, dass die Gefühle ihrerseits – zu unterschiedlichen Zeiten und Orten auf unterschiedliche Arten und Weisen – auf die diskursiv vermittelte Kartographie der Gefühle »einwirken«. So macht es z. B. einen Unterschied, ob die Wut etwa in der Leber »geschieht« oder ob sie nur mit der Leber in Analogie bzw. korrelativ gedacht wird. Denn nur weil etwa das Denken im Herzen »geschieht« und nicht an einem anderen Ort im Körper, kann Pu Songling 蒲 松齡 (1640–1715) in seinem Liaozhai zhiyi 聊齋誌異 (Seltsame Geschichten aus dem Liao-Studio) den Vorgang des chirurgischen Eingriffes schildern, wobei das Herz ausgewechselt wird, damit der Operierte besser denken kann.31 Nur wenn wir die spezifischen Verortungen von Kognitions- und Gefühlszuständen bzw. -prozessen ernst nehmen, lässt es sich vermeiden, dass wir diese in das Reich zufällig erfolgter Korellationen verweisen. Mit den im Rahmen dieser Arbeit verfolgten methodologischen Ansätzen geht einher, dass jeweils das Partikuläre in den Texten in jedem Stadium der Analyse im Blickfeld bleiben muss. Das je Konkrete und Besondere soll nicht vorschnell abstrahiert und Verallgemeinerungen zugeführt werden. Die mikroskopisch genaue Lektüre (close reading),32 die im Folgenden durchgehalten wird und das Partikuläre ernst nimmt, ist nicht leichtgängig und sie fordert den Lesern viel Aufmerksamkeit und Geduld ab. Aber der bewusst praktizierte Respekt gegenüber dem jeweils Spezifischen fördert Zusammenhänge bzw. Verknüpfungen zutage, die sich nur auf diese Weise präsentieren. Der Titel der vorliegenden Arbeit spricht von »Zirkulierender Leidenschaft«. Damit ist zunächst die mit dem Kult der Emotionen einhergehende Zelebrierung der Gefühle und Passionen im 16. Jahrhundert gemeint. Darüber hinaus aber ist damit das durch die politischen und sozialen Instabilitäten erfahrene Leid im 17. Jahrhundert thematisiert. Die Kontingenz-Erfahrungen jenes Zeit30 Die Emotionen sind körperlich kanalisiert, in den Worten von Ciompi »gespurt«. Vgl. hierzu Ciompi 1997  ; Kohnen 2003, 57–88. 31 Vgl. Liaozhai zhiyi, juan 2, 104–105. Übersetzungen in westliche Sprachen lassen solche und ähnliche Passagen häufig unübersetzt. 32 Dies ist wesentlich dem New Historicism verpflichtet. Vgl. Callagher und Greenblatt 2000  ; Baßler 2005.

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Fragestellung und Methode

Raums werden in der Forschung vielfach erkundet und als »Trauma (des Dynastienwechsels)«, als »Verzweiflung und Frustration der Gelehrten« benannt.33 Doch scheinen Menschen diesen Kontingenzen zugleich mit Widerstand, mit Aufbegehren begegnet zu sein  : Hier ist es zum einen die Leidenschaft, mit der etwa Ming-Loyalisten, wozu auch Chen Shiduo, dessen Schriften hier zur Disposition stehen, zu zählen ist, gegen die Fremdherrschaft kämpfen. Zum anderen dessen leidenschaftlicher Einsatz für die »Errettung der Menschheit« von ihren Krankheiten und Gebrechen. In beiden Fällen erscheint die Leidenschaft in den Texten als unbedingte Hingabe.

Der Kult der Emotionen

Der Begriff qing 情 oder auch qingzhi 情志 bedeutet gleichermaßen »Gefühle, Emotionen, Empfindungen, Liebe und Leidenschaft«. Wenn in der vorliegenden Arbeit allgemein und synonym von Gefühlen, Emotionen, Gestimmtheiten oder Befindlichkeiten die Rede ist, dann versucht sie an diesen enigmatischen chinesischen Begriff34 anzuschließen. Im Kontext der hier diskutierten Fragen erscheint es außerdem wenig sinnvoll, die unterschiedlichen Differenzierungsversuche aus der westlichen Emotionsforschung zu übernehmen, die etwa zwischen »Körpergefühlen« (engl. sensations)35 und »Gefühlszuständen/ Emotionen«36 oder zwischen »emotions«, »feelings«, »sensations«, »mood« bzw. zwischen »Emotionen«, »Gefühlen« und »Empfindungen« unterscheiden.37 33 Vgl. allein die Werke von Struve 1979 und 1993  ; Chang 1992  ; Idema et al. 2006. 34 Vgl. Volpp 2003, 152. Siehe auch Huang 2001, 23–56. 35 Damit sind Empfindungen wie etwa Kälte- und Hitze- oder auch Durst- und Hungergefühle angesprochen, die aber nicht kognitiv vermittelt werden. Dieses Forschungsinteresse geht auf die Unterscheidung bei James und Lange 1922 zurück. Zu einer kurzen Diskussion dieser Unterscheidungen in der klassischen chinesischen Philosophie siehe Bockover 1995, 161–180. 36 Damit ist angesprochen, dass diese kognitiv bewertet bzw. vermittelt sind. Dies ist gegenwärtig im westlichen Kontext die dominierende Gefühlstheorie. Dabei werden auch affektive Gefühlszustände von nicht-affektiven Gefühlen (in der Emotionspsychologie etwa als Takt- oder Ballgefühl eher einer Disposition bzw. einer Charaktereigenschaft zugehörig) unterschieden. Zumeist aber wird im Rahmen dieses Ansatzes der Zusammenhang zwischen verschiedenen Gefühlstypen und Bewertungsmaßstäben diskutiert. Zu nennen sind hierzu insbesondere de Sousa 1987  ; Solomon 1993 sowie Wollheim 1999  ; Nussbaum 2001. 37 Diese Unterscheidungen werden ansatzweise selbst im Rahmen der allerneuesten Diskussionen in der westlichen Hemisphäre problematisiert, sie seien »insgesamt unfruchtbar, [zumal] für die jeweilige Begriffsverwendung jeweils verschiedene Regeln definiert werden, die allesamt den Charakter einer gewissen Willkürlichkeit nicht verbergen können.« Vgl. Neckel

Der Kult der Emotionen 

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Als im 16. Jahrhundert qingzhi 情志 (Gefühle38) zum Dreh- und Angelpunkt einer sich neu entwickelnden Lebensart wurden, verlangten sie nach anderen Ausdrucksmöglichkeiten, nach neuen Fühl- und Befindlichkeitsmustern.39 Der sogenannte »Kult der Emotionen«40, in dessen Rahmen Liebe und Leidenschaft sowie Begehren (yu 慾) als wichtigste Merkmale wahren Menschseins zelebriert wurden, ist in der Forschung mit einer romantischen Bewegung konnotiert, die im westlichen Kontext für die Emanzipation der Gefühle steht, sowie für Humanismus, Subjektivismus und Individualismus.41 So wird der Vergleich mit der europäischen Aufklärung gesucht, da auch hier subjektive Gefühle als Handlungsimpulse und als Begründungen für Kritik an herrschenden Normen gelten. Kaum ein anderer sinologischer Befund der letzten Dekaden war von solcher Sprengkraft für das Verständnis spätkaiserzeitlicher Lebenszusammenhänge, war doch bislang der orthodoxe Neokonfuzianismus (Songxue 宋學) als prägend für diese Zeit angesehen worden. So erklärt sich, dass bei der Erforschung des »Kultes der Emotionen« der Neokonfuzianismus, aber auch dessen Gegenbewegung, die »Herzens-Lehre« (xin xue 心學), in den Blick zu nehmen sind – zumal letztere die philosophische Grundlage für den »Kult der Emotionen« lieferte.42 Im Zentrum der damit befassten Untersuchungen stehen allerdings sämtliche Termini, die Emotionen und Befindlichkeiten transportieren, allen voran qing 情, lässt sich dieser Begriff doch als »Gefühl, Emotionen, Leidenschaft, Liebe, Zuneigung oder Sehnsucht« übersetzen43 oder auch als »situative Befindlichkeit« bzw. als »Gefühlsatmosphären« im Sinne »emotional aufgeladener Situationen«.44 Qing figuriert in literarischen Schriften dieser Zeit als zentrale Konstante, als herausragendes Merkmal eines intrinsisch menschlichen Wesenszuges, als natürlicher und notwendiger Ausdruck menschlichen 2006, Fn. 1, 127–128. Allenfalls könnte man, ausgehend von der chinesischen Begrifflichkeit zwischen yu 欲 (teilheitliche Regungen) und qing 情 (ganzheitliche Befindlichkeiten) unterscheiden bzw. zwischen hun und po und den übrigen drei shen (als leibliche Wirkkräfte). Siehe hierzu Linck 2000. 38 Zu einer Begriffsgeschichte des Wortes »Gefühl« siehe Mees 2006, 104–123. 39 Siehe das Konzept der »feeling roles« von Harré 1986. 40 Wong, Siu-kit 1969, spricht dezidiert vom »cult of emotions«, um die Omnipräsenz von qing in der Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts zu benennen. Vgl. auch Volpp 2003, 152–154. 41 Wang 1994, 12  ; Epstein 2001, 16ff. 42 DeBary, 1975, 3ff.; Cheng Chung-ying 1975, 471. 43 Wong Siu-kit 1967, 328–33  ; Hanan 1981, 49–50, 79–80, 96–7, 146–147  ; Li Mowry 1983, 9–13, 15–22  ; Kang-i Sun Chang 1991, 3–18  ; Li Wai-yee 1993  ; Epstein 2001, 63–65. 44 Vgl. Linck 2003, 213–257.

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Fragestellung und Methode

Seins. Die Komposita qingshu 情書 (Liebesbrief ), qingci 情詞 (Liebeslied) und qingshi 情詩 (Liebesgedicht) erscheinen im späten 16. und frühen 17. Jahrhun­ dert erstmalig als Topoi in enzyklopädischen Handbüchern für den täglichen Gebrauch (riyong leishu 日用類書) sowie in Anleitungen zum richtigen Verfassen von Briefen.45 Als philosophischer Wegbereiter der Forderung nach Authentizität gilt Wang Yangming 王陽明 (1472–1529), Begründer der oben erwähnten »Herzens-Lehre« (xin xue).46 Er propagierte die Möglichkeit einer subjektiven Basis für moralisches/intuitives Wissen (liang zhi 良知). Wie fundamental Wang Yangming den »Kult der Emotionen« prägte, zeigen die Untersuchungen, die sich auf einzelne Autoren bzw. Werke aus der MingQing-Zeit konzentrieren, wie z. B. die Forschung zu Feng Menglong 馮夢龍 (1574–1646).47 Feng Menglong war Autor und Herausgeber einer Vielzahl von Geschichten und Erzählungen, die auch der Volksliteratur zugeschrieben werden. Eines seiner Werke, das Qingshi 情史 (Geschichte der Emotionen/Liebe/ Gefühle)48, eine Sammlung von 893 Geschichten und Anekdoten, wird als Kulminationspunkt des »Emotions-Kults« betrachtet. Fengs Definition zufolge sind Emotionen das »Band, das alle verstreuten Dinge [auf der Welt] wie Münzen miteinander verknüpft« (萬物如散錢, 一情為線索).49 Der »Kult der Emotionen« ist kaum denkbar ohne die neuen Kommunikationsmöglichkeiten, die mit der einsetzenden Dezentralisierung der Wissensproduktion im 16. Jahrhundert einhergingen  : Nun wurden Wissensfelder verschriftlicht, welche bislang eher einem Sonderwissen angehörten und als solches nur mündlich und geheim überliefert waren. Gleichzeitig wuchs die Nachfrage nach Wissen, welches in Form von Gebrauchswissen zusehends Eingang fand in die Bücherstuben50 immer zahlreicher werdender Haushalte, de45 Siehe hierzu eingehend Lowry 2003, 240–241. 46 Mowry 1983, 15–22  ; Epstein 2001  ; Cass 1999, 15–16  ; Hanan 1981, 4  ; Chang 1991, 3–9. 47 Siehe hierzu überblicksartig Hsu 2000, 40–77 und 2006. 48 Im westlichen Kontext häufig als »Anatomy of love« wiedergegeben. Siehe beispielsweise Santangelo 1994, 168. 49 Feng Menglong,Qingshi 情史 [1629–1632] 1993, Bd. 7, 1. 50 So zeigt Brook 1996, 88–114, dass Bibliotheken, deren Bestände bis zum Beginn der MingZeit allgemein eher klein waren, nun auf einen Umfang von Zehntausenden von juan (das sind die Kapitel bzw. Rollen) anwuchsen. So besaß ein in Ungnade gefallener Großsekretär im Jahre 1562, als seine Besitztümer von höchster Stelle konfisziert wurden, allein 71 Bücher, die offensichtlich so wertvoll waren, dass sie in die Kaiserliche Bibliothek aufgenommen wurden (es handelte sich dabei überwiegend um Manuskripte aus der Song- und Yuan-Zeit). Außerdem besaß er 5.852 Bände (bzw. hier  : tao) von Klassikern, Geschichtswerken und Schöner Literatur, sowie 841 Bände (tao) buddhistischer und daoistischer Schriften. Die Grabbeiga-

Der Kult der Emotionen 

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ren Mitglieder lesen und schreiben konnten.51 Hinzu kommt, dass die Emotio­ nalität in familialen Beziehungen zunehmend an Relevanz gewann, was auch mit veränderten Geschlechterrollen zusammenhing.52 Veränderte Geschlechterverhältnisse wiederum gingen damit einher, dass Frauen vermehrt schriftstellerisch und verlegerisch tätig waren und auf diese Weise ihrerseits den Kult der Emotionen vorantrieben.53 Selbst offiziell sanktionierte Enzyklopädien und Wissenskompendien, wie das Gujin tushu jicheng 古今圖書集成 (1726)54, das bislang umfassendste leishu 類書 Chinas, bestätigen auf ihre Weise die neuartige Signifikanz der Emotionen  :55 Qingzhi 情志 (Emotionen) erscheinen nun erstmalig als explizite Kategorie in der Ordnung des Wissens. Bemerkenswert daran ist, dass der Eintrag »qingzhi« unter der Kategorie »Medizin« (yibu 醫部)56 subsumiert ist. Mit anderen Worten  : Er erscheint hier nicht konnotiert mit Philosophie oder Literatur, obgleich dies die Felder sind, in denen der »Kult der Emotionen« im späten 16. und 17. Jahrhundert von der Forschung verortet wird. Wenn die Anordnung von Wissensfeldern im Gujin tushu jicheng als verbindliche Aussage über zu dieser Zeit standardisierte Wissensbestände und deren Ordnungsgefüge angesehen werden kann, dann zeigt sich die Medizin hier hinsichtlich der Emotionen als relevantes Wissensfeld.

ben eines kleineren Grundbesitzers aus dem frühen 16. Jahrhundert bezeugen den Besitz von vorwiegend einfachen und weit verbreiteten Büchern für praktische Instruktionen, d. h. dem Gebrauchswissen zugehörigen Produkten. Siehe Clunas 1997, 38. Zur Popularisierung von Wissen in der späten Kaiserzeit siehe auch Johnson 1985  ; Rawski 1979, 3–17  ; Naquin/Rawski 1987, 3–11 und 58–59  ; Elman u. Woodside 1994  ; Lee 2000, 432ff. 51 Die abgrenzenden Begriffe »Gebrauchswissen« sowie »Rezeptwissen« versus »Sonderwissen« finden sich ausführlicher behandelt in Schütz und Luckmann 1975, 308–326. 52 Epstein 2001  ; Berg 2001  ; Ko 1994  ; Mann 1997  ; Carlitz 1994. 53 Siehe hierzu insbesondere Ko 1994, 59–112. 54 Dieses leishu ist in sechs Hauptkategorien, 32 Abteilungen und 6.109 Subkategorien unterteilt. In der ersten Ausgabe umfasste sie 852.408 Seiten. Siehe hierzu Zurndorfer 1995, 244– 245. 55 Viele der Kompilatoren des Gujin tushu jicheng stammten aus der Jiangnan-Makroregion, was möglicherweise nicht unerheblich war für die Auswahl der Textpassagen und für die Konfiguration der Themen, da das Phänomen des Kultes der Emotionen vergleichsweise stark in literarischen Zeugnissen von Autoren zu finden ist, die in dieser Makroregion lebten. Zu diesem Zusammenhang siehe Ko 1994, 69–99 sowie Wang 1994, 12–55. 56 Es handelt sich um die Einträge in der Abteilung Minglun huibian 明倫彙編, unter renshi 人 事 (Menschliche Angelegenheiten), von juan 51 bis 62. Siehe Qinding Gujin tushu jicheng, Vol. 44, 341, 54737–54749.

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I Zeit und Ort des Geschehens

Ob das 17. Jahrhundert im China der Kaiserreiche die insgesamt einschneidendste historische Wende erfahren hat, wie neuere sinologische Befunde zeigen wollen57, und ob die Qing 清-Dynastie (1644–1911) die »zweifellos erfolgreichste« Dynastie in der chinesischen Geschichte58 war, soll hier nicht entschieden werden. Unbestritten ist jedenfalls, dass wir uns im Rahmen dieser Arbeit in einer Zeit bewegen, die nicht nur vergleichsweise gut dokumentiert ist, sondern tief greifende ökonomische und sozialpolitische Veränderungen erbracht hat, wobei diese Veränderungen nicht am Jahr des Dynastienwechsels festzumachen sind. Es ist das Jahrhundert, in dem China von dem ursprünglich halbnomadischen Volk der Mandschu erobert wurde (1644). Unter ihrer Herrschaft sollte China bis dahin nicht gekannte geographische Ausmaße erreichen. Seit der frühen Kaiserzeit war die politische Macht in China mit den Gentry-­ Gelehrten-Eliten59 verbunden. Das Rückgrat dieses Machtgefüges bildete das 57 Siehe hierzu überblicksartig Schmidt-Glintzer 2003, 128. Diese Einschätzung entspringt nicht nur aus einer rückblickenden Perspektive gewonnenen Befunde gegenwärtiger Histori­ ker. Bereits Zeitgenossen waren sich der Ausmaße der Veränderungen, die das normale Maß an geschichtlichen Veränderungen deutlich überstiegen, bewusst. Siehe hierzu die Berichte zeitgenössischer Kommentatoren, wie Wang Danqiu 王丹丘 oder Gu Qiyuan’s 顧起元 (1565– 1628) Kezuo zhuiyu 客座贅語, Gengsi bian Kezuo zhuiyu 庚巳編客座贅語, 1987, 169–170. Eine teilweise vorgenommene Aufarbeitung dieser Quellen liefern David Der-Wei Wang und Shang Wei 2005, 1–21  ; sowie Wai-Yee Li 2006, 1–70. Siehe auch Chang und C ­ hang 1992, die die gewaltige kulturelle Transformation im 17. Jahrhundert anhand literarischer Zeugnisse, insbesondere des Li Yu 李漁 (1611–1680), belegen. 58 Siehe hierzu, und sich auf Ho 1967 beziehend, Rawski 1996, 831. 59 Gentry (shishen 士紳, xianghuan 鄉宦 oder xiangshen 鄉紳) meint in der westlichsprachigen Forschungsliteratur üblicherweise die Han-chinesischen Eliten vor 1900  : diese hatten – je nachdem – die lokale wirtschaftliche und soziale Macht als Großgrundbesitzer oder/und die politische Macht auf lokaler, auf Provinzebene bzw. auf Gesamtreichsebene als Beamte in der kaiserlichen Bürokratie inne. Gelehrte, in der Forschungsliteratur westlicher Provenienz häufig auch als »Literati« (Scholaren) bezeichnet, waren diejenigen Mitglieder der Gesellschaft, welche ihren Status als kulturelle Elite insbesondere durch klassische Gelehrsamkeit sowie durch literarische Publikationen erlangten und aufrechterhielten. Der kulturelle Status beider Gruppen überlappte sich häufig, zumal beide auf einen höchstmöglichen Titel bei den Beamtenprüfungen ausgerichtet waren und damit ihren jeweiligen Status begründeten. In Betracht gezogen werden muss außerdem, dass sich der Status jeweils an der Perspektive des Betrachters misst. Aus der Sicht der einfachen Landbevölkerung konnten »verarmte Scholaren« als Vertreter der Gentry angesehen werden. Eine weitere Diskussion dieser Klassifikationen als

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Zeit und Ort des Geschehens

Studium der sogenannten Klassiker – die grundlegende Voraussetzung für die Teilnahme an einer der üblicherweise jährlich mehrmals abgehaltenen Beamtenprüfungen auf Präfektur-, Provinz- und Hauptstadtebene. Beginnend mit den Jahren um 1400 erfuhr das verhältnismäßig stabile Gefüge aus kaiserlicher Macht, lokalen Eliten und Dorfbauern eine grundlegende Veränderung60, die um 1600 ihren Höhepunkt erreichte. Die bestehenden sozialen Kategorisierungen der früheren Ming 明-Zeit, »Beamten-Gelehrte«, »Bauern«, »Handwerker«, »Händler«, wurden spätestens gegen Ende des 16. Jahrhunderts hin anachronistisch. Die erblichen Klassifikationen stimmten mit den tatsächlichen lokalen Statussituationen immer weniger überein.61 Dementsprechend war es nur naheliegend, den jeweiligen Familienstatus in den Registrierungsformularen der Examenskandidaten nicht mehr zu vermerken.62 Ab dem 18. Jahrhundert erscheint das Thema »Leibeigenschaft« nicht mehr in öffentlichen Zusammenhängen.63 Chinesische Historiker sprechen von einer Epoche der »Aufklärung« und der »Reform«.64 Das immense Bevölkerungswachstum von rund 60 Mio. zwischen 1381 und 1393 auf ca. 150 Mio. um 1500 und auf 200 Mio. um 160065 trieb diesen Transformationsprozess zusätzlich voran. Beides führte dazu, dass der Kaiserhof die Kontrolle über das Land bzw. seine »arbeitenden Ressourcen« verlor. Der schleichende Kontrollverlust wurde zusätzlich verstärkt durch die Monetafinanzpolitische Kategorien liefert Dardess 1983, 14–19  ; Ho 1962, 67  ; Sun Liping 1996, 40–44  ; Xia Xianchun 1994, 16ff. 60 Anstelle einer detaillierten Darstellung der gesamten sozialen und wirtschaftlichen sowie auch der politischen Veränderungen des späten 14. und des 15. Jahrhunderts sei hier allein darauf verwiesen, dass die Ablösung der Yuan-Dynastie (1368) durch einen Bauern erfolgte, der den gebildeten Schichten gegenüber starkes Misstrauen hegte, weshalb er die Rekrutierung von Beamten für den Staatsdienst aus dem einfachen Volk förderte. Dadurch wurde das System der Erblichkeit der Berufe (eines der Prinzipien des politischen Systems der Mongolen [Yuan-Dynastie 1280–1368]) erheblich ausgehöhlt. 61 So konnten sich Pächter, indem sie in den lokalen Handwerksbetrieben arbeiteten, eine relative Unabhängigkeit von ihren Pachtherren erkaufen. Siehe Wiens 1980, 13–14. 62 Siehe Elman 2000, 251. 63 Yongzheng (Reg. 1723–35) befreite selbst solch erbliche Berufsgruppen wie »Musiker-Haushalte« (yue hu 樂戶) von ihren Fesseln. Dieser Akt wird in der Forschungsliteratur gemeinhin als Widerspiegelung des allgemeinen Bedeutungsverlustes von ehemaligen Klassifikationen des Sozialstatus gewertet. Siehe hierzu Elvin 1996, 8. Für eine allgemeine Übersicht zu Stratifizierung der Qing-Gesellschaft siehe Marsh 1961 sowie Lui 1990. 64 Vgl. etwa Xu Sumin et al. 1995, 2ff. 65 Im 19. Jahrhundert war die Bevölkerung auf circa 400 bis 450 Millionen angestiegen. Vgl. Skinner 1977, 19–20.

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risierung (»Silber-Ära« zwischen 1550–1650) der Ming-Wirtschaft.66 Der Einbruch der protestantischen Seefahrernationen Holland und Großbritannien in die Handelsimperien der katholischen Spanier und Portugiesen, um ihre eigene Machtsphäre auszudehnen, führte zu einem gewaltigen Rückgang chinesischer Silberimporte, was die Hortung von Silber und den Verfall des Kupfer-­ Silber-Verhältnisses zur Folge hatte.67 Die Möglichkeit der Umwandlung von »Arbeitssteuern« in »Geldsteuern« bedeutete gleichzeitig den Verlust direkter Einflussnahme von Seiten des Ming-Hofes auf Dorf- und Stadtebene. Es entstand ein enges Netzwerk von Landmärkten, die sich lokal organisierten.68 So wird häufig von einer »kommerziellen Energie« gesprochen, die eigent­lich ohne das einsetzende extreme Bevölkerungswachstum undenkbar ist. Dadurch wurde wiederum die Vermittlerrolle der Gentry und deren Macht gestärkt. Doch gleichzeitig gewannen die kommerziellen Unternehmer zusätzlich an Einfluss, weil die Landpacht nur noch eine Einkommensquelle unter anderen darstellte. Die Auflösungstendenzen der herkömmlichen Gesellschaftsstruktur zugunsten des bislang eher missachteten Standes der Händler bedeutet aber nicht, dass die Signifikanz der Beamtenprüfungen »in den Köpfen der Menschen« geschwunden wäre.69 66 Nachdem Spanien in den 1570er Jahren in Manila (Philippinen) einen neuen Stützpunkt errichtet hatte, begann amerikanisches Silber nach China zu strömen  : Zahlreiche chinesische Händler beschleunigten den Silberstrom nach China, indem sie in Manila Niederlassungen gründeten, wo sie Seide und Tuch nach Amerika verkauften. Dieser Zustrom an Silber stimulierte den Handel, aber er führte auch zu Inflation und Handelsspekulationen, wodurch die herkömmlichen Wirtschaftskreisläufe gestört wurden. Außerdem war Macao, das in den 1560er Jahren mit chinesischem Einverständnis von den Portugiesen besetzt worden war, zu einem wichtigen Umschlagplatz geworden  : Die Portugiesen kauften nämlich auf den lokalen chinesischen Märkten Seide auf und verkauften diese in Japan gegen Silber aus japanischen Bergwerken. Da dieses Silber in China höher veranschlagt wurde als in Japan, explodierte das Handels- und Silberaufkommen (zusammen mit dem Silber, welches aus mexikanischen und peruanischen Bergwerken über Spanien [via Manila] nach China strömte) in China. Silber blieb übrigens, neben Bronzemünzen für kleinere Beträge, das allgemeine Zahlungsmittel bei größeren Transaktionen bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein. Einen diachron angelegten Überblick verschafft Von Glahn 1996, zum »Silber-Jahrhundert«, 113–166  ; Marks 1998, 127–143. 67 Eine Schnur von Tausend Kupfermünzen, die in 1630er Jahren ungefähr den Wert von einer Unze Silber (d. i. 28,3 g) besaß, war 1640 nur noch die Hälfte und 1643 nur noch ein Drittel wert. Siehe hierzu Atwell 1982, 68–90 sowie ders. 1986, 223f.; Wakeman 1986, 1–26. 68 Man beachte, dass es sich nicht so sehr um Netzwerke zwischen Städten, sondern vielmehr zwischen Landkreisen handelte. Siehe Kuhn 1990, 31. 69 Der staatliche Verkauf von Prüfungstiteln und Beamtenstellen vermochte die Staatskassen auch in diesen Krisenzeiten zu füllen. Die Käufer waren in der Mehrzahl erfolgreiche Ge-

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Zeit und Ort des Geschehens

Unruhen, Banditen und Rebellen

Während der Ming-Dynastie (1368–1644), die der Mandschu-Herrschaft vorausging, war es in etwa sechshundert Fällen zu Konflikten im Landesinneren sowie an den Reichsgrenzen zu militärischer Intervention gekommen. Die vom ersten Ming-Kaiser initiierte »Reichsidee« und das diese stützende »Landesverteidigungssystem« scheiterten,70 was zum Trauma vieler Gelehrten-Beamter führen sollte. Die Ming-Regierung hatte versucht, die finanziellen Schwierigkeiten durch die Forderung erhöhter Handelsabgaben sowie höherer Steuern von den Bauern und die Schaffung neuer Zollstellen am Yangzi sowie am Großen Kanal zu bewältigen. So blieb es nicht aus, dass zwischen 1596 und 1626 beinahe jedes Jahr Unruhen in den Städten und Handelszentren der Regionen ausbrachen, die am intensivsten am wirtschaftlichen Transformationsprozess beteiligt gewesen waren  : in Suzhou, Songjiang, Hangzhou im Süden und in Beijing im Norden des Landes. Die Lage der Bauern spitzte sich dramatisch zu, denn sie vermochten ihre Steuerabgaben, die sie in Silber zu entrichten hatten, nicht mehr aufzubringen. Zwischen 1618 und 1639 wurden sie überdies mit siebenfach erhöhten Steuerforderungen, wegen der zusätzlichen Ausgaben im sich ausweitenden Krieg gegen den Mandschu-Führer Nurhaci im Norden, belastet. Hungersnöte grassierten, zusätzlich verschärft durch ungewöhnlich kalte und trockene Klimaverhältnisse.71 Zu den Steuererhöhungen, den Naturkatastro­phen, dem beständigen Druck durch die Rekrutierung zum Militär, dem Zusammenbruch aller größeren Bewässerungs- und Flutkontroll­ projekte, dem Aufkommen von Seuchen und Pest-Epidemien in Zhejiang und in Süd-Zhili in den 1630er und 1640er Jahren72 kamen Verwüstungen ganzer Landstriche, in die Aufständische u. a. aus Shenxi 陜西, Henan 河南 und Anhui 安徽 verwickelt waren. Als einer der berüchtigtsten Rebellenführer galt Li Zicheng 李自成 (1606–1645). Li war ein ehemaliger Postbediensteter aus Shenxi und wie viele andere aufgrund der Sparmaßnahmen von seinem Dienst suspendiert worden. Shenxi war eine unfruchtbare Provinz im Nordwesten Chinas, die sich bereits in den Jahrhunderten zuvor wegen der Unzugänglichkeit ihrer vielen Berge als ideales Rückzugsgebiet für Rebellen und schäftsleute aus der Jiangnan-Makroregion, die ihre Söhne mit Titeln »versehen« ließen. Siehe hierzu Elman 2000, 200. 70 Siehe hierzu Filipiak 2001. 71 Man spricht auch von der »kleinen Eiszeit« des 17. Jahrhunderts, da sich zeitgleich weltweit solche Klimaverhältnisse beobachten ließen. Siehe hierzu Marks 1998, 195–205. 72 Siehe hierzu Dunstan 1975, 1–59. Zur Krise im 17. Jahrhundert siehe Wakeman Jr. 1986.

Unruhen, Banditen und Rebellen 

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Banditen erwiesen hatte. Nachdem sich Li 1630 einer militärischen Einheit in West-Shenxi angeschlossen hatte und der von der Regierung versprochene Proviant ausblieb, meuterten Li und andere Soldaten. Nach und nach hatte sich Li zum Anführer einer Truppe mehrerer Tausend heimatloser aufständischer Männer hochgearbeitet. Nachdem er von einem Ming-General an der südlichen Grenze von Shenxi festgenommen worden war, ließ dieser ihn unter der Bedingung frei, dass er sich in den unfruchtbaren nördlichen Teil der Provinz zurückziehe. Doch als ein lokaler Magistratsbeamter 36 Rebellen aus seiner Truppe hinrichten ließ, schlugen Li und seine Männer zurück. Sie töteten die Lokalbeamten und zogen sich wieder in die Berge zurück. 1635 kam es zu einer Geheimversammlung in der Stadt Rongyang 榮陽 in der mittelchinesischen Provinz Henan, auf der einige der mächtigsten Rebellenführer verschiedene Regionen Nordchinas unter sich aufteilten und einen Angriff auf die Hauptstadt Beijing planten, was letztendlich misslang. Die Armeen der beiden mächtigsten Rebellenführer, Li und Zhang Xianzhong 張献忠 (1606–1647), durchstreiften bis Mitte der 40er Jahre Nord- und Zentralchina, wobei jeder seinen eigenen Stützpunkt behauptete, Li in Hubei sowie in größten Teilen der Provinzen Shenxi und Henan, Zhang im reichen Kernland von Sichuan. Als Li Zicheng 1644 mit Hunderttausenden eine Großoffensive auf Beijing startete, indem er alle Städte, die sich ihm entgegenstellten, plünderte und der chinesischen Bevölkerung unter seiner Herrschaft Wohlstand und Frieden versprach, marschierten seine Truppen kampflos am 24. April 1644 in Beijing ein – Abtrünnige hatten ihnen die Tore geöffnet. Kaiser Chongzhen 崇禎, von allen seinen Beratern und Dienern verlassen, erhängte sich am folgenden Tag einem Bericht zufolge auf dem Kohlehügel im Norden des Kaiserpalastes. So waren es nicht die inzwischen zu bedrohlicher Macht angewachsenen Mandschu-Streitkräfte, sondern der Rebellenführer Li, der das Ming-Reich stürzte. Aber obgleich dieser sich am 3. Juni selbst zum Kaiser inthronisierte, floh er tags darauf zusammen mit seinen Truppen aus der Stadt gegen ­Westen. Am 6. Juni marschierten die Mandschu (Manzhou 滿洲)73 zusammen mit dem 73 So nannten sich die geeinten Jurchen (Dschusen) Stämme, die sich auf das Gebiet der heutigen Provinz Heilongjiang und Jilin verteilten. Als die Jurchen (unter Nurhaci als ›Khan‹) Ende des 16. Jahrhunderts die Ming gegen die japanische Invasion in Korea unterstützt hatten, brach Nurhaci um 1610 seine Beziehungen zu den Ming ab. Nachdem Nurhaci zwischen 1610 und 1620 seine Macht auf Kosten der benachbarten Jurchen- und Mongolenstämme beständig ausgebaut hatte, machte er 1625 Shenyang (das heutige Mukden) zur Hauptstadt. Bereits 1622 wollte Nurhaci China über den Shanhaiguan (den Pass, an dem die Große Mauer an den nördlichen Teil des Gelben Meeres angrenzt) angreifen. Nachdem die Ming-Generäle

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Zeit und Ort des Geschehens

General Wu Sangui 吳三桂 (1612–1678)74 in Beijing ein und bean­spruchten nun unter der Devise Shunzhi 順治 (gehorsam herrschen) das Mandat des Himmels. Die Mandschu sollten noch 17 Jahre kämpfen, bis sie den letzten Thronprätendenten der Ming-Dynastie ausgeschaltet hatten, denn nachdem zahllose Mitglieder des Kaiserclans aus der Hauptstadt geflohen waren, lebten Hunderte von Prinzen aus verschiedenen Seitenzweigen über ganz China verstreut auf ihren diversen Besitzungen. Gleichzeitig hatten die Mandschu gegen die Rebellen aus der Ming-Zeit zu kämpfen, allen voran gegen den schon erwähnten Li Zicheng, der inzwischen nach Shenxi geflohen war und von dort den Yangzi in Richtung Süden überquerte. Schließlich gelang es den Mandschu-Truppen, ihn in den Bergen an der Nordgrenze der Provinz Jiangxi einzukesseln, wo er 1645 den Tod fand. Zhang Xianzhong, der zweite mächtige Rebellenführer, hatte sich inzwischen in Chengdu festgesetzt und diese Stadt im Dezember 1644 zur Hauptstadt seines »Großen Westreiches« erklärt. Zusätzlich zur Tötung tausender einheimischer Gelehrter – samt ihren Familien wegen des Verdachts auf Verrat – sowie zur Dezimierung geschlossener Regimenter seiner eigenen Truppen wurde ihm Brandschatzung ganzer Städte und Landstriche angelastet, bevor er schließlich im Januar 1647 von den Mandschu gefangen genommen wurde.

gegen Ende 1626 einige Gegenangriffe gegen Nurhaci gewannen und es noch im selben Jahr, nach Nurhacis Tod, zu einem Machtwechsel kam, verkündete Hong Taiji, der achte Sohn Nurhacis und neu ernannter Khan, 1636 die Gründung einer neuen Dynastie, der Qing 清. In getreuer Nachahmung des Ming-Hofes richtete er sechs Ministerien ein, hielt, ebenfalls nach chinesischem Vorbild, Prüfungen für den Staatsdienst in Liaodong ab, holte sich, zusätzlich zu den zahllosen chinesischen Überläufern (darunter viele Offiziere samt ihren Truppen), chinesische Berater für seine neue Bürokratie. 1638 eroberte Hong Korea, erzwang vom König die Aufkündigung der Loyalität gegenüber den Ming, überrannte dann die Große Mauer, plünderte die Umgebung von Beijing sowie ganze Landstriche der Provinz Shandong, raubte Frauen, Kinder, Zugtiere, Seide und Silber, brandschatzte und zerstörte ganze Städte. Nachdem Hong 1643 unerwartet verstarb, wurde sein Bruder Dorgon als Regent für seinen neunten Sohn, einen fünfjährigen Jungen, eingesetzt. Zur Vorgeschichte der Qing-Herrschaft siehe eingehend und vor allem basierend auf zeitgenössischen Primärquellen (Dokumente in mandschurischer, mongolischer sowie in japanischer Sprache) die Beiträge in Stary 1996. 74 Dieser aus Liaoning stammende Ming-General befand sich 1644 eingepfercht zwischen den Mandschu-Armeen im Osten und den Truppen des Rebellenführers Li Zicheng im Westen. Nach längerem Hin und Her entschied er sich für ein Bündnis mit den Mandschu. Dieser General wird später als einer von drei Feudalfürsten gegen die Ming-Loyalisten im Süden vorgehen und ganz Guizhou sowie Yunnan beherrschen.

Die Ming-Loyalisten 

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Die Ming-Loyalisten (yimin 遺民)

Die Machtübernahme durch die Mandschu lässt sich in Zahlen fassen  : Ungefähr zwei Millionen Menschen okkupieren ein Land mit einer Bevölkerung von über hundert Millionen Menschen  ; weniger als drei Jahre nach der offiziellen Übernahme von Beijing (1644) ist auch der Süden, einschließlich Guangzhou, besetzt. Neuere Forschungsergebnisse zeigen, dass der Ming-Qing-Übergang nicht so ruhig verlaufen ist, wie die chinesische und die westliche Historiographie bislang nahelegte.75 Unter den annähernd 170 zeitgenössischen Selbstzeugnissen und Berichten über den Dynastienwechsel sticht das Yangzhou shiriji 揚州十日 記 (Erinnerungen an das Zehn-Tage-Massaker in Yangzhou) hervor, weil dieser Text ein Massaker beschreibt, das im Mai 1645 in Yangzhou annähernd 800.000 Menschen das Leben gekostet hat.76 Yangzhou war eine reiche Handels- und Kulturstadt, mit annähernd einer Million Einwohner. Nachdem Yangzhou über mehrere Wochen hinweg belagert wurde – die Stadt war ein strategisch zentraler Standort des Widerstandes gegen die nördlichen Eindringlinge – brachen die Qing-Soldaten schließlich ein. Die zahllosen blutigen Angriffe auf die Zivilbevölkerung im China der 1620er bis 1670er Jahre waren aber nicht nur von den Mandschu initiiert, sondern vielfach auch von bewaffneten marodierenden Armeen, lokalen Banditen-Banden77, angeheuerten Schlägern, See-, Fluss- und Meerespiraten, einheimischen Aufständischen sowie von Ming-Regierungstruppen  : Während des mittleren 17. Jahrhunderts blieb kaum ein regionaler Raum in China vom Unheil durch Soldaten (binghuo 兵祸) verschont.78 Die deutlich verschlechterten Bedingungen für die aus südlichen Gebieten stammenden Examenskandidaten lassen sich ebenfalls in Zahlen fassen  : Während um 1500 einem Lizenziaten (shengyuan 生員)79 noch 2.200 »Nicht-Lizenziaten« gegenüberstan75 Zu einer Kritik dieser Sicht siehe Struve 1998. 76 Siehe Wang Xiuchu 王秀楚, »Yangzhou shi ri ji«, in Xia, 1964, 240–241. Siehe die deutschsprachige Übersetzung in Engler 1986, 53–84, und die englischen Übersetzungen in Mao 1937  ; Struve, 1993, 28–48. 77 Die historische Bewertung der marodierenden Banditenhorden fiel durchaus unterschiedlich aus. Während man im chinesischen Kontext in der Republikzeit (von 1911 bis in die 50er Jahre hinein) einer generellen Anti-Mandschu-Einstellung entsprechend das Banditentum im 17. Jahrhundert heruntergespielt hatte, wurden sie in der darauf folgenden kommunistischen Historiographie als »Revolutionäre« hochstilisiert. Siehe hierzu Struve 1993, 3ff. und dies. 1998  ; siehe auch Marks 1998, 143f. 78 Siehe Struve 1993, 2. 79 Während der Ming- und Qing-Zeit auch zhusheng 諸生 oder xiucai 秀才 genannt, d. i. ein Gelehrter, der die Prüfungen auf Präfekturebene bestanden und somit die Bedingung für die

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den, waren es zweihundert Jahre später (um 1700) nur noch 300.80 In diesem Zeitraum verringerte sich die Aussicht auf eine Position im öffentlichen Verwaltungsapparat entscheidend  : Waren um 1500 noch etwa 20.400 Posten zu besetzen, so blieben für die angewachsene Zahl an Lizenziaten und höheren Titelträgern im Jahr 1625 nur 24.680 Posten.81 Zu Beginn des 17. Jahrhunderts war den meisten Lizentiaten eine Position auf Provinz-, Präfektur- und Hauptstadtebene a priori verwehrt. Außerdem verdreifachte sich während der ersten Dekaden der Qing-Herrschaft, d. h. zwischen 1640 und ca. 1700, die Zahl der erfolgreichen Prüfungs-Absolventen aus nördlichen Grenzprovinzen, während sich die Zahl derer aus den südlichen Provinzen um 2 bis 3 % verminderte.82 Dies ist auch damit zu erklären, dass bei den Prüfungen auf Provinzebene während der ersten Jahre (1645, 1646 und 1648) Prüfer aus dem nördlichen Teil Chinas eingesetzt worden waren, und zwar zu über 70 %, die Mehrheit der Examenskandidaten jedoch nach wie vor aus dem Süden stammte.83 Zu dieser »nördlichen Dominanz« gesellte sich die Einrichtung spezieller Prüfungen für diejenigen Mandschu, die über keinerlei Kenntnisse im klassischen Chinesisch verfügten. Diese wurden in ihrer eigenen (Mandschu) Sprache (qingwen 清文) geprüft. Beginnend mit dem Jahr 1647 verpflichtete die Qing-Regierung außerdem alle, die die Prüfungen mit höchster Auszeichnung bestanden hatten, dazu, die mandschurische Sprache zu erlernen. Aus zeitgenössischen Schriften zum Ming-Qing-Konflikt84, die zwischen 1644 und 1662 von insgesamt 170 unterschiedlichen Autoren verfasst worden waren, sprechen nicht nur Ming-loyalistische sondern auch ambivalente Haltungen  : Eine nicht unerhebliche Anzahl von Gelehrten entschied sich trotz Teilnahme an den Beamtenprüfungen auf Provinz-Ebene (zur Erlangung des juren 舉人Titels) sowie auf der Hauptstadt-Ebene (zur Erlangung des jinshi 進士Titels) erfüllt hat. 80 Elman 2000, 140. 81 Vgl. Elman 2000, 141. 82 Vgl. Elman 2000, 259. 83 Erst in den späten 1650er Jahren holten die Prüfer aus dem Süden zahlenmäßig langsam wieder auf. Dies ist, wie Wakeman 1985, 886–90, betont, auf die Wiederaufnahme der Gelehrten-Netzwerke zurückzuführen. Siehe hierzu auch Elman 2000, 165. 84 Es handelt sich hierbei um insgesamt 199 Schriften, wobei archivarische Quellen und Inschriften ausgenommen sind. Im Vergleich dazu wurden zum Yuan-Ming-Übergang nur 17 regierungsexterne Schriften von insgesamt 15 unterschiedlichen Autoren verfasst. Die schiere Unmenge überlieferter Schriften, die in nur 19 Jahren zum Ming-Qing Konflikt verfasst worden waren, darf nicht nur als Nebenprodukt des sprunghaften Anwachsens der Schreibaktivitäten seit Mitte des 16. Jahrhunderts angesehen werden. Vgl. hierzu Struve 1998, 7 und 11ff. Gleichermaßen ist das Anliegen dieser Schriften nicht einfach mit dem Verweis auf den herrschenden Ming-Loyalismus erklärt.

Die Ming-Loyalisten 

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Qing-­feindlicher Gesinnung für eine Karriere an deren Hof, sobald sich die Möglichkeit dafür bot.85 Zu den vonseiten der Fremdherrschaft initiierten Maßnahmen, »gelehrte Köpfe« an den Hof zu holen,86 gehörte die Einladung etwa zur Mitarbeit am offiziellen Projekt der Ming-Annalen oder die Aussicht auf die Verleihung von Titeln an jene Gelehrte, die bei den außerordentlichen Prüfungen von 1679 (boxue hongci 博學鴻詞)87 teilgenommen hatten.88 Herausragende Gelehrte wie Huang Zongxi 黃宗羲 (1610–1695)89 lehnten beiderlei Angebote ab  ; der viel gerühmte Kalligraph Fu Shan 傅山 (1607–1684) fand sich im Alter von etwa 70 Jahren in Beijing zu diesen Prüfungen ein, um dem Ärger eines mächtigen Gönners vorzubeugen, ließ sich aber schließlich doch wegen Krankheit entschuldigen.90 Die Verweigerung hatte freilich mit lokalen und familiären Traditionen ebenso zu tun wie mit der Zugehörigkeit zu bestimmten regionalen Kontexten  : Huang Zongxi stammte, wie (ehedem) Wang Yangming 王陽明 (1472–1529)91 aus Yuyao 余姚 (Zhejiang), und er war ein Sohn eines der »Sechs Edlen Männer«92 der Donglin shuyuan 東林書 85 Siehe hierzu Struve 1979, 326f. 86 Die Frage, inwiefern diese Gelehrten sich selbst als Renegaten betrachteten – was als eines der schlimmsten Vergehen innerhalb des konfuzianisch ausgerichteten orthodoxen Verhaltenskodex galt – interessiert hier nur mittelbar. Das Prinzip der »Fünf Beziehungen« verlangte, dass sich ein junger Mann im Notfall für den Herrscher und gegen seinen eigenen Vater entschied. 87 »Forderung von breit angelegter Gelehrsamkeit sowie weitreichender Begriffe«. 88 Eine weitere Prüfung erfolgte im Jahre 1736. Siehe hierzu Ho 1962, 189, sowie Elman 2000, 171f. Die Vergabe eines solchen Titels sollte Gelehrte wie Huang Zongxi dazu bewegen, loyale Gefühle der neuen Herrschaft gegenüber zu entwickeln. Gegen Ende der 1680er Jahre erschienene Literatur-Anthologien belegen die Tatsache, dass Gelehrte aus unterschiedlichsten Zusammenhängen sich mit der bestehenden politischen Situation abgefunden hatten. Vgl. hierzu Meyer-Fong 2004, 9. 89 Die Standard-Bibliographie findet sich in Hummel 1970, 351–54. 90 Vgl. Qianshen Bai 2003, 26. 91 Wang Yangming, bekannt auch als Wang Shouren 王守仁, stammte aus Yuyao 余姚 in Zhej­ iang. Er erreichte den jinshi-Grad im Jahre 1499 und fungierte dann zunächst als Sekretär im Justiz-Ministerium (xingbu 刑部), später im Kriegsministerium (bing bu 兵部). 1506 wurde er wegen seiner Kritik an den Machtverhältnissen (Eunuchen) entlassen und nach Guizhou verbannt, wo er als Post-Stations-Beamter dienen musste. 1510 wurde er zum Magistrat in Jiangxi ernannt und später zum Gouverneur von Jiangxi, wo er sich besonders durch seinen erfolgreichen Kampf gegen die Rebellen (1517–1518) hervortat. Wang Yangmings Philosophie ist zentral für die sogenannte »Lehre vom Herzen« (xin xue 心學). Vgl. die neueste auf Deutsch erschienene Einführung in seine Philosophie von Iso Kern 2010. 92 Huang Zunsu, der Vater von Huang Zongxi, starb einige Jahre vor der Machtübernahme durch die Mandschu im Gefängnis, weil er sich als Zensor gegen die Macht der Eunuchen am Hof gestellt hatte.

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院 (Donglin-Reform-Bewegung).93 Huang studierte viele Jahre bei Liu Zong­ zhou 劉宗周 (1578–1645), einem herausragenden Interpreten der Wang Yang-

ming-Schule. Obgleich er bei den öffentlichen Prüfungen scheiterte, wurde er aktives Mitglied der Fushe 復社 Akademie94, kämpfte ebenso wie sein Vater gegen die Eunuchen-Herrschaft, landete im Gefängnis und wurde befreit, als die Mandschu in Nanjing eindrangen (1645). Er partizipierte am Kampf der Ming-Flüchtlingsherrschaft, die in Form einer Guerilla-Widerstandsbewegung entlang der Südost-Küste aktiv war. Nach seiner offensichtlich erfolglosen Mission in Nagasaki, von wo er 1653 zurückkehrte, widersetzte er sich der Versuchung, in den öffentlichen Dienst der Fremdherrschaft zu treten, und begann seine Studien.95 Huang trat ebenso wie andere Zeitgenossen von Chen Shiduo 陳士鐸 (1627–1707), der im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung steht, für eine Dezentralisierung der staatlichen Macht ein. So etwa auch Gu Yanwu 顧炎武 (1613–82)96, der hier insbesondere wegen seiner eindrücklichen Forderung nach der Hinwendung zu den »konkreten Dingen« interessiert. Man attackierte insbesondere autokratische Tendenzen, Unterdrückung und Korruption, Nepotismus und ideologische Gleichschaltung.97 Diese kritischen Vorstellungen auf Seiten der Ming-Loyalisten speisten sich zumindest teilweise aus Entwicklungen im regionalen Zusammenhang, insbesondere in der Jiangnan- Makroregion, wo ökonomische Umbrüche Verschiebungen im Sozialstatus der Pächter stimuliert hatten  : Großgrundbesitzer hat93 Diese wurde 1604 gegründet und in der Folge zur bekanntesten unter den »unabhängigen« Akademien in der späten Ming-Zeit, wo politische Diskussionen stattfinden konnten. Die Mitglieder der Akademie waren größtenteils konservative Neokonfuzianer, die sich besorgt um den Fortgang der Dynastie zeigten. Sie stellten sich aktiv gegen den Machtmissbrauch durch die Eunuchen. Die Akademie wurde 1625 auf Befehl der Eunuchen geschlossen. 1628 wurde sie als »Gesellschaft zur Restauration« wieder eröffnet und überlebte bis in das 19. Jahrhundert, erreichte aber nie mehr die Autorität, die sie während der ersten Jahrzehnte ihres Bestehens innehatte. 94 »Gesellschaft zur Restauration«, Nachfolgegesellschaft der Donglin-Akademie. Die Mitgliederzahl betrug im späten 17. Jahrhundert über 2000. Da die Mitglieder in der Hauptsache Ming-Loyalisten waren, wurde die Gesellschaft unter der Qing-Herrschaft unterdrückt. 95 Diese umfassten insgesamt mehrere Hundert Titel. Siehe hierzu Ching 1987, 7. Die Kompilation des Siku quanshu wurde unter der Oberaufsicht des Qianlong-Kaisers im Jahre 1773 begonnen. Siehe hierzu DeBary 1993, 12–14. 96 Zu diesem spezifischen Aspekt siehe Unschuld 1980  ; Widmer 1996  ; Elman 1994, 96–100. Zu Gu Yanwus Biographie siehe Hummel 1979, 421–426. Peterson 1968, 114–156  ; Peterson 1969, 201–247. 97 Huang tat dies insbesondere im Mingyi daifang lu 明夷待訪錄 (übersetzt als Ein Plan für den Prinzen). Siehe die Übersetzung von De Bary 1993. Zu Gu Yanwus diesbezüglichen Sichtweisen siehe Ebertshäuser 2005, 83–105.

Die Jiangnan-Makroregion in der Ming-Qing-Zeit 

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ten ihre Aktivitäten vorzugsweise in die Markstädte verlagert, was eine relative Unabhängigkeit der Pächter bewirkte. Gleichzeitig ging mit diesen Entwicklungen auch der staatliche Rückzug einher. Während die Großgrundbesitzer im 15. und 16. Jahrhundert auf lokaler Ebene noch für gefüllte Getreidespeicher für Notzeiten gesorgt hatten, fielen diese Zuständigkeiten während des Dynastienwechsels und den ersten Dekaden der Qing-Dynastie aus. Die Situation änderte sich erst im späteren 18. Jahrhundert, als das Kaiserhaus wieder die obrigkeitliche Verantwortung übernahm.98

Die Jiangnan-Makroregion99 in der Ming-Qing-Zeit100

Regionalwirtschaften im chinesischen Kontext durchliefen Perioden der Expansion und des Niedergangs. Für das 16. Jahrhundert stehen das Yangzi-Delta, die Südostküste Chinas sowie seine südlichen Regionen insgesamt im Mittelpunkt einer außergewöhnlichen Entwicklung  : Hier formierten sich Gruppierungen von Geschäftsleuten, die ausgedehnte Tauschbeziehungen unterhielten, wodurch alle größeren Städte im chinesischen Reich mittels zahlloser Netzwerke untereinander verbunden wurden.101 Der wirtschaftliche Aufschwung und die Neuerungen auf sozio-kultureller Ebene zeichneten sich am deutlichsten im unteren Yangzi-Delta ab,102 in der Jiangnan-Region (südlich des [Yangzi] Flusses). Geographisch um 98 Siehe hierzu insbesondere Brokaw 1991, 12f.; sowie Leung 1994, 383–389, die den Wandel an den Unterschieden der im Verlaufe des 17. Jahrhunderts aufgekommenen sogenannten »Freien Schulen« (yixue 義學) zu den herkömmlichen sogenannten Gemeinschafts­schulen (shexue 社學) darlegt. Ein früher Zeitzeuge dieses Wandels ist Huang Liuhong 黃六鴻 [1699], 1984, 536–539. Zu den Implikationen der Wang Yangming-Schule für die MingQing Lehrbücher, siehe Bai 2005, 47–66. Zu den Implikationen des Wandels hinsichtlich der Erziehung von Mädchen siehe Mann 1994, 19–49  ; Lee 2000, 468–473.  99 Die Einteilung Chinas in Makroregionen unterscheidet sich von den »traditionellen« (politischen) Einteilungen in Provinzen und Präfekturen. Skinner 1977 spricht erstmalig von insgesamt neun Makroregionen, die er für das China der späteren Kaiserzeit in sozio-ökonomischer Hinsicht ausmacht. 100 Mit Ming-Qing ist der Zeitraum von der späten Ming-Zeit und frühen bis mittleren QingZeit, d. h. spätes 16. bis spätes 18. Jahrhundert, gemeint. Siehe auch Naquin und Rawski 1987, die drei Fallstudien über drei Makroregionen im 18. Jahrhundert vorstellen. In neueren Schriften zur späteren Kaiserzeit ist durchgängig, ohne expliziten Verweis auf diese Vorläufer-Studien, von Makroregionen die Rede. 101 Siehe hierzu eingehend Wong 1997, 21. 102 Siehe hierzu von Glahn 1996, 113–41. Die (insbesondere chinesischsprachige) Forschungsliteratur zur extensiven ökonomischen Entwicklung in diesem Zeit-Raum-Gefüge ist äußerst

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Abb. 1  : Die Jiang Nan Region im Yangzi-Delta des 17. Jahrhunderts

Kognitive und soziale Positionierungen im 17. Jahrhundert 

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fasste diese Region das gesamte Wassersystem des Tai-Sees in den Provinzen Zhejiang und Jiangsu, verwaltungstechnisch die Präfekturen Changzhou, Songjiang, Suzhou sowie die drei Präfekturen Hangzhou, Huzhou und Jianxing in Nord-Zhejiang. Bereits um 1520 begannen die Geschäftsleute hier, ihr Kapital in Handelsund Handwerkerbetriebe zu investieren. Die Baumwoll- und Seidenfabrikation103 hatte diese Region im 16. und 17. Jahrhundert in Chinas reichste, am stärksten urbanisierte und am dichtesten besiedelte Region verwandelt. Yangzhou, einer der wichtigsten Häfen am Großen Kanal, war zum Zen­ trum der Salz-Verwaltung geworden. Märkte in einigen Präfekturen der Jiang­ nan-Region verdreifachten zwischen dem späten 16. und dem 18. Jh. ihre Absätze, und es kam zu Spezialisierungen auf einzelne Produkte.104 So ist für diese Region das Aufkommen eines Marktes für Ländereien nachgewiesen  ;105 es entwickelten sich Arbeitsmärkte für Langzeit- und Kurzzeitarbeit. Mit der Konzentration wirtschaftlicher Produktion in dieser Region ging die Produktion kultureller Güter einher. Dies zeigte sich an dem stark anwachsenden Kunstund Antiquitätenmarkt, am Handel mit privat publizierten Büchern106, an einem expandierenden Verlagswesen, dessen Produktionskosten durch billigeres Papier sowie durch Spezialisierung bzw. Arbeitsteilung beträchtlich sanken.

Kognitive und soziale Positionierungen im 17. Jahrhundert

Jeder Versuch, die Wissensfelder dieser Zeit zu ergründen, muss scheitern, wenn er eine eindeutige Trennung oder auch nur eine deutliche Differenzieumfassend. Für einen kritischen Überblick siehe Chen Xuewen 1989  ; Zheng Changgan 1989 sowie Huang 1990  ; Pan Ming-te 1994  ; Pan Ming-te 1996 und Wong Bin R. 1997. 103 In der unteren Yangzi-Region finden wir während dieser Zeit vermehrt die Produktion von Textilien, sowohl in einzelnen Haushalten, wobei der Mann am Webstuhl saß, während Frau und Kinder mit der Herstellung der Fäden beschäftigt waren (dem Spinnen). Außerdem ist eine Verfeinerung in den handwerklichen Techniken, insbesondere in der Weberei, dem Buchdruck und der Porzellanherstellung festzustellen. Siehe hierzu Bray 1999, 185–186. 104 Z. B. konzentrierte sich der Reishandel auf Suzhou, während sich der Baumwoll- und Seidenhandel auf andere Marktplätze konzentrierte. Vgl. Liu Shiji 1987. 105 Dergestalt, dass Länder freigekauft und gepachtet werden konnten. Mehr noch, der Verkäufer konnte das Land zum Kaufpreis plus Zinsen innerhalb einer bestimmten Anzahl von Jahren zurückkaufen. Diese Vereinbarungen hielten sich über mehrere Generationen hinweg, sodass selbst der Enkelsohn die Möglichkeit besaß, verkauftes Land zurückzukaufen. Vgl. Yang Guozhen, 1988. 106 Rawski, 1979, 112ff.; Widmer 1996, 81  ; Ko 1994, 34f.; Mann 1997, 7  ; Chia, 2002  ; Ji Shaofu 1991  ; McDermott 2005, 78f.

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rung von »konfuzianischen« bzw. »neokonfuzianischen«, »buddhistischen« und »daoistischen« Bezügen anstrebt. Zumeist ist dann die Rede von synkretistischen Zügen und einem hochgradigen Eklektizismus107 während dieser Zeit. Dies lenkt allerdings in die falsche Richtung, weil diese Wertung einen jeweils ursprünglichen, reinen und einzigen Urgrund der entsprechenden Denkrichtungen voraussetzt. Dennoch kommen wir nicht umhin, diese Begrifflichkeiten – wenn auch möglichst sparsam – einzusetzen, allein wegen ihres Verweischarakters auf philosophische und weltanschauliche Bezüge. Seit dem beginnenden 16. Jahrhundert herrschte ein Missverhältnis zwischen Wohlstand und kultureller Blüte auf der einen Seite und dem drohenden Zusammenbruch der politischen Ordnung108 auf der anderen Seite. Neu- und Umorientierungen in sozialpolitischer Hinsicht sowie die Stärkung bereits bestehender lokaler Identitäten109 kristallisierten sich in 107 Siehe auch Lehnert 2004, 30. 108 Fortschreitende Korruption und Misswirtschaft konnten zwar unter anderem als Folge einer erschöpften Staatskasse begriffen werden  : Nachdem man gegen die Mongolenangriffe (zwischen 1540 und 1552) und die Einfälle japanischer Piraten (zwischen 1540 und 1565) vorgegangen war, hatten die langen Kriegszüge der Ming gegen die japanischen Truppen (zwischen 1593 und 1598) in Korea Unmengen an öffentlichen Ressourcen verschluckt. Außerdem wusste man auch um die hohen Apanagen, die den kaiserlichen Familienmitgliedern ausgezahlt wurden. Der kaiserliche Adel wurde mit jeder nachfolgenden Generation zahlreicher. So zählte man unter Wanli 萬歷 (1573–1619) 45 Prinzen des ersten Ranges, die jährliche Apanagen im Silbergegenwert von 600 Tonnen Getreide bezogen, und 23.000 Adlige niedereren Ranges, die ebenfalls einen hohen Anteil der Steuereinkünfte verbrauchten. Immer mächtiger gewordene Eunuchen sowie schwache oder despotische Herrscher erschwerten nicht nur verwaltungstechnische Aufgaben der Staatsführung, sondern führten zu zunehmend ausufernden Streitigkeiten zwischen Eu­ nu­chen und Beamten. 109 Bol 2003, 3, spricht gar von einem »localist turn« im 16. Jahrhundert. Dieser Terminus soll den Umstand beschreiben, dass mit Beginn des 16. Jahrhunderts – aus der Perspektive des Kaiserhofes gesehen – die zentrale institutionelle Ordnung mehr und mehr zusammenbrach. Aus der regionalen, lokalen Perspektive gesehen übernahmen immer mehr Menschen auf unterer lokaler Ebene Aufgaben, um eine lebbare Ordnung aufrechtzuerhalten bzw. sie wiederherzustellen. Dementsprechend ließe sich für die frühe Ming-Dynastie eine Abweichung und für die späte Ming-Zeit die Wiederaufnahme langfristiger historischer Strukturen konstatieren. Dazu gehört etwa die Revitalisierung der sogenannten Gemeinschaftsverträge (xiangyue 鄉約), die bereits im beginnenden 11. Jahrhundert zentrale Faktoren in der Bewältigung der extremen Veränderungen auf wirtschaftlicher, intellektueller und sozialer Ebene wurden. Bereits damals waren diese »Gemeinschaftsverträge« als Revitalisierung einer Goldenen Vergangenheit angedacht. Zhang Zai 張載 (1020–1077), dessen Visionen später insbesondere von Zhu Xi (1130–1200) im Sinne eines lokalen Aktivismus in sein eigenes Denken integriert wurden, erlebte dann – im Rahmen einer neokonfuzianischen »Bewe-

Kognitive und soziale Positionierungen im 17. Jahrhundert 

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literarischen Texten in Form einer verstärkten Thematisierung des eigenen Selbst heraus.110 Die Internalisierung neokonfuzianischer Moralvorstellungen seit der Yuan-­ Dynastie (13.–14. Jh.) beim Großteil der Beamten-Gelehrten implizierte ein hochgradiges Verantwortungsgefühl für das Gemeinwohl der Bevölkerung. Gleichzeitig stellten sich viele Gelehrte kritisch gegen die Lehren des Zhu Xi 朱熹 (1130–1200) und wandten sich den Lehren des Wang Yangming (1472– 1529) zu. Diese kritischen Ansätze werden im 17. Jahrhundert aufgegriffen und z. B. zur Reformierung des Schulwesens ausformuliert111, die die Rekrutierung von Lehrpersonal auf kleinster lokaler Ebene vorsieht. Hierzu gehörte, dass Schulleiter auf Präfektur- und Distriktebene (xueguan 學官) nicht vom Hof ausgewählt werden sollten, sondern direkt von der Bevölkerung nach eingehender öffentlicher Diskussion. Huang Zongxi (1610–1695), aus dessen Feder dieser Entwurf stammte, forderte überdies den Einsatz einer ausreichenden Anzahl von Lehrern  : Ein Lehrer sollte nicht mehr als zehn Kinder unterrichten. Als Lehrer für die Grundschulen sollten all jene Lizentiaten eingestellt werden, die keine Anstellung als Beamte bekommen hatten. Damit brachte Huang die Situation seiner Zeit auf den Punkt  : viel zu viele Lizentiaten ohne Aussicht auf weitere Qualifizierung. Er forderte die Erweiterung des Lehrangebots auf Distrikt- und Präfekturebene  : Für jedes der Fächer Medizin, Militärtaktik, Astronomie sowie für Bogenschießen sollte ein Lehrer eingestellt werden. Diese Lehrer wiederum sollten vom Verwalter der Schulen ausgewählt und bei Unzulänglichkeit von den Schülern selbst abgesetzt werden. Damit einher geht Huangs gung« in den 20er Jahren des 16. Jahrhunderts – eine Renaissance, wohl auch weil die politischen Verhältnisse in verblüffender Weise denen des 11. Jahrhunderts ähnelten. Siehe hierzu Lackner, Friedrich, Reimann 1996, XCI ff. Im 16. Jahrhundert propagierte Wang Yangming (1472–1529) erneut die Gemeinschaftsverträge auf lokaler Ebene, und zwar nicht nur, um die Banditen zu bekämpfen, sondern auch um »harmonische Beziehungen« zwischen den diversen Familienmitgliedern, Nachbarn und den Beamten zu erzielen und die Menschen zur Kultivierung harmonischer Beziehungen zu ermuntern. Siehe hierzu Hauf 1996, 1–50. 110 Siehe Schmidt-Glintzer 2003, 130  ; Chaves 1985. Doch ist dieses »Selbst« nicht zu verwechseln mit den Vorstellungen von Individualismus im mitteleuropäischen Kontext der Aufklärung und der Romantik, in welchen der authentische Ausdruck der Gefühle zentral ist. Chaves zeigt für Autoren der Gong’an-Schule das Vorherrschen der Vorstellung, dass ein Dichter die Freiheit besitze, zwischen sozialen und literarischen Rollen hin und her zu wandern. Das literarische Selbst ist (im 16. Jahrhundert) ein hochgehaltenes, selbst-definiertes Selbst, das auf »Selbstlosigkeit« beruht. 111 Siehe die Überlegungen von Huang Zongxi in seinem Mingyi daifang lu (1663), in DeBary 1993, 106–107.

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Forderung, die zahlreichen Tempel und Klöster in Schulen umzuwandeln, in denen künftig die (konfuzianischen) Klassiker zu lehren seien. Das propagierte Prinzip, »die individuellen Verdienste« hochzuhalten, verlangte geradezu, die Schulbildung als Herzstück des sozio-politischen Wandels anzusehen. Hierzu gehörte die hohe Bewertung praktischer Fähigkeiten wie der Medizin, der Kalenderwissenschaften, des Bogenschießens und der Militärtaktiken. Jedes dieser Fächer sei als gleichwertig mit dem Studium der Klassiker zu beherrschen. Nach Überprüfung der Kenntnisse durch den Schulleiter sollten den besten Studenten vom Erziehungsintendanten der Titel »Doktor« (boshi dizi 博士弟 子) verliehen werden.112 Der Forderung nach einer übergeordneten Überprüfung (etwa) der medizinischen Kenntnisse durch den Erziehungsintendanten auf Provinzebene war die Notwendigkeit einer Qualifizierungsinstanz des Arztberufes implizit. Das Fehlen jeglicher offiziell verbindlicher Regelung der medizinischen Ausbildung und Praxis reflektiert Huang folgendermaßen  : Am Ende eines jeden Jahres seien alle durch eine medizinische Behandlung Überlebenden sowie alle zu Tode Gekommenen, mithin alle Genesenen und Nichtgeheilten unter den Patienten in eigens dafür vorgesehene Bücher einzutragen. Diese Listen sollten Rückschlüsse auf die heilerischen Fähigkeiten der Ärzte zulassen. Dieser Entwurf spiegelt nicht nur die Notsituation im medizinischen Feld, sondern auch eine spezifische kognitive Haltung der Zeit wider  : Die Forderung nach empirischer Bestimmung von Wirksamkeiten bzw. Realitäten beinhaltet eine Abkehr von der Betonung gelehrter bzw. intellektueller Spitzfindigkeiten. Dazu mehr im vierten Kapitel dieser Arbeit.

Ausbruchs-Bewegungen aus der Ordnung der Dinge

Spätestens für das beginnende 16. Jahrhundert lässt sich nachweisen, dass nicht nur Gelehrte und Beamte, sondern auch gewöhnliche Stadtbewohner sich mit der »Herzens-Lehre« (xinxue 心學)113 auseinandersetzten. Wang Yang­ming 王陽明 gilt als philosophischer Wegbereiter dieser neuen Bewegung der Authentizität, die, in Opposition zum seinerzeit vorherrschenden 112 Siehe DeBary 1993, 108. 113 Wang Yangming, Chuan xi lu 傳習錄 in Yangming quanshu 陽明全書, 1/3a-b (SBBY edition). Zu den Implikationen für nachfolgende Denker siehe Epstein 1999, 73f. und Epstein 2001, 21  ; Cass 1999, 15–16  ; Hanan 1981, 4  ; Mowry 1983, 15–22  ; Chang 1991, 3–9  ; Yü 1988  ; Tu Wei-ming 1976.

Ausbruchs-Bewegungen aus der Ordnung der Dinge 

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orthodoxen Cheng-Zhu-程朱Neokonfuzianismus114, die Möglichkeit einer subjektiven Basis für moralisches/intuitives Wissen (liang zhi 良知)115 ins Auge fasste. Die »Herzens-Lehre« suchte nicht nur eine philosophische Neubewertung der menschlichen Gefühle (情 qing), sondern auch der menschlichen Natur, des menschlichen Wesens (xing 性). Die Gefühle galten in der orthodoxen Daoxue (Neokonfuzianismus) als selbstsüchtige Wünsche und Begierden und somit als negative Seite der menschlichen Natur (xing 性). Die »Herzens-Lehre« propagiert die Gefühle als zentral für die Generierung von Wissen. Diese neu gewonnene Sicht auf die Aneignung von Wissen eröffnete eine neue Möglichkeit der Selbst-Kultivierung (xiu shen 修身) bzw. Selbst-Veredelung  : Selbst-Kultivierung gehörte wesentlich zum Repertoire sowohl der Persönlichkeitsbildung als auch des offiziellen Kurrikulums für die Beamtenprüfungen.116 Zhu Xi zufolge war Selbst-Kultivierung mittels ge wu 114 Die Brüder Cheng Yi 程頤  (1033–1108) und Cheng Hao 程顥 (1032–1085) sowie Zhu Xi 朱熹  (1127–1279) gelten als die Begründer der lixue 理學 (Schule des Prinzips), die zwischen 1250 und 1450 florierte, und deren Kommentare zu den Klassikern sowie zu den »Vier Büchern« (sishu 四書) grundlegender Stoff bei den staatlichen Prüfungen waren. Siehe hierzu Bol 1992  ; Tillman 1992. 115 Zu liangzhi als »reines, intuitives Wissen« siehe Tang Chun-I 1970 u. 1975, 307ff.; zu liang­ zhi als »Bewusstsein«, Bruya 2001, 65ff. Wang Ji 王畿 (1498–1583), ein Schüler Wang Yangmings und Anführer der Taizhou 泰州-Schule, behauptete überdies, dass bestimmte begnadete Menschen ohne große Anstrengung eine plötzliche und spontane Erleuchtung erlangen könnten. Diese Sichtweise legte den Grundstein für nicht-konforme Denker der Taizhou 泰 州-Schule, die sämtlich für qing als Quelle moralischer und sozialer Erneuerung eintraten. Siehe hierzu Epstein 1999, 73f. 116 Seit der Song-Zeit wurden in den Hauptstadtprüfungen während der Drei-Tages-Prüfungen zunächst drei Aufsätze zu einem bestimmten Thema aus den »Vier Büchern« mit den obligatorischen Kommentaren von Zhu Xi verlangt. Außerdem hatte der Kandidat an diesem ersten Prüfungstag vier Aufsätze zu verfassen – zu einem spezifischen, vom Kandidaten selbst gewählten Thema aus den Fünf Klassischen Werken (wu jing 五經). Hierzu gehörten »Das Buch der Lieder« (Shijing 詩經), das »Buch der Aufzeichnungen« (Shujing 書經), das »Buch der Wandlungen« (Yijing 易經), die »Frühlings- und Herbstannalen« (Chunqiu 春秋), das »Buch der Riten« (Liji 禮記 ). Zu den »Vier Büchern« gehörten die »Gespräche« (Lunyu 論 語), »Mengzi« 孟子, die »Lehre von der Mitte« (Zhongyong 中庸) und die »Große Lehre« (Daxue 大學). Siehe hierzu Peterson 1998, 712. Wichtig zu erwähnen ist, dass die Authentizität des Kanons bereits seit dem Ende der Tang-Zeit (frühes 10. Jahrhundert) immer wieder in Frage gestellt worden war. Diskutiert wurde etwa vielfach die Frage, inwieweit das Buch »Mengzi« zum Kanon gehöre, ja ob es überhaupt authentisch sei. Siehe hierzu Chang Tsai, 1996, LXXVII. Seit der Song-Zeit gehörte die »Große Lehre« zu den zentralen Texten der Daoxue 道學 (Lernen des Wahren Weges), wofür während der Ming-Zeit gemeinhin der Begriff »lixue« 理學 (Lehre der Ordnung/des [Ordnungs-]Prinzips) stand. Die »Große Lehre« war ursprünglich das 42. Kapitel des »Buches der Riten«. Die »Große Lehre« wurde erstmalig

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Zeit und Ort des Geschehens

格物, der »Untersuchung der Dinge«, zu bewerkstelligen, womit das konkrete Betrachten aller Dinge und Phänomene gemeint war  ; dennoch konnte diese Losung nicht verhindern, dass letztendlich die Akkumulation von Wissen via Bücher überhand genommen hatte. Kritische Stimmen stellten nun mittels der Losung »Die beständige Auswei­ tung von Wissen aus der äußeren Welt«117 die herkömmlichen Formen der Selbst-Kultivierung in Frage. Der hegemonialen Kontrolle über Text-Interpretation in der Daoxue stellte man die Möglichkeit entgegen, auf höchst unterschiedliche Weise die Selbst-Kultivierung zu üben,118 wozu auch die Möglichkeit zählte, plötzliche »Erleuchtung« zu erlangen. Die Aussicht, sich gedanklich außerhalb offiziell sanktionierter Bahnen zu bewegen, bildete das Fundament für die Expansion großer und untereinander vernetzter »Akademien (shuyuan 書院)«.119 Diese standen insbesondere auch für sozial schwächere Personen120 offen und schufen die Voraussetzung für eine verhältnismäßig autonome intellektuelle Gelehrsamkeit.121 Angesichts dieser Ausbruchsbewegungen steht das 17. Jahrhundert für zahlreiche Übergänge  : den Übergang von der Philosophie zur Philologie  ;122 den Übergang von einer chinesischen Herrschaft zu einer Fremdherrschaft  ; den Übergang von einer auf die Gelehrten-Elite ausgerichteten Schriftkultur auf die Popularisierung des Wissens  ; den Übergang von einem anthropologisch-zentrierten Fokus hin zu einem kosmologisch orientierten Blick auf den Menschen  ; den Übergang von staatlich kontrollierten Druckausgaben hin zu ökonomisch orientierten Druckaktivitäten  ; den Übergang von den »Kultur-Kriegen« im 16. Jahrhundert123 hin zur Stärkung von Ritual  ;124 den Übergang hin zur Ver-

als eigene kanonische Schrift in der »Daoxue«-Tradition installiert, und zwar, weil sie eine grundlegende Rolle innerhalb Han Yus 韓愈 (786–824) groß angelegten Kritiken am Buddhismus eingenommen hatte. Siehe hierzu Chow 1999, 149–153. 117 Eine Präzisierung der alten Losung zhizhi zai gewu 致知在格物 aus dem daxue-Kapitel des Liji (Buch der Riten). 118 Yü 1988  ; Tu 1976  ; Epstein 1999. 119 Wie beispielsweise die Donglin 東林-Akademie, die zu Beginn des 17. Jahrhunderts in der Zhangzhou-Präfektur gegründet wurde. Siehe hierzu Hucker, in Fairbank 1973, 147–50  ; von Glahn 1991  ; Yuan Tsing, in Spence u. Wills 1979, 280–320. Dennerline 1981, 158–164. 120 Vgl. De Bary 1970  ; Brokaw 1991, 17ff., 113–21. 121 Vgl. Elman, 1990, 112ff. u. ders. 2000, 207ff. 122 Siehe hierzu insbesondere Elman 1990. 123 Zu den »Großen Ritual-Kontroversen«, siehe Epstein 2001, 6, 17–18. 124 Kai-wing Chow 1993.

Ausbruchs-Bewegungen aus der Ordnung der Dinge 

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doppelung der Bevölkerung  ;125 den Übergang hin zur Umstrukturierung der urbanen Bevölkerung  ; den Übergang von einem Verständnis der Emotionen als Störenfriede hin zu einer Akzeptanz der Emotionen, die nun als notwendig zum Menschen gehörig erachtet wurden  ; den Übergang von einem über die Etikette definierten Selbst hin zu einem experimentierenden Selbst (das 17. als das Goldene Jahrhundert der Autobiographien)  ;126 von einem äußerlich standardisierten Selbst hin zu einem subjektiven Inneren, das nicht eins zu eins übereinstimmte mit diesem äußeren Selbst. Der sogenannte Kult der Emotio­ nen, den die sinologische Forschung dem 16. und 17. Jahrhundert zuschlägt, verweist nicht zuletzt auf den Übergang zu einem Selbst, das echte Gefühle und auch echtes Mitleid (Barmherzigkeit) hegt und diese pflegt. Das 17. Jahrhundert steht für einen Übergang, der sich im medizinischen Feld vollzieht und der im Mittelpunkt der folgenden Kapitel steht. Auch wenn die Daoxue der offiziell verbindliche Wissens- und Denkkanon bis zum Ende der Kaiserzeit (1912) geblieben ist, gilt die Aufmerksamkeit der vorliegenden Arbeit den Ausbruchsbewegungen aus dieser Ordnung der Dinge und den Übergängen.

125 Vgl. die Zahlen in Heidrja 1998, 438  : circa 175 Millionen um 1500, 289 Millionen um 1600 und 353 Millionen um 1650. 126 Siehe Peiyi Wu 1990, xii.

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II Textgeschichte(n)

Das Hauptaugenmerk in dieser Arbeit liegt auf der Analyse medizinischer Schriften aus dem späteren 17. Jahrhundert, die gegenwärtig für die Kanonisie­ rungsprozesse im volksrepublikanischen Kontext eine zentrale Rolle spielen. So war das erste Kapitel mit einer möglichst umfassenden historischen Einord­ nung der betreffenden Texte in einen Zeit-und-Ort-Rahmen befasst  : das 17. Jahrhundert in der Jiangnan-Makroregion. Dabei kamen die Texte als solche zunächst nicht in das Blickfeld. In diesem zweiten Kapitel stehen die Texte selbst und ihre Geschichte, die sich über einen Zeitraum von über dreihundert Jahren erstreckt, im Zentrum unserer Aufmerksamkeit.

Zur polyphonen Textwerdung

Gegen die Frage nach einem einzelnen ursprünglichen bzw. authentischen Text zeigen sich die Schriften von Chen Shiduo 陳士鐸 (1627–1707) in zweierlei Hinsicht resistent. Zum einen sind es die im Folgenden darzulegenden Usancen in der Produktionsweise von Büchern während der späteren Kaiserzeit und zum anderen die spezifische Herleitung des Wissens bei Chen Shiduo, die diese Frage inadäquat erscheinen lässt. Sie steht aber am Anfang der vorliegenden Arbeit, weil sie zunächst die Annäherung an Chens Schriften leitete. Die Einsicht in den Prozesscharakter und die polyphone (vielstimmige) Gewordenheit der Texte von Chen Shiduo zeigte sich als Ergebnis meiner Untersuchungen  : Hinter den Texten verbirgt sich keine einzelne Person, sondern mehrere, nur mittelbar und fragmentarisch zu eruierende Autoren.127 Gleichzeitig begegnen wir in Chen Shiduo einer außerordentlich schillernden Persönlichkeit, die sich bis zur Unkenntlichkeit zurücknimmt. Damit befinden wir uns ansatzweise in jeweils standortgebundenen Interpretationen, die mit Gadamer in der Kategorie »Wirkungsgeschichte« zu fassen wären,128 und die uns durchgängig beschäftigen wird  : Diese Kategorie läuft unterschwellig als einer von mehreren Kon-Texten mit dem jeweiligen HauptText mit. 127 Siehe hierzu Kapitel III in vorliegender Arbeit. 128 Siehe Gadamer 1972, 280.

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Textgeschichte(n)

Im Folgenden ist unser Augenmerk auf die Pluralität gerichtet, in der sich der Ursprung der Texte von Chen Shiduo zeigt. Müssen wir den Ursprung selbst als Pluralität begreifen, macht es wenig Sinn, nach einem einzelnen einzigen, dieser Pluralität vorgeordneten und mit sich selbst konsistenten Subjekt suchen zu wollen. Vielmehr interessiert die Beschaffenheit der Vielstimmigkeit dieser Texte.129 Wenn Chen Shiduo über den Akt des Schreibens etwa sagt, dass er auf Reisen seine Texte verfasse, auf dem Boot oder auf Landwegen zu einem der Heiligen Plätze, an denen er verschiedentlich außergewöhnlichen Menschen begegnet sei,130 so ist dies in erster Linie als Referenz an die Usancen der Gelehrten seiner Zeit zu lesen.131 Außerdem sei ihm das Wissen von Unsterblichen132 übermittelt worden. Dementsprechend stilisiert er sich nicht selbst als Urheber bzw. Schöpfer des Wissens, sondern allein als Übermittler. Seine Rolle ist die eines Mediums. Damit zeigen sich seine Texte als Produkte aus »überregionalen«, »überzeitlichen«, »transhistorischen« und auch »transzendentalen« Zusammenhängen. Diese Offenbarungen erscheinen dann in den Texten als verknüpft mit seinen eigenen Beobachtungen. Letztere, darauf besteht er, werden immer wieder mit dem überlieferten Schrifttum überprüft, sodass sich der Prozess der Textwerdung über Jahrzehnte – mit vielfältigen Einschüben, Veränderungen, Neugestaltungen – hinziehen konnte.133 Damit befindet er sich im Einklang mit den zu seiner Lebenszeit häufig geäußerten Forderungen, Beobachtetes an Ort und Stelle anhand der in den Klassikern überlieferten Sachverhalte zu überprüfen (kaoding 考訂)134 und sogleich zu notieren. 129 Vgl. Barthes 1976, 9  : »Einen Text interpretieren heißt nicht, ihm einen (mehr oder weniger begründeten, mehr oder weniger (freien) Sinn geben, heißt vielmehr abschätzen, aus welchem Pluralem er gebildet ist.« Damit ist freilich auch der konventionell nach einem Sinn hinter dem Text suchende hermeneutische Ansatz in den Geschichtswissenschaften zur Disposition gestellt. Siehe hierzu bereits Frank 1979  ; Goertz 2001, 53–55, 100ff. 130 Vgl. Bencao xinbian, fanlie, CQS, 88. 131 Die enge Verknüpfung von Schreiben mit der kritischen Überprüfung von überliefertem Schrifttum in der Praxis, d. h. in der jeweils sicht- und wahrnehmbaren Welt, ist besonders bei Gu Yanwu 顧炎武 (1613–1682), einem berühmten Zeitgenossen des Chen Shiduo, exemplifiziert  : »Wenn er reiste, nahm er zwei Maultiere und zwei Pferde mit Büchern beladen mit sich. Kam er an Befestigungen vorbei, so befragte er die alten Soldaten und erkundigte sich genau nach den Einzelheiten. Wenn etwas nicht übereinstimmte mit dem, was er regelmäßig vernommen hatte, so zog er seine Bücher heraus, verglich und prüfte sie. Kam er aber durch ruhige Gegenden und große Ebenen, so pflegte er im Sattel die Klassiker und die Kommentare dazu zu lesen.« Vgl. den Entwurf zur Qing-Dynastiegeschichte, Qingshigao 清史稿, zitiert nach Trauzettel 1991, 30–31. 132 Zu den Unsterblichen siehe Kapitel 3.2.3.1 in vorliegender Arbeit. 133 Siehe hierzu überblicksartig Vogelsang 2002, 659–675. 134 Vgl. Bencao xinbian, fanlie, CQS, 88.

Zur polyphonen Textwerdung  

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Bevor ein Text in jener Zeit zur Drucklegung gelangte, wurde er Freunden, Verwandten, potentiellen Gönnern und Vorwortschreibern zur Lektüre vorgelegt  : »Fünf von zehn Verwandten haben die in diesem Buch dargelegten Methoden ausprobiert. Drei von zehn Verwandten haben dieses Buch eingehend gelesen. […] So wage ich es, das Buch der Druckerei zu übergeben und somit der Welt Mitteilung zu machen (gu gan fuzi gaoshi 故敢付梓告世).«135

Dabei beschränkten sich die Leser keineswegs auf Randglossen und Kommentare, sondern konnten vielfache Veränderungen bewirken. So betont Jin Yimou 金以謀136 in seinem Vorwort zum Shishi milu 石室秘錄 (Geheime Aufzeichnungen aus dem Steinzimmer)137 ausdrücklich, dass er Chens Buch drei Mal gelesen und die Handschrift in stilistischer Hinsicht Veränderungen unterzogen habe. Jin Yimou begründet seine Veränderungen wie folgt  : Chen schreibe zwar mit großer Ausdruckskraft  ; jedoch ginge es Chen allein darum, den Menschen zu helfen, weshalb sein Stil nicht besonders verfeinert sei. So habe er insgeheim befürchtet, dass Chens unverblümte Worte die Gefühle der Menschen verletzen könnten, weshalb er, Jin Yimou, einiges weggelassen und anderes verändert habe, um den Text für Höherstehende ebenso wie für das einfache Volk gleichermaßen eingängig zu machen.138 Er betont ausdrücklich, dass er stilistisch zwar einiges umformuliert, aber »was die Rezepturen anbelangt, nicht das Geringste verändert habe, denn ich will mich nicht schuldig machen.139 Stilistische Gesichtspunkte fungieren al135 Vgl. Leseanleitungen zum Bianzheng lu, CQS, 697. 136 Jin Yimou stammte aus Yiwu 義乌 in Huazhou 華州 (ist der alte Name für die heutige Be­zeichnung  : Yiwu 义乌Kreis in Xi Nan 西南 (im heutigen Zhejiang). Er sagt in seinem Vorwort zum Shishi milu von sich selbst, dass er ein Landsmann von Chen Shiduo sei. Vgl. CQS, 267. Außerdem ist er auch der Verfasser des Epilogs zum Shishi milu. Vgl. CQS, 433. 137 Auffallend ist die hohe Okkurenz des Shishi milu – einschließlich anderer Chen Shiduo zugeschriebener Werke – in volksrepublikanischen Kliniken, die sich auf die Heilung von (männlicher) Impotenz spezialisiert haben, wie z. B. http://www.iiyi.com/bbs/archiver/index. php?tid-926661.html oder z. B. http://tcm-forum.blogbus.com/logs/2005/01  ; oder http:// www.kqky.cn/kcc/20060608987.htm. Am 21. Juni 2006 ergab eine Stichprobe im Internet (Baidu) mit dem Suchbegriff Shishi milu insgesamt 7.360 Einträge und unter Chen Shiduo 7.070. 138 Im Original heißt es  : 蓋是編原期救人, 而非即乎采藻,竊恐以詞害志,故略有所刪改, 要使雅俗一覽了然.Vgl. Epilog zum Shishi milu, CQS, 433. 139 Im Original heißt es  : 至定方用藥之間,總不敢增減一字,知我當不罪我也. Vgl. Shishi

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lein als Hinleitung und Erklärung dessen, worauf es letztendlich ankommt  : die Wirksamkeit der Rezepturen. Akte der Veränderung waren dementsprechend nicht Stein des Anstoßes. Im Gegenteil, während der späten Kaiserzeit war es allgemein üblich, die »Güte« einer Schrift und damit die potentielle Möglichkeit der Drucklegung dadurch zu bescheinigen, dass der Text die Hände mehrerer Freunde und Gönner passiert hatte, die ihre Ansichten als Einschübe und Randglossen140 direkt in den Text einfügten.141 Ziehen wir außerdem in Betracht, dass eine Handschrift während der Qingzeit niemals als gebundenes Konvolut existierte, sondern immer als eine Sammlung loser Blätter, so kann davon ausgegangen werden, dass auch die Abfolge der Kapitel mit großer Wahrscheinlichkeit – immer wieder, bei jeder Lektüre und möglicherweise bei erneuter Einfügung von Notizen oder Korrekturen – geändert worden ist. Eine endgültige Ordnung erreichten Texte erst, nachdem die einzelnen Blätter zu Rollen zusammengenäht worden waren und folglich das Buch als abgeschlossen galt. Doch nicht nur Freunde, Verwandte, Studenten und Vorwortschreiber, die in unmittelbarem Kontakt mit dem Autor standen, sondern auch Menschen aus nachfolgenden Zeiten wie Drucker und Herausgeber oder Schüler-Schüler-Schüler reihten ihre Kommentare bzw. ihre gut gemeinten Veränderungen in die Texte und Faksimile-Ausgaben ein. Dadurch wuchsen Texte und veränderten ihre Gestalt sowie ihre jeweiligen Inhalte in solchen Ausmaßen, dass die Suche nach einem »Ursprungstext« kaum fruchtbringend wäre.142 »Ursprungstexte« sind während der späten Kaiserzeit nicht durch so etwas wie ein Urheberrecht geschützt. Im Gegenteil, häufige Abschriften werden ebenso wie vielfältige Veränderungen, Hinzufügungen und Kommentare, und die von mehreren unterschiedlichen Lesern oft doppelt und dreifach in roter und schwarzer Farbe eingefügten Punktierungen, als Gewinn und nicht als Verlust betrachtet. Die Verfertigung eines einzelnen Textes war ein länger milu, Epilog, CQS, 433. Dies ist offensichtlich eine Anspielung auf derartige Vorfälle in der Song-Zeit, als Druckblockschnitzer aus Nachlässigkeit (und) bzw. wegen Trunkenheit (und bzw. oder) aus Protest gegen niedrige Löhne eine Reihe von signifikanten Zeichen in Rezepturen verändert hatten. Sie wurden entsprechend einer Überlieferung als Strafe des Himmels vom Blitz getroffen, oder – einer anderen Überlieferung zufolge – zum Tode verurteilt. Siehe hierzu Cherniack 1994, 5–6. 140 Oder auch in Briefform ihre Ansichten darlegten. So Liang Ch’i-ch’ao 1959, 21. 141 Siehe hierzu Vogelsang 2002, 665. 142 Siehe hierzu beispielhaft die Studie von Vogelsang 2002.

Zur polyphonen Textwerdung  

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währender vielschichtiger Prozess und kein Akt einmaliger Schöpfung aus dem Nichts, keine »creatio ex nihilo«,143 weshalb die Vokabel »Plagiat« höchst unzutreffend ist. 144 Dies stimmt mit der Tatsache überein, dass im chinesischen Kontext bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein keinerlei gesetzliche Vorgaben zum Schutze von geistigem Eigentum existierten.145 Der Tatbestand mannigfaltiger Veränderungen der Texte durch mehrere Schreiber bereits vor der Drucklegung vereitelt jeden Versuch unsererseits, eine primäre Textgeschichte146 rekonstruieren zu wollen, denn Vergleiche »ursprünglicher« Handschriften untereinander sind mangels existenter Handschrif­ten nicht möglich.147 Auch scheint uns die annähernde Bestimmungsmöglichkeit des Zeitraumes zwischen Fertigstellung des Manuskriptes und der erstmaligen Drucklegung des Shishi milu148 nicht wirklich weiterzuhelfen, denn über Ausmaß und Form der Veränderungen – beispielsweise allein durch den Gönner Jin Yimou – besagt diese Jahreszahlen-Rekonstruktion nichts. Ein einzelner, ursprünglicher, und in sich abgeschlossener Entwurf149 aus der Hand eines einzelnen Autors ist somit nur in der Vorstellung, nicht aber in der Praxis zu finden. Die Frage nach einem Urheberrecht erscheint auch im Falle der Schriften von Chen Shiduo150 aus eben dargelegten Gründen unangemessen. Hinzu 143 Wenn wir vom Erscheinungsjahr des Shishi milu, 1687, bis in die 1990er Jahre, als die vorerst letzten Druckausgaben neu aufgelegt wurden, rechnen, sind es mehr als 300 Jahre Überlieferungsgeschichte. 144 Die Verwendung des Begriffs Plagiat für »Abschriften« von Rezepturen und medizinischen Handlungsanweisungen, wie bei Volkmar 2000, erscheint eurozentrisch und wird damit der spezifischen historischen Realität nicht gerecht. 145 Siehe hierzu eingehend Alford 1995, 9–30. 146 Zur Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer Textgeschichte siehe Wilpert 1989, 931. 147 Insgesamt existieren drei handschriftliche Abschriften (in der Bibliothek der Beijing-Universität, in der Palast-Bibliothek in Beijing sowie ein beschädigtes Exemplar in Hefei in der Provinz-Bibliothek), die jedoch sämtlich aus späteren Zeiträumen stammen, weshalb sie für eine primäre Textgeschichte nicht von Interesse sind. Vgl. QGLM, # 332. 148 Dem eigenen Vorwort von Chen Shiduo zufolge hatte er das Manuskript im Jahre 1687 fertiggestellt. Die erste Drucklegung erfolgte, der Datierung des Vorwortes von Jin Yimou zufolge, zwei Jahre später, im Jahre 1689. 149 Abgesehen davon, dass man sich neuerdings in der westlichen Textkritik von der im 18. Jahrhundert aufgestellten Forderung nach der Rekonstruktion des »Archetypus« aus einem Stemma distanziert, weil die Rekonstruktion des Originals nur unter »idealen« Bedingungen einlösbar ist. Siehe hierzu Bohnenkamp 1996, 191. 150 So werden in der Lokalchronik von Shanyin »山陰縣志« aus dem Jahre 1804 folgende Werke angeführt  : »Neijing Suwen Shanglun 內經素問尚論«, »Lingshu xinbian 靈樞新編«, »Waijing wei­yan 外經微言«, »Bencao xinbian  本草新編«, »Zangfu jingjian 臟腑精鑒«, »Maijue chan-

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kommt, dass seine Schriften im Gewand der Polyphonie auftreten, und zwar nicht nur wegen der expliziten oder impliziten Präsenz von Unsterblichen und Freunden, Verwandten, Gönnern und Vorwortschreibern, sondern insbesondere auch wegen der vielschichtigen Bezüge zu medizinischen und philosophischen Klassikern bzw. auch zu Lehrmeinungen, die während seiner Lebenszeit keineswegs zur kanonisierten medizinischen Literatur gehörten.

Fragmente eines Kanonisierungsprozesses

Das Shishi milu 石室秘錄 (Geheime Aufzeichnungen aus dem Steinzimmer) ist als einziges der Werke von Chen Shiduo in der kaiserlichen Literatursammlung Siku quanshu  四庫全書151 (Vollständige Werke der Vier Schatztruhen) erwähnt. Diese wurde zwischen 1773 und 1783 kompiliert und gilt bis heute als unübertroffen in ihrem Anspruch auf Vollständigkeit sowie auf höchste philologische Sorgfalt.152 Das Shishi milu finden wir im Siku quanshu an insgesamt drei Stellen, und zwar erstens im Wenxian tongkao 文獻通考,153 einem enzyklopädisch angelegten Sammelwerk, das als Ganzes in die kaiserliche Literatursammlung aufgenommen worden war  ; zweitens im Huangchao Tongzhi 皇朝通 志, ebenfalls ein Referenzwerk.154 An beiden Stellen figurieren nur Autor, Titel wei 脈訣闡微«, »Shishi milu  石室秘錄«, »Bianzheng lu 辨證錄«, »Bianzheng yuhan 辨證玉 函«, »Liu qi xinbian  六氣新編«, »Waike tongtian aozhi 外科洞天奧旨«, »Shanghan si tiaobian 傷寒四條辨«, »Yingru zhneng zhi  嬰孺證治«, Shang feng zhimi 傷風指迷«, »Lidai yishi 歷代 醫史«, »Jishi xinfang 濟世新方«, »Qiong ji milu 瓊笈秘錄«, »Huangting jing zhu 黃庭經注«, »Meihua yishu 梅花易數«. Vgl. CQS, 1137. 151 In der westlichen Sinologie gemeinhin als Enzyklopädie bekannt. Zur Schwierigkeit und Missverständlichkeit der Übersetzung »Enzyklopädie« siehe die Ausführungen in Kapitel V vorliegender Arbeit. 152 Siehe hierzu eingehend Kaderas 1998, 45–50. 153 Vgl. Huangchao Wenxian tongkao 皇朝文獻通考, juan 229. Es handelt sich hierbei um eine Weiterführung eines Sammelwerkes, namentlich des songzeitlichen (10. Jh.) Wenxian tongkao 文獻通考 aus der Feder von Ma Duanlin 馬端臨, einer staatspolitisch orientierten Enzyklopädie, deren bibliographischer Teil einen Bücherkatalog (bis zum Beginn der Yuan-Zeit [13. Jh.] weitgehend vollständig) mit kurzen Beschreibungen enthält. 154 Vgl. Tongzhi 通志, juan 102. Auch hierbei handelt es sich um eine Weiterführung (bzw. qingzeitliche Version) eines songzeitlichen umfangreichen Referenzwerkes, dessen Autor Zheng Qiao 鄭樵 von 1104–1162 lebte. Das bis dahin gültige Klassifikationssystem der vier Kategorien (»kanonische Schriften«, »Geschichtswerke«, »Schultraditionen« und »Literatursammlungen«) wurde in der Qingzeit um acht neue Kategorien ergänzt. Siehe hierzu eingehend Kaderas 1998, 25.

Fragmente eines Kanonisierungsprozesses  

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und übereinstimmend Anzahl der (sechs) Bände bzw. Kapitel (juan 卷). Die dritte Stelle findet sich im Katalog (zongmu 總目) der kaiserlichen Literatursammlung. Hier stoßen wir zusätzlich auf eine bewertende Einschätzung des Werkes155  : Die Frage nach der Herkunft des Werkes beantworten die Kompilatoren auf der Grundlage der Vorworte, d. h. sie referieren die »Geschichte« von den Unsterblichen Qi Bo und anderen, die im Jahre Kangxi ding ang 康熙丁卬 (d. i. 1687) in Beijing Chen Shiduo persönlich die Heilmethoden übermittelt hätten. Die Struktur des Werkes sei ungewöhnlich (guiyi 詭異), zumal die Einteilung eines medizinischen Buches als Aneinanderreihung von 128 Behandlungsmethoden (fa 法) gänzlich unüblich sei. Dabei werden sie der Möglichkeit nicht gerecht, dass Chen Shiduo ein handliches Lehr- und Nachschlagewerk in Umlauf bringen wollte. Die Zurückhaltung Chen Shiduos Werken gegenüber erscheint als eindeutig politisch motiviert. Es ist bekannt, dass die Kompilatoren des Siku quanshu dazu angehalten waren, keine Werke sowie Äußerungen in Werken, die auch nur im entfernten Sinne mandschu-feindliche Züge trugen, und somit auch Werke aus früheren Zeiten, in denen Ausdrücke wie yidi 夷狄 (Barbaren) vorkamen, in die kaiserliche Literatursammlung aufzunehmen bzw. wenn, dann nur in zensierter Form.156 Hierin ist auch mit hoher Wahrscheinlichkeit der Grund dafür zu finden, dass keines der übrigen Werke von Chen Shiduo, insbesondere nicht das Bianzhenglu,157 aufgeführt ist. Es stellt sich die Frage, warum Chen Shiduos Schriften hingegen in der Enzyklopädie Gujin tushu jicheng 古今圖書集成 (1726) häufig und an signifikanten Stellen erscheinen158, denn auch die Kompilatoren des Gujin tushu jicheng waren orthodoxe Vertreter der neokonfuzianisch ausgerichteten Staats- und Morallehre. Hier könnte der Verweis darauf, dass viele der Kompilatoren des 155 Vgl. SKQS zongmu, juan 103. 156 Beredte Beispiele dafür liefert zuletzt van Ess 2002, 335–646. 157 Insbesondere die frühere Fassung des Bianzheng lu, das Bianzheng qiwen, birgt eine Reihe von deutlich politischen Anspielungen. Siehe hierzu eingehend in Kapitel V. 158 Chen erscheint an insgesamt 141 Stellen, die sich gänzlich in der Subkategorie yishu 醫部 (Medizin) in der Kategorie yishu 藝術 (Künste und Berufe) der Hauptkategorie Künste und Wissenschaften (bowu 博物), und hier wiederum unter verschiedenen Subkategorien wie beispielsweise »Emotionen« (qingzhi men 情志門) und »Wahnsinn« (diankuang men 癲狂 門), »Geschwüre« (jumen 疽門) Hinfallkrankheiten (xianmen 癇門) sowie auch unter »Hitzekrankheiten bzw. Epidemien« (wenyi men 瘟疫門) finden lassen. Alle betreffenden Passagen sind dem Shishi milu entnommen. Vgl. GJTSJC [1726] juan 321, 1988, Bd. 42–46, juan 341, 54737–54749.

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Gujin tushu jicheng aus Shaoxing, dem Heimatort des Chen Shiduo, stammten,159 eine Erklärung liefern. Außerdem stammt das Gujin tushu jicheng aus dem frühen 18. Jahrhundert. Erst 50 Jahre später kam die politische Zensur in der Härte zum Tragen, wie sie das Projekt der kaiserlichen Literatursammlung der Qianlong Ära (1736–1796) repräsentiert. Chen Shiduo war jedenfalls in den Augen der Kompilatoren des Siku quanshu politisch nicht korrekt. So musste es den Kompilatoren gerade recht kommen, auch in anderer Hinsicht Chen Shiduos Werk missbilligen zu können. Wenn die Referenten des Siku quanshu betonen, dass [die Praxis] »Vorworte unter fremden Namen zu schreiben« unter den »Magiern und Heilern« (fangshu jia 方術家) verbreitet sei,160 dann machen sie damit deutlich, dass das Werk nicht dem Bereich Medizin bzw. Gelehrtenmedizin (ruyi 儒醫) zuzurechnen sei, sondern eher »esoterischen« und »heterodoxen« Praktiken.161 Einige Vorworte zum Shishi milu waren tatsachlich mit den Namen der unsterblichen »Informanten« unterschrieben. So ist zum einen die Art, in der sich Chen präsentiert und legitimiert, den Kompilatoren offensichtlich ein Dorn im Auge.162 Zum anderen zeigten sie sich besorgt über die Nähe zur Heterodoxie. Fangshu 方術 163 umfasste nämlich Praktiken und Techniken, die niemals frei waren vom Verdacht auf Zauberei, Aberglaube und »Kurpfuscherei«. Dieser Verdacht war gespeist von Angst, und zwar nicht nur auf der Ebene des kleinen familiären oder dörflichen Kontextes, sondern auch auf der staatspolitischen Ebene. Die fangshu-Praktiken gründeten in einem Wissen, dem der Anspruch auf die Kenntnis von gewaltigen Kraftfeldern implizit war. Fangshu umfasste alles, was 159 Siehe Cole 1986, 10 und 111. 160 Die Arzneimittelheilkunde ist schon sehr früh mit daoistischen Lehrinhalten assoziiert, wohingegen die Akupunktur zumindest in ihren Anfängen eher mit konfuzianisch-legistischer Weltanschauung verknüpft gewesen zu sein scheint. Vgl. hierzu Unschuld 2006, 2. 161 Zu diesbezüglichen gesetzlichen Vorgaben siehe Unschuld 1977, 353–386. 162 Vgl. SKQS zongmu, juan 105. 163 Unter fangshu sind Fähigkeiten vielfältiger technischer, divinatorischer, heilerischer Art gemeint, die zu bestimmten Zeiten und in sozialpolitischen Zusammenhängen hochrelevant für die Aufrechterhaltung, oder auch für die Ablösung von Macht angesehen wurden. Siehe hierzu DeWoskin 1983, 1f. Zu der vergleichsweise starken Verbindung von fang-(Techniken) zu daoistischen Sichtweisen während der Han-Zeit (202 v. Chr.–220 n. Chr.) siehe Kohn 1996, 52–54. Unter fangshu ist häufig auch einfach die »Kunst/Kenntnis des Erstellens von Rezepturen« gemeint gewesen. Man denke etwa an den Titel Yifang kao 醫方考 (1584) von Wu Kun 吳崑 (1551–1620). Bei Chen Shiduo selbst erscheint der Begriff »fangshu« allein in den Leseanleitungen zum Bianzheng lu, wo Chen seinem eigenen Großvater gute Kenntnisse im Erstellen von Rezepturen (fang) bescheinigt. Schamanistische Praktiken wurden zur späten Kaiserzeit als wu 巫 bezeichnet. Vgl. hierzu Sutton 2004, 224.

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mit der Deutung des Himmels (der Sterne  : Astronomie), der Erde (fengshui 風 水) sowie deren Bezügen zum Menschen zu tun hatte, d. h. Techniken zur Bestimmung von Krankheiten, zur Vorherbestimmung des Schicksals, aber auch Aspekte der Erstellung von Arznei-Rezepturen (fang 方). Die Kenntnis von den Zusammenhängen zwischen Mensch und Kosmos galt als Schlüssel zu »Gesundheit« (Ordnung und Ausgleich, Balance, Harmonie) und Integrität. Deshalb stehen die fangshu im Zentrum des Misstrauens der Fremdherrschaft. Halten wir uns an die Sprache der Siku quanshu-Referenten des späten 18. Jahrhunderts, dann ist der Ort, an dem fangshu figuriert, mit Sicherheit nicht im Zentrum der Medizin-Kunst (yishu 醫術) zu finden  : Diese wird vielmehr von den Kompilatoren des Siku quanshu unter direktem Verweis auf Zhu Zhenheng 朱震亨 (1281–1358) definiert, der als ruyi 儒醫 (Gelehrtenmediziner) in diverse Biographiesammlungen der Dynastiengeschichten Eingang gefunden hatte.164 Medizin-Kunst (yishu 醫術) erscheint hier im Rahmen der neokonfuzianisch orientierten Forderung nach Gelehrsamkeit und Erweiterung des Wissens (gezhi 格致) als integraler Bestandteil, wenn nicht sogar als Instrument zur Erlangung des höchsten anzustrebenden Zieles, nämlich ein Edler (junzi 君子) zu werden. Die Medizinkunst (yishu) wird bei Zhu Zhenheng somit eng mit Gelehrsamkeit und der entsprechenden Ausrichtung des Herzens verknüpft  ; mehr noch, die Kenntnis und Ausübung der Medizinkunst erscheint als Fach bzw. als Instrument zur Erlangung von Gelehrsamkeit und Erweiterung des Wissens. Wenn die Kompilatoren des Siku quanshu in dieser Hinsicht allein auf Zhu Zhenhengs Anstrengungen verweisen,165 dessen Lebenszeit immerhin schon vierhundert Jahre zurücklag, so bedeutet dies nicht notwendigerweise, dass es seit dem 14. Jahrhundert keine nennenswerten Anstrengungen zur »Etablierung« der Medizin als Instrument zur Erweiterung des Wissens und somit zur moralischen Vervollkommnung des Menschen gegeben hätte. Allein, die Prozesse der Popularisierung und »Professionalisierung« der Medizin waren im 18. Jahrhundert, als das Siku quanshu kompiliert wurde, nicht abgeschlossen, und der Fokus auf Zhu Zhenheng166 hinsichtlich der »wahren« Medizin-Kunst kann als Griff nach einem »sicheren Anker« im Gestrüpp der zahllosen medizinischen Schriften, die während des 16. und 17. Jahrhunderts im Umlauf waren, angesehen werden. 164 Vgl. Siku quanshu, zongmu, juan 103, zibu 13, yijilei. Siehe auch Rall 1970, 70. 165 Siehe Siku quanshu, zibu, yijialei, Gezhi yulun, tiyao. 166 Seine Stellung als Vorvater der mingzeitlichen Medizin war hier möglicherweise (noch) nicht reflektiert. Vgl. Rall 1970, 70.

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Anhand der Bewertungen des Shishi milu und anderer Werke, die Chen Shiduo zugeschrieben werden, lassen sich in amtlichen und privaten Bücherkatalogen aus den vergangenen Jahrhunderten durchgängig Spuren dieses spezifischen Misstrauens ausmachen  : Angefangen beim Siku quanshu bis hin zu der eher ambivalenten Sicht im Bücherkatalog Wanjuan jinghualou cangshu ji 萬 卷精華樓藏書記167 des Geng Wenguang 耿文光 (1833–1908), worin neben dem generellen Skeptizismus gegenüber allen Methoden des Beschwörens und Besprechens (zhoufu 咒符)168 jedoch auch die Sicht vertreten wird, dass diese Methoden für leichtere Krankheiten wirksam seien. Allerdings sei äußerste Vorsicht geboten vor Hexen und Zauberinnen nüwu 女巫. 169 Der Zusammenhang »Medizin« und »Heterodoxie« wird im 17. und 18. Jahrhundert zu einer realen Größe, erfährt er doch zu Kangxis Zeiten (im späten 17. Jh.) juridische Ausprägungen  : Ausübende »falscher Praktiken«, wozu Zauberkraft bzw. Magie (yao 妖) explizit gehörten, im medizinischen Feld werden seit dem späten 17. Jahrhundert gesetzlich geahndet.170 So interessiert im 19. Jahrhundert immer noch die Frage, ob Chen Shiduo Wahrsagerei (fuji 扶乩)171 angewandt habe oder nicht  ; und man entscheidet sich für die Ungewissheit. Dass das Shishi milu im Siku quanshu überhaupt als Titel erscheint,172 wurde mitunter mit der Beliebtheit dieses Werkes in der Bevölkerung (auch 167 Dieser Bücherkatalog wurde in den 1930er Jahren erstmals gedruckt, stammte aber aus der Zeit um die Jahrhundertwende. Der Eintrag bezieht sich auf das Dongtian aozhi (1694). Vgl. die Ausgabe aus 1993, juan 81, 689–690. 168 Vgl. die dahingehenden Äußerungen auch bei Zhang Jiebin 張介賓 (1563–1640), Leijing 類 经 [1624] 1983, 247. 169 Im Falle schwerwiegender Krankheiten gesteht er diesen Methoden keine Aussicht auf Erfolg zu. Die Kritik richtet sich grundlegend gegen die nüwu 女巫 (Zauberinnen), die über keine Kenntnisse der Leitbahnen verfügten und aufs Geratewohl stechen, und so aus einem kleinen Problem ein großes machen würden. Vgl. Wanjuan jinghua lou cangshuji, juan 81, 690. 170 Der Zusammenhang von Medizin und Zauberei (yao 妖) wird in den Werken von Chen selbst thematisiert, und zwar im Sinne einer Distanzierung davon. Diese Distanzierung ist in Zusammenhang mit der herrschenden Angst vor Zauberei, die sich dann unter Kangxi in Form von Verordnungen gegen alle, die sich in unrechter Weise medizinisch betätigten, richteten, d. h. insbesondere gegen »Schamanen-Heiler« (wu 巫) und Zauberer (shiwu 師巫). Vgl. Xue Yunsheng [1905], 1970, vol. 2, 91–95. Siehe auch Unschuld 1977, 353–386. 171 Gemeint ist hier Wahrsagerei durch »in den Sand gekritzelte Zeichen«, eine Form von »planchette«. Vgl. Zhengtang dushu ji [buyi 補逸, juan 121, 543] 1993, 496. Eine ausführliche Beschreibung von fuji findet sich im 7. Kapitel des Rulin waishi 儒林外史, [1740] von Wu Jingzi 吳敬梓 (1701–1754), 1979, 53–54. 172 Vgl. den annotierten Bücherkatalog Zhengtang dushu ji, worin [buyi 補逸, juan 121, 543] 1993, 496, das Shishi milu in 6 juan, und zwar die Xuanyong tang 萱永堂- Ausgabe aus dem

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in der gebildeten Elite) erklärt. So will es jedenfalls Zhou Zhongfu 周中孚 (1768–1831)173, der Autor des späteren Bücherkataloges Zhengtang dushuji 鄭 堂讀書記174, sehen, wenn er zwar ins Feld führt, dass das Shishi milu ungewöhnlich strukturiert sei und keinerlei Angaben zu Puls-Diagnose und Krankheitsursachen mache, doch »dass die Menschen [diese Rezepturen] vertrauensvoll anwendeten und [dass diese Anwendung] mitunter auch Wirkungen zeigte, das ist nicht zu erklären.«175 Diese Zeilen können als Replik auf die einige Jahrzehnte vor dem Erscheinen des Zhengtang dushuji verfassten missbilligenden Urteile vonseiten der Siku quanshu-Kompilatoren gelesen werden.176 Dafür spricht auch die Tatsache, dass Chen Shiduo in der Enzyklopädie Gujin tushu jicheng (1726) häufig erwähnt und zitiert wird und in der kaiserlichen Literatursammlung (1782) ebenfalls erscheint. Dies kommt einer offiziellen Würdigung, wenn nicht gar Kanonisierung gleich.

Jahre 1730. Beide Neuauflagen im späten 20. Jahrhundert (d. h. 1991 und 1998) sind Nachdrucke dieser Ausgabe. Ausgaben des Xuanyong tang-Druckes finden sich allein in Beijing in vier verschiedenen Bibliotheken  : in der Beijing tushuguan 北京圖書館, in der Zhongguo kexueyuan tushuguan 中國科學院圖書館, in der Beijing daxue tushuguan 北京大學圖書 館, sowie in der Zhongguo zhongyi yanjiuyuan tushuguan 中國中醫研究院圖書館. Außerdem finden sich Ausgaben dieses Druckes in der Provinzbibliothek von Shandong (in Jinan), in Bibliotheken in Taiyuan 太原, in Lanzhou 兰州, in Shenyang 沈阳, Ha’erbin 哈尔滨, Shanghai 上海, Nanjing 南京, Hangzhou 杭州, Nanchang 南昌 sowie in Chengdu 成都. Vgl. hierzu QGLM, # 332. Siehe die neue Edition von Liu Changhua 柳長華, CQS, 1999. 173 Vgl. Zhengtang dushuju [buyi 補逸, juan 121, 543] 1993, 496. 174 Der zweite private Bücherkatalog, in welchem wir das Shishi milu verzeichnet finden, ist das Fan shu ouji 販書偶記 (1936), wo ein Manuskript aus dem Jahre 1690 und außerdem die Druckausgabe der Xuanyong-Halle 萱永堂 vom achten Yongzheng-Jahr 雍正, 八年 (1730) aufgeführt ist. Vgl. das erweiterte Fanshu ouji xubian,子部 zibu, 1999, 356. Während das Shishi milu nur in der erweiterten Ausgabe dieses Bücherkataloges aufgeführt ist, findet sich das Bianzheng lu sowohl im Fanshu ouji [1936] 1999 u. 1984, 229 als auch im erweiterten Katalog 1999, 129, im Vergleich etwa zu den übrigen Werken des Chen Shiduo. Das Bianzheng lu beispielsweise ist allein im Fanshu ouji aufgeführt. Wenn das Fanshu ouji tatsächlich erst aus dem Jahre 1936 stammt, dann bedeutet dies, dass das Bianzheng lu zu dieser Zeit nicht mehr als politisch inkorrekt angesehen worden ist. Außerdem erscheint es im Referenzwerk Huangchao jingjizhi 皇朝經籍志. Dabei handelt es sich um die Weiterführung (d. i. die qingzeitliche Ausgabe des) Bücherkataloges Jingjizhi  經籍志 im Suishu, worin die Bücher-Titel der Han-, Wie- und Liuchao-Zeit aufgeführt sind, die z. T. nicht mehr erhalten sind. Vgl. juan 4, zibu 子部, yijia lei 醫家類, 6 b. in Sanchangwuzhai congshu 三長物齋叢書, Vol. 14–15. 175 Vgl. Zhengtang dushu ji, 補逸, juan 21, 496. Im Yiquan chubian 醫权初編 von Wang Sanzun 王三尊 (fl. 1721) wird der Verdacht geäußert, dass das Shishi milu eine Abschrift aus dem Yiguan 醫貫von Zhao Xianke 趙縣可sei. Vgl. hierzu Kapitel V in der vorliegenden Arbeit. 176 Zhou hat sich an die Einträge im Siku quanshu gehalten.

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Als das Shishi milu 1999 seine bislang letzte Neuauflage erlebte, hatte es bereits an die fünfzig Druckauflagen177 hinter sich. Die Xuanyong tang 萱永 堂 Druckausgabe von 1730 ist die früheste vollständig erhaltene Druckausgabe, weshalb diese auch als Grundlage der wiederholten Faksimile-Ausgaben gedient hatte. Sie ist auch die Grundlage der dieser Arbeit zugrunde liegenden beiden Ausgaben.178

Form und Inhalt des Shishi milu 石室秘錄

Das Shishi milu sucht in Form und Stil die Nähe zu gesellschaftspolitisch relevanten Schriften bzw. Klassikern. Der Autor betont, dass es sich bei seinen Texten durchgehend um Bücher (shu書) handele und keineswegs um Erzählun­gen (shu 述)179. Diese Unterscheidung muss im Lichte der gesteigerten Wettbewerbssituation unter Verfassern medizinischer Lehr- und Handbücher gesehen werden. Parallel dazu findet sich etwa unter Verfassern historischer Dokumente (zhanggu 掌故) die vehemente Abgrenzung gegenüber Verfassern gemischter Aufzeichnungen privater Natur (yeshi 野史).180 Bei Chen Shiduo wird das Bemühen um Anerkennung durch die zeitgenössische Gelehrtenschaft allein schon durch die Einteilung in sechs Kapitel juan (Rollen) deutlich,181 die über177 Zu den Druckhäusern, die das Shishi milu gedruckt haben, gehören Jingyuansheng 經元升, Bencheng tang 本澄堂  ; Mingde tang 明德堂  ; Sanyuan tang 三元堂  ; Jinyu lou 金玉樓 sowie die Qingyun lou 青雲樓  ; Chongwen tang 崇文堂 und Jinghua tang 菁華堂. Zwischen 1875 und 1908 ist eine zusätzliche Ausgabe des Shishi milu zusammen mit dem Dongtian aozhi erschienen. Seit 1912 gibt es eine Reihe von Lithographien (Steinabreibungen). Mehrere Ausgaben entstanden auch nach 1949. Vgl. QGLM, # 04993. 178 Eine Faksimile-Ausgabe des Xuantong-Druckes (1730). In der vorliegenden Arbeit aber wird durchgängig die Reprint-Ausgabe in der CQS benutzt. 179 Vgl. Eigener Prolog zum Bianzhenglu, CQS, 696. Die Erzählung galt im chinesischen historischen Kontext nicht als eigenes, abgegrenztes literarisches Genre. Siehe hierzu Plaks 1977, 312. 180 So etwa bei Xu Bingyi 徐秉義 (1633–1711), einem Zeitgenossen Chen Shiduos, dem es in Bezug auf die Ereignisse des Ming-Qing-Übergangs darum ging, peinlichst genau nachzuforschen, wer unter welchen Umständen während dieser Zeit gestorben ist. Siehe hierzu Struve 1998, 336. 181 Vgl. SKQS, Jibu 集部 6, 別集類 5. Im ersten juan (liji) finden sich kaiserliche Edikte, Trauerreden, Lob- und Gedenkreden. Im leji und sheji Rohschriften/Entwürfe. Im yuji und shuji finden sich knappe Abrisse über Regierungsämter sowie Musikinstrumente. Im Shuji sind »Hausverordnungen« und Regelungen aufgeführt. Im yulu (aufgezeichnete Aussprüche, Zitate), Verse und Gedichte. Vgl. SKQS, Jibu 集部 6, 別集類5.

Form und Inhalt des Shishi milu 

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einstimmend mit den traditionellen »Sechs Künsten« (liu yi  六藝) überschrieben sind  : Ritual (li 禮), Musik (yue 樂), Bogenschießen (she 射), Wagenlenken (yu 御), Geschichte (shu 書), Mathematik (shu 數), wie sie erstmals im Zhouli 周禮 (Riten der Zhou) aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert182 figurieren. Unter diesen »Sechs Künsten« finden wir die insgesamt 128 Behandlungsmethoden subsumiert, ohne dass ein inhaltlicher Zusammenhang zwischen den Überschriften und den jeweils dargelegten Methoden auszumachen ist. Dass diese Vorgehensweise in seiner Zeit nicht gänzlich ungewöhnlich gewesen ist, zeigt das Zhang Zhuangxi wenji 張莊僖文集 des Zhang Yongming 張永 明 (1609)183, das genau die gleiche Anordnung aufweist. Zwar handelt es sich dabei nicht um ein medizinisches Werk, doch das Anliegen des Autors, als Beamter für Ruhe und Ordnung zu sorgen,184 lässt sich ohne weiteres ebenfalls in Chen Shiduos medizinischem Entwurf nachweisen, wo es letztlich ebenfalls um die (Wieder-)Herstellung von Ordnung geht. Doch gleichzeitig verweist die Anlage des Shishi milu auf etwas, was so noch nicht dagewesen war  : Während Ärzte ihre Schriften bislang nach Inneren Schädigungen, Äußeren Schädigungen, Windkrankheiten, Kinderheilkunde, Frauenheilkunde anordneten, strukturiert Chen Shiduo sein Werk, indem er 128 Behandlungsmethoden aneinanderreiht. Diese Strukturierung scheint aus einem Impetus erwachsen zu sein, der neben der schnellen Umsetzbarkeit in dringlichen Situationen auch das schnelle, unkomplizierte Erlernen medizinischer Handlungsweisen ermöglichen will. So dürfen wir das Shishi milu als beredtes Zeugnis des Popularisierungsprozesses der Gelehrtenmedizin (ruyi) ansehen. Außerdem lassen sich in der Aufeinanderfolge der 128 Behandlungsmethoden eine binär angelegte Strukturierung erkennen  : Zum Beispiel folgt auf die »rechte Heilmethode« (zheng yifa 正醫法) die »zuwiderhandelnde Heilmethode« (fan yifa 反醫法)  ; auf die »entsprechende Heilmethode« (shun yifa 順醫 法) die »gegenläufige« (ni yifa 逆醫法)  ; auf die »Heilmethode für Lebendige« (sheng yifa 生醫法) die »Methode für [Schein-]Tote« (si yifa 死醫法)  ; auf die 182 Dabei handelt es sich um die Beschreibung eines fiktiven Beamtenapparates bzw. um ein Zeremonial-Handbuch. 183 Dieses Werk ist im Siku quanshu vollständig abgedruckt. 184 So wird der eben erwähnte Gouverneur, Zhang Yongming, von den Kompilatoren des Siku quanshu für seine Strenge und Unparteilichkeit sowie für seine vorbildliche Verfolgung von Unrecht und Verbrechen gepriesen Die Kompilatoren betonen außerdem die Einfachheit der Ausführungen, die auf jede unnötige »Gekünsteltheit« verzichten Vgl. SKQS, Jibu 集部 6, 別集類5. Zu den Aufgaben und Pflichten eines Beamten im späten 17. Jahrhundert existiert eine ausführliche Beschreibung aus 1699. Siehe Liuhong Huang [1699] 1984.

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»ganzheitliche Methode« (wan yifa 完醫法) folgt die »Methode des Aufbrechens bzw. Zertrümmerns [einzelner Teile und Stellen]« (sui yifa 碎醫法)  ; auf die »Methode des Therapierens bei Tage« (ri zhifa 日治法) folgt die »Therapie­ methode während der Nacht« (ye zhifa 夜治法)  ; auf die »Therapie des Qi« (qi zhifa 氣治法) folgt die »Therapie des Blutes« (xue zhifa 血治法)  ; auf die »Therapie der zang-Organsysteme« (zang zhifa 脏治法) folgt die »Therapie der fu-Organsysteme« (fu zhifa 腑治法)185, etc. Je nachdem, ob es sich um einen Armen oder einen Reichen handelt, ob es sich um jemanden aus dem Süden oder jemanden aus dem Norden handelt, ob eine schnelle Therapie vonnöten ist, ob die Behandlung im Liegen oder im Sitzen erfolgen soll – Chen ordnet das Wissen nach den entsprechenden Methoden. Hinter der Kategorisierung der jeweiligen Abschnitte als (Behandlungs-) Methoden (fa 法) verbergen sich jeweils unterschiedliche Krankheitsbilder bzw. -beschreibungen, denen spezifische Diagnoseverfahren und Therapiediskussionen sowie Rezepturen zugeordnet sind. Dabei fällt auf, dass der Autor unter den konventionellen medizinischen Konzeptionen großen Wert auf die Fünf-Wandlungsphasen-Lehre (wuxing 五行)186 legt, während ihm an der Puls-Diagnose offensichtlich überhaupt nicht gelegen ist. Letzteres wurde ihm gerade von den Kompilatoren der kaiserlichen Literatursammlung zum Vorwurf gemacht, weil die Pulsdiagnose bislang im Zentrum der Gelehrtenmedizin stand. Die Methoden sind nicht in Form von Fallgeschichten (yi’an 醫案) dargelegt, wie sie seit der späten Ming-Zeit in Umlauf sind. Doch sind sie durchgängig mit Fallbeispielen unterlegt, die auch im Sinne von systematisierten Fallgeschichten gelesen werden könnten. Im fünften Kapitel der vorliegenden Arbeit wird die Rhetorik dieser Fallbeispiele in den Blick genommen werden. Soviel zu Form und Inhalt des Shishi milu. Von seiner »spezifischen« Einordnung in eine medizinische Genealogie wird in Kapitel V die Rede sein. Bevor auf die Textgeschichte der anderen extanten Werke des Chen Shiduo einzugehen ist, soll an dieser Stelle noch einmal der Titel des Shishi milu 石室秘 錄 (wörtlich  : Steinzimmer-geheime Aufzeichnungen) in Augenschein genommen werden. Er spielt auf zweierlei an  : zum einen auf das Shishi jinkui 石室金 匱 (Steinzimmer-Goldtresor), auf das sich Sima Qian 司馬遷 (145–85 v. Chr.), der sogenannte Vater der chinesischen Historiographie, beruft, weil er darin die »Urtexte« der Alten aufbewahrt sieht. Daraus habe er sein Geschichtswerk 185 Zu den Organen bzw. Organsystemen siehe das fünfte Kapitel. 186 Siehe hierzu das Kapitel V.

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geschöpft und für die Nachwelt überliefert. Zum anderen verweist die Steinhöhle auf den Ort, wo die Unsterblichen wohnen, wie z. B. die Königinmutter des Westens (Xiwangmu 西王母), die im Kunlun-Gebirge in einer Steinhöhle lebt.187 Mit dem Verweis auf die Unsterblichen befinden wir uns im Feld der »Lebenspflege« (yangsheng 養生), der Medizin und des Religiösen. Das Steinzimmer  石室 (shishi) im Titel des Shishi milu ist also keine Erfin­ dung von Chen Shiduo, zumal dieses Kompositum während des 17. Jahrhun­ derts geradezu in Mode gekommen war,188 insbesondere für alle jene, die Außerordentliches zu vermelden oder zu verheimlichen hatten  : Das Kompositum »Stein-Zimmer« (shishi 石室) als etwas, was beispielsweise im Falle von Shishi michao 石室秘抄 vornehmlich auf »Steingravierungen« verweist bzw. auf Gedenktafeln, die sich häufig am Fuße von Bergen, an Bergpfaden sowie in und an Tempeln befanden.189 Das Steinzimmer findet sich in geographischen Beschreibungen ausgekundschaftet. Es wird gesucht und gefunden, an Berghängen sowie am Fuße von Bergen, wo sich auch Weise und Unsterbliche niederlassen. Das Steinzimmer erscheint auch als Metapher für die Suche nach Nischen für »geschundene« Geister in gesellschaftspolitischer Hinsicht, z. B. bei Dynastienwechsel und veränderten Konditionen im Examenswesen. 187 Vgl. den Eintrag im HYDCD, 7, 989. 188 Neben der auffallenden Häufung dieses Begriffes in Buchtiteln, die allein im Siku quanshu auffindbar sind, finden wir ganze Abschnitte mit shishi 石室 als Titel in gängigen leishu 類 書 (Enzyklopädien) aus dem frühen 17. Jahrhundert. Vgl. etwa das Kompendium illustrierter Text Tushu bian, juan 67, 8a, wo beispielsweise eine Wegbeschreibung in Guangdong hin zu einem Steinzimmer am Berg dargelegt ist. Auch das Sancaitu beinhaltet in der Geographie-Sektion zahlreiche Karten, die entweder Ortschaften (beispielsweise Shimen 石 門 [Steintor]) beschreiben oder Berge und Hügel, an denen Heilige bzw. Unsterbliche anzutreffen seien. Der Stein (shi 石 bzw. shitou 石頭) ist im 17. Jahrhundert außerdem, vielleicht stärker noch als Blumen und Pflanzen, ein beliebtes Objekt der Sammelleidenschaft. Pu Songling 蒲松齡 (1640–1715) verweist in seinem viel gelesenen Liaozhai zhi yi 聊齋誌異 (Seltsame Geschichten aus Liaozhai) auf eine Reihe von Wortverbindungen, die alle um den Stein kreisen und zur Lebenszeit des Chen Shiduo offensichtlich gang und gäbe gewesen sind. So ist zum Beispiel von der Leidenschaft für Steine (hao shi 好石) die Rede, die in Obsession ausarten kann (shipi 石癖). Shi ist außerdem ein gängiger chinesischer Nachname, der auch im Liaozhai zhi yi vorkommt. Vgl. dazu Zeitlin 1993, 82–83. Auch erfahren wir aus dem Liaozhai zhi yi eine Fülle an Bedeutungsfärbungen in Beinamen, so etwa »Der Freund der Steine« (You Shi 友石) sowie »der himmlische Stein (Tian Shi 天石)«, als Quelle von qi 氣. Ferner bedeutet »Steinfreundschaft« (shiyou 石友) eine tiefe Freundschaft und der Ausdruck »Freundschaft aus Stein« (shijiao 石交) verweist auf eine Freundschaft, die so dauerhaft ist wie Stein. Vgl. Zeitlin 1993, 78–79. 189 Vgl. die entsprechenden Stellen im SKQS, zongmu, juan 177.

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Steinzimmer bergen Überlieferungen geheimer Natur – allein für Auserwählte zur Errettung der Welt von Kummer und Leid  : Löwenkopf-Höhlen/Grotten (shizi dong 獅子洞190 und Grotten des Höchsten Äußersten (taiji dong 太極 洞) bieten Adepten des dao/Weges (xue dao zhe 學道者) Raum zum Sitzen und Meditieren. Die Schriften bzw. Botschaften sind eingeschrieben in Stein (tishi 題石 ), und es kann vorkommen, dass der ganze Raum bzw. die Halle oder der Garten/Hof, in dem sich die Eremiten aufhalten, aus Stein (Shiyin yuan 石隱 園)191 besteht. Außerdem finden sich Buchtitel mit dem Verweis auf überlieferte Geheimnisse oder geheim überlieferte Merkverse aus dem Steinzimmer, wie im Falle von Shishi mijue 石室秘訣192, oder Handschriften aus dem Steinzimmer, Shishi michao 石室秘抄 bzw. Shishi michao 石室秘 鈔193, oder Bücher aus dem Steinzimmer, Shishi mishu 石室秘書.194 Im Titel Shishi milu verknüpft Chen Shiduo offensichtlich Sima Qians Redefigur vom »Steinzimmer als Aufbewahrungsstätte des Urtextes« mit der Aura der Geheimnisse der Unsterblichen. »Die geheimen Aufzeichnungen aus dem Steinzimmer« versprechen also die Offenbarung von bislang im Geheimen verborgenen Therapien, ja göttlichen Rezepturen (shenfang 神方), deren einzigartige Wirksamkeit aus dem Urgrund des Wissens um Heilung und Erlösung von Leiden stammt. Doch nicht einmal im Feld der »Medizin und Lebenspflege« ist Chen Shiduo der Erste, der diese Verknüpfung »Steinzimmer als geheime Verwahrungsstätte von außergewöhnlich wirksamen Rezepten« (shishi mifang 石室秘方) vornahm. Denn an die achtzig Jahre vor ihm tauchte sie bereits im Zhengzhi zhunsheng 證治準繩 (1602) des Wang Kentang 王肯堂 (1549–1613) auf, gewissermaßen als eine signifikante Markierung des 17. Jahrhunderts.195

190 Vgl. z. B. Tushu bian, juan 67, 15a–15b. 191 Beide Begriffe (tishi und shiyin yuan) erscheinen als Titel von Gedichten des Pu Songling. Siehe hierzu Zeitlin 1993, 249. 192 Vgl. SKQS, Chongwen zongmu 崇文總目 (Songzeitliche Bibliographie von Wang Yaochen 王堯臣 [1001–1056]), juan 9  ; Vgl. SKQS, Tongzhi 通志 (Songzeitliches Referenzwerk von Zheng Qiao 鄭樵 [1104–1162]), juan 67. 193 Vgl. SKQS, Zongmu, juan 177  ; SKQS, Xu Wenxian tongzhi 續文献通考 (Weiterführung der Qianlong-Kompilationen, deckt die Zeit von 1786–1911 ab), juan 162. 194 SKQS, Dili lei 地理類, juan 15. 195 Vgl. SKQS, Zibu 子部 (Schultraditionen) unter der Rubrik »Yijia lei 醫家類« (Ärzte), juan 99.

Bianzheng lu, Bianzheng qiwen und Bianzheng yuhan 

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Bianzheng lu 辨証錄, Bianzheng qiwen 辨証奇聞 und Bianzheng yuhan 辨証玉函

Drei Werke von Chen Shiduo führen den programmatischen Begriff bian 辨 (differenzieren, unterscheiden) im Titel. Überhaupt erscheint die Verwendungsweise von bian in medizinischen Werken des 17. Jahrhundert stark mit dem Namen Chen Shiduo verbunden, und es kommt nicht von ungefähr, dass der Boom, den Chens Œuvre im späten 20. Jahrhundert erlangt hat, zumindest teilweise mit der signifikanten Rolle von bian bei Chen Shiduo zusammenhing, denn nun diente es dazu, die TCM (Traditionelle Chinesische Medizin) von der Westlichen Medizin abzugrenzen. Nach wie vor figuriert bian in der VR China als eine Art Markenzeichen, als Terminus, der der TCM im Rahmen der Kanonisierungs- und Verkaufsstrategien Signifikanz und Identität verleihen soll  : Die TCM unterscheide/differenziere Krankheitssyndrome (bianzheng 辨症), die westliche Medizin orientiere sich an Krankheiten (bing 病). Im Grunde handelt es sich bei den drei im Titel dieses Abschnittes genannten Schriften um ein Werk  : Das Bianzheng lu 辨証錄 (Überlieferungen über das Differenzieren von Krankheiten), in 14 juan, ist die korrigierte und revidierte Fassung – in Form, Stil und Inhalt – des Bianzheng qiwen 辨証奇聞196 (Außergewöhnliches über das Differenzieren von Krankheiten) in 15 juan.197 Der in der vorliegenden Arbeit verwendete Druck des Bianzheng qiwen stammt aus dem Jahr 1763.198 Das Bianzheng yuhan 辨証玉函 (Jadene Schriften/Behälter zum Differenzieren von Krankheiten), in 4 juan199, wiederum ist eine Kurzfas196 Fertig gestellt wurde es frühestens um das Jahr 1687. Die heute existierende früheste Druckausgabe stammt aus dem Jahr 1763. Es enthält kein Vorwort, sondern nur einen Hinweis  : Shanyin, Chen Shiduo, ursprüngliches Manuskript. Vgl. CQS, 2. Weil auch dieses Werk deutliche Anspielungen auf die akuten Gefahren vonseiten Banditen bzw. Rebellen, aber auch unterschwellig auf die Qing-Dynastie (als Eindringlinge dargestellt, gegen welche Widerstand zu leisten sei) enthält, wurde das Werk nach Kangxi (1722) äußerst selten aufgelegt, weshalb man von einer Tabuisierung des Werkes sprechen kann. 197 Der früheste Holzplattendruck des Bianzheng qiwen wurde etwa 100 Jahre nach Fertigstellung der Handschrift herausgegeben (1763). Insgesamt wurde dieses Werk nur sechsmal neu gedruckt, wovon vier auf das 19. Jahrhundert fallen. Vgl. QGLM, # 04995. Man denke an die Literarische Inquisition unter Kaiser Qianlong in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts. 198 Abgedruckt in CQS, 483–689. 199 Das Bianzheng yuhan ist eine Kurzdarstellung (jianyao) des Bianzheng lu (mit einem Vorwort von Wang Zhice 王之策 aus Tiandu 天都 (Stadt des Himmlischen Meisters), demzufolge es 1693 fertiggestellt war). Vgl. CQS, 437. Die Druckausgabe stammt aus der Kangxi-Zeit (ohne genaue Jahresangabe und ohne Angabe des Druckhauses). Das Bianzheng yuhan enthält nur 75 Arten von Krankheitszeichen (zheng 証).

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Textgeschichte(n)

sung200 des Bianzheng lu, und ist am seltensten von den dreien verlegt worden. Das Vorwort von Wang Zhice 王之策201 zum frühesten erhaltenen Druck des Bianzheng yuhan stammt aus dem Jahre 1694.202 Das Bianzheng lu ist als einziges Werk des Chen Shiduo im Qingshi gao 清史 稿, dem Entwurf zur Dynastiengeschichte der Qing203 aufgeführt. Außerdem ist es im privaten Bücherkatalog Fanshu ouji 販書偶記 (1936) zu finden.204 Der Provinzgouverneur und spätere Zensor Nian Xiyao 年希堯 (gest. 1736)205 in Yuedong 粵東, dem heutigen Guangdong, hatte wesentlichen Anteil an der Verbreitung des Bianzheng lu. Nachdem er nämlich nach Yuedong beordert worden war, stellte er fest, dass es in diesen südlichen Gebieten zahlreiche klimatisch bedingte Krankheiten gab. Und, so berichtet Nian Xiyao, dass die Ärzte in dieser Provinz keine medizinischen Klassiker kannten, weil sie nur gewöhnliche Ärzte (yongyi 庸醫) seien, die keine Ahnung von richtiger Dosierung, keine Kenntnis von Diagnosemethoden, keine Ahnung von Ursache und Sitz von Krankheiten hätten. Deshalb sei es notwendig, das Bianzheng lu 辨証錄 (Überlieferung über das Differenzieren von Krankheiten) in Druck zu geben. Zwischen der handschriftlichen Fassung bzw. mehreren Fassungen und der frühesten existierenden Druckausgabe (1748) liegen somit etwa sechzig Jahre.206 Dementsprechend gilt auch hier  : Die primäre Textgeschichte ist nicht 200 Darauf verweist außerdem auch der Titel (Jade-Behälter), d. h. das Wertvollste (ausgewählt). 201 Seine Lebensdaten und -zusammenhänge sind nicht zu eruieren. 202 Abgedruckt in CQS, 437–480. 203 Vgl. Qingshi gao, 1928, zhi 志, juan 122 Yijia lei 醫家類  : »Bianzhenglu, Chen Shiduo, 14 juan.« Die Zahl (14 juan) verweist auf die Ausgabe aus der Yuyi tang 喻義堂 von 1747. Der früheste Holzplattendruck des Bianzheng lu stammt aus dem Jahre 1724. Herausgeber ist der damalige Provinzgouverneur von Guangdong, Nian Xiyao 年希堯 (gest. 1736). Dieser Druck ist nicht mehr erhalten. Die Druckausgabe, auf die sich alle späteren Nachdrucke beziehen, ist die Yuyi tang-Ausgabe von 1747. Vgl. auch Qingshi gao und das Fanshu ouji. Aus der Yuyi tang stammen im Übrigen auch andere medizinische Werke, wovon zumindest eines (Jiyan liangfang 集驗良方, 1759) erhalten ist. Vgl. hierzu www.kanji.zinbun.kyoto-u.ac.jp/ kanseki/. Ellen Widmer sei an dieser Stelle gedankt für diesen Hinweis. Dass die Einträge in die Medizin-Rubrik des Qingshi gao nicht ohne den Bezug zu Interessens- bzw. Fraktionenbildung im frühen 20. Jahrhundert zu lesen sind, steht außer Frage. Siehe hierzu auch Hanson 1997, 24–32. 204 Vg. Fanshu ouji [1936  ?] 1999 u. 1984, 229 als auch im erweiterten Katalog 1999, 129. 205 Nian Xiyao fungierte auch als Herausgeber anderer Werke aus dem späten 17. Jahrhundert, die er unter dem Titel Jingyan sizhong 經驗四種 herausgegeben hat. Vgl. QGLM, # 11633. Siehe seine Biographie im Qingshi liezhuan, juan 12, 854. 206 Im QGLM erscheint durchgängig das Jahr 1687 als Jahr der Fertigstellung der Manuskripte Bianzheng lu, Bianzheng qiwen sowie des Bianzheng yuhan. Dies geht auf eine Aussage in

Bianzheng lu, Bianzheng qiwen und Bianzheng yuhan 

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rekonstruierbar.207 Da das Bianzheng lu aus dem Bianzheng qiwen hervorging, ist allerdings – anders als im Falle des Shishi milu – ein Vergleich möglich, der Einblicke in Veränderungen am Text zulässt, die einzig aus politischen Gründen vorgenommen wurden. Im früheren Werk, dem Bianzheng qiwen springt die Analogie von Vorgängen im menschlichen Leib zu gesellschaftspolitischen Vorgängen ins Auge. Sie liest sich an manchen Stellen wie ein Kaleidoskop von leidvollen Erfahrungen in einer Zeit des Umbruchs, wozu wesentlich der von vielen Gelehrten als traumatisch wahrgenommene Dynastienwechsel gehört. Chen Shiduo war zur Zeit des Dynastienwechsels nicht einmal 20 Jahre alt. Es ist bekannt, dass so mancher Beamter sich aus Loyalität zum Ming-Herrscherhaus aus dem Staatsdienst zurückzog, um sich andererseits der, zumindest oberflächlich betrachtet, apolitischen Medizin zuzuwenden. Die Zwischenkadenzen, die sich im Rahmen des flüchtigen Vergleiches des Bianzheng qiwen, der »ursprünglichen« Fassung des Bianzheng lu, mit der späteren Fassung, dem Bianzheng lu, offenbaren, sprechen eine deutlich »politische« Sprache. Sie bergen aber noch den Keim von Veränderung bzw. zur Besserung der Verhältnisse, ja gar Verweise auf eine Rückführung der (Ming-)Herrschaft in sich  : Die Schilderungen etwa von »brandschatzenden und raubenden Banditen und Dieben, die in die Metropolen eindringen und nehmen, was sie bekommen können [und beim Anblick des Reichtums in den Metropolen] noch rasender und gewalttätiger werden«208 sind natürlich metaphorische Beschreibungen von körperlichen Vorgängen in der Yangming-Leitbahn,209 die, weil sie von jeher viel Qi und Blut in sich führt, eine besondere Angriffsfläche für die Grausamkeit von eindringendem Übel (xie 邪) bietet. Wenn solche Textpassagen der Revision zum Opfer gefallen sind, dann wegen der unterschwelligen Assoziation gewalttätiger Eindringlinge bzw. des eindringenden Übels mit den Mandschu, den neuen Herrschern. Eine andere, ebenfalls eliminierte Stelle aus dem »Nachfolgewerk« (Bianzheng lu) des Bianzheng qiwen verweist in expliziter Weise auf einen (potentiellen) Aufruhr durch Banditen (bzw. die Eindringlinge)  : Chens eigenem Vorwort zum Bianzheng lu zurück, wo er das Jahr Dingmao丁卯, d. i. das 4. Jahr des 60er Zyklus, also 1687, als das Jahr anführt, in dem er sich in Peking befand und er die medizinischen Lehren übermittelt bekommen habe. Vgl. CQS, 696. 207 Nian Xiyao erwähnt weder das Bianzheng qiwen (als die ursprüngliche Bianzheng lu) noch das Bianzheng yuhan als die Kurzfassung des Bianzheng lu. 208 Vgl. Bianzheng qiwen, juan 1, CQS, 485. 209 Im Original heißt es  : 蓋陽明多氣多血, 邪足恣其 凶橫, 如賊人通都大邑, 其搶掠之勢, 較窮 鄉僻壤 自不同, 所得之物, 足以供其跳梁. Vgl. Bianzheng qiwen, juan 14, CQS, 681.

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»In der Anfangsphase, wenn Räuber sich erheben, und sie sich zusammentun wie ein [loser] Krähenschwarm, so sind sie leicht zu vertreiben. Sind sie aber länger dabei, dann werden die Nester und Höhlen täglich größer, so daß man diese (Zusammenrottung) nicht an einem Tag zerschlagen wird können. Die Menschen erachten es als zu gering und sie beeilen sich nicht, zu kurieren. Wer begreift schon, dass eine (solch) kleine Sache in eine große umschlagen kann  !«210

Solch implizite Aufforderungen zu rechtzeitigem Handeln auf der körperlichen Ebene in Analogie zum dringlichen politischen Handeln – noch vor der Übernahme des Reiches durch die Fremdherrscher – finden sich an zahllosen Stellen in allen Werken des Chen Shiduo  : Es ist die Gefahr der Verletzung der Mitte, des Zentrums (zhongzhou 中州) durch von außen eindringende Übeltäter, die den Autor in seinem Selbstverständnis als ming-loyaler Gelehrter bestärkt und ihn gleichzeitig in seiner Betonung der Stärkung der Mitte (mingmen 命門) als grundlegende medizinische Perspektive auf das Kranksein überhaupt bestätigt. Besonders eindeutige Passagen sind in der revidierten Fassung nicht mehr zu finden, so etwa der Verweis auf die Zusammenballung von Rebellen und Banditen zu einem (Aufruhr-)Herd, den man keineswegs innerhalb eines einzelnen Tages beseitigen könne. In der später revidierten Fassung, dem Bianzheng lu, geht es beispielsweise im ersten juan um die Beschreibung von »Kälteverletzungen« (shanghan 傷寒), die sich entschieden nüchtern liest und auf den ersten Blick bar jeglicher politischer Anspielung ist  : Bei Kälteverletzung in den Herbstmonaten leide der Betroffene unter Fieber und Kopfschmerzen, Schweißausbrüchen und Durst. Die Menschen meinten, dies sei eine Krankheit der Taiyang [Leitbahn]. Wer wisse schon, dass [die Krankheit längst] vom Taiyang in [das Stadium/die Ebene] des Yangming gewandert ist. Wenn man den Yangming nur mittels Gange 乾葛 (Puerariae Radix, Pueraria-Wurzel)211-Abkochung therapiere, könne man die Kopfschmerzen nicht in den Griff bekommen.212 Wenn man den Taiyang nur mittels Mahuang-Abkochung (Ephedra-Abkochung) therapiere, komme es zu einem Schweißausbruch, der ebenso wenig wie der Durst zu stoppen sei. Es gäbe zwar viele Möglichkeiten der Ausformungen 210 Im Original heißt es  : 如賊初起, 烏合易出, 久則 巢穴日大,非朝夕可破,人多輕視不 急治,誰知小可變大乎. Bianzheng lu, juan 13, CQS, 989. 211 Diese Wurzel hat kühlende Wirkung und wird gegen inneres Feuer eingesetzt. 212 Im Original heißt es  : 冬月傷寒,發熱頭痛, 汗出口渴, 人以為太陽之癥也. 誰知太陽已趨 入陽明乎。若徒用乾葛湯以治陽明,則頭痛之癥不能除. Vgl. Bianzheng lu, juan 1, CQS, 701.

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der Krankheit. Insbesondere könne sie sich von einer leichten in eine schwere verwandeln. Bei der Behandlung sei es passend, den Yangming zu behandeln, und darüber hinaus (gleichzeitig) den Shaoyang zu therapieren. Warum  ? [Wenn] das Übel in den Yangming eindringt, so verbleibt es im Taiyang, allerdings ist da ein Rest des verstreuten Übels, das im Yangming sitzt. [Wenn] man also den Taiyang behandelt, dann verletzt [man] in Wirklichkeit den Taiyang. Deshalb darf man den Taiyang nicht behandeln. Vielmehr ist es passend, den Yangming zu behandeln. Der Yangming ist nämlich der Ort [in dem sich besonders] viel Blut und Qi ansammeln. [Wenn] das Übel in den Yangming fährt und es (das Übel) seine ganze Grausamkeit und Brutalität nach Belieben (xiongheng 凶横) entfaltet und außerdem das Blut und das Qi der Inneren Organe bedroht, dann lodert das Feuer ungeheuerlich [d. i. der Widerstand]. So verhält es sich auf diese Weise. Deshalb muss man große Dosen an kühlender Arznei verwenden. [Nur] so kann man zu Beginn die Brutalität und Gewalttätigkeit (hengbao 横暴) austreiben. Im Falle von Krämpfen, wobei die Muskeln zittern und die vier Gliedmaßen ungestüm und hart werden, begleitet von Fieber und Bauchschmerzen, gilt es für den Arzt ebenso wie im eben geschilderten Fall, den Ort der »Erschüt­te­ rung« auszumachen.213 Und während die Menschen fälschlicherweise annehmen, es handele sich um eine Kälteverletzung am Taiyin [Leitbahn], sind es in Wirklichkeit Krämpfe am Taiyin. Der Taiyin ist die Leitbahn der Milz und [wenn] die Milz-Erde unter Feuchtigkeit leidet, wie ist es da zu e­ rtragen, dass dieses Feuchtigkeits-Übel wieder Schwierigkeiten macht  ? Wenn die Feuchtigkeit in die Milz eindringt, so ist es am schwierigsten, diese Feuchtigkeit aufzulösen. Wenn die Feuchtigkeit [z. B.] sich verflüchtigt, aber dennoch immer noch an der Wurzel verbleibt, dann leidet man immer noch unter der Feuchtigkeit. Und falls die Krankheit noch zusätzlich mit Hitze auftritt und mit Wind, der sie [die Hitze, das Feuer] zum Lodern bringt, dann wird es auf natürliche Weise zu einer Revolte im Zentrum [man beachte die Analogie Mitte (Machtzentrum), Milz-Erde] kommen. 213 Im Original heißt es  : 邪入陽明留於太陽者,不過零星之余邪,治太陽反傷太陽矣。故太 陽不必治,宜正治陽明。蓋陽明為多氣多血之府,邪入其中,正足大恣其凶橫,而挾其 腑之氣血,為炎氛烈焰者,往往然也,故必須用大劑涼藥,始可祛除其橫暴也. Vgl. Bianzheng lu, juan 7, CQS, 844  ; 感濕熱之氣,復感風邪,發熱腹痛,肌肉顫動, 四肢堅急 人以為太陰之傷寒也,誰知是太陰之痙癥乎. 太陰者,脾經也,脾土濕土也。濕土何堪 濕邪之再犯乎?濕入於脾,最難分消。濕邪去而濕之根尚在, 一再感濕,仍如前濕之病 矣。況加熱以發其炎蒸,加風以生其波浪,自然中州反亂. Bianzheng qiwen, juan 7, CQS,

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Textgeschichte(n)

An den vier Grenzen – [man beachte die Gleichsetzung der vier Grenzen mit den vier Gliedmaßen] – herrscht Unruhe, und es ballt sich eine Macht zusammen, [而四境骚然]. Das Beben ist als Omen [zu verstehen]. Wenn man die Milz beruhigt, dann wird die Erde erstarken, und das Wasser wird nicht übermächtig.214 Während diese Ausführungen auf der Ebene des menschlichen Körpers bleiben, führt Chen Shiduo als Veranschaulichung der Situation ein Beispiel aus der gesellschaftspolitischen Umwelt an  : »Wenn sich zum Beispiel mächtige Feinde dir gegenüber aufbauen und die Berge gänzlich bevölkert sind mit Banditenbanden (zeidang 贼党). Wenn man sie lediglich von der Seite her bekämpft, dann werden sich die Rebellen formieren und Gegenwehr leisten. […] Man muss sie völlig beseitigen, und man muss zum Kern [der Rebellion] vordringen und die Einkreisung (Festung) durchbrechen, eindringen und den mächtigen Rädelsführer zerreiben. Dann treten die restlichen Rebellen den Rückzug an. Bei den Krämpfen verhält es sich ebenso. Man soll sich die Feinde zum Spiegel nehmen.« 215

Rebellion und mächtige Feinde sind deutliche Anspielungen auf die spät-mingzeitliche Situation und konnten ohne weiteres als latent anti-mandschurische Sichtweisen gelesen werden. Doch konnten sie gleichermaßen als Aufforderung zur Vorsicht vor neuen Aufständen gerade unter der Fremdherrschaft verstanden werden. So darf es nicht verwundern, wenn wir diese metaphorischen Wendungen in gleichem Wortlaut auch im Bianzheng lu, der revidierten Fassung des Bianzheng qiwen, vorfinden. Dasselbe gilt für die Komposita xiongheng 凶横 (Grausamkeit und Brutalität) und hengbao 横暴 (Brutalität und Gewalttätigkeit), worin sich ebenfalls Spuren politischer Rhetorik, die sich allerdings auch rein metaphorisch lesen lässt, finden. Aus dem Bianzheng yuhan, der Kurzfassung des Bianzheng lu, allerdings ist diese Rhetorik beinahe verschwunden, zumal es auf ein schmales Gerüst des Bianzheng qiwen gekürzt worden ist.

214 Im Original heißt es  : 而四境騷然,堅急之勢成,顫動之形兆,倘用安土之品,則土旺而 水無泛濫之虞. Vgl. Bianzheng lu, juan 1, CQS, 701. 215 Im Original heißt es  : 譬如大敵在前,滿山遍野俱是賊黨,倘止從偏旁掠陣,則賊且全營俱 來死鬥,反至敗衄,不若竟攻中堅,突圍直入,搗擒巨魁,則余氛不戰而自遁.痙病之重治濕 邪,亦正此意,可借敵而作鑒也. Vgl. Bianzheng lu, juan 7, CQS, 844, Bianzheng qiwen, juan

7, CQS, 578.

Das Dongtian aozhi, das Waijing weiyan, das Maijue chanwei, das Bencao xinbian 

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Das Dongtian aozhi, das Waijing weiyan, das Maijue chanwei, das Bencao xinbian

Ein Vorwort zum Dongtian aozhi  洞天澳旨 (Tiefgründige Richtlinien aus dem Grottenhimmel), das von Tao Shiyu 陶式玉216 verfasst wurde, trägt die Jahres­ angabe 1698. Jedoch scheint dieses Werk bereits 1694 gedruckt worden zu sein.217 Der früheste Druck stammt aus der Daya 大雅 Halle aus dem Jahre 1791. Das Dongtian aozhi ist im bereits genannten spätqingzeitlichen privaten Bücherkatalog Wanjuan jinghua lou cangshuji218 aufgeführt und ausführlich besprochen219, im Übrigen als einziges der Werke von Chen Shiduo. Geng 216 Er bezeichnet sich selbst als einen alten Freund von Chen Shiduo. Einer Biographie in der Shaoxing-Regierungsgazette (Shaoxing fuzhi 紹興府志 renwu zhi 人物志, unter der Rubrik »Tugendhafte Persönlichkeiten [unseres] Kreises« juan 50 (xiangxian 鄉賢), No 7, 45, Jahr 1793, zufolge stammte Tao Shiyu aus Kuaiji 會積 (d. i. der gegenüberliegende Kreis von Shanyin in Shaoxing). Er erlangte den Jinshi 進士 (den höchsten erreichbaren Grad und Titel bei der zentralen kaiserlichen Staatsprüfung  : Doktor) im Jahre 1676. Tao Shiyu konnte bereits im Alter von neun Jahren Texte verfassen. Es genügte, dass er einen Text ansah, und er konnte ihn bereits auswendig hersagen. In seinen Jugendjahren hörte er von einem Außergewöhnlichen (yiren 異人) am Dongting-See 洞庭湖. Dieser Ort ist möglicherweise eine Anspielung an den Dongting-Berg, der ein berühmter (fiktiver) Ort im Shiyiji 拾遺記 (Sammlung alter Berichte) aus dem 4. nachchr. Jahrhundert ist. [Vgl. hierzu Motsch 2003, 53] Hier hatte er mehrere Jahre gelebt. Erst nachdem seine Mutter ihn dazu angehalten hatte, für die Prüfungen zu lernen, hat er sich wieder nach Hause begeben und sich um den Titel shengyuan 生員 (Lizentiat) bemüht. Daraufhin wurde er Beamter auf Kreisebene (xianling 縣令) und später Magistrat in Kuaiji. Als Banditen und Rebellen Kuaiji überfielen und die Frauen von Kuaiji gefangennahmen, setzte Tao Shiyu sein gesamtes Vermögen für den Freikauf der Frauen (es handelte sich um über eintausend Frauen) ein. Weil die Ernten sehr schlecht waren und die Menschen Hunger leiden mussten, richtete Tao Getreidespeicher ein und stellte den Menschen kostenlos Getreide zur Verfügung, hauptsächlich in Form von Reis und Hirse. 217 Der Druck aus der Guyue daya-Halle 古越大雅堂 aus dem Jahre 1694 ist nicht mehr erhalten. Ein einzelner Druck von 1698 (aus der Hongdao Halle 宏道堂) ist in Xi’an in der Shanxi-Provinz-Bibliothek. Vgl. QGLM, # 08397. Aus dem Jahre 1790 stammen drei unterschiedliche Drucke in jeweils hohen Auflagen, die sich in zahlreichen Bibliotheken in der VR China finden. Aus der Republikzeit (1912–1949) stammen mehrere Steinabreibungen, die ebenfalls in zahlreichen Bibliotheken verwahrt sind. Vgl. QQLM, # 08397. 218 Erstmals in den 1930er Jahren gedruckt. Vgl. die Ausgabe von 1993, juan 81, 689–690. 219 Aber für die Äußere Medizin müsse man das Yangyi da quan 瘍醫大全 von Gu Shideng 顾 世澄, 140 juan, 1760, konsultieren, denn dieses enthalte Rezepte, die den Menschen die Schmerzen nähmen. Zudem gingen diese Rezepte auf Überlieferungen von Ärzten zurück, deren Familien sich bereits seit drei Generationen der Medizin widmeten. Bezüglich der Chirurgie solle man das Jinjian 金鉴 (1742) zum Vorbild nehmen. Vgl. die Ausgabe von 1993, juan 81, 689–690.

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Textgeschichte(n)

Wen­guang weist darauf hin, dass das Dongtian aozhi in den Bereich der Geschwür-Heilkunde – es wird dementsprechend auch Waike milu 外科祕錄 genannt220 – gehört, und dass diesbezügliche Schriften aus späteren Zeiten Rezepte beinhalten würden, die auf dem Wissen von drei Generationen basierten und insofern ungleich wirksamer seien. Damit verweist er das Dongtian aozhi in ein Feld der Medizin, das außerhalb der Generationenärzte (shiyi 世 醫) steht221, was nicht bar des Vorwurfs von »Kurpfuscherei« ist. Der generelle Skeptizismus allen Methoden gegenüber, die nicht im Zentrum eines wie immer bestimmten Kanons lagen, tritt deutlich zutage, wenn Geng anmerkt, dass mittels »Besprechen bzw. Beschwören« (zhoufu 咒符) zwar kleinere Krankheiten geheilt werden könnten, aber bei wirklichen Leiden diese Methoden gänzlich versagen würden, weshalb er vor dem Missbrauch des Schneidens bei Geschwüren durch nüwu 女巫 (weibliche Schamanen) warnt.222 Angesichts solch scharfer Kritik erscheint es verwunderlich, dass das Dongtian aozhi im Jahre 1912 noch eine Auflage erlebt hat, und zwar zusammen mit dem Shishi milu.223 Der Titel Waijing weiyan 外經衛言 (Subtile Worte zum Äußeren Leitfaden) in neun juan verweist auf die Vorschriften-Techniken (fangji 方技) des Liu Xiang 刘向 (77  ?–6 v. Chr.)224. Zu diesem Werk, das insbesondere der Medizintheorie gewidmet ist, existiert weder ein Vorwort noch ein Epilog. Eine Ausgabe liegt in der Stadtbibliothek in Tianjin. Dabei handelt es sich um eine handschriftliche Kopie (chaoben 抄本) von 1816. Im Anschluss an das letzte Kapitel steht der Vermerk  : Jingle Halle 靜樂堂, 1816.225 Das Maijue chanwei 脈訣闡微 (Tiefgründige Erklärungen zu den Puls-Formeln) besitzt keine Einteilung in Rollen (juan), sondern vielmehr in fünf bian (Kapitel, Abschnitte). Es besitzt ein Vorwort von Chen Shiduo selbst. Wie der Titel besagt, handelt es sich hierbei um eine Abhandlung zur Puls-Diagnose, wobei sich Chen Shiduo auf Wang Shuhe 王叔和 (3. Jahrhundert) bezieht. Der früheste Holzplattendruck stammt aus dem Jahre 1748.226 220 Vgl. QGLM, # 08397. 221 Zur Diskussion um Gelehrtenmedizin versus Generationenmedizin siehe Kapitel V in vorliegender Arbeit. 222 Nüwu 女巫 bzw. wunü 巫女 kann übersetzt werden als Schamanin, wie bei Sutton 2004, 220. Jedoch wäre eine solche Übersetzung irreführend, weil hier nicht unbedingt die Bedeutung eines »Mediums« (wie dies beim Schamanismus der Fall wäre) angesprochen ist. 223 Vgl. CQS, 3. 224 Der Titel ist im Hanshu aufgeführt. Vgl. Unschuld, 2003, 3–4. 225 Vgl. QGML, # 10662. 226 Vgl. QGML, # 01421.

Das Dongtian aozhi, das Waijing weiyan, das Maijue chanwei, das Bencao xinbian 

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Schließlich bleibt das Bencao xinbian 本草新編 (Neue Ausgabe des Bencao) anzuführen, wovon ein erster Holzplattendruck aus dem Jahre 1692 stammt.227 Es behandelt speziell die Materia medica und besitzt vier Vorworte, von denen drei aller Wahrscheinlichkeit nach aus der Feder des Chen Shiduo selbst stammen. Das erste Vorwort ist nämlich Lü Daoren (Lü Dongbin)228 zugeschrieben und mit dem Jahr 1689 datiert, das zweite Zhang Zhongjing ebenfalls mit der Jahresangabe 1689229 und das dritte dem Himmlischen Meister Qi Bo230 mit der Jahresangabe 1685. Die Relevanz dieser halb legendären und halb historischen Figuren werden wir im dritten Kapitel genauer eruieren. Das vierte Vorwort hingegen stammt von Jin Yimou und trägt die Jahresangabe 1692.

227 Vgl. QGML, # 02300. 228 Zu seiner Figur siehe Kapitel III in vorliegender Arbeit. 229 Zu seiner Figur siehe Kapitel III in vorliegender Arbeit. 230 Auch hierzu siehe Kapitel III in vorliegender Arbeit.

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III Lebensgeschichte(n)

Wir haben bereits festgestellt, dass Chen Shiduos Texte gegenwärtig in der VR China neu ediert werden und damit in den aktuellen Kanon der TCM (Traditionelle Chinesische Medizin) aufgenommen werden. Die aktuelle Signifikanz seiner Schriften lässt sich historisch zurückverfolgen  : Einige Chen Shiduo zugeschriebene Titel finden sich, wie im vorhergehenden Kapitel gezeigt, vereinzelt in qingzeitlichen privaten Bücherkatalogen sowie in kaiserlich beauftragten Enzyklopädien bzw. Literatursammlungen, wie dem Gujin tushu jicheng 古今圖書集成 (dem Thron vorgelegt  : 1726), dem Siku quanshu 四庫全 書 (fertiggestellt  : 1782) und dem Qingshigao 清史稿 (1928), aufgelistet. Seine Biographie aber fehlt in jeglichem historischen offiziell sanktionierten Zusammenhang. Weder das offizielle überregionale Geschichtswerk der Ming-Dynastie (Mingshi 明史231, 1739, überarb. 1777), noch die halboffizielle Überblicksgeschichte der Qing-Dynastie (Qingshigao)232 widmen Chen einen Eintrag innerhalb der dafür vorgesehenen Rubriken »Bedeutende Persönlichkeiten«.

Chen Shiduo 陳士鐸 (1627–1707)  : Biographische Fragmente

Auf lokaler Ebene hingegen, namentlich in der Lokalchronik von Shanyin 山 陰233, seinem Geburtsort in der heutigen Provinz Zhejiang, lesen wir in einer 231 Das »Ming-Annalen-Projekt« wurde 35 Jahre nach der Eroberung von Beijing durch die Mandschu in Angriff genommen. Als Verfasser kamen nur Männer in Frage, die während der letzten Ming-Jahre oder in der frühen Qing-Zeit geboren wurden. Die meisten dieser Gelehrten müssen sich dementsprechend als Sympathisanten der Qing-Dynastie verstanden haben. Siehe hierzu Struve 1998, 328f. 232 Siehe die Auflistungen in Guo Aichun 1987. 233 Es handelte sich hierbei um ein kulturelles Zentrum  : Shanyin 山陰 galt neben Kuaiji 會稽 seit dem 16. Jahrhundert sowohl hinsichtlich landwirtschaftlicher Produktivität als auch hinsichtlich des Pro-Kopf-Einkommens als einer der reichsten Kreise (xian 縣) dieser südlichen Region. Außerdem galt Shanyin seit dem späteren 18. Jahrhundert als der bevölkerungsreichste Kreis dieser Provinz. Siehe die Zahlen in Cole 1986, 6. Shanyin und Kuaiji gehörten zur Präfektur Shaoxing 紹興, die, seit der Song-Zeit auch Zhedong 浙東 (wörtl. östlich des Zhe-Flusses bzw. Ost-Zhejiang) genannt wird  ; während der Qing-Zeit war Shaoxing, selbst in acht Kreise unterteilt, eine von elf Präfekturen (fu 府), die zusammen die Provinz Zhejiang

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Lebensgeschichte(n)

Notiz aus dem Jahr 1804, also an die hundert Jahre nach seinem Tod  : »Chen Shiduo, zhusheng 諸生234 auf Kreisebene, hat außergewöhnliche Erfolge im Heilen erzielt und keinerlei Vergütung vonseiten seiner Patienten verlangt. Er ist im Alter von achtzig Jahren gestorben.«235 Wenn schon für die Eruierung seiner ungefähren Lebensdaten auf die expliziten und impliziten Vermerke und Hinweise in den Paratexten bzw. Vorworten, Epilogen und Leseanleitungen, die z. T. von Chen (zi  : Jingzi 敬子, Rufnamen  : Yuangong 遠公, Zhu Huazi 朱華子, Daya tang zhuren 大雅堂主人) selbst, z. T. von Freunden und Gönnern verfasst worden sind, zurückgegriffen werden muss, so gilt dies umso mehr für die Eruierung der Lebensumstände von Chen Shiduo. Seiner eigenen Aussage aus dem Jahre 1687 zufolge war er zu dieser Zeit etwa 60 Jahre alt  : »Chen [ich] hat die sechs Dekaden überschritten. Seine Lebenskraft ist aufgezehrt […].«236 Demzufolge wurde er ungefähr 1627 geboren. Laut Lokalchronik ist er im Alter von 80 Jahren, also um 1707, gestorben. Ein Gönner von Chen Shiduo, Wang Zhice 王之策237, schreibt, dass Chen einer gut situierten Familie (zhou 胄) aus Yue 越 (d. i. Shaoxing) entstammte sowie dass er sich in vorbildlicher Weise für gemeinschaftliche Belange eingesetzt habe. Obwohl ihm viele Posten angeboten worden seien, habe er keinen davon angenommen. Letztere Aussage kann als Verweis auf den versuchten Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben gelten, der insbesondere für die Zeit bildeten. West-Zhejiang und Süd-Jiangsu wurden zusammengefasst als Zhexi 浙西 bezeichnet. 234 Zhusheng bezeichnete während der Ming- und Qingzeit – äquivalent zu shengyuan 生員 – nicht ganz präzise jemanden, der studiert hatte, das Examen auf »niederster« lokaler Ebene bzw. Kreisebene bestanden und somit die Voraussetzungen für die Teilnahme an den Examen auf Provinzebene erfüllte. Die Prüfungen waren generell nur Männern zugänglich. Für die Prüfungen zum shengyuan konnte sich, mit wenigen Ausnahmen, jeder in dem Kreis anmelden, in dem er ansässig war. Doch stand die Zahl derjenigen, die die Prüfungen bestehen konnten, fest. Siehe hierzu Elman 2000, 130–140, der zhusheng als Student und shengyuan als Lizentiat übersetzt. 235 Im Originaltext heißt es  : 陳士鐸,邑諸生,治病多奇中,醫藥不受人謝,年八十余卒,所著 有.Shanyin xianzhi, 1804, zit. nach CQS, 1137. 236 Siehe Leseanleitung (fanlie 凡例)zum Bianzheng lu, CQS, 697. 237 Vgl. das Vorwort von Wang Zhice zum Bianzheng yuhan, 1694, CQS, 437–438. Über Wang Zhice ist nur überliefert, dass er aus Xin’an 新安 im heutigen Anhui 安徽 stammte. Er hatte sich um den Druck des Werkes gekümmert, was freilich für ihn selbst eine Akkumulation der »Verdienste« (gongde 功德) bedeutete. Zur historischen Einordnung der altruistischen Konzeptionen und diesbezüglicher Praxis im 17. Jahrhundert siehe Brokaw 1991 und 1996.

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unmittelbar nach dem Dynastienwechsel (1644) charakteristisch geworden ist, wie im Folgenden noch gezeigt werden wird. Von klein auf, so behauptet Chen Shiduo selbst, war er mit dem konventionell gültigen Kanon von Geschichtswerken, dem Hanshu 漢書 von Ban Gu 班固 (32–92) sowie dem Shiji 史記 von Sima Qian 司馬遷 (145 bis 86 v. Chr.) befasst238. Wir können davon ausgehen, dass er auch mit den konfuzianischen Klassikern vertraut war, denn die Examensfragen richteten sich im 17. Jahrhundert nach wie vor auf die Auslegekunst der »Vier Bücher« (sishu 四書), d. h. des Lunyu 論語 (Die Gespräche des Konfuzius), des Mengzi 孟子 (Menzius), der Daxue 大學 (Die Große Lehre)239 sowie des Zhongyong 中庸 (Einhalten der Mitte). Irgendwann muss er die Prüfung auf Kreisebene zum shengyuan 生員240 abgelegt haben und zu den nachfolgenden Prüfungen bereit gewesen sein, denn sein Urenkel, Chen Fenghui 陳風 輝, schreibt, dass Chen auch für den juren 舉人 (Magister-)241Titel studiert, sein Ziel aber niemals erreicht habe, weswegen er sich schlussendlich der Medizin verschrieb.242 Die unterbrochene Beamtenkarriere mag der Grund gewesen sein, warum er sich, seinen eigenen Worten zufolge, im Erwachsenenalter dem Studium der Medizinischen Schriften, d. h. den Lehren des Gelben Kaisers (Huangdi 黃帝) sowie des Qi Bo 崎伯243 zuwendet. Doch sein Wissensdrang ist auch nach 30 Jahren (Selbst  ?-)Studium nicht gestillt. Er muss seine Situation als ungenügend empfunden haben. Denn, wie einer der Vorwortschreiber betont, saß er eines Abends zwischen Spätsommer und Frühherbst des Jahres 1689 in einem Gästehaus in Beijing, sein Gesicht in den Händen verborgen, wehmütig (ai 哀) und voller Schwermut (yiyu 抑鬱), 238 Das Shiji (Aufzeichnungen des Historiographen, ca. –100 bis –90) gilt als erste der insgesamt 24 »offiziellen« Dynastiengeschichten (zhengshi 正史), die zusammen mit dem Hanshu (Geschichte der Han-Dynastie) erst im 18. Jahrhundert zum Kanon der insgesamt 24 Dynastiengeschichten erklärt worden war. Beide Werke galten aber zwei Jahrtausende hindurch als der Inbegriff klassischer Historiographie. 239 Die Texte Daxue 大學 (Die Große Lehre) und Zhongyong 中庸 (Einhalten der Mitte) sind zwei kleinere Werke, die eigentlich aus dem Liji 禮記 (Aufzeichnungen der Riten) stammen. 240 Damit ist der erfolgreiche Kandidat der Examen auf lokaler Ebene gemeint, oft auch als Bakkalaureus übersetzt. 241 Dieser Titel konnte nur in der jeweiligen Provinzhauptstadt erworben werden. Auch diese Prüfungen waren generell nur Männern zugänglich. Siehe hierzu Elman 2000. 242 Vgl. Chen Fenghui im Epilog (ba 跋) zum Dongtian aozhi, Vorwort 1698. Der Epilog stammt aus dem Jahr 1790. 243 Die Informationen in diesem Absatz finden sich im dritten Vorwort zum Shishi milu, CQS, 270.

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als er unerwartet hohen Besuch von zwei Unsterblichen bzw. Himmlischen Meistern (tianshi 天師) bekam.244 Über seine familiäre Situation schweigt Chen Shiduo sich aus, er muss aber verheiratet gewesen sein, sonst wäre kein Urenkel vorhanden. Umso mehr erfahren wir von ihm selbst über seinen Großvater Anqi 安期 – nämlich, dass dieser sein Leben der Kunst des Zusammenstellens von Rezepten (fangshu 方 術) gewidmet habe, dass er nach Sichuan (Shu 蜀) auf den Emei-Berg 峨嵋山 245 gepilgert sei, wo ihm ein daoistischer Meister (yushi 羽士) geheime Rezepte übermittelte.246 Diese Aussage kann als integraler Bestandteil der Chen’schen Identitätsbildungsstrategien als »herausragender Arzt« gelesen werden. So lässt sich der Name des Großvaters unschwer auch als nachträgliche Benennung vonseiten Chen Shiduos lesen, denn 安期 verweist auf »Himmlischer Meister«247, der – wie wir sehen werden – das zentrale Motiv der Identitätsbildung und zugleich die Grundlegung der Medizin bei Chen Shiduo ist. Wir wissen allerdings nicht einmal mit Sicherheit, ob Chen als praktizierender Arzt tätig war. Die Prologe und Epiloge weisen stark darauf hin, dass Chen seine (geistigen) Ressourcen gänzlich in den Dienst der Übermittlung medizinischer Kenntnisse gestellt hat, und die außerordentliche Produktivität im Verfassen medizinischer Werke248 kann dahingehend interpretiert werden, dass er selbst kaum als Arzt praktizierte.249 Gegen diese Sicht spricht aber nicht nur der oben angeführte eindeutige Hinweis in der Lokalchronik, sondern ebenso der Bericht des Urenkels sowie auch andere Hinweise in Vorworten und Leseanleitungen,250 denen zufolge Chen sehr wohl als Arzt praktiziert hatte. Chens ausgiebige Reisetätigkeit hat ihn offenbar zweimal, das erste Mal 1687 und das zweite Mal 1693, nach Beijing251 geführt. Eingedenk der Tatsache, dass 244 Vgl. den Prolog von Tao Shiyu 陶式玉 zum Dongtian aozhi, CQS, 1014. 245 Dieser heilige Berg ist der am westlichsten gelegene aller berühmten heiligen Berge. Er war über Jahrhunderte für daoistisch und buddhistisch gefärbte regliöse Handlungen von großer Bedeutung. Heute ist er berühmt als Sitz eines Buddhistischen Zentrums. Siehe hierzu Hahn 2000, 683–708. 246 Vgl. fanli 凡例 im Dongtian aozhi, CQS, 1016. 247 Seit dem Kaiser Wu der Han (reg. –140 bis –87) existiert dieser Name im Zusammenhang mit daoistischen Meistern und der Suche nach Unsterblichkeit. Ciyuan, 0137.3. 248 Von den insgesamt (mindestens) sechzehn Werken sind heute nur acht erhalten. Siehe hierzu Kap. II in vorliegender Arbeit. 249 Mündliche Mitteilung durch Prof. Dong Hanliang 董漢良 (der Herausgeber des Sammelwerkes über Ärzte in der Geschichte von Shaoxing) in Shaoxing im Winter 2005. 250 Vgl. insbesondere die Leseanleitung im Bencao xinbian 本草新編, CQS, 88. 251 Der erste Aufenthalt in Beijing kann auf das Jahr 1687 datiert werden. 1687 soll die Be-

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man während jener Zeit, wenn man schnell vorankam, »von Beijing bis Nanjing dreißig Tage«252 benötigte, ergeben sich zeitliche Spannen von Monaten und Jahren, während derer Chen Shiduo quer durch das Reich unterwegs gewesen sein musste. Keineswegs aber dürfte er, zumindest auf den Hauptverkehrswegen, alleine gewesen sein, denn gerade während der Mitte des 17. Jahrhunderts, insbesondere nachdem Nanjing unterworfen worden war, bewegten sich ganze »Pilgerzüge« von Nanjing nach Beijing, um dem Kaiser ihre Aufwartung zu machen.253 Nachdem Chen Shiduo das erste Mal in Beijing geweilt hatte, muss er sich Richtung Westen begeben haben. So ist die Rede davon, dass er für längere Zeit in Sichuan gelebt habe, sowie auch in Guangxi und häufig nach Jiangsu254 gereist sei. Überall versuchte er, Heilige Gipfel zu besteigen. Diese Leidenschaft für das Reisen hat er mit zahlreichen Zeitgenossen geteilt, denn die Verquickung von ausgedehnten Reisen mit dem Rückzug aus Politik und Gesellschaft und einem exzentrischen Lebensentwurf ist, wie bereits angedeutet, geradezu charakteristisch für das 17. Jahrhundert.255 Wenn die Informationen zu Chen Shiduos Biographie nur fragmentarischer Natur sind, so eröffnen sie doch unterschiedliche Perspektiven, die alle auf das Feld der Medizin dieser Zeit verweisen. Das medizinische Feld des 17. Jahrhunderts sah sich, wie wir sehen werden, nicht nur realen Notwendigkeiten wie den verstärkt auftretenden Epidemien und Geschlechtskrankheiten gegengegnung mit den Heiligen Meistern in Beijing stattgefunden haben. Das zweite Mal war er 1693 in Bejing, denn im zweiten, seinem eigenen Vorwort zum Dongtian aozhi aus dem Jahr 1698, heißt es  : »Im Herbst Kangxi Ding Mao 康熙丁卯 [d. i. 1687] hat er [Chen] den Himmlischen Meister Qi Bo in Yanshi 燕市[d. i. Beijing] getroffen. […] Im Herbst [Kangxi] Gui Hai 癸亥 [d. i. 1693] bin ich wieder nach Beijing gereist. […].« Vgl. CQS, 1015. 252 Diese Aussage stammt aus den »Aufzeichnungen über eine Irrfahrt durch die Mandschurei« (1645), eine tagebuchartige Berichterstattung einiger japanischer Seeleute, die in der Gegend der heutigen koreanisch-russischen Grenze Schiffbruch erlitten hatten und dann von der ansässigen Bevölkerung nach Beijing gebracht worden seien, wo sie das erste Jahr der Qing-Herrschaft miterlebten. Zit. nach Pang 1996, 82. 253 Siehe Pang 1996, 82. 254 Wang Zhice nennt in seinem Vorwort zum Bianzheng yuhan im Jahre 1694 Cangwu 苍梧 (d. i. in Guangxi) und Wuzhou 梧州 (d. i. östlich vom Kreis Anping 安平) als Aufenthaltsorte, weil sich dort Heilige aufgehalten haben. Chen Shiduo habe sich zum Berg Duxiu 獨秀 im Zentrum von Guilin 桂林 (in Guangxi) begeben, zumal er diesen Berg zutiefst verehrt habe. Außerdem sei er zum Berg Qixia 栖霞 gereist, wo er einen Unsterblichen (einen mit gewaltigen Augenbrauen und langem Barthaar) getroffen habe. Vgl. Bianzheng yuhan, CQS, 437. 255 Auf diesen Zusammenhang verweisen alle neueren Forschungsarbeitungen zur chinesischen Sozial- und Literaturgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts. Siehe hierzu exemplarisch Eggert 1999.

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über, sondern auch sozialen Bedarfslagen unter Gelehrten, die nach Betätigungsfeldern außerhalb der konventionellen Beamtenkarriere suchen mussten und sich außerdem in ethisch begründeten Situationen befanden, die sie in Loyalitätskonflikte brachten, weil sie sich nicht in den Dienst der Fremddynastie begeben wollten. Diese realen Notwendigkeiten drohten die diskursiv überlieferten und kanonisierten Wissensvorräte zu relativieren. Wenn wir im Folgenden durchgängig von den »Feldern« der Lebenspflege, des Religiösen und der Medizin sprechen, so wird hier im Anschluss an Bourdieu ein Begriff vom »Feld« verwendet, der mit »Raum« austauschbar ist. Ein Feld ist als Produkt historisch gewachsener Relationen zwischen einzelnen Positionen anzusehen, die wiederum durch die Verteilungskämpfe um Macht und von symbolischem sowie ökonomischem Kapital bestimmt sind. Das Feld ist somit eine »Existenzweise des Sozialen.«256 Jede einzelne der realen Notwen­ digkeiten war für sich historisch gewachsen und sie stand gewissermaßen mehrschichtigen Diskursen gegenüber bzw. war mit diesen verwoben. Weil im 17. Jahrhundert aus der Auseinandersetzung zwischen den jeweiligen (realen) Notwendigkeiten und den ihnen jeweils gegenüberstehenden Diskursen etwas Neuartiges zu entstehen schien, wird hier in Anlehnung an Lefebvre257 außerdem der Terminus »neuer sozialer Raum« der Medizin eingeführt. Die Akteure in diesem Raum stehen in bestimmten Relationen zueinander und kämpfen um die Verteilung von Anerkennung in Form kulturellen Kapitals. Der Feldbegriff nach Bourdieu impliziert auch den Kampf um die Erweiterung der Grenzen des Feldes und um die Erhaltung derselben. Innere und äußere Haltungen Wir haben gesagt, dass die im Folgenden zur Disposition stehenden Felder jedes für sich auf das Feld der Medizin verweisen. Jedes einzelne Feld besitzt einen oder mehrere Mittelpunkte, in denen sich die Auseinandersetzungen mit realen Notwendigkeiten abspielen, und die jeweils ihre eigenen Spielregeln besitzen. Dabei erhebt jedes einzelne Feld Anspruch auf Beachtung  : Hierzu gehören das Feld der moralischen Ausrichtung, das Feld des Religiösen, das Feld der Medizin, das Feld der Lebenspflege. Chen Shiduo ist in diesen Feldern jeweils beheimatet und gleichzeitig auch Grenzgänger zwischen ihnen. In der Fokussierung auf seine Aktionsradien er256 Vgl. Bourdieu 1985, 69. 257 Vgl. Lefebvre 1991.

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weisen sie sich als Subfelder und somit als Teile des umfassenden Feldes der Medizin. Eine Schwierigkeit besteht darin, diese Felder jeweils klar voneinander getrennt zu betrachten, weil sie in den Texten dicht miteinander verwoben erscheinen. Die jeweiligen Felder sollen im Folgenden erkundet werden. Das Feld der moralischen Ausrichtung  : Ehrfurcht und Respekt Großjährigkeitsnamen (zi 字) verraten in der Regel ein Lebensmotto. Bei Chen, dessen Großjährigkeitsname Jingzhi 敬之 lautet, ist dies die neokonfuzianisch geprägte Haltung von Respekt, von Ehrfurcht und Ernsthaftigkeit sowie Ehrerbietung, was jeweils mit jing 敬 zu übersetzen wäre. Die Haltung des Respekts, die mehr als bloße Etikette sein will, wurde in der Song-Lehre (Neokonfuzianismus, Lehre des Dao (daoxue 道學)258 zur Grundlage für all­ umfassendes Lernen bzw. für die »Untersuchung der Dinge zur Erweiterung des Wissens« (gewu zhizhi 格物致知). Diese Losung verlangte nicht nur das »Lernen aus Büchern«, wie dies von Anhängern der »Herz-Schule« (xinxue 心 學) seit dem späten 15. Jahrhundert kritisch angeprangert worden war. Die Haltung des Respekts forderte die Verneigung in Ehrfurcht vor den Dingen, die es zu untersuchen (ge wu 格物) galt, um damit das Wissen zu erweitern (zhizhi 致知). Dies waren Schritte, die einen Lernenden zum wahren Ziel, nämlich seiner Vervollkommnung zum Weisen führen konnten. Ehrfurcht und Ernsthaftigkeit (jing 敬) waren notwendige Voraussetzungen hierfür. Sie verlangten ebenso eine innere Ausrichtung wie eine von außen wahrnehmbare einzuübende Haltung in der leiblichen Ausrichtung  : Die Techniken des »Stillsitzens« (jing zuo 靜坐)259 und des extensiven »breiten« Lesens und Lernens (boxue 博學) verweisen auf eine kontemplative Lebenshaltung und eine ruhige Körperhaltung, die nicht zuletzt auf eine neuartige Konzeption der Person bzw. des Individuums verweist.260 258 Das, was später als Daoxue bezeichnet wurde, haben die Brüder Cheng Yi und Cheng Hao zusammen mit ihrem Onkel Zhang Zai 張載 (1020–1077) und dessen Sichtweisen des Rechten Auflichtens (Zhengming 正明) diskutiert. Daher ist auch die Rede vom Cheng-Zhu-Konfuzianismus. Die Lehre vom Weg war darauf angelegt, »allgemeine Verhältnisse zu ergründen, welche die natürliche und vor allem die menschliche Wirklichkeit bestimmten, um auf Grundlage der gewonnenen Einsichten eine ideale Gesellschaft einzurichten.« Die Lehren der beiden Brüder waren bis zum Fall der Nördlichen Song-Dynastie verboten gewesen, da ihre Proponenten mit der Opposition assoziiert wurden. Vgl. hierzu Reimann 1996, XXI. 259 Zur Diskussion des »meditativen Sitzens« bei Cheng Yi siehe Bäcker 1982, 123. 260 Vgl. hierzu DeBary 1970  ; Taylor 1978  ; Lackner, Friedrich, Reimann 1996, XCVII.

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Biographien sind nicht nur Produkte von Erinnerungsleistungen, sondern gleichermaßen Produkte von Repräsentationsstrategien, die in die Zukunft weisen sollen. Dementsprechend sind aktiv stilisierte und inszenierte Sichtweisen auf das eigene Selbst und die eigene Identität gleichzeitig Komponenten der Wahrnehmung der eigenen sowie auch der Realität des Beschriebenen, d. h. des »Himmlischen Meisters«, sprich des Großvaters von Chen Shiduo. Die dem Großvater entgegenbrachte Ehrfurcht (bzw. der Respekt) erscheint ­damit als integraler Aspekt des Großvaters wie auch der eigenen Person (Chen Shiduo). »Ehrerbietige Hochachtung« galt seit der Song-Zeit (10. Jh.) als die Bedingung der Möglichkeit einer Annäherung an das angestrebte Stadium der Vollkommenheit, was im neokonfuzianischen Sinne nicht mehr der Edle (junzi 君子) verkörpert, sondern der Weise bzw. der Heilige (sheng 聖).261 Die Kultivierung des Selbst (xiu shen 修身) war in neokonfuzianischer Sicht ganz entschieden mit der Kontrolle der Emotionen verknüpft. Denn die Emotionen galten als mögliche äußere und innere Störenfriede der »Ruhe-Haltung«. Sie waren äußere Störenfriede, weil sie das »ruhige Herz«, vermittelt über die Sinne und das Begehren – einem stürmischen Wind gleich – schütteln und es in Aufruhr versetzen konnten. Die Emotionen waren innere Störenfriede, weil sie sich in der inneren Leibeslandschaft bemerkbar machten. Die Sicht auf die Emotionen kann als zentraler Schlüssel für ein Verständnis der jeweiligen Lebensführungsschulen – was philosophische Lehrmeinungen in China immer auch waren – angesehen werden. Mit der Auffassung, dass ein Weiser bzw. Edler die Vervollkommnung des eigenen Weges (cheng dao 成道) verkörpere, war auch eine spezifische Perspektive auf die Emotionen verknüpft. Wenn die Emotionen als Störenfriede galten, mussten sie dringend kontrolliert und beherrscht werden. Wir werden im fünften Kapitel über die Befindlichkeiten und Emotionen sehen, auf welch ambivalente Weise gerade diese Losung im 17. und 18. Jahrhundert zur Anwendung gekommen ist. Die Vervollkommnung des Weges wurde in der Regel, und zwar seit alters her mit der Ausschöpfung des eigenen (vom Himmel verliehenen) Potentials (li zhi 勵志)262 gleichgesetzt. Die Ausschöpfung des eigenen Potentials bedeu261 Siehe hierzu Taylor 1988, 218. Zur Verwendung von jing 敬 (ehrerbietige Hochachtung) und dem Homophon jing 靜 (Stille) bei Zhu Xi, siehe Van Ess 2004, 294–295. Zum Zusammenhang zwischen jing 敬 und cheng 誠 (Wahrhaftigkeit ) in neokonfuzianischen Schriften, siehe Bäcker 1982, 122–124. 262 Vgl. die entsprechende Wendung im TSB, juan 69, 24b. Zur Diskussion dieser Sicht bei Kongzi siehe Bauer 1971, 294, der von der Aufgabe spricht, »die von Geburt an eingepflanzte Verwirklichungsform zur Deckung« zu bringen.

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tet möglicherweise sogar die Vervollkommnung der eigenen Natur (quan sheng 全生).263 Damit befinden wir uns bereits im Feld der Lebenspflege, die sich

wiederum als Zwischenfeld von Medizin und religiöser Sphäre darstellt. Das Feld der Lebenspflege (yangsheng 養生) Die yangsheng-Literatur enthält ausführliche Erläuterungen zur Lebenspflege, d. h. einer dezidiert vorbeugend angelegten Gesundheitslehre, wozu auch alche­mistische Praktiken (neidan 內丹)264, Meditation und darüber hinaus Vorgaben für die Kultivierung und Vervollkommung der moralischen Eigenschaften gehörten. Diese Mehrschichtigkeit findet sich insbesondere auch im yangsheng-Bestseller Zun sheng ba jian 遵生八笺 von Gao Lian 高濂, 1591. Neben der Beschreibung von Übungsformen und medizinischen Rezepturen für die Gesundheitserhaltung sowie auch für die Erlangung von Unsterblichkeit kommen Erläuterungen zum Erwerb von wertvollen Möbeln und Kunstgegenständen zur Sprache. Damit ist der elitäre Aspekt von yangsheng während dieser Zeit verdeutlicht.265 Das Feld der Medizin veränderte sich während dieser Zeit  : Die deutlich angestiegenen Publikationsraten medizinischen Schrifttums im Allgemeinen und die in diesen Schriften vermehrt eingegliederten yangsheng-Bezüge verweisen nicht nur auf die Relevanz der yangsheng-Praktiken, sondern darüber hinaus auf eine Neu-Strukturierung der medizinischen Schriften.266 Chen Shiduo jedenfalls fordert Lebensverlängerungspraktiken als integralen Bestandteil entsprechungsmedizinisch ausgerichteter Therapiemaßnahmen geradezu ein, wenn er schreibt, dass »Jemand, der Medizin studiert, auch die Methode des Dehnens und Streckens (daoyin zhi fa 導引之法) kennen muss«.267 Yangsheng 養生 bedeutete zuallererst, die Lebenskraft bzw. die vom ­Himmel in Form der (Lebens-)Essenz (jing 精) zugeteilte Lebensspanne nicht vorzei263 Vgl. die Einträge in Yulin [1615], juan 46, 651. 264 Neidan (Innerer Zinnober) steht im Gegensatz zum Äußeren Zinnober bzw. Äußerer Alchemie (waidan 外丹). Die Erlangung der Unsterblichkeit ist in jedem Falle höchstes Ziel. Doch während die Äußere Alchemie dies durch die Herstellung und anschließende Einnahme des Unsterblichkeitselixiers versucht, geht die Innere Alchemie mit Hilfe von Leibespraktiken (Atem-, Dehn- und Streckübungen etc.) an dieses Ziel heran. Vgl. hierzu Robinet 1989, 297–330  ; Kohn 1989, 151–154  ; Roth 1996, 123–148. 265 Vgl. hierzu Clunas 2004. Zur Relevanz von yangsheng in der chinesischen Gegenwart siehe D. Dear 2012, 11ff. 266 Siehe hierzu Widmer 1996. 267 Vgl. Maicanwei, CQS, 66.

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tig aufzubrauchen, denn das Ausschöpfen der Essenz bedeutete den Tod. Zu den Techniken der Lebenspflege (yangsheng) gehörten Atem-, Dehn- und Streckübungen, die Einhaltung von Essensvorschriften sowie von Regeln zur Mäßi­gung bei der Ausübung von Sexualität. Diese Techniken sind allerdings in komplizierten Verhältnissen zu den Vorstellungen von der (moralischen) Kultivierung des Herzens (xiu xin 修心) einerseits sowie von der Inneren Alchemie (nei dan 內丹) andererseits zu sehen. Zu fragen ist außerdem nach den Verknüpfungen der Konzeptionen vom »rechten Leben« in yangsheng-Texten mit medizinisch begründeten Sichtweisen auf das »rechte Leben«. Im Shishi milu findet sich ein Beispiel für Chens Antwort auf diese Frage  : Der Auffassung, dass ein Gelehrten-Arzt im Falle von Kinderlosigkeit unter allen Umständen nach dem Motto »Vermehrung des Kindersegens« zu handeln habe, versucht auch Chen nachzukommen. Jedoch räumt er im Sinne daoistisch inspirierter Lebenspflege ein, dass man letztendlich nichts erzwingen könne, zumal es sich beispielsweise um eine Frau mit heiligen Knochen (xiangu 仙骨) handeln könnte, die somit die Grundlagen für »Erleuchtung«268 besitze. Dahinter verbirgt sich die Sicht, dass durchaus nicht jede Frau für ein Leben im konventionell vorgesehenen Familienverband geschaffen sei. Diese Sicht trägt in hohem Maße transgressive Züge. Im fünften Kapitel werden wir noch einmal darauf zu sprechen kommen. Außerdem ist diese Stelle als Exemplifizierung des Schnittpunktes zwischen der Herzensbildung (Moral) und der »Leibbildung« (Leibeserziehung) zu lesen. Die Kultivierung des Selbst bedeutet in dieser Lesung, dass das Selbst als Leib aufgefasst wird, worin das Herz die Instanz ist, die kontrolliert und regiert, die über alles im Leib herrscht. Das Herz aber ist gleichzeitig, in anderer Perspektive, Teil des gesamten dynamischen Gefüges, und damit nicht Herrscher, sondern Beherrschtes, weil Teil des relationalen Gefüges  : In solchen Konstellationen erscheint die Rede vom »Himmlischen Meister« (tianshi 天師) als Integrationsfigur dieser beiden »Bilder« vom Selbst. Hiermit betreten wir das Feld des Religiösen  : Beijing, die Stadt, in der Chen Shiduo die Unsterblichen begegnen, muss voller Tempelanlagen ­gewesen sein  : 268 Vgl. Bianzheng lu, juan 12, CQS 952. Der Begriff xiangu (»Heilige Knochen« bzw. »Knochen der Unsterblichkeit«) findet sich bereits im Shenxian zhuan 神仙傳 (Biographien Göttlicher Unsterblicher), juan 3, in der Biographie des Liu Gen 劉 aus dem 4. nachchr. Jahrhundert, das Ge Hong 葛洪 zugeschrieben wird  : als untrügliches Zeichen und als Voraussetzung für die Erlangung der Erleuchtung/Unsterblichkeit. Siehe hierzu die Übersetzung in Güntsch 1988, 100, wo xiangu 仙骨 allerdings mit »Physiognomie eines Hsien« übersetzt ist  ; Kohn 1996.

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»In den Tempeln opfert man Geldscheine vor den Buddhastatuen. Es gibt Tempel, in denen tausend oder gar zehntausend Buddhastatuen aufgestellt sind. In einigen Tempeln gibt es Räume für die Pilger. An den Wänden hängen Buddhabilder, vor die man Obst und frische Blumen hinstellt. An den Flüssen stellt man Laternen auf und wirft Speisen in das Wasser. Das nennt man ›die Hungerdämonen fortschicken‹.«269 Das Feld des Religiösen  : Das Außergewöhnliche, das Spektakuläre, das Exzentrische (qi 奇) Einsiedler (yinren 隱人) und Eremiten (yiren 逸人), die sich in abgelegene Berggegenden zurückziehen und als Heilige bzw. Unsterbliche (xianren 仙人) oder als Weise und Heilige (shengren 聖人) in der Welt weilen, gehören wesentlich zum Mikro-Kosmos des 17. Jahrhunderts. »Außergewöhnliche« (yiren 異 人) sowie »wunderbare, seltsame Menschen« (qiren 奇人) sind ebenso en vogue wie außergewöhnliche (qi 奇) Dinge, die gesammelt und gepflegt wurden. Gelehrte entwickeln leidenschaftliches Interesse für Sammelgegenstände, wozu auch besondere Buchausgaben gehören  ; sie widmen sich der Anlage und Pflege ihrer Gartenanlagen  ; sie befassen sich mit Malerei und den Kalligraphie-Künsten und sie tauschen sich – auch – mit weiblichen Partnern aus. Frauen werden zunehmend wichtig, sowohl als Konsumentinnen von Literatur als auch als Produzentinnen literarischer Werke.270 All diese Aktivitäten werden als Ausdruck eines neuen Lebensgefühls gewertet, welches seinerseits nicht nur mit wirtschaftlicher Prosperität zu erklären ist.271 In diesem Zusammenhang muss auch yi 異 (ungewöhnlich, verschieden) gelesen werden. Das Außergewöhnliche (qi) finden wir in Enzyklopädien des 17. Jahrhundert mittels yi 異 und guai 怪 (seltsam, sonderbar) definiert,272 während es in Literarischen Reiseaufzeichnungen (youji 游記) als ästhetische, visuelle und atmosphärische Kategorie erscheint.273 Die Affinität zwischen einem exzentrischen Lebensentwurf, der gleichermaßen auf ein »Leben auf Reisen«, der Landschaftsreise wie auf einen Rückzug aus dem familiären und politischen Gefüge verwies, ist für das 17. Jahrhundert mehrfach nachgewiesen.274 Zu den Menschenströmen, die 269 Vgl. Pang 1996, 83. 270 Siehe hierzu insbesondere Ko 1994, 34–45. 271 Watt 1987  ; Bauer 1985, 158ff. 272 Siehe hierzu Burnett 2000, 533. 273 Vgl. hierzu Riemenschnitter 1997, 209–212. 274 Siehe Riemenschnitter 1997, 219.

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sich im Verlaufe des 17. Jahrhunderts auf langen Reisen befanden275, gehörten solche, die aus kommerziellen Gründen (Handelsbeziehungen) unterwegs waren, andere, die zu den Heiligen Zentren pilgerten, und wieder andere, die als Flüchtlinge (vor Hunger) oder als Wanderarbeiter ihr Dasein fristeten, aber auch jene, die als Banditen bezeichnet wurden. Chen Shiduo hatte, wie viele seiner Zeitgenossen, so manches Jahr mit ausgedehnten Reisen verbracht. Da man auch als Privatier, wenn man von Gönnern unterstützt wurde,276 durch das Land reisen konnte, befand er sich in Einklang mit der durch Konfuzius’ Vorbild begründeten Sicht auf das Reisen als Mittel zur »Selbst-Bewahrung«.277 Chens Reisen führten ihn im Boot durch Flusstäler und herrliche Landschaften, auf die Heiligen Berge278, wo er von Eremiten lernen wollte. Reisen war nicht nur Teil des neuen Lebensgefühls einer Zeit, in der Gelehrte zwischen Rückzug aus der gesellschaftlichen Verpflichtung und Engagement schwankten, sondern auch ein Mittel zum Zweck  : nämlich die Bekanntschaft mit Außergewöhnlichen (Eremiten) zu machen, von denen man sich tiefe Kenntnisse erwartete. Chens Reisen hatten ihn im Norden nach Beijing279, im Süden nach Wuzhou 梧州280, sowie auf den Berg Duxiu 獨秀 im Zentrum von Guilin 桂 林 geführt, wobei die letzteren beiden Orte bekannt sind als Rückzugsorte Heiliger, sowohl buddhistischer als auch daoistischer Provenienz281. Er scheint ausgiebig Gebrauch gemacht zu haben von den Booten, die in jedem Hafen lagerten und jederzeit gemietet werden konnten. 282 So berichtet er, dass er auf dem Boot medizinische Texte niederschrieb. Hinter der »Wanderlust« verbergen sich mehrere Perspektiven  : Einmal das Selbstverständnis eines »aufrichtig Suchenden« nach der Vervollkommnung als Mensch bzw. nach der »Menschwerdung«, weil die – nicht nur in neokonfuzianischem Verständnis – mora275 Vgl. Kuhn 1990, 40. 276 Zu den Möglichkeiten, sich ein Leben als Privatier, fernab von gesellschaftlichen Zwängen, »leisten« zu können, siehe Cahill 1988. 277 Siehe hierzu Eggert, 1999, 38–39. 278 Es ist ausdrücklich die Rede von den Wu yue 五嶽 (Fünf Heilige Gipfel), die als solche seit etwa dem 8. nachchr. Jahrhundert eher dem daoistischen Gedankengut zugeordnet werden. Siehe Landt 1994, 8. 279 In Beijing war er zweimal gewesen, 1687 und 1693, beide Male für Prüfungen. Darauf werden wir an entsprechender Stelle, nämlich im Hinblick auf die Selbst-Repräsentation Chen Shiduos, eingehender zu sprechen kommen. 280 Östlich vom Kreis Anping 安平 in Guangxi. 281 Bereits im Taiping yulan 太平御覽 (976–984), Referenzwerk für den Kaiser aus der Regierungsperiode Taiping, finden sich 471 Berge hierarchisch aufgelistet. 282 Siehe hierzu Brook 1999, 174–175.

Chen Shiduo (1627–1707): Biographische Fragmente 

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lische Forderung nach völliger Hingabe an die Welt eingelöst wird  ; zweitens wird dieses Selbstverständnis deutlich in den Losungen »Lernen, die Welt zu ordnen« (jingshi zhi xue 經世之學)283, »Umfassendes Lernen« (boxue 博學)284 sowie »Ergründen des Prinzips« (qiongli 窮理). Während das Eremitentum in früheren Epochen durch ein vergleichsweise eingegrenztes Motiv bestimmt sein mochte, nämlich der Weltflucht bzw. der Ablehnung eines Beamtenpostens, erscheint es für die Ming-Qing-Zeit bzw. für die spätere Kaiserzeit zunehmend schwieriger, ein einzelnes Motiv auszumachen.285 Auch war es offensichtlich notwendig geworden, sich deutlich abzugrenzen von den vielen, die vorgaben, »außergewöhnlich« zu sein.286 Größtenteils lässt sich unter Literaten des späten 16. und frühen 17. Jahrhun­derts nicht mehr der »Akt der Flucht, sondern der Wunsch, die eigenen Lebens­ bedingungen nach den persönlichen Idealvorstellungen zu bestimmen und zu gestalten«, beobachten.287 So steht die Loyalität zur untergegangenen Ming-­ Dynastie als Motiv des Rückzugs nicht im Widerspruch zu dem Streben nach Vervollkommnung, wobei die Reminiszenzen an das Außergewöhnliche als Artikulationen des Wunsches nach der Entscheidungsmacht über die eigene Lebensführung erscheinen. Selbstrepräsentationen in Form »spiritueller Autobiographien«, wie sie seit dem 16. Jahrhundert unter buddhistisch orientierten Gelehrten üblich waren, 283 Vgl. beispielsweise Wang Zhice in seinem Vorwort zum Bianzheng yuhan 辨証玉函, 1694. Die Losung »Jingshi zhiyong 經世致用« (Erlernen der praktischen Anwendbarkeit bei der Regelung von Angelegenheiten) gehört in die gleiche Kategorie von »Neuem Lernen«. Siehe hierzu Struve 1998, 339f. 284 Vgl. beispielsweise Chen Shiduo im zweiten Vorwort zum Shishi milu, 1687, in CQS, 269. Nach der Niederschlagung der Sanfan-Rebellion lancierte der Kaiserhof eine breit angelegte Kampagne, wozu nicht nur das Projekt der »Mingshi 明史« (Ming-Geschichte) zu zählen ist, sondern insbesondere auch die im Jahre 1679 abgehaltenen speziellen Prüfungen unter dem Motto »boxue hongru 博學鴻儒« (Umfassendes Lernen und tiefe Gelehrsamkeit) für diejenigen unter den Han-Gelehrten, die trotz ihres Talentes und ihrer herausragenden Fähigkeiten nicht in Beamten-Würden standen. Während einige herausragende Han-Gelehrte die Vorstellung, zwei Dynastien nacheinander zu dienen, nicht ertragen konnten und somit ablehnten, egriffen andere die Chance, und begaben sich in die Dienste der neuen Dynastie. Siehe hierzu ausführlich Struve 1998, 328ff. 285 Das Motiv des Rückzugs in Notzeiten ist spätestens seit der Han-Zeit bekannt, und zwar im Zusammenhang mit Bergregionen, die in Notsituationen, in Zeiten drohender Invasionen, plündernder Truppen oder Banditen als Refugien dienten. Siehe hierzu Schmidt 1996, 19. 286 Auch davon schreibt Chen, siehe Bianzheng lu, juan 10, CQS, 931. 287 Vgl. Altenburger 1994, 13, und die weiterführende Diskussion des Begriffes im Kontext des 16. und 17. Jahrhunderts in ibidem 1994, 6–15.

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zeichnen die Lebensentwürfe von Eremiten, deren Leben frei von gesellschaftlichen Bindungen mit Frauen und Kindern sei, in deutlichen Bildern.288 Im Besonderen verweist Chens Narrativ der »Wissensübermittlung der Heilkunst« unmittelbar auf das Heilige und Außergewöhnliche bzw. auf heilige und außergewöhnliche Personen. In literarischen Schriften der späten Ming-Zeit (16. und 17. Jahrhundert) sind ebenfalls zumeist Helden verhandelt, die als Reinkarnationen historischer Figuren, die ihre Lebenswege bzw. Karrieren als Helden aufgrund himmlischen Einflusses und karmischer Bestimmung erlangt haben.289 Somit schöpfen Autoren literarischer Texte aus denselben Quellen zur Herleitung von Wissen bzw. von Heldenmut und ethischer Authentizität wie die Verfasser medizinischer Texte. Die Begegnung mit den Himmlischen Meistern (tianshi 天師) Sechs der insgesamt acht erhaltenen Werke Chen Shiduos sind Produkte der direkten Übermittlung vom Himmel  : das Shishi milu, das Bianzheng lu, das Bencao xinbian, das Dongtian aozhi, das Bianzheng qiwen und das Maijue canwei. Die übrigen beiden Werke sind jeweils ohne Vor- oder Nachworte überliefert, weshalb die explizite Herleitungserklärung fehlt. Damit sind diese Werke keine gewöhnlichen Bücher, sondern Resultat der Kommunikation mit dem Himmel.290 Die Begegnung des Autors mit drei Himmlischen Meistern (tianshi 天師) – auch Menschen des Himmels (tianren 天人), Vollkommene (zhenren 真人), vollkommene Weise (xian 仙) und Heilige (shengren 聖人) genannt –, alle drei imposante ehrwürdige Herren, leitet das Narrativ der Wissensübermittlung ein. Die Erzählungen von der Begegnung, der feierlichen Übergabe sowie den monatelangen gemeinsamen Diskussionen über das verliehene Wissen umrahmen die Werke in Gestalt von Prologen und Epilogen, d. h. die Verfasser der Vorworte, angefangen von den Himmlischen Meistern 288 Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts haben sich im chinesischen Kontext verschiedene Formen selbstbiographischer Repräsentationen herausgebildet. Hierzu gehört die Form von Augenzeugenberichten, die Märtyrerautobiographie, die stark ironisierten Auto-Nekrologe, die teilweise aus Versatzstücken aus offiziellen Heldenbiographien zusammen gesetzt sind, Selbst-Eulogien und auch »spirituelle Autobiographien«. Siehe hierzu Bauer 1990, sowie Riemenschnitter 1997, 185–186. 289 Siehe hierzu Hanan 1985, 196. Hanan spricht hierbei von »Metempsychosis«. Dieser wertenden Interpretation wollen wir hier nicht folgen. 290 Vgl. das Vorwort von Lü Dongbin bzw. Lü Daoren 道人, einem der Acht Unsterblichen, zum Shishi milu, CQS, 271.

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Qi Bo 崎伯, Zhang Zhongjing 張仲景 und Lü Dongbin 呂洞賓 bis hin zu Provinzgouverneuren, Magistraten und anderen Gönnern, präsentieren dieses Wissen als »Himmlisches Wissen«. Sie treten somit als Zeugen für das »Heilige und Mysteriöse« auf und preisen gleichzeitig Chen Shiduo wegen seiner »Außergewöhnlichkeit (qi 奇)«, nicht zuletzt, um weitere Unterstützung für die Finanzierung der Druckblöcke einzuwerben oder um ihre eigene diesbezüglich erwiesene Hilfe zu bescheinigen.291 Die Erzählungen stimmen nicht in jedem einzelnen Detail überein, schreibt doch jeder Protagonist und jeder Zeuge die Geschehnisse jeweils aus seiner eigenen Sicht, um Authentizität zu suggerieren. Wir fragen nicht, ob diese Personen real oder fiktiv waren, oder ob es sich um eine Art telepathischen Austausches mit Lebenden handelte, die »eigentlich« bereits verstorben sind bzw. mit Verstorbenen, die »eigentlich« leben, weil sie von außerordentlicher Natur sind.292 Wenn der Himmlische Meister Qi Bo 崎伯 in seinem Vorwort zum Shishi milu davon spricht, dass er allein (d. h. ohne Begleitung) Chen begegnet sei, so erfahren wir dahingegen aus dem Vorwort des zweiten Protagonisten, Zhang Zhongjing 張仲景 (150–219) aus der Östlichen Han-Zeit (Dong Han 東漢), dass dieser der Begleiter des Qi Bo war. Wenn Qi Bo der Begegnung eine theatralische Note verleiht, indem er beschreibt, wie Chen zu Beginn nicht gewusst habe, dass er vom Himmel gekommen sei, so hebt Zhang Zhongjing darauf ab, dass seine eigenen medizinischen Wissensbestände, die er nunmehr Chen Shiduo übergeben habe, bis dahin nicht überliefert worden seien. Aus dem Vorwort des dritten Himmlischen Meisters, Lü Daoren 呂道人, erfahren wir wiederum, dass letztendlich er es gewesen sei, der Qi Bo gebeten habe, nach Beijing zu kommen, um Chen Shiduo die Lehre zu übermitteln – und zwar die Lehre, von der alle bis zu diesem Zeitpunkt sprechen, die aber anscheinend nie jemand zuvor in Textform zu Gesicht bekommen hatte, weil sie nicht überliefert worden war  : die Lehre von Hua Tuo 華佗 (ca. 141–208). Hua Tuo wird durchgängig als Arzt mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, insbesondere als Chirurg und als eine Art Wunderdoktor (shenyi 神醫), verehrt.293 291 Das stimmt im Übrigen mit der vom 16. bis in das 18. Jahrhundert hinein florierenden altruistischen Praxis durch buddhistisch gefärbte Vergeltungsvorstellungen über das Ansammeln von Verdiensten überein. Siehe hierzu Brokaw 1991, sowie Lehnert 2004. 292 Denn dann müsste auch die Tatsache, dass telepathische Verbindungen auch heute (wieder) als legitimes Mittel zur Eruierung wirkungsvoller Therapien in speziellen Fällen dienen, Gegenstand der Untersuchung sein. Siehe hierzu Scheid 2002, 17. 293 Hua Tuo kommt im Kanonisierungsprozess der chinesischen Medizin, und zwar seit dem 3.

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Dies mag auch mit seinem tragischen Ende zusammenhängen. Wegen der erfolgreichen Behandlung des Militärführers und zu seiner Zeit mächtigsten Staatsmannes Cao Cao 曹操 (155–220) war er in dessen Gefolge aufgenommen worden. Als Hua Tuo sich unter dem Vorwand dringlicher Familienangelegenheiten vom Hof zurückziehen wollte, ließ Cao Cao ihn festnehmen und zum Tode verurteilen. Obgleich Hua Tuo seine Schriften dem Gefängniswärter übergab, verbrannte dieser sie aus Angst vor dem Herrscher. Im 17. Jahrhundert kommt es nun endlich zur Übermittlung dieser wertvollen medizinischen Schriften durch Chen Shiduo. Jin Yimou 金以谋,294 dessen Vorwort im Shishi milu den Epilogen der Himmlischen Meister voransteht, macht deutlich, dass Hua Tuo der Nachfolger von Bian Que 扁鵲, einem legendären Arzt aus der Östlichen Zhou 周-Dynastie (481–221) sei.295 Damit stellt er Chen Shiduo als rechtmäßigen Nachfolger in die Linie der außergewöhnlichen, »göttlichen« (shenqi 神奇) Medizin.296 Er begründet diese Wahl seitens der Himmlischen Meister mit Chen Shiduos Aufrichtigkeit in seinem Sehnen nach Errettung der Welt. Diese Tugendhaftigkeit allein habe ihn schließlich zum Auserkorenen gemacht, der dieses – ehedem für die Welt verlorene, aber im Himmel bewahrte – Wissen erneut der Welt zugänglich machen sollte. Einer anderen Version zufolge297 befindet sich Chen zu Beginn seines siebten Lebensjahrzehnts – wie oben schon angedeutet – zwischen Spätsommer

Jh. n. Chr., eine signifikante Bedeutung zu. So finden sich im Sanguo zhi 三國志 (ca. 290), juan 29, und im Hou Han shu 後漢書 (ca. 450) mehrere Einträge zu Hua Tuos außerordentlicher medizinischer Kunst. Vgl. den kurzen Überblick zu den diesbezüglichen Einträgen in Cullen 2001, 305–307. Vgl. auch die Ausführungen zu Hua Tuo im Shishi milu, juan 1, 286, wo Chen beteuert, dass er nicht eine Bestrafung wie Hua Tuo erleben möchte. 294 Er stammte aus Huazhou 华州, was eine alte Ortsbezeichnung für den Raum südwestlich des heutigen Kreises Yiwu 义乌 in der Zhejiang-Provinz ist – und ist damit, auch eigenen Aussagen zufolge, ein Landsmann Chen Shiduos. Vgl. den Prolog zum Shishi milu, CQS, 267. 295 Zu Biographie, Text- und Wirkungsgeschichte von Bian Que siehe Rall 1970, 40 und 70  ; Yamada 1988. Von Bian Que wird gesagt, dass er von einem Unsterblichen ein geheimnisvolles Rezept übereignet bekommen habe  ; und nachdem er den betreffenden Absud dreißig Tage lang getrunken habe, sei er zu dem begnadeten Arzt geworden. Bian Que wird in der chinesischen Medizingeschichtsschreibung zumeist mit seiner Expertise in der Pulsdiagnose in Verbindung gebracht. Siehe hierzu Hsu 2001, 54–55. Doch im 14. Jahrhundert galten Verweise auf Bian Que gerade wegen des »Außerordentlichen (guai 怪)« als heterodox. Vgl. hierzu Ki-che Leung 2003, 385–386. 296 Vgl. den Prolog zum Shishi milu, CQS, 267. 297 Vgl. den Prolog von Tao Shiyu zum Dongtian aozhi, CQS, 1013–1014.

Chen Shiduo (1627–1707): Biographische Fragmente 

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Abb. 2  : Qi Bo und der Gelbe Kaiser (Huangdi) im Gespräch. Aus  : Lidai shenxian tongjian 歷代神仙通鍳 [Holzplattendruck aus 1700] reprint 1989, 1. Bd., 67.

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und Herbst des Jahres 1687 in einem Gästehaus in Beijing,298 seine Augen gen Himmel gerichtet und laute Seufzer ausstoßend, als zwei Herren vor ihm erscheinen  : Die Unsterblichen Qi Bo299 und Zhang Zhongjing treten als imposante Gestalten in ehrwürdiger Kleidung und Haltung incognito vor ihn. Sie erfahren von Chen, dass er aus einer fremden Gegend stamme und dass, obgleich er über keinerlei Ressourcen verfüge (yixiang luobo 異鄉落魄)300, er dennoch nicht auf Profit aus sei (wu yi wei zi shen ji 無以為资身計), sondern allein um das Wohl der Menschen auf dieser Welt besorgt sei. Erst nachdem sich die Unsterblichen von Chens aufrichtigem Wunsch nach selbstloser Hilfe­leistung bei Leiden und Krankheit, und zwar auch angesichts schwieriger Zeiten,301 überzeugt haben, bieten sie Chen an, ihm ihr Wissen zu offenbaren. So vergehen mehrere Monate mit Unterweisung und Aufzeichnung. Und erst nachdem alles niedergeschrieben ist und die beiden Herren Chen ihre Identität offenbart haben, erreicht die Erzählung ihren Höhepunkt  : Chen weiß jetzt, dass er nicht nur mit »außergewöhnlichem« medizinischen Wissen beschenkt worden ist, sondern auch, dass dieses ihm offenbarte Wissen in Wirklichkeit das vor Jahrtausenden für die Welt »verlorene« Wissen des Hua Tuo ist. Chens einzigartige Demut und die Wahrhaftigkeit in seiner Sehnsucht nach Errettung der Welt von Leiden und Krankheit markieren ihn als Auserwählten, dementsprechend erscheint er als geeignet für die Begegnung mit den Unsterblichen.302 Chens – im Beijinger Gästehaus gezeigte – Wehmut (ai 哀) ließe sich unschwer auf die wiederholten Misserfolge bei den Prüfungen zum Juren 舉人 (Magister) zurückführen, denn Depressionen oder andere schwere Erkrankungen und auch Selbstmord sind für solche Fälle belegt303. Doch sei hier die zweite, in den Prologen nahegelegte, Version erörtert  : Chen war in hohem Maße niedergeschlagen und frustriert (yiyu wuliao 抑鬱無聊), weil er so viele Jahre mit dem Studium der medizinischen Klassiker zugebracht 298 Im Prolog des Dongtian aozhi gibt Chen das Jahr 1687 an. Vgl. CQS, 1015. Im Bianzheng lu gibt er das Jahr 1693 an. Es ist durchaus anzunehmen, dass Chen sich sowohl 1687 als auch 1693 in Beijing aufgehalten hat. 299 Es sind in der Hauptsache die Gespräche zwischen Qi Bo und dem Gelben Kaiser, die als Grundlage für die Aufzeichnungen im Huangdi Neijing Suwen 黃帝內经素問 (–100 bis 200, Klassiker des Gelben Kaisers, Suwen), dem Erstwerk im medizinischen Kanon, erscheinen. Zhang Zhongjing (ca. 150–219) gilt als der Verfasser des Shanghanlun 傷寒論 (Über Kälteverletzungen). Zur Textgeschichte dieses Werkes siehe Mitchell et al. 1999. 300 Vgl. den Prolog von Tao Shiyu zum Dongtian aozhi, CQS, 1013. 301 Siehe den Bericht im Prolog des Tao Shiyu zum Dongtian aozhi, CQS, 1013. 302 Im Original  : 故得與仙靈相遇. Prolog des Tao Shiyu zum Dongtian aozhi, CQS, 1014. 303 Siehe T’ien 1988, 90–113 und Elman 2000, 295–298.

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und doch immer noch nicht die erhoffte Weisheit und Kunstfertigkeit erlangt hatte.304 Er war somit auf der Suche nach einem Meister für die mündliche Unterweisung. Chen Shiduo hatte den Klassiker des Gelben Kaisers, d. h. die verschriftlichten Dialoge zwischen dem Gelben Kaiser und Qi Bo, mehr als drei Jahrzehnte hindurch studiert,305 galt dieses Werk doch auch zu seiner Zeit als das Grundlagenwerk der Medizin. In seiner schieren Verzweiflung über die Unzulänglichkeit des bloßen Bücher-Studiums wird er erhört und zum Mittler zwischen Himmel und Erde gemacht, indem er die einst verbrannten Schriften des Hua Tuo 華陀 der Welt zur Verfügung stellt. Freilich lässt sich die behauptete Unzulänglichkeit von bloßem Bücherwissen als Teil e­ iner allgemeinen, während seiner Zeit offen zutage tretenden Kritik gegenüber neokonfuzianisch fundierten Vorgaben von Gelehrsamkeit lesen306 und damit auch als Element einer grundsätzlich kritischen Haltung Chens gegenüber gesellschaftlich sanktionierten Normen.307 Wenn Qi Bo als der legendäre Gesprächspartner des Gelben ­Kaisers und Zhang Zhongjing als Verfasser des Shanghan lun 傷寒論 (Abhand­lung zu den Kälteverletzungen) im kulturellen Gedächtnis für die medizini­schen Klassiker par excellence stehen, so kommt Chens ­Begegnung mit beiden einer Inthronisierung seiner Person im Pantheon der – wie auch immer gearteten – offiziell kanonisierten Medizin gleich.308 Mit Lü Dongbin, dem dritten Unsterblichen, verhält es sich etwas anders, da er sich im Zentrum einer Tradition daoistisch inspirierter Lebenspflege und Suche nach Unsterblichkeit befindet. Chen Shiduo begegnet dem Unsterblichen Lü Dongbin in Beijing309 sowie auch auf dem Duxiu 獨秀-Berg.310 Und 304 So im Prolog zum Shishi milu von Jin Yimou, in CQS, S. 267 sowie im eigenen Prolog zum Bianzheng lu, CQS, 696. 305 Siehe die eigene Aussage im Prolog zum Shishi milu, in CQS, S. 269. 306 Man denke nur an Gu Yanwu, Huang Zongxi und Wang Fuzhi, die drei als Gründerväter der qingzeitlichen Gelehrsamkeit geltenden Begründer der philologisch-textkritischen Schule. Siehe hierzu Elman 1984  ; Wilson 1997, 52–54. 307 Siehe hierzu das Kapitel V der vorliegenden Arbeit. 308 Zu den Gründungen zahlloser Tempelanlagen, die speziell der Verehrung herausragender Ärzte gewidmet waren, während der späten Kaiserzeit, siehe Chao Yüan-ling 1995, 131–140. 309 Darauf weist Chen Shiduo immer wieder hin. Zunächst im vierten Vorwort zum Shishi milu (unter dem Namen von Lü Daoren)  ; außerdem verweist er darauf im Rahmen der Herleitungsberichte seiner Rezepte, so z. B. in Shishi milu, juan 4, CQS, 375 und Shishi milu, juan 5, CQS, 389. Jin Yimou beschreibt die Begegnung in Beijing im ersten Vorwort zum Shishi milu, CQS, 267. 310 In Zhejiang. Davon berichtet Chen in den Leseanleitungen zum BCXB, CQS, S. 87.

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so bittet er Lü auch um die Abfassung des vierten Prologs zum Shishi milu. Lü Dongbin bzw. Daoren ist einer der »Acht Unsterblichen« (ba xian 八仙)311, die seit der Yuan-Dynastie (1271–1368)312 auf zahllosen Fresken sowie in verschriftlichter Form festgehaltener Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses sind. Ursprünglich hieß Lü, die wohl bekannteste der acht liminalen Figuren, Lü Yan 呂岩, mit Großjährigkeitsnamen Dongbin 洞賓 (Herr/Gastgeber der Grotten) und mit Rufnamen auch Chunyang Zi 純陽子 (Meister des Reinen Yang). Bei seiner Geburt (um 780 [755  ?] n. Chr.) soll der Raum mit höchstem Wohlgeruch und himmlischer Musik erfüllt gewesen sein. Sein Todesjahr ist nicht überliefert. Lü Dongbin soll ein Leben als Wanderer dem Beamtenleben vorgezogen haben  : Als er eines Tages von einer nicht bestandenen Prüfung in der Hauptstadt zurückkehrte, traf er einen alten Mann, der ihn auf eine Schale Wein einlud. Als sein Gastgeber sich anschickte, den Wein zu erhitzen, nickte Lü ein und träumte von einem Leben als Beamter in Reichtum und mit mehreren Frauen und Kindern. Nach 50 Jahren aber wurde er plötzlich in einen Skandal verwickelt und seine Familie teilweise getötet, teilweise verjagt und er selbst verbannt. Verlassen und notleidend, war er gerade dabei, dieses Leben zu beklagen, als er erwachte. Da sagte der alte Mann lachend  : »Dieses ganze Leben dauerte nur ein paar Augenblicke«. Lü erkannte, dass der alte Mann seinen Traum herbeigeführt hatte, und dass er sein Meister (nämlich Zhongli Quan 鐘離權, 2. Jh.  ?)313 sein würde. Dieser meinte außerdem  : »Bevor Du ein Unsterblicher werden kannst, musst Du noch viele gute Taten verrichten. Wenn Du 3000 Verdienste angesammelt hast, werde ich mit dem Unterricht beginnen.«314 311 Unter den zahllosen Unsterblichen innerhalb der chinesischen Mythologie sind die »Acht Unsterblichen« die wohl bekanntesten Figuren. Sie lebten in unterschiedlichen Zeitaltern. Wann sie zusammengekommen sind, darüber schweigt die Mythologie. Allerdings sind sie vor der Yuan-Dynastie nicht als »Acht Unsterbliche« erwähnt. Die Zahl »acht« ist eine Art »vollkommene« Zahl (vgl. die »acht« Trigramme, die »acht« Regionen, die »acht« Richtungen etc.), weil sie bestimmte menschliche Konditionen verkörpern soll  : Jugend, Alter, Reichtum, Armut, Männlichkeit und Weiblichkeit. Siehe hierzu Lai 1977, 4. 312 Der Kult um Lü Dongbin setzte bereits während der Song-Zeit ein. Siehe Katz 1999, S. 7. 313 Zhongli Quan 鐘離權 wird in den »Illustrierten Biographien der Ursprünge der Unsterblichen der Orthodoxen Linie des Goldenen Lotus«, 1327, Daozang, als Ahne von Lü Dongbin aufgeführt. Siehe hierzu Esposito 2004, 660. 314 Siehe Schipper 1993, 161, sowie Lehnert 2004, 96–97. Man beachte auch hier die vielfältige Relevanz dieses Unsterblichen, zum einen im Feld der Literatur  ; so soll er 250 Gedichte verfasst haben. Zum anderen im medizinischen Feld, wobei davon die Rede ist, dass er Menschen vom Tod ins Leben zurückgeholt habe.

Chen Shiduo (1627–1707): Biographische Fragmente 

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Lü Dongbin erreichte gerade im 17. Jahrhundert, nach der Machtergreifung durch die Mandschu, eine außerordentliche Popularität, weil die neuen Herrscher die Longmen (Drachentor-)Schule 龍門315, eine besondere Ausformung des Quanzhen 全真-Daoismus, (Vollkommene Wahrheits-)Linie316 als orthodoxe »Staatsreligion« förderten. Lü Dongbin galt in dieser Linie als einer der fünf Ahnen,317 und so erscheint er auf zahllosen Votivtafeln in Suzhou und Huzhou, die auf die Zeit der Thronbesteigung von Kangxi (1662) zurückge-

315 Die Longmen-Linie war die offizielle Vinaya-Schule, aus der die Vorsteher bzw. Äbte des Weiße-Wolken-Klosters in Beijing, unter Berufung auf den »Urvater«, den Heiligen Qiu Chuji 邱處機 (1148–1227) hervorgingen. Siehe Esposito 2004, 625. 316 Diese Linie geht zurück auf Wang Chongyang 王重陽 (1113–1170). Dieser Orden institutionalisierte neidan 內丹 (die Innere Alchemie) als den wichtigsten Weg zur Vervollkommnung, wozu auch das Zölibat gehörte. Die Klöster wurden nach und nach in buddhistischer Manier organisiert. Während der Quanzhen-Daoismus während der Jin-Zeit (1125–1234) großen Zulauf erhielt und vom Hof gefördert wurde, erfuhr diese Schule zur Yuan-Zeit (1271–1368) Ablehnung und Kritik von höchster Stelle. So wuchs die Signifikanz des Zhengyi 正一 Daoismus (der, mehr auf lokaler Ebene, für rituelle Aktivitäten wichtig geworden war) vergleichsweise stark an und die Anhänger des Zhengyi Ordens wurden in der Folge, also insbesondere auch während der Ming-Zeit, zu den prominentesten Vertretern des Daoismus am Kaiserhof. Zwischen 1408 und 1445 gaben diese Vertreter des Daoismus auf kaiserliche Anordnung den Daoistischen Kanon (Daozang 道藏) heraus. Dieser wurde erstmals im 5. und 6. nachchristlichen Jahrhundert zusammengestellt und in jeder nachfolgenden Dynastie um Werke daoistischer bzw. um Schriften verwandter Provenienz erweitert und neu herausgegeben. Die vollständige letzte Fassung stammt aus dem Jahre 1607  ; sie enthält an die 1500 verschiedene Werke, beginnend mit diversen Versionen des Daode jing 道得經 und endend mit Aufzeichnungen daoistischer Rituale, wie sie am Ming-Hof zur Zeit der letztmaligen Abfassung des Kanons abgehalten worden sind. Es handelt sich hierbei somit um eine eklektizistische Sammlung alter, neuer, technischer, poetischer, mystischer und praxisbezogener daoistischer Werke. Ab dem späteren 14. Jahrhundert (Beginn der Ming-Dynastie  : 1368) wurde dem Quanzhen-Daoismus die Rolle zugeteilt, durch strenge Disziplin die »höheren Formen des mystischen Daoismus durch Praktizieren der Inneren Alchemie« zu perfektionieren. Die Anhänger der Zhengyi-Schule dienten auf lokaler Ebene, in Tempelund Gemeindeorganisationen, als Ritenspezialisten. Gegen Ende der Ming-Dynastie (spätes 16. Jahrhundert) hatte sich die Anzahl der Tempel und Pilgerstätten quer durch das Land vervielfacht und der Daoismus ersetzte im Nordwesten sowie Südosten Chinas nach und nach den Buddhismus. Der Daoismus machte während dieser Zeit eine Transformation hin zur Feminisierung durch, was sich in einer verstärkten Hinwendung zu weiblichen Gottheiten zeigte. Frauen erhielten im Klerus einen gleichberechtigten Status neben den Männern. Siehe hierzu Bumbacher 1998, überblicksartig Schipper 2003 und weiterführend Despeux u. Kohn 2003. 317 Die Ahnenlinie stimmt nicht in allen Quellen überein. Zu Rekonstruktionsversuchen siehe Esposito 2004, 660.

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hen.318 Eine populäre biographisch angelegte Erzählung, ebenfalls aus dem Jahre 1662,319 beschreibt Lü Dongbin als einen unsterblichen Heiligen, der sich besonders um die Kranken und Armen bemüht habe sowie auch darum, sein Wissen an auserwählte Menschen weiterzugeben.320 Chen Shiduos Narrativ seiner eigenen Wissensempfängnis erscheint vor dem Hintergrund dieser gesellschaftspolitischen Prozesse bei all ihrer »Außer­ gewöhnlichkeit« als ziemlich alltägliches Ereignis. Angesichts der Tatsache, dass zu seiner Lebenszeit die »Lebenspflege-Praktiken im Zeichen des Quanzhen-­ Daoismus« von oberster Stelle gewissermaßen angeordnet wurden321, erscheint seine Präsentation der Wissensempfängnis beinahe lapidar. Doch ist es gerade die Beobachtung des Alltäglichen, die uns hier weiterhin zu beschäftigen hat  : Chen Shiduo bedient sich einer Figur, die in aller Munde ist und die also keiner besonderen Einführung bedarf. Der Unsterbliche Lü Dongbin wurde nämlich während seiner Zeit zum Gründungs-Patri­archen des Quanzhen-Daoismus, und zwar sowohl der Nördlichen als auch der Südlichen Abstammungslinien (daozong 道宗). Diese Inthronisierung bzw. Herstellung der Linie ist untrennbar verbunden mit der Inthronisierung von Wang Chang­ yue 王常月 (Kunyang 崑陽   ?–1680) zum Abt des Weiße-Wolken-­Klosters (Baiyun guan 白雲觀) in Beijing. In dieser Funktion überwachte dieser seit 1656 die offiziellen Ordinationen und die religiöse Ausbildung der daoisti318 Vgl. Needham 2000, 157. 319 Es handelt sich hierbei um das Lüzu quanzhuan 呂祖全傳, eine Anekdotensammlung von Wang Qi 王淇 (ca. 1600–1668  ?), Verfasser von Lyrik, Kurzgeschichten und medizinischen Schriften. Hervorgetan hat er sich insbesondere als Herausgeber am Druckhaus Huanduzhai 還讀齋 in Hangzhou und später auch in Suzhou während der Jahre 1620 bis circa 1690. Wichtig zu erwähnen ist auch, dass Wang Qi bzw. seine Schriften wegen seiner Ming-Loyalität, die insbesondere in seinen Chidu xinyu 尺牘新語 (Neue Briefe), 1663, 1667 und 1668 deutlich artikuliert ist, später vonseiten der Qing-Regierung tabuisiert wurde. Außerdem ist seine enge Verbindung mit Wang Ang 王昂 (1615–1699  ?) belegt, der wiederum als ein herausragender »Popularisierer« von medizinischem Wissen während der frühen Qing-Zeit gewirkt hat. Vgl. Unschuld 1986, 170. Zu den Verwandtschafts- und Freundschaftsverhältnissen zwischen Wang Qi und Wang Ang, siehe Widmer 1996, 78–83. Wang Qi selbst war offensichtlich nicht praktizierender Arzt. Seine Affinität zu daoistischen Lebensverlängerungspraktiken ist aber durch die Bezeichnung »Daoist« bezeugt, womit die Nähe zum medizinischen Feld wiederum gegeben ist. Vgl. Widmer, ibidem, 83. 320 Vgl. Dongyou ji 東游記, Novelle aus dem frühen 17. Jahrhundert. Siehe hierzu Schipper 1993, 161. 321 Wang Changyue 王常月 (  ?–1680) wurde als Abt des für die Öffentlichkeit zugänglichen Weiße-Wolke-Klosters (Baiyun guan 白雲觀) in Beijing eingesetzt. Siehe hierzu Esposito 2004, 640f.

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schen Priesterschaft, unabhängig von deren ursprünglichen Herkunft.322 Damit markierte er die Reorganisation der daoistischen Disziplinen. Er wurde aber erst ex post zum wichtigsten Bindeglied zwischen den Nördlichen und Südlichen Linien, indem man ihm posthum den Titel »Herausragender Meister, der das Eine umarmt« (Baoyi gaoshi 抱一高師)« verlieh, der auf Anordnung des Kangxi-Kaisers (1662–1722) auf einer Stele verewigt wurde. Dieser besonderen Auszeichnung des Abtes Wang Changyue als Staatsmeister (guoshi 國師) durch den Kaiser höchstpersönlich gingen Jahrzehnte kaiserlicher Protektion und Förderung voraus. Die Furcht der neuen Fremdherrscher vor regional verankerten Bewegungen, vor allem in den südlichen Gebieten, respektive der Jiangnan-Makroregion, war keineswegs aus der Luft gegriffen. So veranlassten die Mandschu mehrere Vorbeuge- und Gegenmaßnahmen, wozu wesentlich die Förderung und Protektion einer Schule/Linie innerhalb der daoistischen Religionen, nämlich die Quanzhen 全真 Linie gehörte. Wang Changyue wurde somit als offizieller Vertreter dieser Linie, als Abt des Weiße-Wolken-Klosters in Beijing, sowie als wahrer Nachfolger der Drachentor-Schule innerhalb der Quanzhen-Linie vom Kaiser gefördert und unterstützt. Und obgleich der orthodoxe Neokonfuzianismus unter den Mandschu einen neuen Auftrieb erhalten hatte, zeugen diese offiziellen Unterstützungen vom Bestreben des Kaisers, den Quanzhen-Daoismus als eine Art Staatskult zu installieren. Heilige, Wahre und außergewöhnliche Menschen (xian zhen yiren 仙貞異人) scheinen sich zahlreich in der Hauptstadt aufgehalten zu haben,323 doch oblag es offensichtlich der kaiserlichen Macht, zu entscheiden, welcher Genealogie diese Heiligen entstammten. So war es Anhängern des Zhengyi-Daoismus beispielsweise untersagt, die Grenze der Stadtmauern zu übertreten. Indem die Mandschu mit Lü Dongbin eine populäre Figur an die Spitze der nunmehr orthodoxen religiösen Linie stellten, fand die Legitimation der Fremdherrschaft ihre transzendentale Sanktion. Weil die südliche Zhengyi-Linie am Ende der Ming-Dynastie als Nährboden für Aktivitäten vonseiten sogenannter Ming-Loyalisten diente, musste die neue Herrschaft die Longmen »Quanzhen-Nord-Linie« stärken. Denn die Ming-Loyalisten setzten ihre ganze Hoffnung darauf, dass China durch Heilige Herrscher wieder vereinigt werde. Chen Shiduo befand sich genau zur Zeit dieser Aufwertung des Quanzhen-Daoismus in Beijing. Die Rede von Lü Dongbin als wahrem Urahnen der Quanzhen-Linie sollte wohl in aller Munde gewesen sein. Somit stellt sich das 322 Vgl. Esposito 2001, 191–195, sowie Esposito 2004, 622. 323 Siehe hierzu auch das Vorwort von Tao Shiyu zum Dongtian aozhi, CQS, 1014.

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oben dargelegte Ereignis »der Transmission« des wahren medizinischen Wissens als signifikante Handlung heraus, mit der Chen die eigene Geschichte und Person an die politische anschließt. Das Feld der Medizin Die Entscheidung für den »Weg der Medizin« – in Äquivalenz zum Weg des Gelehrten – erforderte im 17. Jahrhundert Argumentationsketten, die die Umkehrung der Signifikanz der Medizin im sozialen Gefüge fokussierten. Chens Texte verweisen nicht nur auf die Dringlichkeit der Umwertungsprozesse, von der Medizin als »Kleiner Weg« zur Medizin als »Großer Weg«. Sie vermitteln überdies unmittelbare Einblicke in die Dynamiken dieser Umwertungsprozesse, weil wir hier Definitionsleistungen vorfinden, die bereits am Ende der Prozesse stehen  : Der Nutzen der Medizin für das ganze Volk und alle Wesen unter dem Himmel wird mit dem zentralen Motor dieser Umwertungsprozesse begründet, nämlich dem »Himmlischen Meister« (tian shi 天師). Er begründet die Prozesse der Umwertung der Medizin, treibt sie voran und »heiligt« sie zugleich. Chen erfindet die Vorstellung von Unsterblichen, die in der Welt umherwandern und besonders verdienstvolle Menschen mit Wohltaten und wahrem Wissen beschenken, nicht. Im Gegenteil, diese Vorstellung ist im 17. Jahrhundert, sowohl in der Hauptstadt Beijing als auch im südlichen Raum, ein höchst virulentes Bild.324 »Der medizinische Weg ist so groß  !« (yidao da yi zai 醫道大矣哉) 325 heißt es wiederholt bei Chen Shiduo bzw. in den Vorworten zu seinen Büchern. Diese Feststellung, so wenig pompös sie sich gibt, reflektiert doch die Forderung, das Ansehen der Medizin insgesamt anzuheben. Bislang wurden – unter dem Einfluss des neokonfuzianischen Denkens – allein die kanonischen Werke als wichtig (»groß«) erachtet, und darunter figurierte keine medizinische Schrift.326 Immerhin vermochte die Medizin über Leben und Tod zu entschei324 Siehe Esposito 2001, 191. Einsetzend mit der späten Ming-Zeit (spätes 16., frühes 17. Jahrhundert) erlebten buddhistische Klöster und daoistische »Belvederes« außerordentlich großzügige Unterstützung vonseiten der wohlhabenden Bevölkerung. Vgl. Katz 1999, 124–125. 325 Vgl. den zweiten und dritten Prolog zum Shishi milu, CQS, 269 und 270. 326 Zhu Xi (1130–1200), dessen Kommentare zu den konfuzianischen Klassikern die Basis der neokonfuzianischen Kanonisierung dieser Werke geworden sind, kommentiert eine Stelle im Lunyu 論語 (Gespräche des Kongzi), wonach der Edle zwar die Aspekte der Lehren des Kleinen Weges (xiao dao 小道) in Betracht ziehen muss, jedoch beschäftige er sich nicht damit. Zu den unbedeutenden (小) Lehren gehörten Ackerbau, Gartenbau, Medizin, Weis-

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den, denn »der Weg der Medizin ist göttlich (shen 神) und außergewöhnlich (qi 奇), und die Medizin ist so außergewöhnlich, dass sie die Toten wieder zum Aufstehen zu bewegen vermag.«327 Obzwar die Medizin zum »Kleinen Weg« (xiao dao 小道) gehöre, sei ihre Wirkung auf das Leben der Menschen doch außerordentlich groß328, weshalb die »Medizin eine Kunst der Menschenliebe ist (yi renshu ye 醫仁術也)«.329 Die uralte Sicht, dass die Kunst der Medizin sich nicht von der Staatskunst unterscheide und dass ein guter Arzt (liang yi 良醫) zu vergleichen sei mit einem guten Kanzler (liang xiang 良相)330, fand Eingang in umfassend ausgerichtete Enzyklopädien des frühen 17. Jahrhunderts.331 Die Zeichen standen gut für die Umwertung der Medizin von einer marginalisierten Technik hin zu einem wichtigen Bestandteil des von jedem E ­ dlen zu begehenden »Großen Weges« (da dao 大道), bezogen auf Erkenntnis und Selbstvervollkommnung bzw. Selbstveredelung (xiu shen 修身), als Vervollkommnung des eigenen Weges (cheng dao 成道). Denn die zu dieser Zeit allgemein forcierte Hinwendung zur Praxis bzw. zu praktischen Fertigkeiten in der geistigen Ausrichtung der Gelehrten dieser Zeit (man denke an Gu Yanwu) stellte die Medizin in das Zentrum dieser Neuorientierung. Nicht zuletzt bot sie sich als Zuflucht für alle jene an, die aus unterschiedlichen Gründen keine Anstellung im Beamtenapparat fanden und sich als Ärzte ihren Lebensunterhalt verdienen konnten. Auch wenn solche ökonomischen Beweggründe nicht unterschätzt werden dürfen, so sind die Implikationen eines ausschließlich ökonomisch orientiert gedachten Subjektes nicht einmal ansatzweise mit den Aussagen in den untersuchten medizinischen Schriften in Einklang zu bringen. Auch wenn die Selbst-Stilisierung Chen Shiduos als Übermittler »höheren« Wissens als Teil einer Legitimationsrhetorik gelesen werden muss, deren konstruktive Züge nicht zu übersehen sind, ist diese Rhetorik doch selbst integraler Bestandteil der kosmologisch begründeten Weltordnungen, wie sie in den zeitgenössischen Gelehrtenkreisen zirkulierten. Diese Rhetorik speist sich gleichermaßen aus den Sphären eines homo tradens wie aus denen eines homo sagen und alle anderen Facharbeiten. Zur Diskussion der Medizin als minderen Weg siehe Unschuld 1975, 27–28  ; Chao Yüan-ling, 1995, 33. 327 Vgl. Vorwort zu Shishi milu, CQS, 271. 328 Vgl. Vorwort von Huang Sheng 黃晟 (1748) zum Bianzheng lu, CQS, 694. 329 Vgl. den Prolog von Jin Yimou zum Shishi milu, CQS, 267. 330 Dies ist Ausdruck der Gleichsetzung des Menschen (Mikrokosmos) mit dem Staat (Makrokosmos) und findet sich bereits im Huangdi Neijing. Siehe hierzu Engelhardt 2000, 95–97. 331 Siehe z. B. TSB, juan 68, 3.

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oeconomicus. Dabei stellt sich die moralisch motivierte Ausrichtung als fundamental für die Eingängigkeit bzw. für die Plausibilisierung der angestrebten Aufwertung der Medizin zur hohen Kultur des Heilens heraus. Chen Shiduos vielschichtige Bemühungen zur Differenzierung sowohl von medizinischen Praktiken wie auch von Praktikern medizinischer Heilkunst deuten auf höchst komplizierte und widersprüchliche Vorgänge. Entlang der binär verfassten sozialen Realitäten generierte sich die (in Richtung Aufwertung weisende) Klassifikation eines Heilkundigen als Teilprozess der hohen bzw. auch höfischen Kultur des Heilens. Chens diesbezügliche Distinktionen sind durchwirkt von Oppositionen. Die Laien bzw. gewöhnlichen Menschen (yong zhong 庸众) stehen den Außergewöhnlichen (yi 異, qi 奇 und shen 神), den Heiligen (xianren 仙人),332 die als wandelnde Vorbilder sowie als Übermittler der wahren Weisheit fungieren, gegenüber. Schlechte Menschen, die nur auf ihre Vorteile bedacht sind,333 stehen den Wahrheitsuchenden sowie dem Wunsch nach Errettung der Welt von Unheil und Krankheit gegenüber334  : Auch schlechte Menschen erstarren beim Anblick eines schwarzen Tigers und es gibt niemanden, der nicht im Herzen verletzt wäre, und das schlechte Gift müsse vollkommen zerstreut werden.335 Zu den schlechten Menschen zählen auch Alchemisten (fangshi 方士)336. Sie sind nicht wie die gewöhnlichen Menschen, die in ihrer Ignoranz verhaftet bleiben, die Geheimrezepte für verlässlich halten und solche Arzneien als wunderwirksame Elixiere ansehen, die die Menschen zu Tode bringen.337 Daher sollten sich Kranke vor all jenen hüten, die zu wenig Vorsicht walten ließen, weil sie zu schnell und zu voreilig angreifen (gong 攻), wodurch sich eine leichte Krankheit in eine schwere verwan­dele.338 Chen Shiduo steht selbstredend in Opposition zu all den Hinterhältigen, Arglistigen (jianxian 奸險), Geschwätzigen (pin 贫), Betrügern (zha 詐) sowie Kerlen (tu 徒), die im Herzen nicht gut (chu xin bu liang 處心不良) seien, weil sie 332 Vgl. den Prolog zum Dongtian aozhi, CQS, 1013. 333 Vgl. Bianzheng lu, juan 13, CQS, 984. 334 Vgl. den Prolog zum Dongtian aozhi, CQS, 1013. 335 Im Original heißt es  : 恶之人见黑虎亦, 未有不寒心者, 是恶毒得之尽散也 . Vgl. Bianzheng lu, juan 13, CQS, 984. 336 Hier kann fangshi durchaus all jene meinen, die sich in äußerer Alchemie übten, aber auch einfach jene, die als »Kräuterkundige« ihr Geld verdienen wollten, denn Chen spricht ausdrücklich davon, dass diese in falscher Weise Arzneien aus Stein und Metall herstellen würden. Vgl. Bianzheng lu, juan 6, CQS, 822. 337 Im Original heißt es  : 無如世人迷而不悟,以秘方為足恃,以殺人之藥為靈丹. Vgl. Bianzheng lu, juan 6, CQS, 822. 338 Siehe bspw. den Prolog zum Dongtian aozhi, CQS, 1013.

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jede Gelegenheit dazu nutzen, Vorteile zu ergattern. Denn auch bei leichteren Krankheiten würden solche Betrüger von gefährlichen Krankheiten sprechen, wodurch sie die Kranken ängstigten und darüber hinaus noch viel Geld einstreichen könnten.339 Ärzten aus den Massen (zhongyi 眾醫) sei gemeinhin nicht die Unterscheidung von yin und yang geläufig.340 Und wer die Materia medica (Bencao 本草) nicht kenne, vermöge im Falle seltsamer Krankheiten nichts zu unternehmen.341 Im Grunde bewegte sich Chen Shiduo zwischen drei Positionen, die alle drei nicht neu waren  : Dies sind erstens die Gelehrten-Medizin (ruyi 儒醫), zweitens die durch die Unsterblichen Ärzte »offenbarte« Medizin und schließlich drittens die sogenannte Generationen-Medizin (shiyi 世醫). Keine dieser drei Positionen verfügte über eine wie auch immer geartete institutionell bzw. juridisch festgelegte Stellung in der Gesellschaft. Daran schließt sich die Frage an, welche Form die angestrebte Aufwertung annehmen sollte bzw. wie die diskursiv eingeforderte Anerkennung als »Kulturelles Kapital« in »Kapital« umgesetzt werden konnte, mit dessen Hilfe der Lebensunterhalt bestritten werden konnte, und zwar ohne institutionelle Verankerung. Die verschriftlichten Diskurse zu dem Bestreben, die Medizin zu einem Bestandteil der Hohen Kultur aufzuwerten, kreisen sämtlich um eine Positionierung, die außerhalb der gängigen Praxis hergestellt werden müsse. So auch Chen Shiduo  : Obgleich er sich immer wieder von den Generationen-Ärzten (shiyi) distanziert, sucht er andererseits auch eine starke Relativierung der Gelehrten-Medizin (ruyi) herbeizuführen. Nichtsdestoweniger erhebt er den Anspruch, selbst Teil der Gelehrtenkultur zu sein. Der Bezug zu der Gelehrten- bzw. hohen Kultur liegt auf der Hand, weil Chen aus den medizinischen Klassikern wie dem Huangdi neijing Suwen, dem Huangdi neijing Lingshu, dem Nanjing sowie dem Shanghan lun schöpft, ohne dies im Einzelnen zu explizieren. Insofern wäre es, würden wir in Begriffen des »geistigen Eigentums« argumentieren wollen, naheliegend, auch hier den Plagiatsverdacht ins Feld zu führen.342 Doch ist ein solcher Verdacht – eine spezifisch europäische Problemstellung – zu sehr an die Frage um die Besitzrechte an einem Text, d. h. an das »Aufkommen der Idee des Genies […], dem absoluten Ver339 Vgl. ibidem, CQS, 1013. 340 Vgl. Bianzheng lu, juan 8, CQS, 878. 341 Vgl. Bencao xinbian, CQS, 88. 342 Zur Diskussion des Plagiatsverdachtes im Falle eines spätmingzeitlichen Arztes vgl. Volkmar 2000, 1–77.

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weis auf individuelle Verdienste, den Anfängen von der Idee der Originalität, und der Geburt des Autors« geknüpft.343 Die Weitergabe von medizinischen Kenntnissen war bis in die spätere Ming-Zeit, d. h. bis in das 16. Jahrhundert hinein, zu einem sehr geringen Teil an das Medium der Schrift gebunden.344 Der nun im 17. Jahrhundert florierende Büchermarkt könnte dementsprechend zumindest hypothetisch als Basis für eventuelle Plagiats-Streitereien angesehen werden. Doch haben wir, obgleich die Schriften von Chen Shiduo deutliche Spuren der Übernahme von medizinischem Wissen aus anderen Werken345 aufweisen, die Frage nach dem Ursprung seines Wissens bereits mit Hilfe seiner eigenen Narrative dargelegt  : Das Wissen stammte aus den »goldenen« Vorzeiten, wurde durch die Himmlischen Meister bewahrt und schließlich Chen persönlich transferiert. Er steht somit am Ende von jeweils drei Genealogien-Folgen. Neben Qi Bo, Zhang Zhongjing, Bian Que, Hua Tuo und Lü Dongbin, die jeweils in der Rahmenhandlung bzw. als in den Vorworten präsentierte Protagonisten der Wissensvermittlung erscheinen, finden sich in den Schriften selbst auch noch andere Protagonisten, die bereits in den frühen Klassikern sowie in der philosophischen Literatur vorkommen. So meldet sich beispielsweise Lei Gong 雷公, der Wahre Edle (Lei Gong zhen jun 雷公真君), immer wieder zu Wort, wobei er zumeist noch eine zusätzliche Rezeptur bereitstellt. Mitunter kommentiert er die Aussagen des Zhang Zhongjing, der als Wissensvermittler in den Prologen erscheint. Chen Shiduos Rezeption von Lei Gong, der ja als einer der Gesprächspartner des Gelben Kaisers im Huangdi neijing Suwen 346 eine kanonisierte Stellung innehat, zielt auf dessen reichhaltige medizinische Kenntnisse ab.347 Lei Gong selbst habe »[das Wissen] von Guang Chengzi 廣 成子 übermittelt bekommen (chuan 傳). Er kennt in tiefgründiger Weise den 343 Siehe hierzu in Bezug auf die italienische Renaissance Burke 2000, 176. 344 Sammlungen medizinischen Schrifttums sowie von Rezeptvorschriften existieren seit dem 9. Jahrhundert. Dies ist den erhaltenen Biographien von Ärzten zu entnehmen. Siehe hierzu Wu Yiyi 1993–1994, 65. 345 Siehe hierzu Kapitel IV in vorliegender Arbeit. 346 Dieser legendäre Arzt erscheint im Huangdi neijing Suwen und Huangdi neijing Lingshu an insgesamt sieben Stellen, als Dialogpartner des Gelben Kaisers. Er war Zeitgenosse und Beamter des mythischen Gelben Kaisers. Lei Gong wird überdies seit dem 5. Jahrhundert mit der pharmazeutischen Technologie in Verbindung gebracht. Vgl. hierzu Unschuld 2006, 2. 347 Dies widerspricht einer Interpretation aus unserer Zeit [vgl. Ma Boying 1994, 254–257], wonach Lei Gong der einzige »Schüler« unter den Gesprächspartnern des Gelben Kaisers war. Zu einer kritischen Sicht der Interpretation von Ma Boyings These siehe Unschuld 2003, 352.

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Weg der Medizin (yidao 醫道).«348 Guang Chengzi ist neben dem Gelben Kaiser die Hauptfigur im 11. juan des Zhuangzi 莊子 (ca. 300 v. Chr.). Der Gelbe Kaiser selbst sucht Guang Chengzi in einer Steinhöhle (im heutigen Gansu) auf, um Möglichkeiten zu erfahren, wie man langes Leben und Unsterblichkeit in Einklang mit dem dao (Weg) erreicht.349 Chen Shiduo erhält somit via Lei Gong die Weisheiten des Guang Chengzi übermittelt. 350 Dies ist die zweite Position, an der sich die angestrebte Umwertung der Medizin als dem »großen Weg« zugehörig und damit »neu« orientieren sollte  ; sie enthielt die Legitimierung der medizinischen Praxis durch eine höhere Instanz. An diesem Punkt betreten Qi Bo und andere Unsterbliche Ärzte die Bühne des Geschehens  : Chen betont unter dem Namen des Begründers der Medizin und legendären »Himmlischen Meisters«, nämlich Qi Bo, dass keine Medizin beanspruchen könne, Medizin zu sein, wenn sie nicht von Außergewöhnlichen übermittelt worden sei (fei chuan de yi ren 非傳得異人), weil nur dann die Prinzipien erschöpfend erkannt worden seien (fei li qiong 非理窮)351. Chen Shiduo revitalisiert somit Qi Bo als höchste Autorität in Sachen »medizinisches Wissen und dessen legitime« Stellung in der Gesellschaft, indem er ihn, der als Gesprächspartner des Gelben Kaisers auch maßgeblich an den Anfängen der Gelehrten-Medizin beteiligt ist, zum Fundament der zweiten Position, der »offenbarten« Medizin, erklärt. Die dritte Position, auf der die »neue Medizin« Stellung zu beziehen sucht, ist die Generationen-Medizin (shiyi). Sie zielt darauf, dass die medizinische Praxis eines einzelnen Arztes durch seine Zugehörigkeit zu einer Arzt-Familie wenigstens drei Generationen hindurch legitimiert sein musste.352 Für sich postuliert Chen Shiduo zumindest seinen Großvater als Kundigen in dem Feld, das es nun zu stärken galt, vereinte dieser doch in seiner Person sowohl die von Außergewöhnlichen offenbarte Medizin als auch die Praxisorientiertheit. Chen weiß offensichtlich, dass sich diese neue Medizin nur als eine Art Gratwanderung in einem Zwischenfeld generieren konnte, inmitten all derer, die für sich beanspruchten, die Kunst des Heilens zu beherrschen. Angefangen von 348 Vgl. Shishi milu, juan 5, CQS, 389. 349 Zhuangzi, juan 11, SBBY, 4.18a. Eine Diskussion dieses Dialoges liefert Puett 2004. Zu Guang Chengzi im Kapitel über die »Unsterblichen« (xian 仙) im Baopuzi 抱朴子(Meister, der das Einfache umarmt), Neipian 內篇 (Innere Kapitel) des Ge Hong 葛洪 (283–343), siehe Güntsch 1988, 31–32. 350 Vgl. Shishi milu, juan 5, CQS, 389. 351 Siehe Prolog zum Shishi milu, CQS, 269. 352 Siehe hierzu das Kapitel IV der vorliegenden Arbeit.

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den lese- und schreibkundigen Gelehrten-Ärzten, die er dann implizit meint, wenn er das reine Bücherwissen anprangert, über die Gewöhnlichen Ärzte (yongyi 庸醫), deren Fehler und Irrtümer zu fürchten seien353, gegen all jene, die nur nach Profit streben würden354 und die Wanderärzte bzw. all diejenigen, die Medizin praktizieren (xing yi 行醫)355 und dabei das Bencao (Materia medica) nicht gelesen hätten, und folglich nichts von den Prinzipien yin und yang wüssten,356 bis hin zu den fangshi 方士. Mit letzteren waren Heilkundige gemeint, die in niederen Kreisen verkehrten und die nicht umhinkonnten, sich den Verhältnissen anzupassen, z. B. billigen Ginseng zu verabreichen, weil sich die Leute keinen teuren Ginseng leisten konnten.357 Wenn Chen Shiduo als Angehöriger der Gelehrtenschicht allerdings Vorstellungen, die in seinen Kreisen gemeinhin als Aberglaube abgetan wurden, lediglich als »irrtümliche Überlieferungen (wuchuan 誤傳)« bezeichnet,358 so spricht das vielleicht für die für seine Gratwanderung unerlässliche Offenheit. Unter der dichten Schicht der Abgrenzung und Distinktion schimmern Spuren von Toleranz und Verständnis für die Objekte der Kritik durch. Die Spurensuche nach Chen Shiduo führte uns in die genannten Felder Moral, Lebenspflege, Religion und Medizin. Hier bewegte er sich in vielschichtigen Bezügen, im Gewand einer schillernden, höchst produktiven und gleichzeitig bescheidenen Persönlichkeit. Die Beanspruchung mehrerer Wirkungsfelder, indem er sich gleichermaßen als Medium der Unsterblichen wie auch als neokonfuzianisch gebildeter Gelehrter und als Praktizierender daoistisch inspirierter Lebensverlängerungsmethoden zeigte, mochte zwar von ihm selbst heftigst kritisiert worden sein,359 doch erscheint diese »Vielheit« als Kern einer neuen medizinischen Identität, die Chen Shiduo selbst verkörpert. Gestützt auf die transzendentale Herkunft des medizinischen Wissens erscheinen die Unsterblichen im Zentrum des religiösen Feldes. Gleichzeitig figurieren sie ebenso als Bezugspunkte in den anderen Feldern. Ehrfurcht 353 Im Original  : 惟恐庸醫之誤也Vgl. Vorwort zum Bianzheng lu, CQS, 693. 354 Er spricht explizit von jenen, die teuer Aphrodisiaka verschreiben würden, nur um den Leuten ein kurzfristiges Vergnügen zu bereiten. So etwas sei unter den frühen Arzt-Heiligen (yisheng 醫聖) nicht vorgekommen. Vgl. Bianzheng lu, juan 5, CQS, 802. 355 Xingyi kann gleichermaßen als Binomen (Wandernder Arzt) wie auch als Verb-Objekt (praktizierender Arzt) aufgefasst werden. 356 Vgl. Leseanleitungen, CQS, 87. 357 Vgl. Bianzheng lu, juan 13, CQS, 983. 358 Vgl. Bianzheng lu, juan 13, CQS, 998. 359 Ähnlich zu Chens Kritik an denjenigen, die damit prahlten, die Rezepturen aus geheimnisvoller Hand übermittelt bekommen zu haben, kommentiert auch das XQZL, juan 6, 518.

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und Respekt, die wiederum als Zentrum im Feld der Moral auszumachen waren, kommen in doppelter Hinsicht zum Tragen  : Sie kennzeichnen Chen Shiduos Verhältnis gegenüber den Unsterblichen und bilden gleichzeitig die inneren und äußeren Haltungen, die für seine Auserwählung Vorraussetzung waren. Die Selbstkultivierung als Mittelpunkt im Feld der Lebenspflege wiederum ist nicht nur körperlich gemeint, sondern gehört gleichermaßen dem moralischen Feld an. Als Mittelpunkte im medizinischen Feld fungierten gleichrangig der geforderte Praxisbezug und die Gelehrten-Medizin. Praxisbezug und Gelehrten-Medizin wiederum sind über die durch die Unsterblichen offenbarte Medizin wesentlich dem religiösen Feld und dem Feld der Moral verbunden.

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IV Medizin als Cluster von Praktiken und Theoremen

Die Annäherung an Chen Shiduo im vorangegangenen Kapitel fokussierte ihn inmitten verschiedener und sich doch überschneidender Felder, die sich in seiner Person kreuzen. In diesem Kapitel geht es ein weiteres Mal um das Feld der Medizin, wobei Chen als zentrale Figur nur unter anderen, die das Feld entscheidend mitprägten, in Erscheinung tritt. Die hochgradige Komplexität dieses Feldes mit seinen Variablen lässt sich am besten mit dem Begriff »Cluster« bzw. »Kluster« (was dicht und dick zusammensitzt)360 fassen.

Distinktionen

Um eine adäquate Positionierung des Arztes in der Gesellschaft zu erreichen, werden im 17. Jahrhundert wesentliche Abgrenzungen vorgenommen, ohne dass diese starr und undurchlässig wären.361 Im Gegenteil, sie werden immer wieder unterlaufen. Da ist zum einen, wie schon im ersten Kapitel dargelegt, das Abgrenzungsbedürfnis gegenüber der Mandschu-Herrschaft, aus dem heraus die Medizin als politisch unverfängliches Feld der Betätigung und des Lebensunterhalts gewählt wird. Gleichzeitig gibt es genügend Beispiele für ehemalige Ming-Loya­ listen, die sich mit den Mandschu letztendlich arrangierten.362 Da sind zum anderen die geographischen Distinktionen. Neuere Forschungs­ befunde verweisen auf die Ausdifferenzierung von lokalen Identitäten in der Jiangnan-Makroregion während der späteren Kaiserzeit.363 Auch medizinische Schriften aus dieser Zeit zeugen von diesbezüglichen Positionierungen. Mit anderen Worten, die Unterscheidung zwischen Menschen aus dem Norden, Süden, Westen und Osten wurde, neben der Differenzierung von Arm und Reich, Frau und Mann, Alt und Jung, ein grundlegendes Kriterium für die unterschiedliche Therapierung von Krankheiten. Dies war nicht nur eine poli360 Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 11, Spalten 1308–1326. 361 Distinktionen solcher Art finden sich auch im frühneuzeitlichen Europa. Siehe hierzu Burke 1994, 10. 362 Siehe Struve 1979, 321–365. 363 Siehe Bol 2003.

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tische Abgrenzung, sondern dahinter standen ebenso ganz handfeste medizinische Notwendigkeiten, die mit den im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert vermehrt auftretenden Epidemien in Südchina zusammenhängen.364 Als Angehöriger der Gelehrten-Beamten-Schicht war Chen Shiduo auch Teil eines sozialen Abgrenzungszusammenhangs. Die Gelehrten aus den unterschiedlichsten geographischen Kontexten glichen sich sowohl in ihren gemeinsam vertretenen Werten wie auch in den mitunter traumatisch erlebten Prüfungssituationen365, insbesondere wenn sie die Jahrzehnte währenden Prozesse der Examinierungen in aufeinanderfolgenden Etappen auf Distrikt-, Provinz-, Hauptstadt- sowie Palastebene bestanden hatten. Damit wurden die angesprochenen lokalen Abgrenzungstendenzen in gewisser Weise außer Kraft gesetzt. Die Herausbildung dieser Gelehrten-Beamten-Identitäten geschah immer wieder von neuem, von Generation zu Generation. Chen war wie viele seiner Zeitgenossen Teil dieses Prozesses. Die Kritik am Neokonfuzianismus, wie sie von Huang Zongxi 黃宗羲 (1610–1695)366, Lü Liuliang 呂留良 (1629–1683), Gu Yanwu 顧炎武 (1613– 82), Yan Yuan 顏元 (1635–1704)367, Li Gong 李塨 (1659–1746), Wang Fuzhi 王夫之(1609–1692) und schließlich Dai Zhen 戴震 (1724–1777) vorgetragen wurde, lief ebenfalls auf eine Distinktionsbewegung hinaus. Sie sollte auf dem Fundament eines neuen Denkens mithelfen, dringliche weltliche Angelegenheiten, wie die Vertreibung der Mandschu und die Neuorganisation des Staates, zu bewältigen. Dies setzte voraus, neu zu ergründen, worin die »Untersuchung der Dinge und Erweiterung des Wissens« (gewu zhizhi), wie bei Zhu Xi朱熹 (1130–1200) ehedem formuliert, bestehen könnte. Man suchte nach Möglichkeiten, im Gewande altbekannter Termini neue Inhalte vorzubringen und diese verbindlich zu machen, wozu wesentlich die Frage gehörte, ob ein Erkennen ohne Ethik (entgegen Zhu Xis Sicht) zu bewerkstelligen sei. 364 Zu diesem Zusammenhang Chao Yüan-ling 1995, 113–123. 365 Siehe hierzu Elman 2000, 295–370. 366 Die Standard-Biographie findet sich in Hummel 1970, 351–54. 367 Einer der bekanntesten und repräsentativsten Vertreter der Bewegung für praktisches Lernen (shixue 實學) in der frühen Qing-Zeit. Yan Yuan hat sich außerdem, wie zahlreiche andere Gelehrte jener Zeit, die sich aus der Aussicht auf ein Beamtendasein wenig machten, dem Studium der Medizin verschrieben, um sich dann als Arzt den Lebensunterhalt zu verdienen. Tu Wei-ming 1975, 516, bewertet diese Hinwendung zur Medizin als eine in hohem Maße abweichende Haltung von der konventionellen Sicht dessen, was ein junger Gelehrter anstreben sollte. Yan Yuan, der sich nach 1689 für sechseinhalb Monate auf Reisen durch Zentralchina begeben hat [vgl. hierzu Tu Wei-ming, 1975, 520], könnte mit Chen Shiduo bekannt gewesen sein, zumal auch dieser sich zu dieser Zeit auf Reisen durch Zentralchina befunden haben muss.

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Insbesondere Huang Zongxi und Gu Yanwu standen für die Abschaffung des zentralistischen Systems, gleichwohl tradierten sie neokonfuzianische Grundsätze implizit oder explizit weiter. Ihre Skepsis gegenüber der Lehre von Zhu Xi betraf die damit verknüpfte Betonung der Disziplin des Rituals. Die Abkehr von den konventionell kanonisierten Texten als einzige Quelle von Moral und von hohlem ritualisiertem Verhalten wurde begleitet von dem Streben nach dem freien Ausdruck des Geistes (yiqi 意氣)368. Die freie Artikulation von Absichten und Gedanken (yi 意) implizierte zugleich die Notwendigkeit einer Abkehr von einer zutiefst einverleibten Haltung den Emotionen gegenüber. Damit setzen sich diese Gelehrten, ohne selbst unbedingt Ärzte zu sein, nicht nur für die Neustrukturierung und Praxisorientierung des medizinischen Wissens ein, sondern auch dafür, dass die unteren Schichten ebenfalls von einer »guten Medizin« (liangyi 良醫) profitieren sollten. Im Rahmen der Herausbildung neuer Karrieremuster im 17. Jahrhundert erlangte die Entscheidung für die Medizin eine zentrale Bedeutung. Die Medizin war im neokonfuzianischen Kontext marginalisiert, dem »Kleinen Weg« zugerechnet und dementsprechend – obgleich eine äußerst altruistische Ausrichtung eingefordert wurde369 – als minderwertig eingestuft. In den Reichsannalen finden sich Biographien von Ärzten im Allgemeinen unter der Kategorie fangji 方技 (Techniken, Handwerk) oder unter yishu 藝術 (Künste und Techniken) und nicht unter einer eigenen Kategorie. In den Lokalchroniken finden sich Ärzte meist unter dem Oberbegriff »Künste und Techniken« (yishu). Unter yishu wurden, ebenso wie unter fangji, gleichermaßen Ausübende der Astronomie, der Geomantik und anderer Arten von technischen Fertigkeiten subsumiert. Doch medizinische Kenntnisse verlangen nach institutionalisierten Bewertungsmaßstäben370, weil sie unmittelbar über Leben und Tod entscheiden können. Die Forderung nach verbindlichen Verhaltenskodizes371 war damit Bestandteil von Schutzmaßnahmen, aber gleichzeitig auch ein Nebenprodukt der Forderung nach Anerkennung als ehrbare Tätigkeit. So finden wir nicht zuletzt im medizinischen Feld selber die Abgrenzung gegenüber all denen, die das Geschäft des Heilens für sich in ungerechtfertigter 368 Siehe die Ausführungen hierzu bei Epstein 2001, 74. Bei Chen Shiduo erscheint der Ausdruck yiqi 意氣 im Sinne von Temperament/Wesenheit einer Arznei. Vgl. Bianzheng lu, juan 13, CQS, 986. 369 Vor allem in den Vorworten zu Chen Shiduos Werken. 370 Unmittelbar artikuliert findet sich eine solche Notwendigkeit bei Huang Zongxi 黃宗羲 (1610–1695). 371 Vgl. hierzu Unschuld 1975 sowie Chao Yüan-ling 1995.

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Weise beanspruchen. Auch davon war schon die Rede, wenn Chen Shiduo sich gegenüber den Generationen-Ärzten und den ungebildeten, gemeinen Ärzten abzugrenzen suchte. Dabei spielt er das empirische Wissen gegen das Buchwissen aus und bemüht zugleich die moralische Fundierung des Arztberufes. Zwar gilt das Streben nach Vervollkommnung auch innerhalb der »offiziell sanktionierten« neokonfuzianisch begründeten Ethiken372, die rhetorisch nicht vom Streben nach dem »Guten« für Gesellschaft und Welt zu trennen sind. Doch bei Chen Shiduo ermöglicht allein die Berufung auf das Außergewöhnliche die Genese einer Identität als Arzt, der die Welt selbstlos von Leid und Not errettet. Damit verankert er das Ziel, von der Medizin den Lebensunterhalt bestreiten zu wollen, gänzlich in der immateriellen Sphäre. Als wesentlicher Bestandteil der vielschichtigen Distinktionsprozesse eines »Guten Arztes« (liang yi 良醫) offenbaren sich Regeln und Mahnungen, die verschiedentlich in medizinische Schriften dieser Zeit eingestreut sind  ; auch sie sind Teil des Emanzipationsprozesses der Medizin vom »Kleinen Weg« hin zum »Großen Weg«. Ermahnungen als Instrument zur praktischen Orientierung Auf Sun Simiao 孫思邈 (581–682  ?)373 gehen die frühesten, explizit in einem gesonderten Abschnitt versammelten Ausführungen zurück, die als eine Ethik für Ärzte angesehen werden können. Ein »Großer Arzt« (da yi 大醫) dürfe keine Mühen scheuen, um Leben zu retten, unabhängig von Aussehen und materiellen Mitteln des Kranken  ; er müsse einen klaren Geist hegen, um bei Diagnose und Therapie nicht zu versagen  ; er dürfe nicht redselig sein, keine Urteile über andere fällen etc. 374 Richtlinien solcher Art finden wir auch in Ermahnungen an die Ärzte (quan yi 勸醫) aus dem 16. Jahrhundert, die aber als Teil des Popularisierungsprozesses des medizinischen Schrifttums anzusehen sind. Außerdem können entsprechende Mahnungen aus der späten Ming-Zeit als Reaktionen bzw. Aus372 Auf den Zusammenhang zwischen der Verwendung dieser, unter der Qing-Herrschaft (seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts) als orthodoxe verbindliche Staatsdoktrin geltenden (neokonfuzianischen) Rhetorik und den mittels eben dieser orthodoxe Inhalte in Frage stellenden Rhetorik hat insbesondere Kai-wing Chow 1999, 147–163, hingewiesen. 373 Er ist der Autor des Qianjin yaofang 千金要方 (652 n. Chr.), 30 juan sowie des Ergänzungswerkes Qianjin yifang 千金翼方, welches 30 Jahre später erschien. 374 Eine lückenlose Übersetzung des entsprechenden Abschnittes zur ärztlichen Ethik liefert Unschuld 1975, 20–23.

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einandersetzungen mit der seit dem 11. Jahrhundert kanonisierten Sicht auf die Medizin als Teil des »Kleinen Weges« angesehen werden. Der Geltungsanspruch der Medizin als bedeutungsvolle Kunst fußte unter anderem in der Auffassung von der Medizin als Ausdrucksmöglichkeit von Mitmenschlichkeit (ren 仁) und Erbarmen (ci 慈) mit den Leidenden. Dies impliziert die Forderung nach Selbstlosigkeit und Immunität gegen jede Art von Profitstreben.375 Doch werden auch Patienten getadelt, die vielfach viel zu spät einen Arzt aufsuchen, weil sie die Ausgaben scheuen. Chen Shiduo ermahnt die gemeinen Leute (suzi 俗字) in seinen »Sechs Ermahnungen an die Ärzte« (quanyi liuze 勸醫六則), nicht herzlos (fuxin 負心) zu sein und nach überstandener Krankheit mit Geschenken nicht zu geizen. Genauso wenig sollten sie Berichte über einen durch den Arzt herbeigeführten positiven Krankheitsverlauf zurückhalten.376 Die Notwendigkeit von Ermahnungen für Ärzte und Patienten ergibt sich für Chen aus der Tatsache, dass die Medizin nicht mehr einheitlich sei. Studierende der Medizin (xue yi 學醫) müssten deshalb ganz besonders offenen und bescheidenen Herzens sein (xuhuai 虚懷).377 Ermahnungen dieser Art gehen, im Unterschied zu den Ausführungen von Sun Simiao im 7. Jahrhundert, nun Hand in Hand mit den Popularisierungsprozessen der Medizin  : Für die Ming- und Qing-Zeit sind rapide angestiegene Ärztezahlen belegt. In Suzhou etwa soll es zur Tang-Zeit (618–907) drei, zur Song-Zeit (960–1126) vier, zur Yuan-Zeit (1280–1367) fünf, zur Ming-Zeit (1368–1644) 88 und zur QingZeit (1644–1911) 219 Ärzte gegeben haben.378 Selbstredend sind hier nur die sogenannten gelehrten Ärzte (ruyi 儒醫) subsumiert – d. h. all die Mönche und Nonnen, die weiblichen Kräuterkundigen, die Quacksalber und schlechten Ärzte, die sich das Feld der Bedürftigen und Kranken im 17. Jahrhundert teilten,379 sind hier gar nicht erst berücksichtigt. Über diese Gruppen erfahren wir von Xiao Jing 肖京in seinem Werk »Rechte Abhandlung zur Errettung [des Lebens] nach Huangdi und Qi Bo« (Xuan Qi 375 Zu nennen ist etwa Gong Tingxian 龚廷賢, Wanbing huichun 萬病回春, 1587, juan 8, 489– 493. 376 Vgl. die Ausführungen im Dongtian aozhi, juan 6, CQS, 1133 sowie den Vorspann zum Bencao xinbian, CQS, 88. 377 Vgl. Dongtian aozhi, juan 6, CQS, 1133. 378 Vgl. hierzu Chao Yuän-ling 1995, 160–161. 379 Zur Geschichte der Frauenheilkunde siehe Ma Dazheng 1991, 37, wo sich Verweise auf Frauen als Heilkundige in der frühen Zeit finden. Zur Geschichte von Frauen als Heilkundige während der Ming-Zeit siehe Cass 1986, 233–240  ; siehe auch Angela Ki Che Leung 1999, 101–134. Zu Verweisen auf heterodoxe Heilpraktiken, wozu auch weibliche »Laien-Praktiken« gehörten, in literarischen Quellen des 17. Jahrhunderts siehe Berg 2002, 145–170.

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jiu zhenglun 軒歧救正論), 1644.380 Xiao Jing will mit seinem Buch nicht nur ein Orientierungs-Instrumentarium für Ärzte (»Spiegel für den Arzt« [yijian 醫 鑒]) bereitstellen, sondern gleichzeitig auch ein »Know-how« für die Patienten (»Spiegel für den Patienten« [bingjian 病鑒]) bzw. ihre Angehörigen. Aus dem »Spiegel für Ärzte« erfahren wir über mehr als ein Dutzend unterschiedlicher Termini, die z. T. als Titel gelten können, wie etwa »Gelehrten-Arzt« (ruyi 儒 醫), z. T. aber auch als Teil eines ethischen Bewertungssystems, wie z. B. im Falle des scharfsinnigen, erleuchteten Arztes (»mingyi 明醫«) oder des tugendvollen Arztes (»deyi 德醫«). Diese beiden Bedeutungsfelder lassen sich kaum voneinander trennen, zumal ethische Gesichtspunkte den Wert eines Arztes bestimmten bzw. eine Vorstellung von einem guten Arzt ohne ethische Gesichtspunkte offensichtlich nicht möglich war. Der »konfuzianische« Gelehrten-­Arzt (ruyi 儒醫) war seit der Yuan-Zeit (14. Jahrhundert) ein Titel, der sich gegen zwei Fronten abzugrenzen suchte, um sich als »Berufsstand« etablieren zu können. Dieser repräsentierte nicht mehr den »Kleinen Weg« und damit nicht mehr eine marginale Kunst, sondern wollte als integraler Teil des »Großen Weges« gelten. Die Abgrenzung galt gegenüber denjenigen, die man in »gelehrter Manier« als ungehobelt und ungebildet (yong shou cu gong 庸手粗 工)381 hinstellen konnte, weil sie keinerlei grundlegende Kenntnisse der medizinischen Theorien und Prinzipien besaßen oder sich mit Halbwissen (banshi 半試) brüsteten.382 So müsse der Kranke jeweils selbst den Arzt auf Herz und Nieren prüfen, bevor er sich ihm anvertraue. Dies sei keineswegs als Quälerei des Arztes (kun yi 困醫) anzusehen, sondern als wichtige Vorsichtsmaßnahme zum Schutz des eigenen Lebens.383 In keinem Fall dürfe man sich – und sei die Situation noch so dringlich – auf zufällig dahergelaufene (shi yi 時醫) sowie auf gewöhnliche Ärzte (yong yi 庸 醫) verlassen. Dennoch könne man mitnichten davon ausgehen, dass die als 380 Dieses Werk besteht – wie das Shishi milu auch – aus sechs juan, wobei das 1. juan allgemeine Erläuterungen zu den Körperprozessen und pathologischen Zuständen liefert  ; das 2. juan die vier Diagnosemethoden (Schauen, Riechen, Puls und Befragen des Patienten) darlegt  ; das 3. juan über die Arzneimittel in einer Apotheke spricht  ; die juan 4 und 5 Fallgeschichten enthalten  ; das 6. juan schließlich die in der vorliegenden Arbeit untersuchten Hinweise und Warnungen für Patienten und deren Famlien sowie für die Ärzte selbst enthält. Vgl. den Nachdruck des Xuanqi qiu zheng lun von Xiao Jing (1644) [in der Folge als XQZL zitiert] 1983, juan 6, 509–577. 381 XQZL, 6, 523. 382 Ibid., 6, 547. 383 Ibid, 6, 544.

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berühmt geltenden Ärzte (ming yi 名醫) auch herausragend seien.384 Denn heimtückische, hinterhältige Ärzte (jian yi 奸醫) fänden sich immer wieder  ; sie versuchten, die Angehörigen von Patienten durch falsche Aussagen zu verwirren und sie für sich einzunehmen.385 Träfe man auf solche in allen Gruppierungen, so auch unter den Wanderärzten (liu yi 流醫). Doch wer könne behaupten, dass sich unter den Wanderärzten keine guten Ärzte fänden, auch wenn unter 1000 Wanderärzten nur zwei bis drei gute Ärzte zu finden sind.386 In der Regel beherrschten sie einige medizinische Floskeln, die sie zufällig aufgeschnappt hätten  ; doch weil sie auf die Medizin als Lebensunterhalt angewiesen seien, könnten sie sich keine tieferen Kenntnisse aneignen.387 Diese Aussage wird uns später noch einmal beschäftigen, weil sie die konventionell sanktionierte Missachtung gegenüber der Medizin artikuliert. Auch Xiao Jing stellt diese Gleichung in Frage, ebenso wie Chen Shiduo. Die Medizin sei vielmehr diejenige Instanz, die das Schicksal (ming 命) besiegeln könne, denn sie vermag über Leben und Tod zu entscheiden. Nichts von Medizin zu wissen, wird mit dem Zustand einer umherirrenden [hun] Seele388 verglichen. Mit anderen Worten  : In Medizin bewandert zu sein (zhi yi 知醫), ist essentiell für das irdische und überirdische Leben. Kulturheroen wie Shennong 神 農 389 und der Gelbe Kaiser (Huangdi 黃帝) sowie verschiedene Minister und Gelehrte (zhu chen shi 諸臣師) wie etwa Qi Bo 崎伯, der Ratgeber des Gelben Kaisers, seien sämtlich Ärzte gewesen. Angesichts dieser Bedeutung für das menschliche Leben, die Xiao Jing der Medizin beimisst, mutet es zunächst seltsam an, wenn er gleichzeitig feststellt, dass sich in letzter Zeit leider immer weniger Söhne in konventionell pietätvoller Weise um die alten kranken Eltern kümmern würden. Immer weniger Söhne aus der Gelehrtenschicht würden sich eingehende Kenntnisse der Medizin aneignen, um bei Bedarf souverän die rechten Entscheidungen in medizinischer Hinsicht treffen zu können. Dies sei angesichts der Tatsache beklagenswert, 384 Im Original heißt es  : 所謂名醫者, 非明良之士, Ibid. 6, 523. 385 Ibid. 6, 528. 386 Ibid. 6, 521. 387 Ibid. 6, 520. 388 Im Original heißt es  : 不知醫事, 此所謂遊魂耳, XQZL, 6, 540. Hinter diesem Bild steht die allgemein verbreitete Sicht, dass ein gewaltsamer Tod ohne die vorschriftsmäßigen Bestattungsriten dazu führe, dass die hun-Seele nicht zur Ruhe komme. Siehe hierzu De Groot [1901], 1989, Vol. IV, 2, 66–76. 389 Einer der legendären Begründer der chinesischen Zivilisation bzw. der Landwirtschaft sowie der Medizin.

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dass die dann herbeigerufenen gewöhnlichen Ärzte (yongyi 庸醫) weder Barmherzigkeit noch Pietät besäßen.390 Bei näherem Hinsehen fällt auf, dass diese Feststellung – auf dem Fundament konventionell sanktionierter Zugangsweisen zur Medizin391 – wiederum unterschwellig eine massive Wertschätzung der Medizin transportiert, die sich gleichzeitig aus den konventionellen Orientierungsmustern herausbewegt. Denn die Medizin erscheint hier als so essentiell, dass man ohne ihre Kenntnis in den erbarmungswürdigsten Zustand geriete und wie eine körperlose Seele herumirre. Andererseits offenbart diese Feststellung eine Distinktionsbeschreibung, nämlich die Missbilligung gewöhnlicher Ärzte als bar jeglicher Pietät und Barmherzigkeit. Diese Abgrenzung erscheint als integraler Bestandteil der Identitätsfindungsmaßnahmen vonseiten eines Arztes, dessen Ethik in jedem Falle eine derartige Einstellung einfordert. Außerdem, so Xiao Jing, sei die Heilkunst auch deshalb von solch essentieller Notwendigkeit, weil keiner, ob dumm oder klug, im Krankheitsfall umhin käme, die Hilfe der Medizin zu erbitten.392 Deshalb sei es vonnöten, Ärzte zu testen (shi yi 試醫). Dementsprechend seien Anweisungen für die Patienten notwendig, damit diese feststellen könnten, ob es sich beim jeweiligen Arzt um einen guten oder schlechten Arzt handele. Im Folgenden seien Auszüge aus dem »Spiegel für Patienten« zitiert  : »- Teile dem Arzt niemals mit, welcher Art Deine Leiden sind. – Lasse ihn als allererstes Deinen Puls diagnostizieren, denn unter Tausenden von Ärzten beherrschen allein einer oder zwei diese Kunst. – Lasse ihn dann die Erscheinung diagnostizieren (cha se 察色). – Dann soll er die Stimme diagnostizieren (wen sheng 聞聲). – Verhalte Dich ganz ruhig, während er jede einzelne dieser Untersuchungen vornimmt und höre dann, was er sagt. – Er wird dann zu entscheiden haben, ob die Krankheit zu Kälte oder Hitze (han re寒熱), zu Leere oder Fülle (xu shi 虛實), zu Blut-Leere (xuexu 血虛) oder zu Blut-Fülle (xue shi 血實), zu Qi-Leere (qixu氣虛) oder zu Qi-Fülle (qi shi 氣實) 390 Im Original heißt es  : 比之不慈不孝, XQZL, 6, 541. 391 Weil die konfuzianisch angelegte Forderung der Kindespietät es seit alters her verlangte, dass Kinder sich selbst Fleisch aus dem eigenen Leibe schnitten, um die eigenen Eltern zu versorgen, wenn diese krank waren. Literarisch verarbeitet wurde diese Praxis zuletzt von Lu Xun 魯迅 (1881–1936) in seinem Ershisi xiao 二十四孝 (Vierundzwanzig illustrierte Beispiele der Kindespietät). 392 Im Original heißt es  : 不謂至靈者人而, 至遇者亦人也, 病固不得不求醫, XQZL, 6, 541– 542.

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gehört. Er wird zu entscheiden haben, ob es sich um eine von außen induzierte (wai gan 外感) oder um eine innere Verletzungs- (nei shang 內傷) Krankheit handelt. Er wird unterscheiden zwischen den Leitbahnen der zang 藏 (Palast-Organe) und der fu 府 (Hohl-Organe). Er wird feststellen müssen, ob die Krankheit hauptsächlich von yin oder von yang beherrscht wird. – Allerdings gibt es zehntausende von Krankheitsarten, aber von Pulsen gibt es nur 27 Arten. Wie könnte man da erwarten, dass der Arzt eins zu eins diagnostizieren kann. Nachdem der Arzt also die Diagnosen gestellt hat, teile ihm mit Deinen Worten im Detail mit, worin Deine Krankheit besteht, wie sie entstanden ist und wie lange sie bereits andauert, worin deine Vorlieben und Abneigungen beim Essen und Trinken bestehen. – Dann, wenn der Arzt die Rezeptur festgelegt hat, frage ihn, welche Krankheit die Arznei beherrschen soll, wie in der Rezeptur die Verhältnisse zwischen Herrscher, Minister und Gehilfen, Gesandten (junchen zuoshi 君臣佐使), zwischen Mutter und Kind (mu zi 母子), zwischen Leere und Fülle (xu shi 虛實) angelegt sind. [Frage ihn], ob sich die Arznei negativ auswirkt auf den Magen, ob sie schnell vorgeht oder langsam, ob sie heilen kann oder nicht, ob sie so angelegt ist, dass sie dem Verlauf folgt oder ob sie gegenläufig vorgeht, sie gerade vorgeht oder widerläufig. – Dann lass ihn das Rezept hinschreiben und stelle fest, ob seine Gelehrsamkeit oberflächlich oder tief ist und prüfe, ob er von hohem oder niederem Wert ist. – Wenn er herausragend gut (mingliang 明良)393 ist, dann kannst du ihm vertrauen. Falls keine Heilung eintritt, kannst Du davon ausgehen, dass es nicht die Schuld dieses Arztes ist, und so darf man ihn auch nicht beschuldigen. – Wenn seine Puls-Diagnose mangelhaft ist, er sich sprachlich nicht recht ausdrücken kann, er zudem im Erstellen der Rezeptur keine rechte Methode zeigt, dann gehört er zu den erbärmlichen Ärzten (wuchan zhi liu 污諂之流).«394

Diese Vorgaben zum Überprüfen der Ärzte (shi yi 試醫) sind Xiao Jing zufolge von Vorteil für die Patienten, aber auch für die Ärzte, denn ein guter Arzt habe keinerlei Grund, diesen Test zu fürchten. Bei diesen Anweisungen spielen weder das äußere Erscheinungsbild noch der erste subjektive Eindruck, den der Patient bzw. dessen Familie von dem betreffenden Arzt hat, eine Rolle. Hier wird einzig und allein das Können überprüft. Gleichzeitig geht Xiao Jing im »Spiegel für die Patienten« auch auf verschiedene Kategorien von Ärzten ein. So sollten heilkundige Frauen (nü yi 女醫) gar 393 Zusammengesetzt aus »erleuchtet« und »gut«. 394 Wörtlich  : katzbuckelnde und bestechliche Vagabunden, ibid. 6, 542–544.

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nicht erst in das Haus eines Kranken eingelassen werden,395 auch wenn manche dummen Leute glaubten, dass kräuterkundige Frauen (yipo 醫婆) Leben retten könnten  ; dies sei aber ein Trugschluss.396 Die schlechtesten aller Ärzte seien die Geschwüre-Ärzte (yang yi 瘍醫)  : Sie sind die niedersten unter den gewöhnlichen Ärzten. Sie würden nur die äußeren Geschwüre betrachten und schneiden  ; sie verstünden nichts vom Verlauf der Leitbahnen, von den Prozessen in den inneren Organsystemen. Daher könnten die Menschen solche Ärzte nicht schätzen (er qing yi 而輕醫),397 zumal sie nichts anderes beherrschten, als schmutzige Geschwüre und Furunkel herauszuschneiden. Eng verknüpft mit der oben erwähnten Kategorie der hinterhältigen, heimtückischen Ärzte (jian yi 奸醫) erscheint die Gruppe der »Halbwisser« (ban shi 半識), denn auch sie beherrschten kaum die Prinzipien von Leere und Fülle, von Ergänzen und Abführen (bu xie 補瀉) und meinten fälschlicherweise, nachdem sie sich einen halben Tag lang ein oder zwei Medizinbücher angeschaut hätten, könnten sie sich bereits an die Diagnose und Therapierung von Krankheiten wagen. Wenn sie nur ein halbes Jahr bei einem Meister gelernt hätten, hielten sie sich selbst für große Meister und eröffneten schon ein Geschäft (pu si 舖肆). Dabei würden sie aller Welt verkünden, dass ihnen die Vorgaben zu den Rezepturen auf geheimnisvolle Weise (shenmi 神秘) übertragen worden seien.398 Jedoch bestimme letztendlich ihr Streben nach Profit (yingtou 蠅頭) ihre innere Haltung. Vorsicht sei auch geboten vor denjenigen, die die Heilkunst zu unerlaubten sexuellen Verhältnissen missbrauchen. Die unzüchtigen Ärzte (yinyi 淫醫) seien in daoistischer Manier darauf aus, mittels junger Mädchen das eigene yang durch yin zu ergänzen (cai bu 採補) und so ihr eigenes Leben zu verlängern  ; selbst Lü Dongbin [der populäre Unsterbliche und Informant des Chen Shiduo] habe auf diese Weise sein Leben verlängert.399 Auch wenn es tatsäch395 Ibid. 6, 534. 396 Ibid. 6, 534. Eine solche Abgrenzung gegenüber weiblichen Heilkundigen finden wir bei Chen Shiduo nicht. Für die späte Kaiserzeit, d. h. beginnend mit der späten Ming-Zeit (frühes 17. Jahrhundert) wird gemeinhin der Niedergang des Status aller heilkundlichen Techniken konstatiert, die mit den Händen zu bewerkstelligen waren. Hierzu gehören die Akupunktur und die Moxibustion. Siehe hierzu Chao Yüan-ling 1995, 288–291  ; Leung 1997. Furth 1999, 277, sieht diesen Niedergang in Verbindung mit der Geringschätzung heilkundiger Frauen, zumal diese zumeist mit diesen Techniken vertraut waren. 397 Ibid. 6, 534. 398 Ibid. 6, 550. Dass die spezifische Repräsentation der Genealogie, wie sie bei Chen Shiduo expliziert ist, keinen Einzelfall darstellte, sondern auch historische Wurzeln hat, haben wir an entsprechender Stelle ausgeführt. 399 Ibid., 6, 530–531.

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lich so sei, dass kaum ein Herz beim Anblick einer schönen Frau kalt bliebe und nicht die Vereinigung mit dieser Frau anstrebe, sei es doch unumgänglich, die Begierden gering zu halten400, um als Arzt wirken zu können. Andererseits müsse man davor warnen, allein die Gelehrten-Ärzte (ruyi 儒醫) zu preisen, welche die Klassiker auswendig beherrschten, aber nicht unbedingt gut im Diagnostizieren seien, oder allein die tugendvollen Ärzte (deyi 德醫). Für letztere Gruppe nennt er Su Dongpo 蘇東坡 (1036–1101)401, der sich beispielsweise sehr für die Armen eingesetzt habe, indem er ihnen Arzneimittel spendete. Ein wirklich tugendvoller Arzt würde niemals zwischen Arm und Reich unterscheiden, sondern müsse alle Kranken gleich behandeln.402 Die verborgenen Ärzte bzw. Eremiten-Ärzte (yinyi 隱醫) wiederum ließen sich bis in die frühesten Zeiten zurückverfolgen, denn die »Höchsten Menschen« (zhiren 至人)403 lebten niemals am Hofe, sondern verbrachten ihr Leben im Verborgenen mit Heilen und Wahrsagen.404 Mönchsärzte (sengyi 僧醫), die Armenhäuser betreiben, würden aber nicht wirklich die Prinzipien der Medizin beherrschen.405 Zu dieser Zeit genossen die Generationen-Ärzte immer noch Ansehen, zumal es hieß, dass man keine Arznei entgegennehmen solle, wenn der Arzt nicht einer Familie entstamme, die nicht wenigstens seit drei Generationen als Ärzte gedient hatte.406 Doch Xiao Jing zufolge seien unter Ärzten auch solche zu finden, die nur Bücher von drei Ärzten gelesen haben und sich dennoch als Generationen-Arzt präsentierten. Bei Generationen-Ärzten herrsche gemeinhin die Gefahr, dass sie starr an alt hergebrachten Konventionen festhielten und entweder einseitig der Lehre des Danxi 丹溪407 (Betonung der yin-Ergänzung als häufigstes Therapie-Mittel) folgten oder der Lehre des Li Dongyuan 李東 垣408 (Betonung von Milz und Magen als zentrale Organsysteme) oder des 400 Davon (斷絕色欲) ist auch bei Chen Shiduo immer wieder die Rede, so z. B. in Shishi milu, juan 3, CQS, 333. 401 Herausragender Beamter und Gelehrter aus der Song-Zeit. 402 Vgl. XQZL, 6, 515. 403 Eine Kategorie im Buch Zhuangzi, 3. Jahrhundert v. Chr. 404 Ibid., 6, 513. 405 Ibid., 6, 522. 406 Ibid., 6, 518. 407 Gemeint ist Zhu Zhenheng (1281–1358), dessen Gezhi yulun 格致余論 (Darstellung der Erweiterung des [medizinischen] Wissens, 1347) auf der Annahme beruht, dass yang häufig im Übermaß vorkommt und yin sich im Mangelzustand befindet, weshalb die Therapien zumeist auf Ergänzung (bu 補) dieses Mangelzustandes fokussieren müssten. Dieses Werk wird später auch im Siku quanshu 1782 wieder abgedruckt. 408 Li Dongyuan (Li Gao, 1180–1251) lebte an die hundert Jahre vor Zhu Zhenheng. Sein Pi-

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Xue Ji 薛己 (1486–1558),409 dessen Betonung des mingmen 命門 (Lebenstor) keine Beachtung von Kälte und Hitze zulasse. Insofern seien auch Generationen-Ärzte mit Vorsicht zu betrachten.410 In dieselbe Kerbe schlägt übrigens Chen Shiduo, wenn er in unterschiedlichen Zusammenhängen immer wieder Ermahnungen an die Generationen-Ärzte richtet,411 oder wenn er betont, dass diese nicht einmal die Symptome von Kinderkrankheiten zu unterscheiden wüssten412 und dass sie zu sehr an herkömmlichen Konventionen festhielten und dabei unnötig Schaden anrichteten.413 wei lun 脾胃論, 1249, verficht die Vorstellung, dass Milz und Magen die wichtigsten Organe seien. 409 Xue Ji, auch Xin Pu 新浦 oder Li Zhai 立齊 aus Suzhou, in der Provinz Jiangsu. Ein bekannter Arzt zu seiner Zeit, da er Direktor am Kaiserlichen Medizinalamt (taiyiyuan 太醫院) war. Er hat sich in Frauenheilkunde, Arzneiheilkunde und Geschwürheilkunde hervorgetan. Er betonte das Nähren des Wahren yang (zhen yang 貞陽) und das Nähren des Wahren yin (zhen yin 貞陰), wobei sein Hauptaugenmerk dem Lebenstor (mingmen 命門) galt. In seiner Familie wurde das medizinische Wissen weiter tradiert. Zu seinen wichtigsten Werken gehört das Neike zhaiyao 內科摘要 (Essentielles zur Inneren Medizin) von 1529, das als erstes Werk im chinesischen Kontext »Innere Medizin« im Titel führt. Vgl. Xue Lizhai yi’an quanji 薛立 齋醫案全集. 410 Vgl. XQZL, 6, 519. 411 So z. B. im Shishi milu, juan 1, CQS, 284  ; ibid, juan 2, 319, wo es heißt, dass die Generationen-Ärzte sich zwar selbst loben würden, aber die Patienten und deren Familien und Freunde sie beschuldigen müssten. Vgl. auch ibid, juan 2, 321, wo er die Generationenärzte ob ihrer Verwendung einer spezifischen Arznei gegen Alkoholvergiftung anerkennend erwähnt. Dagegen kritisiert Chen in ibid, juan 2, CQS, 325 die Generationenärzte dafür, dass sie keine Bücher lesen. In ibid. juan 3, CQS, 335, stellt der Autor fest, dass die Generationenärzte nicht wüssten, dass Gips (shigao 石膏) nur für kurze Zeit als Therapiemittel eingesetzt werden dürfe. In ibid. juan 3, CQS, 341, bedauert Chen, dass die Generationenärzte leider nicht die Methode kennen, Magenleiden schnell zu lindern. Vgl. auch ibid. juan 4, CQS, 353 sowie ibid. juan 5, CQS, 396. 412 Vgl. Bianzheng lu, juan 4, CQS, 786  ; ibid. juan 8, 882  ; ibid., juan 14, CQS, 1000  ; ibid. juan 14, CQS, 1006. 413 Vgl. Bianzheng lu, juan 3, CQS, 758  : »Jemand hat nach einem Augenleiden keine Schmerzen an den Augen, doch sind sie leicht gerötet, und plötzlich scheut er Licht und verabscheut das Sonnenlicht. Dies ist nicht anders als bei Augenschmerzen. Somit handelt es sich hierbei um ›von innen verletzte Augen‹. [Wenn] zusätzlich auf unvorsichtige Weise sexuelle Lust hinzu kommt (bushen seyu不慎色欲), dann entsteht dieses Krankheitsbild. […] Die Generationenärzte sind [zu sehr] in Konventionen im Erstellen von Rezepturen verhaftet [zu unflexibel in der Medikamentation], sie beachten nicht die [Zustände] von Leere und Fülle am Auge, sie gehen in diesen Fällen stets in gleicher Weise vor, [und zwar] kontrollieren sie in der Hauptsache das Feuer, sie wissen nicht, dass [sie damit] mehrere Millionen Augen unter dem Himmel [d. h. auf der Erde] verderben.« (人有患時眼之後,其目不痛,而色淡紅,然羞明 惡日,與目痛時無異,此乃內傷之目,人誤作實火治之,又加不慎色欲,故爾如此。若 再作風火治之,必有失明之悲,必須大補肝腎,使水旺以生肝,木旺以祛風,則目得液

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Insgesamt konnte kein Vertreter aus den verschiedenen aufgeführten Ärzte­ gruppierungen einem »erleuchteten Arzt« (mingyi 明醫) das Wasser reichen. Potentiell war jedoch jeder in der Lage – außer man war eine Frau oder man verfügte über keinerlei Bildung –, den Status eines »erleuchteten Arztes« zu erreichen. Die Suche, die die Neugenerierung einer ärztlichen Identität begleitet, geht deutlich in Richtung »Reinheit« des Herzens und Flexibilität, d. h. Anpassung an neue Situationen. Mit dieser höchtst differenzierten Sicht benennt Xiao Jing Variablen, die das Feld der Medizin durchziehen und bei der Suche nach dem »Guten Arzt« bzw. »Erleuchteten Arzt« zu beachten sind. Zu den Variablen zählen zunächst einmal die verwendeten Attribute wie »gut« und »erleuchtet« oder »tugendhaft«. Mit dem Verweis auf die Verborgenen bzw. die Eremiten-Ärzte (yinyi 隱醫), die er besonders schätzt, ist die Tradition der Lebenspflege, die mit der Suche nach Unsterblichkeit verknüpft ist, Teil dieses Clusters. Auf die Lebenspflegetradition legt Xiao Jing offensichtlich die oben genannten Maßstäbe bzw. Variablen an. Diese wiederum stammen aus dem konzeptuellen Repertoire der Gelehrten-Medizin, so die Diagnostizierung von Puls, von Erscheinung und Stimme, die Beachtung von Leere und Fülle in den Leitbahnen sowie in den Hohl- und Palastorganen etc. Der Praxisbezug als weitere Variable liegt mit diesen konkreten Handlungsanweisungen auf der Hand. Zugleich offenbart der »Spiegel für Patienten« einen differenzierten Blick auf die Klientel des Arztes, wie er in früheren analogen Ausführungen schwerlich zu finden ist. Diese Variable setzt konventionelle Hierarchien außer Kraft und legt die Vermutung nahe, dass die unteren Schichten einbezogen sind. Letzteres vor allem ist ein Aspekt der verstärkten Verschriftlichung und Verbreitung medizinischen Wissens zu dieser Zeit. Dezentralisierung des Wissens Historiker stimmen darin überein, dass die konventionelle Vorstellung von der gebildeten Gelehrten-Elite als homogene, in sich geschlossene Gruppe für die gesamte späte Kaiserzeit, d. h. seit dem 16. Jahrhundert, nicht mehr aufrechtzuerhalten ist.414 Zwar war die Gesellschaft weiterhin mehr oder weniger 以相養,而虛火盡散也.[…]  世醫每拘執成方,罔顧目之虛實,一味以治火為主者,不 知壞天下之眼幾百萬矣. An anderer Stelle im Bianzheng lu, juan 3, CQS, 758, bezichtigt

er die Generationenärzte [des vorschnellen] Wegschneidens eines Zehs bei tief liegenden Geschwüren an den Zehen. 414 Siehe beispielsweise Johnson 1985, 272  ; Chia 2002, Teil 3, sowie auch Rawski 2004, 204, unter Verweis auf Meyer-Fong 2003.

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hierarchisch ausgerichtet, doch ist eine Tendenz zur Emanzipierung ehemals niederer, sprich der armen bzw. minderen Schichten (jian 賤), seit der SongZeit (10. Jahrhundert) zu beobachten. Ein Erlass aus dem Jahr 1720 tabuisierte die Bezeichnung armer Leute als »Mindere« (jian 賤).415 Die Aussichten auf die Erlangung eines Beamtenpostens waren, wie schon mehrfach angedeutet, aufgrund demographischer, sozio-kultureller sowie politischer Gründe verhältnismäßig gering geworden. Junge gebildete Männer mussten sich nach alternativen Möglichkeiten des Lebensunterhaltes umschauen. Damit einher ging eine Relativierung der Examina, die traditionellerweise den Eintritt in die öffentliche Sphäre des Staatshaushaltes416 ermöglichten. Dies zeigte sich in einer massiv angestiegenen Schreibaktivität. Der Ausbau des Schulsystems sowie die Bevölkerungsexplosion und der Anstieg des Handels mit privat publizierten Büchern417 zog eine Zunahme von Schriften aus dem literarischen Bereich418 sowie zu Topoi, die nicht zum herkömmlichen Kanon des Wissenserwerbs gehörten, nach sich. Publiziert wurden neben Geschichten, Romanen und Theaterstücken vorzugsweise Kompendien und Handbücher für den alltäglichen Gebrauch  : Reiseführer, Haushalts-Almanache, religiöse Werke, medizinische Handbücher, Kalender, Zeitschriften und Enzyklopädien. Von der neuen Möglichkeit mannigfaltiger Publikationstätigkeit profitierten nicht allein jene, die nur die untersten Grade der Examina bestanden hatten. Auch Frauen aus der höheren Gesellschaftsschicht sind offensichtlich vermehrt in den Genuss von Büchern gekommen und verlegten ihre eigenen Schriften, was sich insgesamt als Zeichen der Entsakralisierung des Buches interpretieren lässt.419 Gleichzeitig mit diesem Prozess einer Dezentralisierung der Wissensproduktion sowie der Entsakralisierung des Schrifttums lässt sich ein stetig ansteigender Bedarf nach schriftlichen Produkten beobachten. Für immer mehr Menschen wurden Bücher zu Objekten der Begierde, zu einem Statussymbol. Paradox mutet die Beobachtung an, dass nun mehr Menschen in den Genuss dieser kulturellen Produkte kommen konnten, ohne dass dies aber notwendig den Wert dieser Produkte schmälerte. So besteht offensichtlich ein Zusammenhang mit der einsetzenden Auflösung klarer Grenzen zwischen Volkskultur und Elitenkultur. 415 Kuhn 1990, 34, beruft sich auf Befunde aus dem juridischen Feld. 416 Bereits in der Song-Zeit herrschte eine ähnliche Situation. Siehe hierzu Hymes 1986, 11. 417 Siehe hierzu Rawski 1979, 112ff.; Widmer 1996, 81  ; Ko 1994, 7  ; Chia 2002, 150ff.; Ji Shaofu 1991. 418 Seit 1550 erschienen die ersten großen Romane in Umgangssprache, die als Vorbilder der folgenden Jahrhunderte dienten. Malerei und Kunsthandwerk florierten. 419 Siehe Ko 1994.

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Charakteristisch für die Dezentralisierung von Wissen während dieser Zeit ist der Umbruch im Wissenserwerb. Die deutlich angestiegenen Möglichkeiten, auch ohne Beamtentitel ein einträgliches Leben als Händler bzw. als Familienmitglied eines reichen Händlers – insbesondere in der Jiangnan-Makroregion – zu führen, könnten den Schluss nahe legen, dass damit die Nachfrage nach Titeln generell gesunken sei. Das Gegenteil scheint aber der Fall gewesen zu sein. Der blühende Handel mit Beamtentiteln – eine Maßnahme zur Füllung der maroden Staatskassen – zeugt von reger Nachfrage.420 Wenn wir die Unterscheidung zwischen praktischem, empirischem Wissen421 (scientia) und der Kunst (ars) oder die Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Wissen422 für den chinesischen Kontext als relevant ansehen können, so müssen wir auch nach der Unterscheidung zwischen höherem und niederem Wissen, zwischen freiem und zweckdienlichem Wissen423, zwischen spezialisiertem und Allgemein- oder Universalwissen fragen, oder auch nach der Unterscheidung zwischen gesichertem und ungesichertem Wissen. Die Rekonstruktion der Art/en und Weise/n, wie sich Menschen im 17. Jahrhundert Wissen aneigneten und wie sie das angeeignete Wissen verwendeten, kann nur auf einzelnen Fallstudien basieren, wie beispielsweise auf der Auswertung der Buchbestände, die Studenten und Lehrer hinterlassen haben, die wiederum weiterführende Hinweise auf Wörterbücher und Nachschlagewerke enthalten.424 Wenn sich die Wertigkeit der kulturellen Produktivität des Schreibens verschob, so lässt sich dies nicht ohne den Verweis auf den Wissenskommerz verstehen, der im 17. Jahrhundert bereits stark entwickelt425 war. Die Kommerzialisierung von Enzyklopädien (leishu 類書), in China seit dem dritten 420 Dies war ein Nebenprodukt des ökonomischen Aufschwungs in der Jiangnan-Makroregion. Siehe hierzu Wagner 2003, 179. 421 Burke 2000, 241, verweist darauf, dass der Begriff des Empirismus im westlichen Kontext im Verlaufe des 18. Jahrhunderts geprägt worden ist. Für den chinesischen Kontext lässt sich der in der Song-Zeit (10. Jh.) angelegte Terminus gewu zhizhi 格物致知 (die Dinge untersuchen und das Wissen erweitern) als legitimatorische Grundlage für die mit dem 17. Jahrhundert einsetzende textkritische Bewegung als empirische Grundhaltung ausmachen. Siehe hierzu eingehend Elman 2005, 225–254. In der vorliegenden Arbeit siehe Kap. IV. 422 Womit nicht so sehr persönliches Wissen gemeint ist, als vielmehr eine auf eine bestimmte Elite beschränkte Kenntnis. 423 Vgl. Burke 2000, 104. 424 Siehe Clunas 1997, 37–39. 425 Siehe Rawski 1979 und Rawski 1985, 17–28. Vorträge gegen Bezahlung wurden im London des 17. und 18. Jahrhunderts gang und gäbe. Siehe hierzu Burke 2000, 104ff.

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nachchristlichen Jahrhundert kontinuierlich von offizieller Stelle herausgege­ ben, nimmt in der späten Ming-Zeit, d. h. im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert, gewaltig zu.426 Dezentralisierungs- und Kommerzialisierungsprozesse von Wissen sind die Voraussetzung für die Popularisierung der Gelehrtenmedizin im 17. Jahrhundert. Diese Prozesse scheinen überdies aufs engste verknüpft mit der Tatsache, dass das Amt eines Taiyi 太醫 (Arzt am Kaiserlichen Medizinalamt) seit dem 16. Jahrhundert kein angesehenes Amt mehr gewesen ist.427 Nicht nur wurden Romane und Kurzgeschichten des 16. und 17. Jahrhunderts vermehrt gelesen und gekauft, diese verhandelten auch vermehrt das Feld der Medizin mit all seinen widerstreitenden Aspekten  : Hier tummeln sich gescheiterte Examenskandidaten als Ärzte  ; Ärzte sind nicht selten als Quacksalber dargestellt, die nur auf materiellen Profit aus sind und sich wenig um das Heil der Patienten kümmern, während sich andere wiederum als Außergewöhnliche und Heilige hervortun.428 Solche Schilderungen reflektieren nicht nur Orientierungslosigkeit und Unmut, sondern auch das Bedürfnis nach offiziell verbindlichen Regelungen429 in weiten Kreisen der Bevölkerung. Der Prozess der Popularisierung wird auch vorangetrieben durch die Verschriftlichung von ehemals überwiegend im Meister-Schüler-Verhältnis über-

426 Zu den Enzyklopädien für den Alltagsgebrauch aus dieser Zeit siehe Shang Wei 2005, 63–73. Am Yongle dadian 永樂大典 (15. Jahrhundert) hatten beispielsweise an die 2000 Verfasser mitgearbeitet. An die 10.000 Bände konnten aus Kostengründen nicht gedruckt werden, sodass nicht einmal vier Prozent des Gesamtwerkes überliefert sind. Das Gujin tushu jicheng 古今圖書集成 (1726 dem Thron repräsentiert) ist mit 750.000 Seiten das umfangreichste Druckwerk der Weltgeschichte. Es sollte die Beamten bei ihrer Arbeit unterstützen. Vgl. Zurndorfer 1995, 245. Es sei an dieser Stelle vermerkt, dass ein leishu nicht als chinesisches Äquivalent einer europäischen Enzyklopädie oder eines Konversationslexikons angesehen werden darf, zumal letztere zumeist in alphabetischer Reihenfolge Systematiken zum schnellen Nachschlagen bereithalten, während chinesische leishu verschiedenste Sammelwerke sind, die, nach Themen geordnet, Material aus diversen Literaturgattungen bereitstellen. Siehe hierzu Bauer 1966, 665–691  ; Kaderas 1998, 1 und 5–36. 427 Vgl. Furth 1999, 143  ; Ki Che Leung 2003, 148. Vordem, genauer während der Song-Zeit (10. Jh.), forcierte die Regierung das Verschriftlichen, die Kompilation sowie die Neu-Edition und den Druck von 38 Ausgaben medizinischer Werke. Siehe hierzu Chia 2002, 133– 134. Diese im 11. Jahrhundert von höchster Stelle geförderten editorischen Aktivitäten hinsichtlich medizinischer Werke war Ausdruck des Bestrebens, gesetzlich standardisierte Rezepturen für die gesamte Bevölkerung verbindlich zu machen. 428 Eine diesbezügliche Auswertung literarischer Werke liefert Berg 2002. 429 Siehe hierzu Ki Che Leung 2003, 130–131.

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tragenem Geheimwissen430. Handbücher, die schnelles Nachschlagen und überdies unkompliziertes Erlernen der Heilkunst ermöglichen sollten,431 kamen auf den Markt. Die Abfassung solcher Werke erforderte einen veränderten Sprachgebrauch – so wurde versucht, in leicht verständlichem Chinesisch zu schreiben. Die Popularisierung medizinischen Wissens kann dementsprechend als Bestandteil der allgemeinen Popularisierung von Schriftmaterial, die seit Mitte des 16. Jahrhunderts besteht, angesehen werden.432 Chen Shiduo, dessen stilistische Unbedarftheit von einem seiner Gönner überarbeitet wird,433 expliziert, dass seine Bücher beileibe nicht in seichtem Straßenjargon verfasst seien, obgleich sie auch armen Menschen Abhilfe schaffen sollten.434 Selbst das Schillernde und Außergewöhnliche, das Religiöse und der Verweis auf die Unsterblichen als konstituierender Bestandteil der Medizin sind im 17. Jahrhundert Ausdruck der Popularisierung, finden sich diese Phänomene doch in sämtlichen gesellschaftlichen Bezügen wieder. Nur so konnte sich die Medizin vom »Kleinen Weg« hin zum »Großen Weg« emanzipieren. Zur Popularisierung dieser Verknüpfung (daoistisch inspirierter Ansätze mit orthodox neokonfuzianischen Ansätzen) trugen die schon erwähnten Kaiserlichen Verewigungs-Zeremonien im Weiße-Wolken-Kloster Ende der 1680er Jahre bei. Die alchemistischen Reminiszenzen435 im Rahmen dieser offiziellen Sanktionierung daoistischer Aktivitäten, bei denen Chen Shiduo möglicherweise Zeuge gewesen ist, stärkten die Disziplin der Inneren Alchemie. Diese Sanktionierung führte zu einer Aktivierung der religiösen Sphäre, die nun zum Fundament der Popularisierungsprozesse der Medizin wird. Die Popularisierung erforderte offensichtlich, dass sich die einzelnen Protagonisten selbst als 430 Auch wenn »Heilige Texte« nicht in eine Allgemeinsprache »übersetzt« worden sind. Vgl. hierzu McLaren 2005, 158. 431 Was im medizinischen Bereich insbesondere für das Shishi milu gilt. 432 Höchst populäre Romane und Erzählungen aus dem 17. Jahrhundert, wie die Geschichten des Pu Songling 浦松齡 (1640–1715) oder das Rulin waishi (Gelehrtenwald) des Wu Jingzi (1701–54), erschienen in Umgangssprache, in der Hauptsache auch deshalb, weil die Autoren an den Examen gescheitert waren und sich so über die Ungerechtigkeiten in den Selektionssystemen lustig machten. Diese Romane und Geschichten sind nicht transparent verfasste Kritiken, die sich gleichermaßen an beide Seiten, die Eliten und Nicht-Eliten richteten. 433 Vgl. den Epilog zum Shishi milu, CQS, 433. 434 Vgl. Bencao xinbian, Leseanleitungen, CQS, 88. 435 Hier ist die Anlehnung an Baopuzi 抱朴子 (Meister, der das Einfache umarmt) bzw. Ge Hong 葛洪 (283–343) deutlich.

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besonders außergewöhnlich darstellten  : Dies geschieht bei Chen Shiduo, wie schon ausgeführt, indem er das Schillernde, Außergewöhnliche und die Unsterblichen massiv in das Feld der Gelehrten-Medizin (ruyi 儒醫) einführt. Die politische Praxis der Medizin Unter den vielfältigen Abgrenzungsbestrebungen, von denen in den vorangegangen Abschnitten die Rede war, ist eine für das Selbstverständnis der medizinischen Akteure von besonderer Bedeutung, nämlich die gegen die herrschenden politischen Zustände. Unter politischer Praxis der Medizin ist im Folgenden zweierlei zu verstehen. Erstens spielen die Karrierebrüche potentieller Beamtenanwärter eine Rolle, die unter anderen politischen Bedingungen womöglich in die höchsten staatspolitischen Ämter aufgestiegen wären. Mit diesen Karrierebrüchen – die nicht zuletzt auch aus Loyalitätsgründen erfolgen – hängt es zusammen, dass das Feld der Medizin nunmehr mit so vielen Gelehrten bevölkert wird. Zweitens kommt es zu einer Verschränkung von Politik und Medizin. Wenn Gelehrte Ärzte werden, ist es nicht verwunderlich, dass die politischen Visionen zur Erneuerung der Gesellschaft, die in bestimmten Gelehrtenkreisen damals im Umlauf waren, Eingang in die Medizin finden bzw. umgekehrt, dass die Medizin und ihre enzyklopädisch »eingetragene« Definition als geradezu fundamental für diese Visionen erscheint. Die Forderung nach politischer Neuorientierung bzw. nach einem neuen politischen System war nicht denkbar ohne veränderte geistige Haltungen. Dabei verließ man neokonfuzianisch kanonisierte Mythen und Modelle und bezog sich ausdrücklich nicht auf den Konfuzianismus der Han-Zeit (206 v. Chr. – 220 n. Chr.) und auch nicht auf die neokonfuzianische Lehre vom li 理 aus der Song-Zeit (960–1279). Vielmehr wurden Vorstellungen, die das Monopol des Herrschers in Frage stellen, wenn nicht gar Reminiszenzen an eine Zeit ohne Herrscher revitalisiert. Beides speiste sich offensichtlich aus daoistischen und buddhistischen Traditionen, die auf egalitäre Modelle einer ursprünglichen Welt, in der jeder Mensch auf sich selbst achtete, verwiesen. Der schon mehrfach genannte Huang Zongxi 黃宗羲 (1610–1695), ein Zeitgenosse von Chen Shiduo, knüpft daran an436 und stellt sich damit in 436 Die daoistisch gefärbten Beschreibungen eines idyllischen Urzustandes, in dem sich niemand um das Wohl anderer kümmerte, bezeichneten das erste von insgesamt drei Stadien der Menschheit. Im zweiten Stadium kümmerten sich die Menschen Huang Zongxi zufolge zusätzlich um das Wohl der anderen. Dieses Stadium markiere die Ablösung der Zhou-Reiche

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Opposition zum herrschenden feng jian 封建-System437, das die Macht an eine Person delegiert, die für das ganze Volk persönlich Verantwortung trägt. Gleichermaßen kritisiert er das System bürokratischer Parteilichkeit und Unverantwortlichkeit. Somit sucht er die historischen Ursprünge von Gesellschaft nicht in konventioneller Weise in konfuzianisch kanonisierten Erzählungen,438 sondern negiert die Herrschaftsgewalt des vom Himmel beauftragten (tianming 天命) Kaisers. So entheiligt er auf dem Boden egalitärer Ideale das existierende Ordnungsgefüge. Huang Zongxis Forderung nach einer Regierung für das Volk lässt sich nicht getrennt von seiner oben dargelegten Vorstellung von der idealen medizinischen Versorgung der Menschen betrachten.439 Ebenso wie die Qualität medizinischer Praxis aufgrund eigener Erfahrung und Beobachtung überprüft werden sollte, so gelte es auch, die Lehrer und erst recht die Führungsspitze des Reiches auszuwählen. Eine analoge Aussage findet sich im 1613 erschienenen Tushu bian 圖書編, einem illustrierten Kompendium,440 das wie die Leishu 類書 (Enzyklopädien) (11. Jh. bis -256), wo die politische Führerschaft ebenso wie die Besitztümer noch miteinander geteilt worden seien, durch die Qin 秦 (–221 bis –206) und Han-Dynastien (–206 bis –220 n. Chr). Gleichwohl war der erste Qin-Kaiser, Qin Shi Huangdi 秦始皇帝, zheng 政 (–259 bis –210), assoziiert mit dem Bau der Großen Mauer, der Bücherverbrennung, der Verbrennung von 460 Gelehrten bei lebendigem Leibe, dem Bau des eigenen Mausoleums nahe des künstlich erbauten Berges Li, und insbesondere mit der Ablösung der aristokratischen Feudalherrschaft durch eine Zentralregierung. Siehe hierzu Cotterell 1981. 437 Im Allgemeinen mit »Feudalismus« übersetzt. Doch steht dieser Terminus hier nicht zur Debatte. 438 Wie sie im Shujing 書經, auch als Shangshu 尚書 (Buch der Dokumente) bekannt, einer der Fünf Klassiker des konfuzianischen Kanons, aufgezeichnet ist. Es enthält Passagen von frühesten Schriften im chinesischen Kontext. Dabei handelt es sich um den legendären Kaiser Yao, der die Tugenden der Selbstbeherrschung, der väterlichen Liebe sowie des ehrfürchtigen Respekts verkörperte. Ebenso wenig lehnt sich Huang an die zweite konventionelle Mythenversion an, wie sie im Liji (Buch der Riten) dargelegt ist, wonach der ursprüngliche Zustand der Menschheit ein Urzustand der Großen Einheit (datong 大同) gewesen sei, wobei ein durchgängig selbstloser Geist alle Menschen vereint hätte. Konfuzianisch ausgerichtete Autoren hatten diese Erzählungen der Forderung nach Etablierung einer überlegenen Macht bzw. nach dynastischer Vererbung zugrunde gelegt. 439 So soll Huang Zongxi mit dem bekannten Arzt Zhang Jiebin befreundet gewesen sein. Vgl. Klein 1986, 70. 440 Autor ist Zhang Huang 章潢 (1527–1608), mit Höflichkeitsnamen (zi 字) Ben Qing 本清 und Rufnamen (hao 號) Dou Jin 斗津. Zhang Huang stammte aus Nanjian, in der heutigen Provinz Jiangxi, wo er die meiste Zeit seines Lebens verbrachte. 1592 wurde er Vorstand der »Weißer-Hirsch-Grotten-Akademie« (Bailu dong shuyuan 白鹿洞書院). Zwischen 1562 und 1577 kompilierte er das Tushu bian in 127 juan. Das handschriftliche Original wurde erst

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überhaupt direkte Einblicke in die aktuelle Ordnung des Wissens jener Zeit gewährt  :441 »Die Tugend zu nähren und seinen Leib zu nähren, dies sind nicht zwei verschiedene Dinge. Ein guter Arzt zu sein und ein guter Kanzler zu sein, damit sind nicht zwei unterschiedliche Wege gemeint.«442

Diese Aussage findet sich inmitten allgemeiner Darlegungen zum Leben der Menschen, zu ihrem moralischen und physischen Selbst und den politischen, drei Jahrzehnte nach seiner Fertigstellung, im Jahre 1613, in Druck gegeben. Wan Shanglie 萬尚烈 (fl. ca. 1640) bezahlte die Anfertigung der Druckplatten aus eigener Tasche, als er als Vizepräfekt von Shaowu 邵武 (in der heutigen Provinz Fujian) diente. Im Jahre 1613, als er

Sekretär im Justizministerium war, schrieb Wan den Prolog, in dem er eröffnet, dass ihn zwei Männer bei der Finanzierung der Druckplatten unterstützt hatten. Außerdem bat er zehn Jahre später den Vizekriegsminister um ein Vorwort. Das Tushu bian basiert offenbar auf den vormalig mehr als 200 Schriften des Autors. Die ersten 15 juan bestehen im Wesentlichen aus Interpretationen des konfuzianischen Kanons. Die darauf folgenden bis inklusive juan 28 sind mit der Beschaffenheit des Universums befasst, den Bewegungen himmlischer Körper (Sterne) und kalendarischer Berechnungen  ; juan 29–67 sind mit historischer und physischer Geographie befasst. Zu seiner Biographie siehe DMB, vol 1, 83–85. Der Autor des Tushu bian nimmt in seinen Ausführungen zur Kosmologie Bezug auf Yuan Dong 遠洞 (auch bekannt unter Li Shouqin 李守欽 oder auch als Dong Yuan zhen ren 洞遠貞人 (Der Wahre Mensch Dong Yuan), oder auch Su An 粛 庵, ein Arzt aus der Ming-Zeit). Damit nimmt der Name dieses Arztes Bezug auf Lü Dongbin, (der Gastgeber der Fernen). Er stammte aus Sishui 汜水 (im heutigen Henan). Von ihm wird gesagt, er habe mit dem Studium der Medizin begonnen, nachdem er schwer erkrankt war. Er glaubte an das System Taisu mai 太素脉, das mittels Pulsdiagnose das Schicksal des Menschen zu bestimmen sucht. Vgl. das Taisu mai mijue 太素脈秘訣 (Erfolgsgeheimnisse der Taisu Puls [-Diagnosen]) 2 juan. Zhang Taisu 張 太素 [Qingcheng shan ren 青城山人], 1575. 441 Das Tushubian ist insgesamt reich bebildert  ; beispielsweise finden wir eine Kopie der »Mappa mundi« von Matteo Ricci, die aufschlussreiches Material zur Rolle der Missionskartographen in China bietet. Siehe hierzu Zögner 1983, 33–57  ; Selin 1997, 569–570. 442 Im Original heißt es  : 養德養身非二事 良醫良相非二道, Tushu bian [1607], juan 68, 2b–3a. Ausführungen zum Leben und der Beschaffenheit des Menschen (von juan 67 bis juan 125) nehmen eindeutig den größten Raum der gesamten Kompilation ein. Die letzten beiden juan (126 und 127) sind als eine Art Konkordanz zum Yijing (Buch der Wandlungen) sowie zum Shijing (Buch der Lieder) hinzugefügt. Solcherlei Darlegungen nehmen mit 57 juan der insgesamt 127 juan beinahe die Hälfte der gesamten Enzyklopädie ein. Nun ist die Makro-Mikrokosmos-Analogie, selbst mit dem Staat auf einer Zwischenebene zwischen Mensch und Kosmos, nichts Neues. Als neu erscheint aber die Gewichtung, die sich nicht nur im Tushu bian, sondern auch in dem ebenfalls enzyklopädisch angelegten Werk, dem Sancai tuhui 三才圖會 (1609) von Wang Qi 王圻 (fl. 1565–1614), zeigt. Zu seiner Biographie siehe DMB, 2, 1355–1356.

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sozialen und religiösen Institutionen. Die Beschreibungen des physischen Selbst lesen sich wie medizinische Erläuterungen, wobei die gesellschaftspolitischen Ausführungen auf medizinische Terminologie zurückgreifen und diese wiederum von gesellschaftspolitischen Konzepten durchzogen ist. Solche höchst kritischen Vorstellungen, wie sie Huang Zongxi und seine Zeitgenossen formulieren, finden sich auch im medizinischen Feld verhandelt, und zwar überall dort, wo mit Vehemenz die Vorstellung von der Gleichberechtigung aller Organe (Organsysteme) im menschlichen Körper eingefordert wird. Damit wird ein einziger Herrscher im Menschen abgelehnt  : Dem Herzen, konventionell als herrschender Souverän443 im Menschen angesehen, wird seine Vorrangstellung ganz massiv streitig gemacht. An die Stelle des hierarchischen Arrangements tritt das Konzept der Mitte (zhong 中), das in beiden Feldern, Politik und Medizin, zum Tragen kommt. Die Mitte spielt immer schon eine zentrale Rolle in den Kosmologien. Das Ausstrahlen des Kaisers als Zentrum auf seine Umgebung sowie auch auf den Himmel ist eine zutiefst »konfuzianische Sicht«. Diese kommt sinnfällig im Terminus »Reich der Mitte« (zhongguo 中國) für China zum Ausdruck.444 Die Rede von der Mitte wird nun zu den zentralen lebens- und handlungsorientierenden Systemreferenzen in der späten Ming- und frühen Qing-Zeit. Doch handelt es sich nun um eine neu konzipierte Mitte, die nicht mehr das Herz – gemeinhin mit Herrscher assoziiert – meint, sondern ein Feld zwischen den Nieren. Diese Sicht ist wesentlich aus den esoterischen Lebenspflegetraditionen (yangsheng 養生) bzw. den Sichtweisen der Inneren Alchemie (neidan 內丹) entnommen, die »Sexualhygiene«, »Atemtechniken« und »Meditationspraktiken« fokussieren. Angesichts der Wechselwirkung von Politik und Medizin erscheint die Betonung der Mitte nun im Lichte einer Transgression, die das herrschende politische System herauszufordern sucht. Von der Neudefinition der Mitte im medizinischen Feld im engeren Sinne wird weiter unten die Rede sein. Die Forcierung von praktischem Wissen und die erneute Engführung von Mensch und Kosmos im 17. Jahrhundert sind nicht voneinander zu trennen. Das zeitgenössische Bedürfnis, abstrakte »Glaubensformeln« zu konkretisieren, 443 Über die Begriffsgeschichte des Herzens vom Primus inter pares im Buch Zhuangzi, ca. –300, über den »Fürsten (junzi 君子)« hin zum Herrscher (zhu 主) im Huangdi neijing (–100 bis + 200) siehe Linck 2000, 74–79. 444 Von den zahlreichen ethnischen Selbst- und Fremdzuschreibungen etabliert sich in der Ming-Zeit das »Reich der Mitte« und die »Ausländer« (waiguo ren 外國人). Linck 1995, 260, sieht einen Bezug zu zentralistischen Tendenzen, in deren Verlauf die vormals eher diffusen Staatsgrenzen zu einer festen Linie gerinnen.

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so z. B. die »Untersuchung der Dinge« (gewu 格物) zur Ergründung der Welt, verlangte nach einer stärkeren Einbeziehung des Menschen in das Geschehen. Dies lief auf eine verstärkte Anthropomorphisierung in beiden Feldern, Politik und Medizin, hinaus, aber nicht notwendig auf einen Anthropozentrismus. Das herkömmliche Wissen zum Menschen selbst, zu seiner Form und Gestalt, seinen inneren und äußeren Bewegungen, ist in dreizehn kanonisierten konfuzianisch ausgerichteten Werken verschriftlicht, die jedoch – außer dem Yijing (Buch der Wandlungen) – nicht viel konkret anwendbares Wissen und auch wenig Übereinstimmendes aussagen. Die Bewegung für praktisches Wissen Die traumatisch erlebte Eroberung des Reiches durch die Mandschu evozierte bei vielen Gelehrten die Infragestellung ihres Strebens nach Vervollkommnung in Heiligkeit bzw. Weisheit  : Die neue Fremdherrschaft war eine konkrete und nicht weg zu theoretisierende Realität. Entsprechend der konventionell verbindlichen Vorgabe, durch beständiges Lernen und Ergründen der Dinge (gewu 格物) das sittliche Ordnungsprinzip (li 理) in allen Dingen zu erreichen bzw. mit ihm eins zu werden, suchten sie nun ausgerechnet in dieser Vorgabe Ursachen für das politische Chaos. Dieser Lehre implizit war die Untrennbarkeit moralischer Kultivierung des Einzelnen hin zur Vollkommenheit von politischer und kultureller Stabilität. Mehr noch, die Song- und Yuan- bis hin zu den Ming-Gelehrten gingen in der Regel davon aus, dass theoretisches Ergründen der kosmischen Zusammenhänge und des rechten Platzes des Menschen im Kosmos vermittels unablässigen Studierens der kanonisierten Klassiker Vorraussetzung für moralische Vervollkommnung sei. Die Vervollkommnung wiederum sei bindend für die rechte Ordnung der Welt. Die nun einsetzende Hinwendung zu praktischem Wissen und »konkreten Studien« (shi xue 實學) war somit eine Begleiterscheinung der realen Erschütterung und der damit einhergehenden kritischen Sicht neokonfuzianisch inspirierter Überlieferungs- bzw. Kommentar-Tradition aus der Song-Zeit (960– 1279), die nun als Song-Lehre (Songxue 宋學) bezeichnet wurde. Man suchte vielmehr die ursprüngliche Fassung der Klassiker aus der Han-Zeit (–206 bis +220) zu ergründen (Hanxue 漢學). Diese auch sprachlich gefestigte Distinktion, die eine deutliche Relativierung der neokonfuzianischen Schule (daoxue 道學445 bzw. lixue 理學) ist, 445 Daoxue, wörtlich  : »Lernen des Weges« oder auch »Lernen des Wahren Weges« (»True Way

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mündete aber gleichzeitig auch in einer Abwendung vom Anthropozentrismus und in einer Hinwendung zum größeren Zusammenhang, dem kosmischen Geschehen. Dies ging mit einer vergleichsweise bescheideneren Haltung des Einzelnen einher, der angesichts wirkmächtiger Geschehnisse wie Krieg (Dynastienwechsel) und massiver Krankheitsaufkommen (Epidemien, Geschlechtskrankheiten und Hunger) keine schnellen allumfassenden Lösungen anbieten konnte. So nimmt die Medizin in der Ausrichtung auf die unmittelbare Realität, auf die Praxis446, eine zentrale Rolle ein447, was sie zunächst aus ihrem schattenhaften Dasein als Teil des kleinen bzw. unbedeutenden Weges (xiao dao 小道) herauszuheben scheint. Der Gelehrten-Arzt Zhu Zhenheng 朱震亨 (1281–1358)448 ist einmal mehr in seiner Rolle des Brückenbauers zu nennen, stellt er doch eine theoretische Anschlusstelle bzw. Fundierung bereit. Er nutzt den seinerzeit im Neokonfuzianismus (daoxue 道學) prominenten Terminus »gezhi 格致«,449 um praktisches Lernen zu bezeichnen. Seine Forderung an die zeitgenössischen Gelehrten-Beamten, medizinisches Wissen in die daoxue-Lehren (die orthodoxe neokonfuzianische Lehre) zu integrieren, verweist auf eine Aufwertung der Medizin. Die Medizin sollte nicht nur die moralischen und theoretischen Lehren der daoxue ergänzen, sie sollte vielmehr als Schlüssel für die praktischen Anwendungen (shixue 實學) der daoxue dienen, indem sie als wichtiges Werkzeug für die Untersuchung der Dinge (格物致知之一事)450 eingesetzt würde. Auf diese Weise Learning« wie Tillman 1992, 2, übersetzt), bezeichnet das, was im westlichen Kontext als »Neokonfuzianismus« bekannt geworden ist. Daooxue aber bezeichnet im engeren Sinne diejenige Gelehrten-Genealogie, die sich auf Cheng Yi und Zhu Xi bezog und die sich dementsprechend von allen anderen Song-konfuzianischen Gelehrten und sonstigen »konventionellen Konfuzianern« abhob. 446 Siehe Henderson 1984, 150–155  ; Elman 1990, 53–56. 447 Diese Verknüpfungen werden in der Forschungsliteratur kaum angesprochen. Eine Ausnahme bildet Elman 2005, 227–236. 448 Zhu Yanxiu 彥修, auch Zhu Danxi 朱丹奚 genannt, weil er in der Nähe des Ortes Danxi lebte. Er gilt als der Ahnvater der mingzeitlichen Medizin. Vgl. Rall 1970, 73. Zhu Zhenheng war, wie auch Li Gao 李杲 (1180–1251) vor ihm, ein gescheiterter Examenskandidat. Die Entscheidung für das eingehende Studium der Medizin wird in den Biographien jedoch nicht darauf zurückgeführt, sondern auf die Krankheit seines Lehrmeisters, seiner Mutter sowie seine eigene Krankheit. Vgl. Rall 1970, 72. Zum neu gewonnenen verhältnismäßig hohen Status der Gelehrtenärzte während der Mongolenzeit siehe Hymes 1986, 11–86. 449 Die Wendung 格物致知之一事 (Abmessung bzw. Untersuchung der Dinge und Erweiterung des Wissens [dadurch]) war die neokonfuzianische Bezeichnung für das kanon-orientierte Studium. Vgl. hierzu Elman 2004, 33. 450 Vgl. das tiyao 提要 (Abstrakt) der Studie von Zhu Zhenheng im Siku quanshu 四庫全書總

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gewinnt die Medizin auf geradezu revolutionäre Weise Bedeutung für alles Lernen und Streben nach Vervollkommnung. Die Relevanz dieser Verknüpfung ist für die spätmingzeitliche Medizin gewaltig. Wenn etwa der konfuzianische Gelehrte Yan Yuan 顏元 (1635–1704), einer der wortmächtigsten Kritiker der neokonfuzianischen Lehre (daoxue) und zusammen mit seinem Schüler Li Gong 李塨 (1659–1746), direkter Vorläufer Dai Zhen’s 戴震 (1724–1777),451 neben Bogenschießen und Mathematik dezidiert die Medizin als praktisches Studienfach einfordert, dann hat dies wenig mit theoretischen Spitzfindigkeiten zu tun. Er selbst praktizierte, wie Li Gong nach ihm auch, seit seinem 22. Lebensjahr als Gelehrtenarzt und unterhielt daneben zeit seines Lebens eine Apotheke.452 Auch Chen Shiduo beruft sich auf die Praxis, denn Buch-Gelehrsamkeit allein genüge nicht. Hierzu gehört die Forderung, nach dem eigenen Augenschein vorzugehen, wenn es beispielsweise – trotz der vorherrschenden Tabuisierung der Chirurgie in der Gelehrtenmedizin – darum geht, sich in bestimmten Fällen für das (chirurgische) Schneiden und Stechen zu entscheiden.453 Hand in Hand damit vollzieht sich die Abgrenzung gegen die Alten (guren 古人). In diesem Zusammenhang erläutert Chen Shiduo z. B. das Phänomen des »Schrecken-Windes« (jingfeng 驚風) bzw. der »Kinder-Krämpfe«. Er beruft 目提要 1974, 746–637. Siehe hierzu Elman 1999, 11  ; Ma Boying 1994, 466–69  ; Bol 1992,

300–341  ; Furth 1999, 146–148. 451 Dai Zhen war einer der wichtigsten Vertreter der kaozhengxue 考證學 (Verifikationsschule), die im 18. Jahrhundert den Übergang von der Philosophie zur Philologie verkörpert. Vgl. hierzu Elman 1990, 39–85. 452 Siehe hierzu Freeman 1972, 4, und zu seiner argumentativen Herleitung ibid., 81–84. Zu anderen Gelehrten, die sich vornehmlich auf ihre Aufgaben in der »Staatsführung« beziehen, siehe Elman 1988, 64ff. 453 Zu den Reminiszenzen an Hua Tuo 華佗 (ca. 141–208) in Chen Shiduos Schriften siehe Kap. III in vorliegender Arbeit. Sie verweisen deutlich auf eine ansatzweise versuchte Revitalisierung chirurgischer Techniken. Vgl. insbesondere Shishi milu, juan 1, CQS, 286, wo Chen Shiduo insgesamt sieben Anwendungsgebiete der Aufbrech-Öffnungs-Heilmethode (sui zhi fa 碎治法) thematisiert  : 1. Sehnen waschen  ; 2. Schädel aufbrechen  ; 3. Bauch öffnen  ; 4. Gedärme waschen  ; 5. Zunge wechseln  ; 6. Haut wechseln  ; 7. Knochen richten. Im Original heißt es  : 碎治有七法未传一法洗其筋一法破其脑一法破其腹一法洗其肠一法换其舌 一法换其皮一法接其骨也. Chen stellt auch die Frage, warum alle diese Methoden nicht überliefert worden seien  ; damit deutet er auf die Tabuisierung chirurgischer Methoden in der sogenannten Gelehrten-Medizin hin, die immer für die Auflösung (xiaosan 消散) der Geschwülste und Geschwüre mittels Arzneimittel, die auf die inneren Organe einwirkten, plädierten. Doch haben sich bereits vor Chen Ärzte in bestimmten ausweglosen Situationen für das Schneiden eingesetzt, so auch Xue Ji 薛己 (1487–1559), dessen Schriften Chen, wie wir im Folgenden sehen werden, eingehend studiert hatte. Zu den spätmingzeitlichen Sichtweisen zur Chirurgie siehe Li Jingwei und Li Zhidong 1990, 257–261.

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sich dabei auf die Schriften des Yu Jiayan 喻嘉言1585–1664454, der schon behauptet hatte, dass diese Zeichenkombination (Wind und Schrecken) von den Alten an den Haaren herbeigezogen sei.455 Yu Jiayan beschwöre die Ärzte, niemals von Schrecken-Wind zu sprechen  : »Auch wenn Yu in seinem Eifer übertreibt, ist es doch so, dass er zutiefst darunter leidet, dass die kleinen Kinder sterben könnten in einer Situation, die ihnen nicht bestimmt ist. Deshalb muss er sich laut äußern, um ihnen zu helfen  ! Doch die Rezepte, die Yu Jiayan aufstellt, schließen doch häufig noch die Wind-Heilmethode mit ein. […] [Meines Erachtens ist es jedoch] besser, auf direktem Wege die Erde zu ergänzen, um den Schrecken zu heilen und [auf indirektem Wege] das Feuer zu ergänzen, um die Erde hervorzubringen.«456

Diese Abgrenzung gegen die Alten hängt mit der Hinwendung zu den »konkreten Dingen«457, wie sie insbesondere bei Gu Yanwu 顧炎武 (1613–82) forciert wurde, zusammen. In diesem Sinne forderte auch Pan Lei 潘耒 (1646–1708) das Studium der Alten (guxue 古學), um die praktischen Studien (shixue 實學) voranzutreiben.458 Zwar deklassiert Chen Shiduo die Behauptungen der Alten nicht als »metaphysische Studien« (xingming zhi xue 性命之學) und setzt diese in einen Gegensatz zu den »praktischen Studien« (shixue 實學) wie andere. Doch lässt er keinen Zweifel an seiner Überzeugung, dass die Erfahrung als Kategorie des Wissens und deren Relevanz für erfolgreiches Handeln in der Praxis ungleich wichtiger sei als alles Buchwissen. Letztlich kritisiert er den oben genannten Yu Jiayan 喻嘉言wegen seines »nur« theoretischen Zugangs, bei dem jeder praktische Bezug zu Rezepturen verloren gehe. Chen Shiduo präsentiert sich in Opposition hierzu als ein der Praxis zugewandter Arzt. 454 Auch Yu Chang 喻昌 genannt. Zu seinen Schriften zählen das Shanglun pian 尚論篇 (Kritische Studien), Yimenfa 醫門法 (Prinzipien medizinischer Praxis) sowie das Shanghan lun 傷寒論 (Abhandlung zu Kälteverletzungs-[Krankheiten]), 1648. Chen Shiduo rezipiert Yu Changs Differenzierungsmethode bezüglich der Kälteverletzungskrankheiten. Yu Chang erprobte allein 397 Methoden in seinem Shanghanlun, worin er sich für die Anwendung von guizhi tang 桂枝湯 (Cinnamon Abkochung) des Zhang Zhongjing ausspricht. Siehe Bianzheng lu, juan 14, CQS 1002. Siehe hierzu auch Kap. IV in vorliegender Arbeit. 455 Im Original heißt es  : 喻嘉言謂驚風二字乃前人鑿空之談. 456 Im Original heißt es  : 雖過於憤激, 然亦深憫小兒之誤死然亦深憫小兒之誤死於非命, 不得 不大聲以救之也.但喻嘉言所立之方, 尚兼風治, […], 不若直補土以救驚, 補火以生土也. Vgl. Bianzheng lu, juan 14, CQS, 1002. 457 Siehe Unschuld, 1980  ; Widmer 1996  ; Elman 1994, 96–100. 458 Zit. nach Elman 1988, 64.

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Im Folgenden geht es darum, signifikante Konzepte des medizinischen Feldes auszuloten  : Allen voran figurieren die Logik der Mitte sowie deren kosmologische Bezüge in Gestalt des neokonfuzianisch angelegten Diagramms der Mitte. Neben der Mitte als dem fundamentalen Bezugspunkt für den Arzt prägen die Konzepte des Differenzierens (bian 辨) und der Intuition (yi 意) die Taxonomie der neuen Medizin. Aus den spezifischen Verknüpfungen dieser Konzepte entsteht die neue Kartographie des menschlichen Leibes als Konkretisierung der Mitte. Die Logik der Mitte (zhong 中) Der menschliche Körper als Teil der Dreiheit (sancai 三才) »Himmel, Erde, Mensch«, ist einmal mehr der Ort bzw. der Gegenstand, um den sich die Diskussionen drehen. Für den Arzt ist entscheidend, wo Ursprung und Ende des Lebens liegen, denn angesichts größter Not wie Krankheit und Tod bzw. der Notwendigkeit, diagnostisch und therapeutisch in Aktion zu treten, muss er wissen, wo die wahren Kräfte verborgen liegen. Zur späteren Ming-Zeit findet in dieser Hinsicht eine Umwertung statt, in deren Verlauf das Herz als Ort des Herrschers im menschlichen Leib zugunsten des Lebenstores (mingmen 命門)459 als dem wahren Ort der Kraft im Menschen und seiner (des Menschen) Transformation zurücktritt. Der Terminus mingmen findet sich bereits in den medizinischen Klassikern, dem Huangdi neijing Suwen und Lingshu (100 v. Chr. – 200 n.Chr.), und zwar als Synonym für die Augen.460 Im Nanjing (ca. 200 n. Ch.) tritt er als »Samenspeicher« beim Mann sowie als Gebärmutter bei der Frau in Erscheinung, doch gleichermaßen auch als »Ort der Essenzen (jing 精) und der Lebenskraft (shen 神)«.461 Hier ist der Zusammenhang des mingmen mit der Niere respektive der rechten Niere hergestellt, denn die Niere galt schon im Huangdi neijing Suwen als Sitz der männlichen Samen und allgemein der menschlichen Lebenskraft. Obgleich dem mingmen damit eine lebenspendende Funktion zuerkannt wird, bleibt das Herz in der Folge – bis in die spätere Mingzeit hinein – der Herrscher des menschlichen Leibes. Überdies lag das Hauptaugenmerk gemeinhin auf dem im Körper flie459 Im Folgenden wird durchgängig der Terminus »Lebenstor« und »mingmen« als austauschbar verwendet. 460 Vgl. HDNJ Lingshu 5 (2)  : 121  ; ibid. 52 (8)  : 114  ; HDNJ Suwen 6 (2)  : 111. 461 Vgl. Nanjing 36, und 39. Vgl. Unschuld 1986, 382–383, 399–400.

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ßenden Blut und Qi, deren Fülle- bzw. Leerezustände jeweils zu beachten waren.462 In der späten Ming-Zeit beschreiben Ärzte einen vergleichsweise veränderten Körper. Er wird nun wesentlich als von Feuer durchflutet gesehen,463 Feuer »fließt« ununterbrochen und gleichmäßig überall in ihm. Dieses Feuer ist aber nicht identisch mit dem äußeren Feuer, auch nicht mit dem Feuer aus den Fünf Wandlungsphasen. Es handelt sich um ein unsichtbares Feuer  : das sogenannte Kanzler-Feuer (xianghuo 相火), dessen Platz bzw. Zuhause rechts neben dem mingmen liegt. Die Neubestimmung ist damit wesentlich eine »Adjustierung« des Zentrums, der Mitte des Körpers. Die Mitte verschiebt sich von oben nach unten, dahin, wo der mingmen ausgemacht worden ist  : entweder in der rechten Niere oder zwischen den beiden Nieren liegend. Gleichermaßen ist die Mitte durch die Wandlungsphase »Erde« bzw. Milz und Magen bestimmt. Unter Bezugnahme auf das »Piwei lun« 脾胃論 des Li Gao (1180–1251) verweisen Autoren des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts auf die zentrale Funktion von Milz und Magen für die Aufrechterhaltung eines gesunden Körpers.464 Damit ist auch die grundlegende Bedeutung von Milz und Magen für die Umwandlung von Nahrung angesprochen, womit metabolische Prozesse in das Zentrum der Aufmerksamkeit gelangen. Chen Shiduo verbindet diese Perspektive (Metabolik) auf Milz und Magen mit der Bedeutung des Feuers bzw. des Kanzler-Feuers465. Davon wird im fünften Kapitel die Rede sein. Hier soll zunächst das Konzept der neuen Mitte dargelegt werden, wie es sich im spätmingzeitlichen Werk Yiguan 醫貫 (Durchdringendes Wissen zur Medizin) des Zhao Xianke 趙縣可 466 zeigt, zumal er sich als Vorläufer von Chen Shiduo darstellt. 462 Siehe Furth 1999, 144. 463 Hierbei ist insbesondere das Neike zhaiyao 內科摘要 des Xue Ji 薛己 (1487–1559) zu nennen. 464 Zu nennen ist etwa Xu Chunfu 徐春甫 (1520–1596  ?) aus der heutigen Provinz Anhui. Sein besonderes Interesse galt der Frauen- und Kinderheilkunde. Er hatte einen höheren Posten am Kaiserlichen Medizinalamt in Beijing inne. In seinem bekanntesten Werk Gujin yitong daquan 古今醫統大全 in 100 juan, findet sich im juan 23 eine ausführliche Diskussion von Milz und Magen als zentraler »Schaltstelle« des menschlichen Leibes. Wir werden an gegebener Stelle noch auf diese Sicht zurückkommen, wenn es um den »metabolischen Leib« geht. Von ebensolcher Bedeutung sind Milz und Magen auch bei Zhang Jiebin, Leijing, juan 3, 60 und bei Chen Shiduo,Waijing weiyan, juan 4, CQS, 26–27. 465 Vgl. Waijing weiyan, juan 4, CQS, 26. 466 Auch Yang Kui 养葵 genannt. Die genauen Lebensdaten sind nicht eruierbar. Das Yiguan war offenbar um 1617 abgeschlossen. Vgl. QGLM, # 00296, ZYYCD, 853. Zhao lebte etwa

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Die Mitte im Yiguan 醫貫 (1617) des Zhao Xianke 趙縣可 Die Umdeutung der Mitte des Menschen vom Herzen zum mingmen finden wir im Yiguan im Grunde bereits vollzogen.467 Zhao Xianke fundiert die Umwertung mit allen Mitteln der Rhetorik. Indem er den Umweg über die frühesten philosophischen Konzeptionen zur Mitte einschlägt, sucht er in der im Folgenden zitierten Passage nach den Spuren entsprechender Diskurse in den kanonisierten Lehren des Konfuzianismus, Daoismus, Buddhismus sowie der Medizin. Hintergrund seiner Argumentationen bildet die Leib-Staat-Analogie des entsprechungsmedizinischen Menschenbildes mit dem Herz als Herrscher und den zwölf Yin und Yang Organen als den ihm zur Seite stehenden Beamten. Er fordert eine Neubewertung des Herzens, und zwar als »Erster unter Gleichen«. Außerdem will er offensichtlich deutlich machen, wie sehr die Menschen seit alters her irrten, solange sie das »wahre Herz« im »fleischernen Herzen« suchten. »Dem Neijing gemäß ist das Herz der Herrscher des menschlichen Leibes. […] Aber ich sage, dass es im menschlichen Leib einen anderen Herrscher gibt, und der ist nicht das Herz. Ich sage, dass der Herrscher-Beamte auf gleicher Stufe steht mit den zwölf Beamten [=Organsysteme].468 […] Wie konnten die Kommentatoren des Neijing diese [Tatsache] unterschlagen  ? […] Deshalb haben seit alter Zeit die Weisen ihre Lehren auf dem Herzen begründet (故自古聖賢, 因心立論). Aber letzten Endes konnte keiner dessen spezifischen Kern genauer bestimmen. […] Später gingen die Gedanken der [konfuzianischen] Meister in das Zhongyong 中庸469

zwei Generationen vor Chen Shiduo und stammte wie dieser aus der Provinz Zhejiang. Eine ausgezeichnete Studie zu diesem Werk ist die Dissertation von Leslie de Vries, 2012. 467 Siehe hierzu die unveröffentlichte Dissertation von Leslie de Vries 2012. 468 Damit bezieht er sich explizit auf die Stelle im Huangdi neijing Suwen 3 (8)  : 131, wo es heißt  : »Wenn der Herrscher nicht erleuchtet ist, dann bedeutet dies Gefahr für die zwölf Beamten.« (主不明則十二官危). 469 Das Zhongyong war eigentlich das Kapitel 28 im Liji 禮記 (–100 bis +100)  ; es wurde von Zhu Xi (1130–1200) in den Stand eines selbstständigen Klassikers erhoben. Seit der Südlichen Song-Dynastie (1127–1279) ist es als eines der Vier Konfuzianischen Bücher (Sishu 四 書) in Umlauf. Im Zhongyong wird im Wesentlichen das »Einhalten der Mitte« propagiert. Hier findet sich auch die zentrale Stelle in Bezug auf den Umgang mit den Emotionen  : »Bevor Freude, Zorn, Kummer und Heiterkeit sich entfalten (wei fa 未發), spricht man von der Mitte (zhong 中). Wenn sie [diese Emotionen] bereits entfaltet und ausgeglichen sind (zhongjie 中節), dann spricht man von Harmonie (he 和). Die Mitte (zhong 中) ist das große Fundament der Welt, und Harmonie ist ihr universeller Weg. Wenn die Mitte und

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ein und wurden so überliefert  : Das Wesen des [vom] Himmel [Bestimmten] ist es, die Mitte zur Grundlage zu machen.470 [Die Mitte] ist gänzlich ohne Klang und ohne Geruch. Mengzi behauptet  : Das nicht bewegte Herz ist im Dao und wurzelt im »haoran zhi qi 浩然之氣«. Fragt man [Mengzi] nach dem haoran zhi qi, so heißt es wiederum  : Das ist schwer zu bestimmen.471 Im Daodejing des Laozi heißt es  : Der Talgeist (gushen 谷神)472 stirbt nicht, es ist dies das dunkle Tor des Weiblichen, die Wurzel der Schöpfung. Außerdem heißt es  : In der Mitte des Urchaos (guangguang huhu 桄桄惚惚) sind die Wesen und Dinge.473 Im Herz-Sutra der Buddhisten (Foshi xinjing 佛氏心經)474 heißt es  : Die Mitte der Leere ist nicht gestalthaft  ;475 sie hat keine Empfindungen, keine Wahrnehmung, keinen Willen und kein [differenzierendes] Denken. Sie ist ohne Absicht zu sehen, zu hören, zu riechen, zu schmecken, zu tasten (shen 身). Außerdem heißt es [gemeinhin]  : Die zehntausend die Harmonie bis zum höchsten Grad verwirklicht sind, dann haben Himmel und Erde ihre Ordnung, und alle Dinge werden gedeihen.« Vgl. Zhu Xi, Zhongyong zhangju, in Sishu zhongju jizhu, 18  ; Übersetzung in Chan1963, 98. 470 Die entsprechende Stelle liest sich im Original wie folgt  : »天命之謂性, […] 道也者 […] 中 也者 […] 天下之 大本也. Vgl. Liji zhuzi suoyin 禮記逐字索引, Zhongyong 32, 1. Der erste schriftliche Nachweis eines elaborierten Mitte-Konzeptes findet sich im Hongfan 洪範 -Kapitel des Shujing 書經 V, 4/5 (4. Jh. v. Chr.) bzw. in späteren Interpretationen des Hongfan. Im Hongfan selbst ist die Mitte mit huangji 皇極, dem »Erhabenen Äußersten«, bezeichnet, in der Han-Zeit (-206 bis +220) ist das Äußerste (ji 極) durch Mitte (zhong 中) ersetzt. Während in der Han-Zeit die Mitte für den Herrscher (als Mittler zwischen Makro- und Mikrokosmos) steht, ergeht ab der Song-Zeit (10. Jh.) an jeden Einzelnen die Forderung, die Mitte zu wahren. Vgl. Nylan 1992, 48 u. 69. Mit dem Mitte-Konzept im Hongfan ist auch das Konzept der »Fünf Phasen« verbunden. Siehe Chen Mengjia 1938, 35–55  ; Yin Nangen 1993, 5–10. Damit wird das von Zou Yan 騶衍 (–340 bis -260) begründete Fünf-Phasen (wuxing 五行) Konzept, das nicht zu trennen war von politischen Implikationen, aufgenommen und relevant für breiter angelegte Explikationen von Naturerscheinungen. 471 Der Autor zitiert hier Mengzi 3, 2, 30. Vgl. Mengzi Zhuzi suoyin 孟子逐字索引, Hongkong 1995, 14. Die Bedeutung von haoran zhi qi wird bei Zhu Xi [Sishu zhang ju ji shu 1983], 231, als etwas »gewaltig Fließendes« angegeben. Dieses alle Wesen »durchflutende Qi« muss, nach Mengzi, kultiviert werden, damit es zum Gedeihen kommen kann. Dazu bedarf es der Ausübungen [der konfuzianischen Tugenden] wie Aufrichtigkeit (cheng 誠), Rechtschaffenheit (yi 義) und des dao 道. Vgl. Mengzi, 3, 2, 15. Der Bezug zur Mitte ist dadurch gegeben, dass die Verwirklichung der konfuzianischen Tugenden Wahrhaftigkeit verlangt, und diese nur zu erreichen ist, wenn der Edle sich in der Mitte befindet. Siehe hierzu Bauer 1971, 294  ; Ommerborn 1996, 30. 472 Vgl. Vers 6 im Daode jing 道德經. Vgl. die Übersetzung in Schwarz 1980, 56. 473 Das bedeutet  : Inmitten der undifferenzierten Leere sind die differenzierten (Wesen und Dinge) enthalten. 474 Eine der wichtigsten Sutren im chinesischen Buddhismus. 475 Wörtlich  : »Ohne Farbe«.

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Phänomene (Dharmas) kehren in das Eine zurück. [Ich aber frage  :] Wohin kehrt das Eine zurück  ? Das Eine ist die Mitte, ist das Wesen (xing 性), ist das haoran (zhi qi), ist das dunkle Weibliche, ist die Mitte der Leere. Dies alles sind [inhalts-]leere Bezeichnungen (jie xu ming ye 皆虛名也). […] Ich traf eines Tages einen hochrangigen buddhistischen Mönch (gao seng 高僧) und fragte ihn, ob das Herz [der Menschen] das Buddha [Herz] sei und ob das Buddha [Herz] in der Brust sei. »Dem ist nicht so«, sagte er, »das in der Brust ist das fleischerne Herz. Es gibt so etwas wie ein »wahres« Herz. Dies ist das Buddha [Herz].« Ich fragte ihn erneut, welche Gestalt dieses »wahre Herz« habe. Er erwiderte  : »Es hat keine Gestalt.« Wieder fragte ich, wo es sich befände. Er sagte  : »Ich denke, es befindet sich unten.« […] Wir sprachen über das Neijing und andere Bücher sowie über die Abbildungen des Bronzemenschen.476 Und plötzlich wurde mir [das Geheimnis] offenbar (wu 悟), und ich zog mich respektvoll zurück. Anhand der 12 Leitbahnen-Karte will ich es nun darlegen. […] Die Lernenden sollen anhand der Karte dies überprüfen. Man suche in der Mitte des Gestalthaften das gestaltlose Geheimnisvolle. Dann wird alles klar.«477

Der Autor erhält seine Einsicht in das geheimnisvolle Wissen im Gespräch mit einem hochstehenden buddhistischen Mönch. Die Signifikanz, die dieser Begebenheit für die rechte Erkenntnis der Mitte offensichtlich beigemessen wird, muss im Zusammenhang mit den gegen Ende des 16. Jahrhunderts neu erwachten buddhistischen sowie synkretistischen Bestrebungen gesehen wer-

476 Aus der Nördlichen Songzeit (960–1279), wurde erstmals 1474 in Druck gegeben. Es zeigt die Akupunkturpunkte und das Leitbahnensystem der Entsprechungsmedizin. 477 Im Original heißt es  : 內經十二官論心者。君主之官也. […] 愚謂人身別有一主非心也。 謂之君主之 官。當與十二官平等。 […] 何注內經者昧此耶。[…] 故自古聖賢。因心 立論。而卒不能直指其實。天命之性。以中為大本。[…] 後來子思衍其傳而作中庸。而 終於無聲無臭。孟子說不動心有道。 而根於浩然之氣。及問浩然之氣。而又曰難言也。 老氏道德經云:谷神不死。是為玄牝之門。造化之根。又曰:恍恍惚惚。其中有物。佛 氏心經云:空中無色。無受 想形識。無眼耳鼻舌身意。又曰:萬法歸一。一歸何處。孟 子說不動心有道。 而根於浩然之氣。及問浩然之氣。而又曰難言也。老氏道德經云:谷 神不死。是為玄牝之門。造化之根。又曰:恍恍惚惚。其中有物。佛氏心經云:空中無 色。無受 想形識。無眼耳鼻舌身意。又曰:萬法歸一。一歸何處。夫一也中也性也。浩 然也。玄牝也。空中也。皆虛名也。[…] 余一日遇一高僧問之。自心是佛。佛在胸中 也。僧曰非也。在胸中者是肉團心。有一真如心是 佛。又問僧曰:真如心有何形狀。僧 曰無形。余又問在何處安寄。僧曰想在下邊。余曰此可幾於道矣。因與談內經諸書。及 銅人圖。豁然超悟。唯唯而退。今將十二 經形景圖。逐一申示。俾學人按圖考索。據有 形之中。以求無形之妙。自得之矣。特撰形影圖說於後。僧曰想在下邊。余曰此可幾於 道矣。因與談內經諸書。及銅人圖。豁然超悟。唯唯而退。 Vgl. Yiguan, 1–2.

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den.478 So wissen wir, dass den meisten Gelehrten, die während des frühen 17. Jahrhunderts zu den höchsten Prüfungen auf Staatsebene angetreten waren, die Vorstellungen von Reinkarnation, Karma und Vergeltung keineswegs abwegig, sondern geläufig waren.479 Gleichermaßen erlangte das altchinesische Orakelbuch Yijing 易經 (Buch der Wandlungen)480 eine zentrale Bedeutung für Gelehrte der späten Ming- und frühen Qing-Zeit.481 So kommt es nicht von ungefähr, dass Zhao Xianke nach den Ausführungen über den Zusammenhang zwischen der Mitte und den beiden Herzen, dem wahren und dem fleischernen, Belege aus dem Yijing und dem medizinischen 478 Siehe hierzu Ch’ien 1986. Das Verhältnis des Ming-Staates zum Buddhismus wandelte sich wiederholt  : Gegen Ende des 14. Jahrhunderts stellte der Kaiser die buddhistischen Mönche und Klöster unter die Oberhoheit des Staates, und ein Edikt verlangte die Schließung der Mehrzahl aller kleineren Klöster. Allein eine beschränkte Anzahl größerer klösterlicher Einheiten sollte bestehen bleiben. Im 15. Jahrhundert war die diesbezügliche staatliche Präsenz kaum spürbar  : So sind Beschwerden über »unmoralische« buddhistische Mönche, über ihre »Umherzieherei«, ihr parasitäres Verhalten, ihre Zügellosigkeit und ihre vielfältigen Beleidigungen konfuzianischer Werte allenthalben vernehmbar. Siehe hierzu Brook 1997, 174. Das Klischee unzüchtiger Mönche und Nonnen findet sich in zahllosen literarischen Zeugnissen der späten Ming- und frühen Qing-Zeit verarbeitet. Siehe hierzu Rummel 1992, 9–38. Gegen Ende der Ming-Zeit (spätes 16. und frühes 17. Jahrhundert) wurde der Buddhismus, weil marginalisiert, von der Gentry als Möglichkeit genutzt, eine zur konventionellen hierarchischen Rollenverteilung alternative und damit neue »öffentliche« Autorität zu generieren. Sie nutzten die Institution der Klöster als Objekte der Patronage, wodurch die Möglichkeit, einer dem Staat ebenbürtigen, auch moralischen, Autorität eröffnet war. Siehe hierzu Brook 1997, 179–180. 479 Siehe hierzu Elman 2000, 307. 480 Auch als Zhouyi 周易 bekannt, ist als einer der Fünf Klassiker (seit Mitte der Han-Zeit, d. h. seit der ersten Jahrtausendwende als Klassiker aufgeführt) einer der einflussreichsten Texte für die Entwicklung des chinesischen Denkens. Traditionell wird Fuxi 伏羲 als derjenige Kulturheroe angesehen, der die Acht Trigramme (ba gua 八卦) gezeichnet habe. König Wen (Wen wang 文王) habe diese Trigramme in 64 Hexagrammen angeordnet sowie die dazugehörigen Erklärungen verfasst  ; die Kommentare sollen von Konfuzius stammen. Die Trigramme bestehen aus drei horizontalen gebrochenen oder ungebrochenen Linien, wobei die gebrochenen Linien mit yin 陰 assoziiert sind und die ungebrochenen Linien mit yang 陽 korrelieren. Die historisch älteste und vollständige Textausgabe des Yijing – im deutschen Sprachraum konventionell als I-Ging bekannt, was auf die Übersetzung durch Richard Wilhelm 1956 zurückgeht – stammt aus der Tang-Zeit (618–905). Die ursprüngliche Abfassung des Textes wird auf etwa 500 v. Chr. datiert. Zu neueren Einsichten in die Textgeschichte siehe Hertzer 1996. Die Diskussionen um Gebrauchsweisen und Hintergründe des Yijing werden auf die Kritik des Wang Bi 王弼 (226–249) an der Han-Gelehrsamkeit zurückgerührt. Siehe hierzu Wagner 2003  ; Bauer 2001, 142–149. 481 So lassen sich bei den allermeisten Gelehrten der Ming- und Qing-Zeit Hinweise auf ihren Gebrauch des Yijing als Wahrsagebuch nachweisen. Gu Yanwu beispielweise betonte die moralische Signifikanz der Konsultation des Yijing. Vgl. hierzu Smith 1991, 108–109.

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Klassiker Huangdi neijing (kurz  : Neijing) anführt, um dann auf dieser Grundlage den mingmen zwischen den Nieren zu verorten. »Wenn es im Yijing heißt  : Ein (1) Yang sitzt inmitten der beiden (2) Yin eingesenkt,482 so entspricht dies der [Aussage] im Neijing  : Neben dem 7. Wirbel gibt es ein kleines Herz.483 [Ich sage]  : Der Name [des kleines Herzens] ist »mingmen«. Das ist der wahre Fürst, der wahre Herrscher. Dies ist das Höchste Äußerste484 im menschlichen Leib. Es hat keine Gestalt, die man sehen könnte. Es befindet sich zwischen den beiden Nieren. Dies ist sein Wohnort. Zu seiner Rechten gibt es eine kleine Höhlung. Das ist [einer] der »Drei Erwärmer«485, der wiederum der Botschafter des mingmen ist. Dieser führt die Befehle des mingmen aus. Er bewegt sich ununterbrochen zwischen den fünf Speicher-Organen und den sechs Palast-Organen hin und her und rastet nicht. Sein Name ist [auch]  : Kanzler-Feuer (xianghuo 相火) 486. Es heißt, das Kanz482 Das bedeutet  : Ein starker durchgezogener Yang-Strich wird oben und unten von jeweils einem schwachen, unterbrochenen Yin-Strich umrahmt. Dieses Trigramm steht für das Wasser, das Abgründige. Die Nieren sind in der Entsprechungsmedizin dem Wasser zugeordnet. 483 Im Original heißt es  : 易所謂一陽陷於二陰之 中。內經曰:七節之旁。有小心是也。名曰 命門。Vgl. Yiguan, 1–2. Im Huangdi neijing Suwen 52 (14), 6, ist die Rede vom »Kleinen Herzen, das sich neben dem siebten Wirbel, in der Mitte [des Leibes] befindet« (黃帝問曰  : 願聞禁數  ? 岐伯對 曰  : 臟有要害, 不可不察. 肝生於左, 肺藏於右,心部於表,腎治於 脾 為之使,胃為之市.膈肓之上,中有父母,七節之傍,中有小心,從之有,逆之有咎).

484 Die Grundbedeutung von Taiji ist der »tragende Dachbalken«. Davon abgeleitet steht Taiji für den äußersten Pol, den Polarstern, um den sich nach chinesischer Vorstellung der Kosmos dreht, wie das Rad um die Nabe. Die Nabe symbolisiert die Leere, das dao. Schon bei Zhuangzi (VI, Da zongshi, 3A/246f ) ist das taiji mit dem Himmel assoziiert. Siehe hierzu Lackner 1990, 140. Seit der Han-Zeit steht das taiji synomym für das dao  ; im songzeitlichen Neokonfuzianismus nimmt es eine zentrale Stellung ein. 485 Der Dreifache Erwärmer bezeichnet drei »energetische Zentren«, von denen das untere, von dem hier die Rede ist, im »Magen-Bauch-Bereich« liegt und als »Verdauungsfeuer« fungiert. 486 Mit dem Begriff »Kanzler-Feuer«, das in dieser Passage als Botschafter des mingmen eingeführt wird, kann sich Zhao Xianke auf Vorläufer beziehen  ; insbesondere auf den mehrfach erwähnten Zhu Zhenheng 朱震亨 (1281–1358). Er war der vierte herausragende Arzt der Yuan-Zeit (1279–1368), und wird gemeinhin als Begründer einer eklektizistischen Schule angesehen, weil er sich sowohl der Lehrmeinung des Liu Wansu 劉完素 (1110–1200) anschloss, wonach die Krankheiten häufig durch eine Veränderung der sechs qi (äußeren klimatischen Einflüsse, darunter am häufigsten »Feuchtigkeit, Hitze und Feuer«) als auch der Lehrmeinung des Zhang Congzheng 張從正 (1156–1228), wonach es in den allermeisten Krankheitsfällen darum gehe, Schlechtes durch »Schweißtreiben, Erbrechen und Abführen« auszutreiben und zu viel Hitze mittels kalter und kühlender Arznei zu mindern. Ebenso integrierte Zhu die Sichtweise des Li Gao 李杲 (1180–1251), wonach das »Ergänzen« als wichtigstes Therapiemittel eingesetzt werden müsse. Zhu setzte sich seinerseits für die »Stärkung

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Abb. 3  : Verortung des »Wahren Wassers« (links) und des »Kanzler-Feuers« (rechts) zwischen der rechten Niere (Yang-Wasser) und der linken Niere (Yin-Wasser) Aus  : Zhao Xianke 趙縣可, Yi Guan 醫貫 [1617], reprint 1982, juan 1, 7.

der Yin-Anteile« ein. Siehe hierzu Rall 1970, 73–75. Im Gezhi yulun 格致餘論 (Darlegungen zum Erweitern medizinischen Wissens) [1993], 38–39, heißt es  : »[Wenn] der höchste Pol (taiji) in Bewegung ist, entsteht das Yang, wenn er in Ruhe ist, entsteht das Yin. Wenn das Yang in Bewegung ist, dann gibt es Wandel, wenn das Yin ruhig ist, dann gibt es Zusammenkunft (he 合). Und es entsteht Wasser, Feuer, Holz, Metall und Erde. Jede (Phase) hat ihre Natur bzw. Wesen (xing 性)  : Nur das Feuer hat zwei [Wesen]. Es heißt  : Das Herrscher-Feuer (junhuo 君火) ist das Menschen-Feuer. Das Kanzler-Feuer (xianghuo 相火) ist das Himmels-Feuer. Im Inneren des Feuers ist Yin, außen ist Yang […].« Die Theorie vom Kanzler-Feuer (xianghuo lun 相火論) bei Zhu Zhenheng verändert die Sicht auf das Kanzler-­ Feuer, wie sie im Huangdi neijing Suwen 71 (21), 358, in der Bedeutung von stechender Hitze bzw. von Sommerhitze dargestellt ist. Dort, HDNJ Suwen 68 (19), 209, ist die Rede vom Herrscher-Feuer (jun huo 君火), das jeweils von außen in Form direkter Sonneneinwirkung auf den Menschen einwirke. Zhu Zhenheng verleiht diesem Feuer eine zentrale Bedeutung im Inneren des Menschen selbst. Zhao Xianke nennt explizit Li Dongyuan 李東垣 bzw. dessen Betonung der Mitte als Vorläufer seiner Theorie. Damit ist der oben erwähnte Li Gao 李杲 (Li Mingzhi 李明之, 1180–1251), auch Li Dongyuan laoren 李東垣老人 genannt, gemeint. Er stammte aus Zhengding 正定 in der heutigen Provinz Hebei. Seiner Biographie in der Yuan-Dynastiengeschichte zufolge entstammte Li Gao einer alteingesessenen, reichen Familie. Er habe die Medizin – dem konfuzianischen Ideal entsprechend – nicht für den

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ler-Feuer sei wie der Himmlische Fürst, der herrscht ohne zu handeln (wuwei 無爲). Der Kanzler (zaixiang 宰相) vertritt den Himmel in seinen Wandlungen. Dies ist das vorgeburtliche (xiantian 先天) gestaltlose Feuer. Es ist nicht identisch mit dem nachgeburtlichen (houtian 後天) gestalthaften Herz-Feuer. Zu seiner Linken gibt es eine kleine Höhlung. Dies ist das wahre Yin, das wahre Wasser-Qi. Es hat auch keine Gestalt. Es bewegt sich nach oben über die Wirbelsäule (jiaji 夾脊) bis in das Gehirn und bildet dort das Meer des Marks. Es bringt die verschiedenen Körpersäfte hervor und füllt die Blutbahnen auf, um die vier Extremitäten zu beleben (rong 榮). Im Innern füllt es die fünf Speicher- und die sechs Palast-Organe auf, […]. Zusammen mit dem Kanzler-Feuer durchfließt es unsichtbar den ganzen Leib. Das wahre Yin [bzw. das wahre Wasser-Qi] ist nicht dasselbe wie das nachgeburtliche gestalthafte Wasser, das in den beiden Nieren wohnt. Das gestaltlose Feuer des mingmen hingegen befindet sich in der gestalthaften Mitte [zwischen] den beiden Nieren. Und dies ist der Gelbe Hof.«487

Erwerb seines Lebensunterhaltes, sondern nur zur Behandlung seiner kranken Mutter erlernt. In einem anderen Zusammenhang wird berichtet, dass seinem Großvater, der sehr arm gewesen sei, ein Geist in Gestalt einer Frau erschienen sei. Diese habe, nachdem er sich nicht von ihren Reizen habe verführen lassen, ihm eine Kiste voller Gold für seinen Enkel überlassen, der ein berühmter Arzt werden sollte. Siehe hierzu Rall 1970, 59. Li Gao ist als Begründer einer der sogenannten »Vier Großen Medizinschulen der Song-Jin-Yuanzeit«, der bu pi wei 補脾胃 bzw. bu tu 補土 (Ergänzung von Milz und Magen bzw. Ergänzung der Erde)-Schule überliefert. In seinem Piwei lun 脾胃論 (Erörterungen zu Milz und Magen) sowie in seinem Neiwai shang bian huo lun 內外傷辨惑論 (Erörterungen der Differenzierung von Inneren und Äußeren Verletzungen) legt er dar, dass es sich in den allermeisten Krankheitsfällen um eine Schädigung von Milz und Magen (bzw. der Erde in der Fünf-Wandlungsphasen-Entsprechung) handele. Vgl. die Bezugnahme auf Li Gao im Yiguan, juan 3, 45. Außerdem nennt Zhao Xianke explizit den bereits erwähnten Xue Ji (1487–1559) und dessen Theorie zum mingmen. So finden sich im Yiguan ganze Passagen aus dem Neike zhaiyao übernommen. 487 Gelb ist die Farbe der Mitte (Erde). Der »Raum zwischen Himmel und Erde wird auch gemeinhin die »gelbe Mitte« genannt. Vgl. das 11. Kapitel aus dem Xingming guizhi 性命圭 旨 (1615) in Darga 1999, 116. Mit dem gelben Hof ist aber gleichzeitig der Ofen – wie er in der äußeren alchemistischen Tradition (waidan 外丹) zum Einsatz kommt, in dem der Adept das goldene Elixier (jindan 金丹) herstellte, das ihn unsterblich machen sollte – gemeint. Im Original heißt es  : 名曰命門。是為真君真主。乃一身之太極。無形可見。兩腎之中。是 其安宅也。其右旁有一小竅。即三焦。三焦   者 。是其臣使之官。稟命而行。周流於五 臟六腑之間而不息。名曰相火。相火者。言如天君無為而治。宰相代天行化。此先天無 形之火。與後天有形之心火不同。其   左 旁有一小竅。乃真陰。真水氣也。亦無形。上 行夾脊。至腦中為髓海。泌其津液。注之於脈。以榮四支。內注五臟六腑。以應刻數。 亦隨相火而潛行於周身。與兩 腎所主後天有形之水不同。但命門無形之火。在兩腎有 形之中。為黃庭. Vgl. Yiguan, juan 1,4.

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Abb. 4  : Links  : dem obersten Kreis (die ungeschiedene Form des Höchsten Äußersten) folgt die Ausdifferenzierung in Yin und Yang, auf der untersten Ebene finden sich die Fünf Wandlungsphasen Rechts  : Die Verortung des mingmen im Mittekreis zwischen dem Wahren Wasser und dem Yin-Wasser (linke Niere) auf der linken Seite und dem Kanzler-Feuer und dem Yang-Wasser (rechte Niere) auf der rechten Seite Aus  : Zhao Xianke 趙縣可, Yi Guan 醫 貫 [1617], reprint 1982, juan 1, 6.

Die hier gezeigten Verbildlichungen der kosmologischen Bezüge sind Vorstellungshilfen und Formeln, die die Ausrichtung auf der Reise zum Langen Leben leiten sollten. Diese Abbildungen und Diagramme verweisen explizit auf den mingmen als die Mitte, das Zentrum des Menschen. Es ist das Höchste Äußerste, das Kleine Herz (xiao xin 小心).488 Nachdem Zhao Xianke in der ersten Passage das Konzept der Mitte in den verschiedenen Denktraditionen verfolgt und in der eben zitierten Passage den mingmen zwischen den Nieren verortet hat, geht es ihm in der folgenden Passage darum, die alles entscheidende Bedeutung des mingmen für das menschliche Leben sowie den Zusammenhang mit der Niere und den anderen Organsystemen herauszustellen  : »Deshalb heißt es  : Das wahre [Organ] der fünf Speicher-Organe ist nichts anderes als die Niere. [Die Nieren] sind die Wurzel. […] Wenn der Mensch am Beginn 488 Siehe Zhao Xianke, Yiguan, und auch Chen Shiduo, Waijing weiyan, juan 2, CQS, 16.

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seines Lebens zum Embryo wird, dann beginnt [das Leben] im Zeichen der Inthronisation [des mingmen]. Als erstes nimmt der mingmen Gestalt an. Existiert der mingmen, dann erst entsteht das Herz  ; […] das Herz bringt das Blut hervor. Wenn das Herz da ist, dann entsteht die Lunge  ; die Lunge bringt Haut und Haare hervor. Wenn die Lunge da ist, dann entstehen die Nieren  ; die Nieren bringen Knochen und Mark hervor. Wenn die Nieren da sind, dann verbinden sie sich mit dem mingmen. Die Nieren sind zwei an der Zahl. Die Niere hat also zwei Zweige. Daraus kann man ersehen, dass der mingmen der Herrscher der 12 Leitbahnen ist.489 Die Niere ohne den mingmen ist schwach  ; dann hat sie nichts, worauf sich ihre Stärke gründet, und die Fertigkeiten können nicht entwickelt werden. Wäre die Harnblase ohne mingmen, dann würde sich das Qi der Drei Erwärmer nicht umwandeln können und die Wasserwege wären nicht durchgängig. Wären Milz und Magen ohne mingmen, dann wären sie nicht in der Lage, Wasser und Getreide zu verdauen, und die fünf Geschmacksrichtungen könnten nicht ausgebildet werden. Wären Leber und Gallenblase ohne mingmen, dann könnten sie nicht als Generäle [für die Lebensplanung] Entscheidungen treffen und Strategien entwickeln. Wäre der Dünndarm ohne mingmen, dann gäbe es keine Umwandlung und beide Öffnungen [für Harn und Stuhl] wären verschlossen. Wäre das Herz ohne mingmen, dann wäre das Leuchten des Geistes (shenming 神明) verdunkelt, und die zehntausend [menschlichen] Angelegenheiten ließen sich nicht erledigen. Genau dies ist gemeint, wenn es heißt  : Wenn der Herrscher nicht erleuchtet ist, dann sind die zwölf Beamten in Gefahr.« 490

Die Relevanz der Mitte bei Chen Shiduo Dem Aufbau seiner Schriften entsprechend, diskutiert Chen Shiduo die Herrschaftsfrage im menschlichen Körper mittels mehrerer Sprecher.491 Das Kanzler-Feuer ist, als »Vertreter des Himmlischen« im Menschen, eine unentbehrli489 Das Leitbahnensystem verknüpft die Speicher- und Palastorgane, worin das Blut und Qi fließt. 490 Im Original heißt es  : 故曰五臟之真。惟腎為根。褚齊賢云:人之初生受胎。始於任之 兆。惟命門先具。有命門。然後生心。心生血。有心然後生肺。肺生皮毛。有肺然後生 腎。腎生骨髓。有腎則與命門合。二數備。是以腎有兩岐也。可見命門為十二經之主。 腎無此。則無以作   強 。而技巧不出矣。膀胱無此。則三焦之氣不化。而水道不行矣。 脾胃無此。則不能蒸腐水穀。而五味不出矣。肝膽無此。則將軍無決斷。而謀慮不出 矣。大小腸無 此。則變化不行。而二便閉矣。心無此。則神明昏。而萬事不能應矣。正 所謂主不明則十二官危也。Vgl. Yiguan, juan 1, 4–5.

491 Vgl. Waijing weiyan, juan 5, CQS, 32.

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che Grundlage des Lebens. Wie bei Zhao Xianke hat es seinen Ort in der Mitte, d. h. im mingmen zwischen den Nieren. Gleichzeitig bewegt es sich unentwegt durch den Leib. Es ist ein Motor für die Reproduktion bzw. die Sexualität, die Zeugung von Nachwuchs, weil es direkt an der Urquelle des Lebens sitzt, namentlich der Niere als Ort des ursprünglichen Qi (yuan qi), das der Mensch mit in die Welt bringt. Der mingmen ist das erste, was sich nach/mit der Zeugung herausbildet. Deshalb gilt es als Lebenstor, durch das der Mensch in das Leben tritt. (1) So ist es zum einen diese Bedeutung der Mitte bzw. des mingmen und des Kanzler-Feuers für die Fortpflanzung bzw. für den »hervorbringenden, reproduzierenden« Leib, die Chen Shiduo in signifikanter Weise in Diagnose und Therapie berücksichtigt  :492 Denn neben zu »geringer« oder zu »kalter« Samenflüssigkeit ist es sowohl bei der Frau als auch beim Mann ein allzu stark loderndes Kanzler-Feuer (guo wang 過旺), das er als Ursache für Kinderlosigkeit festmacht. Lodert das Kanzler-Feuer zu stark, so verbrennt es die Säfte, d. h. die yin-Kräfte im Leib  ; dann sind die Begierden zu stark und auch die körperlich vollzogenen Aktivitäten/Anstrengungen beim Geschlechtsverkehr zu exzessiv, und es kommt letztendlich zu Stillstand und damit zu Krankheit, Leere und Auszehrung sowie zum Unvermögen, Kinder zu zeugen.493 (2) Zum anderen, und davon nicht zu trennen, ist die engste Verbindung des Kanzler-Feuers mit dem Kosmos, die bei Chen Shiduo implizit durch alle Diskurse mitläuft. Weil das Kanzler-Feuer als Feuer des Himmels den Kosmos im Menschen repräsentiert, geschieht über das Kanzler-Feuer die Vereinigung des Menschen mit dem Kosmos bzw. des Kosmos mit dem Menschen via »Menschwerdung« des Kosmos. Dieser Prozess ist offensichtlich nicht ohne die »Hierogamie der Attribute« zu begreifen.494 Die Hochzeit des Menschen mit dem Kosmos geschieht in der Vereinigung bzw. Vermischung der Attribute  : das »Feuer (Feurige) im Wasser« (das Yang zwischen zwei Yin eingesenkt  ; bzw. der mingmen als Feuer in der Niere). Während das Feuer im Allgemeinen vom Wasser gelöscht wird (so auch im Rahmen des Überwindungszyklus der Fünf-Wandlungsphasen-Lehre  : das Feuer des Herzens etwa wird vom Wasser 492 In Kapitel V werden wir uns eingehender mit sozialen Implikationen und Ängsten um die Kinderlosigkeit befassen bzw. auch mit dem Aspekt eines Gegenentwurfes, nämlich der Möglichkeit, als kinderloser Mann bzw. als kinderlose Frau Eingang in die Unsterblichkeit zu finden. 493 Chen Shiduo widmet dem Thema »Herstellung von Nachwuchs« (zhongsi 種嗣) einen ganzen Abschnitt. Vgl. Bianzhenglu, juan 10, CQS, 940–945  ; Shishi milu, juan 5, CQS, 396. 494 Zu diesem Phänomen siehe Eliade 1984, 128.

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der Niere überwunden), wird dieses Feuer (des Himmels) im Wasser (zwischen bzw. in den Nieren) hervorgebracht. Da es im Wesen des Feuers liegt, nach oben zu lodern, und im Wesen des Wassers, nach unten zu fließen, verlangt die hierogamische Vereinigung, dass das (wahre) Wasser (zhen shui 真水) nach oben steigt, um das Herz bzw. das Feuer des Herzens zu kühlen. Das Feuer muss nach unten gebracht werden, d. h. unter die Nieren, um dort das Wasser zu erhitzen und wiederum (in Form von Dampf ) zum Aufsteigen zu bringen. In dieser Vereinigung finden dementsprechend »gegenläufige« Prozesse statt. Chen Shiduo betont an zahlreichen Stellen, dass im Leben, d. h. im Hervorbringen (sheng 生), immer und wesentlich das Überwindende, d. h. das zum Sterben Führende (ke 克) enthalten ist. Damit verweist er auf die Behandlungsmethode »diandao 顛倒 (Umdrehen/Inversion)«. Dabei bedeutet »umdrehen« die »leichtläufig der Richtung folgende Qi-Bewegung« (shun 順) in »die gegenläufige Qi-Bewegung« (ni 逆) zu bringen. Wenn die »gegenläufige Bewegung« immer zugleich in der der »Richtung folgenden Bewegung« enthalten ist, dann kann sich der Arzt dieses Gesetzes auch dann bedienen, wenn es darum geht, den Funken des Lebens im augenscheinlich Toten mit allen therapeutischen Mitteln wieder zu erwecken.495 Das »Umdrehen (diandao)« erscheint bei Chen Shiduo als die ultimative Technik in der Medizin ebenso wie in der Lebenspflege (yangsheng 養生). Sie besteht nicht nur im Austarieren, Regeln und Harmonisieren (tiaohe 調和), sondern auch darin, an die Wurzel des Kosmos zu gelangen, um die Lebensprozesse lenken zu können. Sichtweisen aus der »Lebenspflege-Tradition« sind letztlich daoistisch/ buddhistisch inspiriert, indem die Kultivierung des Selbst hin zum Weisen bzw. zum Unsterblichen/Erleuchteten im Mittelpunkt steht und weniger die konfuzianisch inspirierten familialen Pflichten einschließlich der Fortpflanzungspflicht. Die potentielle Entsagung von weltlichen und familiären Aufgaben birgt transgressive Elemente in sich, insbesondere im Hinblick auf das weibliche Geschlecht. Chen Shiduo jedenfalls scheint beide Sichtweisen zu vereinen, indem er die daoistisch/buddhistisch inspirierte Sicht zur Grundlage macht. (3) Der Fokus auf die Mitte (das Kanzler-Feuer, die Inversions-Techniken) erscheint bei Chen Shiduo nicht separiert von seinem durchgängigen Einsatz des »Fünf-Wandlungs-Phasen« Paradigmas. So betont er etwa im Falle lebens495 Vgl. Waijing weiyan, juan 1, CQS, 6.

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Abb. 5  : Illustration des mingmen (im Mittelkreis im Verein mit Wasser und Feuer). Aus  : Xiao Jing 肖京. Xuan Qi jiu zheng lun 軒歧救正 論 [1644], reprint [Zhongyi zhenben congshu 中醫珍本叢 書] 1983, juan 1, 72.

bedrohlicher Erfrierungserscheinungen, bei denen alle fünf Yin-Organe bereits vom Kälte-Qi (han qi 寒氣) durchdrungen sind, dass man keineswegs die Organe einzeln behandeln müsse, sondern einzig und allein den mingmen, denn dieser beherrsche schließlich alle fünf Yin-Organe.496 Zudem will er beispielsweise in spezifischen Fällen von Kinderlosigkeit die Qi-Leere in den Fünf Speicherorganen als Ursache für die Kraftlosigkeit ausmachen und nicht ein schwach loderndes Kanzler-Feuer.497 Doch sind beide nicht wirklich unabhängig voneinander, denn das Kanzler-Feuer als das vorgeburtliche Feuer kann auch bis zu einem gewissen Grad das Fünf-Speicherorgan-Qi hervorbringen. Genauso wenig dürfe das Feuer des Herzens und das Feuer des Zorns bzw. der Leber mit dem Kanzler-Feuer verwechselt werden, obgleich beide signifi496 Vgl. Bianzheng lu, juan 1, CQS, 718. 497 Hier spricht er vom mingmen-Feuer, was letztlich das Kanzler-Feuer ist. Vgl. Bianzheng lu, juan 10, CQS, 940.

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kant mit yang-Aktivität konnotiert sind. Dennoch ist die gegenseitige Einflussnahme nicht ausgeschlossen, im Gegenteil, sie therapeutisch zu nutzen, ist ein großes Anliegen Chen Shiduos. (4) Das Konzept der Mitte tritt bei Chen Shiduo nicht nur mit dem mingmen und dem Kanzler-Feuer in Erscheinung. Als zweites Zentrum figuriert die Milz und mit ihr der Magen. Denn diese »kontrollieren« das nachhimmlische Qi (houtian zhi qi 後天之氣), das den Menschen in seiner nachhimmlischen Beschaffenheit von Milz und Magen regiert.498 So wie die Mitte (bzw. die mittlere Region) als Bauch der Erde anzusehen sei499, so sei die Milz als Yin (Speicherorgan) als der Bauch des Menschen (pi nai ren – shenzhi fu ye 脾乃人 一身之腹也)500 anzusehen. Sie steht mit dem Magen für die Mitte auf Erden. Im Rahmen des Fünf-Phasen-Paradigmas ist sie ebenfalls der Erde zugeordnet. Der Mensch ist auf der Erde von Milz und Magen (dem ihr zugehörigen Yang [Palast-]Organ) regiert. So weist Chen Shiduo – um bei der Behandlung von Kinderlosigkeit zu bleiben – häufig darauf hin, dass es sich beispielsweise bei Impotenz (des Mannes) (yinwei 陰痿) keineswegs um eine Schwäche des mingmen-Feuers (Kanzler-Feuer) handele, sondern vielmehr um eine Schwäche des »Milz-Magen«-Yang-Qi. Auch bei Frauen fokussiert er bei Infertilität die Aktivitäten des Feuers (respektive des Kanzler-Feuers [xianghuo 相火] und des Herrscherfeuers [junhuo 君火]) als »Stoff«, der die Reproduktion und den menschlichen Leib in besonderer Weise konstituiert und weniger das Blut, wie noch die Ärzte zur Song-Zeit (960–1279) meinten. Das Herz behält zwar seine wichtige Stellung als eines der Fünf Yin-Organsysteme. Aber es verliert die »unsichtbare« Stellung des »wahren« Herrschers. Folglich verwundert es nicht, wenn Chen Shiduo bei spezifischen Ausformungen von Irresein (kuang 狂) feststellt  : »[…] Die Leute denken, es handele sich um die Herz-Verlust-Krankheit (shi xin zhi bing 失心之病), in Wirklichkeit aber handelt es sich um »Bewegung des Feuers infolge Verletzung des Magens« (shang wei er dong huo 傷胃而動火).501 Dieses und viele ähnliche Beispiele belegen die Hinwendung der Aufmerksamkeit auf die »untere Mitte«, gerade auch im Falle von Irresein, was bislang häufig mit Schleim im Herzen erklärt worden war.502

498 Im Original heißt es  : 人身后天以脾胃为主. Vgl. Bianzheng lu, juan 4, CQS, 773. 499 Im Original heißt es  : 中州为天下之腹. Vgl. Waijing, juan 2, CQS, 15. 500 Vgl. Waijing, juan 2, CQS, 15. 501 Vgl. Bianzheng lu, juan 4, CQS, 790. 502 Vgl. Messner 2000, 167–171.

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Kosmologische Bezüge  : Das Diagramm der Mitte Letztlich ist für die hochgradige Komplexitität des Konzeptes der Mitte in der spätming- und frühqingzeitlichen Medizin (17. Jahrhundert) das Taiji-Diagramm (Taiji tu 太極圖 Karte des Höchsten Äußersten) des songzeitlichen Gelehrten und Begründers der neokonfuzianischen Kosmologie, Zhou Dunyi 周敦頥 (1017–1073), konstituierend503. Diese Karte spiegelt das neokonfuzianisch inspirierte Bestreben wider, äußerst heterogene Wissensfragmente zusammenzuführen. Solche Karten (tu 圖) sind immer mit divinatorischen Zwecken verbunden gewesen,504 und sie basieren auf einer Tradition, die »Offenbarung« als hohe Form der Vermittlung kennt.505 Zhou Dunyi und anderen neokonfuzianisch ausgerichteten Philosophen ging es um eine Erweiterung der tradierten, vorwiegend auf Mensch und Gesellschaft fokussierten konfuzianischen Sichtweisen. Die Relativierung dieses Anthropozentrismus geschah über die Einordnung bzw. Wieder-Einordnung des Menschen in den Kosmos (»Himmel und Erde«), was als Zeichen des Umbruchs im 17. Jahrhundert angesehen wird.506 Die Hinwendung zur Kosmologie setzte allerdings das für die Ming-Zeit charakteristische empirische Erkenntnisinteresse nicht außer Kraft. Die Analyse medizinischen Schrifttums aus der Zeit belegt, dass es sich hierbei nicht um ein dichotomes Spannungsverhältnis zweier Weltsichten handelt, sondern dass beide gleichermaßen, jeweils mitlaufend bzw. jeweils als Kon-Text des anderen, zum Tragen kommen. Chen Shiduos Texte sind dafür ein Paradebeispiel. Das Taiji-Diagramm verknüpft binär, pentagonisch und oktagonisch ausgerichtete Denkmuster miteinander. Binär ausgerichtet ist die Interpretation der Welt mit der Yin-Yang- Polarität, pentagonisch das Fünf-Wandlungsphasen-Paradigma und oktagonisch die 64 Hexagramme im Yijing 易經, eine achtfache Kombination der ursprünglich acht Trigramme. »Verkartet« wird in diesem Diagramm das Höchste Äußerste (taiji) in seinen verschiedenen Manifestionen  : im oberen Kreis als undifferenzierte Leere  ; 503 Ein Diagramm, welches ihm von einem daoistischen Priester überreicht worden sein soll. Auch dieser Bericht von der Übereignung des Wissens (aus dem Überirdischen) mag als Vorgänger-Erzählung für Chen Shiduos »wunderbare« Übereignung des medizinischen Wissens gedient haben. Bei Liu Wansu (ca. 1110–1200) waren es zwei Heilige (shengren), die ihm Wein zum Trinken gegeben hätten  ; nachdem er diesen auf ihr Geheiß wieder ausgespuckt habe, sei er im Herzen erleuchtet worden. Siehe hierzu Rall 1970, 39–41. 504 Vgl. Lackner 1990, 138. 505 Auch das Yijing soll auf eine Offenbarung zurückgehen. 506 Vgl. die Befunde bei Henderson 1984 und Elman 1990.

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im darauf folgenden Kreis in seiner polaren Ausformung von Yin (schwarz) und Yang (weiß) bzw. Ruhe und Bewegung  ; in der Mitte des Diagramms in den pentagonischen Aspekten der Wandlungs-Phasen  ; im Kreis darunter als Vereinigung des Männlichen und Weiblichen, in der Sprache des Yijing die Vereinigung von qian 乾 und kun 坤507, die wiederum Yang und Yin bzw. Himmel und Erde entsprechen  ; im untersten Kreis erscheint das Höchste Äußerste als das Lebenstor, als mingmen bzw. die Pforte des »Dunklen Weiblichen« (xuan pin zhi men 玄牝之門). Da es sich um einen Kreislauf handelt, lässt sich die Karte auch von unten nach oben lesen, mit dem mingmen als Beginn des (differenzierten) Lebens hin zur Rückkehr in die (undifferenzierte) Leere. Fünffach ist die Mitte in diesem Diagramm vertreten  : im mingmen, in der Vereinigung des Männlichen und Weiblichen, in der Erde der Fünf Phasen, in der Mitte von Yin und Yang (weißer Kreis) und in der vorgeburtlichen Leere. Das Taiji tu spielte für das medizinische Denken der späten Ming- und frühen Qingzeit, insbesondere im Zusammenhang mit dem Bestreben nach »Langem Leben«, eine integrale Rolle, namentlich für die Positionierung des mingmen 命門 als neues Zentrum, aus dem heraus Leben entsteht und gedeiht. Die Fünf-Wandlungsphasen-Lehre, die von zeitgenössischen Gelehrten nicht immer als tragfähiges Konzept erachtet wurde,508 erscheint hier als notwendiges Glied in der Argumentationskette, wenn es gilt, die dem Menschen jeweils vom Himmel zugewiesene Konstellation bzw. Konstitution zu eruieren und damit Krankheiten zu heilen – und nicht zuletzt die Rückkehr in die äußerste Leere bzw. Mitte zu bewerkstelligen.509 Chen Shiduos Aussagen zum Zusammenhang »Mensch und Kosmos« sind nicht originär, aber er stellt diesen Zusammenhang ausschließlich in den Dienst der Medizin. Die Medizin will unmittelbar relevant sein für alle Menschen in Not. Hierzu gehören nicht nur epidemische Erkrankungen diverser Art, sondern auch heikle Themen wie »Unfruchtbarkeit« oder »unaussprechliche Krankheiten« bzw. Frauenkrankheiten und Geschlechtskrankheiten, etc. Hierbei kommen Ausflüge in die Kosmologie zum Tragen, und zwar vor allem über die Prinzipien des »sittlichen Gesetzes«, begründet durch das Vorgeburt507 Die beiden ersten Zeichen im Orakelbuch  : qian, das Schöpferische  ; kun, das Empfangende. 508 Die von namhaften Gelehrten des 17. Jahrhunderts geäußerte Kritik zielte auf die Frage der Stichhaltigkeit der Fünfer-Reihe der Wandlungsphasen – ebenso übrigens wie der Stichhaltigkeit der Zweierreihe im Yin-yang-Schema. Siehe hierzu insbesondere Henderson 1984, 243–247. 509 Vgl. Lackner 1990, 144.

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Abb. 6  : Aus  : Zhouzi quanshu [1756], (Qingzeitliche Ausgabe der Werke des Zhou Dunyi 周敦頤 (1017–1073) [1756], reprint, 1978 juan 1,2–3.

liche und das Nachgeburtliche. Dies war der Angelpunkt der Einbindung des Menschen in den Kosmos über den mingmen 命門 als das »kleine Herz«, als das Symbol für das Taiji 太極 (das Höchste Äußerste). Die zyklisch gedachten ewigen Rhythmen des Kosmos waren über die Wandlungen von yin und yang sowie über die fünf Phasen-Dynamiken im Menschen selbst vorhanden. Diese spätmingzeitlichen Versuche, den Menschen in kosmologische Zusammenhänge wieder einzubinden, sind letztendlich also moralisch fundiert und als solche wesentlicher Teil der medizinischen Argumentationen. Damit zeugen diese medizinischen Texte unmittelbar von der Praxis dieser Moral im täglichen Lebensvollzug des menschlichen Leibes. Die Vorstellung von der Erfüllung des leiblichen Entwurfes (jianxing 踐形), bereits bei Mengzi angelegt510, findet im 16. und 17. Jahrhundert im mingmen seinen Ankerpunkt. Die Matrix, das kartographische Werkzeug, vermittels derer der Arzt agiert, basierte auf 510 Vgl. Tu Wei-ming 1983, 271.

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Abb. 7  : »Der Kosmos (tiandi 天地) ist identisch mit dem Höchsten Äußersten (taiji 太極). Der menschliche Leib ist identisch mit dem Kosmos. Die fünf Phasen finden sich zwischen Himmel und Erde (tiandi 天地). Der Himmel bringt das Wasser hervor, Wasser bringt Holz hervor, Holz bringt Feuer hervor, Feuer bringt Erde hervor und Erde bringt Metall hervor, und Metall bringt wiederum Wasser hervor. […] Das Qi der Fünf Phasen verbirgt sich in den Fünf Speicherorganen und tritt in den Sechs Palastorganen in Erscheinung. […] Die Hervorbringungs- und Überwindungszyklen [der Fünf Phasen] entfalten sich unaufhörlich. Dies ist das Höchste Äußerste des menschlichen Leibes.« Aus  : Taisu mai mijue 太素脈秘訣. [1575], reprint in ZBYS, Bd. 3, Maixue lei 脈學類, juan 1, 38. Vgl. Taisu mai mijue in 2 juan, von Zhang Taisu 張太素, juan 1, ZBYS 3, 脈學類, 38. Das Werk stammt aus der späten Ming-Zeit. Der Fokus des Textes ist auf die Ermittlung des Schicksals mittels der Pulsdiagnose gerichtet. Die genauen Lebensdaten des Autors waren nicht zu eruieren.

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den Explikationen von Himmel und Erde, den Gestirnen, den geographisch orientierten Beobachtungen auf der Erde und denjenigen am Himmel sowie den jahreszeitlich bedingten und rhythmisch auftretenden Phänomenen wie Tag und Nacht, Ebbe und Flut. Diese Phänomene in Beziehung zum menschlichen Körper zu setzen, machte wesentlich die Kosmologie aus, die nicht als aufgepfropftes Beiwerk, sondern, im Gegenteil, als integrales Element der medizinischen Explikationssysteme der Vorgänge im menschlichen Leib, »wirkte« bzw. »agierte«. Für das spezifische »In-Verbindung-Setzen« von Mensch und Kosmos wurde das altchinesische Orakelbuch Yijing, das auch dem Taiji-Diagramm zugrundelegt ist, zur Quelle mannigfaltiger Denkbewegungen in der späten Mingund frühen Qingzeit.511 Auch kritische Stimmen, die den extensiven Gebrauch des Yijing als häretisches Verhalten brandmarkten,512 konnten letztlich nicht verhindern, dass dieses Orakelbuch zum Wegweiser inmitten der Umbrüche und Unwägbarkeiten in der späteren Ming- und frühen Qing-Zeit wurde. Tiefgreifende strukturelle Veränderungen stimulierten die Suche nach Zeichen und Hinweisen im Kosmos. 511 Dieser Denkschritt ist keineswegs abwegig, wenn man die in der Song-Zeit (960–1269) massiv vorangetriebene Rückbesinnung auf vorbuddhistische bzw. auf konfuzianische Sichtweisen bedenkt. Allerdings scheinen letztere während der frühen Han-Zeit (2. bis 1. vorchr. Jh.) keine so große Rolle gespielt zu haben, wie dies nun tausend Jahre später glaubhaft gemacht wird. Von »dem« Konfuzianismus lässt sich nicht einmal während der Han-Zeit sprechen, zumal die vielen Debatten (beispielsweise die Spaltung der Lehrmeinungen zwischen Mengzi (372–289) und Xunzi bereits in der Vor-Han-Zeit) und Kontroversen (etwa um die Alttext- und Neutextschule in der späten Han-Zeit) eher auf Zersplitterung als auf Einheitlichkeit schließen lassen. Hinzu kamen die deutlichen Verschiebungen auf semantischer Ebene, die nicht zuletzt auf die rege Übersetzung aus dem buddhistischen Kontext zurückzuführen ist. So strahlte die im 8. Jahrhundert entstehende Bewegung für einen einfacheren, schlichteren Sprach- und Schreibstil, wie er diesen Gelehrten zufolge in der Sprache des 4. bis 1. vorchr. Jahrhunderts gepflegt worden war, auf die gegen Ende der Tang-Dynastie (618–906) einsetzende antibuddhistische Bewegung aus. Die wichtigste Figur in diesem Zusammenhang war der Zensor Han Yu 韓愈 (768–824) und sein Schüler Li Ao 李翱 (fl. 798). Im Zusammenhang mit den Darlegungen über die eigenen Traditionslinien (fernab von Buddhismus und Daoismus) diskutierten beide das Wesen der menschlichen Natur (xing 性). In Anlehnung an Mengzi sah v. a. Li Ao die Grunddisposition des Menschen als gut. Allerdings sei diese Grunddisposition durch Gefühle (qing 情) und Gier (tan 貪) verunreinigt. Das so verunreinigte Wesen des Menschen habe man durch Beruhigung in einen Zustand der Wahrheit (cheng 誠) zu bringen, was letztendlich die Basis für Erleuchtung darstelle. Siehe hierzu Bauer 2001, 237–239. 512 So ist beispielsweise bei Hu Wei 胡渭 (1633–1714) in seinem Yitu mingbian 易圖明辨 (Eine klärende Kritik der Diagramme zum Yijing), 1700, eindeutig die Rede vom heterodoxen Ursprung der Pläne bei Zhou Dunyi 周敦頥 (1017–1073). Siehe hierzu Chow 1993, 180–182.

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Differenzieren (bian 辨) in der neuen Medizin »Bianzheng 辨証« (Differenzieren von [Krankheits-]Mustern) fungiert gegenwärtig als definitorisches Merkmal der TCM (Traditionellen Chinesische Medizin). In Abgrenzung von der westlichen Schulmedizin, die per definitionem Krankheits[-symptome] differenziere (bianbing 辨病), aber nicht Muster, will diese Definition einen genuin wesenhaften Unterschied zwischen Ost und West markieren (中醫辨証 西醫辨病).513 Medizingeschichtlich aber lässt sich im chinesischen Kontext keine definitorische Unterscheidung zwischen bing 病 (Krankheit) und zheng 証 ­(Muster) ausmachen, jedenfalls nicht vor 1950.514 In den konventionell gültigen medizinischen Klassikern fungierten beide Begriffe, bing und zheng, mitunter synomym, als klassifikatorische Termini zur Diagnosestellung.515 Beginnend mit der Song-Jin-Yuan-Zeit (10. bis 15. Jh.) wurden im Vergleich zu früher komplexere Denkprozesse in das medizinische Feld hineingetragen – nicht zuletzt, weil die Medizin für immer mehr Gelehrte zum »hoffähigen« Betätigungsfeld geworden war.516 Anhand vielfältiger äußerlich wahrnehmbarer Manifestationen wurde auf die Imbalancen der inneren Organe geschlossen und diese Diagnosen zusätzlich durch die Systematiken der Puls-Lehre erweitert. Dabei wurde zheng 証 (Muster) nach wie vor nicht als klar abgegrenzter Terminus gebraucht, sondern vielmehr als eine Art Oberbegriff, um die äußerst vielfältigen Einzelbeobachtungen nach Kategorien zu ordnen.517 Tatsächlich taucht das Kompositum bianzheng, das gegenwärtig als Kennzeichen der volksrepublikanischen TCM hochgehalten wird, erst gegen Ende der Ming-Zeit (spätes 16. und frühes 17. Jahrhundert) vermehrt in medizinischen Werken auf.518 Damals 513 Siehe etwa Liao Yuqun 1999, 33. Diese Abgrenzungsdefinition interessiert an dieser Stelle nicht weiter. 514 Siehe hierzu Hu und Ge 1994 und in der Folge Scheid 2002, 205. 515 Vgl. beispielsweise das Zhubing yuanhou lun 諸病源候論 von Chao Yuanfang 巢元方 (550– 639), das nach bing 病 geordnet ist und erst in zweiter Linie den Terminus hou 候 (Symptommuster) einsetzt. 516 Vgl. Hymes 1986. Angela Ki Che Leung 2003, 130–152, belegt darüber hinaus den Zusammenhang zwischen dem florierenden Buchdruckgewerbe im Allgemeinen und dem Aufkommen von Lehrbüchern für medizinische Praxis im späten 16. und 17. Jahrhundert im Speziellen. 517 Siehe Furth 1999, 65. 518 Xu Chunfu 徐春甫 verwendet im 23. juan seines Gujin yitong daquan durchgängig »bian­ zheng 辨証« als signifikanten Terminus zur Differenzierung diverser Muster, wie beispielsweise die Differenzierung innerer Verletzungsmuster gegenüber von außen induzierten Ver-

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war zheng 証 im Sinne von (Krankheits)-Muster nach und nach zu einem Kennzeichen der Gelehrten-Medizin (ruyi 儒醫) geworden.519 Doch auch hier fungierten bing und zheng nicht als Termini, die einander explizit gegenübergestellt sind, sondern in Positionen, die auf »Austauschbarkeit« hindeuten.520 Chen Shiduo, dessen Werk Bianzheng lu das Kompositum bianzheng im Titel führt,521 diskutiert das komplexe Zusammenspiel wie folgt  : »Der Weg der Medizin ist schwierig. Wenn [man sie praktiziert], ohne die Pulse zu differenzieren, weiß man nicht um das Subtile der Pulse. Wenn [man sie praktiziert], ohne die [Krankheits-]Muster zu differenzieren, weiß man nicht um den Wandel der [Krankheits-]Muster. Heutzutage gibt es sehr viele, die diagnostizieren und [Medizin] praktizieren. Sie folgen alle unterschiedlichen Prinzipien, und sie kommen alle zu unterschiedlichen Befunden. Und in Wirklichkeit wissen sie nicht, worum es geht. So scheint [ihnen], man sollte [die Diagnosen mittels] der Puls-Differenzierung [erstellen] und nicht [mittels] der [Krankheits-]Muster-Differenzierung, obwohl die Pulse-Differenzierung (bianmai 辨脈) schwierig ist und nicht so leicht wie die Muster-Differenzierung (bianzheng) [zu einem Ergebnis führt]. Obgleich in alten Schriften viel von der Puls-Differenzierung die Rede ist und wenig von der Muster-Differenzierung, so hat sich doch schlussendlich die Musletzungsmustern, die Differenzierung von Kälte und Hitze oder die Differenzierung von Mustern nach »Handrücken und Handherz« etc. Desweiteren finden wir bianzheng als signifikanten Terminus bei Li Zhongzi 李中梓 (1588–1655), im juan 1 des Werkes Yizong bidu, 1637 [1997], 15f.; im 張氏醫通 (Zhang Lus Gesamtdarstellung der Medizin) von Zhang Lu 張璐 (1617–1698), im 12. juan [1995], 627–635  ; im Jingyue quanshu 景岳全書 (Das Gesamtwerk von Zhang Jiebin 張介賓) (1563–1640) [1624] im 3. juan, vol. 1, 75. 519 Vgl. hierzu Scheid 2002. 520 Während der Song-Zeit avancierte das auf Zhang Zhongjing (ca. 150–219) zurückgehende Shanghan lun zum Grundlagenwerk der Arzneimittelkunde. Das hierin dargelegte Sechs-Stadienmodell besagte, dass Kälte-Krankheiten sukzessive in sechs Stadien fortschreiten. Das Shanghan lun wird als locus classicus für das Denken in Mustern angesehen. Dabei macht man als Ausgangspunkt für Zhang Zhongjing eine einzelne Stelle im Huangdi neijing Suwen aus, an der von sechs Krankheitsstadien die Rede ist. Vgl. Hu Xin und Ge Xiumei 1994, 6–31. Die heute allgemein gebräuchlichen Ausgaben des Shanghan zabinglun 傷寒雜病論 von Zhang Zhongjing basieren auf der Song-Ausgabe der seinerzeit von Wang Shuhe 王叔和 (3. Jh. n. Chr.) neu systematisierten und als Shanghan lun 傷寒論 herausgegebenen Fassung. Vgl. die Ausgabe von 1976. 521 Seit 1987 ist dieses Buch in allen klinisch ausgerichteten Buchläden in der VR-China zu finden, zumal es im Rahmen der jüngeren Kanonisierungsprozesse der Chinesischen Medizin als Paradebeispiel einer weit entwickelten Systematik für das Differenzieren nach (Krankheits-)Mustern gilt.

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ter-Differenzierung durchgesetzt, und dies trotz der Tatsache, dass die Muster-Differenzierung schwieriger ist. Heutzutage geht jeder wie selbstverständlich davon aus, dass man [weder Puls noch Muster] differenzieren muss  ; man beruft sich darauf, dass die Alten schon sagten, man solle nicht differenzieren. Man muss [aber] das, was die Menschen von heute nicht zu sagen wagen, mit dem zusammenführen, was die Alten noch nicht gesagt haben. [D. h. man muss] ausgiebig [nach Mustern] differenzieren.«522

Chen Shiduo fordert das Differenzieren von Krankheitsmustern als die adäquate Vorgehensweise medizinischer Diagnostik ein. Nur so sind die Krankheitsverläufe in ihrem Wandel zu erfassen und die Herangehensweise an die jeweilige Situation anzupassen (biantong zhi fa 變通之法 ).523 Das »Differenzieren schwieriger Fragen« (biannan 辩难) – gemeint ist hier das Debattieren und Diskutieren über strittige Passagen in kanonisierten medizinischen Schriften – sowie das Differenzieren von Krankheitsmustern (bianzheng 辨 証) als Programm sind bei Chen Shiduo unmittelbar mit dem Paradigma der Fünf-Wandlungsphasen verknüpft. Wir werden dieser Verknüpfung im nachfolgenden Kapitel V über die Befindlichkeiten als einem zentralen Verständnis- und Handlungsmuster begegnen. Gundlegend ist in diesem Programm das differenzierte Wissen um die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Krankheiten (bian bingti zhi yitong 辨病體之異同) sowie der Nachweis der »attackierenden« und »ergänzenden« Wirksamkeit von Arzneimitteln  : Die Hervorbringungs- und Überwindungszyklen der Fünf Wandlungsphasen (wuxing sheng ke 五行生克) sind die bestimmenden, richtungsweisenden Variablen für die jeweilige Situation, die man so gut kennen müsse wie seine eigenen Hände und Finger (ming ru zhi zhang 明如指掌).524 Im Sinne der »Distinktionsrhetorik« wirft er den »ungelehrten« Ärzten und Generationenärzten (shiyi 世醫) vor, keine Vorstellung davon zu haben, was es 522 Im Original heißt es  : 夫醫道之難也,不辨脈罔識脈之微,不辨證罔識證之變。今世人習 診者亦甚多矣,言人人殊,究不得其指歸,似宜辨脈,不必辨證也。雖然,辨脈難知, 不若辨證易知也。古雖有從脈不從證之文,畢竟從脈者少,從證者眾,且證亦不易辨 也。今人所共知者,不必辨也,古人所已言者,不必辨也。必取今人之所不敢言,與古 人之所未及言者,而暢辨之。Vgl. Eigenes Vorwort zum Bianzheng lu, CQS, 696.

523 Vgl. Bianzheng lu, juan 3, CQS, 757. An dieser Stelle geht es um Ohrenschmerzen, die infolge von Zorn entstehen, und zwar insbesondere bei Frauen. Weil sich das Blut in den Leitbahnen verirre, müsse man beim Ergänzen von Blut besonders damit rechnen, dass es zu Kummer kommen könne. 524 Vgl. Epilog zum Bianzheng lu, CQS, 1009.

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bedeute,525 sich »flexibel an die Situation anzupassen« (biantong yu zhixia 變 通與指下)526 bzw. den »Umständen entsprechend zu handeln« (zhuoqing 酌情 bzw. zhun qing zhuo li 准情酌理).527 Diese Forderung nach situativem Differenzieren ist nichts anderes als die Aufforderung an die Ärzte, die »Prinzipien der Dinge durchdringend zu studieren und [deren Wesen] zu ergründen (qiongli 窮理).528 Argumentatives Fundament hierfür ist die seit der Song-Zeit (960–1279) geltende »gewu zhishi«-Formel für alle Gelehrten  : die »Untersuchung der Dinge zur Erweiterung des Wissens«. Diese Formel bildet auch im frühen 17. Jahrhundert die Basis für die Denkprozesse, als Reaktionen auf den erhöhten Bedarf an wirksamen Handlungsanweisungen, nicht zuletzt gegen die epidemischen Erkrankungen. Davon soll im Folgenden die Rede sein, bevor die Praxis des Differenzierens ganz allgemein bei Chen Shiduo erläutert wird. Die Herausforderung der epidemischen Krankheiten In der Auseinandersetzung mit epidemischen Erkrankungen zeigt sich die Bedeutung des Differenzierens (bian 辨) in zweifacher Hinsicht  : einmal im rein medizinischen Feld, da diese Epidemien mit regional bedingten Klimaverhältnissen (des Südens) zusammenhingen  ; zum anderen darin, dass der Nord-Süd-Gegensatz auch an der Konstitution und im Lebenswandel der Menschen festgemacht wurde. Die Jahre 1586–1589 sowie 1639–1644 sind geprägt von epidemischen Erkrankungen (wenyi 瘟疫),529 die die chinesische Bevölkerung innerhalb kürzester Zeit, zwischen 1586 und 1660, auf die Hälfte 525 Vgl. »Sechs Ermahnungen an die Ärzte« (Quan Yi liu ce 勸醫六則) in Dongtian aozhi, juan 6, CQS, 1133 und Bencao xinbian, Epilog, CQS, 88–89. 526 Vgl. Dongtian aozhi, juan 6, CQS, 1133. 527 Vgl. Bianzheng lu, Epilog, CQS, 1009. 528 Geht zurück auf einen Ausspruch im Kapitel Daxue 大學 im Liji 禮記 (vgl. im SSJ 60, 445 (1673), wonach »die Dinge [zu] untersuchen und das Wissen [zu] erweitern [sei]« (gewu zhizhi 格物致知)  ; dieses Konzept wurde dann im Rahmen der lixue 理學 (Lehre vom kosmologischen Prinzip) von Zhu Xu (1130–1200) von zentraler Bedeutung. Siehe hierzu De Bary 1989, 8ff. Diese Forderung taucht bei Chen an verschiedenen Stellen, in Prologen sowie in den Schriften selbst auf. Vgl. z. B. im eigenen Prolog zum Dongtian aozhi, CQS, 1015  ; im Shishi milu, juan 4, CQS, 375  ; in den Mahnworten zur Medizin, Dongtian aozhi, juan 16, CQS, 1133, sowie in den 6 Instruktionen zur Medizin, die unter »16 Regeln, als Leseanleitung«, im Bencao xinbian, CQS, 87–88 erscheinen. 529 Die chinesischen Archive vermerken diese Epidemien als die verheerendsten in der chinesischen Geschichte. Dabei sind die »medizinischen Hintergründe bis heute ein Rätsel geblieben«. Vgl. Elvin 1973, 310 und 190  ; siehe auch Dunstan 1975 sowie Hanson 1997, 95–124.

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schrumpfen ließen  : von etwa 150 Millionen auf etwa 76 bis 92 Millionen.530 Die Menschen begegneten diesen extremen existenziellen Bedrohungen mit verstärkten religiösen Aktivitäten. Exorzistische Rituale sollten Epidemie [vertreibende] Götter (wenyi shen 瘟疫神) dazu bewegen, die Epidemie-Dämonen zu vertreiben.531 Die Menschen legten sich z. B. Zinnober-Amulette zum Schutz gegen solche Dämonen um und verbrannten Räuchersubstanzen in den Wohnräumen. Lokalchroniken, die über diese Ereignisse berichten, machen moralische, politische sowie wirtschaftliche Faktoren als Ursachen und Krieg, Aufstände und Hungersnöte als letztendliche Bedingungen für die Entstehung der Epidemien aus.532 Ärzte griffen auf die konventionell bei Fieberkrankheiten angewandten Rezepturen zurück, die fast ausnahmslos auf dem Shanghan lun 傷寒論 (Abhandlung über Kälte induzierte Krankheiten) des Zhang Ji 張 機 (Zhongjing 仲景 ca. 150–219) beruhten. Das Shanghan lun beschreibt sechs Stadien, die eine Fieberkrankheit regelhaft durchlaufe, wobei das erste Stadium durch eine von außen eingedrungene Kälte hervorgerufen würde. Demnach handelt es sich zuallererst um eine Schädigung im Yang-Bereich. Dieses Konzept verlangt in der Therapierung vor allem Abführen bzw. Purgieren (xie 瀉) von (zu viel) Hitze (yang). Fieberkrankheiten, die im Frühjahr und Sommer auftraten, gehen demnach ebenfalls auf eine Kälte-Qi-Verletzung zurück. In diesem Fall habe sich das Kälte-Qi (vom kalten Winter her) im »Fleisch« (rou 肉) verborgen gehalten, um sich im wärmeren Frühjahr und Sommer als Fieberkrankheit zu manifestieren. Diese »Kälteverletzungs-Sicht«, wonach Sommer-Hitze-Krankheiten als sommerliche Manifestationen von Winter-Kälte-induzierten Krankheiten anzusehen waren, hatte bereits Zhang Congzheng 張從正 (1156–1228)533 ansatzweise in Frage gestellt. Obgleich er aus dem nördlichen Hebei stammte und ebenfalls mit Kälte-induzierten Krankheiten konfrontiert gewesen sein muss, forderte er die genaue Differenzierung unterschiedlicher klimatischer Einflüsse, die alle auf ihre Weise pathogenes Potential besäßen. Wind, Kälte, Sommerhitze, Feuchtigkeit, Trockenheit und Feuer definierte Zhang als dem Himmel zugehörige Einflüsse  ; Nebel, Tau, Regen, Hagel, Eis und Schlamm als der Erde zugehörige Schadenseinflüsse. Schließlich galten das Saure, das Süße, 530 Wakeman 1985, Fn. 1054. Nicht unerwähnt bleiben darf außerdem die sogenannte Kleine Eiszeit Mitte des 17. Jahrhunderts. Sie verkürzte die Wachstumsperiode von Getreide um ganze zwei Wochen. Vgl. Spence 1990, 37. 531 Vgl. hierzu Katz 1995, 102–106, sowie ders. 2004, 190. 532 Siehe hierzu Hanson 1997, 121, sowie 112–113. 533 In seinem Rumen shiqin 儒門事親 (Wie man als gelehrter Konfuzianianer seinen Eltern dient).

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das Bittere, das Scharfe und das Salzige als der Nahrung zugehörige ­Schäden.534 Zhang forderte in Diagnose und Therapie die strikte Differenzierung der Patien­ten, je nachdem, ob sie im Norden oder im Süden lebten. In südlichen Gebieten herrsche nämlich mehr heißes Qi, weshalb es passend sei, mehr bittere und kühlende Arzneien zu verabreichen. Hingegen wiesen nördliche Gegenden mehr Kälte-Qi auf, weshalb es passend sei, bittere und wärmende Arzneien zu verabreichen.535 Aufbauend auf dieser Differenzierung propagiert Zhu Zhenheng (1281–1358), dessen theoretische Ausführungen wir bereits für die Professionalisierungsprozesse der Medizin im 17. Jahrhundert als entscheidendes Fundament kennen gelernt haben, eine noch stärkere Differenzierung. Zhu, der selbst aus dem Süden (Zhejiang-Provinz) stammt, macht als Ursache für Fieberkrankheiten ein im Winter vorherrschendes ungewöhnlich warmes Qi aus. Damit steht er im Gegensatz zur Shanghang lun-Tradition, nach der das Kälte-Qi sich im Sommer als Fieberkrankheit manifestiere. In der Folge fordert Zhao Xianke (spätes 16. bis frühes 17. Jahrhundert) explizit die Kenntnis der Lehren des Zhu Zhenheng ein.536 Diese seien nämlich Voraussetzung für die notwendigen Differenzierungen bei Fieberkrankheiten. Denn obgleich die Wurzeln der Kälte-induzierten Krankheiten sowie die der Hitze-Krankheiten die gleichen seien, sei doch die Zeit des Ausbruchs der Krankheit unterschiedlich.537 So stimmt Zhao Xianke zwar mit der Shanghan-Tradition überein, wonach Fieberkrankheiten generell auf Kältegift (han du 寒毒) zurückgingen, das sich im Frühling und Sommer zu einer Hitzekrankheit wandle. Hinsichtlich der Therapierung jedoch kritisiert er die Shanghan-Tradition wegen ihrer mangelhaften Rezepturen gegen die Fieberkrankheiten der Sommerzeit sowie wegen deren Anspruch, dass diese Theorie auch für die Therapie anderer Krankheiten Geltung besäße. Zhao Xianke behauptet, dass man zu Zhang Jis Zeiten (2. nachchr. Jh.) nicht über die entsprechenden Rezepturen verfügte,538 weil sie verloren gegangen seien. Zhao nun verfüge über diese ehedem verloren geglaubten Rezepturen.539 Diese besagten, dass 534 Vgl. hierzu Unschuld 1980, 135. 535 Vgl. hierzu Hanson 1997, 196. 536 Im gleichen Atemzug nennt er auch Li Gao 李杲 (1180–1251) und Xue Ji 薛己 (1487– 1559). 537 Im Original heißt es  : 受病之源雖同, 所發之時則異Vgl. Yiguan [1617], juan 2, 33. 538 Ibidem, 32. 539 Diese spezifische Argumentation, die besonderes medizinisches Wissen als ­»Wiederentdeckung« ehedem verlorenen Wissens klassifiziert, finden wir bei Chen Shiduo in höchst ausgefeilter Form.

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es von existenzieller Wichtigkeit sei, die konventionell angewandten Drogen wie Mahuang 麻黃540 und Guizhi 桂枝541 mittels anderer Drogen zu ergänzen – und zwar entsprechend der Ausbruchszeit der Krankheit. Wenn es sich um Sommer-Hitze-Krankheiten handele, müsse man je nach Puls und je nach sonstiger Konstitution auch ergänzende Arzneien verabreichen. Zhao Xiankes Argumente sind einem gewandelten Blick auf den menschlichen Körper geschuldet  : Das Feuer (das Kanzlerfeuer, xianghuo 相火, verknüpft mit dem mingmen, der »neuen Mitte«) ist das konstitutive Element des menschlichen Leibes. Die Reden von der Feuer-Konstitution des Menschen sind – wie oben dargelegt – durchaus soziopolitisch brisant, wollen sie doch die alte Ordnung des menschlichen Leibes aufheben. Zhao Xianke bedauert die Menschen seiner Zeit, die nicht wüssten, dass es das Feuer im menschlichen Leibe sei, das die gestaute Kälte nicht entweichen lässt. So sei man außerstande, eine Heilung herbeizuführen.542 Auch Wu Youxing 吳有性 (1582  ?–1652), Zeuge der 1641er Epidemie in Suzhou, gehört in die Reihe der Ärzte, die vor bzw. zeitgleich mit Chen Shiduo die Notwendigkeit des genauen Hinschauens und Differenzierens betonen.543 Entgegen der in Lokalchroniken vertretenen Sichtweisen seien Epidemien (wenyi 溫疫) keineswegs Missernten, erhöhten Steuerforderungen, Hungersnöten, Banditentum und Kriegen, dem Zusammenbruch der sozialen Ordnung oder moralischen Verfehlungen geschuldet. Vielmehr sei man mit Krankheiten kon-

540 Ephedra sinica, schweißtreibend, Wind austreibend und Kälte vertreibend. 541 Cassia, Zimt, auch gegen Hitzekrankheiten und als Austreibungsmittel bzw. für »Schwitzenlassen«, »Erbrechenlassen« eingesetzt. 542 Vgl. Yiguan, juan 2, 33. 543 In seinem unmittelbar darauf publizierten Wenyi lun 瘟疫論 (1641). Vgl. Ibidem, juan 1, reprint 1985, 1. In die Reihe der Ärzte, die, wie Wu Youxing, aus der reichen Stadt Suzhou stammten bzw. in Suzhou als Ärzte praktizierten und erheblich zur Weiterentwicklung der Wärme-Induzierten-Schule (wenbing xue 溫病學) beigetragen haben, gehörten desweiteren Zhang Lu 張璐 (1617–167  ?), Autor des Zhangshi yitong 張氏醫通 und Ye Tianshi 葉天士 (1667–1746), Autor des Linzheng zhinan yi’an 臨証指南醫案. Ye Tianshis Name wurde von vielen späteren Autoren »geborgt«, um ihre eigenen Werke (unter seinem Namen) zu publizieren  ; außerdem gehört hierzu Xue Xue 薛雪 (1681–1700) und das ihm zugeschriebene Shire tiaobian 濕熱條辨. Zu einem sich während dieser Zeit entwickelnden Netzwerk von Ärzten in Suzhou siehe Chao Yüan-ling 1995, 151–180. Suzhou war bereits seit dem 10. Jahrhundert Chinas Zentrum für Textilherstellung, respektive Webereien gewesen und seit dem 15. Jahrhundert eine der ökonomisch am stärksten entwickelte Städte, weil hier Handelstätigkeit, Handwerk (insbesondere Textilhandwerk) und Finanzdienstleistungen aufeinandertrafen. Vgl. hierzu Santangelo 1993, 83–85.

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frontiert, die bislang nicht adäquat behandelt worden seien.544 Diese Inter­ pretation geht Hand in Hand mit Wu Youxings Kritik an konventionellen medizinischen Verfahrensweisen, die ohne genaues Hinsehen und Beurteilen der jeweils aktuellen bzw. akuten Situation angewendet worden seien. Ähnlich äußerte sich Li Zhongzi 李中梓 (1588–1655) aus Suzhou in seinem Yizong bi du 醫宗必讀,545 wenn er mit großer Eindringlichkeit die »Differenzierung« in der Medizin fordert. Denn  : »Bei einer Krankheit nicht zu differenzieren [bedeutet], nichts zu haben, womit man heilen kann. Eine Therapie ohne Differenzierung vermag nicht, die Genesung herbeizuführen.«546

Li Zhongzi verweist auf die Ärzte Li Gao 李杲 (1180–1251) und Xue Ji 薛己 (1487–1559), Zhu Zhenheng 朱震亨 (1281–1358) und Zhang Congzheng 張 從正 (1156–1228),547 sämtlich Song-Jin-Yuan-Ärzte (10.–14. Jh.), die – jeder auf seine Weise –die Notwendigkeit des Nährens der Mitte betont hatten, indem sie sich für das Ergänzen des Magen-Milz-Qi einsetzten. Schon diese hätten nämlich der Tatsache Rechnung getragen, dass sich das Wetter im Verlauf der Jahrhunderte verändert habe und somit das yuan qi 源氣 (ursprüngliche Qi) im Menschen nicht mehr dasselbe sei wie das vor der Song-Yuan Zeit. Analog haben sich die Behandlungsmethoden gänzlich verändern müssen.548 Dies ist, neben der regionalen Differenzierung (Nord-Süd), eine weitere als dringlich empfundene Differenzierung, nämlich die zwischen dem yuanqi 元 氣 (dem ursprünglichen Qi) der Menschen in alten Zeiten und dem yuanqi der 544 Denn man wisse nicht, was es mit dem »Pest«-Qi (liqi 癘氣) auf sich habe, raffe es doch Menschen ohne Rücksicht auf Konstitution und Alter schonungslos dahin. Dieser Zusammenhang erscheint auch bei Zhao Xianke als shali zhi qi 殺癘之氣 (schonungslos den Tod bringendes Qi), welches sich aus dem Kälte-Qi entwickle. Vgl. Yi guan, juan 2, 32. Siehe hierzu Hanson 1997, 139, sowie 148f. 545 So finden wir die Betonung von bian als grundlegendes Werkzeug für die Diagnosestellung explizit auch bei Li Zhongzi. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Chen Shiduo sein Werk kannte, zumal darin einzelne Themen wie die Unterscheidung zwischen Arm und Reich und Alt und Jung etc. besonders herausgearbeitet sind. Auch im Huangdi neijing Suwen finden wir ansatzweise solche Unterscheidungskriterien angeführt. Li Zhongzi bezieht sich überdies auf das entsprechende Kapitel im Suwen. Vgl. Yizong bidu, juan 1, 5. 546 Im Original heißt es  : 病不辨則無以治, 治不辨則無以痊. Vgl. Yizong bidu, juan 1, 14. Siehe hierzu auch Hanson 1997, 127–128, sowie 172–181. 547 Vgl. Yizong bidu, juan 1, 5. 548 Vgl. Yizong bidu, juan 1, 4.

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Menschen im 17. Jahrhundert. Diese Räume und Zeiten differenzierende Argumentation eröffnete die Möglichkeit, neue Behandlungsmethoden bei Fieber- bzw. Epidemieerkrankungen einzuführen, ohne den Klassiker Shanghan lun gänzlich zu entthronen. Differenzieren (bian 辨) bei Chen Shiduo Tatsächlich war die Diskussion um die Theorien aus dem Shanghan lun unter Ärzten, die unmittelbar oder auch nur mittelbar mit den Epidemien konfrontiert waren, in vollem Gange. Chen Shiduo nennt wiederholt Cheng Fuzi 成 夫子 (11. Jahrhundert)549 und Yu Jiayan 喻嘉言(1585–1664)550 als Gewährsleute der Shanghan lun-Tradition in seinen Schriften und sucht die Auseinandersetzung mit ihnen.551 So will er zwar deren erfahrungsbedingte, theoretische und systematische Beschäftigung mit dem Shanghan lun nicht in Abrede stellen. Doch er fühlt sich zur Kritik berechtigt, indem er sich auf den direkten Kontakt mit dem Himmlischen Meister beruft und zu differenzieren weiß. Immer wieder diskutiert Chen Shiduo die widerstreitenden zeitgenössischen An549 Dies ist eine Verschreibung für Cheng Wuji 成无己, ca. 11. Jh. Cheng, der als Generatio­ nenarzt (shiyi 世醫) gewirkt haben soll, hat eine Studie zum Shanghan lun mit eigenen Methoden zur Differenzierung von Außen und Innen, Leere- und Fülle-Zuständen verfasst. Seine Schriften hatten großen Einfluss auf spätere Studien. Siehe Zhongyi yiyao cidian 1991, 660, QGLM, # 47, 65 u. 66. 550 Auch Yu Chang 喻昌 genannt. Er stammte aus Xinjian 新建 in Jiangxi 江西. In Changshu 常數 soll er als Arzt gewirkt haben. Zu seinen Schriften gehören das Shanglun pian 尚論 篇 (Kritische Studien) und das Yimenfa 醫門法 (Prinzipien medizinischer Praxis). Er wird insbesondere wegen seiner Studien zum Shanghan lun aufgeführt. Vgl. sein Shanghan lun 傷 寒論 (Abhandlung zu Kälteverletzungs-[Krankheiten]), 1648. Letzteres hat Chen Shiduo offensichtlich genau gekannt. Vgl. Bianzheng lu, juan 14, CQS, 1002. 551 So betont er, dass Cheng Fuzi großen Einfluss auf die nachfolgenden Generationen gehabt habe, doch beruft sich Chen durchgängig auf Zhang Zhongjing (150–219) selbst, den er in Anlehnung an dessen Heimatort »Changsha 长沙« nennt. Vgl. Shishi milu, juan 5, CQS, 389. Diese Bezeichnung geht auf songzeitliche Überlieferungen zurück. Siehe Mitchell et al. 1999, 2. Außerdem beruft er sich auch auf Li Ziyong 李子永, womit Li Zijian 李子建 gemeint sein muss, ein weiterer Arzt aus der Songzeit, dessen Schriften von den Kälte-Verletzungskrankheiten handeln, so z. B. das Shanghan wu e zheng 傷寒无恶症 (Kälteverletzungskrankheiten sind keine [Krankheiten von] Übel [Besessenheit]), Shang han shiquan 傷寒十劝 (Zehn Gebote/Ratschläge zu den Kälteverletzungskrankheiten). Das Jinjing lu 金镜录 führt er [Shishi milu, juan 5, CQS, 389] wegen der in diesem Werk dargelegten Zungendiagnose bei fiebrigen Kältekrankheiten ins Feld. Dieses Werk ist heute nur in einer Ausgabe aus dem Jahre 1817 (in Shenyang in der Liaoning Provinz Bibliothek sowie in Wuhan, in der Hubei Yixue yiyuan Bibliothek) erhalten. Vgl. QGLM, # 10993.

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sätze zu Diagnose und Therapie der Epidemien und plädiert für jeweils situativ zu entscheidende adäquate Behandlungsmethoden. Seine Differenzierungen zeigen sich auch im folgenden Zitat, wenn er die Epidemien auf Ansteckung zurückführt und nicht auf »vom Himmel geschickte Katastrophen«. Während er sich in anderen Krankheitsfällen die oben erläuterte kombinierte Behandlungsmethode (Abführen und Ergänzen) zunutze macht, favorisiert er in diesem Fall das Abführen von Hitze-Gift  : »Auf der Welt gibt es in Städten, auf dem Lande, in Dörfern und in kleineren Marktflecken ansteckende Epidemien (chuanran wenyi  傳染瘟疫). Bei den meisten führen sie zum Tod. Ihre Symptome (zheng 症) sind  : Kopfschmerzen, Schwindelgefühl, angeschwollene Brust (Zwerchfell), aus dem Mund spuckt [der Betroffene] gelben Schleim, aus der Nase rinnt trübes Wasser  ; entweder es bilden sich am Leib rote Flecken oder es brechen schwarze Flecken aus, wie verbrannt, oder er erbricht Speichel wie rotes Blut, oder der Bauch ist [rund und] riesengroß, die Zunge ist in großem Ausmaß zerrissen, die Rippen schmerzen und das Herz tut weh. […] Die Menschen glauben, dies sei eine vom Himmel geschickte Katastrophe (tianzai 天 灾). Aber wer weiß schon, dass dies alles durch die menschlichen Umstände hervorgerufen wird  ! Zwar sind die Symptome alle seltsam und komisch. Man kann sie nicht alle als ein- und dasselbe begreifen. Aber sie [die Symptome] entstehen gänzlich aus Hitze-Gift, welches staut bzw. niederdrückt. Das Wesen des Feuers ist es, nach oben zu lodern, wird es [aber] niedergedrückt, so streckt sich das Feuer-qi nicht aus, wird es entgegen seinem Wesen niedergedrückt (fuyi 拂抑), so staut sich die [ganze Hitze] im Bauch, verschließt sich dort und so wird es heiß. Wird die Hitze eingeschlossen, so entsteht Gift, dies ist der Grund für die Entstehung [dieser Krankheit]. Dies entsteht nicht an einem einzigen Tag. Die Behandlungsmethode ist  : in großem Maße das Hitze-Gift abführen.«552

In einem anderen Fall differenziert Chen Shiduo übles Qi (xie qi 邪氣), das ansteckend ist, von der Frühlingswärme (chunwen 春溫) und diese wiederum von der Epidemie (yi 疫). Und auch wenn die Frühlingswärme als Epidemie erscheine, handele es sich doch um Frühlingswärme. Wichtig sei diese Dif552 Im Original heißt es  : 世有城市之中,鄉村鎮店之處,傳染瘟疫,多至死亡。其癥必頭痛 眩暈,胸膈膨脹,口吐黃痰,鼻流濁水,或身發紅斑,或發如焦黑,或嘔涎如紅血,或 腹大如圓箕,或舌爛頭大,或脅痛心疼,種種不一,象形而名,人以為天災流行,誰知 皆人事召之也。此癥雖奇奇怪怪,不可執一而論,然皆火熱之毒不宣,郁而成之耳。蓋 火性炎上,郁則火氣不伸,拂抑其性,蘊藏于腹中,所以大閉作熱,熱閉成毒,其由來 者,非一日也。治法自宜大瀉其火毒. Vgl. Bianzheng lu, juan 10, CQS, 939.

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ferenzierung auch deshalb, weil es gegen die Frühlingswärme-Erkrankungen Rezepturen gäbe, gegen die Epidemien aber nicht.553 Das höchst komplexe Geflecht widerstreitender Praktiken bei epidemischen Erkrankungen deuten folgende Ausführungen von Chen Shiduo an  : »Die Alten sagten  : Wenn die Epidemien kommen, hat man keine Rezepte. Damit sagten sie [aber] nicht, dass es gegen Epidemien keine Rezepte gäbe. Denn sie sagten nur, dass man, wenn die Epidemien kommen, keine Rezepte habe. Das heißt nicht unbedingt, dass es [grundsätzlich] keine Rezepte gegen Epidemien gäbe. Im Allgemeinen kommen die Epidemien vor allem, weil [chaotische] menschliche Angelegenheiten sie ›herbeirufen‹ und weil das jahreszeitlich bedingte Qi [gegen]-läufig ist. Es vermischt sich mit dem Qi des Erdbodens sowie mit dem Gift-Qi von Himmel und Erde. So entstehen die Epidemien.«554

Chen Shiduos situativ differenzierender Behandlungsansatz schließt bei Epidemien auch exorzistische Methoden ein  : »Wenn [dieses Gift-qi] in ein Dorf eindringt, dann erkranken alle Einwohner des Dorfes  ; dringt es in eine Stadt ein, dann erkranken die Stadtbewohner  ; wenn es tausend Meilen weit geht, dann erkranken alle Menschen auf [diesen tausend Meilen]  ; sie sterben alle nacheinander  ; [da helfen] keine verschlossenen Türen und keine verschlossenen Grenzen, überall [bietet sich der gleiche Anblick]. Es ist wirklich schrecklich. Diesen Arten von Krankheiten muss man mittels ›besprochenem Wasser‹ (fushui 符水) beikommen. Doch das Besprechen von Wasser (fushui) ist nicht überliefert worden. Nun begründe ich eine andere Methode  : Man nehme ein kleines Röhrchen und führe es in den Wasserbottich. Man gebe ein bisschen von Alaun555 hinein und man lasse den Menschen Tag für Tag davon zu trinken. Dann werden keine Epidemien entstehen. Dies ist wirklich eine göttliche Methode.556 553 Vgl. Waijing weiyan, juan 5, CQS, 50. 554 Im Original heißt es  : 古人云疫來無方,非言治疫之無方,乃言致疫之無方也。然亦未嘗 無方。疫來既有方,而謂治之無方可乎。大約瘟疫之來,多因人事之相召,而天時之氣 運,適相感也。故氣機相侵,而地氣又復相應,合天地之毒氣,而瘟疫成焉.Vgl. Shishi

milu, juan 5, CQS, 397. 555 Baifan白礬Alaunit, Alaunstein, Kal3(SO4)2(OH)6, ist bis heute wegen seiner blutstillenden Wirkung als Alaunstift (für die Nassrasur) im Handel. 556 Im Original heißt es  : 侵於一鄉,則一鄉之人病;釀於一城,則一城之人病;流於千里, 則千里之人病。甚且死亡相繼,闔門闔境,無不皆然,深可痛也。此等病必須符水救 之,然而符水終不浪傳於世,今別定一法,用管仲一枚,浸於水缸之內,加入白礬少許, 人逐日飲之,則瘟疫之病不生矣。真至神之法也. Vgl. Shishi milu, juan 5, CQS, 397.

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Praktiken, die das Besprechen von Wasser (fushui 符水) sowie die Verbrennung von Talisman-Papier, welches in die Arznei gemischt und mitgekocht werden soll, vorsehen, favorisiert Chen nicht nur im Rahmen von Epidemien und Vergiftungen.557 Er setzt solche daoistisch inspirierten Praktiken auch im Falle von Geisterbesessenheit und Verzauberung (zhong yao 中妖) ein.558 Religiös induzierte und medizinisch hergeleitete Handlungsweisen erscheinen somit überkreuzt miteinander »vermischt« und somit schwer voneinander zu trennen.559 Andererseits erscheint gerade das Differenzieren (bian 辨), das Trennen von als qualitativ unterschiedlich angesehenen Sachverhalten, als Merkmal einer »bescheidenen« Positionierung der Medizin, weil angesichts lebensbedrohlicher (epidemischer) Realitäten alle Therapiemöglichkeiten zur Anwendung kommen müssen. Diese »bescheidene« Positionierung im 17. Jahrhundert avanciert bei Chen Shiduo zum Fundament der explorativen Suche nach neuen Lösungswegen vermittels Differenzierung.560 Jedoch darf Chen Shiduo nicht als »Erfinder« dieses Paradigmas angesehen werden, denn auch andere Ärzte seiner Zeit forderten eindringlich die situative Differenzierung als Bestandteil von Diagnose und therapeutischen Erwägungen. Neben der Raum und Zeit differenzierenden Diagnose und situativ differenzierten Behandlungsmethoden kommen bei Chen Shiduo auch andere Differenzierungen zum Tragen. Die bereits im Huangdi neijing Suwen vorgenommene Unterscheidung der Therapierung armer und reicher Patienten sowie nach der lokalen Beschaffenheit des Bodens oder der Disposition des jeweiligen Patienten als mutig bzw. schüchtern (feige)561, hatte sein Zeitgenosse Li Zhongzi dahingehend modifiziert, dass er den Unterschied zwischen Reichen und Armen auf deren Tätigkeiten bezog  : Reiche Leute würden mehr ihren Geist (duo lao xin 多勞心), arme Leute hingegen ihre Körperkraft anstrengen (duo lao li 多勞 力).562 Die Differenzierung armer und reicher Patienten erscheint bei Chen 557 Vgl. auch Shishi milu, juan 5, CQS, 400. 558 Vgl. Bianzheng lu, juan 10, CQS, 929–932. 559 In literarischen Texten finden sich detailgenaue Beschreibungen exorzistischer und wahrsagerischer Praktiken. Siehe insbesondere Wu Jingzis (1701–1754) Rulin waishi, 7, hui 1979, 53–54, wo die Vorgehensweisen von fuji 扶乩 (Wahrsagerei aus in den Sand gezeichneten Schriftzeichen) beschrieben sind. 560 Insbesondere natürlich im Bianzheng lu, wo es im Titel vorkommt, und damit geradezu programmatisch erscheint. 561 Im Original heißt es  : 富貴貧賊 治病有別. HDNJ Suwen 23 (78)  : 486–487. 562 Vgl. Yizong bidu, juan 1, 5.

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Shiduo noch weiter entfaltet, wenn er schreibt, man könne armen Patienten keinen Ginseng verabreichen, denn sie könnten ihn sich nicht leisten. Weil arme Patienten keine gebratenen und gedämpften Speisen zu sich nähmen, sondern nur einfaches, grobes Essen, wären sie von dünner Gestalt und ihr Magen sei gesund. Ihre Sehnen und Knochen seien zwar häufig ausgezehrt, aber ihre Hautporen seien dicht. So sei es unangemessen, diese Patienten genauso wie die Reichen zu behandeln, deren Poren durchlässig (mit großen Zwischenräumen) und deren Magen und Milz vom vielen fetten und süßen Essen geschwächt seien. Den reichen Patienten könne deshalb ganz plötzlich Ungeheures passieren, wozu das Getroffenwerden von üblem Qi gehöre. Das zheng qi 正氣 (gerades qi) der Reichen müsse in den meisten Fällen zunächst einmal genährt werden. Von gleicher medizinischer Relevanz sei auch die lokale Herkunft von Patienten. Menschen aus dem Nord-Westen (xibei 西北 ) etwa unterschieden sich von Menschen aus dem Süden (nan 南) dadurch, dass erstere häufig von Natur aus (tianbing 天稟) dick seien und gerne hochdosierten Alkohol trinken würden  ;563 Menschen aus dem Norden und Menschen aus dem Süden seien nach Stärke und Schwäche zu differenzieren. Erstere seien zumeist stark und letztere schwach.564 Es seien die Luft und die Feuchtigkeit im Süden, die bestimmte Krankheiten besonders begünstigten. So seien etwa Hämorriden (zhilou 痔漏) häufig in der Jiangnan-Region anzutreffen.565 Andererseits gibt Chen Shiduo aber zu bedenken, dass man nicht in jedem Fall strikt nach der Differenzierung von Nord-Süd vorgehen könne. So müsse man durchaus davon ausgehen, dass es auch im Süden starke Menschen gäbe und im Norden schwächliche. Auch sei eine durch abweichendes Qi ausgelöste Krankheit (zhangli 瘴 癘)566 nicht zwangsläufig eine südliche Krankheit, wie im Falle des subtropischen Miasma, denn auch andere Krankheiten wie beispielsweise der PestWind (lifeng 癘風)567 seien durch abweichendes Qi bedingt. Entsprechendes gelte für die Krankheit, die gemeinhin mit Lepra (da mafeng zhi bing 大麻風 之病) identifiziert wird. Hierbei könne man sich nicht an die Nord-Süd-Differenzierung halten.568 Ähnlich differenziert und synthetisierend argumentiert Chen Shiduo in der Frage der Epidemien (wenyi 瘟疫), wenn er den 563 Vgl. Bianzheng lu, juan 2, CQS, 730. 564 Im Original heißt es  : 人有南北之分者, 分與強弱也. Shishi milu, juan 5, CQS, 393. 565 Vgl. Bianzheng lu, juan 13, CQS, 993. 566 Vgl. Shishi milu, juan 5, CQS, 385. 567 Vgl. Bianzheng lu, juan 10, CQS, 919. 568 Vgl. Bianzheng lu, juan 10, CQS, 919.

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oben genannten medizinischen und klimatischen Ursachen weitere moralische und politische Faktoren an die Seite stellt. Nicht zuletzt könne auch Gift-Qi, nämlich Leichen-Gift, das in Umlauf gekommen ist, Ursache der Krankheit sein.569 Hier verknüpft Chen Shiduo mehrere Perspektiven, indem er ein dichtes Netz an Differenzierungserfordernissen webt, in das räumliche bzw. regionale, zeitspezifische, konstitutionsbedingte schichtspezifische Aspekte eingehen. Hinzu kommen gesellschaftliche Umstände, die konventionell auf makromikrokosmische Disharmonien zurückgeführt werden. Nicht zuletzt rückt er im Zusammenhang mit den Epidemien die Ansteckungsgefahr durch Leichen-Gift570 in den Mittelpunkt. Ebenso vielfältig wie seine diagnostischen Differenzierungen fallen seine therapeutischen Ansätze aus, vom Abführen und Ergänzen bis hin zu exorzistischen Praktiken. Dieses Beharren auf äußerst feinsinnigen Unterscheidungen führt Chen Shiduo offensichtlich zu seinem »Mittelweg« zwischen widerstreitenden Perspektiven. Medizin als »Imagination« und »Intuition«  : yi 醫 ist yi 意 Wenn das Differenzieren (bian) als Programm der neuen Medizin erscheint, dann wird yi (Vorstellung, Idee, Intuition) als markante Beschreibungsmetapher dieser Medizin eingesetzt. Die Vorstellung (yi 意), die ein Arzt von einer bestimmten krisenhaften Situation, d. h. Krankheit, durch sorgfältige Prüfung unter Einbeziehung aller als wichtig erachteten Variablen erlangt, bestimmt seine Handlungsstrategien zur Behebung der Krise. Yi 意erscheint als etwas hinter den Dingen Verborgenes,571 das den diagnostischen Blick führt und die therapeutische Strategie bestimmt  : »Der Himmlische Meister sagt  : ›yi 醫 ist yi 意‹ [Medizin ist Vorstellung/Idee]. [Wenn] man der Vorstellung des Kranken (bingren zhi yi 病人之意) folgt und [diese] einsetzt, so ist dies eine Methode. Wenn man der Idee der Krankheit (bingzheng 569 Im Original heißt es  : 瘟疫之癥,其來無方。然而召之亦有其故。或人事之錯亂,或天 時之乖違,或尸氣之纏染,或毒氣之變蒸,皆能成瘟疫之癥也。癥既不同,治難畫一。 然而瘟疫之人,大多火熱之氣蘊蓄於房戶. 多因人事之相召,而天時之氣運,適相感也.

Vgl. Shishi milu, juan 5, CQS, 397. 570 Vgl. Shishi milu, juan 5, CQS, 385. 571 Man beachte die Nähe zum neokonfuzianisch bestimmten Begriff li 理  : die den Dingen zugrunde liegenden Prinzipien, die es mittels gewu (Untersuchung der Wesen und Dinge) herauszufinden gilt.

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zhi yi 病症之意) folgt und diese [in der Therapie] einsetzt, so ist dies [eine andere] Methode. Wenn man der Idee der Arzneimittel [deren Eigenschaften] (yaowei zhi yi 藥味之意) folgt und diese benutzt, so ist dies [wieder eine andere] Methode. Was bedeutet es, der Vorstellung des Patienten geduldig zu folgen und diese zu nutzen  ? Wenn der Patient es [etwa] liebt, kalte Speisen zu essen, dann sollen kalte Speisen [Arzneimittel] verabreicht werden. Wenn der Kranke heiße Speisen liebt, so sollen heiße Arzneimittel verabreicht werden. [Wenn] man der Natur des Patienten folgt und zusätzlich seiner Natur gemäße Rezepturen anwendet, dann handelt man dem nicht zuwider, und so erreicht man großen Nutzen. Falls man der Natur des Patienten zuwider handelt, so hört er nicht unbedingt auf meine Worte und er wird auch nicht meine Arznei einnehmen wollen. Dies ist der Grund, weshalb die Alten [zunächst] gefragt haben, ob der Kranke imstande ist, Libellen und Schmetterlinge zu essen. Und falls dies der Fall war, haben sie sich hiernach dieser [therapeutischen] Vorstellung/Idee entsprechend ausgerichtet. Was bedeutet es, sich nach der Krankheitsmuster-Vorstellung zu richten und diese zu nutzen  ? Wenn jemand eine Täuschung in seinem Busen hegt, so muss man seine Zweifel auflösen. Wenn jemand im Hof nebenan Geister sieht, so muss man seine Verwirrungen (huo 惑) zerstören. Was bedeutet es, sich nach der Vorstellung der Jahreszeiten zu richten und diese zu nutzen  ? Wenn zum Frühjahr Kälte herrscht, entstehen Seuchen, dann muss man als erstes sie [die Kälte im Leibesinneren] zerstreuen. Wenn im Sommer Epidemien entstehen, dann ist es richtig, unmittelbar kühlende Arzneimittel zu verabreichen. Was bedeutet es, sich nach der Idee der Arzneimittel zu richten und diese einzusetzen  ? Man kann sich entweder nach der Gestalt (xiangxing 象形)572 [der Arzneimittel] richten und [das Rezept] entsprechend zusammenstellen  ; oder man kann sich [bei der Erstellung des Rezeptes] nach dem gemeinsamen Qi [der Arzneibestandteile] richten und sie [als] gegenseitige Helfer einsetzen  ; oder man kann sie nach ihrer Gegensätzlichkeit [auswählen] und Wirksamkeit erzielen  ; man kann sie entsprechend ihrer gegenseitigen Inkompatibilität auswählen und Wirkung erzielen. Jedes hat sein wunderbares Prinzip. Wie kann man da leichtfertig verabreichen  ? Diese Therapie nach der Idee/Vorstellung ist höchst wirksam. Man überlege gut beim Zusammenstellen der Rezepturen.«573 572 Wörtlich  : gongshe 弓蛇 [den Schatten] eines Bogens für eine Schlange halten. Vgl. Ciyuan, 0652,1. 573 Im Original heißt es  : 醫者,意也。因病人之意而用之,一法也;因病症之意而用之,又 一法也;因藥味之意而用之,又一法也。因病人之意耐用之奈何?如病人喜食寒、即以 寒物投之,病人喜食熱,即以熱物投之也。隨病人之性,而加以順性之方則不違而得大 益。倘一違其性,未必听信吾言,而肯服吾藥也。所以古人有問可食蜻蜒、胡蝶否?而

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Die hier explizierte Behandlungsmethode nach der Vorstellung/Idee (yizhifa 意 之法) bestätigt einmal mehr die Notwendigkeit des mannigfaltigen Differenzierens (bian 辨) – sei es, dass der Arzt sich der Vorstellungen (yi 意) des Patienten von seiner Krankheit »bedient«, sei es, dass er seiner eigenen Vorstellung (yi 意) folgt, dass er sich von den Wirkprinzipien (yi 意) der Arzneimittel lenken lässt, dass er die jahreszeitlichen Besonderheiten (yi 意) berücksichtigt. Wenn die therapeutische Stoßrichtung (yi 意) durch die Vorlieben des Patien­ten, durch die Wetterverhältnisse oder auch durch die Beschaffenheit der Arzneien und deren Kompatibilität bzw. Resonanzen mit dem Krankheitsgeschehen bzw. mit dem Patienten574 bestimmt wird, dann sind diagnostischer Blick und Handlungsstrategie des Arztes durch eine außerordentliche Komplexität konstituiert. Dazu bedarf es über die Differenzierung (bian 辨) hinaus der Imagination bzw. der Intuition. Auch diese Bedeutung ist im Begriff yi 意enthalten – nicht zuletzt als impliziter Verweis auf eine jahrtausendealte Denkfigur, die darauf besteht, dass ihre Grundaussage eigentlich nicht in Wort und Schrift wiedergegeben werden kann. Bereits der kaiserliche Hofarzt Guo Yu 郭玉 (fl. 89–105) sprach von der Unmöglichkeit, das, was die Medizin tut bzw. worin sie besteht, in Worte zu 即對曰可食者,正順其意耳。因病症之意而用之奈何?如人見弓蛇之類于怀內,必解其 疑:見鬼祟于庭邊,必破其惑是也。因時令之意而用之奈何?時當春寒而生疫病,解散 為先;時當夏令而生瘟症,陰涼為急之類是也,因藥味之意而用之又奈何?或象形而相 制,或同气而相求,或相反而成功,或相畏而作使,各有妙理,豈曰輕投。此意治之入 神,人當精思而制方也. Vgl. Shishi milu, juan 5, CQS, 387. 574 So benutzt Chen yi意, um die während seiner Zeit kontrovers geführten Diskussionen um »Ergänzen« (bu 補) und »Abführen« (xie 瀉) als hauptsächliche Behandlungsmethoden bei

Hitzeerkrankungen durchaus in Ambivalenz zu entscheiden. Er ergänzt bei Epidemien – obgleich in althergebrachter Weise abgeführt wird – denn die Stoßrichtung (yi 意) sei schließlich die gleiche wie bei den konventionellen Methoden  : »Ich höre überdies, dass die Lehren des Wahren Zhang [Zhongjing] seit jeher keinerlei Rezepturen gegen Epidemien (wenyi 瘟 疫) vorgesehen haben. Aber man kann Rezepturen abändern […]. […] Diese Rezeptur ist ein wenig anders als der Absud zur Zerstreuung der Epidemien (san wentang 散瘟湯). Aber obgleich sie in der Hauptsache das Feuer zerstreut, ist ihre ›therapeutische Ausrichtung‹ (yi 意) geradewegs gleich. Bei der Behandlung von Epidemieerkrankungen kann man nicht an Konventionen festhalten (瘟疫治法,不可拘执,又志此方于后,以便治疫者之采择也).« Vgl. Bianzheng lu, juan 10, CQS, 940. Ähnlich argumentiert er in einem anderen Falle  : »Dieses Rezept harmonisiert gleichermaßen die Leber, Nieren, Milz, Magen und Lungen [bzw.] die Leitbahnen all dieser fünf Organsysteme. Seine therapeutische Stoßrichtung (yi) aber fokussiert im speziellen auf die Leber und Nieren. Ist [nämlich] die Leber in Harmonie, dann läuft das Qi nicht zuwider, und sind die Nieren »blühend« (in Fülle), dann wird das Blut leicht gedeihen (sheng 生). Vgl. Bianzheng lu, juan 11, CQS, 959.

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fassen, denn sie müsse mit den feinsten Nuancen im Qi-Fluss hantieren. Er war es auch, der Medizin (yi 醫) als yi 意 definierte.575 Von den schreibkundigen Ärzten, die in weiterer Folge diese Definition der Medizin bemühten,576 sei Zhu Zhenheng (1281–1358) genannt. Dieser benutzte sie argumentativ, um die flexible Anpassungsfähigkeit im Umgang mit aktuellen Krankheitsvorkommen einzufordern und seine Skepsis gegenüber überlieferten Rezepturen im Falle von neuen Krankheitssituationen auszudrücken.577 Bei Chen Shiduo fungiert yi 意 ebenfalls als fundamentale Kategorie, sei es zur Definition der Heilkunde an und für sich, sei es hinsichtlich der Herleitung der legitimatorischen Fundamente für die Neue Medizin als gelehrtes Fach bzw. als Teil der Hohen Kultur. Er benutzt yi als theoretische Fundie­ rung, die der Neuorientierung Legitimation verschafft. So verlangten die lebensbedrohlichen Epidemien im Süden geradezu nach einer Relativierung althergebrachter Ansätze und Rezepturen. Die Notwendigkeit einer explorativen Ausrichtung im medizinischen Feld ist somit räumlich an den Süden Chinas gebunden. Die politischen Implikationen dieser Konnotation liegen auf der Hand  : Im Süden des Reiches lebten und wirkten die wortmächtigsten Gelehrten, die sich für eine Rückkehr zu einem »reinen und ursprünglichen« Konfuzianismus starkmachten,578 um den Niedergang des Reiches aufzuhalten bzw. die alte Ordnung wiederherzustellen. Die »ursprüngliche« Form des Konfuzianismus war freilich ohne die Replik auf die »ursprüngliche« Bedeutung (yi 意) der Schriften nicht freizulegen. So lässt sich der schillernde Begriff yi 意 zwei Polen gleichzeitig zuordnen  : Zum einen verweist er auf die Differenzierung (bian 辨) zugrunde liegender »Ideen, Vorstellungen, Wirkmechanismen« (yi 意), die an das neokonfuzianisch bestimmte Prinzip (li 理) erinnern. Zum anderen verweist yi 意 als Intuition auf die Hauptbotschaft der Herz-Schule (xinxue 心學), die sich in der Mingzeit 575 Vgl. Houhan shu, 82, 2735. Siehe hierzu auch DeWoskin 1983, 75–76. 576 Liao Yuqun 1999, 24–26, führt eine Reihe weiterer Belege aus den folgenden Jahrhunderten für diese Sicht an. 577 Vgl. Jufang fahui, Danxi jicheng, 47. 578 Allen voran die Mitglieder der in Wuxi 無錫 (nordwestlich von Suzhou in der Provinz Jiangsu gelegen) im Jahre 1604 gegründeten Donglin 東林書院-Akademie, die durch ihre Forderungen nach Reform, begründet auf ihrer strengen Auslegung von ursprünglich konfuzianischen Werten, hervortraten. Diese Rückkehr zu den Wesensheiten des »ursprünglichen Konfuzianismus« ist nicht ganz zu trennen von der von späteren Gelehrten formulierten Forderung nach praktischem Wissen. Zur Donglin-Bewegung siehe Hucker 1973, 132–162  ; Busch 1949/55, 1–163.

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(seit dem 15. Jahrhundert) als Gegenbewegung gegen die Lehre von den sittlichen Prinzipien (lixue 理學) herausgebildet hat. Im Spannungsverhältnis dieser beiden Pole spielen sich sämtliche Denkbewegungen zu Chen Shiduos Zeit ab. Nicht von ungefähr kommt es, dass der Begriff yi 意 im 17. Jahrhundert in der Bedeutung der »Auslegung« der Vier Bücher (sishu 四書) und Fünf Klassiker (wujing 五經) erscheint, die seit der Kanonisierung durch die songzeitlichen Gelehrten (11. Jh.) als Wissens- und Moraltexte in den Beamtenprüfungen von jedem Kandidaten abverlangt wurden. Diese Auslegungen tragen das Wort yi意 häufig sogar im Titel  : So heißen sie zum Beispiel »Neue Bedeutung der Vier Bücher« (Sishu xin yi 四書新意) oder »Schatzhaus der Bedeutungen der Vier Bücher« (Sishu zhuyi baocang 四書主意寶藏).579 Hierbei handelt es sich um Handbücher, die als Hilfestellung bei der Examensvorbereitung dienten. Die Referenzen in diesen Werken sind weniger philologischer oder historischer als enzyklopädischer Natur  : Sie sollten neue Wege aufzeigen, wie man diese Texte am besten lesen und memorieren kann.580 Das heißt, es handelt sich hierbei um die Suche nach der leitenden Idee bzw. Vorstellung (yi), die ein Unterfangen – in diesem Fall das Memorieren von Texten für die Beamten-Prüfungen – leiten soll, um eine bestmögliche Wirkung zu erzielen. Die Medizin, die sich zu dieser Zeit von einer Tätigkeit minderen Ansehens zu einem integralen Bestandteil konkreten Lernens (shixue 實學) wandelt, benötigt eine Sprache, die verstanden wird, damit ihr Anschluss an das »gelehrte Wissen« vollständig werden kann. So ist es einmal mehr die konkrete Praxis, sind es die realen Erfordernisse, die ideelle Barrieren sprengen wollen  : Die Medizin will wirksame Mittel in realer Not, die sich immer wieder wandelt, bereitstellen. Die äußerst heikle Angelegenheit des Heilens verlangt bei allem Wandel nach einer diese Praxis »leitenden« Vorstellung  : das ist yi 意. Yi 意 lenkt die Ausrichtung der Therapie. Aber yi 意 ist auch die Vorstellung bzw. das Bild einer spezifischen Krankheitssituation, die es zu erfassen gilt, um die Therapie danach auszurichten. Damit ist yi gleichzeitig eine äußerst flexibel zu handhabende Strategie, zumal sie auf die Intuitions- bzw. Wahrnehmungsfähigkeit der medizinischen Praxis und damit auf die Autorität des Arztes verweist. Seine Sensibilität für die feinsten, kaum sicht- und hörbaren Prozesse in seinem Gegenüber, dem Patienten, die schwer in Worte zu fassen sind, äußert sich wesentlich in einer »Einfühlung« in die (Qi)-Geschehnisse des Anderen. 579 Siehe hierzu Kai-wing Chow 1996, 136–139. 580 Ibidem, 138.

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Es ist auch ein Verhältnis der Kommunikation zwischen zwei Parteien, dem Arzt und dem Patienten (bzw. auch seinen Angehörigen). Dieser Akt der Kommunikation besteht nicht nur aus Verbalisierungen, sondern nicht zuletzt aus gespürten Informationen sowie auch der Imagination des gesundenden Patienten selbst. Yi 意 wird zur Basis der Kommunikation zwischen Arzt und Patienten, weil yi 意 das Erfassen von Information lenkt und auch die therapeutische Ausrichtung bestimmt. Kartographische Neuerungen und die Konkretisierung der Mitte Neben Diskussionen fundamentaler Kategorien wie yi 意und bian 辨 zur Definition der Medizin und zur Herleitung der legitimatorischen Basis der Medizin als gelehrtes Fach und als Teil der Hohen Kultur finden sich bei Chen Shiduo nicht weniger spektakuläre Erörterungen hinsichtlich der Anatomie  : Es handelt sich hierbei um Neuerungen, die weder auf historische Wurzeln zurückgreifen noch Nachfolger in späteren Zeiten gefunden haben. Die Herzhülle galt im Allgemeinen als sechstes Yin-Organ (bzw. Zang-Organ oder Speicherorgan), und zwar immer dann, wenn der Fokus auf der Yin-­YangSymmetrie danach verlangte, den sechs Yang-Organen (bzw. Fu-Organen bzw. Palastorganen) – Dünndarm, Blase, Dickdarm, Gallenblase, Dreifacher Erwärmer, Magen – anstelle der üblichen (Fünfer-)Zählung (Leber, Herz, Lunge, Milz und Niere) ein sechstes Yin-Organ gegenüberzustellen. Als sechstes Yin-Organ wurde dann die Herzhülle dem Dreifachen Erwärmer (als sechstes Yang-Organ) gegenübergestellt. Wir werden im fünften Kapitel sehen, dass Chen Shiduo durchaus die konventionell übliche Identifizierung des tanzhong膻中mit der Herzhülle in seinen eigenen Explikationen bemüht. Weil er jedoch vorwiegend auf der Basis des Fünf-Wandlungsphasen-Paradigmas diagnostiziert und therapiert, stellt sich ihm das genannte Symmetrie-Problem kaum. Dennoch befasst sich Chen Shiduo eingehend mit dem Thema der Organ-­ Zählung  : »Das, was die Menschen [von der Anatomie] wissen, sind Fünf Zang [Yin bzw. Speicher-Organe] und sechs Fu [Yang bzw. Palast-Organe]. Aber die Fünf Zang [Organe] hören nicht bei der Zahl fünf auf, genauso wenig hören die Sechs Fu [Organe] bei der Zahl sechs auf. Außerhalb dieser Fünf Zang (Herz, Leber, Milz, Lunge, Nieren) gibt es noch die Herzhülle, auch sie zählt zu den Zang.«581 581 Im Original heißt es  : 五臟六腑,人所知也。然而,五臟不止五,六腑不止六,人未之

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Diese Zeilen leiten die umfangreichen Ausführungen zu den Zang-Fu [Organen] im Shishi milu ein, dem Werk, das von all seinen Schriften am deutlichsten als Handbuch zum schnellen Nachschlagen konzipiert war. Hier präsentiert er eine neue Zählung der Organe. Doch ging es ihm nicht allein um eine neue Ausformung von Symmetrie, seine Sorge galt offensichtlich der konkreten Kartographie des Kreislaufes zwischen Herz und Niere. »Obgleich die Gebärmutter der Frau zugehört, ist es dennoch nicht so, dass der Mann keinen Kanal (mai 脈  : häufig in der Bedeutung von Puls, hier aber im Sinne von Ader bzw. Kanal) der Gebärmutter besitze. Sein Kanal geht nach oben zum Herzen und verbindet sich nach unten mit den Nieren. Dieser Kanal geht also von oben nach unten, und er ist die Verbindung zwischen Herz und Nieren. Wenn die Menschen nicht über einen solchen Kanal verfügten, wie könnten sich da Wasser [der Nieren] und Feuer [des Herzens] gegenseitig helfen. Ist der untere Bereich [im Menschen – im Rumpf ] krank, so ist das Jadetor (Vagina) nicht geschlossen  ; ist der obere Bereich [im Menschen – im Rumpf ] krank, so herrscht heftiges Herzklopfen und Unruhe. Falls eine Frau im oberen Bereich krank ist, ist dies nicht dasselbe wie beim Mann. Ist sie im unteren Bereich krank, so [bedeutet dies], dass sie nicht schwanger werden kann. [Der besagte Kanal zwischen Herz und Nieren bedeutet] die Funktion, Leben hervorzubringen, er gehört [somit] zu Yin, aber er befindet sich im Yang. So handelt es sich hierbei wahrlich um ein weiteres Zang [Yin-Organ].«582

Die Diskussionen im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert um das neue Zentrum im menschlichen Leib, als welches nun der mingmen (Lebenstor), zwischen den Nieren gelegen, das Herz im oberen Bereich des Rumpfes ablösen sollte, sind weder frei von politischen Bezügen noch von dem Bestreben, den menschlichen Leib (wieder) in stärkerer kosmologischer Einbindung zu begreifen. Die hier dargelegten Argumente für den Kanal zwischen Herz und Nieren erscheinen aus der Perspektive der »Hierogamie der Attribute«, der Hochzeit des Wassers mit dem Feuer im Menschen, als notwendig und richtig583  : Dass sich 知也。心肝脾肺腎,此五臟也。五臟之外,胞胎亦為臟. Vgl. Shishi milu, juan 5, CQS, 390–391. 582 Im Original heißt es  : 雖胞胎系婦人所有,然男子未嘗無胞胎之脈。其脈上系於心,下連 於  ;腎,此脈乃通上通下,為心腎接續之關。人無此脈,則水火不能相濟,下病則玉門 不關,上病則怔忡不寧矣。若婦人上病,與男子同,下病則不能受妊。是生生之機屬陰, 而藏於陽,實另為一臟也. Vgl. Shishi milu, juan 5, CQS, 390–391.

583 Der Fokus auf diese Verbindung zwischen Niere und Herz findet sich bei Li Zhongzi [1637], 1997, 7, ausgeführt. Zum Terminus »Hierogamie der Attribute« siehe Eliade 1984, 128.

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das Yang im Yin bzw. das Feuer im Wasser bzw. das Kanzler-Feuer in den Nieren (bzw. im mingmen) fand und umgekehrt das Yin im Yang bzw. das Wasser im Feuer, gehörte in der Inneren Alchemie (neidan 內丹) zu einer Art Grundwissen. Die Hierogamie konnte sich der Arzt zunutze machen, insbesondere dann, wenn es um Leben und Tod ging. Denn wenn – wie Chen Shiduo immer wieder betont – in jedem Leben bzw. Hervorbringen (sheng 生) auch das Gegenprinzip, der Tod, d. h. die Überwindung (ke 克) stecke, und umgekehrt in jedem Tod bzw. Überwinden auch ein Fünkchen Leben (sheng生) – so wie im Yin (Tod) gleichermaßen das Leben (Yang) enthalten war – , dann bedeutete dies für den Arzt, im Falle tödlicher Prozesse das Prinzip der Umdrehung (dao 倒) zu nutzen. Mit anderen Worten, es gelte mit seinen Praktiken da anzusetzen, wo sich im Tod das Leben befinde und dieses Fünkchen Leben zu stärken, um damit einhergehend den übermächtigen Todesprozess zu schwächen. Diese oben dargelegte Bedeutung der Hierogamie der Attribute in der medizinischen Theorie und Praxis des Chen Shiduo soll nun um einen konkreten Baustein erweitert werden. Chen liefert nämlich zu dieser Vorstellung des Austausches zwischen Herz (Feuer) und Niere (Wasser) das Wissen um ein Gefäß, in dem der Austausch vonstatten gehen sollte. Das Gefäß hat die Form eines Kanals, der von oben (dem Herzen) nach unten (der Niere) führt und diese beiden Zang [Yin-Organe] somit ganz konkret miteinander verbindet. Diesen Kanal identifiziert er zugleich als die Gebärmutter (baotai 胞胎). Deshalb ist in den folgenden Passagen einmal die Rede von mai 脈 (Kanal) und ein andermal von baotai (Gebärmutter)  : »[Wenn der tanzhong, der Kanal zwischen Herz und Nieren] ein Zang-Organ ist, warum wird er dann nicht [in die Reihe] der Fünf-Zang [Yin-Organe] eingereiht  ? [Die Antwort lautet]  : Weil die Fünf Zang [Organe] nach den Fünf-Wandlungsphasen unterschieden werden.«584 »Und weil die Gebärmutter [der Kanal] zu Feuer und Wasser, diesen beiden [unterschiedlichen] Stoffen [gleichzeitig] gehört, ist es sehr schwierig, sie [nämlich die Gebärmutter] zuzuordnen. Deshalb blieb man bei den Fünf Zang [Yin-Organen] und sprach nicht von Sechs Zang [Yin-Organen]. Es mag einer [die Richtigkeit meiner Sicht] in Frage stellen und sich fragen, warum, wenn die Gebärmutter ein Zang [Yin-Organ] ist, diese dann nicht in die Reihe der Zünf-Zang-Organe ein584 Im Original heißt es  : 然既為一臟, 何以不列入五臟之中  ? 因五臟分五行. Vgl. Shishi milu, juan 5, CQS, 390–391.

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gereiht wurde und warum die Heilkundigen der alten Zeit nicht die Gebärmutter behandelten. Es gab [damals] schließlich [in diesem Organ] keine Krankheiten  ; so war die Gebärmutter [für die Alten] ein gänzlich unwichtiger Kanal. Deshalb hat man [sie, die Gebärmutter] nicht mit den Fünf-Zang-Organen in Verbindung gebracht. Und sie erkannten [somit] ihren Fehler gar nicht erst. [Die Tatsache], dass sie die Gebärmutter nicht in die Reihe der Fünf Zang [Yin-Organe] aufgenommen haben, mag auch damit zusammenhängen, dass sie den beiden [unterschiedlichen] »Stoffen« zugehört [nämlich Wasser und Feuer].«585 »Wenn sich eine Krankheit im oberen Bereich fand, dann behandelte man dementsprechend das Herz, und das Herz-Qi ist von selbst durch die Gebärmutter [den Kanal] nach oben gestiegen. Wenn sich eine Krankheit im unteren Bereich fand, dann behandelte man die Niere, und das Nieren-Qi ist von selbst durch die Gebärmutter nach unten gestiegen. Deshalb musste man nicht eigens ein Zang [Yin-Organ] auflisten.«586

Hier nun beginnen die Argumente, die die Hierogamie der Attribute im Menschen ganz konkret werden lassen, namentlich in der Vereinigung von Mann und Frau und der daraus hervorgehenden »Zeugungsfrucht«  : »Aber es stimmt ja nun nicht, dass die Gebärmutter kein Zang-Yin-Organ ist, denn dann könnte einer die Frage stellen, warum die Frau eine Gebärmutter hat, um schwanger zu werden. Nimmt man die Gebärmutter als Zang [Yin-Organ], so ist das gewiss stimmig, aber vom Mann kann man dann sagen, dass er eine Gebärmutter hat. Aber wer glaubt das schon  ! Die Leute wissen nicht, dass Männer eine Gebärmutter haben und reden von den Netzbahnen der Gefäße (mai 脈) und [sie wissen nicht] von der Existenz [der Gebärmutter]. Sie führt zwischen Herz und Zwerchfell nach unten und zwischen die beiden Nieren. Bei Frauen verhält es sich nicht anders. Nur dass sie bei den Frauen unten weit und oben eng ist. Bei Männern ist sie von unten nach oben gleichermaßen eng. Bei Frauen hat sie unten eine Öffnung, bei Männern gibt es unten keine Öffnung. [Allein] darin liegen die Unterschiede. Dieser Kanal [ist die Grundlage für] Mann und Frau im Schlafzimmer-Verkehr. […]«587 585 Im Original heißt es  : 而胞胎居水火之兩歧. 不便分配, 所以止言五臟而不言六臟也. 或 疑胞胎既是一臟, 不列入五臟之中, 何以千古治病者, 不治胞胎, 竟得無恙, 是胞胎 亦可有可無之脈, 其非五臟之可比, 而不知非也. 蓋胞胎不列入五臟,亦因其兩歧. Vgl.

Shishi milu, juan 5, CQS, 390–391. 586 Im Original heißt es  : 故病在上則治心,而心氣自通於胞胎之上;病在下則治腎,而腎氣 自通於胞胎之下。故不必更列為一臟. Vgl. Shishi milu, juan 5, CQS, 390–391. 587 Im Original heißt es  : 而非胞胎之不為臟也,或又疑女子有胞胎以懷妊,以胞胎為一臟

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Im Folgenden geht es um die Grundlegung des tanzhong, der – konventionell als Herzhülle interpretiert – immer als das sechste Zang [YinOrgan] gegolten hatte, wenn dies für eine symmetrische Zählung notwendig erschien. Der tanzhong ist auch bei Chen Shiduo mit der Herzhülle gleichgesetzt. Dennoch gibt er dem tanzhong (und damit der Herzhülle) eine andere Bedeutung, nämlich als siebtes Fu-Yang-Organ – eine Konstruktion, die es bis dahin nicht gab  : »Neben den Sechs Fu[-Yang-Organen  : Dünndarm, Dickdarm, Harnblase, Gallenblase, Magen sowie Dreifacher Erwärmer] gibt es außerdem noch den tanzhong, er ist auch ein Fu[-Yang-Organ]. Der tanzhong ist die Herzhülle. Er offenbart die Befehle des Herrscher-Feuers. Eigentlich verhalten sich tanzhong und Herz zueinander wie ein Zang[-Yin-Organ] und ein Fu[-Yang-Organ]. Sie sind sich gegenseitig Innen und Außen. Nun nennt man immer nur das Herz und meint damit auch den tanzhong. Gäbe es den tanzhong nicht, könnten wir auch nicht von ihm als Fu[-YangOrgan] sprechen. Man respektiert das Herz als Herrscher-Feuer, und [dabei] kommt man nicht umhin, den tanzhong als Kanzler-Feuer zu unterdrücken. Wenn man nun sagt, dass die Alten den tanzhong nicht behandelt hätten, [so fragt man sich], wie es kam, dass sie, wenn sie das Herz behandelten, gleichermaßen für beide [für das Herz und den tanzhong] Wirkungen erzielten. Sie wussten nicht, dass sich Herz und tanzhong zueinander wie Innen und Außen verhalten und dass, wenn es außen eine Krankheit gibt, das Innen ebenfalls krank ist. Deshalb behandelten sie das Innen, und das Außen heilte [wie] von selbst. Außerdem ist der tanzhong die Mutter von Milz und Magen. Es ist [ja] nicht so, dass das Feuer nicht die Erde hervorbringt und das Herz-Feuer [dabei] nicht bewegt wird. Es muss das Hin und Her[-Wandern] des Kanzler-Feuers stattfinden, um [die Erde] hervorzubringen, [damit in weiterer Folge] das Magen-Qi [in den Magen] hereinkommen und das Milz-Qi hinausgehen kann [um die Umwandlungsprozesse von Qi und Blut zu regeln]. Der tanzhong ist also die Mutter von Milz und Magen. Das soll ausreichen, um ihm die Position eines Fu[-Organs] zuzuerkennen. Reicht das etwa nicht aus, um ihm die Position eines Fu[-Yang-Organ] zuzuteilen  ? […] Der Wahre Edle Zhang [Zhongjing] sagt  : Sechs Zang und Sieben Fu, heute nun beginne ich dies zu verstehen. Es ist dies wahrlich eine erfreuliche Angelegenheit.«588 固宜,而男子亦曰有胞胎,其誰信之。不知男子之有胞胎,論脈之經絡,而非胞之有 無也。於心之膜膈間,有一系下連於兩腎之間,與婦人無異,惟婦人下大而上細,男子 上下俱細耳,婦人下有口,而男子下無口為別。此脈男女入房. Vgl. Shishi milu, juan 5,

CQS, 391. 588 Im Original heißt es  : 六腑外,更有膻中,亦一腑也。膻中,即心包絡,代君火司令者 也。膻中與心,原為一臟一腑。兩相表裡,今獨稱心而遺膻中,非膻中不可為腑。尊心

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Indem die Herzhülle hier als siebtes Fu[-Yang-Organ] figuriert, erhält sie zwar eine, auf den ersten Blick betrachtet, vergleichsweise marginale Position. Doch dieser Eindruck täuscht. Die Herzhülle wird hier mit dem Kanzler-Feuer korrelativ gesetzt. Und  : Chen Shiduo nimmt deutlich Stellung  : Nur weil man das Herrscher-Feuer respektiert, muss man nicht gleichzeitig – was eigentlich immer damit einhergehe – das Kanzler-Feuer herabsetzen. Wir haben bereits mehrfach festgestellt, dass das Kanzler-Feuer (xianghuo 相 火) als Wahres Feuer – namentlich im Rahmen des Diskurses der Mitte – beständig im menschlichen Leib wandert und niemals stillsteht. Bei Xue Ji薛己 (1487–1559) und bei Zhao Xianke 趙縣可 (fl. 1617  ?)589 ist das Kanzler-Feuer eindeutig dem Lebenstor (mingmen 命門) zwischen den Nieren zugeordnet. Als solches finden wir es auch in Chens Texten. Doch in der eben zitierten Stelle ist das Kanzler-Feuer der Herzhülle zugeordnet. Dieser Zusammenhang wird in heutigen westlichen Akupunkturlehrbüchern als verbindliches Grundlagenwissen angeführt.590 An anderer Stelle, an der er den tanzhong ebenfalls mit der Herzhülle gleichsetzt, argumentiert Chen nicht in diese Richtung.591 Auch hier spielt Chen auf mehreren Registern, ohne dass sich die verschiedenen »Wahrheiten« aneinander stoßen. Um die kartographischen Neuerungen abzuschließen, ist noch einmal – im Rahmen der »Wasser-Feuer-Relation« – die Niere in den Blick zu nehmen, weil sich hier ein weiteres Mal die kosmische Verquickung des Menschen zeigt. So lesen wir bei Chen Shiduo an einigen Stellen vom Drachen-Donner-Feuer, das in der Niere angesiedelt sei  : »Die Leute wissen nicht, dass das Nieren-Feuer das Feuer des Drachen-Donners ist. Das Donner-Feuer kommt aus der Erde und dringt in den Himmel ein. Das Nieren-Feuer kommt auch von unten und steigt nach oben, es dringt in die beiden Seiten des Rumpfes ein.« 592

為君火,不得不抑膻中為相火也。或曰千古不治膻中,何以治心而皆效。不知心與膻 中為表裡,表病則里亦病,故治里而表自愈,況膻中為脾胃之母,土非火不生,心火不 動。必得相火之往來以生之,而後胃氣能入,脾氣能出也。膻中既為脾胃母,謂不足 當一腑之位乎。此膻中之為一腑,人當留意。張真君曰:六臟七腑,今日始明,真一快 事。Vgl. Shishi milu, juan 5, CQS, 390–391.

589 Siehe hierzu Kap. IV in vorliegender Arbeit. 590 Siehe hierzu Maciocia 1994, 109–110. 591 Vgl. Shishi milu, juan 4, CQS, 366. 592 Im Original heißt es  : 不知腎火龍雷之火也。雷火由地而沖於天,腎火亦由下而升於上, 入於脅則脅脹. Vgl. Bianzheng lu, juan 6, CQS, 823.

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Chen hantiert an verschiedenen Stellen explizit aus beiden Perspektiven auf die Mitte  : Einmal mit dem Qi der jeweiligen Yin-Organe und ein andermal mit dem »Wahren« Wasser und dem »Wahren« Feuer (als Drachen-Donner-­ Feuer 龍雷之火593 oder auch als Kanzler-Feuer bezeichnet). An anderen Stellen spricht er übereinstimmend vom mingmen-Feuer, das niemals zu verwechseln sei mit dem Qi der Fünf-Zang-Organe.594 Die Aura der Hohen Kultur des Heilens Der Terminus »Hohe Kultur« verweist auf die Abgrenzung von allem, was außerhalb bzw. unterhalb dieser Sphäre liegt, namentlich von allen Praktiken und Verhaltensweisen, die schädlich für das Renommé der Medizin erscheinen. Kultur im Sinne von »Hoher Kultur« meint auch den Gegensatz zum Trivialen, zur Volkskultur und verweist auf eine stratifikatorische Differenzierung des Sozialen hinsichtlich des Umgangs mit Kunst und Handwerk. Davon war hier schon die Rede. Über diese Distinktionsrhetoriken hinaus bedienen sich Ärzte wie Chen Shiduo der integrativen Anbindung der Medizin an die Kosmologie, veranschaulicht im Diagramm der Mitte, um die Medizin als Teil der Hohen Kultur zu legitimieren. Im Folgenden geht es um zwei weitere Prozesse zur Erhöhung der Medizin im Sinne einer »Auratisierung«  : Zum einen zielte die unbedingte Anstrengung nach dem Vorbild von Eremiten auf eine ethisch fundierte Vervollkommnungslehre im Sinne eines lebenslangen Lernens. Zum anderen ist die Medizin per se eine Strategie zur Bewältigung sozialer Dramen, die sich auf der leiblichen Ebene zeigen, und umgekehrt zur Bewältigung leiblicher Dramen, die gleichermaßen soziale Dramen sind. Dahinter steckt ein neu entstandenes Vertrauen in die Erziehbarkeit der Menschen. Die unbedingte Anstrengung  : Ethische Bezüge In diesem Abschnitt fokussieren wir die ethischen Grundlagen der Neuen Medizin  : Welche Rolle spielt die Analogie zwischen Arzt und Minister, die dem Arzt im Hinblick auf das mikrokosmische Geschehen (im menschlichen Leib) die gleiche Rolle zuweist wie dem Minister, der dem Herrscher bei der Ordnung des Reiches (Makrokosmos) zur Seite steht  ? Warum stellt jetzt – im Gegensatz zu ähnlich gelagerten Anstrengungen in der Yuan-Zeit (1279– 593 So auch im Shishi milu, juan 1, CQS, 280–282. 594 So beispielsweise in Bianzheng lu, juan 10, CQS, 940.

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1368)595 – nicht mehr der Gelehrten-Arzt (ruyi 儒醫) den höchsten anzustrebenden Status im medizinischen Feld dar, sondern der »Gute Arzt« (liangyi 良 醫)  ? Inwieweit sind die Praktiken der Lebenspflege-Tradition grundlegend für die ethischen Maßstäbe der Neuen Medizin  ? Die Sicht auf die Medizin als Teil der Hohen Kultur und auf die Hohe Kultur als untrennbar mit Moral verknüpft, resultierte nicht zuletzt daraus, dass mehr und mehr Gebildete in das Feld der Medizin drängten – sei es, dass sie die höheren Examina nicht bestanden haben und ihnen damit das gängige Karrieremuster verwehrt blieb  ; sei es, dass sie als Ming-Loyalisten eine Beamtenlaufbahn gar nicht erst anstreben. Die Ethik der Neuen Medizin speist sich aus mindestens zwei Quellen  : aus dem neokonfuzianisch fundierten Verhaltenskodex und aus der daoistisch inspirierten Lebenspflegetradition. Neokonfuzianisch ist die vom Arzt eingeforderte Haltung, bar jeden Gedankens an Eigennutz sowie bar jeden Gedankens an Lust und Begierde zu sein. Dazu gehört auch die Ermahnung, sich nicht seiner eigenen medizinischen Erfolge zu rühmen.596 Im neokonfuzianischen Diskurs verlangt das Ziel ethischer Vervollkommnung zunächst den ernsthaften Willen, Gutes zu tun,597 um seinen »leiblichen Entwurf zur Erfüllung zu bringen«, d. h. ein Weiser598 bzw. Heiliger zu werden. 595 Siehe hierzu Hymes 1986, 11–85. 596 Vgl. Dongtian aozhi, juan 6, CQS, 1133. 597 Diese Sicht ist ganz besonders ausgeprägt bei Wang Yangming 王陽明 (1472–1528). Siehe hierzu u. a. auch Kern 1995, 1129. In diesem Zusammenhang sei auf einige von vielen Autoren verwiesen, die im 17. Jahrhundert Bücher zur Anleitung zur Selbstveredelung bzw. Selbstkultivierung verfassten  : Li Guochang 李國昌 mit seinen »Grundzügen zur Selbstkultivierung« (Chongxiu zhiyao 崇修指要, Vorwort 1667), siehe hierzu Brokaw 1991, 157 ff.; Chen Zhixi 陳智錫 mit seiner »Vollständigen Abhandlung der Ermahmungen und Tadel« (Quanjie quanshu 勸戒全書, geschrieben 1639  ; Vorwort 1641)  ; Chen Xigu 陳錫嘏 (1634– 1687) mit seinem »Kompendium über die Erlangung von Verdiensten und [die Beseitigung] von Fehlverhalten« (Huizuan gongguoge 彙纂功過格), zwischen 1671–1687 geschrieben. Dieser Autor stammte aus dem Yin-Kreis (Zhejiang), erreichte 1676 den jinshi-Grad und diente als Hanlin-Gelehrter, bevor er nach Hause zurückkehrte und dort seine eigene Akademie gründete. Er war befreundet mit Huang Zongxi, der in seinem Mingru xue’an 明 儒學案 bereits im Vorwort auf Chen Xigu verweist. Siehe hierzu auch Brokaw 1991, 158. Die Hanlin-Akademie (Hanlin yuan 翰林院), gegründet 725 vom Tang-Kaiser Xuanzong, war Treffpunkt für die herausragenden Schreiber, Künstler und Astrologen im Reich. Später entwickelte sich hieraus eine mächtige Gruppe am Kaiserhof, die ihre vitale Funktion auch für die Abfassung von Staats-Dokumenten und dergleichen bis in die spätere Qing-Zeit aufrechterhielt. Siehe hierzu Lui 1981. 598 Der Ausdruck »jianxing 踐形” entstammt dem Mengzi 孟子 (dessen Autor Meng Ke 孟軻,

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Chen Shiduos wiederholte Beteuerung seines ernsthaften Bestrebens verweist auf diesen neokonfuzianischen Hintergrund. Sein Bemühen trifft außerdem auf ein seit Jahrhunderten bekanntes Muster der »Erleuchtung« gescheiterter Examenskandidaten  : Chens Darlegung seiner Sehnsucht liest sich wie eine Wiederholung der Biographie des hier schon oft zitierten Zhu Zhenheng 朱震亨(1281–1358), dessen Sehnsucht damals nach jahrzehntelangem Studium der medizinischen Schriften erfüllt wird. Chens Wiederholung bzw. Nachahmung der Transmission medizinischen Wissens ist gekoppelt an zahlreiche inhaltliche Anleihen bei Zhu Zhenheng, und die neokonfuzianische Vervollkommnungsideologie findet sich bei Chen in mehreren Schattierungen. Nicht nur, dass er als Nachfolger von Kongzi (Konfuzius) es niemals wagen würde, in oberflächlicher Manier zu sprechen oder zu schreiben.599 Er beruft sich auch auf Kongzi, wenn er beteuert, dass es selbstverständlich keine Geister gäbe, obwohl er gleichzeitig feststellt, dass sich die Menschen auf Geister beriefen, wenn sie sich in einem Leere-Zustand befänden. Offensichtlich schien es ihm im Sinne der »Auratisierung« der Medizin opportun, auf die Konfuzianer zu verweisen und nicht auf ein medizinisches Werk.600 Doch wie wir gesehen haben, entscheidet er sich für die Medizin als seinen Weg der Vervollkommnung seines Potentials und als Möglichkeit, anderen Menschen Wege zur Vervollkommnung vorzuleben, wie ein Meister, der sich auf dem Weg zum Zustand des Heiligen befindet (xiuxian zhi shi 修仙之 士 ).601 Denn er will als Heiliger der Heilkunst (yizhisheng 醫之聖)602 in die Geschichte eingehen, und nicht bloß als Guter Arzt (liang yi良醫). Deshalb ist die zunächst pragmatisch erscheinende Definition von Medizin als Vorstellung/Idee, yi 意 in der von ihm beschriebenen konkreten Praxis, nämlich der einfühlenden Kommunikation zwischen Arzt und Patient, als höchst moralisch fundierter Akt anzusehen. der zwischen 385–303 lebte, als der legitime Überlieferer der Lehren des Konfuzius gilt) und wurde innerhalb der neokonfuzianischen Diskussionen häufig thematisiert. Siehe hierzu Tu Wei-ming 1983, 271. Zu Mengzi und den übrigen drei zu den »Vier Büchern« zusammengefassten Schriften siehe u. a. Bauer 2001, 131f.; Schmidt-Glintzer 1990, 66f. 599 Vorwort zum Bianzheng lu, CQS, 696. 600 Vgl. Dongtian aozhi, juan 4, CQS, 1041. Beispielsweise ist diese Sicht bereits im medizinischen »Klassiker der Schwierigkeiten«, dem Nanjing (ca. 2. nachchr. Jh.) in der 20. Schwierigkeit, gänzlich ohne Bezug zu Kongzi, dargelegt. Vgl. Nan-Ching 1986, 268. 601 Vgl. Bencao xinbian, juan 5, CQS, 264. 602 Vgl. Shishi milu, juan 4, CQS, 375.

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Auch die neokonfuzianisch begründete Bifurkation des Geistes in das menschliche Herz (renxin 人心) und das moralische Herz (daoxin 道心) hinterlässt ihre Spuren in den medizinischen Texten dieser Zeit. In der neokonfuzianischen Vision von der menschlichen Natur zeichnet sich das moralische Herz (daoxin) durch das Streben nach Heiligkeit (sheng 聖) und durch die konfuzianische Kardinaltugend ren 仁 (»Menschlichkeit«) aus. Dabei ist letztere Ergebnis der Überwindung selbstsüchtiger Begierden und Sehnsüchte. Dies ist undenkbar ohne die Implikationen der orthodoxen Moraltheorie  : Selbstkultivierung ist die Kultivierung bzw. Disziplinierung des Herzens (xiu xin 修 心). Persönliche Wünsche und Ambitionen sollten als selbstsüchtige Begierden ausgelöscht werden. Diese ethischen Vorgaben sind bis in das späte 17. Jahrhundert Bestandteil der Examenscurricula und somit vom Großteil der männlichen Bevölkerung aktiv einverleibtes Gedankengut.603 Solche Werte erscheinen programmatisch in den Vorworten zu den medizinischen Schriften, bei Chen Shiduo etwa in der Gleichsetzung  : »Medizin ist die Kunst, ren 仁 [Menschlichkeit zu praktizieren]«.604 Sie stilisieren die Medizin als Teil der Hohen Kultur, eine Stilisierung, die offenbar nur auf der Basis orthodoxer Morallehre eingefordert werden konnte. Die orthodoxe Morallehre verlangte die gänzliche Negierung der Emotionen, weil diese als Teil des menschlichen Herzens (renxin 人心) eliminiert werden mussten. Doch wir werden sehen, dass die dieser Lehre inhärente Forderung ausgerechnet von der medizinischen Begründung und Definition der Emotionen als integraler Teil menschlichen Leibes und Lebens massiv untergraben wird. Der Einfluss der daoistisch inspirierten Lebenspflege-Tradition auf die medizinische Ethik als zweite Inspirationsquelle tritt vor allem in der Praxis zutage, wenn der ärztliche Umgang mit Emotionen und Befindlichkeiten gefragt ist. Aber auch in Chen Shiduos Schriften ist immer wieder die Rede von der Lebenspflege, den Praktiken der Inneren Alchemie (neidan), wie sie insbesondere im Quanzhen-Daoismus gepflegt und als Mittel auf dem Wege zur Vervollkommnung des Selbst angesehen werden. Auch treten in seinen Schriften Eremiten und Außergewöhnliche auf, denen er auf seinen Reisen begegnet. Sie sind jeweils umgeben von einer Aura der unbedingten moralischen Anstrengung, die letztlich auf das Wohl der anderen gerichtet ist und nicht so sehr auf die eigene Erfüllung. 603 Davon handelten die gestellten Prüfungsfragen bzw. Antworten bis in das 17. Jahrhundert hinein. Siehe hierzu Elman 1994, 128–130. 604 Vgl. Prolog zum Shishi milu, CQS, 267.

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Indem sich Chen Shiduo auf diese beiden ethischen Entwürfe beruft, gelingt es ihm, sich zwischen den beiden Polen »Erfolg bzw. gesellschaftliche Anerkennung« und »moralische Pflichterfüllung« zu positionieren. So stellt sich das medizinische Feld als ein Zwischenraum dar, in dem es möglich ist, beides zu exemplifizieren  : das konfuzianische Engagement für die Gesellschaft und den daoistisch inspirierten Rückzug aus der Gesellschaft, eine alte Denkfigur seit dem Buch Zhuangzi (300 v. Chr.).605 Bewältigungsstrategien  : Edukative Bezüge Wenn die Tradierung medizinischen Wissens stark vom Übernatürlichen geprägt ist, so finden wir korrespondierend dazu, gewissermaßen als Äquivalent zu irdisch versus überirdisch, die Opposition des Guten und Schlechten als rhetorische Figur der medizinischen Identitätsbildung im 17. Jahrhundert. Die deutlichen Anlehnungen an daoistische und buddhistische Lehrinhalte606 in Chen Shiduos Schrifttum sind nicht getrennt zu betrachten von den außer­ ordentlich umfangreichen Unterstützungstätigkeiten zum Wiederaufbau von buddhistischen Klöstern und daoistischen »Belvederes«607 als Zentren der Erbauung und der Erziehung. Konfuzianische Bestrebungen wiederum, die moralische Erziehung des Volkes voranzutreiben, spielen sich im Rahmen der xiangyue 鄉約-Veranstaltungen (ländliche Erziehungseinheiten)608 ab. Diese Veranstaltungen wurden im frühen 16. Jahrhundert609 als Möglichkeit genutzt, sozial instabile Gebiete zu befrieden. Seit 1554 wurden die vormals freiwillig 605 Vgl. die Anekdote »Von der Schildkröte«, die lieber ihren Schwanz im Schlamm nachzieht als am Hofe des Königs vor der Zeit zu sterben und als »Heiliges Wesen« verehrt zu werden. Zhuangzi 17, 11. 606 Chen bezieht sich implizit auf Fu Shan 傅山 (1607–1684), einen vielgelesenen Verfasser literarischer und medizinischer Schriften. Letztere wurden wegen seiner Verweise auf die Innere Alchemie (neidan 內丹) rezipiert. So heißt es etwa von Fu Shan, dass dieser, wenn er nur drei Tage lang ohne die Lektüre von Laozi verbracht habe, sich unwohl gefühlt habe. So habe Fu Shan drei Aspekte in sich vereinigt, den Widerstand gegen die neue Fremdherrschaft, den Rückzug als Eremit (yinshi 隱士 bzw. yinju 隱居) und dabei drittens den Broterwerb als Arzt zu bewerkstelligen. Siehe Wei Zongyu 1995, 247 und 251  ; Zeitlin 1997, 251f.; Furth 1999, 219. 607 Was außerdem zu einer erhöhten Publikation von Klosterzeitschriften führte. Siehe hierzu Brook 1993, 181–184 und Brook 2005, 152–157  ; Eberhard 1964  ; Katz 1999, 124–128. 608 Deren Ursprung sich bis in die Song-Zeit zurückverfolgen lässt. Siehe hierzu Handlin 1983, 48. 609 Es handelt sich um die Bemühungen von Wang Yangming. Siehe hierzu ausführlich Handlin 1983, 48–53.

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abgehaltenen Veranstaltungen für alle männlichen Mitglieder der Gesellschaft verpflichtend.610 Neben der moralischen Selbst-Kultivierung ging es in diesen Veranstaltungen nicht zuletzt auch vermehrt um die Weitergabe praktischen Wissens, wie beispielsweise über den Bau von Dämmen für die Flussregulierung, aber auch um die Vermittlung medizinischen Wissens.611 Hinter all diesen Maßnahmen verbirgt sich die Prämisse der grundsätzlichen Erziehbarkeit und Wandelbarkeit des Menschen vom Schlechten zum Guten. In Chen Shiduos Schriften begegnen wir den einfachen Menschen (jian 贱, Mindere) ebenso wie Wohlhabenden (gui 贵).612 Diesen stehen Diebe und Banditen (zei 賊) gegenüber, die zuweilen in Horden auftreten und sich im Land breitmachen. Sie erscheinen in Analogie zum Übel (xie 邪), das sich im menschlichen Leib einnistet. Chen unterscheidet nicht zwischen Banditen und politisch motivierten Rebellen. Immer ist die Rede von daozei 盜賊. Im Folgenden werden einige Beispiele zu dieser Analogie, die sich nicht in bloßer Rhetorik oder Metaphorik erschöpft, aufgeführt. Der Autor wechselt so rasch und unvermittelt die Ebenen, dass sich das soziale und leibliche Drama untrennbar auf ein und derselben Bühne abspielen (siehe Kap. V). In besonderen Fällen fokussiert er ein einzelnes Organ in Diagnose und Therapie (chuan zhifa 專治法),613 weil Rebellen und Banditen sich an einem Ort konzentrieren. Im Falle des direkten Getroffenseins der drei Yin-Leitbahnen durch Kälte614 sowie bei Hitzschlag (zhong shu 中暑)sei die Situation mit »galoppierenden Pferden« gleichzusetzen, die niemand anhalten könne. Falls sich die »ausgehobenen Truppen« [im Krieg gegen die Invasoren, hier  : Kälte 610 Außerdem wurden die xiangyue nun mit dem baojia 保甲 (Verteidigungseinheit auf lokaler Ebene) kombiniert, wodurch ganze miteinander verfeindete Landstriche befriedet werden konnten. 611 Diese Hinwendung zu praktischem Wissen und insbesondere auch zum Handeln ist ohne die theoretische Grundlegung durch Wang Yangming nicht denkbar. Siehe hierzu bereits Nivsion 1953, 112–145. In dieser Hinsicht hat sich besonders Lü Kun 呂坤 (1536–1618) hervorgetan. Siehe Handlin 1983, 187. Hinsichtlich der gewandelten Sicht auf das »Lernen«, die Wissen als Tun propagiert, siehe die Studie zu Yan Yuan 顏元 (1635–1704) in Freeman, 1972. 612 Z. B. Bianzheng lu, juan 10, CQS, 944. Den Wandel von Banditen hin zum guten Menschen beschreibt er in Bianzhenglu, juan 1, CQS, 712 sowie in Bianzheng qiwen, juan 1, CQS, 493. 613 Einzeln und besonders, spezifisch. Vgl. Shishi milu, juan 3, CQS, 343. 614 Im Original heißt es  : 論直中陰寒.Vgl. Bianzheng lu, juan 1, CQS, 712f. Zhizhong 直中 meint, dass der herkömmliche Weg des »Getroffenwerdens durch Kälte«, nämlich über die drei Yang Leitbahnen, umgangen wird und (die Kälte) direkt über/via die Drei Yin­Leitbahnen eindringt.

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oder Hitze] in alle Richtungen zerstreuten, müsse man die Situation beobachten und genau überlegen, denn man könne in der Rettung des Kaisers keine schnellen Erfolge erzielen. Da sei es besser, nur ein oder zwei gute Generäle [Metonymie  : Arzneien] einzusetzen, die dann das Passtor erstürmten, um das Ziel zu erreichen. Bei entsprechender Führung ließen sich Diebe jedoch immer in moralisch gute Menschen (liang min 良民) umwandeln.615 Dasselbe gilt für das eingedrungene Übel im menschlichen Leib. Die folgende Darstellung von Therapie von Kälte-Krankheiten veranschaulicht diesen abrupten Wechsel der Ebenen bzw. das leibliche und soziale Drama als ein Geschehen  : »Wenn man während der Wintermonate eine Kälte-Verletzung erleidet, Hitze ausbricht und Umkehrung [von Qi in den Extremitäten] geschieht, so folgt der Umkehrung wieder Hitze. Ist die Umkehrung leicht, aber die Hitze groß, so wird der/ die Betroffene von der Krankheit [schnell] genesen sein. Verschwindet aber nach der Umkehrung die Hitze nicht, dann bildet sich leicht eitriges Blut (nongxue 脓血). Bei großer Umkehrung und kleiner Hitze, großer Kälte und kleiner Hitze muss die Krankheit immer fortschreiten. Bei kleiner Umkehrung und großer Hitze wird das Übel sich nach und nach zurückziehen, und die Hitze wird sich allmählich zurückbilden. Wie kann man [eine Situation herstellen, in welcher] die Umkehrung klein ist, aber die Hitze im Gegensatz dazu groß, [damit die Genesung eintreten kann]  ? Das heißt [eine Situation herstellen, in welcher es unmöglich ist], dass das Übel [Qi] mit dem Rechten (Qi) kämpfen kann, sondern vielmehr das Rechte Qi das Übel [Qi] anzugreifen vermag.«616 Außerdem  : »[Wenn] Diebe (zeiren) gegen den [Land- oder Haus-]Besitzer kämpfen, so [ist zu bedenken], dass sie dem Besitzer nicht ebenbürtig sind, und so täuscht der Besitzer die Diebe und schwächt sie. [Dies bedeutet, durch eine Förderung bzw.] eine Akkumulation von Essenz und Lebenskraft (jingshen 精神) das Rechte 615 Im Original heißt es  : 低徊,而不能急遽以救主,不若止用一二大將,斬關直進之為得 也. […] 倘征兵分調于各路,勢必觀.Mit liang min sind die guten [nicht verunreinigten] Gemeinen/das Volk bezeichnet. Vgl. Bianzheng lu, juan 1, CQS, 712f. Zu Beginn des 18. Jahrhundert suchte die Qing-Regierung die »Armseligen« (jian) via Gesetz zu emanzipieren, indem diese nicht mehr als solche benannt wurden. Siehe hierzu Kuhn, 1990, S. 34ff. 616 Im Original heißt es  : 冬月伤寒,发热而厥,厥后复热,厥少热多,病当愈。既厥 之后, 热不除者,必便脓血。厥多热少,寒多热少,病皆进也. 夫厥少热多,邪渐轻而热渐退 也。伤寒厥深热亦深,何以厥少而. 热反深乎?此盖邪不能与正相争,正气反凌邪而作 祟也。譬如贼. 与主人相斗,贼不敌主,将欲逃遁,而主人欺贼之懦,愈加精神,正 气既旺,贼势自衰,故病当愈也。至于既厥之后而热仍不除. Vgl. Bianzheng lu, juan 1,

CQS, 712.

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Qi üppig zu machen und die Macht der Diebe auszuhöhlen, indem sie von alleine geschwächt werden. Deshalb wird die Krankheit heilen. [Wenn] nach einer Umkehrung die Hitze nicht zurückgeht, so ist dies vergleichbar [mit der Situation, in der] der Anführer der Diebesbande gefasst worden ist, aber die restlichen Diebe noch nicht gefangen genommen wurden. Dann muss man am besten in großem Ausmaße und schnell töten, sodass die Diebe keinen Ausweg haben (d. h. nicht flüchten können). [Aber] wer will schon sein Leben [ohne Kampf ] lassen  ! So gibt es im Kampf Verletzungen. Obgleich die Diebe Verletzungen erleiden, so ist aber auch der Besitzer in einen schlimmen Zustand geraten, geschwächt und verletzt. So muss die Hitze ihre Macht einbüßen. [Obgleich also die Gefahr besteht, dass sie] ihre Macht einbüßt, darf [man] nicht einfach zerstreuen (san 散). Obgleich man es nicht wagen kann, [abrupt] in die Leitbahnen und Verästelungen einzudringen [und zu fangen], muss man dennoch in die Gedärme ausweichen, weil es sich [schließlich bereits] um eitriges Blut handelt. Die Behandlungsmethode darf nicht auf den Einsatz von Kälte-Medizin in großem Umfang abzielen. Man helfe [dem Leib] auszuleiten und verwende nur harmonisierende und auflösende Arznei, dann wird der Bandit Selbstmord begehen und sich [im nächsten Leben] in einen guten Menschen (liangmin 良民) umwandeln.«617

Chen Shiduo wechselt unvermittelt von einer Ebene in die andere. Gesellschafts-politische Zusammenhänge finden sich unversehens in den leiblichen Abläufen und vice versa. Der wertende Unterton ist nicht zu übersehen. Diebe und Banditen gehören zu den realen Gefahren jener Zeit. Als gefährliche, hinterlistige Eindringlinge in den sicheren Raum sind sie Unruhestifter, Aufrührer und Schädlinge. Chen Shiduo beschreibt ehemals eroberte feindliche Stellungen und gestürmte Tore  : Es sei zu viel gemordet und zu viele [Köpfe] abgeschlagen und geplündert worden, ohne etwas zurückzulassen. So seien die Zang-fu-Organe derart ausgezehrt [aufgrund zu viel starker Arznei, d i. zu viel starke Soldaten]. Folglich müsste innerhalb einer sehr kurzen Zeitspanne und unter Aufgebot [allen] Kapitals materielle und finanzielle Hilfe gewährt werden. Chen Shiduo nimmt Partei für die sesshafte Bevölkerung, also für die guten Leute  : 617 Im Original heißt es  : 譬如贼首被获,而余党尚未擒拿,必欲尽杀为快,则贼无去路,自 然舍命相斗,安肯自死受缚,势必带伤而战,贼虽受伤,而主亦有焦头烂额之损矣。故 热势虽消,转不能尽散,虽不敢突入于经络,而必至走窜于肠门,因成便脓血之症矣。 治法不必用大寒之药,以助其祛除,止用和解之剂,贼自尽,化为良民,何至 有余邪 成群作祟哉. Vgl. Bianzheng lu, juan 1, CQS, 712f.

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»Wenn in der Stadt genügend Getreide gelagert ist und dementsprechend die Soldaten und Pferde satt sind, wie könnte man es da wagen, die Trommel für einen Aufruhr zu rühren und gar das Unheil eines Krieges anzuzetteln  ?«618

Außerdem ist die Rede vom guten General (liang jiang良將) sowie von mutigen Soldaten (yongshi 勇士), die die Tore stürmen und eindringen, worauf das Übel von selbst erschrecke und verschwinde  : »Daraufhin soll man einen Absud zum Niederreißen der Rebellion (jingluan tang

靖亂湯) verabreichen. Zum Beispiel  : [Wenn] man diejenigen zählt, die die Tore bewachen – falls da nicht viele Soldaten in Reih und Glied stehen, kommen die feindlichen [Truppen] in Massen angestürmt. Wenn man also nicht in einer engen Reihe kämpft, so kämpft man bis zum Tod und kann sich nicht zurückziehen. Es folgt freies Fließen des Urins, und Schritt für Schritt folgt die Vorhut, die die [Feinde] umzingelt, die mutigen Krieger umzingeln sie, und dann kommen die Truppen und werden die Banditen ausrotten/eliminieren (dang kou 蕩寇). Wie [kann man da denken], dass dieses Unterfangen nicht von Erfolg gekrönt sein könnte  ?«619

Die wiederholt eingestreuten und mitunter ganze Abschnitte umfassenden Schilderungen der sozialen Umwelt, die sich im menschlichen Leib »abspielt«, markiert der Autor mitunter mit biru 比如 (例, zum Beispiel). Diese Parallelisierungen zur Welt außerhalb des menschlichen Körpers sind nicht nur impliziter Bestandteil der Präsentationsstrategie medizinischer Sachverhalte, wie sie den konventionellen entsprechungsmedizinischen Sichtweisen inhärent sind.620 Sie markieren darüber hinaus die besondere Brisanz des leiblichen bzw. 618 Im Original heißt es  : 譬如城內糧足,則士馬飽騰,安敢有鼓噪之聲,而興攘奪爭取之患 乎!Vgl. Bianzheng lu, juan 6, CQS, 839. Weizheng 痿症 (Allgemeiner Kräfteverfall und Impotenz [yangwei 陽痿]). 619 Im Original heißt es  : 後用靖亂湯者,譬如以計奪門,若後無大兵相繼,則敵且欺寡不 敵眾,未必不狹巷而戰,死斗而不肯遁,今又以利水、逐穢、平肝之藥濟之,是前鋒既 勇于斬關,而後隊又善于蕩寇,安得不成功哉。Vgl. Bianzheng lu, juan 7, CQS, 860.

620 Erinnert sei an die Stellen im Huangdi neijing Suwen und insbesondere im HDNJ Lingshu 71 (10)  : 270–271, wo der menschliche Körper im Detail beschrieben ist, und zwar in jedem einzelnen Bereich in seiner Entsprechung zum Makrokosmos  : »Das Jahr besitzt 365 Tage, menschliche Wesen besitzen 375 Abschnitte. Auf der Erde sind hohe Berge, menschliche Wesen haben Schultern und Knie. Auf der Erde sind tiefe Täler, menschliche Wesen haben Armbeugen und Höhlen an der Hinterseite der Knie. Auf der Erde gibt es zwölf Haupt-Wasserströme, menschliche Wesen haben zwölf Haupt-Leitbahnen. […].« Siehe hierzu insbesondere Sivin 1995, 18.

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sozialen Geschehens. Wie diese Markierungen gestaltet sind, namentlich als metonymische Verknüpfungen, und was sie ausmacht im Vergleich zu den gemeinhin festgestellten »Mikro-Makrokosmos«-Entsprechungen, wird im fünften Kapitel behandelt. Diese spezifischen Bezüge zu aktuellen sozio-politischen Verhältnissen sind bereits Deutungsvorschläge wahrgenommener Vorkommnisse und Zustände. Gleichzeitig sind sie auch Vorgaben für richtiges diagnostisches und therapeutisches Handeln. Chen betont immer wieder, dass die Schriften der »Alten« in bestimmten gegenwärtig auftretenden Situationen keinerlei hilfreiche Handlungsanweisungen bereithielten. Dies geht einher mit dem Verweis auf die eigene Erfahrung bzw. auf die von selbst, auf natürliche Weise zu erlangende Erkenntnis (zi de 自得). Zi de自得 ist seit der Songzeit mit der Vorstellung verknüpft, dass ein jeder selbst bzw. von selbst den Weg (dao 道) erlangen und in Eigenverantwortung (zi ren 自任) handeln könne, was nicht ohne moralische Kultivierung bzw. Ausrichtung denkbar war.621 Die Erfahrung von Bedrohung und Kontingenz setzt der Arzt in die Forderung um, dass die Menschen seine Diätetik und Rezeptvorschriften – vermittels eigener Erfahrung – prüfen bzw. selbst in eigene persönliche Erfahrung (zi de 自得)622 umsetzen sollten. Die Realitäten des sozialen Lebens, insbesondere dramatische Vorgänge, sind somit nicht allein in den Anleitungen zum rechten Umgang mit der Sexualität, den Tag- und Nacht- sowie jahreszeitlichen Wechseln und der Nahrungsaufnahme eingestanzt. Die Realitäten des sozialen Lebens erscheinen auch auf einer tiefer liegenden Schicht, namentlich in den kartographischen Matrices und den Rezepten bzw. Therapieanweisungen, die – auf den ersten Blick – keine erklärenden Deutungen dieser Realitäten bereithalten. Doch treten diese Elemente (Rezepturen und Therapievorschriften), die ja explizit als Bewältigungsstrategien sozialer (leiblicher) Dramen eingesetzt werden, als – vielleicht insgesamt wirkmächtigste – edukative Instanzen zutage  : Die Therapievorschriften erziehen die Einzelnen in geballter Form. Auch verantwortungsbewusste Beamte haben sich immer wieder mit der Bewältigung sozialer Dramen befasst. So sind etwa die Vorschläge zu Gemeinschaftsverträgen623 als Reaktionen auf die unaufhörliche Bedrohung durch 621 Siehe hierzu De Bary 1983, 45 und 67ff. 622 Vgl. beispielsweise Shishi milu, Chuan zhifa, 傳治法 (Fokussierende Heilmethode), juan 3, CQS, 344 sowie Shishi milu, Kuangzheng 狂症 (Manie-Krankheit), juan 6, CQS, 429. 623 Siehe hierzu Hauf 1996.

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Banditen und Rebellen seit dem frühen 16. Jahrhundert zu bewerten. Diese Vorschläge können als Renaissance der neokonfuzianischen politischen Entwürfe angesehen werden. Es geht um Fragen nach wirksamen Verfahrensweisen in bedrohlichen Situationen. Wang Yangming 王陽明 (1472–1528) propagierte mit seinen Gemeinschaftsverträgen die Änderung der Menschen, ohne sie zu bestrafen, indem er davon ausging, dass sie sich durch entsprechende Führung in gute, neue Menschen (xinmin 新民)624 wandeln könnten. Eine solche Wendung finden wir ebenso bei Chen Shiduo.625 Doch während Wang Yangming offensichtlich diese Menschen verstehen und ihr Gesicht wahren will,626 versteckt sich hinter Chen Shiduos Darlegungen eine ebenso pragmatische wie parteiische Sichtweise. Je nach Kontext stellt er sich gegen die Banditen, weil sie »schlecht« (xie 邪)627 sind, oder er steht für die Banditen ein, weil sie gebessert werden können.628 Anthropologie und Ethik finden sich hier vereint unter dem Deckmantel einer Medizin, die Wirksamkeit verspricht und damit an Gewicht gewinnt. Der edukative Impetus Chen Shiduos kommt auch bei der Verschriftung seiner Kenntnisse und Erfahrungen zum Tragen – dient diese doch dazu, die Hohe Kultur des Heilens zu popularisieren. Auch wird die konkrete Realität als Ausgangspunkt der Kultivierung des Selbst expliziert. So stellt sich seine »Praxis-zentrierte« Herangehensweise in Opposition zum konventionellen »ideal-zentrierten« Ansatz. Chen Shiduo bewegt sich zwischen beiden Polen hin und her. Dadurch hebelt er das Spannungsverhältnis zwischen ihnen aus, weil er den jeweils anderen Pol als stützenden Grund für den ersteren einsetzt. Wenn er beispielsweise die für seine Zeit neuen Methoden des Differenzierens und Debattierens um eine Krankheit (bian 辨) und die Methode der handlungsleitenden Vorstellung (yi意) ins Feld der wettstreitenden medizinischen Praktiken führt, so ist er sich sicher, als Sieger daraus hervorzugehen. Chens Selbst-Repräsentation als Gelehrter verbindet ihn mit der zeitlosen und ewigen Wahrheit der Heiligen/Weisen aus der Vorzeit. Hierin geht er konform mit anderen Beamten-Gelehrten aus seiner Zeit. Diese suchten sich – auf ihren immer neu einzunehmenden Posten in verschiedenen Provinzen – durch 624 Zit. nach Hauf 1996, 11. 625 Im Original heißt es  : 賊自盡,化為良民. Vgl. Bianzheng lu, juan 1, CQS, 712. 626 Hauf 1996, 11. 627 In Analogie  : das von außen in den menschlichen Leib eindringende Übel (xie) ist niemals gut, sondern immer von Schaden. 628 In Analogie  : Im Verlaufe einer Therapie kann das bereits eingedrungene Übel mittels Einnahme rechter Arzneimittel gewandelt und damit abgeschwächt werden.

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den unermüdlichen Rekurs auf einen stabilen, weil »ewig gültigen« Wahrnehmungs- und Handlungskodex vor den Unbeständigkeiten der Verhältnisse zu schützen. Ihre Wahrnehmung konnten sie mithin an den Verhaltens- und Handlungskodex, wie er in den Klassikern dargelegt war, rückkoppelnd »einrichten«. Auch Chen rekurriert, zumindest in den Prologen und Epilogen, explizit auf seinen »klassischen« Erziehungshintergrund. Zumal er keinen offiziellen Beamtenposten innehatte, bezieht er die »Praxis der Rückkoppelung« auf die »Überall und Nirgendwo«-Räume seines Selbstverständnisses als Arzt. Die ewig gültige Wahrheit medizinischer Kenntnisse, übermittelt durch die Himmlischen Meister, wird modifiziert durch eigenen Augenschein und Erfahrung. So kommt es immer wieder zu Beteuerungen, wonach den Alten in spezifischen Fällen kein Glauben geschenkt werden dürfe  :629 Auch darin bestünde die Hohe Kultur des Heilens.

629 Vgl. Bianzheng lu, juan 8, CQS, 883 und Bianzheng lu, juan 14, CQS, 1002.

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V Das Gewebe der Befindlichkeiten im 17. Jahrhundert »Man glaube nicht den Menschen des Altertums, die meinten, dass die Sehnsuchtskrankheit/Liebeskummer nicht heilbar sei.«630

Die hochgradigen Kontingenzerfahrungen und vielfachen Umschichtungsprozesse im 17. Jahrhundert, im ersten Kapitel unter »Bühnengeschichte« gefasst, verweisen bereits auf Befindlichkeiten, die nach Heidegger immer Gestimmtheiten, Stimmungs- und Gefühlslagen sind631  : Neben dem Trauma des Dynas­ tiewechsels, den Loyalitätskonflikten, den zunehmenden Schwierigkeiten, die konventionell vorgesehenen Karrieremuster einzuschlagen, sind extreme und sich über lange Zeiträume erstreckende Bedrohungen durch Banditen, Rebellen, Söldnerheere und Mandschutruppen, Epidemien und Hungersnöte unschwer mit Angst und Verzweiflung in Verbindung zu bringen. Über Befindlichkeiten solcher Art lässt sich in Schriften privater Natur nachlesen. Doch ist die Frage nach Gestimmtheiten und Gefühlslagen in diesem Kapitel an Texte gerichtet, die die Konfrontation mit krisenhaften Veränderungen in anderer Weise spiegeln. Die untersuchten medizinischen Texte verhandeln neben alltäglichen Krankheiten wie Bauch- und Kopfschmerzen, Sehnsuchtskrankheiten bzw. Liebeskummer, auch Geschlechts- und Alkoholkrankheiten, Verletzungen durch Tigerbisse ebenso wie solche durch Folter in Gefängnissen, die Pest, Lepra und das Leid durch Kinderlosigkeit. Sie beinhalten auch implizit Definitionen von Gestimmtheiten der Menschen in unterschiedlichen (krisenhaften) Zusammenhängen, weil sie uns zumindest ansatzweise die Matrices liefern, anhand derer die beschriebenen Gestimmtheiten wahrgenommen und expliziert worden sind. Solche Definitionen sind Bausteine des Instrumentariums, das hier rekonstruktiv dargelegt wird. Dieses fünfte Kapitel ist als schrittweise durchgeführte Annäherung an die Beschreibung und Analyse von Emotionen und Befindlichkeiten in der spezifischen Zeit-Raum-Kohärenz konzipiert. Aus der Vielfalt an Gefühlslagen und Gestimmtheiten, die zumeist als Nebenerscheinungen bzw. Mit-Erscheinungen von Leidenszuständen erscheinen, musste eine Auswahl getroffen werden  : Zorn und Angst zeigen sich sowohl 630 Im Original heißt es  : 未可信古人之言,以相思之癥為不可治之病也. Vgl. Bianzheng lu, juan 8, CQS, 883. 631 Vgl. Heidegger 1993 [1926], 134.

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Das Gewebe der Befindlichkeiten im 17. Jahrhundert

in quantitativer Hinsicht als auch in ihren beschriebenen Komplexitäten als dominant, weshalb sie auch hier an erster Stelle rangieren. Die Darlegung von Schmerz und Niedergedrücktheit erscheint insofern als wichtig, als diese Befindlichkeiten sehr oft mit Zorn und/oder niedergedrücktem Zorn ebenso wie mit Angst einhergehend beschrieben sind. Liebe und Begehren sind ebenso wie Freude und Glück wesentliche Inhalte des Kultes der Emotionen. Während allerdings in literarischen Werken aus dieser Zeit die Zelebrierung von »Gefühl, Liebe, Lust, Begehren« auffällt, so zeugen die befragten medizinischen Schriften von einer deutlich weniger »aufgeregten« Haltung gegenüber diesen Phänomenen. Doch wenn sie z. B. die Möglichkeit artikulieren, auch kinderlos die Vervollkommnung der eigenen Bestimmung zu erreichen, dann stellen sie die konventionellen Vorstellungen organisierter Familienverbände in Frage, was wiederum mit einer neuen Semantik der Liebe einhergeht. Darüber hinaus verweisen sie beispielsweise da, wo sie unterschiedliche Beschaffenheiten von Menschen aus nördlichen und südlichen Gebieten benennen, auf regional bestimmte Identitätsentwürfe, wie sie seit geraumer Zeit632 und im Vorfeld des Dynastienwechsels (1644) akut diskutiert worden sind. Es wird zu zeigen sein, wie die medizinische Ideosphäre für die im literarischen Feld zelebrierten Experimente mit dem »Gefühl, der Liebe und dem Begehren« letztendlich als Refugium für das leidenschaftsgeplagte Herz dient. Das medizinisch fundierte Register der kognitiv-emotional bzw. leiblich-emotional motivierten Befindlichkeiten enthält Verständnismatrices, entlang derer die Beschaffenheit/en der Befindlichkeitsgewebe im Folgenden gelesen werden. Wenn innerhalb der Dichtkunst der späteren Kaiserzeit eine Verschiebung hin zur Beschreibung eigener subjektiver Gefühle (yinyong xingqing 吟詠性 情) festgestellt wird, die sich der vormals konventionellen Verlautbarung feststehender Ziele und Ideale (yan zhi 言志) verweigerte, so ging mit diesem Fokus auf eigene Gefühlslagen aber auch eine Verweigerung einher, »negative« Gefühle wie Gier, Grausamkeit, unromantische Lust und ehrlosen Ehrgeiz zu artikulieren.633 Damit beschränkte sich das Register beschreibbarer Gefühle 632 Siehe hierzu Bol 2003, 1–50. 633 Siehe Owen 1997, 111. Inwiefern der Begriff Romantik für diese Zeit geltend gemacht werden kann, steht hier nicht zur Diskussion. Bei Chen Shiduo ist die Rede von fengliu wu 風 流悟, was durchaus mit »romantischem Erwachen« übersetzt werden könnte. Vgl. Bianzheng lu, juan 3, CQS, 758 oder Ibidem juan 10, CQS, 931. Zum Begriff Wind (feng 風) in seiner Bedeutung für Liebe bzw. frivole Liebe etc. im 16. und 17. Jahrhundert siehe Santangelo 2003, 147–148.

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in der spätkaiserzeitlichen Dichtkunst weitestgehend auf Liebe, Freundschaft und Trauer. Demgegenüber fällt in den untersuchten medizinischen Texten eine hochgradige Differenzierung auf. Sie schildern nämlich eine Vielzahl von Gefühls­ zuständen, so z. B. gewaltige Zornausbrüche, die mit der Erfahrung von Ausgeliefertsein gegenüber Angst, Schmerz, Grausamkeit, Kummer und Leid einhergehen, aber auch von Begehrlichkeiten und Freuden. Der Impetus dieser Texte besteht – im Unterschied zu literarischen Texten – nicht in der Artikulation eigener Gefühlslagen und -stimmungen, sondern zuallererst in der Definition bestimmter Befindlichkeiten und Gefühlsstimmungen anderer. Darüber hinaus wollen diese Texte Anleitungen sein zu Linderung und Auflösung der dargelegten krisen- bzw. krankhaften Gestimmtheiten. Dementsprechend sind es Konstellationen von Gestimmtheiten, von emotio­ nalen leiblichen Zuständen, die es zu eruieren gilt. Für den Gang der vorliegenden Arbeit erscheint es notwendig, zunächst diejenigen Wissensinhalte darzulegen, auf die Chen Shiduo offensichtlich zurückgegriffen hat. Damit ist der nun folgende Abschnitt zu der Ordnung der Gefühle eigentlich bereits Teil des Befundes. Zum Befund gehört auch, dass es sich bei den Gefühlen und leiblichen Regungen grundsätzlich um eine Ordnung von Qi-Prozessen handelt. Im zweiten Unterabschnitt werden die Emotionen im Verständnisrahmen der Logik der Mitte fokussiert. Im Anschluss daran sind Zorn, Ängste, Schmerz, Niedergedrücktheit und Schwermut, Liebe und Begehren sowie Freude und Glück zu betrachten, wie sie sich aus den Schriften Chen Shiduos eruieren lassen.

Die Ordnung der Gefühle  : Fragmente eines »Vorwissens«

Chen Shiduo wird in diesem Kapitel besonders ausgiebig zu Wort kommen, da die Texte bislang nicht übersetzt worden sind und die jeweiligen Konfigurationen von Gestimmtheiten und Gefühlsregungen auch nur im Textzusammenhang nachvollziehbar sind. Von den in seinen Schriften figurierenden Begriffen, die alle auf Stimmungen, Dispositionen, Gestimmtheiten, Emotionen und Gefühle verweisen, seien hier nur einige wenige genannt  : Scham (xiu 羞) bzw. Schamlosigkeit (wang shi xiuchi 罔識羞恥)634, brutaler (heng 横) oder rasender Zorn (zhennu 震怒 und yunnu 愠怒), Ärger (chen 嗔), Hass (hui 恚), Ängstlichkeit im Sinne von Feig634 Vgl. Shishi milu, juan 1, CQS, 296

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Das Gewebe der Befindlichkeiten im 17. Jahrhundert

heit (nuo 懦), Schüchternheit (qie 怯), Todessehnsucht (yushizhe 欲死者), Mut (guogan 果敢), Rastlosigkeit (bujing 不靜), Unruhe (buning 不寧, bu’an 不安), Reizbarkeit und Ruhelosigkeit (zaodong bu ning 躁動不寧), Schreckensangst (jingkong 驚恐), froh und ausgeglichen (heyue 和悅), friedlich und ruhig (an 安), sprunghaft (xingji 性急), große Bangigkeit (daji 大急), zu viel grübeln (guolü 過慮), Überängstlichkeit (guoji 過忌), Furcht (wei 畏) und Angst (kong 恐 und jidan 忌惮), Furcht (ju 懼), tiefe Angst (wörtl. »die Gallenblase sinkt« (danluo 胆落), Angst und Panik (zhanghuang 張皇), Schrecken und Panik (jingju 驚懼), Hoffnungslosigkeit (shiwang 失望), Unruhe (fanzao 煩躁), hoffen und sehnen (yuan 愿), Freude (xi 喜), Glücksgefühl (tongkuai 痛快), Fröhlichkeit (kuaixin 快心), äußerst glücklich (leji 樂極), Begierde (yu 欲), gieren nach (tan 貪), Liebe (ai 愛), in Sinneslust schwelgen (zongyu 縱欲), sexuelle Begierde (seyu 色欲), sich im Traumzustand befinden (youyouhuhu 悠悠忽忽), unsicher zweifeln (yi 疑), reflektieren (lü 慮), völliger Verlust von Aufrichtigkeit (caoshou quan wu 操守全无), herzlos (wuxin 无心), Sorglosigkeit (renqing 任情), bemitleiden (min 悯), Trauer (bei 悲), Betrübnis (chou 愁), Sorge (lü 慮 und yu 虞). All diese Zustandsweisen, die je nach Kontext unterschiedliche Färbungen transportieren, können entlang bestimmter Verständnismatrices gelesen werden, die im Folgenden dargelegt werden. Gefühle als Qi-Prozesse Die Arten und Weisen der Qi-Prozesse, d. h. die Bewegungsrichtung/en, die Konsistenz/en, die Ausgewogenheit/en, die Gleich- (ping 平) oder Ungleichmä­ ßigkeiten (bu ping 不平), die der »natürlichen« Richtung folgenden (shun 順) und die gegenläufigen (ni 逆) Bewegungsprozesse erscheinen als maßgeblich verantwortlich für das ausbalancierte Verhältnis aller beteiligten Prozesse, Substanzen und Organe635 im Körperleben. Diese Prozesse sind den beteiligten Elementen, d. h. den Substanzen und Organen im Körper nicht einfach »nur« zugeordnet, sondern vielfach mit ihnen verschränkt, weshalb es sich um ein multifaktorielles Geschehen zu handeln scheint  : Die beteiligten Vorgänge, Substanzen und Organe sind nicht außerhalb der Qi-Prozesse verortet, sondern generieren diese Prozesse und agieren inmitten bzw. durch diese. 635 Im Folgenden wird bewusst nicht durchgängig von »Organen« gesprochen, aber auch nicht durchgängig von »Organsystemen«. Der Terminus »Organsystem« verweist darauf, dass mit einem Yin-Organ auch immer das entsprechende Yang-Organ mitgedacht werden sollte und umgekehrt.

Die Ordnung der Gefühle 

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Der Ausdruck »Fünf Akkumulationen« (wu bing 五并) deutet auf Zusammenballung und damit auch auf Stauung hin, d. h. auf einen Zustand des Einhaltens, des Feststeckens und des Verknotens von Qi. Damit ist ein dem Fließen entgegengesetzter Zustand angesprochen. Eine Passage im Huangdi neijing 黃帝内經 (Klassiker des Gelben Kaisers) aus dem ersten vorchristlichen bis zweiten nachchristlichen Jahrhundert636 verortet mit Hilfe der »Fünf Akkumulationen« die Entstehung der Gefühle wie folgt  : »Wenn sich die Essenz/en-Qi 精氣 [aller fünf yin 陰-Organsysteme] im Herzen verdichten, dann entsteht Freude (xi喜). Wenn sie sich in der Lunge verdichten, dann entsteht Trauer (bei 悲). Wenn sie sich in der Leber verdichten, dann wird Kummer (you 憂) entstehen. Wenn sie sich in der Milz verdichten, dann entsteht Furcht und Scheu (wei 畏). Wenn sie sich in den Nieren verdichten, dann wird Angst entstehen (kong 恐). Dies sind die fünf Verdichtungen (wu bing 五并).«637

Auslegungen dieser Stelle aus dem 16. Jahrhundert zufolge638, ging der jeweiligen Akkumulation von Essenz/en und Qi (im Übermaß) ein Leere-Zustand in dem jeweiligen Organ voraus, d. h. erst ein Zustand der Leere (xu 虛), also des Mangels an Qi, machte eine (übermäßige) Akkumulation bzw. Einnistung von Qi und Essenz/en möglich. Ärzte thematisierten Emotionen auch während der späten Kaiserzeit nur in ihrer exzessiven bzw. krankmachenden Form. Wenn sich Emotionen als eine dem Organ gemäße »Färbung« bzw. »Haltung« bzw. »Verhaltensweise« nach außen zeigten oder sich als Schädigung an einem anderen Organ bemerkbar 636 Das Huangdi neijing existiert in drei mittelalterlichen Ausgaben  : Das Suwen, das Lingshu sowie das Taisu 太素. Siehe die Übersicht über die Textgeschichte dieser Schriften bei Loewe 1993, 195–215. Eine detaillierte Diskussion der bibliographischen Geschichte des Suwen, inklusive der Geschichte der verschiedenen Kommentare, liefert Unschuld 2003, 1–75. 637 Im Original heißt es  : 五精所并.精氣并於心則喜.并於肺則悲.并於肝則憂.并於脾則 畏.并於腎則恐.是謂五并. Vgl. Huangdi neijing Suwen 7 (23), 364. 638 Wu Kun 吳崑 (1551–1520) geht davon aus, dass, wenn jedes der fünf Yin-Organe (Herz, Leber, Lunge, Nieren und Milz) seine ihm gemäßen »Ausmaße« an Essenz/en-Qi behält, kein krankhafter Zustand eintritt. Sowie sich aber die Essenz/en-Qi aller fünf Organe in einem einzelnen ansammeln, entsteht ein Übermaß an Üblem Qi (xie qi 邪氣) und je nach Organ wird eine Emotion in exzessiver Form (tai guo 太過) generiert. Vgl. Huangdi neijing Suwen 7 (23), 364–65. Ma Shi 馬蒔 (1586) kommentiert diese Stelle dahingehend, dass ein Leere-Zustand in einem Yin-Organ die Voraussetzung für die Akkumulation und folgende Stauung von Essenz/en und Qi ist, woraus dann unkontrollierbare Emotionen (zhi 志) erwachsen. Vgl. ibidem.

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machten, erfuhren sie durch Ärzte sorgfältigste Aufmerksamkeit. Wenn sie jedoch nicht weiter auffielen, weil sie die leiblichen Prozesse nicht störten, werden sie in medizinischen Abhandlungen nicht thematisiert. Die zitierte Stelle erscheint durchgängig als impliziter Bezugsrahmen der Beschreibungsmatrizes im 17. Jahrhundert.639 Die Erklärungsmatrix der Emotionen besteht weitestgehend darin, diese als Prozesse anzusehen, die nicht mit einem einzelnen Ort im Menschen, wie in der philosophischen Denktradition640 mit dem Herzen assoziiert sind  ; sie »geschehen« vielmehr an bzw. in mindestens fünf Organen. Gemeint sind die fünf Yin-Organe (Leber, Herz, Lunge, Niere, Milz), die in der westlichen Forschungsliteratur mitunter als Systeme bzw. Funktionskreise oder »Organsysteme«641 bezeichnet werden, weil zu jedem der fünf Yin-Organe immer gleichzeitig auch das entsprechende Yang-Organ mitgedacht werden muss  : Zur Leber gehört die Gallenblase, zum Herzen der Dünndarm, zur Lunge der Dickdarm, zur Niere die Harnblase und zur Milz der Magen. In Bezug auf das Emotionsgeschehen ist die medizinische Aufmerksamkeit auf die fünf inneren Organsysteme gerichtet. Sie korrelieren jeweils mit einer Phase von insgesamt fünf Wandlungsphasen (wuxing 五行)642. Die fünf Phasen erscheinen in vielfältigen Verhältnissen zueinander in Beziehung gesetzt, wovon zwei in der medizinischen Praxis am häufigsten zur Anwendung gelangen, die der Hervorbringung (sheng 生) und die der Überwindung (ke 克)  : Im Hervorbringungszyklus bringt Wasser Holz hervor (Bewässerung lässt Bäume entstehen)  ; Holz bringt Feuer hervor  ; Feuer bringt Erde (Asche) hervor  ; Erde bringt Metalle (Erz) hervor  ; Metalle bringen Wasser (beim Erhitzen entsteht Dampf ) hervor.

639 Vgl. etwa Zhang Jiebin, Jingyue quanshu [Vorwort 1593, gedr. 1624], juan 15, vol. 1, 276b–277a, wo dieser eine explizite Einordnung der wu zhi 五志 (Fünf Gefühle) in das Gefüge leiblicher Prozesse vornimmt  ; sowie derselbe in Leijing, juan 2, 83. Vgl. auch Chen Shiduo, Waijing weiyan, juan 6, CQS, 40–41. 640 Vgl. hierzu McGrath 1995  ; Linck 1996  ; Enzinger 1997  ; Im 1997. 641 So bei Porkert 1973. 642 Dieses pentagonische Paradigma ist ansatzweise bereits im Hongfan 洪範-Kapitel des Shujing 書經 V, 4/5 (4. Jh. v. Chr.) bzw. in späteren Interpretationen des Hongfan belegt. Siehe hierzu Chen Mengjia 1938, 35–37, Yin Nangen 1993, 4–9. Ab der Han-Zeit (-206 bis +220) bildet dieses pentagonische Konzept zusammen mit dem binären der Yin-yang-Polarität die Grundlage medizinischer Theorien. Die Systematisierung des Fünf-Wandlungsphasen-Paradigmas wird dem Hofastronomen bzw. -wahrsager Zou Yan 騶衍 (340–260 v. Chr.) zugeschrieben. Siehe hierzu Sivin 1995, IV, 1–33.

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Im Überwindungszyklus überwindet Wasser Feuer  ; Feuer überwindet Metall, Metall (Messer) überwindet Holz  ; Holz (z. B. Spaten) überwindet Erde  ; Erde überwindet Wasser (z. B. Deich). Aus diesen zyklischen Abfolgeschemata lassen sich, wenn wir deren Korrelation mit den fünf inneren (Yin)-Organen beachten, komplexe innerleibliche Prozesse deuten und in der Folge auch beeinflussen  : Die Leber ist mit dem Holz (Frühling) assoziiert  ; das Herz mit dem Feuer (Hochsommer)  ; die Milz mit der Erde (Sommer)  ; die Lunge mit dem Metall (Herbst)  ; die Nieren mit dem Wasser (Winter). Die diesen Yin-Organsystemen entsprechenden Yang-Organsysteme sind  : (Leber) – Gallenblase  ; (Herz) – Dünndarm  ; (Milz) – Magen  ; (Lunge) – Dickdarm  ; (Nieren) – Harnblase. Die Yin-Organsysteme insgesamt spielen die Hauptrolle für die Emotionsprozesse, weshalb die mit ihnen korrelierenden Yang-Organsysteme nur zweitrangig für die Emotionsgenerierung sind, und zwar in ihrer Verbindung mit den Organsystemen. D. h. etwa im Falle des (Yang-Organ-)Magens, dass das Denken bzw. Grübeln (Emotionsgeschehen) nicht im Vordergrund des Interesses steht, sondern nur in seinem »Verhältnis« zum (Yin-Organ-)Milz, wo sich das Denken bzw. Grübeln abspielt.643 Im Rahmen der Fünf-Wandlungsphasen-Lehre kommt den »fünf« Emotionen folgende Stellung zu  : Wuxing 五 行

Yin-Organ

Yang-Organ

Emotionen

wushen五神

Holz

Leber

Gallenblase

Zorn 怒

hun 魂

Feuer

Herz

Dünndarm

Freude 喜

shen 神

Erde

Milz

Magen

Denken 思

yi 意

Metall

Lunge

Dickdarm

Trauer 悲

po 魄

Wasser

Niere

Harnblase

Angst 恐

zhi 志

Ein expliziter Verweis auf die qiqing 七情 (»Sieben Emotionen«) findet sich erst bei Chen Yan 陳言 (fl. 1161–1174).644 Doch in medizinischen Texten ist weiterhin vielfach die Rede von fünf Emotionen  ; wenn in spätkaiserzeit643 Als Ausnahme ist die Gallenblase (als Yang-Organ) zu nennen  : Sie wurde häufig mit Mut (bzw. Schüchternheit) assoziiert. An dieser Stelle sei angemerkt, dass die genaue Zuordnung und auch die Anzahl der Emotionen (fünf bzw. sieben) weder in den frühen noch in den späteren bzw. spätkaiserzeitlichen Texten durchgängig übereinstimmen. Somit sind die hier ausgeführten Skizzen als vereinfachende Systematisierungen zu begreifen. 644 Chen Yan [1174], 1983, 92. Siehe hierzu Qiao Mingqi/Han Xiuzhen 1997  ; Wang Fengli 2001  ; zu Chen Yan siehe Unschuld 1980, 136–137.

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lichen medizinischen Texten von sieben Emotionen die Rede ist, so stimmen sie selten in der Zuordnung überein. Selbst in neuesten Schriften findet man unterschiedliche Zuordnungen der beiden zusätzlichen Emotionen (Schrecken und Kummer).645 Häufig wird dem Herzen zusätzlich zu »Freude« der »Schrecken« (jing 驚) zugeordnet und der Lunge zusätzlich zu »Trauer« der »Kummer«. Mitunter betont man, dass der Schrecken nicht dem Herzen, sondern der Herzhülle zuzuordnen sei, und dann wieder erscheint der Schrecken als der Gallenblase zugeordnet. Auch die Trauer wird der Herzhülle zugeordnet.646 In der chinesischen Medizingeschichte wie in Lehrbüchern zur TCM (Traditionelle Chinesische Medizin) werden die sieben Emotionen (»qiqing«七情) als Freude (xi 喜), Zorn (nu 怒), Trauer (bei 悲), Nachdenklichkeit/Grübelei (si 思), Angst (kong 恐), Kummer (you 憂), Schrecken (jing 驚) angeführt. Die Darstellungen sind aber weder in den Huangdi neijing Schriften noch in späteren Schriften konsistent. Wir finden unterschiedliche Zuordnungen unterschiedlicher Emotionen.647 Wenn diese frühen Schriften eine übergeordnete Kategorisierung von Gefühlen enthalten, so sind sie mit der Zahl »fünf« verbunden, als »Fünf Verdichtungen« (wu bing 五并).648 Chen Shiduos strikte Umsetzung des Fünf-Wandlungsphasen-Paradigmas (wuxing 五行) in Ätiologie und Nosographie gilt auch für die Emotionen. Dieses ist implizit hergeleitet aus der oben zitierten Passage im Huangdi neijing Suwen, in der die Emotionen als die »Fünf Verdichtungen« (wu bing 五并) von Essenz-Qi (jingqi 精氣) in den fünf Yin-Organen (Herz, Lunge, Leber, Milz und Niere) erklärt sind  : Diese Definition erscheint als fundamentaler Erklärungsrahmen, der wie eine Matrix alle emotionsrelevanten Zustände bestimmt. Wenn Chen ab und zu den Terminus »qiqing« gebraucht, so meint er damit offensichtlich generell die Emotionen. Der Problematik der Zuordnung von »sieben« Emotionen zu den fünf Zang-Organen scheint Chen keine besondere Beachtung geschenkt zu haben. 645 So wird der Schrecken mitunter den Nieren zugeordnet (z. B. Zhang Hude et al. 2001, 17), häufiger dem Herzen (z. B. So bei Chen Yan 1983 [1174], 52. 646 Ebenfalls bei Chen Yan 1983 [1174]. 647 Mitunter ist auch nur von drei Emotionen (chuti 怵惕 (Angst), silü 思虑 (Grübeln), bei’ai 悲 哀(Trauer), kongju 恐惧 (Furcht) und 喜乐 (Freude) die Rede. Siehe Lingshu 2 (8), 177–178  ; siehe auch HDNJ Suwen 17 (62), 110–115. Manchmal erscheint Trauer oder Kummer (anstatt von Zorn und Ärger) der Leber zugeordnet. Siehe Suwen 7 (23)  : 364. Siehe hierzu Messner 2000, 163–171, Zhang/Wang 2001, 15–17  ; Zhang 1998. 648 HDNJ Suwen 7 (23), 364.

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Wenn der Begriff Qi in seinen frühesten medizinisch konnotierten Verwendungsweisen schlicht als »Fließgeschehen« übersetzbar ist,649 dann lässt sich unschwer erklären, warum eine Akkumulation von Qi auf eine Unterbrechung, ein Einhalten des Fließgeschehens und damit auf eine Krise bzw. einen pathologischen Vorgang verweist. Am Beispiel der Depression (yiyu 抑鬱) bzw. der Niedergedrückt-Krankheit (yiyu zhi bing 抑鬱之病) sei abschließend das Konzept des Fließgeschehens illustriert. Die Depression figuriert vielleicht als gewichtigste Zustandsweise einer Qi-Akkumulation, zumal sie nicht auf ein einzelnes Yin-Organ beschränkt sein muss, sondern als gesamtleiblicher Zustand ausgemacht wird. Das Element yu 鬱 deutet auf Stauung, Stockung, weshalb auch die Rede ist von Kälte-Stau (hanyu 寒鬱) oder von Hitze-Stau (reyu 熱鬱), aber gleichermaßen auch von Zorn-Stau (nuyu 怒鬱) in der Leber.650 Das heißt, dass auch die Depression als Stockung (von Qi) begriffen wird. Abgleichung (tiao 調) und Harmonie (he 和)  : Die Logik der Mitte Der während der späteren Kaiserzeit verbindliche Verhaltenskodex651 verlangte unablässiges Lernen sowie die penible Befolgung der Riten (li 禮), um den Prinzipien des Himmels (tian li 天理) zu entsprechen. Die neuere Forschungsliteratur sucht die neokonfuzianische Spielart der Ethik zur Ming- und Qingzeit (d. h. 14. bis 19. Jh.) mit dem Begriff lijiao 禮教 (Ritual und Lehre) zu fassen, um den buddhistischen und daoistischen Einflüssen auf die konfuzianisch begründeten Vorgaben gerecht zu werden. Der Terminus lijiao verweist auf eine institutionell und rituell begründete »sozioreligiöse Ethik«.652 Sie fungierte als kulturelle Norm, die sowohl in Schul- und Lehrbüchern als auch in Schriften, wie sie vermehrt während der späteren Kaiserzeit von religiösen Gesellschaften verbreitet wurden, festgehalten war.653 Wir haben bereits gesehen, von welcher Bedeutung die Ruhe (jing 靜) sowie die respektvolle Haltung (jing 敬) für den Lernenden auf seinem Weg zur Vervollkommnung war. Der Zustand der Ruhe und Ausgeglichenheit gehörte wesentlich zum Inventar der Bestimmung von xing 性, dem menschlichen Wesen (in seiner Idealform). Zhu Xi verwendet die 649 Siehe hierzu Pfister 2003. 650 Siehe etwa Bianzheng lu, juan 2, CQS, 723. 651 Gemeint ist die Songxue bzw. Daoxue, die auf die südliche Song-Zeit (1127–1279) zurückgeht, im Westen als Neokonfuzianismus bekannt. 652 Vgl. Kwang-ching Liu und Richard Shek 2004, 4–6. 653 Siehe hierzu Liu/Shek 2004.

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Metapher vom Wasser. Aber anders als Mengzi 孟子 (Menzius, ca. –372 bis –289),654 der die Menschen von Natur aus (xing 性) als gut ansieht, und zwar auf diesselbe Weise, wie das Wasser immer nur nach unten fließe, vergleicht Zhu Xi die Natur des Menschen mit stillem Wasser. Das stille Wasser verwandle sich jedoch in fließendes Wasser, sobald Emotionen (qing 情) ins Spiel kommen. Wenn gar Begierden (yu 欲) entfaltet seien, verwandele sich das stille Wasser, also die Natur des Menschen, in einen reißenden Strom. Die Begierden und Lüste sind in dieser Lesart eine Steigerung der Emotionen, wobei aber weder Emotion noch Begierde als dem Menschen qualitativ fremdes Element erscheint, selbst dann nicht, wenn der Zustand des Wassers in seiner Bewegung bzw. Bewegtheit bedrohliche Formen annimmt. Das bedrohliche Potential der Emotionen, insbesondere der Begierden, liegt darin, dass sie den Menschen aus seinem – gleichermaßen natürlichen und anzustrebenden – Zustand der Ruhe herauskatapultieren können und damit die angestrebte Einheit mit dem Weg (dao) und die Übereinstimmung mit dem moralischen Prinzip (li) erheblich erschweren, wenn nicht gar vereiteln können. Die Suche nach Vervollkommnung impliziert in dieser Lesart somit die Meidung jeglicher Emotionsregungen. Als gedankliche Grundlage fungierte denn auch die Stelle im Zhongyong 中庸, in dem das »Einhalten der Mitte« propagiert wird  : »Bevor Freude, Zorn, Kummer und Heiterkeit sich entfalten (wei fa 未發), spricht man von der Mitte (zhong 中). Wenn sie [die Emotionen] bereits entfaltet (fa 發) und alle entsprechend [rechtem] Maß und Ausmaß [gerichtet] sind (zhongjie 中節), dann spricht man von Harmonie (he 和). Die Mitte (zhong 中) ist das große Fundament der Welt, und Harmonie ist ihr universeller Weg. Wenn die Mitte und die Harmonie bis zum höchsten Grad verwirklicht sind, dann haben Himmel und Erde ihre Ordnung, und alle Dinge werden gedeihen.«655

Emotionen gehören zwar zum Wesen des Menschen. Doch sollten sie entweder nicht zur Entfaltung bzw. zum Ausbruch kommen oder in einen möglichst ausgeglichenen Rhythmus gebracht werden. Damit sind alle Prozesse außer654 Die folgenden Ausführungen basieren wesentlich auf den Studien von Wong 1969, 288– 308  ; Zhang 1995, 470–522  ; Yu 1997, 53–109  ; Huang 2001, 20–29. 655 Im Original heißt es  : 喜怒哀樂之未發,謂之中;發而皆中節,謂之和。中也者,天下之 大本也;和也者,天下之達道也。致中和,天地位焉,万物育焉. Vgl. Zhu Xi, Z ­ hong ­yong zhangju, in Sishu zhongju jizhu, 18  ; Übersetzung in Chan 1963, 98.

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halb der Mitte (zhong) bzw. harmonischer Abgleichung (he) widersinnig bzw. widerläufig. In medizinischer Lesung ist die Rede von widerläufigen Fließ-Prozessen (ni 逆) des Qi. Wir können von einem Widerstreit zweier Sphären innerhalb der neokonfuzianischen Ethik ausgehen  :656 der Sphäre oberhalb des Gestalthaften (xing er shang 形而上) und der Sphäre im Gestalthaften (xing er xia 形而下). In der Sphäre oberhalb des Gestalthaften sind angesiedelt  : der Himmel (tian 天), die Natur (xing 性), das Prinzip (li 理) und die Stille (jing 靜). In der unteren Sphäre des Gestalthaften finden sich Bewegung (dong 動), Qi 氣 und die Emotionen (qing 情). Wesentlichen Anteil an dieser Bifurkation hatte die Diskussion um die Stellung des Prinzips bzw. Ordnungsprinzips (li 理) in Relation zu Qi  : Qi konnte als der alles durchflutende »Äther« verstanden werden und li als die Struktur, die man in den Dingen vermittels gewu (Erreichen der Dinge durch beständiges Lernen) zu erforschen hatte, um dadurch das Schicksal begreifen zu lernen und die Vervollkommnung zu erlangen.657 Qi konnte aber auch als dem Prinzip (li) nachgeordnete »Materie« angesehen werden, womit li die Art von Verabsolutierung erfährt, die es in eine dualistische Position zur Erfahrungs-Ebene setzen könnte. Doch bereits bei Zhu Xi ist, unter Bezug auf die »Große Lehre« (Daxue 大學)658, die Rede davon, dass das, was oberhalb der Gestaltebene liegt (u. a. li), allein durch die Erforschung dessen, was auf der Gestaltebene liegt (u. a. Qi), ergründet werden kann.659 Es sind nicht zuletzt solch synthetisierende Ansätze neokonfuzianischer Prägung, die die Diskussionen um den Wert und Unwert der Begierden für die Erlangung der Vervollkommnung im späten 16. Jahrhundert anheizten  : Die Begierden sollten, als Steigerungsform der Emotionen und dem Bereich der konkret erfahrbaren Phänomene angehörig, (experimentell) ergründet werden, um auf diesem Wege die Einheit mit dem Ordnungsprinzip erreichen zu können. Der Zelebrierung von yu (Begierden) und qing (Emotionen) während dieser Zeit aber war gleichzeitig eine hochgradige Ambivalenz zu eigen660. Denn 656 Hierbei folge ich Metzger 1977, 82–85. 657 Dies geht auf eine Stelle im Yijing 易經 zurück. Siehe hierzu Bauer 2001, 257. 658 Dabei handelt es sich, ebenso wie beim Zhongyong 中庸 (Innehalten der Mitte) um ein Kapitel aus dem Liji 禮記 (Aufzeichnungen der Riten). 659 Siehe hierzu Bauer 2001, 271. 660 Dies gehört in den Kontext dualistischen Tendenzen in der späten Kaiserzeit. Vgl. hierzu Linck 2001.

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obgleich schon Wang Yangming 王陽明 (1472–1528) und später Feng Menglong 馮夢龍 (1574–1646), der Verfasser des Qingshi 情史 (Geschichte/n der Emotionen, der Liebe)661, ihre Argumente für die Neubewertung von qing (Emotionen, Liebe) vorbrachten, blieben sie doch ambivalent, auch wenn sie qing nicht grundsätzlich im Sinne einer Störung verstanden, sondern im Gegenteil als Eigenschaft, die wahre Menschlichkeit auszeichne und die damit als Grundlage der Vervollkommnung angesehen werden müsse. Doch gerade die wortgewaltigsten Literaten, die sich für die Legitimierung des Begehrens (yu 欲) einsetzten, führten gleichzeitig die drohende Gefahr von Geschlechtskrankheiten (lin 淋662 oder yangmei chuang 楊梅瘡663) ins Feld, die seit dem späten 15. Jahrhundert in epidemischen Ausmaßen grassier­ ten.664 Die zahlreichen Hinweise auf Gefahren, die zu viel Gefühl bzw. zu viel leidenschaftlicher Einsatz und zu viel Hingabe mit sich brachten, sind in gewissem Sinne als Zurücknahme der Zelebrierung der Gefühle als Fundament der Menschlichkeit zu lesen. So solle auch zwischen jenen unterschieden werden, die Maß halten können, und jenen, die nicht die Mitte (das Maß) halten können.665 Diese Verweise beschränken sich überdies nicht auf Geschlechtskrankheiten und frühzeitige Auszehrung und Tod durch exzessiven Geschlechtsverkehr. Die Warnungen gelten auch für sonstige emotional begründete Handlungen, die letztendlich den Tod bringen konnten.666 Diese Warnungen lassen sich als Spuren hochgradiger Ambivalenz in der Argumentation lesen. Doch worauf beruht diese Ambivalenz  ? Sind es – auch schon angedeutete – Reminiszenzen an konventionelle ethische Verhaltens­ 661 Im westlichen Kontext häufig als »Anatomy of Love« wiedergegeben. Siehe beispielsweise Santangelo 1994, 168. 662 Wörtlich »tröpfelnd, triefend«. Dieser Krankheit ist im Bianzheng lu ein ganzer Abschnitt gewidmet. Vgl. Bianzheng lu, juan 8, CQS, 888–891. Geschildert werden u. a. Schwierigkeiten und Schmerzen beim Wasserlassen, die mit Feuer in der Harnblase erklärt werden und u. a. auf zu häufigen Geschlechtsverkehr zurückgeführt werden. 663 Wörtlich  : »Erdbeer-Geschwür« für Syphilis. Vgl. Bianzheng lu, juan 13, CQS, 989–991. Hier ist der Zusammenhang der Ansteckung durch Prostituierte (piaozhe 嫖者) deutlich hergestellt. Die Rede ist auch von Giftschwellungen, die da wachsen würden, wo der Gedanke nicht hinreicht. Im Original heißt es  : 一無名腫毒,生於思慮不到之處. Vgl. Bianzheng lu, juan 13, CQS, 984. 664 Siehe hierzu Berg 2002, 109. 665 Im Original heißt es  : 亦分之於能節與不能節耳. Vgl. Bianzheng lu, juan 8, CQS, 872. 666 Eine Analyse der zahlreichen literarischen Werke aus dem späteren 16. Jahrhundert, die sich in ähnlich ambivalenter Weise der »Befreiung« des Begehrens aus den Fesseln moralischer Konventionen widmeten, liefert Huang 2001, 5–22  ; vgl. auch Pi-ching Hsu 2000, 40–77.

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kodizes, die auszuhebeln die imaginative Kraft fehlte, zumal die sozialen Beziehungen nach wie vor patrilinear ausgerichtet waren und die rituell bestimmten Lebensrhythmen keineswegs ad acta gelegt wurden  ? M. E. sind hier andere Logiken am Werk, wozu wesentlich die der Vernunft im Gewande leiblicher Ökonomie667 gehört. Hier wäre auch die Nahtstelle zwischen Medizin und Ethik angesiedelt  : Das Ordnungsprinzip (li 理) ist hier nämlich im menschlichen Körper (shen 身) zugegen, der in dieser Lesung nichts anderes ist als das Selbst (shen 身). Außer­ dem haben wir bereits gesehen, in welchem Ausmaß die Neu-Bewertung der Mitte in der medizinischen Ideosphäre des frühen 17. Jahrhunderts auf der ethisch-philosophischen Grundlage des oben zitierten konfuzianischen Klassikers Zhongyong (Einhalten der Mitte) aufbaute. Wir haben auch angesprochen, wie sich hierbei die soziale und politische Logik neu in die leibliche eingeschrieben hat. So handelt es sich bei der Logik der leiblichen Ökonomie letztendlich wieder um eine der (politischen) Vernunft, ohne dass sie sich gänzlich darauf reduzieren ließe. Die Bifurkation der menschlichen Lebenswelt (innen wie außen) in die Sphären von li und Qi bildete die Grundlage für die Zelebrierung von yu (Begierden) im 16. und 17. Jahrhundert. Das Ausleben der Begierden wurde zum Experimentierfeld zur Ergründung der Prinzipien. Sie ist aber gleichzeitig die Grundlage für damit einhergehende Ängste. Ängste vor Krankheit und vorzeitigem Tod bringen notwendig die medizinische Ideosphäre ins Spiel, deren Logiken inmitten ihrer absentia zu einer letztbegründenden Instanz werden. Die medizinische Ideosphäre in absentia war nämlich vermittels der Ängste doch durchgängig in praesentia, wenn es um die Zelebrierung der Begierden ging. Dementsprechend führt diese Verknüpfung zu einer Autorität der Medizin, wie sie zuvor so nicht existierte. Von den Facetten, in denen sich das Begehren zeigen konnte, war die sexuelle Lust diejenige, die – vielleicht neben Alkoholmissbrauch – die deutlichsten Spuren im medizinischen Feld hinterließ, war doch die Ansteckungsgefahr durch Syphilis (yangmei chuang 楊梅瘡)668 sowie andere Geschwüre (lin 淋), die sich Menschen im Zusammenhang mit unhygienischen Verhältnissen zuziehen konnten, zu dieser Zeit äußerst virulent. Die enge Verknüpfung des medizinischen Feldes mit der ästhetischen Ideo­ sphäre wird uns zum Schluss dieser Arbeit im Zusammenhang mit der Positio­ 667 Zu dieser Begrifflichkeit siehe Schmitz 1990. 668 Vgl. etwa Bianzheng lu, juan 13, CQS, 989.

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nierung der feurigsten Vertreter des Kultes der Emotionen im sozialen Feld noch einmal beschäftigen. Doch zunächst seien die Texte von Chen Shiduo und deren dichten Beschreibungen von Gefühlslagen und -zuständen fokussiert. Dabei kommen insbesondere Auszüge aus dem Bianzheng lu, dem Bianzheng qiwen und dem Shishi milu zum Tragen.

Zorn  : Kartographie und Gestalten

Im Folgenden sind zunächst die grundlegenden Manifestationen von Zorn angeführt. Daran anschließend zeigen sechs Unterabschnitte, wie Chen Shiduo in kartographischer Hinsicht und in der Darstellung von Gestalten sorgfältig differenziert. Schließlich wird der medizinischen Funktionalisierung von Zorn und dem Zusammenhang zwischen Zorn und dem Konzept der Mitte nachzugehen sein. Grundlegende Manifestationen Zorn ist zu sehen als Gestalt/en bzw. als Qi-Form/en, die nicht gleichmäßig sind (氣不平) und die vorzugsweise in der Leber (Leber = Holz, Holz kann entfacht werden) stattfinden. Doch können diese Qi-Gestalten auch auf die anderen Organsysteme übergreifen – insbesondere auf das Herz, dessen Feuer-Konstitution durch das Feuer des Zorns noch mehr angeheizt werden kann. Die Leber ist das einzige Yin-Organ, dessen Qi von Natur aus nach oben steigt  ; ihr Qi ist yang. Damit hat der Zorn auflösende, ja Bewegung anstoßende Funktion und kann Qi-Stau wie schwerste Depressionen (yubing 鬱病) und Kummer (youchou 憂愁) von deren Stauung befreien.669 Selbst bei epileptischen Anfällen, wobei Schleim-Stau im Herzen vorherrscht, könne Zorn heilsam wirken.670 Zorn wird zumeist mit der Leber in Verbindung gebracht  : »Die Leber ist von ihrem Wesen her [das von allen Organen] reizbarste [Organ]. Herrscht Zorn, dann wird ihr Qi uneben bzw. ungleichmäßig.«671 Aber es wird sich zeigen, dass Zorn auch in anderen Organzusammenhängen auftaucht. 669 Vgl. etwa Bianzheng lu, juan 4, CQS, 774 und ibidem, 782. 670 Weil der Zorn, wenn er beim Kranken provoziert worden ist, das Leber-Milz-Feuer in Aufruhr bringt und dieses dann Herz-Feuer hervorbringt, wodurch sich der Schleim in den Herzhöhlen lösen kann. Vgl. Shishi milu, juan 5, CQS, 381. 671 Im Original heißt es  : 肝性最急, 怒則其氣不平. Vgl. Bianzheng lu, juan 2, CQS, 739.

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Der Zorn erscheint in Chen Shiduos Texten in unterschiedlichen Facetten und Gestalten  : großer Zorn (danu 大怒), rasender Zorn (baonu 暴怒), extremer Zorn (nu ji 怒极)672, Zorn, der abrupt hervorbricht673, Zorn, der notgedrungen entsteht, wenn den Vorstellungen eines Menschen zuwider gehandelt wird674, gestauter Zorn, der sich nicht gelöst hat bzw. nicht gelöst wurde675, Zorn, der nicht durch bestimmte Arzneimittel vergrößert werden soll676, Zorn, der nicht zum Ausdruck gebracht werden darf bzw. sich nicht zu entfalten wagt und dementsprechend zu chronischen Schmerzen im oberen Brustkorb führt677, plötzlich ausbrechender Zorn bei starkem Impuls zu Widerspruch und Auflehnung,678 Ärger und Entrüstung (naonu 惱怒)679 bei gleichzeitiger Begierde und Lust nach sexueller Vereinigung.680 Zorn ist integraler Prozess bzw. Bestandteil allgemeinen Kräfteverfalls (weizheng 痿證), was sich in Gliederschmerzen und dergleichen zeigt.681 Überdies kann Zorn auch die unmittelbare Ursache für Fieber bei einer Frau682 sein. Ärger und Entrüstung (naonu 惱怒) sind Vorstufen von Zorn (nu 怒) und verursachen Taubheit an den Zeige- und Mittelfingern sowie Lähmungserscheinungen an beiden Armen und ein Ziehen unterhalb der Zunge.683 Wenn sich Eltern bei ihrem (erwachsenen) Kind einnisten, obgleich dieses selbst arm ist, so stelle sich bei diesem Kind Ärger und Entrüstung (naonu 惱怒) ein.684 Diese sozial generierten »Gestalten« des Zorns sind nicht immer von den mehr oder weniger ausführlichen Beschreibungen der medizinischen Erklärungsmuster zu trennen. Wenn die medizinischen Texte die Emotionen im 672 Vgl. Bianzheng lu, juan 1, CQS, 720. 673 Im Original heißt es  : 一時怒氣相激. Vgl. Bianzheng lu, juan 2, CQS, 730. 674 Im Original heißt es  : 佛其意必怒. Vgl. Bianzheng lu, juan 1, CQS, 704. 675 Im Original heißt es  : 鬱怒未解. Vgl. Bianzheng lu, juan 2, CQS, 723. 676 Im Original heißt es  : 増其怒. Vgl. Bianzheng lu, juan 2, CQS, 729. Chen Shiduo spricht an dieser Stelle kalte Arzneimittel an, die, würde man sie in der spezifischen Situation von »Leere-Feuer« einsetzen, den Zorn vergrößern würden, zumal sie das Leber-Holz »stimulierten«. 677 Im Original heißt es  : 欲怒而不敢. Vgl. Bianzheng lu, juan 2, CQS, 737. 678 Im Original heißt es  : 人有橫逆.Vgl. Bianzheng lu, juan 2, CQS, 738. 橫逆 findet sich in frühen Werken (beispielsweise bei Mengzi 離婁下) in der Bedeutung von »nicht gemäß den Prinzipien handelnd« (Vgl.: HYCD  ; 4, 1247). 679 Vgl. Bianzheng lu, juan 2, CQS, 739. 680 Im Original heißt es  : 人有貪色房勞, 又兼惱怒. Vgl. Bianzheng lu, juan 2, CQS, 739. 681 Vgl. Bianzheng lu, juan 6, CQS, 838. 682 Im Original heißt es  : 婦人有因怒發熱. Vgl. Bianzheng lu, juan 3, CQS, 756. 683 Vgl. Bianzheng lu, juan 3, CQS, 752. 684 Vgl. Bianzheng lu, juan 3, CQS, 751. Auf solch eindeutig transgressive Ansätze in Chens Texten kommen wir noch zu sprechen.

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Allgemeinen in ihren pathologischen Formen und Auswirkungen fokussieren, bedeutet dies jedoch nicht, dass Emotionen per se als pathologische Prozesse gelten. In der folgenden Passage erscheint die Emotions-Manifestion Zorn neben mehreren anderen Zuständen, die nicht unbedingt als Emotionen eingruppiert werden müssen, als Ursache von Qi- bzw. Blut-Stau  : »Jemand leidet sehr lange Zeit unter Dysenterie, Tag und Nacht wird er mehrere Dutzend Mal vom Durchfall heimgesucht. Der Durchfall gleicht klarem Nasenschleim, worin sich purpurrote Blutspuren befinden, der Appetit wird immer weniger, der Puls ist tief versunken, einem dünnen Faden gleich und schnell. Die Leute glauben, es handele sich hierbei um Feuchtigkeit-Hitze-Gift, das sich nicht aufgelöst hat. Wer weiß schon, dass es eine Blutstauung ist, die sich nicht aufgelöst hat. [So gehen sie davon aus, dass] Dysenterie sich in Feuchtigkeits-Hitze herausbildet. Sie haben nie davon gehört, dass sie sich aus Blutstauung entwickelt. Sie wissen nicht, dass das Blut gerne fließt, und dass es sich, wenn es nicht fließt, in Blutstockung wandelt. Die Blutstockung entsteht aus inneren und äußeren Verletzungen. Will man, dass sie sich nicht in Dysenterie wandelt, so wird dies schwer [zu bewerkstelligen sein]. Die gewöhnlichen Leute wissen nicht um die Ursachen für Blutstauung, so will ich ein, zwei Worte dazu sagen  : [Blut staut], wenn man nach einem reichlichen Mahl noch schnell [irgendwohin] laufen muss, oder wenn man nach zu viel Weingenuss sehr laut wird und schreit. [Blut staut auch], wenn man Verletzungen durch Schläge erleidet und [die Schmerzen aushält ohne zu jammern] oder wenn man hinfällt und sich hart anstößt [und die Schmerzen aushält ohne zu jammern], oder wenn das Qi bei großem Zorn nicht entweichen kann, oder wenn bei einer Depression der Trübsinn (chou 愁) sich nicht auflösen kann oder wenn beim Essen zu viel Geröstetes dabei ist oder wenn man ungerechtfertigt harte Kritik erteilt bekommt. Dies alles kann zu Blutstockung und dann zu Dysenterie führen.«685

Zorn, dessen Qi nicht entweichen kann, steht hier wie die Depression, deren Trübsinn sich nicht auflösen kann, neben zu viel Alkoholgenuss, zu viel gerös­ teten Speisen, plötzlichem Aufbruch nach dem Essen sowie Schockerlebnis685 Im Original heißt es  : 人有痢久不止,日夜数十行,下如清涕,内有紫黑血丝,食 渐减 少,脉沉细弦促,人以為濕熱之毒未除,誰知是瘀血未散乎。夫痢成於濕熱,未聞痢 成於瘀血也。不知血喜流行,若不流行且化瘀矣。況因內外之傷以成瘀,欲其不化為 痢難矣。世人不知成瘀之故,試舉其一二言之:如飽食之後復加疾走,或飲酒之餘更多 叫號,或毆傷忍,或跌磕耐疼,或大怒而氣無可泄,或遇鬱而愁無可解,或餐燔炙之太 多,或受訶責之非分,皆能致瘀而成痢也. Vgl. Bianzheng lu, juan 7, CQS, 836.

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sen bei ungerechter Anschuldigung und dergleichen als Ursache für gestautes Blut. Der Autor benennt sie als teils äußere, teils innere Verletzungen – und er macht keinerlei qualitative Unterscheidung  : ob von außen oder von innen, ob äußere mechanische Einwirkung oder äußere verbale Einwirkung, ob Zorn oder Depression, ob zu viel Alkohol oder zu viel Essen, ob zu viel Schmerz durch Schläge oder zu viel Entrüstung durch Ungerechtigkeit – entscheidend ist, dass der Fluss des Blutes unterbrochen wird. Dergestalt ist Zorn  : Wenn er nicht (nach oben) entweichen kann, staut er sich, und es entsteht Krankheit. Dergestalt ist Depression  : Wenn die trüben Gedanken nicht aufgelöst werden, entsteht Krankheit. Dergestalt ist zu viel Alkohol  : Wenn noch mehr hinzu kommt, staut das Blut. Dergestalt ist zu viel Essen  : Wenn noch mehr hinzukommt, staut das Blut. An dieser Stelle erscheinen einige Anmerkungen zu den Übersetzungen vonnöten. Wie bereits angemerkt, handelt es sich bei den Beschreibungen nicht um Fallgeschichten, sondern um eine Zwischenform. Chen Shiduo benennt weder Namen von Patienten noch Ort und Zeit des Geschehens, aber seine Berichte nehmen über weite Strecken hinweg narrativen Charakter an. Er leitet die Berichte über einzelne Krankheiten zumeist mit »Jemand leidet unter …« ein. Unschwer ließe sich übersetzen  : »Jemand litt unter …«. In dieser Arbeit wird durchgängig der ersteren Version entsprechend übersetzt. Dadurch wird eine »distanzierte« Haltung des Autors suggeriert sowie auch der Aspekt von »tatsächlich Vorgefallenem« nicht beachtet. Auch wenn davon auszugehen ist, dass Chen Shiduo möglicherweise mehr mit dem Verfassen von medizinischen Schriften beschäftigt war als mit dem aktiven Praktizieren als Arzt,686 tut dies der ausgesprochenen Komplexität und Differenziertheit in seinen Texten keinen Abbruch. 686 Aus den in den Kapiteln III und IV dargelegten Befunden lässt sich beides ableiten. Wahrscheinlich liegt die »Wahrheit« irgendwo in der Mitte  : Chen Shiduo hat sich über viele Jahre seines Lebens auf Reisen befunden, auf denen er beständig medizinische Aufzeichnungen vorgenommen hat. Er hat seine Kenntnisse aus dem Studium der medizinischen Literatur sowie auch von Eremiten und bekannten Ärzten seiner Zeit erhalten. Seine Familienangehörigen, Freunde und Nachbarn dürfte er mit medizinischem Rat versorgt haben. Doch seine Hauptaktivitäten dürften in der Abfassung von Texten gelegen haben. Diese Sicht äußerte auch Dong Hanliang 董漢良, der Herausgeber einer Sammlung über Ärzte in der Geschichte von Shaoxing, während unserer gemeinsamen Rundgänge durch die Archive und Bibliotheken von Shaoxing, auf der Suche nach (noch unentdeckten) Spuren von Chen Shiduo, im Winter 2005.

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Differenzierungen  : Zorn als Notwendigkeit Chen beschreibt Zorn in mehreren Zusammenhängen als notwendige emotionale leibliche Reaktion auf äußere Zumutungen. Die Nicht-Äußerung von Zorn wird dagegen als pathologischer Prozess diagnostiziert. Mit dieser Position widerspricht Chen gängigen Morallehren, die eine Unterdrückung von Zorn favorisieren. So findet sich im Beschreibungsrepertoire von Giftschädigungen Zorn als natürliches, notwendiges Agens, das, wenn es sich nicht entflüchtigen kann, erheblichen Schaden anrichtet  : »Beim Verzehr von Hunde- und Rindfleisch leidet [der/die Betroffene] plötzlich unter Herzschmerzen. Er will erbrechen, aber dies ist nicht möglich, es drängt ihn zu Durchfall, aber [auch] dies ist nicht möglich. Dies [sind die Zeichen dafür], dass das Gift in Herz und Magen festsitzt. Es kann nicht nach oben [ausweichen] und auch nicht nach unten. Normalerweise ist es passend, eine das Erbrechen einleitende Behandlungsmethode anzuwenden. Aber es gibt auch Menschen, die trotz Brechreiz nicht erbrechen [können]. [Das Fleisch] von Hund und Rind ist doch gut für den Aufbau von Blut und Essenz, wie kann dies Gift enthalten  ? Dies ist damit zu erklären, dass Hund und Rind, bevor sie sterben [sollen], nicht gesund waren. Außerdem werden sie unmittelbar vor ihrer Schlachtung festgebunden. Dies erregt ihren Zorn [wörtl. Zorn-Qi], und so sitzt Gift [der Krankheit und des Zorns] im Fleisch zwischen Herz und Leber [der Tiere] fest. Die Menschen wissen nichts davon und essen es. Der Ort [zwischen Herz und Leber, an dem das Gift bei den Tieren festsitzt], entspricht genau dem Ort [der Vergiftung beim Menschen]. Dementsprechend entsteht, wenn sie davon essen, die [Vergiftungs-]Krankheit.«687

Der Zorn eines Tieres angesichts erlittenen Unrechts führt beim Tier selbst zu Vergiftungserscheinungen,688 so dass der Mensch beim Verzehr seines Fleisches – und zwar genau an denjenigen Partien, an denen sich der Zorn beim Tier fest687 Im Original heißt es  : 人有食牛犬之肉,一時心痛,吐不能,欲瀉不可,此毒結於心胃, 不升不降也。論理亦宜用吐法,然亦有探吐之不應者。夫牛犬乃資補精血之物,何以有 毒?此必牛、犬抱病將死未死之時,又加束縛以激動其怒氣,毒結於皮肉心肝之間,人 不知而食之,適當其處,故食而成病. Vgl. Bianzheng lu, juan 10, CQS, 934.

688 Es ist für unsere Belange unerheblich, inwieweit diese Vergiftungserscheinungen mit solchen identisch sind, wie sie etwa durch den Verzehr von mit Pilzen infiziertem Bambus, von weißem Arsenik (pishuang 砒) oder durch Alkohol und dergleichen eintreten. Zu diesen diversen Hintergründen und Ursachen für Vergiftungen siehe Bianzheng lu, juan 10, 932–936.

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gesetzt hatte – ebenfalls krank wird. Diese Vorstellung, dass »Gleiches mit Gleichem« korrespondiere, ist als »sympathetische Magie« in der anthropologischen Forschungsliteratur hinlänglich bekannt.689 Gleichermaßen drängt sich das Bild von tollwütigen (kuang 狂) Hunden auf, deren Bisse tödlich sein können.690 Der hier geschilderte Krankheitszustand zeichnet sich dadurch aus, dass er gänzlich durch Zorn induziert wurde. Die Gestalt des Zorns verwandelte sich in eine Vergiftungserscheinung, weil der Zorn – da das Tier starb – sich nicht nach außen verflüchtigen konnte. Hier ist der Gedanke des schädlichen Stauungsprozesses angesprochen, wenn auch am Beispiel des Tieres. Wenn der Zorn, dessen Wesen es ist, dem Feuer gleich nach oben zu »lodern«, im Gegensatz dazu nach unten gedrückt und gestaut wird, entsteht großer Schaden. Die Gestalt des Zorns ist also die in ihrer üblichen Bewegungsrichtung behinderte, sich zwischen Herz und Leber festsetzenden Rage, die sich hier in Gift verwandelt. Zorn entwickelt sich ebenfalls notwendigerweise, wenn diejenigen, deren Ambitionen auf eine konventionelle Beamtenkarriere – ohne eigenes Zutun – vereitelt wurden, ihren Zorn mit allen Mitteln niederhalten wollen und ihm keine Möglichkeit einräumen, sich zu entfalten. Chen Shiduo beobachtet solche Menschen691  : »[Wenn] jemand auf widrige Umstände trifft [wörtlich  : auf Dinge trifft, die seinen Absichten zuwiderlaufen], dann fühlt er sofort [wie sich] seine Brust mit Zorn anfüllt. Kann er den Zorn von selbst nicht loswerden, so hören Ärger und die Entrüstung nicht auf.«692

Zorn und Entrüstung können, wenn sie unterdrückt sind, etwa dazu führen, dass jemand 689 Als Referenz gilt nach wie vor Frazer 1936. 690 Diese Gefahr findet bereits in den Mawangdui-Manuskripten aus dem 2. vorchristlichen Jahrhundert, respektive den medizinischen Texten aus dem Grab No. 3, dem längsten der insgesamt 14 gefundenen Handschriften, die (nachträglich, von chinesischen Forschern) als Wushi er bingfang 五十二病方 (52 Rezepte) benannt worden sind. In Rezept No. 27 und 28 kommen tollwütige Hunde als Ursache von Krankheiten, aber (in zubereiteter Form) auch als Gegenmittel von Krankheiten vor. Vgl. Zhou Yimou und Xiao Zuotao 1988, 77. 691 Grundsätzlich übersetze ich ren人 »neutral« als »Mensch«, womit immer beide Geschlechter gemeint sind. Die Differenzierung »Mann« und »Frau« wird nur dann artikuliert, wenn der Autor ausdrücklich darauf verweist. 692 Im Original heißt es  : 人有少逢拂意之事,便覺怒氣填胸,不能自遣,嗔惱不已. Vgl. Bianzheng lu, juan 10, CQS, 938.

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»an schwerer [wörtl. herunterziehender] Zunge leidet und/oder an Taubheit am Daumen sowie am kleinen Finger, an Taubheit beider Arme oder an Verstopfung oder die Haut ist gerötet. Da glauben die Menschen, es handele sich hierbei um eine Wind-Hitze-Krankheit. Doch wer weiß schon, dass es von Zorn und Entrüstung herrührt. Weil Zorn und Entrüstung unterdrückt wurden, bildet sich diese Krankheit heraus. Die Zungenwurzel gehört zur Magen-Yangming-Erde-Leitbahn. Aber die Leitbahn des Dickdarms verweilt sich ausbreitend unterhalb der Zunge. Wenn die Zunge schwer wird, so liegt dies an der Yangming-Magen- und Dickdarm-Krankheit. So kommt dies aber nicht ohne Grund  : Weil das Leber-Qi nicht ausgestreckt ist [bei unterdrücktem Zorn], überwindet das Holz [Leber] die Erde [Milz]. Folglich herrscht Leere in der Erde, und [der Magen] kann die Nahrung nicht umwandeln. Folglich werden die Netzbahnen in den Armen und Fingern nicht mehr genährt und es kommt zu Lähmungserscheinungen.«693

Zu den Lähmungserscheinungen an Zunge, Armen und Fingern, die vom nicht ausgestreckten Leber-Qi bzw. unterdrückten Zorn herrühren, zählen noch diverse andere Prozesse, die ebenfalls auf unterdrückten Zorn (yunu 鬱 怒) zurückgehen  : »[Wenn] jemand, nachdem er zornig war, viel Schleim ausspuckt und die Brust sich voll anfühlt und schmerzt […], und wenn [keine Arnzeimittel] anschlagen, dann verabreicht man zusätzlich zu andern Arzneien noch die Wind-vertreibende Abkochung, dann führt dies zu halbseitiger Lähmung, und die Sehnen krampfen, die vier Gliedmaßen verkümmern und werden weich. Nach Sonnenuntergang verschlimmert sich die Lage. Innen ist Hitze und der Mund ist trocken. Der ganze Körper (xingti 形體) ist angegriffen und müde. Die Leute denken, dies rühre von ›in die Eingeweide eingedrungenem Wind‹ her. Aber man hat nicht daran gedacht, dass es sich um niedergedrückten Zorn handelt, der nicht aufgelöst wurde, d. h. das Leber-Qi ist nicht gelöst.«694

693 Im Original heißt es  : 人有舌下牽強,手大指, 次指不仁, 兩臂麻木, 或大便閉結, 或皮 膚赤暈,人以為風熱之病也,誰知是惱怒所致,因鬱而成者乎.夫舌本屬陽明胃經之土,而 大腸之脈,散居舌下,舌下牽強,是陽明胃與大腸之病也.然非無因而至,因肝氣不伸,木克 胃,則土虛而不能化食,遂失養臂指經絡之間,而麻木不仁之癥生.Vgl. Bianzheng lu, juan 3,

CQS, 752. 694 Im Original heißt es  : 人有怒後吐痰,胸滿作痛,[…] 杳無一應,更加祛風之味,反致 半身不遂,筋漸攣縮,四肢痿軟,日晡益甚,內熱口乾,形體倦怠,人以為風中於腑也, 誰知是鬱怒未解,肝氣未舒所致。Vgl. Bianzheng lu, juan 2, CQS, 723.

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Abb. 8  : Fuß-Yangming Magen-Leitbahn, Akupunktur-Karte. Aus  : Xu Chunfu 徐春甫 (1520–1596  ?). Gujin yitong daquan 古今醫 統大全, reprint 1991, Bd. 1, juan 6, 383.

Während die Angst – ihrem Wesen nach – nach unten drückt, steigt der Zorn – seinem Wesen nach – nach oben. Misslungene hochtrabende Pläne für die eigene Zukunft können ebenfalls nach unten drücken – so jedenfalls beschreibt Chen Shiduo den Prozess, den Entrüstung und Missmut wegen fehlgeschlagener Vorhaben und Enttäuschungen mit sich bringen  : »Die Leber hat eine reizbare Natur. Deshalb muss die [Behandlungsmethode] am besten dieser Eigenschaft entsprechen, und ihr nicht zuwiderlaufen. Bei Angelegenheiten, die Zorn provozieren, handelt es sich in Wirklichkeit um ein Unterdrückung[sszenario]. Unterdrückung muss zwangsläufig zu Zorn führen. Sehr großer Zorn verletzt notgedrungen die Leber. […] Als Rezept verwende man die Aufkochung, die den Zorn löst [und das Qi] der Leber auffüllt.«695

695 Im Original heißt es  : 夫肝性急,宜順不宜逆,惱怒之事,正拂抑之事也。拂抑必致動怒, 怒極必致傷肝 […] 方用解怒補肝湯. Vgl. Bianzheng lu, juan 10, CQS, 939.

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Zorn führe insbesondere bei Frauen zur Entstehung von Geschwüren unterschiedlicher Form sowie unterschiedlichen Ausmaßes. Angestauter Zorn in Form von Hitze-Gift, der sich bei einer trockenen Leber einstelle, wenn das Feuer nach oben lodere, sei qualitativ nicht zu unterscheiden von Geschwüren, die etwa durch Menschen-Bisse verursacht worden sind, welche ihrerseits ebenfalls durch das Zorn-Qi induziert worden seien. Denn sowohl das Wütend-­­Qi (fennu zhi qi 憤怒之氣) als auch das Hitze-Gift-Qi sei unausgeglichenes Qi (bu ping 不平).696 Angestauter Zorn führe insbesondere bei Frauen zu [Hitze-]Gift.697 So warnt Chen Shiduo schwangere Frauen unmittelbar vor und nach der Geburt vor großem Zorn  : Weil der Zorn das Feuer bewege (nu dong huo 怒動火), müsse er möglichst klein gehalten werden. Denn das Feuer drohe immer, die Säfte und das Yin auszuzehren. Zorn als Folge von Groll Wie differenziert Chen Shiduo die Gestalten des Zorns verfolgt, zeigt sich in den folgenden Passagen, in denen er beschreibt, wie Zorn sich prozesshaft aus Groll entfaltet  : »[Es handelt sich um] Schmerzen an beiden Seiten des Brustkorbs, die das ganze Jahr über und monatelang nicht heilen. Manchmal lassen sie etwas nach, dann kommen sie wieder. Wenn die Krankheit kommt, dann emittiert der Leib (shen 身) Kälte und Hitze, der Patient will nicht trinken und essen. Die Leute denken, dies sei eine Leber-Leitbahn-Krankheit. Obgleich es sich um eine Leber-Leitbahn-Krankheit handelt, wissen sie nichts über die [eigentliche] Ursache. Zumeist liegt die Ursache im grollenden Qi (qi naozhe 氣惱者). Wenn [dieses grollende Qi] niedergehalten und unterdrückt wird, will der Zorn [ausbrechen], aber er wagt es nicht. Es ist eine Form von ungleichmäßigem Qi, das nicht frei fließt. Ist das Leber-Qi gestaut, so ist das Gallenblasen-Qi auch gestaut. Es können keine Entscheidungen im Herzen erwogen werden.698 Im Herzen herrscht [stattdessen] Hitze, außen wandelt sie sich in Kälte. Kälte und Hitze reagieren und ringen miteinander. Deshalb stockt das Blut

696 Vgl. Dongtian aozhi, juan 13, CQS, 1105. 697 Vgl. Wang Kentang, Yangyi, juan 2, 106–107. 698 Die Entscheidungsfähigkeit hängt auch mit Mut und Entschlossenheit zusammen, die mit der Gallenblase assoziiert sind. Eine »große Gallenblase« zeugt von großem Mut, eine kleine von Ängstlichkeit und Schüchternheit.

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der Leber in den beiden Seiten des Brustkorbs, und es schmerzt. […] Als Rezept verwende man Zorn-vertreibende Pillen.«699

Zorn ist hier als Zustand geschildert, der sich aus Groll entwickeln »sollte«, der aber nicht ausbricht und deshalb – in Form von gestautem und ungleichmäßig fließendem Qi – eine Reihe pathologischer Zustände nach sich zieht.700 Wenn sich Groll staut, sich nicht auflöst und sich nicht in Form von Zornausbrüchen entlädt, dann implodiert dieser Stau in anderen Formen und Gestalten des Qi, die pathologischer Natur sind. Dasselbe gilt für Depressionszustände (yubing 鬱病), die insbesondere bei Frauen anzutreffen seien.701 Das durch angestaute bzw. verknotete Gedanken im Herzen gestaute Qi des Rumpfes muss zerstreut werden  : Als vorrangige Möglichkeit hierfür wird die Induktion von Zorn702 angesehen und erst in zweiter Linie die Verabreichung lösender Arzneimittel  : Großer Zorn vermag gestautes Milz-Qi zu lösen.703 Blühendes Leber-Feuer (肝火熾盛) Gestauter Zorn und Zorn als Folgeprozess von Groll können jeweils blühendes Leber-Feuer im Hintergrund bzw. als Ursachenmuster haben. Gleichermaßen ist blühendes Leber-Feuer aber auch als eigene Gestalt des Zorns erkennbar. Bedrücktheit, Groll und Unruhe sind ebenso wenig wie Zorn selbst nur konkomitante Zustände von Hitze, sondern selbst Ausdruck und Folge einer Hitze-­ Krankheit. »Wenn jemand nach großem Zorn am ganzen Körper durch und durch an Schmerzen leidet, Brust und Bauch angeschwollen sind, beide Augen fest verschlossen sind, 699 Im Original heißt es  : 人有兩脅作痛,終年累月而不愈者,或時而少愈,時而作痛,病來 時,身發寒熱,不思飲食,人以為此肝經之病也。然肝經之所以成病,尚未知其故,大 約得之氣惱者為多。因一時拂抑,欲怒而不敢,一種不平之氣,未得暢泄,肝氣鬱而膽 氣亦鬱,不能取決於心中,而心中作熱,外反變寒,寒熱交蒸,則肝經之血停住於兩脅 而作痛矣。[…]方用遣怒丹. Vgl. Bianzheng lu, juan 2, CQS, 737.

700 Vgl. auch die Stelle, wo von tauben Fingern und Armen als Folge gestauten Grolls die Rede ist  : Bianzheng lu, juan 3, CQS, 752. 701 Vgl. Bianzheng lu, juan 4, CQS, 774. 702 Vgl. Bianzheng lu, juan 4, CQS, 774. 703 Die Milz ist als Ort des Denkens bzw. der Gedanken (si 思) mit der Erde assoziiert. Die Erde kann durch Holz (Leber) – etwa in Form eines Holzspatens – überwunden werden. Wenn das Leber-Qi blühend ist (d. h. wenn der Zorn groß ist), dann kann es die Erde überwinden und das Milz-Qi von seiner Stauung befreien.

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gegenläufiges Kälte [-Qi im Umlauf ist], die Fingernägel von blauschwarzer Farbe sind, dann denken die Leute, es handele sich um eine Yin-Krankheit-Kälte-Verletzung. Aber wer weiß schon, dass es sich um eine Feuer-Hitze-Krankheit handelt.«704

Der Zustand großen Zorns rührt in einem anderen Falle nicht von Hitze, sondern von einem Kräfteverfall an der Leber-Leitbahn her – bei ebenfalls starken Schmerzen am ganzen Körper, aber diesmal mit zusätzlichen Symptomen wie Taubheit an den Beinen sowie gänzlicher Appetitlosigkeit bei großem Durst  : »Während des großen Zorns wird das Leber-Qi angegriffen und verletzt. Dementsprechend muss das Leber-Holz trocken werden. Das Feuer im Holz hat nichts, woran es sich festhalten könnte, so muss [zusätzlich das Holz] kommen, um die Milz-Magen-Erde [anzugreifen und] zu überwinden. […]«705

Auch in der folgenden Textpassage ist Zorn als ein explizit nach außen manifestierter Prozess von »blühendem Leber-Holz« beschrieben  : »Eine Frau, die plötzlich verrückt wird, und bar jeden Schamgefühls ist. Beim Anblick von Männern ist sie beglückt und beim Anblick von Frauen erzürnt sie. Zumeist zeigt sie sich splitternackt, ohne sich Gedanken darüber zu machen. Hierbei handelt es sich um extrem ›loderndes Leber-Holz-Feuer‹. Sie sehnt sich nach einem Mann, den sie aber nicht bekommen kann. Das ist der Zustand von ›gestauter Niedergedrücktheit‹ und dies führt zu Irresein. Wie kann das lodernde ›Leber-Feuer‹ zu Irresein führen  ? Es ist nämlich so, dass bei Frauen das Leber-Holz am allerwenigsten lodern soll. Denn dies führt nur zu weiterem Feuer im Holz. Das Feuer zwingt das Herz dazu, zu brennen. Deshalb herrscht im Inneren des Herzens Unruhe und das äußere Verhalten ist mangelhaft.«706

Die offenkundige Manifestation von Zorn sowie von Schamlosigkeit – sich als Frau nackt in der Öffentlichkeit zu zeigen – wird hier als Zustand beschrieben, 704 Im Original heißt es  : 人有大怒之後,周身百節俱疼,胸腹且脹,兩目緊閉,逆冷手指甲 青黑色,人以為陰癥傷寒也。誰知是火熱之病乎. Vgl. Bianzheng lu, juan 6, CQS, 825. 705 Im Original heißt es  : 當其大怒時,損傷肝氣,則肝木必燥,木中之火無以自存,必來克 脾胃之土. Vgl. Bianzheng lu, juan 6, CQS, 838. 706 Im Original heißt es  : 婦人一時發癲,全不識羞,見男子而如怡,遇女子而甚怒,往往有 赤身露體而不顧,此乃肝火熾盛,思男子而不可得,鬱結而成癲也。夫肝火熾盛,何便 成癲  ? 蓋婦女肝木最不宜旺,旺則木中生火,火逼心而焚燒,則心中不安,有外行之失 矣. Vgl. Bianzheng lu, juan 4, CQS, 786.

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der sich notgedrungen einstellt, wenn die Szenarien in den Inneren Organen dementsprechend sind. Diese Beschreibungen berühren eine zentrale Membran der kulturellen Befindlichkeiten zu dieser Zeit  : Die keusche, bis in den Tod treue Ehefrau, die jederzeit bereit ist, ihr Leben für ihren Mann zu lassen, ist in der späteren Kaiserzeit zum Emblem für orthodoxe Pflicht-Erfüllung geworden.707 Die Beobachtungen von Chen Shiduo kreisen um das Bild einer Frau, die sich außerhalb dieser Regeln bewegt. Indem er ihr Leid genauso präzise beschreibt wie andere Leiden auch, befindet er sich auf einer Erklärungsschiene, die – zumindest vordergründig – außerhalb moralischer Vorgaben liegt. Hier zeigt sich die Medizin erneut als Generator regulativer bzw. vermittelnder Diskurse zwischen zwei Fronten  : zwischen den orthodoxen moralischen Standpunkten und der in literarischen Werken zelebrierten Befreiung von dessen Fesseln. Ausgetrocknetes Leber-Blut (gan ganxue 干肝血) Im Zusammenhang mit der Spezifizierung von Menschen, die laut Chen Shiduo besonders gerne zu »ausgetrockneter Leber« neigten, was mit »blühendem Leber-Qi« einhergehen kann, fallen gender-spezifische Differenzierungen auf. Es handelt sich hierbei nämlich vorzugsweise um Frauen  : buddhistische Nonnen (niseng 尼僧)708, Witwen (guafu 寡妇), verlorene Frauen (shijia zhi nü 失 嫁之女)709, Hauptfrauen und Konkubinen, deren Ehemänner seit langer Zeit fort sind und [lange oder überhaupt] nicht wiederkommen, Menschen, die vor lauter Liebeskummer schwermütig/depressiv sind (xiangsi yujie 相思鬱結) und solche [Frauen], die unbedingt einen Mann wollen, aber keinen bekommen können (yu nanzi er buke de 欲男子而不可得).710 707 Siehe hierzu Epstein 2001, 87–92. 708 Obgleich Mönche und Nonnen nicht der niedersten (jianmin)-Klasse angehörten, scheint der Prozess des »Ausweichens« all derjenigen in die Klöster und Tempel angesprochen, die trotz wirtschaftlicher Expansion und trotz Migration nicht in dem allgemeinen Produktionsprozess eingebunden waren, wie Kuhn für das 18. Jahrhundert feststellt. Diese Menschen rasierten sich im Allgemeinen nicht die Haare ab, weshalb man von »haar-tragenden buddhistischen Praktikern« (daifa xiuxing 帶髮修行) sprach. Siehe Kuhn 1990, 113. 709 Frauen, die nicht verheiratet sind bzw. die Chance verpasst hatten, den Status einer verheiraten Frau zu erlangen. Im Bianzheng qiwen, juan 8, 602, ist an dieser Stelle die Rede von unverheirateten (bzw. kinderlosen) Frauen, »wei zi nü 未字女«. 710 Diese Wendung findet sich bereits im Shiji 史記 von Sima Qian 司馬遷 (2. vorchristl. Jh.) aus dem Jahre 90 v. Chr. Sie soll auf den berühmten Arzt Chunyu Yi 淳于意 (ca. 200 v. Chr.) zurückgehen, der die Menstruationsbeschwerden einer Frau unter anderem auf »einen Mann

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Diese Klassifizierung deutet auf eine Verquickung von Zorn (dieser Frauen) und Angst (dieser Frauen ebenso wie des sozialen Umfeldes vor deren Zornesausbrüchen) hin. Der soziale Zusammenhang zwischen Zorn und Angst ist nicht zu übersehen.711 Im Rahmen der Ausführungen zu den differenzierenden Diagnosemethoden, wie sie Chen Shiduo angesichts der epidemischen Erkrankungen seiner Zeit fordert, finden sich äußerst feinmaschige Beschreibungen von Symptomen und Manifestationen der Hitze-Krankheiten. Zorn ist hier gleichermaßen als Faktor von Hitze-Krankheiten (huore bing 火熱病) wie auch von Kälte-Verletzungs-Krankheiten (shang han 傷寒) aufgeführt, die ein und dieselbe Krankheit sein konnten, nämlich als Indikator der Differenzialdiagnose  : »Wenn jemand im elften Monat (des Mondkalenders) eine Kälteverletzung erleidet, der Körper heiß ist und sich die Hitze fünf bis sechs Tage lang nicht auflöst, und es dazu kommt, dass der Mensch irre Worte faselt und durstig ist, [wenn es dazu kommt], dass der Urin von selbst fließt und er schlafen will, dann meinen manche, dass es sich hierbei um zu viel Hitze am Yangming [Magen-Leitbahn] handelt, die sich nicht lösen will. Aber ich meine  : dem ist nicht so. Obgleich [die Manifestation] ›irre Worte faseln‹ mit ›Hitze im Magen‹ korreliert, so muss die Stimme [bei diesem Zustand] hoch sein, und bei Zuwiderhandeln seiner Wünsche muss Zorn aufkommen.«712

Zorn entsteht hier aus einer leiblichen Notsituation (Hitze bzw. Austrocknung im Magen). Dieser Zorn erscheint als genauso »selbstverständlich« und notwendig, wie der aus der sozialen Notsituation entstehende, wenn den eigenen Erwartungen bzw. denen anderer zuwidergehandelt wird.

wollen, ihn aber nicht bekommen« zurückführt. Vgl. Shiji [1962], juan 105, 2808–2809. Vgl. Bianzheng lu, juan 8, CQS, 880. 711 Doch es würde zu weit gehen, wenn wir diese Aussagen in einen direkten Zusammenhang bringen wollten mit dem Phänomen der Angst vor den »Dieben der Seele (hun 魂)«, wie sie im 18. Jahrhundert eskaliert war. Kuhn interpretiert diese Angst als Angst vor Menschen, deren Status nicht transparent war, die nicht eingebunden waren in die konventionellen sozialen Netze, die als Vagabundierende durch das Land stromerten. Vgl. Kuhn 1990, 113. 712 Im Original heißt es  : 冬月傷寒,身熱五六日不解,譫語口渴,小便自利,欲臥, 人以為 陽明之餘熱未解也,而予以為不然。夫譫語雖屬胃熱,然胃熱譫語者,其聲必高,拂其 意必怒. Vgl. Bianzheng lu, juan 1, CQS, 704.

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Unterwerfungssituation  : Leber (Holz) unterwirft Milz (Erde, Mitte) Der oben angedeutete Zusammenhang zwischen Leber und Milz wird von Chen Shiduo noch weiter ausdifferenziert  : Der Kräfteverfall eines Organs ist immer auch die Folge einer Überwindungssituation (ke 克), d. h. ein im Rahmen des Überwindungszyklus stattfindender Prozess der Unterwerfung eines Organs durch ein anderes. Wenn die Speicher- und Palastorgane (Zang-Fu) ausgeglichen bzw. aufeinander abgestimmt (tiao 調) sind, ist eine Unterwerfungssituation eigentlich nicht möglich. Wenn jedoch eines der Yin-Organe (Speicher bzw. Zang) geschwächt ist, kann es zu einer Unterwerfung durch das jeweils benachbarte Yin-Organ kommen. So geschehe es häufig, dass das Leber-Holz die Milz-Erde unterwirft, weil im menschlichen Körper die MilzErde oft geschwächt, das Leber-Holz dagegen blühend ist. »Wenn die Zangfu Organe nicht aufeinander abgestimmt sind und es zu einer lange andauernden Durchfall-Situation kommt, so denken manche, es handele sich um einen heftigen Durchfall. Doch wer weiß schon, dass die Leber die Milz-Erde unterwirft, und zwar deshalb, weil das Feuchtigkeits-Qi sich nach unten bewegt. Die Leber gehört zum Holz. Holz kann sehr leicht die Erde [Milz] unterwerfen. Wenn die Milz-Erde blühend ist, kann das Leber-Holz nicht herbeikommen und sie unterwerfen (überwinden). Wenn das Holz harmonisch und ausgeglichen ist, dann wird die Erde nicht [vom Holz] überwunden werden. Nur wenn das Leber-Holz blühend ist und dazu die Erde zusätzlich überschüssig ist, dann überwindet das Holz die Erde und die Feuchtigkeit der Erde wird schwer in Griff zu bekommen sein. Die Milz-Erde im menschlichen Körper neigt leicht zur Auszehrung. Das Leber-Holz neigt sehr leicht zum Blühen. Das Leber-Holz kann blühend sein. Und [wenn dies geschieht] ohne dass das Nieren-Wasser [das Holz] hervorbringt, dann [entsteht] im allgemeinen Zorn, und viele Pläne werden geschmiedet.«713

Hier finden wir noch einmal die Signifikanz ausgeglichener (tiao 調) Organverhältnisse für einen ausgeglichenen (tiao 調) Gefühlshaushalt ausgeführt. Herrscht Ausgeglichenheit und Abgestimmtheit aller Beteiligten, so herrscht keine Gefahr von Unterwerfung eines Organs durch ein anderes. Diesem Ge713 Im Original heißt es  : 人有臟腑不調,久瀉不愈,人以為洞瀉也,誰知是肝乘脾土,濕 氣下行之故乎.夫肝屬木,最能克土.然而土旺則木不能克,木平則土不受克.惟肝木既 旺,而土又過,則木來克土,而土之濕氣難安矣.人身之脾土易衰,肝木復易旺.肝木能 旺,非腎水生,大約得之怒與謀慮者居多.Vgl. Bianzheng lu, juan 6, CQS, 857–858.

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danken begegnen wir bei Zhu Xi 朱熹 (1130–1200) im Zhongyong 中庸, in dem er das »Einhalten der Mitte« als maßgeblich für den Umgang mit Emotio­ nen propagiert. »Bevor Freude, Zorn, Kummer und Heiterkeit sich entfalten (wei fa 未發), spricht man von der Mitte (zhong 中). Wenn [diese Emotionen] bereits entfaltet und ausgeglichen sind (zhongjie 中節), dann spricht man von Harmonie (he 和). Die Mitte (zhong 中) ist das große Fundament der Welt, und Harmonie ist ihr universeller Weg. Wenn die Mitte und die Harmonie bis zum höchsten Grad verwirklicht sind, dann haben Himmel und Erde ihre Ordnung, und alle Dinge werden gedeihen.«714

Doch verweisen nicht nur die unterschiedlichen Begrifflichkeiten auf einen etwas anderen Blickwinkel. Während Zhu Xi die altbekannte »Harmonie« (he 和) bemüht, spricht Chen Shiduo von »Ausgeglichenheit« bzw. »Abgestimmtheit« (tiao 調). Das Aufeinander-Abstimmen ist ein viel bemühter Therapieansatz in dieser Medizin. Genau genommen nimmt Chen Shiduo die Emotionen erst in ihrem entfalteten Zustand wahr. Denn sein Blick fokussiert keinen Idealzustand, sondern Zustände, die bereits als störend wahrgenommen worden sind, die Schmerzen und Kummer bereiten. Emotionen erscheinen hierbei als unmittelbare Artikulationen dieser Störungen. Sind sie absent bzw. werden sie unterdrückt und niedergehalten, so führen sie selbst zu gröberen unangenehmen Folgeerscheinungen. Die Entstehung abstruser Gedankenströme (躁妄之念生) Als letzte differenzierte Zorn-Gestalt lässt sich erneut eine Manifestation ausmachen, die mit Unzufriedenheit einhergeht. Grollendes Qi (qi naozhe 氣惱 者), das sind hitzige, ungestüme Gedanken, das ist Unzufriedenheit darüber, dass Vorstellungen nicht in Entscheidungen münden und Wünsche nicht erfüllt werden  : Daraus entwickelt sich Zorn.715 »Bei großem Zorn öffnen sich die Leber-Blätter. Bei übermäßiger Grübelei und beim Schmieden von Plänen, wobei dann [doch] keine Entscheidung getroffen wird, 714 Im Original heißt es  : 喜怒哀樂之未發,謂之中;發而皆中節,謂之和。中也者,天下之 大本也;和也者,天下之達道也。致中和,天地位焉,万物育焉. Vgl. Zhu Xi, Zhong­ yong zhangju, in Sishu zhongju jizhu, 18  ; Übersetzung in Chan 1963, 98. 715 Vgl. etwa Bianzheng lu, juan 6, CQS, 858.

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Abb. 9  : Kartographie der Leber  : rechts vier Leberblätter, links drei Leberblätter. Aus  : Xu Chunfu 徐春甫 (1520–1596  ?). Gujin yitong daquan 古今醫統大全, reprint 1991, Bd. 1, juan 6, 430.

verliert sich das zu Entscheidende [im Sande]. Abstruse Gedanken und Vorstellungen – dies alles kann bewirken, dass das Leber-Qi blühend wird.«716

Der Arzt bleibt durchgängig auf der Ebene der Organsysteme, wenn er die Umwandlung von Groll in Zorn beschreibt. Die Person, in der diese Prozesse stattfinden, erscheint an keiner Stelle – weder als Initiator dieser Prozesse noch als Einflussfaktor. Wenn wir den oben ausgeführten Zusammenhang zwischen Zorn und »blühendes Leber-Qi«-Frauen, die nach einem Mann lechzen, vor diesem Hintergrund lesen, so zeigt sich ein Spannungsverhältnis. Einerseits existiert keinerlei wertender Impetus  : Frauen, die sich nach einem Mann verzehren, werden hier nicht als liederlich dargestellt. Andererseits entstehen durch die angesprochenen Ko-Okkurenzen717 Bewertungsraster, die nur schwer von sozialen Kategorien (der Ausgrenzung etwa) zu trennen sind. Die Entwicklung von Groll zu Zorn kann – der oben zitierten Passage entsprechend – auch als Entgleisungsprozess beschrieben werden  : Die Gedanken und Pläne entgleisen ihren Bahnen (in der Leber)  ; sie strömen aus, und so 716 Im Original heißt es  : 大怒則肝葉開張,過於謀慮不決,則失於剛斷,而躁妄之念 皆能使 肝氣之旺. Vgl. Bianzheng lu, juan 6, CQS, 858. 717 Dies sind keine Ursache-Wirkung-Zusammenhänge, sondern Okkurenzen, die häufig zusammen erscheinen.

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finden sie keinen Halt und damit kein Fundament, auf dem sie sich in die Realität umsetzen ließen. Es ist ein circulus viciosus  : Weil die Leberblätter geöffnet sind, entgleisen die Vorstellungen, und weil dem so ist, stellt sich der Zorn darüber ein. Es ist ein unvermitteltes Hin und Her zwischen verschiedenen Ebenen – die geöffneten Leber-Blätter als konkreter Vorgang der Entgleisung von Gedanken und die Entgleisung von Gedanken als Vorgang, der mit hoher Wahrscheinlichkeit im kognitiv-emotionalen Handlungsfeld, d. h. auch im sozialen Miteinander, verortet wurde. Beide Ebenen sind nicht voneinander zu trennen. Durch ihre Verknüpfung via metonymischer Substitution gehören sie ein und derselben Realität an. Um die wesentlichen Aussagen zum Zorngeschehen zusammenzufassen  : Bei Chen Shiduo ist die Kartographie des Zorns nicht klassisch im strengen Sinne  : Der Zorn ist nicht ausschließlich der Leber zugeordnet, sondern auch der Niere und Milz  : Es gibt kein Yin-Organ, in dem er sich nicht vollziehen könnte. Die Gestalten des Zorns fallen bei Chen Shiduo äußerst vielfältig aus. War schon im Kapitel IV die metonymische Verknüpfung zwischen Innen (Leib) und Außen (Politik und Gesellschaft) angesprochen, so sind im Zusammenhang mit dem Zorn weitere metonymische Verknüpfungen genannt  : die Anthropomorphisierung der Organe – z. B. zittert die Gallenblase vor Angst  ; oder wenn Leitbahnen sowie die Fünf Wandlungsphasen stellvertretend für die Organe stehen – z. B. Erde für Milz. Nicht zuletzt fällt auf, dass an keiner Stelle von einem dem Zorn zuneigenden Konstitutionstyp die Rede ist. Die medizinische Funktionalisierung von Zorn Eine Extremform der eingangs angedeuteten medizinischen Funktionalisierung von Zorn stellt die im Folgenden zitierte Methode dar. Weil der Zorn, wenn man ihn evoziert, einen Menschen aus tiefsten Stauungszuständen, ja selbst aus Depression und Erstarrung (daibing 呆病) herauslösen kann, ist er, wie die Angst und mitunter die Freude (xi 喜) auch, als therapeutische Maßnahme fest etabliert.718 »Zehn Schalen Wasser werden auf eine Schale Arznei abgekocht. Man bitte einen starken [Mann], den Patienten festzuhalten. Weitere zwei Personen sollen ihn an seinen Handgelenken festhalten. Außerdem benötigt man einen Menschen, der dem 718 So ist z. B. bei Chen Shiyu 沈時譽, Yiheng 醫衡 (1661), die Rede von der »Gegenseitigen Überwindung der fünf Gefühlsregungen« (wuzhi xiangsheng fa jiezhi 五志相勝發解之).

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Patienten das untere Kinn [offen hält], ein weiterer nehme ein Horn (vom Schafbock), spitze es zu, fülle es mit Arznei und flöße sie dem Patienten ein. Falls es nicht möglich ist, ihm die Arznei [auf diese Weise] einzuflößen, so schadet es nicht, wenn man ihn mit dem Stock schlägt, um sein Zorn-Qi zu evozieren. Dann führe man die Arznei ein. Daraufhin wird der Patient schimpfen und fluchen. Kurz darauf wird er [jedoch] müde und schläft ein. Man achte darauf, dass er von selbst aufwacht [und nicht geweckt wird]. Man darf ihn auf keinen Fall erschrecken [und damit sein Qi] bewegen. [Wenn] er von selbst aufwacht, wird er gänzlich geheilt sein. Falls nicht, so doch zur Hälfte.«719

Zorn ist in seiner Bewegungsausrichtung und seiner Intensität mit dem Wesen des Feuers bzw. mit Hitze konnotiert. Das Kapitel »Feuer-Hitze-Krankheiten« (huore zheng men 火熱症門) enthält dementsprechend viele Beschreibungen von körperlichen Prozessen und Befindlichkeiten, die mit Komponenten von Zorn zu tun haben, wenngleich sie nicht immer unter »Zorn« (nu 怒) aufgeführt sind. Hierzu gehören etwa  : Völlegefühl, Schlaflosigkeit, rotes Gesicht und Hitze im Gesicht, Aufstieg von Feuer und Ausbruch von Wahnsinn (fa kuang 發狂)  ;720 das Gefühl von Bedrücktheit, Unruhe und Gereiztheit (menfan zaoji 悶煩躁急).721 Deshalb wird Zorn als Gegenbewegung zur Niedergedrücktheit eingesetzt. Dies kann mitunter – wie die zitierte Passage zeigt – auch mit Gewalt geschehen, wenn der/die Patient/in so sehr in Erstarrung verfallen ist, dass mit Güte nichts auszurichten ist.722 Das Provozieren von Zorn-Qi verweist hier auf das Wecken von Minimalreaktionen  : Das Zorn-Qi fungiert als letzte Waffe gegen die völlige Erstarrung. Von ähnlicher Stoßrichtung ist das therapeutische Vorgehen im Falle einer noch nicht gänzlich zu Erstarrung gewandelten Niedergedrückt-Krankheit bzw. Depression (yubing 鬱病)  : »Depression findet sich am häufigsten unter Frauen. Wenn hierzu noch Bitternis hinzukommt, ist sie am allerschwersten zu lösen. Wenn sie den ganzen Tag müde ist 719 Im Original heißt es  : 水十碗,煎一碗,使強有力者,抱住其身,另用二人執拿其兩手,以 一人托住其下頷,一人將羊角去尖,插其口灌之。倘不肯服,不妨以杖擊之,使動怒氣, 而後灌之,服後然罵詈,少頃必倦而臥,聽其自醒,切不可驚動,自醒則全愈,否則止 可半愈也. Vgl. Bianzheng lu, juan 4, CQS, 791.

720 Vgl. Bianzheng lu, juan 6, CQS, 819. 721 Vgl. Bianzheng lu, juan 6, CQS, 822. 722 Von gleicher Stoßrichtung ist die Induktion von Zorn, indem der Kranke so lange mit dem Kopf nach unten aufgehängt wird, bis sein Zorn angewachsen ist. Vgl. Shishi milu, juan 3, CQS, 329.

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und [im Bett] liegt, stumpfsinnig [schaut] und nicht spricht, so denken die Leute, dies seien [die Anzeichen] eines sich entwickelnden Stumpfsinns. – Wer weiß schon, dass es sich vielmehr um sich im Herzen festsetzende Gedanken handelt, wobei das Mitte (Rumpf )-Qi drückt und nicht fließt  ?«723

Die folgenden Zeilen interessieren nicht nur wegen der Induktion von Zorn (und Freude) als therapeutische Methode, sondern auch wegen der Diskussion, ob bei solchen Erkrankungen mit Arzneimitteln zu behandeln sei oder mittels Induktion von Zorn bzw. Freude  : »Will man sich bei diesen Krankheitsarten gänzlich auf die Verabreichung von Arzneimitteln verlassen, so ist dies eigentlich keine Methode. Aber will man nicht vermittels Arzneimitteln behandeln und [nur darauf warten], bis die Selbstgenesung eintritt, so ist dies eigentlich auch keine Heilmethode.«724

Chen Shiduo favorisiert einen Mittelweg, der, wie wir sehen werden, darin besteht, in mehreren Schritten vorzugehen  : Beginnend mit der Evozierung von Bewegung vermittels Induktion von Zorn wird als nächster Schritt Freude induziert oder umgekehrt, um zuletzt die Arzneien zu verabreichen  : »Im Allgemeinen ist es doch so, dass Gedanken-Stau-Krankheiten mittels Freude-Induktion lösbar sind. [Falls dies nicht klappt], kommt als nächste [Methode] die Induktion von großem Zorn in Frage. Das ist auch in Ordnung. […] Der Zorn gehört zum Leber-Holz, Holz kann die Erde [Milz] überwinden. Herrscht Zorn, ist das Qi blühend. Ist das Qi blühend, so muss sich das Milz-Qi [wo die Gedanken stocken] öffnen. […] Dementsprechend muss man bei solchen Krankheiten also mittels Zorn [das Qi] bewegen, hierauf mittels Freude [diesen Öffnungsprozess] weiterführen, daraufhin soll langsam mit der Verabreichung von Arznei begonnen werden. Das ist wirklich die Feinheit dieser Heilmethode.«725

723 Im Original heißt es  : 人之鬱病,婦女最多,而又苦最不能解,倘有睏臥終日,痴痴不 語,人以為呆病之將成也,誰知是思想結於心、中氣鬱而不舒乎. Vgl. Bianzheng lu, juan 4, CQS, 774. 724 Im Original heißt es  : 此等之癥,欲全恃藥餌,本非治法,然不恃藥餌,聽其自愈,亦非 治法也. Vgl. Bianzheng lu, juan 4, CQS, 774. 725 Im Original heißt es  : 大約思想鬱癥,得喜可解,其次使之大怒,則亦可. […] 怒屬肝木, 木能克土,怒則氣旺,氣旺必能沖開脾氣矣。[…] 故見此等之癥,必動之以怒,後引之 以喜,而徐以藥餌繼之,實治法之善也. Vgl. Bianzheng lu, juan 4, CQS, 774.

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Hier erscheinen Zorn und Freude jeweils als Regungen, die ohne Weiteres herstellbar sind. Weder Zorn noch Freude werden in ihrer Gestalt beschrieben. Was zählt, ist allein die ihnen zugeschriebene Macht als »Aufputschmittel«. In anderer Perspektive gilt es allerdings auf den Zorn selbst einzuwirken  : Hinter großem Zorn verbirgt sich unruhiges bzw. ungleichmäßiges (bu ping 不 平) Leber-Qi, das oft Folge einer langandauernden Qi-Stagnation in der Leber (gan Qi yusai 肝氣鬱塞) ist. Diese Stagnation ist in ihrer »Richtung« das Gegenteil von Zorn  : Im Gegensatz zum nach oben steigenden Zorn drückt die Stagnation nach unten. Gewaltiges Nach-oben-Steigen des Leber-Qi mündet in Raserei (kuang 狂). Niedergedrücktes Leber-qi führt zu unebener Bewegung des Leber-qi, die auch mit Feuer-Übermaß einhergehen kann. »Großer Zorn« wird geheilt durch Ruhigstellung (ning 寧) und Einebnung (ping 平) des Leber-qi bei gleichzeitigem Abführen des Feuers.726 Diese Vorgehensweise erfordert eine komplizierte zweigleisig angelegte Therapiestrategie  : abführen (d. h. auch angreifen) und ergänzen (d. h. auch auffüllen). Der Zorn und die Logik der Mitte Wie schon mehrfach gezeigt, behandelt Chen Shiduo Zorn vorrangig in seinem Verhältnis »Leber zur Milz«  : Die Milz kann nämlich, wenn es die (Kräfte-) Konstellationen zwischen den Organen so wollen, im Rahmen des Überwindungszyklus (ke 克) von der Leber kontrolliert bzw. bezwungen werden  : Holz (Leber) – etwa in Form eines Grabstocks – überwindet die Erde (Milz). In der Milz, also der Mitte (Erde), geschehen die Prozesse des ›Denkens und Pläneschmiedens‹. Eine Schwächung der Mitte (Milz-Erde) bedeutet dementsprechend immer auch eine Schwächung der Denktätigkeit. Damit befinden wir uns an einer Schnittstelle der medizinischen Perspektiven Chenscher Prägung auf die Emotionen  : das Verhältnis aller Qi-Prozesse in den fünf Yin-Organen zur Mitte. Wenn wir bereits festgestellt haben, dass die neue Medizin im 17. Jahrhundert ihren besonderen Fokus auf den mingmen (Lebenstor) sowie die Milz (Erde) und den Magen (das ihr zugehörige yangOrgan) als fundamentale Bezugspunkte der Mitte im leiblichen Geschehen legt, so sind die folgenden Ausführungen als weitere Belege für diese Verschiebung in der »Rezeption« des menschlichen Körpers zu lesen.

726 Vgl. beispielsweise Bianzheng lu, juan 2, CQS, 738.

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Was bedeutet dieser Fokus auf die Mitte für die Explikation der Befindlichkeiten während dieser Zeit  ? Wenn Chen die philosophische bzw. neokonfuzianische Fokussierung auf die Mitte als Harmonisierung (he 和) in den menschlichen Leib einschreibt, dann bemüht er mehrere Zentren bzw. »Mitten«  : Einmal Milz-Magen, die vermittels ihres Verhältnisses zur Erde in der Mitte der Fünf-Wandlungsphasen und so im Zentrum der menschlichen Kartographie stehen. Das bedeutet, er lenkt die Aufmerksamkeit bei der Einordnung und Bewertung von Gefühls- und Denklagen darüber hinaus und ausdrücklich auf die Vorgänge in den Yin-Organen. Damit wird drittens die Vormachtstellung des Herzens – als Ort des Denkens und der Emotionen – im neokonfuzianisch inspirierten philosophisch-moralischen Kontext negiert. Weil sich medizinische Explikationen der Gefühle im 17. Jahrhundert verstärkt in die Gelehrten-Diskurse drängen727, sind diese medizinischen Explikationen der »Verfasstheiten« der Emotionen mehr und mehr Teil allgemeinen »Wissens« darüber. Die Yin-Organe als (multiple) Orte des Gefühls-Geschehens, mit der Mitte (Milz-Erde) als fundamentale Konstante im Fünfer-Ensemble als Ort des Denkens (si 思) und des Pläneschmiedens (yi 意) geraten in den 1930er Jahren erneut in das Zentrum der Diskussionen, wenn es nämlich um das Überleben der indigenen medizinischen Konzeptionen im Streit mit der westlichen Medizin geht.728 Im Folgenden geht es darum zu zeigen, wie verschiedene Aspekte der Mitte (Milz-Magen-Erde) mit der »unteren« Mitte (mingmen) verquickt wurden  : Bindeglied dabei ist der Zorn bzw. das Kanzler-Feuer (xianghuo 相火). Zorn ist Ausdruck von loderndem Feuer (in der Leber), doch ist dieses Feuer nicht gleichzusetzen mit dem »Wahren Feuer« (zhen huo貞火) bzw. Kanzler-Feuer, das als kosmische und zugleich menschliche Lebenskraft den Verlauf eines Leibeslebens (shen 身) bestimmt. Dieses Feuer ist in der »unteren« Mitte, im Lebenstor (mingmen 命門), zu Hause, kreist jedoch ununterbrochen im gesamten Leib. Die Mitte ist damit gleichzeitig ein Teil menschlicher Beschaffenheit und auch der Grund, auf dem sich der Mensch bewegt. Die Affinität von Zorn zu (Leber-) Feuer haben wir beschrieben. Ist das Kanzler-Feuer im Spiel, genügt nach Chen schon die leiseste Zornesregung, um etwa einen Abortus herbeizuführen,729 denn dieses Feuer reagiere auf jede Bewegung äußerst sensibel. Die Konzeptio727 Mit Blick auf die Kategorisierung der Thematik »Emotionen (qingzhi)« im Gujin tushu jicheng (1726 dem Thron vorgelegt), was als prominentestes Beispiel hierfür gelten kann. Siehe Einleitung in der vorliegenden Arbeit. 728 Siehe hierzu Messner 2000, 208–212. 729 Vgl. Bianzheng lu, juan 12, CQS, 964.

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nalisierung des Leibes als Abbild und Teil des kosmischen Geschehens, mit der Vereinigung zweier gegensätzlicher Attribute (Feuer im Wasser und Wasser im Feuer), zeigt einen Leib, der insbesondere gegen die nach oben steigenden ZornQi-Prozesse äußerst empfindlich ist. Die Leber ist der Ort, an dem sich die akkumulierten Essenz-Qi-Prozesse als Zorn konstituieren. Sie gilt außerdem in der yangsheng 養生 (Lebenspflege) Ideosphäre bzw. in der Inneren Alchemie (neidan 內丹) als der ursprüngliche Ort des Drachen-Donner-Feuers (longlei zhi huo 龍雷之火).730 Die Bewegung dieses Feuers im Menschen durch Zorn kann einem verheerenden Waldbrand gleichkommen. Damit ist in erster Linie die Situation in der Leber angesprochen  : Wenn das Leber-Holz zu stark ist, wird es zu heiß (yang)  ; das Holz fängt Feuer, wodurch ein Übergreifen des Feuers auf das Herz – das »Kind der Leber« und dem Feuer zugehörig – droht. Außerdem speichert die Leber das Blut. Dementsprechend wird an dieser Stelle das »Erbrechen von Blut« damit erklärt, dass der Zorn die Bewegung des Drachen-Feuers anstößt und damit gleichzeitig das »Überschwappen des Blutes« evoziert.731 730 Der Feuer-Drache steht in dieser Tradition für das Quecksilber als Lebensquelle. Laut einer Quelle von 1100 n. Chr. kommt der Feuer-Drache aus den Nieren und wird in der Leber gespeichert. Er ist Blut und Essenz. Dem Feuer-Drachen steht der Wasser-Tiger gegenüber, der aus dem Herzen kommt und in der Lunge gespeichert wird. Er verkörpert Qi und körperliche Stärke. Siehe hierzu Needham 1983, 22. Drache und Tiger sind grundlegende Größen für alle theoretischen Untermauerungen von Praktiken der Inneren Alchemie (neidan 內丹), die Needham auch als Physiologische Alchemie bezeichnet, weil sie immer die Verlängerung des (stofflichen) Lebens anstrebt und die physiologischen Prozesse im lebendigen Leib anvisiert. Weil diese Prozesse in ihren ursprünglichen Zustand zurückkehren müssen, um die Verjüngung bzw. Verlängerung des Lebens herbeiführen zu können, kommen diese Umkehrprozessen gleich. Der Feuer-Drache und der Wasser-Tiger entsprechen bestimmten Trigrammen im Yijing 易經, Wandlungsphasen und Organen etc., vgl. Needham 1983, 53– 65. Die beiden komplementären Größen, der Feuer-Drache und der Wasser-Tiger, müssen sich vereinigen, um zur ursprünglichen Einheit, dem dao 道, zurückkehren zu können. Im menschlichen Leib muss der Feuer-Drache (im Herzen) nach unten sinken (obgleich er seinem Wesen nach immer nach oben steigt), um das Wasser (Tiger) der Nieren (dessen Wesen es ist, nach unten zu fließen) zu erhitzen, damit dieses wiederum als Dampf aufsteige und das Feuer (Drache) im Herzen kühlen kann. Diese Umkehrprozesse (diandao 顛倒) bedeuten auf der Ebene der Fünf Phasen etwa, dass der natürliche Verlauf (shun 順) des Hervorbringens (sheng 生) bzw. des Überwindens (ke 克) umgedreht wird, zumal in jedem Akt des Hervorbringens (sheng 生) der Keim des Überwindens (ke 克) steckt. Genauso wie aus der Phase des Hervorbringens eine Phase des Überwindens gemacht werden kann, kann aus dem Prozess des Sterbens (si 死) ein Prozess des Lebens (sheng 生) gemacht werden, zumal in jedem Prozess des Sterbens der Keim des Lebens steckt. Siehe hierzu Waijing weiyan, juan 1, CQS, 5. 731 Vgl. Bianzheng lu, juan 3, CQS, 764.

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Wir haben bereits festgestellt, dass Konzeptionen aus dieser Tradition (neidan) den medizinischen Blick Chenscher Provenienz prägen. Der Feuer-Drache steht hier für das Quecksilber, für die Quelle des Lebens schlechthin. Doch bedarf er der Vereinigung mit dem Wasser-Tiger (der für das Blei steht), um zur ursprünglichen Einheit (dao 道) bzw. zum »Quell des Lebens« zu gelangen und damit die Möglichkeit für den Eingang in die (stoffliche) Unsterblichkeit zu schaffen. Die Lebenspflege-Traditionen basieren letztendlich auf Konzeptionen der »Inneren Alchemie« (neidan 內丹), deren Ziel die Unsterblichkeit oder zumindest Langlebigkeit gewesen ist.732 Wenn Chen Shiduo nun das Drachen-Feuer im Zusammenhang mit »Großem Zorn und Erbrechen von Blut« (danu tu xue 大怒吐血)733 thematisiert, so kommt dies der Offenbarung eines geheimen Wissensschatzes gleich. In der geschilderten Notlage erscheint der Einsatz dieses Wissensschatzes als ultima ratio, um die Genesung herbeizuführen. Die äußerste Sensibilität und Anfälligkeit des Drachen-Feuers gegen Bewegung (durch und mit Zorn) und die daraus folgende Schwierigkeit der Leber, das Blut (in sich) zu behalten (liu 留), bzw. das »Erbrechen von Blut«, hervorgerufen durch Zorn, erforderte also eine dementsprechende therapeutische Vorgangsweise. Dieses Wissen schließt aber die vergleichsweise profane Explikation mittels der Fünf-Wandlungsphasen-Lehre (bzw. Milz-Magen als Mitte) keineswegs aus, ist doch der Drache auch hier der Leber zugeordnet. Die Fünf Yin-Organe – in ihrem relationalen Beziehungsgefüge – erscheinen im kontigen Verhältnis734 zum Drachenfeuer. Damit begegnen wir einmal mehr einer Metonymie, die den Heilungsprozess erst als möglich erscheinen lässt  : Der Blick wird (über die Verknüpfung vermittels des mit der Niere in Korrelation gesetzten Tigers) unvermittelt auf das Nieren-Wasser gelenkt, und die dadurch geweckte Aufmerksamkeit für die Nieren lässt die Notwendigkeit erkennen, der Situation des Nieren-Wassers gerecht zu werden, indem sie ergänzt (bu 補) wird. Die Ergänzung des Nieren-Wassers führt dann automatisch zur Abkühlung des Drachenfeuers.735 Dergestalt ist der Fokus auf die Mitte gerichtet, er ist in erster Linie mit der Erde und damit mit Milz und Magen konnotiert. Aber als Fundament, 732 Eine kurze Übersicht über historische Herleitungsformen der Inneren Alchemie liefern Pregadio und Skar 2000, 464–497. Vgl. auch Sivin 1995, VII, 3–20. 733 Vgl. Bianzheng lu, juan 3, CQS 764. 734 Zu kontigen Verhältnissen in Klassifikationssystemen siehe Baßler 2005, 258. 735 Vgl. Bianzheng lu, juan 2, CQS, 740.

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auf dem sich die Menschen bewegen, ist die Mitte auch intrinsisch mit den Konzeptionen und »Agenten« der Inneren Alchemie verknüpft. Damit kommt dem Verhältnis Leber-Niere (Drache-Tiger) eine fundamentale Bedeutung zu. Diese Relationen sind als Konstituenten der Mitte die Basis für die Dynamiken der fünf Yin-Organe, die wiederum entlang des Fünf-Wandlungsphasen-Paradigmas wirken. Drei konzeptuelle Verankerungen der leiblichen (und kosmischen) Mitte sind hier dergestalt in Verschränkung miteinander gedacht, dass die eine Ebene immer auf die andere verweist. Welche Mitte jeweils »aktiviert« bzw. fokussiert wird, hängt dahingegen von der jeweiligen Situation ab.

Angst

Bei Chen Shiduo ist die Rede von Kontingenzerfahrungen – politischer wie privater Natur – im Sinne von plötzlich hereinbrechendem Unglück (ren you zaoyu kanke人有遭遇坎坷).736 Es kann die Gestalt von Epidemien oder Geschwüren oder »schwarzem Qi« (hei qi 黑氣) annehmen, das besser als »schwarzes Miasma«737 bezeichnet wird, zumal es seit Mitte des 16. Jahrhundert im Sinne »dunklen Unheils« bzw. Unheilbringender Luft zirkulierte.738 Nicht zuletzt grassierte panische Angst vor der Rekrutierung jungfräulicher Mädchen für den kaiserlichen Haushalt,739 weil der neue Kaiser nach dem Dynastienwechsel (1644) neue Konkubinen benötigte. Es ist die Rede von Hungersnöten (chaimi youchou 柴米憂愁)740, aber gleichermaßen auch von Gewalttätern (qiangliang 强梁), die die Hausherrin vergewaltigen (jian zhufu 姦主婦). Hier besteht eine Analogie zur Besetzung des Reiches durch die Mandschu  : Der

736 Vgl. Bianzheng lu, juan 8, CQS, 880. 737 Bei Chen Shiduo heißt es an entsprechender Stelle  : »Schaut man in den Arzneischrank [der Quacksalber], so ist da nichts außer Unheilbringender (sic) Luft (藥柜中無非黑氣).« Vgl. Shishi milu, juan 5, CQS, 387. 738 Siehe hierzu Ter Haar 2006, 6–7. 739 Die Angst vor der Rekrutierung junger Mädchen für den Kaiserlichen Konkubinen-Haushalt lässt sich bereits für das 10. Jh. nachweisen. Es war besonders die Angst der Han-Chinesen, ihre Töchter an »barbarische« Männer zu übereignen, selbst wenn es der Kaiser war. Im 17. Jahrhundert fürchtete man besonders um die Mädchen aus gutem Hause, die für den Dienst an Soldaten, die an den westlichen Grenzen dienten, rekrutiert wurden. Siehe hierzu Ter Haar 2006, 301–321. 740 Vgl. Bianzheng lu, juan 8, CQS, 880.

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menschliche Leib wird durch äußere Übel741 besetzt. Auch grassierte die Angst vor Verzauberung durch menschliche und nichtmenschliche Wesen, die Angst vor dem Wurmgift (gudu 蠱毒), vor dem Verlust der ureigensten Lebenskraft bzw. Essenz (jing 精) und vor den »Seelenräubern« (jiao hun 叫魂)742. Im Fol­ genden werden exemplarisch zwei bei Chen Shiduo zentrale Gestalten der Angst dargestellt. Doch zunächst seien die Terminologie und die Kartographie der Angst beschrieben. Termini Der Begriff kong 恐 (Angst) erscheint bei Chen Shiduo häufig im Sinne aufrichtiger Befürchtung (cheng kong 誠恐) bzw. der Sorge, dass eine bestimmte Form von Leere-Zustand nicht aufzulösen sei743, dass das »ursprüngliche Qi zu leicht in einen Leere-Zustand übergehen könne«744 oder auch, dass die Menschen die wunderbare Wirkkraft seiner Rezepturen nicht schätzten.745 Die Artikulation der ärztlichen Sorge um das Wohl des Patienten erfolgt im Gewand von Befürchtungen, die freilich gänzlich anders gelagert sind, als die hier zur Debatte stehende Angst (kong 恐) vor Banditen und vor Dämonen etwa oder die Angst (kongju 恐惧) einer gebärenden Frau, deren Kind zu sterben droht. Obgleich die Differenz von Angst (kong 恐) und Furcht (ju 惧)746 – zumindest in der medizinischen Literatur – kaum von Interesse gewesen zu sein scheint, differenziert Chen Shiduo wie folgt und leitet aus der Differenzierung unterschiedliche Therapiestrategien ab  : »Jemand leidet unter angstbesetzter Grübelei. Den ganzen Tag lang ist sein Busen voll von ›bibbernder‹ Angst und Furcht. Darauf folgt dann Erkältung und WindÜbel. Der Betreffende fürchtet Kälte und zittert [am ganzen Leib]. Die Leute glauben, dies rühre von einer äußeren [Verletzung] durch Wind her. 741 Siehe Bianzheng qiwen, juan 8, 595–6. 742 Kuhn 1990, 28, exemplifiziert drei Möglichkeiten der Sicht auf die Ereignisse um »Seelenräuberei« durch Bürokraten  : einmal ihre Marginalisierung, indem man sie schlichtweg als »Ding der Unmöglichkeit« abtat, zweitens, indem man sie als Aberglaube klassifizierte und schließlich drittens, indem man sie als Realität ansah. 743 Vgl. Bianzheng lu, juan 13, CQS, 995. 744 Vgl. Bianzheng lu, juan 14, CQS,1004. 745 Vgl. Shishi milu, juan 4, CQS, 362. 746 Doch ist diese Differenzierung nicht mit der Kierkegaard’schen Differenzierung von Angst und Furcht gleichzusetzen.

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Aber sie wissen nicht, dass es sich [in Wirklichkeit] um eine innere Verletzung (nei shang 內傷) handelt und zwar des Herzens und der Gallenblase. Die Angst (kong 恐) erwächst aus der Gallenblase. Die Furcht (ju 惧) erwächst aus dem Herzen. Bei übermäßiger Angst (kong 恐) ist das Gallenblasen-Qi zunächst kalt. Bei übermäßiger Furcht wird das Herz-Qi zerstört. Wenn die Gallenblase kalt ist, dann verlässt die Essenz (jing 精) ihren Ort. Ist das Herz-Qi zerstört, dann braucht sich die Essenz auf. Die Essenz verlässt ihren Ort und wird ausgezehrt. Wie können da Herz und Gallenblase nicht immer leerer werden  ? Bei Herz- und Gallenblase-Leere, [kann] das Übel leicht eindringen. Die Gallenblase gehört zum Shaoyang [Leitbahn]. Ist das Gallenblasen-Qi bereits leer, dann dringt das Übel in den Shaoyang ein. Die Gallenblase hält dem [Übel] nicht stand, deswegen fürchtet man Kälte und bibbert [vor Kälte]. Wenn man noch [zusätzlich] Wind-Übel vertreibende Arznei verabreicht, dann wird das Gallenblasen-Qi ausgezehrt und geschädigt. Ist das Gallenblasen-Qi geschädigt, dann wird das Herz-Qi noch mehr ausgezehrt. Wenn die beiden Leitbahnen, von Herz und Gallenblase, ausgezehrt sind, wie sollte dann nicht das Übel zu fürchten sein, wo es sich doch leicht von außen kommend, zwischen Innen und Außen [festsetzen] kann. Die Behandlungsmethode muss darauf abzielen, die Gallenblase stark zu machen. Wenn die Gallenblase nicht kalt ist, dann wird auch das Herz nicht verfallen. Dann werden sie ein Herz [und eine Seele sein], und so wird das äußere Übel zerstreut, und alles geht von selbst sehr leicht.«747

Chen schildert einen dramatischen Fall  : Es handelt sich um eine Frau in äußersten Schwierig­keiten, zumal sie bereits seit Tagen in den Wehen liegt und das Kind aber nicht zum Vorschein kommt. Hier herrsche notgedrungen im Herzen außerordentlich große Angst und Furcht. In diesem Fall differenziert der Autor nicht zwischen Angst und Furcht, sondern verwendet Furcht (ju) als Verstärker von kong (Angst). Angst und Furcht sind hier jedenfalls die Ursache für das Entschwinden des shen (Lebensgeist) aus dem Herzen (kong ze shen qie 恐則神祛). Wenn der Lebensgeist entschwinde, fließe das Qi nach unten, ohne wieder nach oben zu kommen. Wenn das Qi nicht nach oben komme, verschließe sich der Obere Erwärmer, und das Qi fließe in die gegenläufige Rich747 Im Original heißt es  : 人有防危慮患,  日凜恐懼之懷,遂至感冒風邪,畏寒作顫,人以為 外感於風也,誰知內傷於心膽乎.  夫恐起於膽,懼起於心,過於恐則膽氣先寒,  過於懼 則心氣先喪.膽寒則精移,心喪則精耗,精移精耗,心與膽不愈虛乎。心膽氣虛,邪易 中矣。夫膽屬少陽,膽氣既怯,則邪入少陽,膽不勝任,故畏寒而作顫。倘再用祛風之 藥,則耗損膽氣,膽耗而心氣更耗矣。心膽二經之氣耗,邪又何所畏,肯輕出於表裡之 外乎。治法自宜急助其膽氣之壯,膽不寒而心亦不喪,則協力同心,祛除外邪,自易易 耳. Vgl. Bianzheng lu, juan 9, CQS, 899.

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tung. Dies führe schließlich dazu, dass das Kind nicht nach unten komme.748 Neben den auch in der Umgangssprache üblichen Begriffen kong 恐 und ju 惧 für Angst taucht bei Chen der Begriff qie 怯 auf, was mit Schüchternheit, Ängstlichkeit und Zaghaftigkeit zu übersetzen wäre.749 Manche Ereignisse und Phänomene konnte man sich zu Chen Shiduos Lebzeiten offensichtlich nur mit außerweltlichen Kräften erklären. Die Narrative kreisten insbesondere um den Terminus pi 癖 (Besessenheit)  : Menschen werden plötzlich von Geistern und Dämonen überfallen. Dies ist ein Grundtenor in literarischen Narrativen aus dieser Zeit.750 Das Außer-Normale (yi 異) figuriert im Genre der Volkserzählungen, in den zhiguai (Geschichten vom Seltsamen) und biji 筆記 (Pinselaufzeichnungen)751 als das Objekt der Aufmerksamkeit.752 Besessenheit (pi) taucht bereits in medizinischen pharmakologischen Schriften aus dem 2. nachchristlichen Jahrhundert auf und gewinnt gerade gegen Ende der Ming- und Anfang der Qing-Zeit stark an Bedeutung.753 Auch wenn die Phänomene Zauberei und Besessenheit durch Dämonen und Geister, Fuchsgeister und dergleichen in Chen Shiduos Schriften einen großen Raum einnehmen, benutzt er den Begriff pi nicht. Im Allgemeinen neigt Chen dazu, diese Phänomene als innerleibliche Prozesse zu klassifizieren. Dennoch ist die Grenze zwischen »rationalen« und »esoterischen« Sichtweisen bei ihm kaum definiert. So gehören auch die Einflüsse böser Dämonen in mehreren Zusammenhängen zum integralen Teil seiner Explikation von Ängsten.754 Kartographie Nach dieser terminologischen Klärung ist die Kartographie von Angst folgendermaßen zu skizzieren  : Wenn voranstehend schon verschiedene Lokalisationen von Angst im Leib genannt wurden, wie Herz und Gallenblase, so ist die Angst ein im medizinischen Kanon definitorisch festgelegter Prozess, der sich grundsätzlich in der Niere abspielt. Dazu sei noch einmal der locus classicus 748 Vgl. Bianzheng lu, juan 12, CQS, 968. 749 Vgl. Bianzheng lu, juan 4, CQS, 780. 750 Siehe hierzu Zeitlin 1993. 751 Gemeint sind hiermit Erzählungen in Skizzen, Notizen. 752 Beide, zhiguai und biji, sind generische Bezeichnungen für beides  : einzelne Geschichten und Erzählungen sowie ganze Sammlungen (dieser Geschichten). 753 Siehe hierzu Zeitlin 1993, 61–65. 754 So beispielsweise in Bianzheng lu, juan 10, CQS, 929, wo es u. a. um den Befall durch Schlangengeister (she yao 蛇妖) und Fuchsdämonen (hu mei 狐媚) geht.

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aus dem Huangdi neijing Suwen zitiert, in dem alle Orte der Emotionsprozesse aufgeführt sind  : »Wenn sich Essenz-Qi 精氣 [aller fünf yin-陰Organsysteme] im Herzen verdichtet, dann entsteht Freude (xi喜). Wenn es sich in der Lunge verdichtet, dann entsteht Trauer (bei 悲). Wenn es sich in der Leber verdichtet, dann wird Kummer (you 憂) entstehen. Wenn es sich in der Milz konzentriert, dann entstehen Furcht und Scheu (wei 畏). Wenn es sich in den Nieren konzentriert, dann wird Angst entstehen (kong 恐). Dies sind die fünf Verdichtungen (wu bing 五并).«755

Die medizinischen Kartographien folgen im Wesentlichen dieser Ordnung der Gefühle. Und es ist diese Ordnung, die dem Arzt die Möglichkeit an die Hand gibt, Ängste medizinisch zu fassen. Anders gesagt  : Die Rede von der Angst verwandelt sich in dieser Ordnung in eine Art Gegenrede gegen die Angst sowie gegen die Erfahrung von Bedrohung, weil sie die Ängste als innerleibliche Prozesse charakterisiert, die mittels entsprechender Medikamentierung wieder ins rechte Lot gebracht werden können.756 Wie die weiter oben zitierte Passage zeigt, fällt die Kartographie der Angst ebenso komplex aus wie die Kartographie des Zorns  : Der Ursprung der Furcht (ju 惧) wird von Chen auch im Herzen gesehen sowie der Ursprung der Angst (kong 恐) auch in der Gallenblase. Die Gallenblase ist das zur Leber gehörende Yang-Organsystem. Sie ist, anders als die übrigen Yang-Organsysteme, mit charakterlich-leiblichen Dispositionen assoziiert  : Schüchternheit und Ängstlichkeit, ja Feigheit (qie 怯), wenn sie »klein« (dan xiao 膽小) ist  ; Mut (yong 勇), wenn die Gallenblase »groß« ist. Dieser Zusammenhang ist bereits im Huangdi neijing Suwen hergestellt.757 An der anderen Stelle im Huangdi neijing Suwen ist der Leere-Zustand der Angst in der Leber, dem Yin-Organ der Gallenblase, lokalisiert und äußert sich dann 755 Im Original heißt es  : 五精所并.精氣并於心則喜.并於肺則悲.并於肝則憂.并於脾則 畏.并於腎則恐.是謂五并. Vgl. Huangdi neijing Suwen 7 (23)  : 364. Man beachte, dass hier der Zorn (für die Leber) fehlt – ein weiteres Zeichen dafür, wie wenig konstistent das System der Zuordnungen zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Klassikers war. 756 So etwa die, dass bei dem Biss eines tollwütigen Hundes (癲狗所傷者) die Leute denken würden, dass im Bauch des Betroffenen nun kleine Hunde wachsen würden. Doch seien dies lachhafte Vorstellungen, denn in Wirklichkeit handele es sich um einen Hund, der sich bei einem Aas angesteckt habe, und während der Hund langsam gesunde, sterbe der von ihm gebissene Mensch. Vgl. Bianzheng lu, juan 13, CQS, 998. 757 Vgl. Huangdi neijing Suwen 7 (21), 329.

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auch als soziale Scheu  : der Abneigung, Leute zu treffen.758 Zhang Jiebin 張 介賓 (1563–1640), Landsmann von Chen Shiduo, ein berühmter Arzt und Heerführer, bringt die Leber-Zuordnung wie folgt auf den Punkt  : »Die Leber speichert das Blut. Das Blut beherbergt die Hun-Wirkkraft.759 Bei Leber-QiLeere herrscht Angst, bei Leber-Qi-Fülle herrscht Zorn.«760 Dass Angst häufig mit Herzklopfen einhergeht, bringt Chen nicht davon ab, immer wieder die Gallenblase in den Blick zu nehmen  : »Wenn jemand an Herzklopfen-Krankheit leidet, macht das Herz oft ›peng-peng‹ und ist unruhig. Es ist häufig ein Zustand, als hätte man Komplikationen mit der Staatsobrigkeit noch nicht gelöst, und man [in panischer Angst vor] denjenigen verharrt, die kommen werden, um einen zu verhaften. Die Leute denken, es handele sich hierbei um Herz-Leere. Wer weiß schon, dass es sich in Wirklichkeit um die Zaghaftigkeit bzw. Schüchternheit [Mangelhaftigkeit] des Gallenblasen-Qi handelt  ? Die Gallenblase gehört zum Shaoyang [Leitbahn], sie ist die Mutter des Herzens. Ist die Mutter schwach, so ist das Kind auch schwach. Es ist nur [die Frage], wie es zur Herzklopfen-Krankheit kommen kann, wo doch das Gallenblasen-Qi leer ist. Wenn man nicht um die Qi-[Zustände] der Zangfu-Organe weiß, [nämlich], dass sie alle von der Gallenblase abhängen, dann weiß man auch nicht, dass auch die übrigen Zangfu-Organe nichts haben, worauf sie sich verlassen können, sobald das Gallenblasen-Qi leer ist. Insbesondere das Herz hat niemanden, der es stützt. Deshalb kommt es zu Unruhe und zu Herzklopfen.«761

Die Sichtweise, wonach es sich bei Herzklopfen und Unruhe sowie Zweifel in der Brust um Kälte im Gallenblasen-Qi handele, was dann Schüchternheit bzw. Zaghaftigkeit mit sich bringe, gehörte offensichtlich zum Allgemeinwissen in der Bevölkerung. Doch Chen Shiduo korrigiert diese Sichtweise dahingehend, dass die Gallenblase in diesen Fällen gar nicht an Kälte leiden könne.762 Wenn das Herz vor Angst erschrickt und die Gallenblase zittert, handelt es sich also, 758 Vgl. Huangdi neijing Suwen 19 (36), 519. 759 Hun und Po als leibliche Wirkkräfte bzw. Regungsherde korrespondieren mit Leber und Lunge. 760 Vgl. Zhang Jiebin, Leijing, juan 3, [1957], 58. 761 Im Original heißt es  : 人有得怔忡之癥,心常怦怦不安,常若有官事未了,人欲來捕之狀, 人以為心氣之虛也,誰知是膽氣之怯乎  ?夫膽屬少陽,心之母也,母虛則子亦虛。惟是 膽氣雖虛,何便作怔忡之病  ?不知臟腑之氣,皆取決於膽,膽氣一虛,而臟腑之氣皆無 所遵從,而心尤無主,故怦怦而不安者. Vgl. Bianzheng lu, juan 4, CQS, 780.

762 Vgl. Bianzheng lu, juan 4, CQS, 781.

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diesem Zitat zufolge, um eine geschwächte Gallenblase (dan qie 胆怯).763 Die Auszehrungs-Krankheit (lao qie zhi zheng 痨怯之症) wiederum, die ebenfalls mit Angst einhergeht, verweist auf verletztes (shang 傷) Herz-Qi764 und verletztes Lungen-Qi765 sowie auf geschädigtes Qi insgesamt766, etwa nach einer Geburt.767 An einer anderen Stelle ist es das emotionale Missverhältnis zwischen zwei Organen (Herz und Niere), das ein drittes Organ, nämlich erneut die Gallen­ blase, in Angst und Schrecken versetzt. Die Gallenblase zittert vor Angst und die dadurch induzierte aufschreckende Bewegung manifestiert sich beim Menschen außerdem als massive Schlaflosigkeit, sodass er fürchtet, er werde von Geistern heimgesucht.768 Einmal mehr ist es die Gallenblase, deren Angst »agiert«  : Sie ist in einen Leere-Zustand geraten, weil zuvor »Herz und Niere sich aus Zorn [über die Nichtachtung durch die Shaoyang-Leitbahn, die ja bekanntlich zur Gallenblase gehört] gegenseitig die Türen vor der Nase zugeschlagen haben.«769 Sie erschrickt und zittert, was nicht zuletzt in Bewegungsgestalten am Menschen äußerlich sichtbar ist.770 Das zuletzt erläuterte Verhältnis zwischen zwei Organen ist nicht als eine metaphorische Umschreibung zu lesen, zumal keinerlei Ähnlichkeits- oder Abbildbeziehung feststellbar sind. Vielmehr haben wir es hier mit der vergleichsweise »basaleren, weniger komplexen der beiden Tropen«771 zu tun, der Metonymie. Es ist nicht so, dass eine Ebene vor dem Hintergrund der anderen »agieren« würde  : Sie sind konkomitant und beide gleichermaßen von Interesse. Wenn eine Ebene explizit (in praesentia) genannt wird, so ist die andere (in absentia) von gleicher – unerlässlicher – Relevanz. Diese Verschränkung der beiden leiblichen Ebenen (innen und außen) geschieht nicht in kausaler Beziehung, sondern in kontiger Abfolge. Das Gemeinte ist offensichtlich nicht als Modell präsentiert, wonach sich die Leser die leiblichen Prozesse vorstellen können. Diese Repräsentation lässt vielmehr keinen Zweifel bezüglich des Anspruchs auf »Realität« zu. Es sind 763 Im Original heißt es  : 人有心驚膽顫. Vgl. Bianzheng lu, juan 7, CQS, 854. 764 Vgl. beispielsweise Bianzheng lu, juan 8, CQS, 871. 765 Vgl. Bianzheng lu, juan 6, CQS, 836. 766 Vgl. Bianzheng lu, juan 6, CQS, 831. 767 Vgl. Bianzheng lu, juan 7, CQS, 847. 768 Im Original heißt es  : 人有夜不能寐,恐鬼祟來侵. Vgl. Bianzheng lu, juan 4, CQS, 782. 769 Im Original heißt es  : 心腎乃怒其閉門不納. Vgl. Bianzheng lu, juan 4, CQS, 782. 770 Vgl. Bianzheng lu, juan 4, CQS, 782. 771 Shapiro/Shapiro 1976, 15.

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reale Beziehungen qualitativer Art, die hier »agieren«, und es handelt sich um eine Beziehung der Kontiguität, d. h. der Nachbarschaft oder der sachlichen Zusammengehörigkeit. Der Schlaflose wird durch seinen Inhalt (in diesem Fall die Gallenblase) substituiert  : Die in Angst versetzte Gallenblase schrickt auf und so tut es der an Schlaflosigkeit Leidende. Die Gallenblase ist in gewisser Weise Verursacherin des Geschehens, doch steht die »Wirkung« (d. h. die Schlaflosigkeit) für die Ursache (d. i. die Gallenblase). Das bedeutet zugleich, dass das Gefäß (der Körper) nicht für die sich in seinem Inneren (zwischen den Yin-Organen) abspielenden Szenen steht. Vielmehr ist das Innere mit dem Gefäß kontig verknüpft. Das, was sich innen abspielt, wird nicht nach außen abgebildet. Wohl aber ist die Wirkung (außen sichtbar) nach innen hin mit der Ursache verknüpft. Signifikante Gestalten der Angst Im Folgenden sind Ausformungen von Angst zu betrachten, die in Chen Shiduos Texten einen großen Raum einnehmen. Zeitspezifisch sind sie insofern, als sie im 17. Jahrhundert offensichtlich besonders virulent in Erscheinung treten  : Die Angst vor Eindringlingen und die Angst vor Verzauberung. Die Angst vor Eindringlingen Als Chen etwa achtzehn Jahre alt ist, erobern die Mandschu-Truppen Nanjing (1645)  ; ein Jahr später dringen sie in Qiantang 錢塘 (Hangzhou) ein. Damit ist die südliche Region, aus der Chen stammt, weitgehend in ihrer Hand. Doch Banditen und Rebellen bedrohen über mehrere Jahrzehnte hinweg Land und Menschen. Chen benutzt diese angstbesetzten Figuren durchgängig metaphorisch bzw. metonymisch für die Explikation leiblicher Vorgänge. So lesen wir etwa, dass »Geschwüre wie Banditen sind, die man ausräuchern und dass man das Oberhaupt gefangen nehmen und einkreisen«772 müsse. Wieder und wieder ist die Rede von der Erstürmung und Zerstörung der Stadt (po cheng 破城) sowie ihrer Verteidigung (er shou 而守)773, von ausgemergelten Soldaten (shi 士), weil alles Getreide aufgebraucht sei – und von verschlossenen Toren der Getreidespeicher, die, um eine Heilung herbeizuführen, weit geöffnet werden müssten und dementsprechend als grundlegende Voraussetzung für die Hei772 Tao Shiyu, Prolog Dongtian aozhi, CQS, 1014. 773 Man beachte die Korrelation »Stadt« und »menschlicher Körper«.

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lung gelten. Volle Getreidespeicher seien nämlich Abschreckungsmaßnahmen gegen Diebe und Banditen (zei zi wang feng er fei dun 贼自望風而飛遁), weil diese, wenn sie Ausschau hielten, vom stattlichen Aussehen der Pferde und Soldaten abgeschreckt, schlagartig die Flucht ergriffen. Allerdings würden die Soldaten wiederum, in Analogie zu Arzneimitteln gesetzt, dem Ursprünglichen Qi (yuan Qi 元氣) Schaden zufügen, wenn sie mutig wie springende Tiger (huben zhi shi 虎賁之士) seien.774 Diese gestaltete Thematisierung leiblicher Befindlichkeiten und Prozesse liest sich wie eine Auseinandersetzung mit dem gewaltsamen Dynastienwechsel bzw. mit der Fremdherrschaft der Mandschu sowie mit den vorangegangenen Querelen am Hof. Wenn Banditen und Rebellen in Häuser eindringen und die Besitzer bedrohen, wenn »tyrannische Geschlechter (qiangliang zhi bei 强 梁之辈) sich gewaltsam in einem fremden Heim einnisten (qiao yu renjia 侨 寓人家), kann die Usurpation nur gelingen, nachdem diese dem Hausherrn verständlich gemacht haben, dass er schwach ist. Erst dann können sie sich einnisten wie eine Turteltaube in ein Elsternest (quechao jiuju 鹊巢鸠居).«775 Bei der Usurpation (Vergewaltigung) einer (oder mehrerer) Frau/en bzw. der Hausherrin (jian zhufu 姦主婦) vonseiten gewaltsamer Eindringlinge und Gewalttäter (qiangliang 强梁) komme es zu Beginn noch zu einem Kampf, dann aber übernehme der Gast, [das ist] der Eindringling, die Rolle des Hausherrn.776 Hinter diesem als Vergewaltigung dargelegten Übergriff steht beides  : die »Besetzung des Reiches« und die »Inbesitznahme des menschlichen Leibes« durch Eindringlinge. Diese auffällige Verknüpfungsweise von Leib und sozialem bzw. politischem Raum ist – im Rahmen einer Körpergeschichte – bislang als »Mikro-Makrokosmos-Entsprechung« expliziert worden.777 Doch scheint es mehr als eine Entsprechung zu sein, mehr auch als ein Ähnlichkeitsverhältnis, wie Metaphern suggerieren. Leibliche Prozesse erscheinen vielmehr in metonymischer Verknüpfung mit sozialen Prozessen. Gleichzeitig sind diese Verknüpfungen zu lesen als Postulate einer Veränderung bzw. einer Verbesserung der Verfasstheiten im leiblichen Selbst (shen 身) und im Staat. Zudem operiert der Autor mit Begrifflichkeiten aus unterschied774 Man solle wenig Fuzi 附子 (Eisenhut) verabreichen, wohl aber Danggui 當歸 (Angelika sinensis). Shishi milu, juan 3, CQS, 354. 775 Das Bild erscheint uns fremd, weil wir die Taube mit »Friedlichkeit« und die Elster mit den Räubern assoziieren. Vgl. Bianzheng lu, juan 8, CQS, 869. 776 Siehe Bianzheng qiwen, juan 8, CQS, 595–6. 777 Für die europäische Geschichte siehe die beeindruckende Studie von Guldin 2000.

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lichen Zusammenhängen – wie der yangsheng-Pflege des Lebens sowie mit buddhistisch und daoistisch gefärbten Denkansätzen. Damit wird das weite Feld (des Leidens) auf »neue« Weise anschlussfähig für die Medizin, die so die Basis schafft für ihre (neue) Identität als Profession. Die Angst vor Verzauberung Während der gesamten spätkaiserzeitlichen Periode (14.–20. Jahrhundert) war Zauberei – von Menschen oder von nicht-menschlichen Kräften bewirkt – ein Phänomen, das zwar einer andersgearteten Realität zugeschrieben, aber dennoch als zur irdischen Welt gehörig erachtet wurde. Geister, Monster, Dämonen, Götter, Füchse, Monstergeburten sowie karmische Sühneleistung beherrschten die Gedanken der Menschen in unterschiedlichen Ausmaßen. Insbesondere in den fruchtbarsten Gegenden Chinas am unteren Yangzi-Delta schien im späten 17. und im ganzen 18. Jahrhundert778 die Angst vor Zauberei umzugehen. Man hatte Angst vor Menschen und Geistern (wei gui 畏鬼)779, die das Leben anderer gewaltsam raubten (duoming zhi wu 夺命之物)780 und schädigten. Hier vermischte sich das Phänomen der »Seelenräuber« (jiao hun 叫魂)781 mit der Angst vor marodierenden Banditen und vor Entwurzelten (guanggun 光棍)782, die ohne Frau und Besitz waren. Auch die Angst vor der Begegnung mit Fuchsgeistern (yao hu 妖狐 ),783 Wassertieren oder Schlangenwesen (sheyao 蛇妖)784 gehört in diesen Kontext.785 778 Im Vergleich zu vorherigen und nachfolgenden Zeiten gilt diese zeitliche und räumliche Spanne als eine des außergewöhnlichen Wohlstands. Doch sei hier dahingestellt, ob die Interpretation, wonach materieller Wohlstand Anlass zu Sorglosigkeit und Unbekümmertheit geben müsse, auch für diesen Kontext geltend gemacht werden kann. Dementsprechend sollten wir diese Situation auch nicht als paradox interpretieren, wie dies Kuhn 1990 versucht hat. Vielmehr ließe sich hier das ethnologisch fundierte Konzept der »Neid-Gesellschaft« bemühen. 779 Vgl. Bianzheng qiwen, juan 4, CQS, 536. 780 Siehe Bianzheng lu, juan 13, 981. 781 Siehe hierzu die Studie von Kuhn 1990. 782 Die zunehmend eindringlichen Ermahnungen zu Keuschheit in der späteren Qing-Zeit sind beispielsweise als Indiz dafür gewertet worden, dass die Grenzen gegen jene, die den status quo potentiell in Frage stellen konnten, fragil geworden waren. Siehe hierzu Sommer 2000, 15. 783 Vgl. Bianzheng lu, juan 10, CQS, 929. 784 Siehe die Warnungen und Vorsichtsmaßnahmen bei Chen Shiduo, Bianzheng lu, juan 10, CQS, 929–932. 785 Weil sie der Yin-Welt angehörten, benötigten sie dringend Yang, um sich zu vervollkommnen. Siehe hierzu Mondschein 1988. Bianzheng lu, juan10, CQS, 929.

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Diese suchten sich – in Gestalt schöner verführerischer Frauen (jian funü zhi yaorao 見婦女之妖嬈),786 Fuchsfeen (huli 狐狸)787 und Bergdämoninnen (shan­xiao 山魈)788 – junge unerfahrene Gelehrte, um ihnen durch Beischlaf die Lebenskraft auszusaugen. Literarische Schriften des 17. Jahrhunderts sind voll von solchen Geschichten.789 Hier mischt sich die Angst vor Befall durch Dämonen mit der Angst davor, der Liebe zu einem Menschen wehrlos ausgeliefert zu sein. In jedem Fall lässt sich eine uralte Angst vor Parasiten herauslesen, wobei die Affinität zur Sexualität schon durch die Doppelbedeutung von jing 精 als männlicher Samen einerseits und als Essenz (d. h. die subtilste »greifbare« Lebenskraft) in jedem Menschen andererseits gegeben ist. Auch die zuweilen epidemisch grassierende Angst vor dem Wurmgift (gudu 蠱毒)790 ist eine Angst vor Zauberei. Gu – das Zeichen zeigt drei Schlangen bzw. Reptilien auf/in einem Gefäß – wird aus mehreren Insekten und Kleinreptilien gewonnen, die in einem Gefäß gefangen sind. Nachdem sie sich gegenseitig aufgefressen haben, wird dem letzten und einzig überlebenden Tier das Gift entnommen und unliebsamen Zeitgenossen ins Essen gemischt.791 Besondere Vorsicht war in Gaststätten und Herbergen geboten. In den südli-

786 Vgl. Bianzheng lu, juan 10, CQS, 927–28. 787 Das Fuchsmotiv taucht insbesondere in den zhiguai 志怪 (Geschichten des Seltsamen) aus den Sechs Dynastien (221–589 n. Chr.) gehäuft auf. Der Terminus zhiguai findet sich ebenfalls bereits während dieser Zeit als generische Bezeichnung. Siehe hierzu Company 1996, 29. Die Erzählungen enthalten Geschichten über Fuchsgeister, die sich in schöne Frauen verwandeln und junge Männer verführen und auszehren, bis diese schließlich dem Tod anheimfallen. Siehe hierzu Zeitlin 1993, 5–7, und überblicksartig Motsch 2003, 124ff. 788 Vgl. Bianzheng lu, juan 10, CQS, 931. 789 Zu dieser Datierung siehe Huntington 2000, 87. Huntingtons Überblick 2000, 78–128, über die neueren Forschungsbefunde hinsichtlich des historischen Wandels der Fuchs-Metapher im chinesischen Kontext bildet die Basis der im Folgenden kurz angerissenen, für unsere Belange wichtigen Befunde  : Füchse sind nicht durchgängig in der chinesischen Geschichte mit gefährlichem Sexualverkehr assoziiert gewesen  ; sie waren auch verehrt als populäre Gottheiten, als angehende Unsterbliche, als eine Art Poltergeister, als romantische Heroinen und Gelehrten-Freunde. Die Assoziation des Fuchses mit der lebensbedrohenden Sexualität vonseiten weiblicher Füchse florierte insbesondere vom 17. bis in das 19. Jahrhundert hinein. Ter Haar 2006, 202–257, verfolgt die Angst vor Füchsen und anderen kleinen Tiere wie Katzen und Dämonenvögeln im Rahmen seiner Monographie zu der Macht und den Hintergründen von Ängsten, die Menschen zu Handlungen motivierten. Detaillierte Hinweise zum Zusammenhang »femme fatale und Füchsinnen« liefert Mondschein 1988. 790 Siehe hierzu Unschuld 1980, 43–47. 791 Vgl hierzu Bianzheng lu, juan 10, 934.

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chen Provinzen Guangxi und Guangdong (liang yue 兩粵)792 kam die Angst vor den Eingeborenen (turen土人) hinzu, denen Rachegefühle gegenüber den Han-chinesischen Eindringlingen unterstellt wurden. Chen Shiduo mutmaßt, dass die Eingeborenen nicht nur über das Gu-Gift, sondern auch über wirksame Maßnahmen gegen das Gift verfügten, die sie aber wohlweislich nicht verrieten.793 Die Gebiete der Eingeborenen waren umso mehr gefürchtet, als hier subtropische Krankheiten wie Malaria (zhang li 瘴癘)794 und Lepra (da mafeng 大麻風)795 lauerten. Verzauberung (zhong yao 中妖)796 drohte auch bei der Begegnung mit Zwergen (airen 矮人) oder Alten (Mönchen oder Eremiten) mit weißen Bärten und Augenbrauen (chang lao xumei banbai 長老鬚眉頒白), die Reisende in ihren Bann zögen. Diese folgten ihnen dann in ihre Behausung, wo jene vorgaben, von Herz zu Herz zu sprechen und sich über den rechten Weg (dao 道) auszutauschen (tanxin lun dao 談心論道)797. Im folgenden Zitat sind all diese Ängste angesprochen  : »Diese Wesen hinterlassen keine Spuren, denn sie sind Menschen, die über das dao verfügen (dao zhi shi 道之士) und Sonderlinge (guaiwu 怪物). Wie könnte man solche [Menschen] ablehnen  ? [Wenn] sie sich bisweilen in begabte, aber leichtlebige Schriftkundige und Gelehrte (xiu shi 秀士) oder in verführerische Dämoninnen, kurzum in feenhafte Wesen, die ihre Schönheit zur Schau stellen (yaoji 妖姬), gewandelt haben, dann sprechen sie schöne Worte und beschenken [ihre Gäste] mit kostbaren Gaben. Die Menschen werden davon in die Irre geleitet. Schließlich kommt es so weit, dass sie [es mit ihrem Opfer] wild treiben (ye he 野合). [Der Geist] saugt dessen Essenz aus (xi jing 吸精), während sie nach Herzenslust ihren sexuellen Gelüsten nachgehen (jin qing cong yu 儘情從欲). Die Menschen verfolgen sie, aber sie verstecken sich nicht. Die Menschen beschimpfen sie, und sie werden zornig. (Wie durch) einen Sandsturm zerfallen Haus und Hütte [des Opfers]. Die Leute fragen sich, was dahinter steckt (guai 怪). Wer weiß schon, dass es sich um 792 Vgl. Bianzheng lu, juan10, CQS, 934. 793 Vgl. Bianzheng lu, juan 10, CQS, 934. 794 Dieser Begriff erscheint als eine Art Oberbegriff für Krankheiten, die mit dem Miasma in Verbindung gebracht wurden. Vgl. Bianzheng lu, juan 10, 919. 795 Vgl. Shishi milu, juan 5, CQS, 384–386. 796 Hierzu findet sich im Bianzheng lu ein ganzes Kapitel unter »Zhong yao men 中妖門 (Getroffensein von Dämonen). Vgl. Bianzheng lu, juan 10, CQS, 929–832. 797 Im Bianzhenglu heißt es an der entsprechenden Stelle (juan 10, CQS, 931) »lunxing 論性«. Siehe Bianzheng qiwen juan 10, CQS, 637.

Angst 

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[Geister der] Weichschildkröte, Fische, Ur-Schildkröte (yuan gui 元龜) und dergleichen Wassertiere (shuizu 水族) handelt  ? Die Wassertier-Dämonen (shuizu zhi guai 水族之怪) dürfen das Wasser nicht verlassen. Warum kommen sie dann an Land und »treiben ihr Unwesen mit den Menschen« (zuo sui 作祟)  ? Man weiß aber nicht, dass diese Wesen im Allgemeinen ein unwürdiges Dasein auf der Erde führen, dass diese Wesen sich [durch Beischlaf ] nach tausend Jahren in Menschen verwandeln können. Wenn sie sich in Menschen verwandeln können, wie soll es [für sie dann unmöglich sein], sich auf dem Land zu bewegen  ?«798

Zusammenfassend ist festzustellen, dass Chen Shiduo auch bei der Angst die vielfältigen dahinterliegenden leiblichen Prozesse zu rekonstruieren sucht. Die Aspekte von Angst und Furcht stimmen mit den entsprechenden Korrelationen im Rahmen des Fünf-Phasen-Paradigmas überein  : [Zu viel] Freude verletzt das Herz, Angst überwindet Freude (kong sheng xi 恐勝喜), denn die Angst ist den Nieren zugeordnet, die mit dem Wasser korrelieren  : Wasser überwindet Feuer (Freude  : Herz). Die Angst wiederum wird vom Denken überwunden. Denken korreliert mit der Milz, die der Erde zugeordnet ist. Erde überwindet Wasser (Angst  : Nieren).799 Wenn die Angst bei Chen Shiduo wesentlich in der Gallenblase agiert, so hebelt er damit die konventionelle Zuordnung von Angst zur Niere nicht aus, sondern unterstreicht einmal mehr das komplexe, mehrschichtige emotionale Geschehen, das sich in wechselnden Orten im Leib abspielt. Angst vor Dämonen und Geistern in schlaflosen Nächten verweist, laut Chen Shiduo, auf eine ungenügende Verbindung zwischen Herz und Niere. Schreckhaftigkeit während der Nacht, Horrorgefühle und das Herz voller Angst800 verweisen auf die Angst vor dem bedrohlichen Nachbarn – sei es die Leber oder das nördliche Grenzvolk der Mandschu, die das chinesische Reich 798 Im Original heißt es  : 莫能蹤跡,此有道之士、即是怪物,何必拒之。間有化秀士以斗 風流,變妖姬以逞姣好,乃美言相挑,以珍物相贈,人為所惑,遂至野合,久之探戰吸 精,盡情縱欲,人逐之而不避,人罵之而生嗔,飛沙走石,壞屋倒廬,世多不識其,誰 知是魚鱉元龜之族哉。夫水族之怪,不能離水,何以登岸而作祟耶?不知凡物之偷生於 世者,年至千歲,皆能變化為人。既能變化,有何陸之不可游. Vgl. Bianzheng lu, juan

10, CQS, 931. 799 Dies ist die Quintessenz einer viel umfassenderen Diskussion bei Chen Shiduo, Waijing weiyan, juan 6, CQS, 41. Solche Eins-zu-eins-Korrelationen werden allerdings immer dann aufgebrochen, wenn eine andere Perspektive es verlangt. So haben wir beispielsweise oben die Gallenblase als Ausgangspunkt von Angst besprochen. 800 Im Original heißt es  : 人有夜臥常驚, 或多恐怖, 心懸懸未安. Vgl. Bianzheng lu, juan 8, CQS, 876.

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bedrohten. Dies erkläre insbesondere auch das erschreckte und verkrampfte Herz.801 Wie im Falle des Zorns können Angst und Furcht auch medizinisch funktionalisiert werden, um einen Qi-Fluss umzudrehen. Weil Angst nach unten und in die Enge führt, kann sie, wenn sie groß bzw. stark ist, einen übermäßig nach oben steigenden Qi-Fluß, wie etwa loderndes Feuer, in die rechten Bahnen bzw. nach unten lenken. Angst, so Chen Shiduo, wurde schon von den Alten als Therapiemaßnahme eingesetzt  : Man müsse die Angst einer Frau [etwa während einer Geburt] verstärken, weil sich mittels der Angst das übermäßig aufsteigende Qi des Herzens überwinden bzw. nach unten bringen lasse.802 Im Gegensatz zu Zorn, der als nach oben explodierende, somit auflösende (Spreng-)Kraft eingesetzt wird, um beispielsweise Trauer, Melancholie und Schwermut zu zerstreuen, ist Angst die beengende, hinunterdrückende, zusammenziehende Kraft. Dies entspricht den grundlegenden leiblichen Dimensionen der Engung und Weitung.803

Schmerz  : Kartographie und Lokalisationen804

Tief empfundenen Schmerz (shen ke tong ye 深可痛也)805 angesichts der zahllosen Epidemie-Opfer artikuliert Chen, indem er sein Herz als schmerzendes, mitleidendes Herz (wu xin tongzhi 予心痛之) offenbart, das danach verlange,

801 Im Original heißt es  : 震邻之恐, 犹有警惕之心. Siehe Bianzheng lu, juan 1, CQS, 703. 802 Im Original heißt es  : 心氣過升之故, 治法必須降氣為主. Siehe Bianzheng lu, juan 3, CQS, 752. Hierbei geht es um die Situation einer gebärenden Frau, die, weil ihr Herz Schrecken erlitt (weil die Gebärmutter geplatzt ist, das Kind aber nicht herauskommt) und die Zunge herausstreckt und sie nicht wieder in den Mund zurückbringen kann. Da die Zunge die Wurzel des Herzens ist, hat eine so einschneidende »Bewegung im Herzen« wie der Schrecken diese Wirkung nach außen (in der Zunge). Die Therapie, durch Angst das nach oben steigende Qi wieder nach unten zu bringen, verweist auf die (unterschwellige) Sicht, wonach Angst nach unten, in die Enge, führt. Chen Shiduo jedoch merkt an dieser Stelle an, dass zu befürchten sei, dass diese Methode (der Angst-Verstärkung) das Herz schädigt. Er plädiert dafür, das Herz zu ergänzen, d. h. zu unterstützen (und nicht darin, es durch Angst zu schwächen). 803 Als solche sind sie bei Schmitz 1990, klassifiziert. 804 Schmerz ist schon lange Gegenstand in der »Medical Anthropology«. Schmerz in seiner Antithese zur Sprache (im Schmerz selbst gibt es kein Reden) wird in neuerem Nachdenken über theoretische Fundierungen einer Körpergeschichte als Ausgangspunkt und Antrieb für Kultur gesehen, vgl. Scarry 1992. Siehe hierzu die Diskussion bei Tanner 1994. 805 Vgl. Shishi milu, juan 5, CQS, 397.

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die Leiden der Menschen zu verringern.806 Damit thematisiert er den zweiten Teil einer doppelten Verfasstheit des Schmerzes  : Als Leiden am eigenen Leib einerseits und als Teil des Leidens am Leid der anderen, als Mitleid, andererseits. Der Ort des letzteren ist vorzugsweise das Herz. Doch wird im Folgenden nicht davon die Rede sein, sondern von Schmerzen (tengtong 疼痛), wie sie bei Chen Shiduo als zentrale Konstante in diagnostischen und therapeutischen Explikationen erscheinen. Diese Schmerzen fungieren nicht wie Zorn und Angst als Emotion (qing 情) im engeren Sinne, wohl aber als gesamtleibliche und/oder teilheitliche Befindlichkeiten in mehreren Facetten. So seien die Orte des Schmerzes und nachfolgend die medizinischen Ordnungen dargestellt. Bestrafungsmaßnahmen durch Beamte beinhalteten Folterung und Schläge (xingzhang 刑杖), und der Arzt sah nachfolgend einen Körper in Schmerz (bianshen tengtong 遍身疼痛)807 vor sich, dessen Beine etwa nach wiederholten Stockhieben verfaulten und verwesten.808 Diesen von außen zugefügten Schmerzen steht eine Vielzahl von im Körper selbst entstehenden Schmerzen gegenüber  : Kopfschmerzen (tou tong 頭痛)809, Bauchschmerzen (fu tong 腹痛), Augenschmerzen (mu tong 目痛), Rippenschmerzen bzw. Flankenschmerzen (lei tong 脇痛), Halsschmerzen bzw. Kehlkopfschmerzen (hou tong 喉痛), Rachenschmerzen (yan tong 咽痛), Kopfschmerzen in Verbindung mit Schmerzen am gesamten Leib (tou tong bianshen ye teng 頭痛遍身亦疼)810, Schmerzen an Händen und Füßen, die sich schwer (anfühlen) und wehtun (shou zu chenzhong er teng 手足沉重而疼)811, Schmerzen an Herz und Bauch (xin tong fu teng 806 Vgl. Shishi milu, juan 5, CQS, 385. 807 Vgl. Bianzheng lu, juan 3, CQS, 770–771. 808 Vgl. Bianzheng lu, juan 3, CQS, 999. 809 Allein zu »Schmerzen in der Kopfgegend«, vgl. Bianzheng lu, juan 2, CQS, 739–740, ließe sich ein ganzes Kapitel mit Chens phänomonologischen Differenzierungen füllen  : So unterscheidet er, ob die Schmerzen durch eingedrungenes Übel in das Gehirnmark (naosui 脑髓) verursacht worden sind oder durch eingedrungenes Übel in die Fünf Yin-Organe oder durch exzessiven Alkoholgenuss, vgl. Bianzheng lu, juan 2, CQS, 740, oder durch zusätzliche sexuelle Begehrlichkeiten oder durch Hitze oder Kälte. Vgl. Bianzheng lu, juan 2, CQS, 740. Differenziert werden diese Schmerzen in der Kopfgegend außerdem von halbseitigen Schmerzen am Kopf (半邊頭風者), die, wenn sie bis zu zehn Jahre andauern, die Augen krank werden ließen, vgl. Bianzheng lu, juan 2, CQS, 741. Diese Schmerzen verringerten sich, wenn der Betroffene in günstigen Umständen lebe, und sie verschlechterten sich schlagartig, wenn er auf widrige Umstände treffe. Insgesamt seien Kopfschmerzen häufig auf gestautes Qi (yu qi 鬱氣) zurückzuführen. 810 Vgl. Bianzheng lu juan 1, CQS, 711 811 Vgl. Bianzheng lu juan 1, CQS, 710.

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心痛腹疼)812, im Unterbauch (xiaofu zuo tong 小腹作痛),813 an beiden Armen (liang bi zuo tong 两臂作痛), Schmerzen und Unbeweglichkeit an Beinen und Knien (tui xi ju tong 腿膝拘痛)814, Fülle- bzw. Engegefühl in der Brust, das Schmerzen verursacht (xiongman zuo tong 胸满作痛)815  ; Sehnen krampfen, und die Knochen tun weh (jin luan gu tong 筋攣骨痛)816  ; das Gesicht ist angeschwollen und tut weh (you ren toumian zhong tong 有人頭面腫痛)817  ; Hände und Füße leiden unter ziehenden Schmerzen (tengtong 疼痛), und wenn dies lange andauert, dann setzen Empfindungslosigkeit und Lähmung ein818.

Schmerzen sind diagnostische Indikatoren  : Je nach Intensität, Lokalisation und Zeitpunkt des Auftretens, aber auch je nachdem, ob Schmerzen in diffuser oder in unbestimmbarer Form (wu xing zhi tong 無形之痛) zutage treten, leiten sie den Fokus des Arztes819. Beispiele hierfür sind Schmerzen in Brust und Rumpf, an Händen und Füßen sowie am Rücken820, die kommen und gehen bzw. sich dann in einem schweren Kopf äußern, den man nicht heben kann, wobei sich der Schleim während des Schlafes in einem Winkel des Mundes sammelt und entweicht, und beim Schlafen Geräusche im Hals entstehen.821 Auch bei heftigen Schmerzen in der rechten Rippengegend, die so stark an-

812 Vgl. Bianzheng lu, juan 1, CQS, 718. 813 Vgl. Bianzheng lu, juan 1, CQS, 719. 814 Dies entstammt einer Passage, die den Leib eines Alkoholkranken beschreibt. Vgl. Bianzheng lu, juan 2, CQS, 722. 815 Diese Situation ist als Folge von großem Zorn geschildert. Vgl. Bianzheng lu, juan 2, CQS, 723. 816 Beschreibung einer Depression mit Knoten im Hals – diagnostiziert als Leber-Holz-Imbalance. Vgl. Bianzheng lu, juan 2, CQS, 723. 817 Auch hier  : Hinfallen, Krämpfe, nicht fähig zu sprechen. Vgl. Bianzheng lu, juan 2, CQS, 729. 818 Im Original heißt es  : 手足流注疼痛, 久之則麻痹不仁. Hier wird das Zusammenspiel von Wind und Feuchtigkeit diskutiert, das häufig auch als Rheuma übersetzt wird. Vgl. Bianzheng lu, juan 2, CQS, 730. 819 So finden sich Kopfschmerzen (tou tong 頭痛), Bauchschmerzen (fu tong 腹痛), Herzschmerzen (xin tong 心痛), Hüftschmerzen (yao tong 腰痛), Halsschmerzen (yan tong 咽痛), Zahnschmerzen (ya tong 牙痛), Ohrenschmerzen (er tong 耳痛), Augenschmerzen (mu tong 目痛), Rückenschmerzen (bei tong 背痛), Schmerzen in den Knochen (gu tong 骨痛) sowie auch Schmerzen am ganzen Körper (人有遍身疼痛) durchgängig als solche Indikatoren. Vgl. Vgl. Bianzheng lu, juan 2 und 3, 735–772. 820 Im Original heißt es  : 人有胸背手足腰脊牽連疼痛不定. Vgl. Bianzheng lu, juan 2, CQS, 732. 821 Im Original heißt es  : 或來或去, 至頭重不可舉, 痰唾稠粘,口角流涎, 臥則喉中有聲. Vgl. Bianzheng lu, juan 2, CQS, 732.

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schwillt, als wäre der/die Betroffene der Trunksucht verfallen822, sei zu unterscheiden, ob der Schmerz diffus, d. h. ohne umrissene Gestalt (wu xing zhi tong 無形之痛) sei, oder ob er eine bestimmbare Gestalt aufweise (you xing zhi tong 有形之痛).823 Letztere Situation erleichtere die Diagnosestellung, da das Wissen um den genauen Ort des Schmerzes eine Verbindung zum »eigentlichen« Geschehen nahelege. Ordnungen des Schmerzes Schmerz bzw. die Fähigkeit, Schmerz zu empfinden, gilt durchgängig als Indiz dafür, dass der Mensch lebendig ist oder dass sich die Lebensgeister eines Kranken wieder regen.824 Wenn sich z. B. Lähmungserscheinungen zurückziehen, dann »weiß [sic  !] entweder der gesamte Körper um den Schmerz« (shen zhi tongyang 身知痛痒)825 oder auch einzelne Teile wie die Hände wissen darum (shou zhi tongyang 手知痛痒)826  : Haut und Fleisch sind schmerzunempfindlich (jifu bu zhi tongyang 肌肤不知痛痒 […]), wenn das Qi nicht zu Haut und Fleisch vordringen kann, weshalb diese keinen Schmerz empfänden.827 Schmerzen werden auch vom Arzt evoziert, um im Sinne der medizinischen Funktionalisierung beim Patienten Zorn zu erzeugen, der dann die Qi-Bewegung aus seiner Erstarrung einleiten soll.828 Schmerzen gelten vor allem als diagnostisch zu verifizierende Merkmale für die Eruierung von Krankheitszusammenhängen. In Chens Schriften sind insbesondere drei diagnostische Zusammenhänge auszumachen, die im Folgenden gesondert betrachtet werden sollen. So führt er Schmerz auf Wind-Kälte bzw. auf »Kälteverletzungen (shang han 傷寒)«829 und Feuchtigkeit zurück. Schmerz erscheint in seiner multi-semantischen Natur als »Herz-Schmerz« sowie auch als Folge von Fehlverhalten in den Zang-Organen mit ihren Leitbahnen. 822 Im Original heißt es  : 人有右胁大痛,肿起如覆杯. Vgl. Bianzheng lu, juan 2, CQS, 739. 823 Vgl. Bianzheng lu, juan 2, CQS, 739. 824 Vgl. Bianzheng lu, juan 2, CQS, 724. 825 Dies bezieht sich auf eine Situation, in der der ganze Leib taub bzw. gefühllos ist (mamu 麻 木). Nachdem diese Situation therapiert worden ist, nimmt der Körper wieder Schmerz wahr. Vgl. Bianzheng lu, juan 2, CQS, 730. 826 Vgl. Bianzheng lu, juan 2, CQS, 724. 827 Im Original heißt es  : 氣不能行於肌膚, 則痛癢不知矣. Jemand fällt plötzlich zu Boden, kann nicht mehr sprechen. […] Haut und Muskeln sind leblos. Vgl. Bianzheng lu, juan 2, 724. 828 Vgl. Bianzheng lu, juan 4, CQS, 791. 829 Vgl. Bianzheng lu, juan 1, CQS, 701–720.

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Schmerz bei Wind, Kälte und Feuchtigkeit Wind-Kälte-Krankheiten gehen in vielerlei Zusammenhängen mit Schmerzen einher. Gleichzeitig können sie dem Arzt auch eine Hilfe bei der Diagnose sein, so, wenn sich Wind-Kälte im Magen festsetzt und Lähmungen verursacht  : bei Unruhe und Brechreiz, bei Fülle-Völlegefühl und Bedrückung im Zwerchfell, Schmerzen beim Schlucken von Saurem, Schmerzen beider Füße.830 Ebenfalls mit Unruhe, mehr noch mit Schreckhaftigkeit, Angst bzw. Abneigung vor Kälte geht Schmerz einher, der sich unterhalb des Herzens einstellt  ;831 Schmerz bei Bewegungen, und zwar am ganzen Körper, wird ebenfalls auf Wind, Kälte und Feuchtigkeit zurückgeführt.832 Bei Bein- und Knieschmerzen, die das Gehen beschwerlich machen – »wenn man sich selbst berührt, fühlen sich Haut und Fleisch bis in die Knochen hinein kalt an« – würde man daran denken, dass es sich um eine Kälte-Paralyse handele.833 Turbulenzen in den Inneren Organen Kann Schmerz bei Wind-Kälte-Krankheiten grundsätzlich überall, insbesondere auch in den Extremitäten vorkommen, so ist der Schmerz in dem folgenden diagnostischen Zusammenhang in verschiedenen inneren Organen angesiedelt  : im Magen, in der Leber, im Herzen und in den Nieren. In der Yangming-Leitbahn, der Hauptleitbahn des Magens, fühlen sich Schmerzen an wie beim Schneiden in die Haut (ran’er qie fu zhi 然而切肤之).834 In der 830 Im Original heißt es  : 人有嘔吐不寧,胸膈飽悶,吞酸作痛,因而兩足亦痛者. Vgl. Bianzheng lu, juan 2, CQS, 731. 831 Im Original heißt es  : 人有心下畏寒作痛,惕惕善驚. Vgl. Bianzheng lu, juan 2, CQS, 731. Hier wird die Erklärung auch gleich mitgeliefert  : Wind und Wasser bedrohen und stören das Herz. Weil das Herz vom Wasser-Übel bedroht wird  : Dies bedeutet gleichermaßen Schmerz. Es scheint keine weitere Vermittler-Instanz zu geben oder noch eine andere Schaltstelle, die den Schmerz übermitteln könnte. Der Schmerz selbst ist diese Situation (das Eindringen des Wasser-Übels in das Herz). Allerdings  : Das Herz ist nicht alleine. Es ist von einem Beschützer umgeben, einem zusätzlichen Haus, das es bewahren, wärmen, und ruhig machen soll bzw. dafür sorgt, dass das Herz eine ruhige Haltung einnehmen kann. Und so heißt es denn auch folgerichtig  : Um die Behandlung zum Erfolg zu führen, muss die Herz-Hülle ausgerichtet/begradigt werden, um das Herz zu schützen. (zheng xinbao yi zhang xin 正心包以障心). Vgl. Bianzheng lu, juan 2,CQS, 731. 832 Im Original heißt es  : 人有一身上下盡行作痛.Vgl. Bianzheng lu, juan 2, CQS, 732. 833 Im Original heißt es  : 人有腳膝疼痛, 行步艱難,自按其皮肉直涼至骨, 人以為是冷痹也. Vgl. Bianzheng lu, juan 2, CQS, 733. 834 Vgl. Bianzheng lu, juan 1, CQS, 715. Diese Wendung findet sich übrigens im heutigen Chinesisch in der Bedeutung »tiefe reuevolle Betroffenheit bzw. Schuldgefühle«.

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folgenden Passage ist diese Bedeutung gänzlich auf der Organebene angesiedelt  : »[Wenn] es im elften Monat [des Mondkalenders] zu einer Kälteverletzung kommt und sich die Hitze bis zu sieben Tage hält und nicht auflöst, [der Betroffene] irre redet ohne Unterlass, so denken die Leute, dass dies ein Zeichen für eine erneute Invasion der Yangming [-Leitbahn durch Übel-Qi]835 sei. Aber wer weiß schon, dass [in Wirklichkeit] das Übel [Qi] zum Yangming zwar vordringen will, dieser [das Übel] aber nicht aufnimmt  ? Der Yangming hat bereits vorher Übel [in sich aufgenommen]. Sieht er das Übel [außen], so widersteht er ihm. So scheint es sich um Schwierigkeiten [des ÜbelQi] beim Eindringen in den Yangming zu handeln. Aber [in Wirklichkeit ist der Yangming von den] Schmerzen [wie] beim Schneiden in die Haut ergriffen, dass er bereits vorher die Leitbahn [für das Übel] bereitgehalten hatte  ! Deshalb, sowie er das Übel wiederum in die Taiyang [-Leitbahn eindringen sieht]836, fürchtet er nur, dass das Übel erneut in ihn, den Yangming, eindringen könnte. So sind es die Ängste [vor] dem Nachbarn, die zunächst die Rufe [auslösen], und [daraufhin und daraus] entstehen die wirren Reden. [Dementsprechend handelt es sich] nicht um irre Reden, die [als Folge] von vorherigem exzessivem Übel entstanden wären. So muss man bei der Therapie nicht nur den Yangming kurieren, sondern, indem man dem [Übel-Qi] den Weg zum Yangming abschneidet, lediglich das Übel aus dem Taiyang vertreiben. Und wenn das Übel vertrieben ist, wird es nicht erneut in den Yangming eindringen [können].«837

Die Schmerzen der Yangming-Leitbahn, ihre Angst vor dem Nachbarn, veranlassen diese Leitbahn zu Rufen und Schreien, was sich dann wiederum im Irre-Reden des Menschen manifestiert. Auch hier handelt es sich nicht bloß um eine metaphorische Umschreibung des Geschehens, sondern um die doppelte metonyme Verknüpfung, zum einen in der Anthropomorphisierung der Organe und zum anderen in der spezifischen Verknüpfung vom Innen (Leitbahn) mit dem Außen (dem Irre-Reden des Patienten). 835 Die Hauptleitbahn Yangming ist dem Funktionskreis Magen zugehörig. 836 Die Hauptleitbahn Taiyang ist dem Funktionskreis Dünndarm zugehörig. 837 Im Original heißt es  : 冬月傷寒,至七日而熱猶未解,譫語不休,人以為證復傳陽明也, 誰知是邪欲走陽明而陽明不受乎。夫陽明已經前邪,見邪則拒,似乎邪之難入矣。然而 切膚之痛,前已備經,故一見邪再入太陽,惟恐邪之重入陽明也。所以震鄰之恐先即呼 號而譫語生,非從前邪實而作譫語者可比。治法不必專治陽明,以截陽明之路,惟散太 陽之邪,而邪已盡散,斷不復入陽明也. Vgl. Bianzheng lu, juan 1, CQS, 715.

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In einem anderen Fall ist es ein Leere-Zustand in den Nieren, der das Zusammenspiel des Herzens mit den übrigen Yin-Organen negativ beeinflusst und das Herz in unerträgliche Schmerzen versetzt.838 Insbesondere sind die Nieren betroffen bei übermächtigen sexuellen Begierden bzw. »im Schlafgemach«  : So entstehen Schmerzen an beiden Seiten des Rumpfes.839 Grundlegend ist die Verletzung der Nieren, doch wenn zur gleichen Zeit noch Groll und Ärger hinzukommen, dann erleidet zusätzlich die Leber Verletzungen.840 Auch im Folgenden ist von Schmerz in den Knochen und von Schmerzen als Nebenerscheinung einer Depression als Ausdruck von gestautem Leber-Holz die Rede  : »Jemand leidet [für längere Zeit] unter Niederdrückung im Busen [Schwermut], die Sehnen verkrampfen sich, und die Knochen schmerzen  ; im Hals fühlt es sich an wie ein Obstkern, den man nicht [hinunterschlucken kann]  ; nach der Einnahme von Arzneien, die das Qi zum Fließen bringen und zerstreuen sollten, trat [in diesem Fall] eine Gesichtslähmung ein  ; die beiden Arme wurden unbeweglich, der Schleim stockte in extremer Weise. […] Wer weiß schon, dass es sich um gestautes Leber-Holz handelt.«841

Der Arzt muss immer wieder zu eruieren suchen, welches Missverhältnis unter den Yin-Organen zu Schmerzen führt, so auch bei Schmerzen in der Rippengegend, die monatelang, ja bis zu einem Jahr lang andauern, ohne aufzuhören. Dazu gehören auch sich einstellende Kälte und Hitze im Körper sowie Appetitlosigkeit. Während die Menschen dächten, es handele sich hierbei um eine Krankheit der Leber-Leitbahn, wüssten sie aber nicht um die wahre Ursache. Ärgerliches bzw. grollendes Qi (Qi naozhe 氣惱者) sei nämlich zumeist die Ursache für diesen Schmerz […].842 Diesem Zusammenhang – Ärger, der sich nicht in Zorn artikulieren kann, führt zu unterschiedlichen Leidenszuständen – sind wir bereits oben begegnet. 838 Im Original heißt es  : 人有心痛不能忍. Vgl. Bianzheng lu, juan 2, CQS, 737. 839 Im Original heißt es  : 人有贪色房劳 […] 两胁作痛. Vgl. Bianzheng lu, juan 2, CQS, 739. 840 Vgl. Bianzheng lu, juan 2, CQS, 739. 841 Im Original heißt es  : 人有懷抱鬱結,筋攣骨痛,喉間似有一核,結住不下,服烏藥順氣 散等藥,口眼歪斜,兩臂不能伸舉,痰涎愈甚,[…] 誰知是肝木之不舒乎. Vgl. Bianzheng lu, juan 2, CQS, 723. 842 Im Original heißt es  : 人有兩脅作痛,終年累月而不愈者,或時而少愈,時而作痛,病來 之時,身發寒熱,不思飲食,人以為此肝經之病也。然肝經之所以成病,尚未知其故, 大約得之氣惱者為多. Vgl. Bianzheng lu, juan 2, CQS, 737.

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Abb. 10  : Die Gestalt des Herzens – und seine Verbindungen mit den übrigen vier Yin-Organen (Lunge, Niere, Leber und Milz). Aus  : Xu Chunfu 徐 春甫 (1520–1596  ?). Gujin yitong daquan 古今醫統大全, reprint 1991, Bd. 1, juan 6, 394.

So bleibt an dieser Stelle allein der Verweis auf die Beobachtung von multipel auftretenden Zustandsweisen von Zorn bzw. zornigem, widerspenstigem Verhalten und den Schmerzen in der Rippengegend.843 Darüber hinaus sind auch Schwellungsschmerzen zu nennen, die sich nach einem Sturz844 ebenfalls in der Rippengegend einstellen, oder Schmerzen in der Rippengegend, die sich einstellen, obwohl »das Leber-Qi glücklich ist«.845 Nicht zuletzt führt Chen unerträgliche Zahnschmerzen, die die Tränen nur so hervorquellen lassen,846 mitunter auf Disharmonien in den fünf Zang-Organen zurück.847 Dabei hebt er hervor, dass sich das Zahnbett unten und oben 843 Im Original heißt es  : 人有橫逆驟加,一時大怒,叫號罵詈,致兩脅大痛而聲啞者. Vgl. Bianzheng lu, juan 2, CQS, 738. 844 Vgl. Bianzheng lu, juan 2, CQS, 738. 845 Im Original heißt es  : 肝氣快樂, 何至有再痛之虞乎. Vgl. Bianzheng lu, juan 2, CQS, 738. 846 Im Original heißt es  : 人有牙齒甚不可忍,涕淚俱出者. Vgl. Bianzheng lu, juan 3, CQS, 750. 847 Vgl. Bianzheng lu, juan 3, CQS, 750.

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jeweils aufgebraucht hat, so dass [die Zähne] für Essen und Trinken nicht zu gebrauchen sind und die Betroffenen Tag und Nacht schreien.848 »Herz«-Schmerzen In einer spezifischen Rubrik zu »Herz-Schmerzen (xin tong 心痛)« geht es einzig und allein um Schmerzen im/am Herzen. Hier schildert er sechs unterschiedliche Fälle. Dabei geht es z. B. um den Schmerz im Herzen, der in seiner Intensität wechseln kann  : »Wenn jemand für lange Zeit an Schmerzen im/am Herzen leidet und [der Schmerz] manchmal stark und manchmal leicht ist, und zwar im Allgemeinen bei Hungergefühl stark und nach Sättigung leicht. Dann denken die Leute, dies sei auf Kälte-Qi, das in das Herz eindringt, zurückzuführen. Aber wer weiß schon, dass es sich um einen Wurm handelt, der die Magenhöhle verletzt  !«849

Dann wiederum ist die Rede von Herz-Schmerzen, die kommen und gehen, die dem Betroffenen Tag und Nacht keine Ruhe lassen, aber weder auf Würmer noch auf Feuer zurückzuführen seien, sondern auf einen Qi-Leere-­ Zustand und wiederum auf den minimalen Einfluss von Kälte-Feuchtigkeit-Übel.850 Herz-Schmerzen können sich so heftig bemerkbar machen, dass der Betroffene nicht mehr leben will und die ganze Nacht hindurch schreit  : »Jemand leidet unter extremen Herzschmerzen, er schreit (huhao 呼號) die ganze Nacht hindurch. Der Schmerz ist derart, dass der Betroffene nicht mehr leben will. Tränen fließen ohne Unterlass aus den Augen, über und über. Die Leute denken, dies sei die Folge von Feuer-Übel-Besessenheit durch Dämonen. Aber dies ist, weil das Feuer zu sehr das Herz bedroht. [Feuer korrespondiert mit dem Herzen], und es verletzt bzw. schädigt es […]. Wenn das Herz-Feuer zu sehr lodert, muss das Herz einer solchen Situation eigentlich entgegensteuern. Wenn aber zusätzlich gar das Feuer vom [Nachbarn bzw. der Mutter] Leber-Holz eintrifft, dann kann [das Herz]

848 Im Original heißt es  : 人有牙痛日久, 上下牙床盡腐爛者,至飲食不能用,日夜呼號. Vgl. Bianzheng lu, juan 3, CQS, 750. 849 Im Original heißt es  : 人有久患心疼, 時重時輕, 大約飢則痛重, 飽則痛輕, 人以為寒氣中心 也, 誰知是蟲傷胃脘乎. Vgl. Bianzheng lu, juan 2, CQS, 735. 850 Vgl. Bianzheng lu, juan 2 CQS, 736.

Schmerz 

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all das Feuer nicht auffangen [weil es durch zu viel Feuer geschädigt und dementsprechend besiegt (ke 克) wird], und so [ver]brennt das Herz (fen xin 焚心).«851

Diese Passage schließt mit der bereits angesprochenen Anthropomorphisierung bzw. der metonymischen Verknüpfung der einzelnen Organe  : »Wenn das Herz […] nach Hilfe ruft [sic  !], und zwar bei seinen allernächsten Nachbarn [Leber und Milz], so ist es nur natürlich, dass Tränen und Schleim hervortreten und überall herunterkommen.«852

Am Beispiel der Herz-Schmerzen zeigt sich am eindringlichsten, wie emotional die metonymische Verknüpfung den Schmerz in seiner existenziellen Bedrohlichkeit erscheinen lässt  : Angst und Verzweiflung geben dem Schmerz am YinOrgan (Herz) eine außerordentlich emotionale Färbung – der Verweis auf die mögliche Ursache Dämonenbefall zeigt, wie ernst die Situation ist. Der Arzt beschreibt die extreme Leidenssituation als eine »natürliche« Artikulation disharmonischer Verhältnisse in den betroffenen yin-Organen. Das Herz ist dabei der Ort des Schmerzes, des Selbst-Verbrennens (fen xin 焚心) und der Selbst-Auflösung. Es ist der Ort und die Ursache von Schmerz und Verzweiflung. In der Erklärung des Arztes wird das Herz zu einer Art Opfer, und zwar seines unmittelbaren Nachbarn (und seiner Mutter), nämlich der Leber (die als Holz-Phase das Feuer zusätzlich entflammen ließ). Damit wird dem Weinen und Schluchzen, dem Herausstürzen der Tränen aus den Augen (tisi pangtuo zhe 涕泗滂沱者) Sinn verliehen. Gleichzeitig öffnet der Arzt damit die Bühne, auf der er agiert  : Er schwächt das Leber-Feuer und erlöst das Herz-Feuer somit von der Schwere. Ähnliches gilt für die im vorangegangenen Abschnitt erläuterten diagnostischen Zusammenhänge der Turbulenzen in den inneren Organen. Auch hier sorgt die metonymische Verknüpfung der Organe, ihrer Ängste und Leiden mit dem Außen dafür, dass der Schmerz emotive Dimensionen annimmt.

851 Im Original heißt es  : 有心痛之極,苦不欲生,徹夜呼號,涕泗滂沱者,人以為火邪作祟 也。然致此火邪之犯心者,何故乎  ? 蓋因肝氣之郁而不舒,木遂生火以犯心矣。夫肝木 生心火者也,而何以反致克心,蓋心屬火,而火不可極,火極反致焚心. Vgl Bianzheng

lu, juan 2, CQS, 736. Vgl Bianzheng lu, juan 2, CQS, 736. 852 Im Original heißt es  : 必呼號求救于四鄰,自然涕淚交垂矣 Vgl. Bianzheng lu, juan 2, CQS, 736.

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Niedergedrücktheit und Schwermut (yu 鬱)

Grundsätzlich manifestiert sich die Stauung von Qi in verschiedenen Ausformungen und Lokalisationen als Niedergedrücktheit. Doch ist nicht jede Niedergedrücktheit von Qi notwendig als Schwermut manifest, die mit kummervollen Gedanken und Grübeln einhergeht. Entlang des Fünf-Wandlungsphasen-Paradigmas unterscheidet Chen fünf Stauungen bzw. Niedergedrücktheiten (wu yu 五鬱). Diese werden in ihren jeweiligen Gestalten und Lokalisationen im folgenden Abschnitt behandelt. Danach wird von Schwermut im engeren Sinne die Rede sein. Orte und Gestalten der Niedergedrücktheit Die Stauungen der Erde (Milz und Magen), des Feuers (Herz und Dünndarm), des Holzes (Leber und Gallenblase), des Wassers (Niere und Blase) und des Metalls (Lunge und Dickdarm) meinen die Stauungen des jeweiligen Qi in den besagten Yin-Organen. Häufig geht niedergedrücktes Erde-Qi mit gestauten und verknoteten Gedanken in der Milz einher, weil die Milz mit Denken (si 思) und Grübeln (silü 思慮) assoziiert ist. Doch dieser Zustand des niedergedrückten Erde-Qi muss nicht zwangsläufig mit Prozessen einhergehen, die als »Verdichtungen« im Sinne von ausdifferenzierten Emotionen gelten. Das heißt, niedergedrücktes Erde-Qi muss nicht notwendig als Kummer und Sorge oder Schwermut erfahren werden. Im Folgenden z. B. liegt der Fokus auf den leiblichen Prozessen, ohne dass sie sich zu manifesten Emotionen verdichten  : »Brust und Bauch [fühlen sich] voll und geschwollen an  ; hin und wieder gibt es Bauchzwitschern [Geräusche in den Eingeweiden] und häufigen Drang zu Stuhlgang. Wenn es ernst ist, tut das Herz weh, und der Brustkorb ist beidseitig übervoll, so dass sich Brechreiz einstellt, und der erbrochene Schleim ist wie klares Wasser […]  ; allmählich wird auch der ganze Leib schwer. […] Wer weiß schon, dass es sich hierbei um eine Niederdrückungs-Krankheit der Erde handelt. Bei der Niederdrückung der Erde ist das Milz-Magen-Qi niedergedrückt.«853

853 Im Original heißt es  : 人有心腹飽滿作脹,時或腸鳴,數欲大便,甚則心疼,兩脅填實, 為嘔為吐,或吐痰涎,如嘔清水 […] 漸漸身亦重大. […] 誰知乃是土鬱之病乎  ? 土鬱  ;者 脾胃之氣鬱也. Vgl. Bianzheng lu, juan 4, CQS, 772.

Niedergedrücktheit und Schwermut 

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Diese Darstellung von Niedergedrücktheit (Depression) des Milz-Erde-Qi enthält keinerlei Verweis auf die der Milz zugehörige »Emotion« (qing 情), das Denken (si 思). Übermäßiges (guo 過) Denken als schädigender Einfluss auf Milz und Magen interessiert in dieser Perspektive offensichtlich weniger als die gegenseitige Überwindung  : Wenn die Leber-Gallenblase (Holz) sowie das Metall (Lunge-Dickdarm) in ihrer die Erde überwindenden Wirkkraft der Milz zu nahe kommen, dann steigt das Erde-Qi nicht in seiner gewohnten Richtung nach oben, sondern nach unten. Diese Niederdrückung des Erde-Qi854 macht sich als Völlegefühl im Brustkorb, Schmerzen im Herzen, häufigem Drang zu Stuhlgang etc. bemerkbar. Als Heilmethode rät Chen zur Stärkung des Milz-Qi, damit es wieder die aufstrebende Richtung nehmen kann. Im Falle der Niederdrückung von Lungen-Qi kommt, wie so oft, der soziale Raum zum Tragen, während bei der Niederdrückung des Milz-Qi keinerlei außerleibliche Einflussnahmen thematisiert waren  : »Es herrschen Husten und gegenläufiges Qi, Herz- und Brustgegend sind angeschwollen und voll. Der Schmerz zieht zum Unterbauch, der Betroffene kann sich [im Bett] nicht drehen, Zunge und Hals sind trocken, das Gesicht erscheint alt, und die Farbe ist weiß. Es herrscht Kurzatmigkeit, sodass er nicht liegen [bleiben] kann. Der hervor gespuckte Schleim ist dickflüssig, die Haut ist faltig und verdorrt. Die Leute denken, es handele sich hierbei um trockenes Lungen-Qi. Doch sie wissen nicht, dass es sich in Wirklichkeit um niedergedrücktes Lungen-Qi handelt. Die Nieren-Qi-Niederdrückung ist nicht möglich, ohne dass zuerst das Herz-Feuer [den Nieren] bedrohlich nahe kommt. Aber die Fülle des Herz-Feuers ist auf geschwächtes Wasser zurückzuführen [denn Wasser überwindet Feuer]. Wenn das Nieren-Wasser nicht ausreichend vorhanden ist, kann es sich nicht für die Lunge rächen855. Deshalb erleidet das Lungen-Metall [denn Feuer überwindet Metall] Verluste, und die Niederdrückungs-Krankheit entsteht.«856

Im Allgemeinen wird die Lunge, der Fünf-Wandlungsphasen-Lehre entsprechend, mit der Emotion Trauer (bei 悲) assoziiert. Doch tritt die Trauer hier 854 Vgl. Bianzheng lu, juan 4, CQS, 772. 855 D. h. der Mutter zu Hilfe kommen, weil die Lunge (Metall) die Mutter der Niere (Wasser) ist. 856 Im Original heißt es  : 人有咳嗽氣逆,心脅脹滿,痛引小腹,身不能反側,舌干嗌燥,面陳色 白,喘不能臥,吐痰稠密,皮毛焦枯,人以為肺氣之燥也,而不知乃是肺氣之鬱.夫肺氣之 鬱,未有不先為心火所逼而成.然而火旺由於水衰,腎水不足不能為肺母復仇,則肺金受虧, 而抑鬱之病起. Vgl. Bianzheng lu, juan 4, CQS, 772.

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nicht in den Vordergrund. Es ist die Verwandtschaftsrelation zwischen Mutter und Kind, d. h. in diesem Fall zwischen Lunge (Mutter) und Niere (Kind), die hier implizit fokussiert wird. Nach Erde (Milz) und Metall (Lunge) folgt die Situation des niedergedrückten Wasser-Qi (Niere), und zwar als Hintergrund für Kälte und Schmerzen im Herzen, Schwere in den Hüften sowie Starre in den Gliedern, die sich nicht bewegen lassen. Wasser-Qi-Niederdrückung erscheint bei Chen Shiduo als Folge eines zu starken Milz-Magen-Qi (Erde, denn Erde überwindet Wasser) und eines zu trockenen Leber-Gallenblasen-Qi (Holz).857 Nach den Qi-Niedergedrücktheiten von Erde, Metall und Wasser kommt Chen Shiduo auf das niedergedrückte Herz-Feuer-Qi zu sprechen. »Jemand leidet unter Kurzatmigkeit. Flanken, Brust und Rücken, das Gesicht sowie die vier Gliedmaßen sind angeschwollen und angespannt (fenmen 愤懑). Manchmal kommt es zu Brechreiz. Der Hals ist angeschwollen und schmerzt. Der Mund ist trocken und die Zunge bitter. Die Magengrube rauf und runter tut plötzlich weh oder der Bauch schmerzt gewaltig. Die Augen sind rot, und im Kopf ist ihm/ ihr schwindelig. Im Herzen sind Hitze, Unruhe und Beklemmung (fanmen 煩悶), die Qualen des Ingrimms (aonao 懊憹) sind derart, dass es gut sein kann, dass der Tod plötzlich eintritt. Der Schweiß benetzt die Haut. Der Schleim ist trübe und schlammig, beide Backenknochen sind rot. Am ganzen Körper entsteht Hitzeausschlag. Die Leute denken, es handele sich hierbei um Schleim-Feuer als Übeltäter. Aber wer weiß schon, dass es sich in Wahrheit um die Feuer-Niedergedrücktheit-Krankheit handelt. Das Wesen des Feuers ist es, nach oben zu lodern. Ist das Feuer niedergedrückt, kann es nicht nach oben lodern. So wird sein Wesen [dadurch] verletzt. Das Feuer der fünf Zang-Organe ist unterschiedlich. Es gibt die unterschiedlichen [Feuer-Arten]  : Leere-Feuer, Fülle-Feuer, Herrscher-Feuer, Kanzler-Feuer. […]«858

Wenn das Feuer nicht seinem Wesen entsprechend agieren kann, weil es niedergedrückt wird, manifestiert es sich im und am Körper in mehrfacher Hinsicht. 857 Vgl. Bianzheng lu, juan 4, CQS, 773. 858 Im Original heißt es  : 人有少氣, 脅腹、胸背、面目、四肢脹憤懣,時而嘔逆,咽喉腫痛,口 乾舌苦,胃脘上下忽時作痛, 或腹中暴疼,目赤頭暈,心熱煩悶,懊憹善暴死,汗濡皮 毛,痰多稠濁, 兩顴紅赤,身生痱瘡, 人以為痰火作祟也, 誰知是火鬱之病乎  ? 夫火性炎 上,火鬱則不能炎上而違其性矣. 五臟之火不同,有虛火、實火、君火、相火之異. Vgl. Bianzheng lu, juan 4, CQS, 773. Diese Stelle findet sich in ähnlichem Wortlaut im HDNJ Suwen 21 (71), 364.

Niedergedrücktheit und Schwermut 

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Die flackernde, lodernde Gestalt des Feuers zeigt sich im kurzen schnellen Atem, in der Anspannung der geschwollenen Gliedmaßen. Feuer steht auch für Trockenheit. So stellt sich als Begleiterscheinung der Nieder- bzw. Unterdrückung des Feuers seine massive Präsenz in den Leibesprozessen ein. Das niedergedrückte Feuer nimmt die Gestalt von Missmut und Beklemmung (fanmen 煩悶), von qualvollem Ärger und Ingrimm (aonong 懊憹) im Herzen an. Gereiztheit (fanmen 煩悶) sowie Zittern vor Angst (惊悸) bzw. Herzklopfen (Palpitation) können die Folge von Magen-Feuer sein, wenn es nach oben lodert und dem Herzen bedrohlich nahe kommt.859 Niedergedrücktes Qi – welcher Wandlungsphase bzw. welchen Zang-Organes auch immer – und Beklemmung (men 悶) stehen in einem engen Verhältnis zueinander. Beklemmung erscheint nämlich nicht nur als Zustandsweise bei niedergedrücktem Feuer (Herz-Dünndarm), sondern auch als Artikulation von niedergedrücktem Leber-Gallenblasen-Qi (Holz). Es ist das Völlegefühl im Magen bzw. in der Magengrube (weiwan bao men 胃脘飽 悶), das sich auf die Flanken links und rechts sowie auf den Brustkorb ausweiten kann. Letzteres wird häufig als Teil komplexer Krankheitszustände860 beschrieben. Das Völle- bzw. Füllegefühl (baomen 飽悶) wird nicht immer nur durch übermäßiges Essen erzeugt, sondern kann auch Begleiterscheinung von Appetitlosigkeit und Schwäche sein. Andere Völlegefühlszustände, die mit man 满 (voll, überfüllt)861 und menluan 悶亂 (Beklemmung und Verwirrtheit) bezeichnet sind, tragen sich hauptsächlich im Herzen bzw. in der Brust zu.862 In 859 So z. B. in Bianzheng lu, juan 6, CQS, 837. 860 Vgl. Bianzheng lu, juan 4, CQS, 773. So auch im Zusammenhang mit Kälteverletzungskrankheiten (shang han 傷寒), Bianzheng lu, juan 1, CQS, 707  ; oder im Zusammenhang mit Kälte-Leere (xuhan 虛寒), Shishi milu, juan 5, CQS, 380  ; sowie auch im Zusammenhang mit Verletzungserscheinungen durch Wind, Feuchtigkeit, Ernährung sowie durch Hitze, Shishimilu, juan 5, CQS, 380  ; oder im Zusammenhang mit Wind-Übel und Tau (lu 露)-Übel, die sich im Magen festsetzen, wenn jemand, nachdem er sich satt gegessen habe, im Freien übernachtet. Vgl. Bianzheng lu, juan 7, CQS, 866, oder im Zusammenhang mit Auszehrung der Leber, die sich dann zur Milz hin ausbreitet, Bianzheng lu, juan 8, CQS, 878  ; bei Gefräßigkeit insbesondere hinsichtlich gebratener Speisen (im Original  : 人有過於貪饕燔熬烹 炙之物), Bianzheng lu, juan 8, CQS, 879  ; bei übermäßigem Leber-Holz-Feuer, Bianzheng lu, juan 9, CQS, 893  ; bei gegenläufigem Magen-Qi, Bianzheng lu, juan 9, CQS, 911  ; bei ungenügendem Nieren-Wasser, Bianzheng lu, juan11, CQS, 956  ; in Zusammenhang mit Milz-Magen-Kälte-Leere, Bianzheng lu, juan 11, CQS, 956–57. 861 Insbesondere im Falle einer verschleimten Brust. Vgl. Bianzhenglu, juan 1, CQS, 705. 862 Im Original heißt es  : 胸中悶亂. Vgl. Shishi milu, juan 5, CQS, 394 und Bianzheng lu, juan 7, CQS, 859.

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diesem Zusammenhang ist dann auch von huang 慌 (Verstörung, Beklemmung und Unruhe) im Herzen863 die Rede. Zu Missmut und Gereiztheit (fanmen 煩悶) gesellen sich sehr oft Zustände des Aufbrausens (zaoji 躁急), was wiederum mit übermäßiger Hitze im Leib einhergeht. Grundsätzlich stellen sich Missmut und Gereiztheit angesichts unerträglicher Schmerzen und anderer körperlicher Leidenszustände ein  ; so auch bei einer Kälteverletzung, wenn der Betroffene den Schleim weder nach oben noch nach unten bringen kann und der Brechreiz nicht aufhören will,864 oder wenn acht bis neun Tage nach der Kälteverletzung die Bauchschmerzen immer noch nicht aufhören und sich Eiter im Blut bildet.865 Die letzte Form der Qi-Niederdrückung, die Niederdrückung der Leber, zeigt sich ebenfalls in Reizbarkeitszuständen  : »Wenn sich das Leber-Feuer innen staut und sich nicht ausstrecken kann, so stellen sich Missmut und Gereiztheit und Aufbrausen und Überdruss ein. […] Leber-Holz hat Feuer. Ist das Feuer niedergedrückt und wird es nicht abgeleitet, so handelt es sich, obgleich es durch äußeres Übel überdeckt wird, doch auch um einen inneren Zustand, nämlich dass kein Wasser vorhanden ist, um [die Leber] zu befeuchten. Wenn Leber-Holz ohne Wasser zum Befeuchten ist, dann wird das Holz noch mehr niedergedrückt, und wenn man dann nur Arzneien gegen Wind[-Krankheiten] verwendet, um das Feuer in der Leber aufzulösen, und keine Dosis zur kühlenden Unterstützung des Wassers in der Leber verabreicht, dann verkocht das Leber-Blut, und das Feuer wird umso stärker. Wenn man [wiederum] nur Arzneien zur Befeuchtung verabreicht, um das Wasser in der Leber zu unterstützen und keine Wind-[unterstützenden] Arzneien verwendet, um das Feuer in der Leber zu strecken, so widersetzt [sich dieses Feuer] der Leber. Die Niederdrückung wird umso stärker. Ist die Unterdrückung stark, so sind Missmut und Gereiztheit im Herzen. Ist das Feuer in Fülle, so sind im Bauch Reizbarkeit und Aufbrausen.«866

863 Im Original heißt es  : 心慌悶亂. Vgl. Shishi milu, juan 5, 400, als Begleiterscheinung der Pocken-Erkrankung. 864 Vgl. Bianzheng lu, juan 1, CQS, 705. 865 Vgl. Bianzheng lu, juan 1, CQS, 709. 866 Im Original heißt es  : 人肝火內鬱結而不伸,悶煩躁急 […] 夫肝木有火,火鬱而不宣者, 雖是外邪蒙之,亦因內無水以潤之也. 木無水潤,則木鬱更甚,倘徒用風藥,以解肝中之 火,不用潤劑以蔭肝中之水,則熬干肝血,而火益盛矣。倘徒用潤劑,以益其肝中之水, 不用風劑以舒其肝中之火,則拂抑肝氣而鬱更深矣。鬱深則煩悶於心,火盛則躁急於腹.

Vgl. Bianzheng lu, juan 6, CQS, 822.

Niedergedrücktheit und Schwermut 

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Wenn die Situation »Feuer in der Leber« Verdruss und Unmut im Herzen generiert und die Situation »niedergedrücktes Feuer in der Leber« hingegen Gereiztheit und aufbrausende Stimmung im Bauch, so handelt es sich bei diesen Verfasstheiten grundsätzlich um niedergedrückte Qi-Prozesse, die zuweilen auch schieflagig (bu ping 不平) und widerläufig (ni 逆) sind. Bei Aufhebung der Schieflagen und Widerläufigkeiten lösen sich die emotional gefassten bzw. manifesten Gestimmtheiten ebenso auf wie die Imbalancen zwischen Yin und Yang.867 Gestalten der Schwermut (yiyu 抑鬱) Während die eben besprochenen Niedergedrücktheiten mit Qi-Stauungen in allen Wandlungsphasen bzw. Yin-Organen einhergehen, lässt sich in Chens Texten eine Qi-Stauung ausmachen, die sich vornehmlich im Herzen und in der Milz zuträgt, und dann als Schwermut (yiyu 抑鬱) bzw. Melancholie verdichtet sichtbar wird. Verknotete Gedanken (sixiang jie yu xin 思想結於心) in diesen beiden Yin-Organen erscheinen als exemplarische Zustände einer Schwermut bzw. Depression (yubing 鬱病). Die folgende Passage verweist auf die Doppelstrategie in der Argumentation  : Zunächst ist das Herz der Ort des Geschehens, dann steht unvermittelt die Milz im Mittelpunkt der Vorgänge. Berücksichtigt man allerdings den Zusammenhang »Feuer bringt Erde hervor«, so erscheint der Übergang vom Herzen (Feuer) zur Milz (Erde) weniger unvermittelt. Die Milz ist hoch relevant für Therapie und Heilung der Depression, wohingegen das Herz diesbezüglich gänzlich aus dem Blickfeld gerät  : »Was die Schwermut-Krankheit anbelangt, so kommt sie bei Frauen am häufigsten vor. Hinzu kommt noch, dass sich diese Schwermut traurigerweise am allerschwersten auflösen lässt. Wenn es dazu kommt, dass die Betroffene den ganzen Tag müde ist und [wie] stumpfsinnig nicht spricht, so denken die Leute, es handele sich hierbei um die Herausbildung von Schwachsinn (daibing 呆病). Wer weiß schon, dass es sich hierbei um eine Verknotung der Gedanken/Sehnsucht im Herzen handelt, wobei das Qi der Mitte niedergedrückt und nicht ausgestreckt ist  ? Wenn man diese Art von Krankheit gänzlich mittels Arzneien behandeln will, so ist dies eigentlich keine Behandlungsmethode. Allerdings, wenn man ohne Arzneien therapieren will und [nur darauf wartet], bis sie von selbst genesen ist, ist dies auch keine Therapiemethode. Im Allgemeinen ist die Auflösung der Denken/Sehnsuchts-Nieder867 So beispielsweise in Bianzheng lu, juan 6, CQS, 827.

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drückungs-Krankheit mittels Induktion von Freude zu erreichen und als nächstes mittels Induktion von Zorn, auch damit kann man sie lösen.«868

Denken findet im Herzen statt, dafür gibt es genügend Belege aus medizinischem,869 literarischem870 und philosophischem Schrifttum bis in das 20. Jahrhundert hinein.871 Davon ist auch in der zitierten Passage die Rede. Gemäß der Fünf-Wandlungsphasen-Korrelation ist jedoch Denken die Emotion, die mit der Milz assoziiert ist. So fährt Chen Shiduo seine Argumentation zur Schwermut-Krankheit auch aus dieser Perspektive fort  : »Die Milz kontrolliert das Denken. Ist das Denken zu tiefgründig, so verschließt sich das Milz-Qi und öffnet sich nicht. Dann kommt es dazu, dass der Betroffene, sobald er auf Essen trifft, Ekel empfindet. Bei Freude öffnet sich das Herz-Feuer. Feuer bringt Magen-Erde hervor, und das Magen-Qi öffnet sich. Sobald das Magen-Qi geöffnet ist, wie sollte da das Milz-Qi sich noch verschlossen halten  ?«872

Dieser Teil der Argumentation erscheint vergleichsweise praktisch ausgerichtet, denn wenn die Fünf-Wandlungsphasen-Lehre in Therapie und Heilung handlungsleitend ist, dann muss sie bei der Milz ansetzen. Denn hier verdichten sich diesem Paradigma zufolge die Qi-Prozesse zu Gedanken, und nicht im Herzen. Der Zusammenhang »Ekel vor Essen« ist ebenfalls durch die Korrelation Milz (Yin-Organ) und dem ihr zugeordneten Yang-Organ (Magen) gegeben. Wenn das Milz-Qi geschlossen ist, weil sich die Gedanken verknoten, dann ist auch das Magen-Qi geschlossen, und es will keine Nahrung aufnehmen. 868 Im Original heißt es  : 人之鬱病,婦女最多,而又苦最不能解,倘有睏臥終日,痴痴不語,人 以為呆病之將成也,誰知是思想結於心,中氣鬱而不舒乎  ?此等之癥,欲全恃藥餌,本非 治法,然不恃藥餌,聽其自愈,亦非治法也。大約思想鬱癥,得喜可解,其次使之大怒, 則亦可解.Vgl. Bianzheng lu, juan 4, CQS, 774.

869 Als locus classicus hierfür gilt eine Stelle im Huangdi neijing Lingshu 2(8), 174–175. 870 Aus dem 17. Jahrhundert ist auf das bekannte Liaozhai zhiyi, beispielsweise mit der Geschichte »Richter Lu« (Lu Pan 陸判) zu verweisen  : Der Höllenrichter wechselte jemandem, dem sein Studium sehr schwer fiel, das Herz aus, indem er ihm den Brustkorb aufbrach, das Herz herausnahm und ihm ein »kluges« Herz aus der Unterwelt einsetzte. Vgl. Liaozhai zhiyi, Bd. 1, 139–146  ; hier 140–141. 871 Siehe hierzu Linck, 1996, 71–81  ; Enzinger 1997. 872 Im Original heißt es  : 蓋脾主思,思之太甚,則脾氣閉塞而不開,必至見食則惡矣;喜則心 火發越,火生胃土,而胃氣大開,胃氣既開,而脾氣安得而閉乎  ? Vgl. Bianzheng lu, juan 4, CQS, 774.

Niedergedrücktheit und Schwermut 

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Über diese Zusammenhänge hinaus differenziert Chen weitere Ausformungen von Schwermuts-Krankheit wie beispielsweise »Übermäßiges Denken« und das »kummervolle schwermütige Selbst«. Übermäßiges Denken Auch in der folgenden Textpassage geht es um die Verletzung der Milz als Ort des Denkens, doch ist das Zusammenspiel aller fünf Yin-Organe und dessen Manifestationen im Verhalten des betroffenen Menschen fokussiert  : »Übermäßiges Nachdenken muss die Milz verletzen. Sobald das Milz-Qi geschädigt ist, kann sie auch nicht mehr die Essenz zur Lunge bringen. So ist das Lungen-Qi ebenfalls verletzt, und die Lunge führt den Befehl zur Reinigung nicht aus. So wird das Milz-Qi noch mehr verletzt. Die Milz ist das Kind des Herzens. Ist die Milz krank, so muss das Herz unbedingt zu Hilfe kommen. Ist das Kind krank, so muss die Mutter kommen und sich um es kümmern. Sieht das Herz die Verletzung des Milz-Qi, so kommt es zum Verlust des Willens, dann hat das Herz keinen Herrscher mehr. Es möchte helfen, aber es weiß nicht wie. Es möchte vergessen, aber es gelingt ihm nicht. Es ruft die Nachbarn, aber die kommen nicht herbei. Es meidet die Feindschaft [mit den Nachbarn], aber es kommt zur gegenseitigen Aggression. Daraus resultiert, dass der Mensch sich selbst vergisst, und es kommt zur Situation des »In-den-Brunnen-Springens«873. Trifft er auf Menschen, so stammelt er. Doch hinter deren Rücken redet er ohne Unterlass. So kommt es zur Ausbildung von Wahnsinn, aber ohne dass er selbst es merkt. Die Behandlungsmethode muss unbedingt die dringliche Klärung des Herzens beinhalten. Aber da die Herz-Krankheit sich aus einer Milz-Krankheit entwickelt, muss man das Herz ergänzen, um den Willen/das Gemüt zu stabilisieren. Doch noch besser ist es, die Milz zu ergänzen, um den Willen/das Gemüt zu stabilisieren, das wirkt Wunder.«874

Die Termini »Verlust des Willens/Bewusstseins/Gemüts« bzw. »Stabilisierung des Willens/Bewusstseins (zhi 志)« verweisen auf eine Instanz im Menschen, die lenkende Funktion innehat. 873 Vgl. HYDCD, 3, 1003. 874 Im Original heißt es  : 夫思慮過多,必傷於脾,脾氣一損,即不能散精於肺,肺氣又傷, 而清肅之令不行,而脾氣更傷矣。且脾者心之子也,脾病而心必來援,猶子病而母必來 顧。心見脾氣之傷,以至失志,則心中無主,欲救而無從,欲忘而不得,呼鄰而不應, 忌仇而相侵,於是自忘其身,將為從井之事,見人而嚅囁,背客而絮叨,遂至於癲而不 自覺也,治法非急清其心不可。然而心病由於脾病也,補心以定志,更不若補脾以定志 之為神. Vgl. Bianzheng lu, juan 4, CQS, 787.

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Das Gewebe der Befindlichkeiten im 17. Jahrhundert

Die folgende Passage enthält einen weiteren Begriff, der ebenfalls für die Empfindungsweisen sowie deren zielgerichtete Lenkung von Bedeutung ist  : Jing­shen 精神, was wir vorerst nur in seinen Komponenten übersetzen w ­ ollen, »Essenz« und »Geist/Lebenskraft«. Hier geht es um den »übermäßigen Gebrauch des Herzens« (yong xin tai guo 用心太過), der eine Schieflage der Qi-­ Prozesse hervorruft  : »Übermäßiges Nachdenken bzw. Grübeln die ganze Nacht hindurch bewirkt Verwirrung (jingshen huanghu 精神恍惚), schleppendes Reden, und plötzlich scheint [der Blick], als habe er etwas verloren, Hüften und Füße sind sehr schwer, Gliedmaßen und Rumpf sind ermüdet. Die Leute glauben, Ängstlichkeit (怯症) sei hier im Entstehen. Wer weiß schon, dass es sich um Überarbeitung des Herzens (勞心) handelt, die zur Verletzung von shen 神 führt  ! Das Herz birgt shen.875 Wenn shen lange ruhig im Herzen verweilt, dann ist das Herz-Blut blühend. Bei Denken und Grübeln ohne Ende wird das Herz überanstrengt. Bei Überanstrengung des Herzens muss das Blut allmählich geschädigt werden. […]«876

Wir lassen das Binomen jingshen 精神 an dieser Stelle unübersetzt, weil es nicht immer und durchgängig »Lebenskraft« bedeutet, obgleich shen (Geist, Bewusstsein, Lebenskraft), als feinste subtilste Yang-Qi-Manifestation im Verein mit jing (Essenz, auch männlicher Samen) die basale Lebenskraft meint. Wenn die Essenz gänzlich aufgebraucht ist, bedeutet dies den Tod. So gilt es für die Praktizierenden dieser Heilkunde, die Menschen möglichst vor der Auszehrung der Essenz zu warnen und diese, falls die Auszehrung bereits im Gange ist, möglichst zu vermehren  ; denn darin bestünde letztendlich die Verlängerung des Lebens  : Wenn die Essenz ausreichend sei, dann müsse man nicht sterben.877 Als Binomen bezeichnet jingshen zumeist den grundlegenden Lebensimpuls bzw. die Lebenskraft, die ganz konkret als Leibesprozess, als Qi-Kraft, agiert. Das bedeutet zugleich, dass der Mensch essen und trinken muss, damit jingshen

875 Das Herz fungiert als Wohnstätte des shen (Geist/Bewusstsein/Lebenskraft). 876 Im Original heißt es  : 人有用心太過, 思慮終宵, 以至精神恍惚,語言倦怠,忽忽若有所失,腰 腳沉重,肢體困憊, 人心為怯癥之成也, 誰知是勞心以至傷神乎. 夫心藏神, 神之久安於心 者,因心血之旺也. 思慮無窮, 勞其心矣. 心勞則血必漸耗. Vgl. Bianzheng lu, juan 8, CQS, 873. 877 Im Original heißt es  : 此方虽非起死之方,实系填精妙药.填精而精足,精足人可不死,然则 此方正起死之方也,人亦加意而用之乎. Vgl. Bianzheng lu, juan 8, CQS, 872.

Niedergedrücktheit und Schwermut 

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nicht ermattet.878 Wenn der Leib ohne jegliche Qi-Kraft (qi li quan wu 氣力全 無) sei, stehe es schlecht um ihn – es handele sich nämlich um die Ermattung des »Lebenskraft-Qi«.879 Jingshen kann verwirrt bzw. abwesend sein, wenn das Herz zu sehr beansprucht wird, indem die ganze Nacht hindurch gegrübelt wird.880 Es kann auch abwesend bzw. verwirrt sein, wenn die betroffene junge Frau von Geistern heimgesucht worden ist.881Jingshen kann darüber hinaus auch mutlos882 sein oder auch strahlend und leuchtend.883 Diese Kraft kann allerdings wieder wachsen (jingshen sheng 精神生)884, selbst wenn sie vor Auszehrung völlig ermattet (jingshen kun juan 精神困倦)885, gänzlich abhanden gekommen (quan wu jingshen 全无精神)886, ausgezehrt und vermindert (jing­ shen shuai shao 精神衰少)887 oder im Verein mit Blut und Qi völlig leer888 war. Sie kann, wenn passende Arzneien Blut und Qi ergänzen, sogar ganz schnell wachsen.889 Jingshen kann auch gesund werden890 oder durch Verabreichung von Arzneien ganz allmählich aufblühen891 bzw. von selbst wieder erblühen und nicht mehr ermatten.892 Grundlegend für jingshen scheint seine leibliche Verfasstheit zu sein. Der lebendige Leib ist in gewissem Sinne definiert durch diese Kraft, die gleichzeitig 878 Im Original heißt es  : 人無水穀之養,則精神自然倦怠. Vgl. Bianzheng lu, juan 11, CQS, 956. 879 Im Original heißt es  : 此精神氣力之倦乏. Vgl. Bianzheng lu, juan 10, CQS, 927. 880 Im Original heißt es  : 人有用心太過,思虑终宵,以至精神恍惚. Vgl. Bianzheng lu, juan 8, CQS, 873. 881 Vgl. Bianzheng lu, juan 11, CQS, 947. 882 Im Original heißt es  : 精神沮丧. Vgl. Bianzheng lu, juan 8, CQS, 883. Jusang kann auch als kraftlos, depressiv, niedergedrückt übersetzt werden. Die Übersetzung »mutlos erscheint an dieser Stelle passend, weil es gleich anschließend heißt, dass infolgedessen Angst vor Kälte und Angst vor Hitze vorherrsche. Vgl. Bianzheng lu, juan 9, CQS, 616. 883 Im Original heißt es  : 精神焕發. Vgl. Bianzheng qiwen, juan 10, CQS, 633  ; Bianzheng lu, juan 10, CQS, 925. 884 Vgl. Bianzheng lu, juan 8, CQS, 872. 885 Vgl. Bianzheng lu, juan 7, CQS, 851  ; vgl. auch Bianzheng qiwen, juan 10, CQS, 633. 886 Vgl. Bianzheng lu, juan 10, CQS, 925. 887 Vgl. Bianzheng lu, juan 13, CQS, 981. 888 Im Original heißt es  : 其精神氣血尽為空虚. Vgl. Bianzheng lu, juan 13, CQS, 977. An dieser Stelle lässt sich aus Gründen der parallelen Anordnung für die Übersetzung als jing und shen (und nicht als Binomen) argumentieren  : jing und shen sowie Blut und Qi. 889 Im Original heißt es  : 今大补氣血,則精神骤長. Vgl. Bianzheng lu, juan 12, CQS, 973. 890 Im Original heißt es  : 精神亦健. Vgl. Bianzheng lu, juan 7, CQS, 858. 891 Im Original heißt es  : 精神渐旺. Vgl. Bianzheng lu, juan 8, CQS, 876. 892 Im Original heißt es  : 精神自旺,不困倦精神自旺,不困倦. Vgl. Bianzheng lu, juan 10, CQS, 925.

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Das Gewebe der Befindlichkeiten im 17. Jahrhundert

Teil desselben ist. Sie kann, je nach Perspektive, in ihre beiden Bestandteile (Essenz und shen/Geist/Bewusstsein/Lebenskraft) geteilt gesehen werden. Dann ruht die Essenz in den Nieren und shen verweilt im Herzen. Das kummervolle schwermütige Selbst Wie der Schmerz ist auch die Trauer (bei 悲) auf mehreren Ebenen angesiedelt. Wenn etwa die Rede ist vom »Unheil« (bei 悲) der Blindheit893, so ist damit eine andere Ebene angesprochen als bei der Verletzung durch anhaltendes übermäßiges Trauer-Weinen,894 zumal Trauer im allgemeinen das Qi verletzt (bei ai shang qi 悲哀傷氣)895  : Darüber hinaus weinten Menschen aus »heiterem Himmel« ohne aufzuhören und trauerten ohne Grund.896 Kummer (choumen 愁悶, youchou 憂愁897, chou 愁898) und Sorge (choumen 愁悶) erscheinen zumeist in Verbindung mit Schwermut (yu 鬱) bzw. einem Zustand von Völle (baomen 飽悶), Beklemmung/Enge (men 悶) sowie auch mit ziehenden Kopfschmerzen (tou tong fan teng 頭痛煩疼) und gleichzeitiger Abneigung gegen Kälte und Hitze. Als therapeutische Maßnahme muss das »kummervolle und beklommene Herz« gelöst werden.899 Die Zahl enttäuschter Examenskandidaten, die nicht unbedingt aus eigenem Verschulden, sondern aufgrund widriger Umstände scheiterten, war zu Chen Shiduos Zeiten gewaltig angestiegen. Chen berichtet von Zuständen der Gedrücktheit, insbesondere auch des unterdrückten Zorns, der sich einstellt, wenn man auf widrige Umstände trifft900 – auch darauf sind wir bereits eingegangen. Es sind die enttäuschten Hoffnungen etwa auf eine Beamtenkarriere (kanke 坎坷) oder die Unbilden und Widrigkeiten im Amt (gongming cengdeng 功名蹭蹬), die Chen Shiduo in einem Atemzug mit den gleichermaßen existenziellen Sorgen um die Lebensgrundlage nennt, die ebenfalls zu Beklemmung und Anschwellung in der Brust führten.901 Er berichtet von Zuständen 893 Vgl. Bianzheng lu, juan 3, CQS, 758. 894 Im Original heißt es  : 人有哀哭過傷. Vgl. Bianzheng lu, juan 8, CQS, 870. 895 Vgl. Ibidem. 896 Im Original heißt es  : 人有无故自悲,涕泣不止. Vgl. Bianzheng lu, juan 10, CQS, 937. 897 Vgl. Shishi milu, juan 5, CQS, 397. 898 Z.B. Bianzheng lu, juan 7, CQS, 863. 899 Im Original heißt es  : 愁悶之心易結. Vgl. Bianzheng lu, juan 4, CQS, 774. 900 Im Original heißt es  : 人有少逢拂意之事,便覺怒氣填胸. Vgl. Bianzheng lu, juan 10, CQS, 938 sowie ibidem, juan 3, CQS, 752. 901 Im Original heißt es  : 人有遭遇坎坷, 功名蹭蹬, 柴米憂愁, 以致鬱結, 胸懷兩脅脹悶. Vgl. Bianzheng lu, juan 8, CQS, 880.

Niedergedrücktheit und Schwermut 

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lähmender Müdigkeit, die sich einstellten, nachdem jemand an Kummer gelitten habe. In der folgenden Passage wird Schwermut und Misserfolg bei den Prüfungen einerseits und das Unvermögen, Nachkommen zu zeugen, miteinander in Verbindung gebracht  : »Wenn ein Mann von jeher Kummer in sich hegt und darüber hinaus keine Kinder zu zeugen vermag, so denken die Leute, es handele sich um Stockung im Lebenstor mingmen 命門-Feuer. Wer weiß schon, dass es sich um die Stauung des Leber-Qi sowie des Herz-Qi handelt. Das Wesen des Feuers ist es, nach oben zu lodern. Bei Trauer kann sich das Feuer-Qi nicht entfalten. […] Wie kann er da Kinder hervorbringen  ?«902

Nicht nur der Misserfolg bei der konventionell anzustrebenden Karriere kommt hier als Element der Befindlichkeit zum Tragen, sondern auch »die Enttäuschung, die eine solche Situation des Misserfolgs mit sich bringt, die darüber hinaus zur Verzerrung der zwischenmenschlichen Beziehungen«903 beiträgt. Chen Shiduo räumt ein, dass die Medizin weder die enttäuschende Situation ändern kann, noch die unglücklichen zwischenmenschlichen Beziehungen, doch sie könne tatsächlich das Qi des Herzens wieder zum Fließen bringen und das Leber-Qi wieder geläufig machen.904 Zeigt sich hier auch ein weiteres Mal, wie das Missverhältnis zwischen mehreren Organen für emotionale Störungen sorgt, so schließt dies andererseits nicht die explizite Zuordnung bestimmter Gefühle zu bestimmten Organen aus, wie im Folgenden die Zuordnung von Grübeln zur Milz und Kummer zur Niere. Unaufhörliches Grübeln (silü 思慮) und das Verharren in Kummer (youchou 憂愁) figurieren auch als innere Verletzungen, die Chen zum einen der Milz-Magen-Leitbahn zuordnet, nämlich das Grübeln, zum anderen der Niere, nämlich den Kummer. Weil Milz-Magen für das nachgeburtliche Sein und die Niere für das vorgeburtliche Sein existenziell sind, sollten diese beiden »Bereiche« nicht erkranken. Sie seien nämlich am anfälligsten für Erkrankungen, 902 Im Original heißt es  : 男子有懷抱素鬱而不舉子者,人以為命門之火不宣也,誰知心肝二 氣之滯乎  ?夫火性炎上,憂愁則火氣不揚 […] 何以生子  ? Vgl. Bianzheng lu, juan 10, CQS, 943. 903 Im Original heißt es  : 处境遇之坎坷,值人倫之乖戾.Vgl. Bianzheng lu, juan 10, CQS, 943. 904 Im Original heißt es  : 雖然人倫不可變,境遇不可反,而心氣實可舒,肝氣實可順也. Vgl. Bianzheng lu, juan 10, CQS, 943.

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Das Gewebe der Befindlichkeiten im 17. Jahrhundert

und so kann Übel, wenn Grübeln und Kummer koinzidieren, besonders leicht eindringen.905

Liebe und Begehren

Liebe906 ist in den Texten des Chen Shiduo nicht als solche thematisiert, sondern als Not bzw. in ihren Gestalten von Sehnsucht (xiangsi 相思) und Kummer. Diese Befindlichkeiten gehen einher mit gestauten und verknoteten Sehnsuchtsgefühlen (xiangsi yujie 相思鬱結)907 sowie mit Niedergedrücktheit und Schwermut (yiyu 抑鬱). Davon war im vorangegangenen Kapitel die Rede. So liegt im Folgenden zunächst der Fokus auf Liebeskummer bzw. Sehnsuchtskrankheiten (xiangsi zhi e zheng 相思之惡症).908 Im Zusammenhang mit der »Blumen-Hinfallkrankheit« kommt Chen Shiduo auf die Scham zu sprechen, die ansonsten in medizinischen Schriften eine marginale Rolle spielt. Abweichungen vom »Normalen« sind immer Abweichungen von der Mitte. So manifestiert sich übermäßiges Begehren (yu 欲) in Geschwüren und anderen Leidenszuständen. Während in den literarischen Quellen der Epoche die Liebe gerade als abgekoppelt von der ehelichen Pflicht zur Reproduktion erscheint, ist die Fortpflanzung in den medizinischen Schriften ein zentrales Thema. Kinderlosigkeit ist deshalb Gegenstand des vierten Abschnittes. Es folgt ein Exkurs, der die Festschreibung der Frau auf ihre Rolle als Gebärerin in Frage stellt. Sehnsucht »Wenn zwei Liebende unter Mondenschein und zwischen Blumen die gegenseitige [ewige Liebe] beschwören, aber aus unvorhergesehenen Gründen nicht zusammen 905 Im Original heißt es  : 人有終日思慮憂愁, 致面黃體瘦,感冒風邪, 人以為外感之病,誰 知是內傷於脾腎乎。夫人後天脾胃,先天腎也,二經最不宜病,然最易病也。天下無不 思之人,亦少無愁之客,但過於思慮,則脾土之氣不升,胃土之氣不降,食乃停積於中 州而不化, 何能生津生液,以灌注於五臟乎。甚矣,思慮之傷人也,而憂愁更甚。蓋思 則傷脾,憂則傷腎。腎傷則腎水不能滋肝,而肝無水養,仍克脾胃之,故憂思二者相合, 則脾腎兩傷,而外邪尤易深入,欺先後二天之皆虛也. Vgl. Bianzheng lu, juan 9, CQS, 900.

906 Liebe bzw. ihre veränderte Semantik in der späteren Kaiserzeit ist – wie bereits angedeutet – im Rahmen der Erforschung des »Kultes der Emotionen« zu einem wesentlichen Untersuchungsgegenstand innerhalb der Sinologie geworden. Siehe Einleitung in vorliegender Arbeit. 907 Vgl. Bianzheng lu, juan 8, CQS, 880. 908 Vgl. Bianzheng lu, juan 8, CQS, 883.

Liebe und Begehren  

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finden können oder wenn Zweier Liebesband, das ehedem im Himmel geschlossen worden war, zerschnitten wurde und sie sich auf der Erde nicht mehr treffen können, dann verknoten sich die Gedanken im Herzen. Die ›Traumseele‹ [des Anderen] hun 魂909 erscheint in den Träumen. Ganz allmählich kommt es dazu, dass er/sie an Tee und Nahrung nur noch wenig zu sich nimmt, unzusammenhängend redet, müßig und träge wird und den ganzen Tag über nur noch schlafen möchte. Das Gesicht erscheint verwelkt, die Lebenskraft (jingshen 精神) ist aufgebraucht (jusang 沮喪)910, so dass sie/er sowohl Kälte als auch Hitze fürchtet, die Knochen scheinen zu schmerzen. Aber in Wirklichkeit tun sie es nicht, im Bauch fühlt es sich wie Hunger an, aber in Wirklichkeit ist es kein Hunger. Die Leute denken, es handele sich hierbei um die Auszehrungskrankheit (laobing 痨病), die sich bereits herausgebildet habe. Wer weiß schon, dass es sich in Wirklichkeit um die üble Krankheits[ausprägung] von Sehnsucht (xiangsi zhi e zheng 相思之惡症) handelt  ?«911

Außerdem, so in einer früheren Variante dieser Passage912, würden Vater und älterer Bruder, die traditionell für das Hochzeitsarrangement von Tochter bzw. Schwester zuständig waren, bereits ihre Mutmaßungen (fuxiong sheng xian 父 兄生嫌 ) anstellen, zumal – zweifellos handelt es sich um eine Frau – sie des Nachts stöhne und in verschämter Weise sprechen würde. Dass die verlorene Liebe von existenzieller Bedeutung für das betroffene Individuum sei, lässt sich diesen Ausführungen unschwer entnehmen. Die Mani­ festationen sind so ernst, dass sie sich nicht mehr nur mit »romantischem Erwachen« (fengliu wu 風流悟) umschreiben lassen.913 Der Arzt weiß  : Nur wenn der Geliebte (qingren 情人) herbeigeholt würde, könnte eine völlige Heilung eingeleitet werden. 909 Eine der fünf Lebens-/Wirkkräfte (wu shen 五神), die mit den fünf Yin-Organen korrelieren. Hun ist der Leber zugeordnet. Hun wird z. B. als »den Leib beherrschenden Vitalitäten/Lebenskräfte« (»the body’s governing vitalities«) übersetzt [Sivin 1987, 59] oder als »Geist-Seele« (»spirit soul«) [Hidemi 1989, 52] oder als »leibliche Wirkkräfte« [Linck 2000, 88]. Die Funktion von hun ist im Allgemeinen mit ihrer Abwesenheit erklärt, die sich mitunter im Schlaf oder in Träumen als grundlegende Kraft zeigt. Siehe hierzu auch Larre and Rochat de la Valleé 1994, 51. 910 An dieser Stelle ist die Bedeutung von jingshen im Sinne von Lebenskraft und im Sinne von Lebensgeist auffällig  : jusang  : aufgebraucht und entmutigt. 911 Im Original heißt es  : 人有花前月下兩相盟誓, 或阻於勢而不能合, 或盡於緣而不能逢, 遂思結於心中, 魂馳於夢寐,漸而茶飯懶吞,語言無緒, 悠悠忽忽, 終日思眠, 面色憔 悴, 精神沮喪,因而畏寒畏熱, 骨中似疼非疼, 腹內如餒非餒, 人以為癆病之已成也, 誰 知是相思之惡症乎. Vgl. Bianzheng lu, juan 8, CQS, 883.

912 Vgl. Bianzheng qiwen, juan 8, CQS, 604. 913 Vgl. Bianzheng lu, juan 3, CQS, 758 oder ibidem juan 10, CQS, 931.

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Das Gewebe der Befindlichkeiten im 17. Jahrhundert

In einem anderen Fall, in dem sich die Betroffene ebenfalls ununterbrochen nach dem Geliebten sehnt, scheint die Lage noch ernster, denn hier kommt es zur Spaltung des Menschen  : »Wenn jemand tagein, tagaus an den geliebten [Menschen] denkt bzw. sich nach ihm sehnt, dieser aber spurlos verschwunden ist, so kommt es schließlich im Traum zur Vereinigung mit dessen hun [Seele]. Beim Aufwachen [am Morgen] ist [die hun-Seele des geliebten Menschen] dann wieder ans Ende der Welt verstreut. Tag für Tag herrscht die Sehnsucht. Nacht für Nacht kommt es zu diesen Träumen. Ganz unvermittelt ist [der/die Betroffene] wie verloren. Und in der Folge fühlt er/sie den eigenen Leib in zwei Teile geteilt. Der betroffene Mensch kann Dinge wissen, die sich außerhalb des Haushaltes ereignen. Die Leute denken, es handele sich um die ›Trennung der hun [Seele vom Leib]-Krankheit‹ (li hun zhi zheng 離魂之症). Wer weiß schon, dass es sich hierbei um die Niederdrückung von Herz- und Leber-Qi handelt  ?«914

Chen Shiduo expliziert diese Spaltung als Niederdrückung des Herz- und Leber-­Qi915 und erklärt diesen Zusammenhang wie folgt  : »Die Leber beherbergt ursprünglich die hun [Seele]. Ist das Qi gestaut, so ist das Leber-Qi nicht fließend. Wenn es fließt, verlässt nämlich die hun [Seele] nicht [ihren Ort]. Wenn man nicht weiß, dass das niedergedrückte Leber-Qi zur Überwindung der Milz führt, [dann weiß man auch nicht], dass die Sehnsucht zusätzlich die Milz verletzt. Sobald die Milz-Erde verletzt ist, kann sie nicht mehr die Essenz (jing 精) zu Herz und Leber transportieren. Dabei wird das Herz-Qi unweigerlich trocken. Die Leber [macht] überdies wegen der Niederdrückung das Blut trocken. So gibt es keine Säfte, die das Herz befeuchten könnten. Infolgedessen wird das Herz noch trockener. Ist das Herz trocken, dann wird das Leber-Qi unruhig. Untertags will das Leber-Qi herauskommen, um sich um das Herz zu kümmern, [schließlich ist die Leber die Mutter des Herzens]. Aber der Geliebte ist nicht sichtbar, und so herrscht im Herzen [diesem Tatbestand entsprechend] Widerstand und Hemmung.«916 914 Im Original heißt es  : 人有終日思想情人, 杳不可見, 以至夢魂交接, 醒來又遠隔天涯, 日日相思,宵宵成夢,忽忽如失,遂覺身分為兩,能知戶外之事, 人以為離魂之症, 誰 知心肝之氣鬱乎. Vgl. Bianzheng lu, juan 10, CQS, 924.

915 Zu dieser Konnotation  : Liebesleid mit Herz und Leber, siehe Linck 2001, 86–87. 916 Im Original heißt es  : 夫肝本藏魂,氣鬱則肝氣不宣,宜乎魂之不出矣.不知肝鬱必至克 脾, 思想又必傷脾,脾土一傷,即不能輸精於心肝之內,而心氣必燥,肝又因鬱而血乾,

Liebe und Begehren  

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Die Stockung des Leber- und Herz-Qi bewirkt, dass die hun-Seelen der Geliebten ihre Körper verlassen und einander im Traum begegnen. Die Vorstellung von der Trennung der Seele vom Körper und deren Vereinigung mit dem Geliebten im Traum war keineswegs außergewöhnlich. Im Gegenteil, Traumund Wachzustände sind in chinesischen literarischen und philosophischen Zusammenhängen häufig in einer Weise dargestellt, dass beides zu ein und derselben Realität gehört. In Pu Songlings 蒲松齡 (1640–1715) vielgelesenem und -zitiertem Liaozhai zhiyi 聊齋誌異 erscheinen die Liebe und das Begehren ebenfalls im gelebten Liebesverhältnis im Traum, was sich dann in Form der [Liebes bzw. Sehnsuchts-] Krankheit als Macht entpuppt, denn angesichts der Krankheit sollten Eltern in die Heirat einwilligen.917 Im medizinischen Reden über die Zweiteilung des Körpers918 wird bei Chen Shiduo jedenfalls die Fünf-Wandlungsphasen-Lehre bemüht, wonach sich die Loslösung von hun als Leber-Qi-Stockung bzw. Leere-Zustand klassifizieren lässt. Doch gleichzeitig wagt er sich – metonymisch verknüpfend – weiter in die Szenerie  : Der Geliebte ist unauffindbar/unsichtbar, und im Herzen erwachsen Widerläufigkeiten, Niederdrückungen und Widerspenstigkeiten  : »[Die Widerspenstigkeiten im Herzen] verstärken seine [Qi]-Stauung noch mehr, und am Höhepunkt der Stauung lodert das Feuer, sodass hun [Wirkkraft/Seele] nicht mehr gewillt ist, in der Leber zu bleiben. So folgt sie dem Feuer nach außen, um sich wohler zu fühlen. Wenn hun nach außen entwichen ist, verdirbt der Körper (quqiao 軀殼) nicht. Deshalb kann sie zurückkommen, um nach ihrem Körper (lebendigen Leib  : shen 身) zu sehen. Auf diese Weise erfährt sich das Selbst als zweigeteilt [als Leib und als hun]. Als Heilmethode muss man die Stauung des Leber-Qi auflösen und die Trockenheit des Herz-Qi bewässern. Gleichzeitig nähre man die Milz-Erde. Man bewirke, dass das Erde-Qi Säfte hervorbringe, sodass hun [Wirkkraft/Seele] wieder zurückkommen kann.«919

無津以潤心, 則心更加燥,心燥則肝氣不安,日欲出氣以顧心, 而情人不見, 心中拂抑. Vgl. Bianzheng lu, juan 10, CQS, 924. 917 Siehe hierzu eingehend Zeitlin 1993, 156. 918 Auch an anderer Stelle findet sich die Beobachtung (Leib und hun sind zweigeteilt 身與魂為 兩也). Vgl. Bianzheng qiwen, juan 5, CQS, 550. 919 Im Original heißt es  : 愈動其鬱, 鬱極火炎,而魂不願藏於肝中,乃隨火外出之為快。 魂既外出, 而軀殼未壞, 故能回顧其身,視身為二也。治法必須舒肝氣之鬱, 滋心氣 之燥, 兼培其脾土,使土氣得養生津,即能歸魂矣. Vgl. Bianzheng lu, juan 10, 924.

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Das Gewebe der Befindlichkeiten im 17. Jahrhundert

Ähnlich verhält es sich im eingangs zitierten Fall von Sehnsuchts-Krankheit. Weil der Geliebte nicht herbeizubringen sei, könne man die Sehnsuchts-Krankheit eigentlich nicht heilen  : »[Denn] die [Qi]-Niederdrückung öffnet sich, sobald sie den Geliebten trifft. Aber wie sollte man so schnell den Geliebten herbekommen  ? Hat die Medizin denn keine andere Behandlungsmöglichkeit [als den Geliebten herbei zu bringen]  ? Im Allgemeinen [lässt sich nämlich sagen]  : Es handelt sich bei der Sehnsuchts-Krankheit zunächst um eine Verletzung des Herzens, hernach ist es eine Verletzung der Leber. Dauert sie lange an, so werden Milz und Magen verletzt. Will man die Sehnsuchtskrankheit heilen, so nehme man die vier Leitbahnen – die des Herzens, der Leber, der Milz und des Magens – zusammen. Bei der Therapierung dieser vier Leitbahnen gewinnt man sehr viel an Leben [zurück].«920

Die weiter unten folgenden Zeilen verweisen auf einen hochkomplexen Umgang mit dem Thema Liebeskummer bzw. Sehnsuchts-Krankheiten. Liebeskummer ist eine Krankheit der Verletzung des Herzens (fu shang xin zhi bing 夫傷心之病)  : Diese Gleichung lässt sich im Sinne einer metaphorischen Umschreibung verstehen, etwa als Herz-Schmerz. Doch Chen begnügt sich nicht mit dieser Gleichung. Er legt seinen Fokus genau auf den Punkt, wo die Alten aufhörten, die glaubten, dass diese Herz-Verletzung nicht medizinisch kurierbar sei, da es sich um Liebe und Sehnsucht handele. »Man darf den Reden der Alten nicht glauben, wonach die Sehnsuchts-Krankheit eine Krankheit sei, die man nicht heilen könne.« 921

Chen versucht nicht, die Sicht der Alten als oberflächlich zu entlarven. Genau so wenig will er eine metaphorische Lesung bemühen, etwa nach dem Muster »Liebeskummer steht [medizinisch] für …«. Dies alles umgeht Chen Shiduo, indem er schlicht die »Doppel-Bedeutung« von »Herz-Verletzung« als Fakt akzeptiert. Dies gelingt dadurch, dass er kein Zwischenglied einsetzt. Er geht unmittelbar, ja unvermittelt auf die medizinische Ebene über  :

920 Im Original heißt es  : 遇情人而鬱開矣。然而情人何易急得,醫道豈竟無他治哉。大約相 思之病,先傷於心. 後傷於肝,久則傷於  ;脾胃,欲治相思之癥,宜統心、肝、脾、胃 四經治之,治此四經,多有得生者. Vgl. Bianzheng lu, juan 8, CQS, 883. 921 Im Original heißt es  : 未可信古人之言,以相思之症為不可治之病也. Ibidem.

Liebe und Begehren  

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»[Wenn] man die Herz-Verletzungs-Krankheit eigentlich nicht heilen kann, wie kommt es dann, dass der ›Sehnsucht-Liebeskummer Herz-Verletzung‹ dennoch Abhilfe geschaffen werden kann  ? Bei ›an den Geliebten denken, ihn aber nicht bekommen‹, muss man das Leber-Feuer bewegen. Ist das [Leber-]Feuer bewegt, bringt es das Herz hervor. […] Man verwende Arzneien zum Ausgleichen der Leber und zur Auflösung der Niedergedrücktheit [des Qi]. Als Hilfestellung verwende man Ingredienzien zur Beruhigung des shen (an shen 安神). Es ist von Vorteil, Arznei zur Öffnung des Magen[-Qi] und zur Kräftigung der Milz einzusetzen. Sobald das Leber-Qi ausgestreckt fließt, wird sich das Herz-Feuer von selbst entfalten, und so muss man nicht [Mittel einsetzen], um die Magen-Milz-Erde hervorzubringen. Dann kann man die Sehnsucht (bzw. den Liebeskummer) ganz allmählich lindern. Wenn sich dann noch darüber hinaus die persönlichen Angelegenheiten zum Guten wenden, wer will da noch sagen, die Krankheit sei unheilbar  ?«922

Chen wechselt die Ebenen mit einer Leichtigkeit und Unvermitteltheit, wie dies nur in metonymischer Verknüpfung möglich ist  : Liebeskummer ist eine Herz-Verletzung. Herz-Verletzung ist gleichzeitig auch ein Zustand der HerzQi-Leere, weshalb die Leber als die Mutter des Herzens in ihrer Funktion als Hervorbringerin des Herz-Feuers stimuliert werden muss. Dies ist die Ebene, auf der sich Chen als Experte präsentiert, der zur Linderung der Situation beitragen kann. Er macht keine Anstalten, auf die an Liebeskummer Leidenden argumentativ einzuwirken  ; ebenso wenig geht er auf die Suche nach dem entschwundenen Geliebten. Er bleibt in seinem Metier, weshalb er auf dieser Ebene nur von einer Milderung des Leidens spricht  : Die tatsächliche Heilung kann erst erfolgen, wenn der Geliebte auftaucht. Blumen-Hinfallkrankheit und Scham Wenn Chen Shiduo wiederholt feststellt, dass Schwermut vorwiegend bei Frauen auftrete, so findet sich dies im Begriff hua dianbing 花癲病 (Blumen-­ Hinfallkrankheit) verdichtet.923 Der direkte Verweis auf Frauen bzw. auf Kurti922 Im Original heißt es  : 夫傷心之病, 本不可治, 如何相思之傷心, 猶為可救, 蓋思其人而不得, 必動肝火, 火動生心, […] 用平肝解鬱之品, 佐之補心安神之味, 益之開胃健脾之藥,則肝 氣一舒,心火自發,不必去生脾胃之土, 而相思病可逐漸而衰也. 倘更加人事之挽回, 何 病之不可愈哉. Vgl. Bianzheng lu, juan 8, CQS, 883. 923 Dieser Terminus erscheint meines Wissens in keinem anderen medizinischen Werk dieser Zeit. Damit zeigt sich einmal mehr die auffallende Nähe Chen Shiduos zur Sprache seiner eigenen Zeit.

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sanen ist durch den Terminus »Blumen« gegeben  : Beispielsweise wurden während der späten Ming-Zeit Blumen-Wettbewerbe (hua an 花案) abgehalten, in denen Kurtisanen ihre Schönheit zeigen und messen sollten.924 Bei Chen Shiduo erfahren wir außerdem an anderen Stellen925 von weiterreichenden Zusammenhängen der Blumen-Hinfallkrankheit. Unter anderem sind Frauen davon betroffen, wenn sie ihren Liebsten nicht bekommen können  : »Übermäßiges Denken und Grübeln schädigen das Herz-Blut. Dies führt zur Hinfallkrankheit, was sich entweder in Weinen oder Lachen [manifestiert] oder dass man sich nackt [auf der Straße] zeigt oder hinter verschlossenen Türen zu sich selbst spricht, in Murmeln ohne Unterlass. Die Leute denken, es handele sich hierbei um die ›Blumen-Hinfallkrankheit‹. Wer weiß schon, dass es sich um eine ›Verlust des Willens-Hinfallkrankheit‹ [bzw. Bewusstlosigkeits-Hinfallkrankheit] handelt  ?«926

Die auffällige Häufung des Themas »Liebe und Sehnsucht aus Liebe« in medi­ zinischen und literarischen Texten ist nicht zuletzt im Rahmen des Emotionen-­ Kults zu sehen927, als dessen eine Facette die »Blumen-Hinfallkrankheit« (hua dian 花癲) erscheint. Auch haben wir die Aufmerksamkeit des Arztes für bestimmte Arten von Frauen angesprochen. Dazu zählten nicht nur Nonnen (niseng 尼僧) und Witwen (guafu 寡妇), sondern insbesondere auch Frauen, die den Status einer verheirateten Frau nicht erreichten und somit im konventionellen Sinne »verloren waren« (shijia zhi nü 失嫁之女)928, sowie Frauen, deren Ehemänner für lange Zeit abwesend waren bzw. überhaupt nicht wiederkamen (zhangfu jiu chu bu gui zhi qiqie 丈夫久出不归之妻妾). Insgesamt handelte es also bei den Frauen, die an niederdrückender und sich verknotender Sehnsucht (Liebeskummer) litten (xiangsi yujie 相思鬱結),929 um Frauen, die einen Mann wollten, aber keinen bekommen konnten (yu nanzi er buke de 欲男子而不可 得). Diese Redewendung ist bereits im Shiji 史記 (–91) zu finden, auch hier 924 Vgl. hierzu Santangelo 2003, 131. 925 Vgl. Shishi milu, juan 1, CQS, 296 sowie ebenda, juan 6, 429. 926 Im Original heißt es  : 人有思慮過度,耗損心血,遂至癲疾,或哭或笑,或裸體而走,或 閉戶自言,喃喃不已,人以為花癲之病也,誰知是失志之癲乎. Vgl. Bianzheng lu, juan 4, CQS, 787. 927 Siehe die Einleitung in vorliegender Arbeit. 928 Frauen, die nicht verheiratet sind, bzw. die Chance verpasst haben, den Status einer verheirateten Frau zu erlangen. Im Bianzheng qiwen, juan 8, CQS, 602, ist an dieser Stelle die Rede von »unverheirateten (bzw. kinderlosen) Frauen« (wei zi nü 未字女). 929 Vgl. Bianzheng lu, juan 8, CQS, 880.

Liebe und Begehren  

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bezeichnet sie eine leibliche Disharmonie.930 Das heißt  : Auch hier schon bezog sich diese Wendung auf die begehrliche Haltung von Frauen, die gänzlich auf der leiblichen Ebene expliziert wurde. Chen Shiduo legt ein ungleich differenzierteres Bild vor  : »Bei der Blumen-Hinfallkrankheit [leidet] die Frau unter plötzlicher Hinfall-Krankheit (epileptischer Anfall). Sieht sie einen Mann, so will sie ihn festhalten, aber sie kann ihn nicht erhaschen. Dies ist es, was unter Sehnsucht und Bewunderung (simu 思慕) nach und für einen Mann, ohne ihn zu bekommen, zu verstehen ist. Plötzlich [entwickelt sich] die Krankheit wie ein orkanartiger Sturm und strömender Regen. Sie kennt keine Schamgefühle. Sieht sie einen Mann, dann denkt sie, es handele sich um ihren Geliebten.«931

Die Diagnose ist dieselbe wie eineinhalb Jahrtausende vorher im Shiji  : ausgezehrtes Leber-Holz, inneres Feuer lodert in Fülle, der Puls muss den cunkou 寸口932 übersteigen.933 Hervorzuheben ist die Beschreibung einer Korrelation  : die konkrete übergriffige Handlung der Frau als handgreiflicher Versuch, sich am Manne festzuhalten, und das (die Grenzen des cunkou) übersteigende bzw. überschwappende Pulsgeschehen am cunkou. Die Sehnsucht als sinnliches Begehren ist keineswegs auf Frauen beschränkt. Im Gegenteil, Chens Texte sind voller Verweise auf Männer, die vor lauter Begehren ihre Essenz verletzten934 und ihre Gemütsruhe verlören (shi qing shi xu 失情失緒)935 oder die, sobald sie eine schöne Frau sähen, »ihre Absichten bewegten« (jian se er dong qi yi 見 色而動其意). Dies führe dann, wie in dem oben dargelegten Fall der Liebessehnsucht, zur Vereinigung im Traum und schließlich zu Auszehrungserscheinungen bis hin zum Tod. Grundsätzlich enthält sich Chen moralisierender Erläuterungen – sogar im Kontext der Blumen-Hinfallkrankheit, in dem sich die Betroffene ohne Hem930 Vgl. Shiji [1962], juan 105, 2808–2809. 931 Im Original heißt es  : 如人病花癲,婦人忽然癲癇,見男子則抱住不肯放。此乃思慕男子 不可得,忽然病如暴風疾雨,罔識羞恥,見男子則以為情人也. Vgl. Shishi milu, juan 1, CQS, 296. 932 Dabei handelt es sich um eine anatomisch lokalisierbare Stelle an den Handgelenkinnenseiten zur Pulsdiagnose. 933 Im Original heißt es  : 此肝木枯槁,內火燔盛,脈必弦出寸口。法當用平肝散鬱祛邪之味. Vgl. auch Shiji [1962], juan 105, 2808–2809. 934 Im Original heißt es  : 人有縱欲傷精. Vgl. etwa Bianzheng lu, juan 8, CQS, 876. 935 Vgl. Bianzheng lu, juan 8, CQS, 876.

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mungen vollkommen nackt zeigt.936 Dennoch ist ihm an der Aufrechterhaltung des Schamgefühls gelegen. Der Ausbruch aus den »normalen Bahnen« geht mit dem »gänzlichen Verlust des Wissens um die Scham« (quan bu shi xiu 全不識羞) einher. Dementsprechend lässt sich die beginnende Genesung auch an der Wiederkehr des Schamgefühls erkennen. »Falls [die Kranke] den Absud zur Vertreibung der Blumen-Hinfallkrankheit (san hua qu dian tang 散花去癲湯) nicht einnehmen will, muss man ihn ihr notfalls gewaltsam einflößen. So wird sich die Kranke mit Sicherheit empören und schimpfen. Nach einer Weile wird sie aber müde und will schlafen. Nach dem Aufwachen [zeigt sich die Wirkung der Arznei], und sie schämt sich vor den eigenen Leuten, schließt sich für drei Tage in ihr Zimmer ein937 und man gebe ihr nur sehr wenig zu essen und zu trinken. Dann wird die Krankheit von selbst heilen.«938

Die Scham fungiert hier als Markierung unrechtmäßigen bzw. sozial geächteten Verhaltens. Eine Frau errötet beispielsweise vor Scham (xiu nan 羞赧), wenn ihr Obszönitäten angetragen werden.939 Außerdem ist mit der Scham auch der verborgene Ort, d. h. die »Scham« konnotiert, die kein Arzt je berühren dürfe, weshalb der Arzt auch nicht klar und deutlich über pathologische Zustände an diesem Ort (xiu yin zhi zheng 羞隱之症)940 sprechen oder sich auch nur über die Zustände erkundigen könne. Wenn eine Frau aus diagnostischen und therapeutischen Gründen die Unterkleider ausziehen musste, war dies eine schamvolle Angelegenheit (er bi pa xiu 而彼怕羞)941 für beide Seiten. Von ähnlicher Bedeutung ist Scham (xiukui 羞愧), wenn sie die Diagnose und Behandlung des Arztes bestimmt  : Die Heilmethode im Verborgenen bzw. im Dunkeln (an zhifa 暗治法) beispielsweise verweist auf all jene Krankheiten, die sich an Orten manifestieren, die kein Arzt sehen und über die er auch nicht sprechen darf.942 936 Im Original heißt es  : 往往有赤身露體而不顧者. Vgl. Bianzheng lu, juan 4, CQS, 786. 937 Zum leiblichen Ausdruck von Scham in der Dimension von Engung, vgl. Linck 2000, 137– 139. Zu den Okkurenzen von Scham und deren Signifikanzen in diversen spätkaiserzeitlichen literarischen Werken siehe Santangelo 2003, 328–29,393–93,404–05,411–14, 416–28, 431, 438, 440, 442, 458, 464. 938 Im Original heißt es  : 散花去癲湯. 如不肯服, 用人灌之, 彼必罵詈不休, 久之人倦欲臥. 臥 後醒來, 自家羞恥, 閉房門者三日, 少少与之飲食自愈. Vgl. Shishi milu, juan 1, CQS, 296. 939 Im Original heißt es  : 其后则羞赧为淫亵. Vgl. Bianzheng lu, juan 11, CQS, 947–948. 940 Vgl. Shishi milu, juan 2, CQS, 314. 941 Vgl. Shishi milu, juan 3, CQS, 329. 942 Im Original heißt es  : 有羞愧而不肯盡言者. Vgl. Shishi milu, juan 4, CQS, 378.

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Starke Scham (xiu hui 羞恚) figuriert wie heftiger Zorn (fennu 憤怒) als Anfang von Schwachsinn (dai bing 呆病).943 Der Scham wird offensichtlich eine ebenso starke Wirkmacht zuerkannt wie dem Zorn. So erstaunt es nicht, dass Scham bzw. Enttäuschung, wenn sie sich in bestimmten Situationen notgedrungen in Zorn wandelt, verheerende Auswirkungen annehmen kann.944 Die Signifikanz der Scham im chinesischen historischen Kontext steht außer Frage945, Chen Shiduo jedenfalls stellt ein Rezept bereit, das nach der Einnahme der ersten Dosis die Hinfallkrankheit mildert und nach der zweiten Dosis das Schamempfinden für schlechtes Verhalten wieder wachsen lässt.946 Rechtes Schamempfinden figuriert in Chens Texten explizit als Gradmesser dafür, ob die Grenze des sozialen Raumes überschritten worden ist oder nicht. An einer Stelle benennt er diese Grenze  : »Wenn jemand grundlos schallend lacht ohne aufzuhören oder hinter dem Rücken anderer Leute zu sich selbst lacht, das ist außerhalb des Normalen (yiyu ping suzhe 異 于平素者). […] Sein Zustand erscheint, als wäre er von Geistern besessen. Aber wer weiß schon, dass es sich auf keinen Fall um Besessenheit handelt. […]«947

Die hier dargelegte Ordnung der Gefühle bzw. Befindlichkeiten ist eine medizinische. Das bedeutet, dass auch die Scham nur in den Blick genommen wird, wenn sie verletzende und schädigende Wirkung auf den Menschen hatte. Begehren und die Mitte Nicht erfüllte Sehnsucht und nicht erfüllte Herzenswünsche sind Emotionsbewegungen, die schon bei Wang Kentang 王肯堂 (1549–1613) mit der Gefahr von Geschwürbildung in Verbindung gebracht worden sind  : Als zwei von drei übergeordneten Ursachen für Geschwüre macht er exzessive emotionale Bewegungen aus. Überarbeitung und unkontrollierte sexuelle Begierden (fangyu bujie 房慾不節) stehen neben »nicht befriedigten Herzenswünschen bzw. Be943 Im Original heißt es  : 獃病又不如是治法。獃病鬱抑不舒,憤怒而成者有之。羞恚而成 者有之呆病不如是治法。呆病郁抑不舒,憤怒而成者有之。羞恚而成者有之. Vgl. Shishi milu, juan 1, CQS, 295. 944 Im Original heißt es  : 勢必因羞變怒. Vgl. Shishi milu, juan 3, CQS, 336. 945 Siehe hierzu die zahlreichen Beispiele in Santangelo 2003. 946 Im Original heißt es  : 一剂而癫轻,二剂而羞恶生. Vgl. Bianzheng lu, juan 4, CQS, 786. 947 Im Original heißt es  : 人有無端大笑不止,或背人處自笑,異于平素者,[…] 其狀絕似有 祟憑之,孰知絕非祟也。Vgl. Bianzheng lu, juan 10, CQS, 937.

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gierden« (yuxin bu sui 慾心不遂). Therapiert werden sollten diese Befindlichkeiten, indem die Essenz stabilisiert (qianggu qi jing 強固其精) und die Leber-­ Leitbahnen befeuchtet werden.948 Wenn Frauen und/oder Männer große Sehnsucht verspürten, ihre Wünsche aber keine Erfüllung fänden, so werde ihre Essenz ausgezehrt, das Blut ausgelaugt. Außerdem bleibe Blut in den Leitbahnen liegen, d. h. es stocke, wodurch es zur Herausbildung von [Hitze-]Gift komme. Damit sind Leidenschaften, wörtlich  : das bewegte Herz (dongxin 動 心), als Abweichung von der Mitte für die Herausbildung von Geschwüren verantwortlich.949 Wang benennt Personengruppen, die besonders häufig hierunter litten. So ­ anges habe er dies bei Beamten (guanren 官人) und Gelehrten niederen R (kuangfu 曠夫), aber auch bei Mönchen und Nonnen (sengni 僧尼) sowie bei Witwen (shuangfu 孀婦) mit eigenen Augen beobachtet. Außerdem sei in Händler-Kreisen (shanggu 商賈) der zügellose Verkehr mit Prostituierten üblich.950 Was Wang Kentang an der Wende zum 17. Jahrhundert beschreibt, findet sich bei Chen Shiduo etwa ein halbes Jahrhundert später in noch differenzierterer Form.951 Die Herausbildung von Geschwüren infolge exzessiver Begierden erscheint als Steigerungsform von Auszehrung und Verletzung der Mitte. Diese pathologische Situation wird umso schlimmer, wenn die sexuelle Aktivität mit Zorn einhergeht, z. B. weil unerfüllte Wünsche zu Blut- und Qi-Stau und in weiterer Folge zu [Hitze-]Gift führten.952 948 Im Fall von trockener Jueyin-Leber-Leitbahn und gleichzeitiger Kälte außen. Vgl. Wang Kentang, Yangyi, juan 4, S. 273. 949 Vgl. Wang Kentang, Yangyi, juan 4, 273. 950 Vgl. Ibidem. 951 Chen Shiduo beruft sich mitunter auf Wang Kentang, so z. B. in Dongtian aozhi, juan 14, CQS, 1108. Unter anderem nennt Chen Bevölkerungsgruppen, die berufsbedingt oder schichtspezifisch zu Geschwürbildung neigten  : die Schiffsführer mit ihren offenen Schwielen und sich daraus entwickelnden Geschwüren, weil sie mit Tauen die Boote durch die Flüsse lotsten  ; die Fischer, die sich beim Schlagen der Fische und Männer, die sich beim Wagen-Ziehen Geschwüre zuzogen, vgl. Dongtian aozhi, juan 12, CQS, 1099, ganz zu schweigen von Geschwüren, die infolge der Prügelstrafe (zhang 杖) entstünden. (Vgl. Dongtian aozhi, juan 9, CQS, 107). Im Falle der Frostbeulen (dongchuang 凍瘡) benennt Chen sowohl die Armen (pinjian 貧賤) als auch die Reichen (fugui 富貴), bei denen sich die Frostbeulen vorzugsweise an Händen und Füßen herausbildeten. Vgl. Dongtian aozhi, juan 12, CQS, 1100. 952 Vgl. Wang Kentang, Yangyi, juan 4, 273.

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Während übermäßige sexuelle Aktivität die Nieren auszehre,953 verur­sache Zorn die Bewegung des Leber-Qi. Die »Arbeit« im Schlafgemach verletze insbesondere auch das Qi der Mitte (lao shang zhong qi 勞傷中氣), weshalb die Therapie in der Verabreichung von »die Mitte ergänzenden und Qi-durchgängig machenden« Arzneien bestehen müsse (buzhong yi qi 補中益氣).954 Den Zusammenhang zwischen exzessiven Begierden und Zorn spezifiziert Chen wie folgt  : »Wenn sich bei einem Geschwür auf dem Rücken der offene Teil des Geschwürs bereits geebnet hat, es aber plötzlich aufbricht und Blut hervorquillt, so meinen die Leute, dies komme daher, dass das Fleisch noch nicht fest ist. Dabei wissen sie nicht, dass es [in Wirklichkeit] daher rührt, dass der Betroffene sexuellen Lüsten und Zorn nicht aus dem Weg gegangen ist. Im Allgemeinen ist im Falle von Karbunkeln und Geschwüren vor allem sexuelle Lust und als zweites Ärger und Zorn Tabu. Bei Verletzung [des Tabus] von Ärger und Zorn kommt es zum besorgniserregenden Aufbrechen des [sich frisch] gebildeten Fleisches. Bei Verletzung [des Tabus] von sexueller Lust kommt es zum Unheil des Ausfließens von Blut. Bei Übertretung durch Ärger und Zorn wird [das Stadium] der Krankheit nicht überschritten. [Aber] die Übertretung durch sexuelle Lüste führt [über das Stadium der Krankheit hinaus] zum Tod.«955

Diese Verquickung von »Zorn und Sexualität«956 und damit von Zorn und Moral im Sinne der Mitte rückt gegen Ende der Ming-Zeit ins Zentrum des medizinischen Interesses. Bei Zorn und auch bei sexuellen Begehrlichkeiten ist es jeweils das lodernde Feuer, das der Arzt in den Blick nimmt. Der Zusammenhang mit kulturellen Entwicklungen im 16. Jahrhundert ist unschwer zu 953 Doch wenn sexuelle Aktivität mit Zorn einhergehe, werde zum einen das Leber-Qi (durch den Zorn) geschädigt, und zum anderen werden die Nieren durch Geschlechtsverkehr ausgezehrt. Vgl. auch Xue Ji, Neike zhaiyao, juan 2, 52. 954 Ibidem. Hier finden wir wieder den Verweis auf die Betonung der Mitte (Milz und Magen). 955 Im Original heißt es  : 人有背瘡長肉,瘡口已平,忽然開裂流血,人以為瘡口之肉未堅也, 誰知是色欲惱怒之不謹耳。大凡瘡癰之癥,最忌色欲,次忌惱怒。犯惱怒新肉有開裂之 虞,犯色欲新肉有流血之害;犯惱怒者不過疾病,犯色欲者多致死亡. Vgl. Bianzheng lu,

juan13, CQS, 977. 956 Vgl. Xue Ji, Neike zhaiyao, juan 1, 4. Chen Shiduo beschreibt in seinem 1694 gedruckten Dongtian aozhi 洞天澳旨 (auch Waike milu 外科祕錄 genannt) die Zusammenhänge »unzüchtigen« Geschlechtsverkehrs und die Möglichkeit, krank zu werden. Als Standardwerk der Geschwürheilkunde galt später das 1760 erschienene Yangyi daquan 瘍醫大全 von Gu Shicheng 顾世澄.

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erkennen  : Der kulturelle Pluralismus mit Fokus auf die hedonistisch ausgerichtete besondere Hinwendung zum Begehren (yu 欲)957 sexueller Natur. Diesem Hedonismus folgen die nun epidemisch auftretenden Geschlechtskrankheiten und ihre medizinischen Explikationen auf den Fuß. Schon Wang Kentang 王 肯堂 (1549–1613) bringt die Syphilis (yangmei 楊梅) mit ungezügelten sexuellen Begierden in Verbindung  : Da ist die Rede von mianhua chuang 棉花瘡 (Baumwoll-Geschwüren) und von fanhua chuang 翻花瘡 (eine in Form und Farbe wandelbare Wunderblume),958 die auf unzüchtigen Geschlechtsverkehr mit Prostituierten (yinji 淫妓) zurückgingen. Weil dabei das Feuer heftig bewegt werde (chongdong 沖動), wobei sich die Haut-Poren öffnen, könne das (krankmachende) Gift eindringen.959 Auch bei Chen Shiduo findet sich die Verbindung »Geschwüre und ungebührendes Verhalten« bzw. Vergehen (zuinie 罪孽)  : »Wenn die Menschen nicht respektvoll mit dem heiligen Weg umgehen, sondern sich noch darüber lustig machen, dann wachsen ihnen alle möglichen Geschwüre seltsamster Art.«960 »[…] bald ist der Rücken schwer wie ein Berg, ganz allmählich bilden sich rote Flecken, die so groß sind wie Teller. So sehen Yin-Karbunkel in ihrem Anfangsstadium aus. [Diese Krankheit] ist am allermeisten von allen zu fürchten. Man kann sie überhaupt nicht mit den vorher [beschriebenen] Yang-Karbunkeln vergleichen. Wer sich das ganze Leben lang versündigt, wird von Dämonen belästigt, so wird der Betroffene unweigerlich irre Worte faseln. Wenn man diese Symptome sieht, [geht man davon aus], dass es eigentlich keine Hilfe gibt. Aber das Gute und Schlechte im Herzen der Menschen vermag sich in einem einzigen Moment von Reue oder Schwachheit herauszubilden. [Nur, wenn] die Patienten zur Errettung ihres Lebens keine Methode [kennen, dann zeigt sich, dass selbst, wenn sie den Weg der Medizin wählen], dieser [doch notgedrungen] ohne Erfolg ist. [Doch wenn] man gegen die Yang-Karbunkel angehen kann, warum soll es keine Methode geben, wonach man bei Yin-Karbunkeln Leben [retten] kann  ? [Die ganze Kunst] liegt darin, die [rechte] Methode der Abhilfe zu erlangen.

957 Mitunter auch mit dem Herzradikal (慾) geschrieben. Zu diesem Phänomen siehe Epstein 2001, 62–65 und Huang 2001, 6–7. 958 Vgl. Wang Kentang, Yangyi, juan 5, 350. 959 Vgl. Wang Kentang, Yangyi, juan 4. 273. 960 Im Original heißt es  : 乃人不敬神道而戲弄之耳. Vgl. Shishi milu, juan 4, CQS, 370.

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Obgleich man im Allgemeinen bei Yin-Karbunkeln auf die Belästigung durch Dämonen schließen kann, muss man dennoch davon ausgehen, dass das rechte Qi in einem großen Leere-Zustand sein muss. Auf diese Weise bekommt der Betroffene das Übel, das eindringt. [Wenn] das rechte Qi nicht leer ist, wie kann das Übel da eindringen  ? Deshalb muss man bei Yin-Karbunkeln in großem Maße das Qi und das Blut ergänzen.«961

So klingen auch bei Chen Shiduo die Notationen von Sünde und Reue, die während des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts im Verlaufe der Revitalisierung buddhistischer und anderer religiöser Glaubenssätze962 geradezu florierten, als »Rahmen« dieser Krankengeschichte an. Doch Chen verbleibt offensichtlich in der Ideosphäre der Medizin, d. h. er argumentiert nicht mit Strafen aus Himmel und Hölle, sondern wählt letztlich immer wieder die Perspektive, aus welcher die Räume von Leere und Fülle (des Qi) zu betrachten sind. Geistern und Dämonen kommt hierbei eher die Rolle von Statisten zu.963 Doch dienen diese andererseits, wie Himmel und Hölle, auch als Referenzschemata. Die Angst vor dem Befall durch Dämonen schien jedenfalls real (empfunden), sonst müsste sich der Heilkundige in solchen Fällen nicht Hundeblut ins Gesicht reiben, um dem bösen Zauber entgegenzuwirken.964 Aber Chen bleibt der medizinischen Letztbegründung treu, indem er auf Lehrsätze, wie sie bereits im Nanjing (200 n. Chr.) formuliert worden sind, zurückgreift  : Die Voraussetzung für einen Dämonenbefall liegt in der Qi-Disposition des Menschen selbst  ; ein Qi-Leere-Zustand gibt jedem üblen Eindringling Raum  ; umgekehrt ist in einem Fülle-Zustand schlichtweg kein Platz für Eindringlinge. Die leiblichen Vorgänge bilden also die Basis für diese Letztbegründung. Und wenn Chen Shiduo die Alten zitiert, wonach ein (recht) ausgerichtetes Herz keine Furcht (ju 惧) vor der Invasion durch Übel kennt965, so handelt es sich auch hier um die Verschränkung der medizinischen mit der ethischen 961 Im Original heißt es  : 己而背如山重,悠悠發紅暈,如盤之大,此陰癰初起之形象也,最 為可畏,尤非前癥陽癰可比。乃一生罪孽,鬼祟纏身,必然譫語胡言。如見此等癥候, 本不可救。然而人心善惡成於一念之遷悔,求生無術,亦見醫道無奇.蓋陽癥有可救之 術,陰癥豈無可生之理,總在救之得法耳。大約陰癰之癥,雖成於鬼祟之纏身,然必正 氣大虛,邪得而入之也。設正氣不虛,邪將安入。故救陰癰之癥,必須大用補氣補血之 藥. Vgl. Bianzheng lu, juan13, CQS, 976.

962 Viele Gelehrte des 16. und 17. Jahrhundert glaubten an Wiedergeburt. Siehe hierzu Elman 2000, 305–307. 963 So auch in Bianzheng lu, juan 13, CQS, 991–992. 964 Vgl. Bianzheng lu, juan 10, CQS, 931. 965 Im Original heißt es  : 古人云心正何懼邪侵. Vgl. Bianzheng lu, juan 10, CQS, 928.

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Argumentation mit Blick auf die Mitte. Dies darf aber nicht im Sinne einer ethischen Letztbegründung gelesen werden. Vielmehr ist auch hier wieder das Augenmerk auf die kontige Verknüpfung mit dem medizinischen Grundsatz zu legen, wonach ein (ausgeglichener) Fülle-Zustand der Yin-Organe keine Angst vor Dämonenbefall bzw. üblen Kräften zulasse.966 Wenn Chen Shiduo die Rolle menschlichen Vergehens (zui 罪) für Krankheiten und frühzeitigen Tod mit dem Verweis auf die Sphäre außerhalb des Gestalthaften verhandelt, so verweist er damit gleichzeitig auf die Gefahr medizinischer Behandlung  : Menschen ohne Vergehen (wu zui 無罪) dürften nicht – durch falsche medizinische Behandlung – ins Jenseits befördert (ru yin 入陰) werden.967 Sünde und Vergehen gehörten wesentlich in einen buddhistisch geprägten Wissens- bzw. Glaubensraum. Chen operierte offensichtlich mühelos in diesen Räumen, ohne dass er sich daoistisch gefärbten Sichtweisen versperren wollte. Die zahlreichen impliziten und expliziten Anleihen bei 966 Eine ähnliche Stoßrichtung verfolgt Chen in der damals umstrittenen Frage, ob Geschwüre und Karbunkel geschnitten werden sollten oder nicht. Herkömmlicherweise stellten sich Vertreter der Gelehrten-Medizin gegen sogenannte Geschwüre-Ärzte (yang yi 瘍醫), die Xiao Jing 肖京, 1644 als die niedersten unter den gewöhnlichen Ärzten klassifizierte. Die Gefahr von Geschwüren und Karbunkeln (chuangyang 瘡瘍) wie auch die Sorge um die Pocken (douzhen 痘疹) scheinen im Verlaufe des 17. Jahrhunderts von der Sorge um die Epidemien (wenyi 瘟疫) begleitet worden zu sein. Die Pockenheilkunde war während der späteren Ming-Zeit eines der wichtigsten Augenmerke der Mediziner am Hofe. Die Pocken bedrohten in besonderem Maße kleine Kinder. Siehe hierzu Volkmar 2007, 114–115. Die Medizin des Äußeren (waike 外科) war notwendigerweise mit der Frage »(äußeres) Schneiden oder (inneres) Therapieren« befasst. Diese Frage wollte Chen Shiduo offensichtlich situativ entscheiden  : Einmal für vorsichtiges Schneiden und Aufbrechen (sui zhi fa 碎治法), ein andermal für die Therapie der inneren Organ-Relationen (zangfu), wenn festgestellt werden könne, dass diese die äußeren Geschwüre hervorriefen. Damit betritt er unsicheres Terrain, zumal er die Methoden der Chirurgie des Hua Tuo nun, nach mehr als tausend Jahren neu bzw. »erneut« überliefert und sie außerordentlich lobt. Zu den Implikationen des Aufkommens »neuer« Deutungen von Epidemien im 16. und 17. Jahrhundert siehe Hanson 1997, 107–115. Gleichzeitig distanziert Chen sich von Generationen-Ärzten, die großen Schaden anrichteten, wenn sie tiefliegende Geschwüre an den Zehen dadurch beseitigten, dass sie den ganzen Zeh wegschnitten. Vgl. Bianzheng lu, juan 13, CQS, 992. Sie würden zu wenig auf die Qi-Zustandsweisen von Leere und Fülle achten, nicht nach yin und yang differenzieren, die Inneren Organsysteme nicht beachten, sondern sich allein auf Messer und Nadel verlassen. Gleichzeitig kritisiert er auch diejenigen, die nur innerlich therapieren wollten. Vielmehr könne man Geschwüre (yongju 痈疽) mit einem Eisenreifen einkreisen, beseitigen und die Wunde mit einer Heilpaste pflegen, doch müsse man auch Arzneien für das Innere verabreichen. Vgl. Shishi milu, juan 5, CQS, 385–386 967 Vgl. Bianzheng lu, juan 1, CQS, 708.

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daoistischen Lehrsätzen in Chens Werken verweisen auf einen Pfeiler seines Selbstverständnisses als Arzt. Diese Anleihen sind keineswegs allein als Eklektizismus anzusehen. Vielmehr handelt es sich hierbei um eine intrinsische Verbindung von Ming-Loyalismus mit der Hinwendung zu religiöser Lebensweise, die von essentieller Bedeutung für ein integres Überleben war. Angesichts der Notwendigkeit, abstrakt gewordene neokonfuzianische Weltsichten und die Positionierung des Menschen in der Welt zu erneuern, erheben sich kritische Stimmen gegen die mit li 理 (das universale sittliche Ordnungsprinzip) verbundene Ontologie, die eine Unterordnung des »körperlichen«, ja materiellen, substantiellen Qi unter li impliziert. Sexualität gehörte der materiellen Sphäre an, sie wurde in der medizinischen Ideosphäre nicht nur mit extensiver Begierde in Verbindung gebracht, sondern wesentlich auch mit Fruchtbarkeit und Fortpflanzung. Reproduktion Lange Kapitel in medizinischen Werken dieser Zeit sind der »Vermehrung von Nachkommenschaft (zhongsi 種嗣)«968 gewidmet. Kinderlosigkeit (huan wu zi 患無子)969, d. h. vor allem ohne männliche Nachkommenschaft (zisi 子嗣) zu sterben, konnte den Zorn der Ahnen heraufbeschwören und lief der konventionell verbindlichen Kardinaltugend »Kindespietät« (xiao 孝) zuwider. Das große Feld zur »Vermehrung von Nachkommenschaft« berührt gleichzeitig das schwierige Feld der Frauenmedizin, weil der Zutritt zu den Frauengemächern eigentlich tabu war.970 Die Markierung des weiblichen Körpers 968 Vgl. Bianzheng lu, juan 10, S. 940ff. 969 Vgl. Shishi milu, juan 5, CQS, 397. 970 Die »Frauenheilkunde/Medizin für (verheiratete) Frauen« (fuke 婦科) existiert seit der Song-Dynastie als reguläres Prüfungsfach in den offiziellen staatlichen Examina für Beamte. Diese spezifische Form der Institutionalisierung ist als Folge eines etwa 300 Jahre währenden Prozesses zu sehen, im Rahmen dessen sich die chinesische Oberschicht von einer vordem kleinen aristokratischen Schicht zu einer breiteren Schicht entwickelte, die sich mittels Schriftgelehrsamkeit und Beamtentum distinguierte. Während der ersten 150 Jahre der Song-Herrschaft (Nord-Song  : 960–1125) wurde die Medizin im Rahmen der institutionellen Reformen Teil einer Kaiserlichen Agenda, die »gute Staatsführung« insbesondere mittels Förderung der »Wohlfahrt« der Bevölkerung vorantreiben wollte. Während die Mediziner am Hofe vor allem als Ärzte in der Armee und bei Hofe zu dienen hatten, kam es nun, im Rahmen der generellen Ausdehnung der Bürokratie in der Song-Zeit auf die Provinzen, zu einer Veränderung der Sicht auf die Ausbildung von Ärzten. Unter Einsatz der neuen

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als (potentiell) »schwangerer« Leib stand nun – im Gegensatz zu früher eher androgynen Leibvorstellungen im Huangdi neijing – dem »hervorbringenden« Leib des Mannes gegenüber.971 Chen Shiduo diskutiert in seinen umfangreichen Ausführungen zur Zeugung von Kindern (Zhongsi men 種嗣門972) die Frage, ob und inwiefern die Medizin überhaupt eine Hilfestellung sein kann. Kinderlosigkeit ist einmal das Ergebnis von Überschreitungen im Sinne transgressiven (guo 過) Verhaltens, sei es in diätetischer oder auch in sexueller Hinsicht oder dadurch, dass das Herz zu sehr von Gedanken getrübt sei.973 Zu viel Begehren zehre den Leib aus, weil das Kanzler-Feuer zu heftig lodere. Hierbei handelt es sich um eine von sechs Ursachen für Kinderlosigkeit bei Männern und eine von zehn Ursachen bei Frauen. Auszehrung ist immer Auszehrung von Essenz, d. h. Schwächung der männlichen Samen- und somit Zeugungskraft. Ein andermal erscheint Kinderlosigkeit als ein vom Himmel bestimmtes Geschick (shu 數)974 bzw. als Karma. Diese buddhistisch gefärbte Sichtweise ist kaum von genuin medizinischen Konzeptionen zu trennen. Denn die vorgeburtliche Essenz (xiantian jing 先天精) stammt zwar von den Eltern, doch ist diese Materialisierung auch Teil eines kosmischen Prozesses, weil die Vereinigung von Himmel und Erde gleichsam die Wesen hervorbringt. Die Beschaffenheit der vorgeburtlichen Essenz ist aber prägend für das individuelle Lebensgeschick, d. h. in ihr ist die dem Menschen zugedachte Lebenszeit und -qualität enthalten. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, wenn Chen eindringlich davor warnt, die medizinische Behandlung im Falle von Kinder-

Druck-Technologie wurden – neben Schriften zu anderen Wissensbereichen – vermehrt medizinische Werke publiziert, wodurch der Zusammenhang von Text und Macht neu hergestellt wurde. Siehe hierzu Chia 2002. Ärzte bei Hof suchten im Rahmen dieser Neuordnung des Wissens – hierzu gehörte wesentlich auch die Renaissance des Konfuzianismus – die Praxis der Medizin an die Kenntnis alter, nun vermehrt publizierter »kanonischer« Texte zu knüpfen. Hierzu gehören auch die Distinktions-Bemühungen dieser »Gelehrten Ärzte« (ruyi 儒醫) von den sogenannten wu 巫 (Heiler, Schamanen, Laien-Ärzte). Im Rahmen dieser Entwicklung ist die Institutionalisierung des Faches »Medizin für Frauen« zu sehen. Hebammen und »Volks-Ärzte« sollten ihrer Dienste an kranken oder schwangeren Frauen entkleidet werden. Siehe hierzu ausführlich Furth 1999, 59ff. Siehe auch die Beiträge zur Medizin für Frauen im frühen China in Leung 2006. 971 Siehe Furth 1999  ; siehe hierzu auch Grant 2003 sowie Hanson 2006, 179–195. 972 Vgl. Bianzheng lu, juan 10, CQS, 940ff. 973 Vgl. Bianzheng lu, juan 10, CQS, 941. 974 Im Sinne eines (ontisch) vorherbestimmten Schicksals. Vgl. hierzu Lehnert 2003, 56.

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losigkeit als ein dem »Himmel zuwiderlaufendes« (yi yu ni tian 醫欲逆天)975 Vorgehen zu bewerten. Dabei argumentiert er mit Verweis auf selbstverschuldete Kinderlosigkeit, denn die Essenz sei schließlich nicht nur vorgeburtlich bestimmt, sondern auch vom Menschen selbst gebildet, und zwar postnatal (houtian 後天).976 So soll der medizinisch begründete Ansatz zwar nicht die ­Notwendigkeit ersetzen, sich für eine diätetisch und moralisch optimale Lebensweise, gekennzeichnet durch Menschenliebe und Barmherzigkeit, zu entscheiden. Doch stellt er die Medizin an die Seite dieser Vorgaben, weil sie sehr wohl über eine Methode verfüge, die Fortpflanzung zu fördern.977 Es gilt somit die Frage der Nachkommenschaft von der Domäne des Himmels und des von ihm bestimmten Geschicks zu befreien. Dies geschieht, indem der Macht des Himmels die Veränderbarkeit der Fertilität entgegengesetzt wird. Chen Shiduo schreibt dazu  : »Obgleich [immerzu] davon die Rede ist, dass Kinderzeugung eine Angelegenheit des Schicksals sei, [so ist es] doch auch eine menschliche Angelegenheit.«978

Wenn die Leute gemeinhin davon ausgingen, es handele sich um Schicksal (tian dingzhi 天定之), wenn z. B. ein Mann einen kleinen Penis besäße und deshalb keine Kinder zeugen könne, so wüssten sie aber nicht, dass der Mensch auch selbst dafür sorgen kann, Kinder zu bekommen [wörtl.: herzustellen].979 Und wenn die Menschen zwischen Nieder- und Höherstehenden unterschie975 Bianzheng lu, juan 10, CQS, 941. 976 Als Gründe führt Chen an  : 1. Die Gebärmutter ist kalt, 2. Milz und Magen sind kalt, 3. das Gürtelgefäß (daimai 帶脈) ist gereizt (ji 急), 4. das Leber-Qi (Leber-qi Stagnation) ist niedergedrückt, 5. das Sputum-Qi blüht (in Fülle ist)  ; 6. das Kanzler-Feuer blüht, 7. das Nierenwasser ist ausgezehrt, 8. eine Krankheit des renmai und dumai herrscht vor, 9. die Harnblase kann nicht umwandeln und nicht arbeiten, 10. Qi und Blut sind leer und können keine (Nährstoffe) aufnehmen (she 摄). Beim Mann macht Chen sechs Ursachen aus  : kaltes Spermium, geschädigtes Qi, zu viel Schleim, loderndes Kanzlerfeuer, wenig Spermium, niedergedrücktes Qi bzw. Depression. Im Original heißt es  : 精寒也,一氣衰也,一痰多也, 一相火盛也,一精少也。一氣鬱也. Vgl. Shishi milu, juan 5, CQS, 396. 977 Im Original heißt es  : 种子之法, 然天心仁愛,人苟有遷善之心,醫即有種子之法。Vgl. Bianzheng lu, juan 10, CQS, 941. 978 Im Original heißt es  : 人生子嗣,雖曰天命,豈盡非人事哉. Vgl. Shishi milu, juan 5, CQS, 396. 979 Im Original heißt es  : 男子有天生陽物細小,而不得子者,人以為天定之也,誰知人工亦 可以造作乎. Vgl. Bianzheng lu, juan 10, CQS, 944.

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den980, indem sie annahmen, dass den Armen ein großer Penis beschieden sei, den Reichen hingegen ein kleiner, so sei dies keineswegs [immer] der Fall, sondern es handele sich zumeist um ein Leber-Problem.981 In diese medizinischen Betrachtungen gehört auch die Beschreibung all der leiblich-emotionalen, mit Angst einhergehenden Zustände, die verhinderten, dass ein Kind entstehe. So hänge das Grübeln und die Schwermut eines Mannes, weil er nicht zu den Prüfungen zugelassen worden war, nicht damit zusammen, dass das Lebenstor-Feuer sich nicht ausbreite, sondern damit, dass sowohl das Herz-Qi als auch das Leber-Qi stagnierten (zhi 滯), denn bei Depression/ Schwermut (youchou 憂愁) sei das Feuer-Qi nicht aufgerichtet  ; bei Freude (huanyu 歡愉) aber entfalte sich das Feuer-Qi zu großer [Fülle] (da fa 大發)982  : »Auch wenn die [eigene] Lebenssituation voller Enttäuschung und die Werte der ethischen zwischenmenschlichen Beziehungen pervertiert worden sind, das Herz will Freude und dies ist nicht möglich. Die Leber will Ruhe und Frieden und kann dies nicht erreichen. […] Wie kann er da Kinder zeugen  ? Die Umstände kann man nicht umdrehen. Auch kann man die menschlichen Beziehungen nicht ändern. Aber man kann in der Tat das Herz-Qi geschmeidig machen und man kann wirklich das Leber-Qi gefügig fließend machen.«983

Die Aufgabe des Arztes ist auch dann deutlich auf die leibliche Ebene beschränkt, wenn es widrige äußere Umstände waren, die den betreffenden Mann zeugungsunfähig gemacht hatten. Der Arzt kann gesellschaftliche Zwänge nicht auflösen, wohl aber innerleibliche Stagnationszustände, die den Betroffenen lähmen. Ähnlich verhält es sich beispielsweise bei einer Frau, deren Mann nur vor Kraft strotzt und »dessen Spermien wie heiße Suppe in sie fließen, doch dann erschrak sie nach der Befruchtung  ; die Frucht konnte nicht wachsen und es kam zu keiner Schwangerschaft.«984 Analog zu der Diagnose »Kälte der Spermien« macht Chen »Kälte in der Gebärmutter« als Ursache für Kinderlosigkeit bei der Frau aus. Kälte in Milz und Magen sowie zu viel Schleim, zu starkes Lodern des Kanzler-Feuers und 980 Im Original  : 世分為貴賊. Vgl. Bianzheng lu, juan 10, CQS, 944. 981 Vgl. Bianzheng lu, juan 10, CQS, 944. 982 Im Original  : 男子有懷抱索鬱而不舉子者. Vgl. Bianzheng lu, juan 10, CQS, 943. 983 Im Original heißt es   : 處境遇之坎坷,值人倫之乖戾,心欲怡悅而不能,肝欲坦適而 不得, […]  何以生子  ?      雖然人倫不可變,境遇不可反,而心氣實可舒,肝氣實可順 也。Vgl. Bianzheng lu, juan 10, CQS, 943. 984 Vgl. Bianzheng lu, juan 11, CQS, 941.

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eine Stagnation/Niedergedrücktheit von Qi zählen zu den Hauptursachen für Mann und Frau gleichermaßen. Chen Shiduo führt hier, ebenso wie bereits im Falle der Handlungsanwei­ sungen bei akuten Epidemien,985 eine Synthese zweier gegensätzlich ausgerichteter Sichtweisen herbei  : Gegen eine herkömmliche, eher fatalistisch angelegte Sicht richtet er die medizinische Perspektive, die ihre Anknüpfungspunkte ausschließlich in der leiblichen Realität sucht, und damit ein Faktum der Machbarkeit986 einführt. Die Vorstellung, Kinder »machen« zu können, impliziert auch die Vorstellung, dass man sein Schicksal selbst in die Hand nehmen kann. Diese Argumentationslinie birgt zugleich die Vorstellung der Selbsthilfe, die während dieser Zeit in allen möglichen Lebensbereichen relevant geworden war. Das Studium für die Prüfungen stellte man sich zunehmend als Selbststudium vor  ; selbst das Abfassen eines Briefes oder die Organisation eines Begräbnisses oder einer Hochzeit wurde in sogenannten Elementar-Lernbüchern (Xiaoxue 小學) thematisiert und angeleitet.987 Die in großer Zahl in Umlauf gebrachten medizinischen Lehr- und Handbücher haben wir schon angesprochen. Wenn Chen Shiduo die grundsätzliche Möglichkeit ausspricht, Nachkommen »herzustellen«, so negiert er damit zwar nicht das kosmische Prinzip bzw. den Willen des Himmels. Wohl aber wird dieses Prinzip aus dem Blickfeld gerückt, sodass der menschliche Leib in deutlicher Vergrößerung fokussiert werden kann. Die solcherart verschärft beobachteten Leibesprozesse erlauben dann auch offensichtlich transgressiv ausgerichtete Lösungsvorschläge für Kinderlosigkeit. Der Arzt befand sich, wenn er Kinderlosigkeit therapieren wollte, nicht nur im Feld der Frauenmedizin, sondern auch, wenn es etwa um die Impotenz des Mannes ging, im Feld der daoistisch inspirierten Lebenspflege (yangsheng 養生).

985 »In den Städten dieser Welt und auf dem Lande, auf Marktflecken herrschen ansteckende Seuchen/Epidemien (chuanran wenyi 傳染瘟疫), die Leute denken, dies sei eine der üblichen Naturkatastrophen (tianzai liuxing 天災流行), aber wer weiß schon, dass dies alles von Menschen herbeigeführt wurde (shei zhi jie renshi zhaozhi ye 誰知皆人事雜召之也)  ?« Vgl. Bianzheng lu, juan 10, CQS, 939. 986 Dieser Diskurs der »Machbarkeit« erscheint nicht nur hier, sondern in diversen anderen Zusammenhängen, wo es um die Frage geht, ob eine Krankheit soweit fortgeschritten sei, dass nur noch der eintretende Tod abzuwarten sei oder ob es Hoffnung gebe. Chen sagt gerne  : »Aber ich denke, das kann man behandeln« (而吾以为可治者). Vgl. Bianzheng lu, juan 1, CQS, 712. 987 Siehe hierzu auch Lufrano 1997, 31ff.

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Exkurs  : Fu Shan als Vorlage Das Feld der Lebenspflege war wiederum mit utopischen Bemühungen um Unsterblichkeit durchwirkt  : Ein androgyn beschaffener Mensch988 ­widersprach hier offensichtlich nicht dem Selbstverständnis eines neokonfuzianisch geprägten Gelehrten-Arztes (ruyi 儒醫). Damit war auch eine im konfuzianischen Sinne gänzlich unkonventionelle Sicht auf die Möglichkeiten und Funktionen von Frauen verbunden  : »[Wenn] eine Frau im Verlaufe mehrerer Monate [nur] einmal menstruiert […], so denken die Leute gemeinhin, dies sei außergewöhnlich (yi 異), und sie wissen nicht, dass dies [durchaus] nicht außergewöhnlich ist. Denn diese Menschen [Frauen] sind keineswegs krank. [Denn] weder Blut noch Qi ist ausgezehrt oder geschädigt. Unter den Frauen [furen 婦人] gibt es solche, die von Natur aus heilige Knochen besitzen (tiansheng xian gu zhe 天生仙骨者).989 Da muss es so sein, dass das Monatsblut nur alle vier Monate einmal fließt. Da muss man nach Jahreszeiten zählen und nicht nach Monaten.«990

Diese Passage ist, wie einige andere frauenheilkundliche Ausführungen im Bian­zheng lu auch, wörtlich in der Abhandlung zur »Frauenheilkunde« (nüke 女科) von Fu Shan 傅山 (1607–1684)991 zu finden. Wir dürfen davon ausge988 Zumal Männer ja den Embryo in sich selbst erzeugen sollten. Diese Sicht findet sich auch bei Chen Shiduo, und zwar im Waijing weiyan, juan 3, CQS, 21. Zu der Inneren Alchemie für Frauen siehe Despeux und Kohn 2003, 198–220. 989 Der Begriff »Heilige Knochen« taucht bereits im Shenxian zhuan (4. Jahrhundert) auf. Vgl. Güntsch 1988, 100. Diese Bedeutung verweist selbstredend auf eine außergewöhnliche Disposition, auch im moralischen Sinne. 990 Im Original heißt es  : 婦人有數月一行經者,每以為常,且無或先或後之異,又無或多 或少之殊。人以為異,而不知非異,此乃無病之人,氣血兩不虧損耳。婦人之中,有天 生仙骨者,經水必四季一行,蓋以季為數,不以月為盈虛也. Vgl. Bianzheng lu, juan 11,

CQS, 952. Diese Stelle finden wir, zusammen mit einigen anderen Abschnitten zur Frauenheilkunde, in gleichem Wortlaut bei Fu Shan, Nüke, shang juan, 17–18. 991 Möglicherweise war es Fu Shan, den Chen Shiduo als einen Außergewöhnlichen (yiren 異 人) bzw. als den daoistischen Meister (yushi 羽士) bezeichnet und der ihm geheime Rezepte übermittelt hat. Vgl. fanli 凡例 im Dongtian aozhi, CQS, 1016. Fu Shan wurde bereits zu seinen Lebzeiten als ein »verborgener« Arzt (yinyi 隱醫) verehrt. Als solchen preisen ihn herausragende zeitgenössische Gelehrte, wie u. a. Gu Yanwu 顧炎武 (1613–1682) und Yan Ruoju 閰若壉 (1636–1704). Vgl. Wei Zongyu 1995, 435. Wichtig ist außerdem der stark politische Hintergrund für Fu Shans Rückzug aus dem öffentlichen Leben  ; er soll als daoistischer Priester in den Bergen von Shanxi gelebt haben. So gehen die Verfasser des Dictionary of Traditional Chinese Medicine - Zhongyiyao cidian 中醫藥詞典1984, 363, irrigerweise davon aus, dass Fu

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hen, dass Chen Shiduo Passagen aus diesem Werk übernommen hat und nicht umgekehrt. Der früheste erhaltene Druck einer Kurzfassung des Bianzheng lu stammt nämlich aus dem Jahre 1694,992 das ist zehn Jahre nach dem Ableben von Fu Shan. Fu Shan ist allerdings nicht so sehr als Arzt denn als außerordentlich begnadeter Kalligraph in die Geschichte eingegangen. Außerdem wird er bis heute wegen seiner expliziten Hinwendung zum Daoismus als schillernde Persönlichkeit erinnert. Er soll sich aus dem konventionellen Karrieremuster des Beamtentums, auch aus Ming-loyalen Gründen, als daoistischer Priester zurückgezogen haben.993 Nachdem er einige seiner Besitztümer verkauft hatte, habe er sich auf Wanderschaft durch ganz Shanxi (Nordchina) begeben, später gefolgt von seiner Mutter sowie seinem Sohn Fu Mei 傅眉. Letzterer habe ihn schließlich bei seinen heilkundlichen Aktivitäten unterstützt  ; so sollen sie zusammen eine kleine Apotheke unterhalten haben, auch um die finanziellen Ressourcen Shan in Wirklichkeit der Verfasser der gesamten Werke von Chen Shiduo gewesen sei, weil er – wie sie behaupten – aus politischen Gründen nichts veröffentlichen konnte. Chen Shiduo habe sie dann später neu ediert und herausgegeben. Seine außerordentliche Hinwendung zu praktischen Studien soll dazu geführt haben, dass Fu Shan die Staatsprüfungen nicht ausreichend wichtig genommen hat [Vgl. Qian Baishen 2003, 82]. Außerdem hat ihm der Verdacht auf seinen Einsatz für die untergehende Ming-Dynastie bereits 1654 ins Gefängnis gebracht, was ihn in den Kreis der Ming-Loyalisten rückt. Nach seiner Freilassung 1655 sei er wiederum in die Berge geflüchtet und habe fortan ein Wanderleben geführt, das ihn auch auf die Fünf Heiligen Berge geführt habe. Fu Shan war als Lehrer an einer Akademie in Shanxi bis über die Grenzen von Shanxi hinaus bzw. bis nach Peking geschätzt und respektiert. So wurde er von der neuen Dynastie 1679 auch zu den Boxue hongci-Prüfungen (außerordentliche Prüfungen zur Rekrutierung von ehedem Ming-loyalen Gelehrten in den neuen Staatsdienst) eingeladen. Doch Fu Shan, inzwischen 70-jährig, ließ sich unter Vortäuschung von Krankheit entschuldigen. 1684 ging er erneut nach Peking, wo er die vom Kaiser angebotene Beamtenstelle unter Vortäuschung von Krankheit aber nicht antrat. Vgl. Volpp 2003, 140. Zu seiner Biographie siehe Hummel 1970, 260–262. Eine umfassende Studie zu Fu Shans Rolle während des MingQing-Übergangs liefert Bai Qianshen 2003. 992 Siehe hierzu die Ausführungen im Rahmen des Kapitels II in der vorliegenden Arbeit. 993 Es lässt sich nicht mit Sicherheit entscheiden, ob er sich 1642, nachdem er an den Prüfungen auf Provinzebene gescheitert war, oder 1644, nach dem Beginn der Fremdherrschaft, für das daoistische Priesteramt entschieden hat. Für beide Versionen existieren Belege bzw. Selbstaussagen von Fu Shan. Siehe hierzu Bai Qianshen 2003, 85, und 273, Fn. 10, und für die weiteren biographischen Aussagen zu Fu Shan, ders. 2003, 86–89. Eine integrale Verbindung zwischen Medizin und Kunst bzw. Philosophie findet sich ebenfalls bei Fang Yizhi 方以智 (1611–1671), Beiname  : Mi Zhi 密之 (Der [im Besitze] des Geheimnisses) aus Tongcheng 桐城 (im heutigen Anhui). Er begann mit 26 Jahren Medizin zu studieren  ; er verfasste das Dongxi diao 東西釣 und das Dongya 通雅 in 52 juan, welches Ausführungen zur Puls-Diagnose enthält. In den 1650ern soll er sich als Mönch in die Berge in Guangxi zurückgezogen haben.

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aufzufüllen. Fu Shans Kalligraphien waren häufig nichts anderes als Rezeptur-­ Vorschriften für seine Patienten. Der daoistisch inspirierte Hintergrund von Fu Shan erklärt, dass der Frau in der oben zitierten Passage eine grundsätzlich gleichberechtigte, ja mehr noch, eine übergeordnete Stellung eingeräumt wird. Die Frau ist mit Yin assoziiert, also mit der Erde, die alles Leben hervorbringt, und sie steht somit nicht, wie in konfuzianischer Sicht, allein in einem Abhängigkeitsverhältnis (vom Vater, dann vom Ehemann, dann vom Sohn) – wie es zur späten Kaiserzeit im neokonfuzianisch inspirierten Sitten- und Verhaltenskodex994 sowie in Gesetzestexten995 festgelegt ist. Außerdem verboten qingzeitliche Bestimmungen Frauen, Nonnen zu werden, wenn sie noch nicht im gebärfähigen Alter waren.996 Auch die Frage nach realen Wirksamkeitsradien von Frauen in der chinesischen Geschichte verlangt den verstärkten Fokus auf medizinische Quellen. Denn diese beharrten nicht, wie die zitierten Passagen belegen, auf einer normativen Ebene von Idealvorstellungen. Vielmehr wollten sie praktische und konkrete Wirksamkeitsfragen für Krisen- bzw. Krankheitssituationen klären. Die zitierte Passage verweist explizit darauf, dass Frauen gemeinhin als krank klassifiziert werden, wenn sie keine Kinder (bzw. Söhne) gebären konnten, womit sie eigentlich in die Domäne der Medizin gehörten. Auch hierfür lässt sich die zitierte Passage bemühen, denn ihr zufolge hat die betreffende Frau bereits vorher medizinische Diagnosen erfahren. Dies ist insofern wesentlich, als sich Chen Shiduo in ähnlichen Zusammen­ hängen, wie etwa im Falle von Scheinschwangerschaften bzw. »Monster-­ Schwan­gerschaften (gui tai 鬼胎)« oder bei Besessenheit durch Geister und Dämonen997 deutlich dafür ausspricht, dass es sich um eine (therapierbare) Krankheit handelt  : Obgleich diese Zustände durch »begehrliche Gedanken« in der Nähe von Tempeln und Einsiedeleien ausgelöst worden seien, handele es sich bei der äußerlich sichtbaren »Schwangerschaft« doch in Wirklichkeit um 994 »Die Frau muss jemanden haben, von dem sie abhängig ist. Während der Vater noch lebt, ist sie von ihm abhängig. Während der Mann noch lebt, ist sie von ihm abhängig. Während ihr Sohn noch lebt, ist sie von ihm abhängig.« Vgl. Lienü zhuan 列女傳 (Biographien vorbildlicher Frauen) aus der Han-Zeit, wird gemeinhin Liu Xiang 劉向 (77–6 v. Chr.) zugeschrieben, Ed. Sibu beiyao, 4,5a. Siehe die englische Übersetzung von O’Hara 1971. Vgl. auch Bumbacher 1998, 675. 995 Siehe hierzu Bernhardt 1996, 42–58. 996 Vgl. Kohn 2003, 156  ; Theis 2001 und 2002. Nicht unerwähnt bleiben darf in diesem Zusammenhang der Anstieg der von offizieller Seite unterstützten, ja gepriesenen Frauen-Suizide im 15. und 16. Jahrhundert bis in das späte 18. Jahrhundert hinein. Siehe hierzu Waltner 1981  ; Bisetto 1997  ; Carlitz 1997  ; Ropp 2001  ; Carlitz 2001. 997 Vgl. Bianzheng lu, juan 11, CQS, 948.

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Blutklumpen, die sich stauten, und nicht um ein Monster im Bauch der Frau. Diese Argumentation ist als Widerspruch gegen abstruse Vorstellungen in der Bevölkerung anzusehen. Gleichzeitig aber zeigen sich bei Chen sehr wohl auch deutliche Anlehnungen an deren Interpretationswelt  : Anders sind seine häufigen Warnungen vor Schlangengeistern, Dämonen und Fuchsgeistern nicht zu erklären, vor denen es sich zu hüten gelte, weil sie allein darauf aus seien, jungen ahnungslosen Männern die Lebenskraft zu rauben.998 Wie bereits an anderer Stelle angesprochen, lässt sich bei Chen Shiduo keine deutliche Trennlinie zwischen »aufgeklärten« medizinischen Ansätzen auf der einen und »abergläubischen« Laienvorstellungen auf der anderen Seite ausmachen. Chen Shiduos Positionierung ist ohne religiöse Bezüge nicht denkbar. Seine daoistisch inspirierte Hinwendung zum Überirdischen und zu Lebenspflegetraditionen wird flankiert von buddhistischen Appellen an die Barmherzigkeit und das Erbarmen mit den Mitmenschen als Fundierung seiner Medizin. Wenn er Frauen, ohne dass sie Kinder geboren hatten, eine außerordentliche, vom Himmel verliehene »heilige« Konstitution attestierte, die es ihnen ermöglichte, als Unsterbliche »aufzusteigen«, dann war diese Interpretation als grundsätzliche Infragestellung neokonfuzianisch ausgerichteter Doktrin zu lesen. Denn immerhin drohte dies, die sozialen Rollenverhältnisse auszuhöhlen. Die medizinische Argumentation bei Chen Shiduo bestand darin, Frauen mit »heiligen Knochen« zu ermutigen, zusätzliche Kultivierungsübungen zu absolvieren, um in der Folge binnen eines einzigen Jahres in die Unsterblichkeit eingehen zu können.999 Chen Shiduo bezeichnet die Vorstellungen der Leute als gänzlich irreführend, zumal sie in solchen Fällen leichtsinnig Arzneien bereitstellten, auch für Frauen, die es sich nicht leisten konnten, und dabei die wahre Bestimmung solcher Frauen, nämlich Unsterbliche zu werden, geradezu verhindern würden. Doch obgleich es auf dieser Welt gar nicht wenige Frauen mit vom Himmel verliehenen Knochen gäbe, sei es so, dass die fleischlichen Verlockungen zu tief sitzen würden. So komme man nicht umhin, hier (als Arzt) mittels Arzneimittelrezepten Abhilfe zu schaffen.1000 Chens Argumentation forciert die Vorstellung, wonach jeder – unabhängig vom Geschlecht – die jeweils wahre Bestimmung (den himmlischen Plan) zu leben bzw. sie zur Wirksamkeit zu bringen habe.  998 Vgl. Bianzheng lu, juan 10, CQS, 929.  999 Im Original  : 倘加以煉形之法,一年之內便易飛升. Vgl. Bianzheng lu, juan 11, CQS, 952. 1000 Im Original heißt es  : 雖然天生仙骨之婦,世正不少,而嗜欲深者,天分損也,又不可 不立一救療之方. Vgl. Bianzheng lu, juan 11, CQS, 952.

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Freude und Glück Der Freude (xi 喜 oder xile 喜樂) sind wir bereits im Zusammenhang mit der Therapierung chronischer Schwermut begegnet. Obgleich die Evozierung von Zorn als vergleichsweise wirksamere Therapie aufgeführt ist, wird der Freude ebenfalls das Potential des Öffnens und Lösens von Qi-Stauungs-Zuständen zuerkannt. Neben dieser medizinischen Funktionalisierung erscheint Freude außerdem in ihrer exzessiven Ausprägung – »bei übermäßiger Freude lacht [er/sie] laut und ohne aufzuhören«1001 – in unkontrollierten Manifestationen wie plötzlichem Lachen und plötzlichem Singen.1002 Freude ist als anzustrebender Zustand einer gelungenen Heilung beschrieben, so etwa wenn nach langer Schlaflosigkeit, die auf eine Trennung zwischen Niere und Herz zurückgeführt wird, Besserung eintritt und man die Freude (huan hao 歡好) darüber genießen kann.1003 Der Zusammenhang von unermesslicher Freude bei intensiven Gefühlen bzw. Liebe (leji qingnong 樂极情濃) 1004 und unaussprechlichem Glück1005 – vor allem während des Geschlechtsverkehrs 1006 – und damit einhergehendem Verlust von Yin- und Yang-Qi bei Frau und Mann1007 erscheint als brisante Thematik in Chens Schriften. Wenn Mann und Frau nach Vergnügen gierten1008 und sich nach Herzenslust hingäben (jin qing cong song 盡情縱送), so könne es wegen Verausgabung bzw. durch zu hohen Verlust von Essenz (jing 精) zum Tod kommen.1009 Ähnlich verhält es sich mit der Gier nach Essen und Trinken  : Wenn diese Gier zu sehr ausgeprägt ist, dann schreckt man nicht vor Gerichten zurück, die äußerst schwer zu verdauen sind.1010 1001 Im Original  : 惟喜樂太過,大笑不止. Vgl. Bianzheng lu, juan 9, CQS, 900. 1002 Im Original  : 忽笑忽歌. Vgl. Bianzheng lu, juan 4, CQS, 790. 1003 Vgl. Bianzheng lu, juan 6, CQS, 821. 1004 Vgl. Bianzheng lu, juan 6, CQS, 822. 1005 Im Original  : 其樂有不可言者. Vgl. Bianzheng lu, juan 8, CQS, 886. 1006 Vgl. etwa Bianzheng lu, juan 8, CQS, 886 und ebenda, 887. 1007 Auch hier stellt sich Chen Shiduo gegen die allgemein verbreitete Vorstellung, dass Männer beim Geschlechtsverkehr yang verlieren und Frauen yin, indem er darauf beharrt, dass bei beiden gleichermaßen beides verloren gehe, weshalb man hier nicht zwischen Frau und Mann unterscheiden könne. Vgl. insbesondere die Ausführungen zu »Yinyang Verlust« (陰 陽脫) Bianzheng lu, juan 8, CQS, 886. 1008 Im Original  : 男女貪歡. Vgl. Shishi milu, juan 6, CQS, 422. 1009 Verweise hierauf lassen sich massenhaft finden. Vgl. allein Bianzheng lu, juan 8, CQS, 886–887  ; Shishi milu, juan 6, CQS, 422. 1010 Im Original  : 人有贪用飲食,甚至遇難化之物而不知止. Vgl. Bianzheng lu, juan 8, CQS, 875, ibidem, juan 9, CQS, 897.

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Oben haben wir die gegen Ende des 16. Jahrhunderts aufblühende Experimentierfreude mit den Begierden (yu 欲) als Mittel zur Vervollkommnung beschrieben und festgestellt, dass die Bifurkation der menschlichen Lebenswelt in Qi und li (Ordnung, Prinzip) letztendlich die Basis für diese Experimentierfreude ist. Die leibliche Ökonomie im Sinne der Mitte zwischen den Extremen wurde dann zu der »Logik letztem Schluss«, zumal sich selbst die eifrigsten Verfechter besagten Experimentierens auf die medizinisch begründeten Gesetze der leiblichen Ökonomie beriefen, wenn es darum ging, das Leben zu einem guten Ende zu bringen. Hier interessiert dieses Verhältnis – zwischen der Medizin und den zelebrierten Begierden – noch einmal, aber aus einer anderen Perspektive. Wenn die medizinisch begründeten bzw. der leiblichen Ökonomie geschuldeten Warnungen vor exzessivem Ausleben der Lüste und Begierden als verbindliche Richtschnur für die Lebensführung bzw. für die Wahrnehmung und die Erfahrungen von Befindlichkeiten fungierten, so wollen wir noch einmal den leiblichen Rahmen dieser Logik beleuchten. Die Lokalisation von Freude im tanzhong 膻中 Freude und Glück (xile 喜樂) gewinnen in Chen Shiduos Schriften eine besondere, vergleichsweise einzigartige Signifikanz, zumal er wiederholt den tanzhong 膻中 als Ort benennt, aus dem Freude und Glück hervorkommen. Der locus classicus für diese Verortung von Freude findet sich an zwei Stellen im Huangdi neijing Suwen.1011 Doch der Begriff »tanzhong« war dort, laut Kommentatoren späterer Zeiten, im Sinne einer alternativen Bezeichnung für Herzhülle (xinbao 心包)1012 zu begreifen oder auch als Ort zwischen den beiden Brüsten, nämlich als Meer des Qi.1013 Chen Shiduo schließt sich der Interpretation als Herzhülle weitestgehend an. Doch an einer entscheidenden Stelle behauptet er, dass es sich beim tanzhong in Wirklichkeit um ein siebtes Fu-[Palast-Yang-] Organ handele und nicht um das sechste Zang-[Speicher-Yin-]Organ, wie dies für die Herzhülle konventionell gesehen worden war. Die folgende Passage charakerisiert am Beispiel der gestörten Manifestation von Freude und Glück die Stellung von tanzhong als Ort dieser Gefühle  :1014 1011 Vgl. Huangdi neijing Suwen 3 (8)  : 131 und ebenda 5 (17)  : 252. 1012 So Zhang Lu 張璐 (1617–198), Vgl. Huangdi neijing Suwen 3 (8)  : 133. 1013 So Wang Bing 王冰 (8. Jh.), Vgl. Huangdi neijing Suwen 3 (8)  : 133. 1014 Hier folgt Chen übrigens einer Stelle im Huangdi neijing Suwen 3 (8)  : 131, wo es ebenfalls heißt  : »Aus dem tanzhong erwachsen Freude und Glück«.

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»Jemand leidet unter trockener Kehle. Das ganze Gesicht ist gerötet, er freut sich leicht und lacht gerne. Die Leute meinen, dies sei wegen äußerster Hitze im Herz-Feuer. Wer weiß schon, dass es sich um glühend heißes Herz-Hülle- [und] tanzhong-Feuer handelt. Das Herz-Hülle-Feuer ist das Kanzler-Feuer. Das Kanzler-Feuer ist Leere-Feuer. Der tanzhong ist der Botschafter des Staatsbeamten. Von ihm gehen Freude und Glück aus. Es ist der tanzhong, der das Herz in seinen Regierungsgeschäften unterstützt und berät, er vertritt das Herz bei der Ausführung von Belohnungen und Strafen. Freude und Zorn entspringen Belohnung und Bestrafung. Ist im Herzen das shen strahlend, so waren Belohnung und Bestrafung [offensichtlich] rechtens. Ist im Herzen Aufruhr und Chaos, so rückten Belohnungen und Bestrafung [offensichtlich vom Rechten] ab. Zum Beispiel  : Untergeordnete Personen usurpieren die Macht, indem sie sich von oben [die unbefugte Legimitation] der Belohnung und Bestrafung herausnehmen. Sie agieren nach ihrem persönlichen Zorn- und Freude[empfinden]. Im Verlaufe der Zeit haben diese Leute vergessen, dass sie [in Wirklichkeit] Untergebene sind. Und sie belohnen und bestrafen nach persönlich empfundener Freude und persönlich empfundenem Zorn. Auf diese Art führen [Untergebene] Bestrafung und Belohnung aus. Behandlungsmethode  : Abführen des Herz-Hüllen-Feuers. Doch [muss man wissen], dass das Abführen des Herz-Hüllen-Feuers auch zur Schädigung des Herzens führt. Ist das Herz leer, so muss das Herz-Hüllen-Qi umso leerer sein. Man muss [also] das Herz-Hüllen-Feuer noch mehr stärken. Das heißt [nämlich nicht], dass man nur das Herz ergänzt. [Denn das Ergänzen des Herzens bedeutet gleichermaßen], dass, wenn das Herz-Qi ausreichend [vorhanden ist], das Herz-Hüllen-Feuer von selbst ruhig an seinem [ihm angemessenen] Platz bleibt. Und wie sollte es dann nach oben zu Mund, Zunge, Gesicht und Augen lodern und dann zur Krankheit der unkontrollierten Freude und des [unangemessenen] Lachens führen  ?«1015

Chen Shiduo nennt die Herzhülle und den tanzhong hier in durchaus ambivalenter Weise  : Er wechselt unvermittelt von tanzhong auf Herzhülle und umgekehrt, womit er zwar suggeriert, dass die Bezeichnung »Herzhülle« austausch1015 Im Original heißt es  : 人有口乾舌燥, 面目紅赤, 易喜易笑者, 人以為心火熱極也, 誰知 是心包膻中之火熾甚乎. 夫心包之火, 相火也,相火者, 虛火也. 膻中為臣使之官,喜樂 出焉,是膻中乃心之輔佐, 代心而行其賞罰者也.喜怒者,賞罰之所出也, 心內神明則賞罰 正, 心內拂亂,則賞罰移. 譬如下人專擅借上之賞罰, 以行其一己之喜怒, 久則忘其為下, 以一己之喜怒, 為在下之賞罰矣. 治法宜瀉心包之火. 然而瀉心包, 必至有損於心. 心 虛而心包之氣更虛,必至心包之火更盛. 不如專補其心, 心氣足而心包之火自安其位,何 至上炎於口、舌、面、目,而成喜笑不節之病乎. Vgl. Bianzheng lu, juan 6, CQS, 820.

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bar mit »tanzhong«1016 sei. Gleichzeitig aber vermittelt er auch Unschlüssigkeit in der Nomenklatur. Diese Unschlüssigkeit kann durchaus als Verweis auf die bereits dargelegte Neuordnung der Kartographie des Leibes unter der Ägide des Autors gesehen werden. Chen expliziert auch die Auswirkungen von übermäßigen Freude- und Glücksgefühlen (huanxi 歡喜) für die Herzhülle (bzw. hier  : den tanzhong) und in weiterer Folge auf das Herz, den Herrscher. Wenn man sich zu sehr den Freuden und dem Genuss (huanyu 歡娱) hingibt und sich »nach Herzenslust freut« und lacht, dann stellt sich in der Folge das Gefühl von Kälte und Abneigung gegen Wind ein, es herrscht trockener Mund. Während die Leute dächten, dass es sich hierbei um eine »Schädigung von Außen (wai gan 外感)« handele, sei es doch in Wirklichkeit eine »innere Verletzung«, und zwar der Herzhülle, die hier explizit mit dem tanzhong gleichgesetzt erscheint.1017 Chen Shiduo betont, dass es nicht Freude und Glück an und für sich seien, die eine innere Verletzung verursachten. Allein in ihrer exzessiven Manifestation von »übermäßigem Lachen ohne aufzuhören« und »übermäßiger Freude« würden sie zu einer Austrocknung der Säfte führen und in weiterer Folge zu einem Leere-Zustand in der Herzhülle.1018 »Die Herzhülle beschützt den Herrscher, damit er regieren kann. Ist die Herzhülle [jedoch] ausgetrocknet, muss [es soweit kommen], dass sie dem Herzen Qi entzieht, um sich selbst [damit] ›anzureichern‹. Wenn dann der Hofpalast leer ist, so suchen die Diebe die Gelegenheit zu nutzen und mit dem gestohlenen Gut zu flüchten. So kann Übel leicht eindringen. Die Behandlungsmethode muss darin bestehen, eilends das Herz-Qi zu unterstützen, dann wird auch die Herzhülle gleichermaßen blühend werden. Ist das Reich wohlhabend, so sind die einzelnen Familien auch nicht arm. So verteidige man vereinten Herzens die Grenzen gegen das Außen. Wie wären dann so viele Festungswälle an den Grenzen notwendig  ?«1019 1016 So auch im Shishi milu, juan 1, CQS, 290. 1017 Im Original heißt es  : 過於歡娛,盡情喜笑,遂至感寒畏風,口乾舌苦,人以為也,誰 知內傷於心包乎[…] 心包乃膻中也. Vgl. Bianzheng lu, juan 9, CQS, 900. 1018 Im Original heißt es  : 是歡娛者,正心包之職掌,喜樂何至相傷,惟喜樂太過,大笑不 止,未免津幹液燥耳. Vgl. Bianzheng lu, juan 9, CQS, 900. 1019 Im Original heißt es  : 夫心包護君以出治者也. 心包乾燥, 必盜心之氣以自肥, 將內 府空虛, 則宵小之輩, 乘機窃發, 而邪易入矣. 治法自宜急補心中之氣, 心氣既旺, 心包亦必同旺. 蓋國富而家自不貧, 自然協力同心以御外, 何至有四郊之多壘哉. Vgl.

Bianzheng lu, juan 9, CQS, 900.

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Das Gewebe der Befindlichkeiten im 17. Jahrhundert

Die Dringlichkeit, mit der Chen Shiduo immer wieder auf die staatspolitischen Ereignisse seiner Zeit zu sprechen kommt, bestimmt auch hier den Fortgang der Explikation. Bei Übermaß, auch von Freude, kommt es zu Leere, und erst diese ermöglicht letztendlich das Eindringen äußeren Übels.

VI Der metabolische Leib

Der in den untersuchten Texten explizierte menschliche Körper erscheint maßgeblich als metabolischer Leib – metabolisch, weil er über seine Mitte definiert wird  : Milz (Yin-Organ) und Magen (Yang-Organ) sind mit der Erde verknüpft, die im Zentrum der Fünf-Wandlungsphasen sowie der fünf Himmelsrichtungen figuriert. Die Mitte und die Erde und damit auch Milz und Magen sind für alle Arten von Transformationen zuständig, nicht zuletzt für Stoffwechsel und Verdauung. Zur Mitte gehört in einem weiteren Sinne auch die Rede vom Kanzlerfeuer, das als unsichtbares Feuer den Leib durchflutet und dessen Heim der mingmen ist, das Tor des Lebens zwischen den Nieren. Ohne die katalysatorische Funktion des Kanzlerfeuers ist menschliches Leben nicht möglich. Chen Shiduo führt eine weitere Konkretisierung der Mitte ein, wie sie in keinem früheren oder späteren medizinischen Werk zu finden ist. Es ist die Gestalt eines Kanals, den er zwischen Niere und Herz verortet. Indem dieser Kanal Herz und Niere miteinander verbindet, wird dafür gesorgt, dass das Herz-Feuer – im Verlaufe eines gegenläufigen metabolischen Austauschprozesses (Hierogamie der Attribute) – nach unten steigt und dort das Nieren-Wasser erwärmt, das dann in Form von Dampf nach oben steigt, um das Feuer zu besänftigen. Diese spezifische Konkretisierung der Mitte trägt deutliche Spuren alchemistisch inspirierter Traditionen, wie sie im 17. Jahrhundert vermehrt virulent geworden sind. Mit der mehrfachen Betonung der unteren Mitte wird das Herz in seiner Stellung als Herrscher relativiert, wenn nicht gar entthront. In eine ähnliche Richtung weist eine weitere kartographische Neuerung, nämlich die Charakterisierung des tanzhong als Ort hinter dem Sternum, woraus Freude und Glück entspringen. Den tanzhong macht Chen Shiduo darüber hinaus als Mutter von Milz und Magen aus. Konventionell erscheint das Herz als Sitz der Freude und als Mutter der Milz. Auch das Finden der »Mitte zwischen den Extremen« als Lebenskunst und zur Kultivierung des Selbst war im Allgemeinen dem Herzen zugewiesen. Wenn Chen Shiduo die Prozesse des ausgleichenden und harmonisierenden Lenkens beschreibt, dann ist durchgängig dieses mehrfache metabolische Geschehen in allen beteiligten Organen angesprochen. Chen erweckt den Eindruck, als habe die Selbstkultivierung vor allem in der körperlichen metabolischen Dimension stattzufinden, der dann die moralische Kultivierung »wie von selbst« folgen sollte.

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Der metabolische Leib

Die kartographischen Verschiebungen und Neuerungen am menschlichen Körper, die sämtlich auf eine Verlagerung des Zentrums von »oben nach unten« hinauslaufen, lassen sich als »Spiegelungen« sozialpolitischer Vorgänge lesen  : Nicht nur Gelehrte wie Chen Shiduo und seine Mitstreiter waren massiv und konkret von den Gefahren betroffen, die dem »Reich der Mitte« vonseiten der Mandschu drohten. Die Stärkung der »Mitte« wurde zum politischen Programm und zur Strategie kulturellen, ja sogar existenziellen Überlebens. Die Mitte war der (geographische) Raum, in dem Chen Shiduo und seine Mitstreiter lebten  : die Jiangnan-Makroregion. Spätestens an dieser Stelle zeigt sich, dass die Analogien mehr sind als bloße Abbilder oder Metaphorik. Die verschiedenen Felder des Realen und des Sozialen zeigen sich vielmehr in ihrer konkreten Verschränkung. Mit anderen Worten, die politischen Prozesse sind den innerleiblichen Prozessen gleichgestellt und umgekehrt  : Die innerleiblichen Prozesse sind höchst politisch konnotiert. Eine Stärkung der leiblichen Mitte stärkt zugleich das politische Zentrum und umgekehrt. Beide sind Teil ein und derselben Realität. Damit erweisen sich Untersuchungen medizinischer Texte als aufschlussreich nicht nur für die Körper- und Emotionsgeschichte, sondern gleichermaßen für die Kultur- und Sozialgeschichte Chinas. Mit Blick auf die Zeit-Raum-Kohärenz der Jiangnan-Makroregion im 17. Jahrhundert haben wir hier gezeigt, dass sich bühnengeschichtliche Hintergründe dieser Kohärenz nicht ohne die durchgängige Aufmerksamkeit für Übergangsbewegungen darstellen lassen. Damit ist ein Teilbefund der vorliegenden Arbeit angesprochen  : Jede einzelne Übergangsbewegung – von der Ming-Herrschaft zur Fremdherrschaft der Mandschu, von der Philosophie zur Philologie, von staatlich kontrollierten Druckausgaben hin zu ökonomisch orientierten Druckaktivitäten, von einem über die Etikette definierten Selbst hin zu einem experimentierenden Selbst – ist auf eine jeweils spezifische Weise mit dem indigenen Blick auf Emotionen und Befindlichkeiten verquickt. Es ist die Beobachtung von Instabilität, welche die Übergangsbewegungen markiert und die sich auch in der Mikrosphäre der Textgeschichten zeigt. Die instabilen und polyphonen Verfasstheiten der untersuchten Texte rechtfertigen streng genommen nicht die gegenwärtig vorgenommenen Standardisierungsund Kanonisierungstendenzen in der VR China, evozieren diese doch die Illusion eines Gesamtwerkes aus einem Guss und aus der Hand eines einzigen Autors. Die Instabilität der Texte aus dem 17. und 18. Jahrhundert, die nicht zuletzt auch auf die politisch motivierte Tabuisierung der Werke Chen Shiduos zurückzuführen ist, verweist bereits auf vielschichtige Verknüpfungen. Diese

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Verknüpfungen der medizinischen Ideosphäre mit dem sozial-politischen Raum durchziehen wie ein roter Faden das ganze Buch. Auch bei der Spurensuche nach der Autorschaft um »Chen Shiduo« erweist sich der Blick auf die sich zu dieser Zeit festigenden Verknüpfungen von Moral und Lebenspflege, von Medizin und dem Transzendentalen, als richtungsweisend. Denn die Fragmente zu seiner Biographie, die aus Vorworten zu seinen Schriften sowie aus Eintragungen in Lokalchroniken extrahiert wurden, und ihn als schillernde Persönlichkeit erahnen lassen, zeigen Chen als Grenzgänger an den Schnittstellen zwischen verschiedenen Feldern des sozialen ­Raumes. Das vierte Kapitel »Medizin als Cluster von Praktiken und Theoremen« zeigt, dass die durch die Texte repräsentierte Medizin in zweifacher Hinsicht auffällig zeitspezifisch geprägt ist  : Zum einen zeichnen sich diese Texte durch die Praxis­orientierung ihrer Zeit aus. Von praktischer Relevanz sind z. B. die Bestrebungen der Kommerzialisierung und Popularisierung medizinischen Wissens. Zum anderen tragen die Neuerungen, die Chen Shiduo und andere an der Kartographie des menschlichen Körper vornahmen, nicht nur kosmologische, sondern deutlich politische Züge, die charakteristisch sind für den Untersuchungs-Zeit-Raum. Damit gehen Distinktionsbestrebungen einher, soll sich die Medizin doch in dieser Zeit von einer Tätigkeit minderen Ansehens zu einem integralen Bestandteil konkreten Lernens wandeln. Hierfür benötigt sie eine Sprache, die zweierlei Erfordernissen genügt  : Wenn Medizin als Orientierungswissen verbindliche Geltung beansprucht, dann muss der Anschluss an das »gelehrte Wissen« gelingen.Wenn sie zugleich popularisiert werden soll, muss sie eine Sprache sprechen, die verstanden wird. Die wechselseitige Durchdringung von Medizin und Politik zeigt sich nicht zuletzt in der gehäuften Okkurenz von yi 意 (Intuition, Vorstellung, Bedeutung, Vision). Yi erscheint im 17. Jahrhundert auffällig oft im Sinne von »Auslegung« in enzyklopädisch angelegten Handbüchern für Examenskandidaten zum Memorieren der Vier Bücher und Fünf Klassiker. In der Medizin war yi von jeher als fundamentale Kategorie in Diagnose und Therapie hinlänglich bekannt. Durch diese Ko-Okkurenz und Chen Shiduos spezifische Prägung erscheint yi als definitorisches1020 und zugleich legitimatorisches Fundament für die Medizin als gelehrtes Fach bzw. als Teil der Hohen Kultur. Neben yi fungiert auch bian 辨 als definitorische Kategorie bei Chen Shiduo, der damit die subtile situative Differenzierung von Krankheitsmustern für Diagnose und Therapie einfordert. Wenn im Rahmen der erwähnten volksrepublikanischen 1020 Medizin yi 醫 ist yi意.

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Bestrebungen zur Kanonisierung und Systematisierung der sogenannten Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) gegenwärtig bianzheng 辨証 (Differenzierung von [Krankheits-]Mustern) dichotomisch bianbing 辨病 (Differenzierung von Krankheiten) gegenübergestellt wird, so will diese Definition einen genuin wesenhaften Unterschied zwischen Ost und West markieren. Dabei wird die historische Verfasstheit der chinesischen Medizin unterschlagen, denn Chen Shiduo war möglicherweise der erste, in dessen Werken bianzheng als definitorisches Merkmal der Medizin in Erscheinung tritt. Das fünfte Kapitel exemplifiziert den mikroskopischen Blick in gleicher Weise wie die vorangegangenen Kapitel auch. Indem das »Gewebe der Befindlichkeiten« in den Mittelpunkt gerückt ist, wird hier der Wissensfundus ausgebreitet, den diese Texte bereithalten, um einzelne Emotionen zu explizieren. Ganz in der Tradition der Gelehrten-Medizin ist die Ordnung der Gefühle und Befindlichkeiten entlang spezifischer Akkumulationen von Essenz und Qi gedacht. Dabei handelt es sich um leibliche Prozesse in den jeweiligen Speicher- bzw. Yin-Organen (Leber, Herz, Milz, Lunge, Niere), wodurch die Gefühle gewissermaßen kanalisiert, »gespurt«, erscheinen. In der Medizin werden sie nur dann thematisiert, wenn sie in exzessiver Weise das Körpergeschehen stören, d. h. »Leiden schaffen«. Insofern verweisen die Explikationen implizit immer auch auf die Relevanz der Mitte. An prominenter Stelle in Chens Texten figurieren Zorn, Angst, Schmerz, Niedergedrücktheit bzw. Schwermut, aber auch Freude, Liebessehnsucht und Scham. Diese sind nicht als private Seelenzustände beschrieben, sondern sie vollziehen sich in den Eingeweiden, an mindestens zwei Organen. Dabei erscheinen die Zustandsweisen und Fühlmuster der zuletzt genannten Freude, Liebes-Sehnsucht und Scham deutlicher mit kognitiv-moralischen Werten verknüpft als Zorn, Angst, Schwermut. Die systematische Beschreibung und Explikation von Emotionen und Befindlichkeiten im fünften Kapitel ist, allen Widersprüchlichkeiten zum Trotz, im Großen und Ganzen nachvollziehbar, sofern sich die Leser auf die Deklination der Fünf-Wandlungsphasen und damit auf die Logik dieser Medizin einlassen. Die Logik entfaltet sich auch im Blick auf das hier jeweils ausgebreitete Partikuläre. Das Partikuläre liegt einmal in der Abweichung von etabliertem Wissen, wie z. B. im Falle der kartographischen Neuerungen, aber auch in der subtilen Differenzierung von Krankheitsmustern. Nicht zuletzt manifestiert sich das Partikuläre in der Explikation von »marginalisierten« Verfasstheiten, die als neu im medizinischen Feld aufscheinen. Hierzu gehört wesentlich die detaillierte Schilderung von Zuständen, wie sie offensichtlich im Milieu der

Medizin als Emotionswissen 

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Kurtisanen dieser Zeit verbreitet waren  : die »Blumen-Hinfallkrankheit« und der Liebeskummer.

Medizin als Emotionswissen

Das Theorem der inkorporierten Geschichte (embodiment) erlaubt die Untersuchung medizinischer Explikationen im Sinne kartographischer Werkzeuge, weil diese in unterschiedlicher Weise die Ordnung der leiblichen Wahrnehmung spiegeln, ja mehr noch, sie prägen die leibliche Wahrnehmung und Ordnung der Welt auf signifikante Weise. Obgleich Emotionen nur dann in die Beobachtungsradien von Ärzten des Untersuchungs-Zeit-Raums gelangen, wenn diese in extremer und krankmachender Form in Erscheinung treten, erweisen sich die medizinischen Explikationen als wesentliche Orientierung im Umgang mit Emotionen allgemein. Nicht nur wurden Eintragungen zu Emotionen als eigene Kategorie im einschlägigen Wissenskompendium der späteren Kaiserzeit, dem Gujintushu jicheng, unter dem Oberbegriff »Medizin« subsumiert. Nicht nur suchte sich das medizinische Feld im 17. Jahrhundert, zu einem ernstzunehmenden Gewerbe zu emanzipieren, als konventionelle Karrieremuster versagten. Auch literarische Diskursformationen, die den »Kult der Emotionen und Leidenschaften« geradezu beispielhaft repräsentieren, bergen medizinisch hergeleitete Argumentationsweisen. Mit anderen Worten  : Sie sind wesentlich von Emotionswissen durchdrungen, das medizinisch fundiert ist. Für Feng Menglong 馮夢龍 (1574–1646) z. B., dessen Werke den »Kult der Emotionen« exemplarisch vorführen, ist qing unverzichtbarer Bestandteil menschlichen Seins oder in seinen eigenen Worten »die essentielle Kondition des menschlichen Lebens«, gewissermaßen ein Anthropinon. Die im Qingshi 情史 (Geschichten von Liebe) versammelten Geschichten verhandeln zwar qing (das Gefühl) in seinem neokonfuzianisch hergeleiteten Gegensatz zu li 理 (dem der moralischen Vernunft verpflichteten Prinzip). Doch nicht mehr die »stoische« Mitte gilt es anzustreben, d. h. einen Zustand, in dem die Gefühle nicht entfaltet sind, sondern »stillem Wasser« gleichen. Dem setzt Feng Zustände der Leidenschaft entgegen  : den unbedingten Einsatz aus Liebe (qing) aufgrund des Gefühls der Hingabe an eine Sache oder an einen Menschen. Damit schlägt der neokonfuzianisch ausgerichteten Marginalisierung der Gefühle, die nur als potentielle Störfaktoren galten und die angestrebte Vervollkommnung behinderten, eine bedrohliche Herausforderung entgegen. Die Marginalisierung der Gefühle hatte im sozialen Raum ihren Gegenpart in der

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Marginalisierung derjenigen gehabt, die am äußersten Rand der Peripherie standen  : die Kurtisanen, die käuflichen Frauen. Wenn Feng in seinen Geschichten die Ehre und Tugend solcher Frauen herausstellt – und zwar gerade wegen ihrer Leidenschaft und ihrer Sehnsucht nach wahrer Liebe –, so konkretisiert er die in der Herzens-Lehre begründete Favorisierung des »Guten Wissens«, das in jedem Menschen als Intuition lebendig sei. Dieser Kerngedanke gewann gegen Ende des 16. Jahrhunderts zusätzlich an Sprengkraft angesichts der im Wandel begriffenen konventionellen Karrieremuster. Da sich herkömmliche Möglichkeiten des Lebensunterhalts als unzuverlässig erwiesen, wurde die Frage nach der Beschaffenheit des Menschen virulent. Waren es bislang marginalisierte, an der Peripherie lebende »Barbarenstämme«, die das Reich zu erobern vermochten – welche Rolle konnten da andere, ebenfalls marginalisierte Kräfte in der eigenen Gesellschaft spielen  ? Was, wenn die Kraft der Leidenschaft und der Liebe (qing) mehr vermochte als alle ritualisierten Praktiken der Veredelung, deren Augenmerk auf der Vermeidung jeder emotionalen Regung lag  ? Was, wenn sich die Kraft der Leidenschaft und der Liebe als letztendliche Quelle der konventionellen konfuzianischen Tugenden – Loyalität und Rechtschaffenheit (zhongyi 忠義), Integrität und Pietät – entpuppte, wie Feng in seinen Schriften suggeriert  ?1021 Fengs eigene Biographie, nicht anders als die von Chen Shiduo, exemplifiziert einen Zusammenhang zwischen der Positionierung im sozialen Raum und der Sicht auf die Emotionen1022  : Als gescheiterter Examenskandidat befand er sich an der Peripherie des sozialen Raumes. Seine vielfältig dargelegten Zusammenkünfte mit Kurtisanen und Prostituierten erscheinen nicht zuletzt als Voraussetzung für seine Sicht auf die Emotionen – hielten diese sich doch ebenfalls in der sozialen Peripherie auf – wenn auch in einer gänzlich anderen Kategorie auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie. Feng beschreibt die Transzendierung ihres niederen Status via Mobilisierung ihrer echten Liebe und Leidenschaft  : Diesen Frauen gelang es, sich gerade durch ihre authentischen Gefühle im »kulturellen Zentrum« zu positionieren. Die im China der späten Kaiserzeit nicht nur literarisch zelebrierte Seelenverwandtschaft zwischen der schönen Kurtisane und dem talentierten (cai 才), sensiblen und zurückgezo-

1021 Siehe hierzu Hsu 2000, 50, und Hsu 2006. 1022 Dahingehend können etwa die Befunde neueren Datums gedeutet werden, wonach Frauen während der Zeit ihre Rolle als Zeuginnen politischer Ereignisse deutlich überschritten. Siehe Chang 2005, 504–522.

Die Ordnung der Gefühle 

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genen Gelehrten1023 lässt die Kurtisane gleichermaßen als Emblem von Kultur erscheinen und damit dem talentierten, heldenhaften, aber »unerkannten« Gelehrten gleichgestellt erscheinen.1024 Qing ist die alles bestimmende Konstante bei Feng Menglong  : Jeder Akt von Heldenhaftigkeit, jedes Zusammentreffen von Mann und Frau muss auf der Basis von qing geschehen. Damit sind auch die konventionellen pragmatisch ausgerichteten Verheiratungsmuster stark relativiert. Nichtsdestotrotz geschieht die Neudefinition von qing bei Feng nicht grundsätzlich außerhalb, sondern innerhalb der kulturellen und sozialen Rahmen seiner Zeit  : So suchte er nicht, das Prinzip li 理 außer Kraft zu setzen. Vielmehr war das Muster moralisch begründeter kosmischer Prozesse in neokonfuzianischer Interpretation (li) nur auf der Grundlage von qing anzustreben.1025 Doch bei aller Zelebrierung von qing als der Quelle aller Handlungen warnt der Erzähler alias Feng Menglong eindringlich vor übermäßiger Exponierung im Namen von qing, zumal dies zu Auszehrung und Tod führen könne.1026 Auch wenn dieser Appell nicht das neokonfuzianisch anvisierte Ideal evozieren sollte, in dem die Emotionen nicht zur Entfaltung (fa 發) kommen – so handelt es sich dennoch um eine Zurücknahme bei der Zelebrierung der Gefühle, um eine Mahnung zur Mäßigung. Sie ist kodiert als Besorgnis um Gesundheit und Aufrechterhaltung des Lebens und insofern auch mit dem medizinischen Feld konnotiert. Ganz offensichtlich tritt hier die Medizin als Emotionswissen in Erscheinung. So gesehen, trifft Feng Menglong auf Chen Shiduo, der den Emotionen in Form von Leidenschaften und Liebessehnsucht ebenfalls ihren Raum zugestand. Zwar warnt er vor Exzessen, doch wusste er »im Gegensatz zu den Alten« als Mediziner Rat, wenn es darum ging, die verschiedenen Liebeskrankheiten zu heilen oder wenigstens zu lindern.

1023 Zu solch »wirklichen« Liebesgeschichten während dieser Zeit siehe Kang-i Sun Chang 1991. 1024 Vgl. Hsu 2000, 48. 1025 Siehe hierzu Hsu 2000, 75. Andere zeitgenössische Autoren, die ebenfalls für eine Neudefinition von qing eintraten, sind etwa Tang Xianzu 湯顯祖 (1550–1616) und Yuan Hongdao 袁宏道 (1568–1610). Beide konnten sich als Stadt-Eremiten (shiyin 市隱) stilisieren, zumal sie Inhaber des jinshi 進士 Grades waren, sie sich aber in »exzentrischer Manier« fernzuhalten suchten von öffentlichen Verpflichtungen. Siehe hierzu Chih-P’ing Chou 1988. 1026 Siehe hierzu Hsia 1968, 315.

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Der metabolische Leib

Metonymische Verknüpfungen

Die enge Verknüpfung der medizinischen Ideosphäre mit der sozialpolitischen ist bereits Programm im frühen medizinischen Klassiker Huangdi neijing, der auf die Herausbildung eines zentralistisch und bürokratisch geführten Staates in den vorchristlichen Jahrhunderten verweist. Dessen wichtigstes Merkmal bestand in ausgebauten Verbindungswegen zwischen Machtzentrum und allen Speichern und Palästen. Die Verbindungswege – Netze der Kommunikation und Transportkanäle für Getreide und Waffen – entsprechen im menschlichen Leib den Kanälen (jing 經) und Netzverbindungen (luo 絡), in denen Qi und Blut fließen. Krankheit und Krisen stellen sich dann ein, wenn Stau und Blockaden den harmonischen Fluss verhindern. Diese Matrix revolutionierte ein zuvor dominierendes Körperverständnis, wonach die Menschen allzu leicht von übermächtigen Kräften heimgesucht werden konnten, die nicht zuletzt mittels Magie zu besiegen waren. Die Autoren des Huangdi neijing verschriftlichten einen Zugang zum Körpergeschehen, der ein deutlich höheres Potential in der Eigenregulierung des Körpers (Staates) veranschlagte. Die Eigenregulierung implizierte eine Medizin, deren beständige Sorge darin bestand, die geregelten Abläufe, d. h. das ungehinderte Fließgeschehen, aufrechtzuerhalten bzw. wiederherzustellen. Bis heute bleibt das Huangdi neijing Referenz- und Orientierungshorizont im Kontext der chinesischen Medizin. Im Allgemeinen werden derartige makro-mikrokosmische Verknüpfungen als Korrespondenz- oder Analogiesetzung begriffen. Die hier untersuchten Texte lassen sich problemlos einer solchen Lesart unterziehen. Jedoch rechtfertigen gerade die Passagen, in denen akute sozialpolitische Ereignisse im menschlichen Körper verhandelt werden, eine etwas andere Lesart  : Sowohl die jeweils beschriebenen inneren Szenarien im Körper als auch das im Außen Agierende sind mehr als der reale Hintergrund für ein Abbild. Beide Sphären beanspruchen den gleichen Part an Realität, wobei das Eine im Anderen »geschieht«. Hierin liegt der heuristische Wert des im Rahmen der vorliegenden Arbeit entfalteten Instrumentariums der Verknüpfung. Wenn eine Körpergeschichte danach fragt, wie Nicht-Sprachliches Bedeutung erlangt, dann geht es um das Verhältnis zwischen Materialität und Text, zwischen dem Realen auf der einen Seite und Diskursformationen auf der anderen. Die zu Beginn gestellte Frage nach diesem Verhältnis lässt sich nunmehr wie folgt beantworten  : Es handelt sich um metonymische Verknüpfungen. Die hier analysierten Diskursformationen (literarische, politische, moralische, religiöse und medizinische) stehen im Verhältnis einer kontigen Aneinanderrei-

Metonymische Verknüpfungen 

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hung, einem Verhältnis der Nachbarschaft. Die metonymische Verknüpfung bzw. das kontige Verhältnis zwischen A und B ist in seiner Minimalform der Taxonomie ein binäres1027  : Wenn die Rede von A in praesentia ist, dann ist stets B in absentia mitgesetzt. Diese Taxonomie muss nicht nur den Autoren, sondern auch den Lesern ihrer Texte im Untersuchungs-Zeit-Raum zur Disposi­tion gestanden haben. Selbst das Verhältnis der Yin- und Yang-Organe untereinander kann als metonymisch verknüpft angesehen werden, weil mit einem Glied (z. B. dem Yin-Organ Leber) stets das andere Glied des Kontiguitätszusammenhanges (das dazugehörige Yang-Organ Gallenblase) mitgedacht ist, ohne dass dies immer ausdrücklich gesagt werden muss. Analoges gilt für die Verknüpfung der Yin-Yang-Organe mit den Fünf Wandlungsphasen, wenn z. B. Holz gesagt und die Leber mitgedacht wird, bzw. für die Verknüpfung mit Emotionen, wenn z. B. die Leber grollt. In diesem Sinne lassen sich die dieser Taxonomie entsprechenden Konstellationen – in denen die Yang-Organe den Yin-Organen etc. jeweils zugeordnet sind – auch als Kon-Texte lesen  : Weil die Yang-Organe häufig in absentia mitgedacht sind, laufen sie als Kon-Texte immer mit  : als Mit-Texte. Diese sind niemals nur der Hintergrund des Geschehens. Sie »geschehen« vielmehr in den Yin-Organ-Prozessen mit. Wenn z. B. pathogene Qi-Einflüsse als Banditen oder Barbaren in den Leib eindringen oder wenn wirkkräftige Arzneien als Tiger in Erscheinung treten, so sind diese nicht als bloße metaphorische Umschreibungstechniken des Geschehens zu begreifen. Die Ereignisse im sozialen Raum »geschehen« im leiblichen Raum. Gefühle und Leidenschaften erweisen sich so als zirkulierende soziale Energien – oder in den eingangs schon zitierten Worten von Feng Menglong  : »Emotionen sind das Band, das alle verstreuten Geldstücke auf der Welt miteinander verknüpft (萬物如散錢, 一情為線索).«

1027 »Denn jede Klassifikation gründet auf dem Prinzip binärer Oppositionen«, zit. nach Baßler 2005, 258.

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Anhang

Siglen

BCXB BZL BZQW MJ CQS

Bencao xinbian 本草新編 Bianzheng lu 辨証錄 Bianzheng qiwen 辨證奇聞 Maijue canwei 脈訣闡微 Chen Shiduo yixue quanshu  陳士鐸醫學全書. Herausgegeben von Liu Changhua 柳長 DAZ Dongtian aozhi 洞天澳旨 DMB Dictionary of Ming-Biography 1368–1644 QGLM Quanguo zhongyi tushu lianhe mulu 全國中醫聯合目錄 SBBY Sibu beiyao 四部備要 SSML Shishi milu 石室秘录 TSB Zhang Huang 章潢, Tushu bian 圖書編 XQZL Xiao Jing 肖京, Xuan Qi jiu zheng lun 軒歧救正論 ZBYS Zhenben yishu jicheng 珍本醫書集成 ZYRWCD Zhongyi renwu cidian 中醫人物詞典 ZYYCD Dictionary of Traditional Chinese Medicine-Zhongyiyao cidian

Bibliographie

Das Literaturverzeichnis ist in drei Teile geteilt  : 1. Primärliteratur, 2. Sekundärliteratur, 3. Nachschlagwerke. In der Sektion Primärliteratur wurden die Lebensdaten, soweit sie bekannt sind, hinzugefügt. Außerdem wird bei chinesischen wie auch bei westlichen Werken das Erst-Erscheinungsjahr in eckigen Klammern angegeben. Primärliteratur Chen Shiduo 陳士鐸 (1627–1707). Bencao xinbian 本草新編. [Vorwort 1689.] Eine annotierte Facsimile Ausgabe der 1691 Edition ist enthalten in Liu Zhanghua 柳長華 et al. (Hrsg.). Chen Shiduo yixue quan shu 陳士鐸醫 學全書. Beijing, Zhongguo zhongyiyao chubanshe, 1999. S. 75–264.

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Anhang

Chen Shiduo 陳士鐸 (1627–1707). Shishi milu 石室 秘錄. [Vorwort von 1689]. Benutzte Ausgabe  : Facsimile Ausgabe der Xuanyongtang 萱永堂 Druckausgabe (1730). Eine annotierte Facsimile Ausgabe des Xuanyongtang 萱永堂Druckes ist enthalten in Liu Zhanghua 柳長華 et al. (Hrsg.). Chen Shiduo yixue quan shu 陳士 鐸醫學全書. Beijing, Zhongguo zhongyiyao chubanshe, 1999. S. 265–433. Chen Shiduo 陳士鐸(1627–1707). Bianzheng lu 辨証錄. Fertiggestellt 1687  ?, 1748 Ausgabe. In Liu Zhanghua 柳長華 et al. (Hrsg.). Chen Shiduo yixue quan shu 陳士鐸醫學全書. Beijing, Zhongguo zhongyiyao chubanshe, 1999. S. 691–1010. Chen Shiduo 陳士鐸 (1627–1707). Bianzheng qiwen 辨證奇聞 [fertiggestellt 1687, 1763 edition, reprint in Liu Zhanghua 柳長華 et al. (Hrsg.). Chen Shiduo yixue quan shu 陳士鐸醫學全書. Beijing, Zhongguo zhongyiyao chubanshe, 1999. S. 483–689. Chen Shiduo 陳士鐸(1627–1707). Waijing weiyan 外經衛言 [handschriftliche Kopie von 1816] reprint in Liu Zhanghua 柳長華 et al. (Hrsg.). Chen Shiduo yixue quan shu 陳士鐸醫學全書. Beijing, Zhongguo zhongyiyao chubanshe, 1999. S. 3–55. Feng Menglong 馮夢朧 (1574–1646). Qingshi情史. In Feng Menglong quanji 馮夢朧全集, vol. 7. Jiangsu, Guji chubanshe, 1993. Fu Qingzhu nüke ge kuo 傅青主女科歌括. An Zhixun 安志勛 Lü Hao 呂豪 (Komp.). Beijing, Zhongguo Zhongyiyao chubanshe, 1992. Fu Shan 傅山. Nü ke 女科. 2 juan. In Fu Qingzhu nüke 傅青主女科. Wang Yunwu 王雲五 et al. (Hrsg.) [Congshu jicheng jiangbian] Taibei, Taiwan Shangwu yinshuguan, 1967. Fu Shan傅山. Chan hou bian 產後編. In Fu Qingzhu nüke 傅青主女科. Wang Yunwu 王雲五 et.al. (Hrsg.) [Congshu jicheng jiangbian] Taibei, Taiwan Shangwu yinshuguan, 1967. Fu Qingzhu nannüke 傅青主男女科. 2 juan. Fu Shan 傅山. Beijing, Beijingshi Zhongguo shudian, 1985. Geng Wenguang耿文光 (1833–1908). Wanjuan jinghua lou cangshuji 萬卷精 華樓藏書記.146 juan, reprint eines Druckes aus 1937 [Qingren shumu tiba congkan 清人書目題跋叢刊9] Beijing, Zhonghua shuju, 1993. Gu Qiyuan 顧起元 (1565–1628). Kezuo zhuiyu 客座贅語, Gengsi bian Kezuo zhuiyu 庚巳編客座贅語. Beijing, Zhonghua shuju, 1987. Gu Shicheng 顧世澄. Yangyi daquan 瘍醫大全. 140 juan, [1760 erste Edition] Punktiert und kollationiert von Ling Yunpeng 凌雲鵬. Beijing, Renmin weisheng chubanshe, 1987.

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Anhang

Zeittafel Xia

Frühe Kaiserzeit

Mittl. Kaiserzeit

späte Kaiserzeit



21.Jh–16.Jh. v.Chr.

Shang



16.Jh–11.Jh v.Chr

Zhou



11.Jh–256 v.Chr.

westliche Zhou

西周

11.Jh–771 v.Chr

östliche Zhou

東周

770–256 v.Chr.

Chunqiu-Periode

春秋

770–476 v.Chr

Zhanguo-Periode

戰國

481–221 v.Chr

Qin



221–206 v.Chr

Han



206 v.Chr–220 n.Chr

Drei Reiche (Sanguo)

三國

220–280

Jin



220–265

westliche Jin

西晉

265–317

östliche Jin

東晉

317–420

Süd- und Norddynastien

南北朝

420–581

Sui



589–618

Tang



618–907

5 Dynastien (Wudai)

五代

907–960

Liao



916–1124

westliche Liao

西遼

1125–1201

Xixia

西夏

1032–1226

Song



960–1279

nördliche Song

北宋

960–1126

südliche Song

南宋

1127–1270

Jin



1115–1234

Yuan



1280–1267

Ming



1368–1644

Qing



1644–1911

Personenregister Ban Gu 班固 (32–92) 75 Chen Shiduo 陳士鐸 (1627–1707) 16, 22, 36ff., 73–103, 140ff. Chen Yan 陳言 (fl. 1161–1174) 193, 194 Dai Zhen 戴震 (1724–1777) 106, 128 Daoistische Meister (yushi 羽士) 76 Elias, Norbert 13 Fang Yizhi 方以智 (1611–1671) 279 Feng Menglong 馮夢龍 (1574–1646) 24, S.198, 291, 293, 295 Fu Shan傅山 (1607–1684) 9, 35, 178, 278, 279, 280 Gao Lian 高濂 81 Geng Wenguang 耿文光 (1833–1908) 56 Graham, Angus 14, 314 Guang Chengzi 廣成子 100, 101 Guo Yu 郭玉 (fl. 89–105) 165 Gu Yanwu 顧炎武 (1613–1682) 36, 48, 91. 97, 106, 107, 129, 135, 278 Himmlische Meister (tianshi 天師) 87, 163 Hua Tuo 華佗 (ca. 141–208) 87, 88, 90,91, 100, 128, 272 Huang Sheng 黃晟 (1748) 97 Huang Zongxi 黃宗羲 (1610–1695) 35, 41, 91, 106, 107, 122, 123, 125, 175 Huangdi (der Gelbe Kaiser) 黃帝(–259 bis –210) 75, 89, 90, 97, 99, 100, 109, 111, 123, 130, 132, 136, 137, 151, 157, 161, 182, 191, 194, 227, 228, 252, 274, 283, 294 Jin Yimou 金以謀 (frühes 17. Jh.) 49ff., 71, 88ff. Kangxi-Kaiser 康熙 (1662–1722) 56, 63, 77, 95 Kongzi (Konfuzius, vermutl. –571 bis –479) 80, 96, 176 Lefebre, Henri 20, 78 Lei Gong 雷公 100, 101 Li Dongyuan 李東垣 (Li Gao 李杲, 1180–1251) 115, 127, 136ff., 157 Li Gong 李塨 (1659–1746) 106, 128

Li Zhongzi 李中梓 (1588–1655) 151, 157, 161, 169 Li Zicheng 李自成(1606–1645) 30, 31, 32 Liu Xiang 刘向 (77 ?–6 v. Chr.) 70, 280 Liu Zongzhou 劉宗周 (1578–1645) 36 Lü Dongbin 呂洞賓 (Lü Daoren呂道人) 71, 86f., 91-95, 100, 114, 124 Lü Liuliang 呂留良 (1629–1683) 106 Mengzi 孟子 (–372 bis –289) 43, 75, 133, 147,149, 175, 176, 196, 201 Nian Xiyao 年希堯 (gest. 1736) 64, 65 Pan Lei 潘耒 (1646–1708) 129 Pu Songling 蒲松齡 (1640–1715) 21, 61, 62, 121, 261 Qi Bo 崎伯 53, 71, 75, 77, 87, 89, 90, 91, 100, 101, 109, 111 Ricci, Matteo 124 Sima Qian 司馬遷 (–145 bis –86 v. Chr.) 60, 62, 75, 21 Su Dongpo 蘇東坡 (1036–1101) 115 Sun Simiao 孫思邈 (581–682 ?) 108, 109 Tang Xianzu 湯顯祖 (1550–1616) 293 Tao Shiyu 陶式玉 (17. Jh.) 69, 76, 88, 90, 95, 230 Unsterbliche (xianren 仙人)/ Weise, Heilige (shengren 聖人) 15, 48ff., 61, 76ff., 82f., 86–103, 114, 121f., 142, 233, 281 Wang Bi 王弼 (226–249) 135 Wang Bing 王冰 (8. Jh.) 283 Wang Changyue 王常月 (?–1680) 94, 95 Wang Fuzhi 王夫之 (1609–1692) 91, 106 Wang Qi 王圻 (fl. 1565–1614) 94, 124 Wang Shuhe 王叔和 (3. Jh. n. Chr.) 70, 151 Wang Yangming 王陽明 (1472–1528) 24, 35, 36, 37, 41, 42, 43, 175, 178, 179, 184, 198 Wang Zhice 王之策 (spätes 17. Jh.) 63, 64, 74, 77, 85 Wu Sangui 吳三桂 (1612–1678) 32 Wu Youxing 吳有性 (1582 ?–1652) 156, 157 Xiao Jing 肖京 (frühes 17. Jh.) 109, 110, 111, 112, 113, 115, 117, 143, 272

340

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Personenregister

Xue Ji 薛己 (1486–1558) 116, 128, 131, 138, 155, 157, 173, 269 Yan Yuan 顏元 (1635–1704) 106, 128, 179 Yu Jiayan 喻嘉言 (1585–1664) 129, 158 Yuan Hongdao 袁宏道 (1568–1610) 293 Zhang Congzheng 張從正 (1156–1228) 136, 154, 157 Zhang Huang 章潢 (1527–1608) 123 Zhang Ji 張機 (Zhongjing 仲景, ca. 150–219) 71, 87, 90ff , 100, 129, 151f, 158, 300 Zhang Jiebin 張介賓 (1563–1640) 56, 123, 131, 151, 228 Zhang Lu 張璐 (1617–1698) 151, 283, 302 Zhang Taisu 張太素 (spätes 16. Jh.) 124, 148 Zhang Xianzhong 張献忠 (1606–1647) 31, 32

Zhao Xianke 趙縣可 (spätes 16. bis frühes 17. Jahrhundert) 8, 57, 131, 132, 135, 136, 137, 138, 139, 141, 155, 156, 157, 173 Zhongli Quan 鐘離權 (2. Jh.?) 92 Zhou Dunyi 周敦頥 (1017–1073) 145, 147, 149 Zhou Zhongfu 周中孚 (1768–1831) 57, 302 Zhuangzi 莊子 (–300) 101, 115, 125, 136, 178 Zhu Xi 朱熹 (1130–1200) 40, 41, 43, 80, 96, 106, 107, 127, 132, 133, 195, 196, 197, 214 Zhu Zhenheng 朱震亨 (1281–1358) 55, 115, 127, 136, 137, 155, 157, 166, 176 Zou Yan 騶衍 (–340 bis –260) 133, 192

ANGELIKA C. MESSNER, ANDREAS BIHRER, HARM-PEER ZIMMERMANN (HG.)

ALTER UND SELBSTBESCHRÄNKUNG BEITRÄGE AUS DER HISTORISCHEN ANTHROPOLOGIE (VERÖFFENTLICHUNGEN DES INSTITUTS FÜR HISTORISCHE ANTHROPOLOGIE E.V., BAND 14)

Die gegenwärtige Diskussion zum Thema „Alter“ wird von zwei sich widersprechenden Perspektiven geprägt: Einerseits wird die Lebensphase des Alterns aufgrund körperlicher Beschwerden und geistigem Abbau als defi zitär wahrgenommen. Andererseits wird das aktive Altern und die potentielle Innovationskraft alternder Menschen betont. Dieser Widerspruch lässt sich lösen, indem man ein differenzierteres Bildes von Alter und Älterwerden mit dem Gedanken der „Selbstbeschränkung“ verbindet, der Ideen wie Verzicht, Askese, Selbstbescheidung und Genügsamkeit, aber auch Selbstkultivierung und Selbsterziehung zusammenfasst. Die Autoren dieses Bandes setzen sich mit dem Zusammenspiel von „Alter und Selbstbeschränkung“ auseinander und verknüpfen dabei eine historisch-anthropologische mit einer gegenwartsorientierten Perspektive. 2016. CA. 304 S. GB. 150 X 225 MM | ISBN 978-3-205-79420-2

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DOROTHEE SCHMIDT

REISEN IN DAS ORIENTALISCHE INDIEN WISSEN ÜBER FREMDE WELTEN UM 1600

Mit ihrer großformatigen und reich bebilderten Serienedition »Petits Voyages« (1598–1634) begleitete die Frankfurter Kupferstecher- und Verlegerfamilie de Bry die niederländische Expansion nach Indien und Südostasien von Beginn an. Sie war Teil eines Netzwerks niederländischer Verleger, Drucker, Kartographen und Kupferstecher, die sich vornehmlich in den Zentren London, Antwerpen, Amsterdam und Frankfurt bewegten. Innerhalb dieses Netzwerks wurden Texte, Bilder und Karten intensiv und mit einer bemerkenswerten Aktualität verbreitet, transformiert und verarbeitet. Die Autorin untersucht erstmals die Text- und Bildproduktion der »Petits Voyages« und spürt dabei sowohl den Zirkulations- und Transformationsprozessen als auch den Entwürfen ganz unterschiedlicher fremder Welten nach. 2016. 288 S. 53 S/W- UND 45 FARB. ABB. GB. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-412-22512-4

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MORITZ VON BRESCIUS, FRIEDERIKE KAISER, STEPHANIE KLEIDT (HG.)

ÜBER DEN HIMALAYA DIE EXPEDITION DER BRÜDER SCHLAGINTWEIT NACH INDIEN UND ZENTRALASIEN 1854 BIS 1858

Die Geografen Hermann und Robert Schlagintweit sowie der Geologe Adolph Schlagintweit zählen zu den ersten deutschen Wissenschaftlern, die den Himalaya und das Karakorum-Gebirge erforschten. Einige Gebiete dieser damals weithin noch unerschlossenen Gebirgsregionen betraten sie als erste Europäer überhaupt. Die Expedition war von Alexander v. Humboldt angeregt und durch die britische Ostindien-Kompanie sowie den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. finanziert worden. Diese Konstellation erwies sich als konfliktreich. Die Entdeckungsreisenden sahen sich der universalwissenschaftlichen Naturforschung Humboldts verpflichtet – aber auch den politischen und wirtschaftlichen Interessen ihrer britischen Auftraggeber. Dies und der unterschiedliche Wissensstand über Asien in Großbritannien und dem restlichen Europa sorgten für kontroverse Bewertungen der Expedition, die zwischen einer Glorifi zierung der Brüder als herausragender Entdecker und ihrer kompletten Ablehnung schwankten. 2015. 388 S. 248 FARB. U. S/W-ABB. GB. 210 X 275 MM. ISBN 978-3-412-22493-6

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Almut Hille, GreGor Streim, PAn lu (HG.)

DeutScH-cHineSiScHe AnnäHerunGen Kultureller AuStAuScH unD GeGenSeitiGe WAHrneHmunG in Der ZWiScHenKrieGSZeit

Infolge des Ersten Weltkriegs veränderten sich die Beziehungen zwischen Deutschland und China grundlegend. Aus einem Kolonialverhältnis wurde eine Zweckgemeinschaft zweier Länder, die sich beide als Verlierer der Versailler Verträge sahen. Mit der außenpolitischen und wirtschaftlichen Annäherung intensivierte sich der kulturelle Austausch. In Deutschland wurde erstmals auch das moderne China wahrgenommen. Und chinesische Intellektuelle orientierten sich bei ihrem Bemühen um eine Modernisierung des eigenen Landes an der deutschen Kultur. Die Beiträge des vorliegenden Bandes nehmen einzelne Beispiele und verschiedene Etappen dieses Austauschs in den Blick. Das Themenspektrum reicht dabei von Literatur, Bildender Kunst und Philosophie bis zur Populärkultur. 2011. 216 S. 10 S/w-Abb. br. 155 x 230 mm. ISbN 978-3-412-20665-9

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