Zigeunerkulturen im Wandel: Über Roma-/Zigeunereliten in Bulgarien und Mazedonien [1. Aufl.] 9783839429372

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German Pages 388 [390] Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Verzeichnis der Karten, Abbildungen, Tabellen und Abkürzungen
Karten
Abbildungen
Tabellen
Abkürzungen
Dank
Schreibweisen und Aussprachen
Vor mehr als zehn Jahren: Prolog und Einleitung
Grundlegendes
Gliederung
Teil I
1 Die Forschung: Problemstellungen und Felder
1.1 Problemstellungen
1.2 Forschungsfelder
2 Die Feldforschung: Ansätze, Zugänge, Fragen und Datenerhebung
2.1 Roma-Eliten und die biographische Herkunft
2.2 Die Akteure als kritische Leser: Über Freundschaften, Vertrauen und Reziprozität
2.3 Datenerhebung: Der Zugang zu den Akteuren
3 Roma- / Zigeunervertreter in den Quellen
3.1 Drei Perzeptionsebenen nach Fredrik Barth
3.2 Gruppenbezeichnungen: Heterogenität und Varianz
Teil II
4 Roma- / Zigeunervertreter in der Geschichte
4.1 Roma- / Zigeunerführer und -vertreter in den Nachbarregionen der heutigen Gebiete Bulgariens und Mazedoniens
4.2 Roma- / Zigeunerführer und -vertreter in der osmanischen Geschichte der heutigen Gebiete Bulgariens und Mazedoniens (11.–19. Jahrhundert)
4.3 Bulgarien und Mazedonien zu Beginn des 20. Jahrhunderts
4.4 Mazedonien im 20. Jahrhundert
Vorüberlegungen zu Kapitel 5 und 6: Macht und Prestige
§ A Über die Vielfalt der Akteure und Einfalt der Institutionen
§ B Zugänge
§ C Virtù, Fortuna und ein applaudierendes Publikum zum Erfolg
§ D Gegebene und generierbare Zugänge
5 Bulgarien
5.1 Sofia-Stadt: Die junge Generation (Ludmila Zhivkova, Emil Metodiev, Toni Tashev)
5.2 Sofia-Stadt: Die alte Generation (Rumyan Russinov, Toma Nikolaeff, Lilyana Kovatcheva, Jossif Nounev, Hristo Kyuchukov)
5.3 Sofia – Fakultäta-Mahalla (Mihail Georgiev, Stefan Kolev)
5.4 Lom (Nikolaj Kirilov, Peter Goranov)
5.5 Kurzresümee
6 Mazedonien
Vorbemerkungen
6.1 Skopje-Stadt: Die junge Generation (Ajet Osmanovski, Azdrijan Memedov, Elvis Fazlioski, Ramadan Berat)
6.2 Skopje-Stadt: Die ältere Generation (Samka Ibraimoski)
6.3 Skopje-Topaana – Mahalla (Miljazim Sakipov)
6.4 Shuto Orizari (»Shutka«)
6.5 Shutka: Die junge Generation (Daniel Petrovski, Duduš Kurto, Elvis Bajram, Alvin Salimovski, Ali Berat)
6.6 Shutka: Die ältere Generation (Amdi Bajram, Bajram Berat, Shaban Saliu, Branislav Petrovski)
6.7 Kumanovo
6.8 Tetovo
6.9 Interessen- oder Generationskonflikt? –
Versuch eines Kurzresümees
Feldtagebuch Shutka I–III
Feldtagebuch Shutka I: Bürgermeisterwahl 2009
Zwei Tage vor der Wahl
Wahlsonntag
Wahlausgang
Feldtagebuch Shutka II: Die »Shutka-Taxis«
Feldtagebuch Shutka III
Ein Haus steht in Flammen
Abbildungen
7 Prestige und Zugänge
7.1 Prestige I: Vorüberlegungen
7.2 Prestige II: Zugänge
7.3 Ein voller Bauch studiert nicht gern, ein hungriger erst recht nicht! Zum Thema Bildung
7.4 Resümee
7.5 Prestige: Wertprämissen und Werthierarchien
8 »Am Anfang war Erziehung« oder: Geworden durch Bildung?
8.1 Biographischer Aspekt
8.2 Distanz zur Gruppe: Ein universelles Phänomen
8.3 Mediation und Transkulturalität: Dazwischen mittendrin
8.4 »Elitengürtel« – Zwischen Macht und Mahalla
8.5 Schlussbemerkungen, Wünsche und Ausblicke
Epilog
Anhang
Akteurstabelle Bulgarien (BG)
Akteurstabelle Mazedonien (MZD)
Narratives Glossar
Begrifflichkeiten der bulgarischen Akteure
Begrifflichkeiten für beide Länder
Begrifflichkeiten der mazedonischen Akteure
Leitfragenübersicht
Literatur & Quellen
Interviews und persönliche Gespräche
Internetquellen
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Zigeunerkulturen im Wandel: Über Roma-/Zigeunereliten in Bulgarien und Mazedonien [1. Aufl.]
 9783839429372

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Tobias Marx Zigeunerkulturen im Wandel

Kultur und soziale Praxis

Tobias Marx (Dr. phil.) ist Privatdozent und lebt in Leipzig.

Tobias Marx

Zigeunerkulturen im Wandel Über Roma-/Zigeunereliten in Bulgarien und Mazedonien

Zugl.: Universität Leipzig, Diss., 2012

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Julia Burda Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2937-8 PDF-ISBN 978-3-8394-2937-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Verzeichnis der Karten, Abbildungen, Tabellen und Abkürzungen  | 9 Karten | 9 Abbildungen | 9 Tabellen | 10 Abkürzungen | 10

Dank  | 13 Schreibweisen und Aussprachen  | 15 Vor mehr als zehn Jahren: Prolog und Einleitung  | 19 Grundlegendes | 23 Gliederung | 24

T eil I 1

Die Forschung: Problemstellungen und Felder  | 31

1.1 Problemstellungen | 35 1.2 Forschungsfelder | 41

2 Die Feldforschung: Ansätze, Zugänge, Fragen und Datenerhebung  | 47 2.1 Roma-Eliten und die biographische Herkunft | 49 2.2 Die Akteure als kritische Leser: Über Freundschaften, Vertrauen und Reziprozität | 50 2.3 Datenerhebung: Der Zugang zu den Akteuren | 52

3 Roma- /  Z igeunervertreter in den Quellen  | 63 3.1 Drei Perzeptionsebenen nach Fredrik Barth | 63 3.2 Gruppenbezeichnungen: Heterogenität und Varianz | 73

T eil I 4 Roma- /  Z igeunervertreter in der Geschichte  | 79 4.1 Roma- / Zigeunerführer und -vertreter in den Nachbarregionen der heutigen Gebiete Bulgariens und Mazedoniens | 80 4.2 Roma- / Zigeunerführer und -vertreter in der osmanischen Geschichte der heutigen Gebiete Bulgariens und Mazedoniens (11.–19. Jahrhundert) | 81 4.3 Bulgarien und Mazedonien zu Beginn des 20. Jahrhunderts | 94 4.4 Mazedonien im 20. Jahrhundert | 106

Vorüberlegungen zu Kapitel 5 und 6: Macht und Prestige  | 125 § A Über die Vielfalt der Akteure und Einfalt der Institutionen | 125 § B Zugänge | 126 § C Virtù, Fortuna und ein applaudierendes Publikum zum Erfolg | 128 § D Gegebene und generierbare Zugänge | 129

5 Bulgarien  | 133 5.1 Sofia-Stadt: Die junge Generation (Ludmila Zhivkova, Emil Metodiev, Toni Tashev) | 133 5.2 Sofia-Stadt: Die alte Generation (Rumyan Russinov, Toma Nikolaeff, Lilyana Kovatcheva, Jossif Nounev, Hristo Kyuchukov) | 141 5.3 Sofia – Fakultäta-Mahalla (Mihail Georgiev, Stefan Kolev) | 157 5.4 Lom (Nikolaj Kirilov, Peter Goranov) | 163 5.5 Kurzresümee | 174

6 Mazedonien  | 177 Vorbemerkungen | 177 6.1 Skopje-Stadt: Die junge Generation (Ajet Osmanovski, Azdrijan Memedov, Elvis Fazlioski, Ramadan Berat) | 178 6.2 Skopje-Stadt: Die ältere Generation (Samka Ibraimoski) | 187 6.3 Skopje-Topaana – Mahalla (Miljazim Sakipov) | 189 6.4 Shuto Orizari (»Shutka«) | 192 6.5 Shutka: Die junge Generation (Daniel Petrovski, Duduš Kurto, Elvis Bajram, Alvin Salimovski, Ali Berat) | 193 6.6 Shutka: Die ältere Generation (Amdi Bajram, Bajram Berat, Shaban Saliu, Branislav Petrovski) | 212 6.7 Kumanovo | 223 6.8 Tetovo | 227 6.9 Interessen- oder Generationskonflikt? – Versuch eines Kurzresümees | 230

F eldtagebuch S hutka I–III Feldtagebuch Shutka I: Bürgermeister­w ahl 2009  | 235 Zwei Tage vor der Wahl | 235 Wahlsonntag | 237 Wahlausgang | 241

Feldtagebuch Shutka II: Die »Shutka-Taxis«  | 243 Feldtagebuch Shutka III  | 247 Ein Haus steht in Flammen | 247

Abbildungen  | 249 7 Prestige und Zugänge  | 261 7.1 Prestige I: Vorüberlegungen | 261 7.2 Prestige II: Zugänge | 269 7.3 Ein voller Bauch studiert nicht gern, ein hungriger erst recht nicht! Zum Thema Bildung | 282 7.4 Resümee | 299 7.5 Prestige: Wertprämissen und Werthierarchien | 301

8 »Am Anfang war Erziehung« oder: Geworden durch Bildung?  | 305 8.1 Biographischer Aspekt | 310 8.2 Distanz zur Gruppe: Ein universelles Phänomen | 313 8.3 Mediation und Transkulturalität: Dazwischen mittendrin | 317 8.4 »Elitengürtel« – Zwischen Macht und Mahalla | 326 8.5 Schlussbemerkungen, Wünsche und Ausblicke | 327

Epilog  | 333

A nhang Akteurstabelle Bulgarien (BG)  | 337 Akteurstabelle Mazedonien (MZD)  | 343 Narratives Glossar  | 351 Begrifflichkeiten der bulgarischen Akteure | 352 Begrifflichkeiten für beide Länder | 357 Begrifflichkeiten der mazedonischen Akteure | 358

Leitfragenübersicht  | 367 Literatur & Quellen  | 369 Interviews und persönliche Gespräche | 383 Internetquellen | 385

Zigeunerkulturen im Wandel

Verzeichnis der Karten, Abbildungen, Tabellen und Abkürzungen

K arten Karte 1: Grenzen der Balkanländer 1877–1887 und die territoriale Entwicklung bis 1914 | 93 Karte 2: Die Grenzen von 1918–1938 mit Kennzeichnung des Gebiets Banat | 94 Karte 3: Die ehemalige Republik Jugoslawien in den Grenzen 1954–1991 mit Kennzeichnung des Gebiets Sandžak | 106

A bbildungen (Alle in dieser Arbeit abgedruckten Abbildungen stammen vom Autor selbst.) Abbildung 1: Drei Fahnen in Shutka (v. vorn n. hinten: Fahne der Roma, weiße Fahne mit dem Wappen Shutkas, Nationalfahne Mazedoniens) | 249 Abbildung 2: Fahnen vor einem Wahlbüro der Koalition DSR-OPE (die Fahnen v. l. n. r.: »Gemeinsam für Shuto Orizari« [DSR], Nationalfahne Mazedonien, Fahne der Europäischen Union, Fahne der Roma, Schwarz-Rote Fahne in Anlehnung an die albanische Fahne, Fahne der DSR, »Uniime Partia baśi Emancipacia e Romengiri« [OPE]; oben: Fahne der Roma) | 249 Abbildung 3: Wahlplakat des Bürgermeisterkandidaten Duduš Kurto (»Bürgermeisterstimme für Duduš Kurto – Kutzo«; im Emblem: »Koalition DSR-OPE – Gemeinsam für Shuto Orizari«) | 250 Abbildung 4: Wahlplakat des Bürgermeisterkandidaten der CRM, Elvis Bajram | 250 Abbildung 5: Wahlplakat der CRM im Zentrum Shutkas (»Gemeinsam für die Erneuerung in Shuto Orizari«) | 251 Abbildung 6: Dreisprachiges Ortseingangsschild »Shuto Orizari« (Mazedonisch, Romanes, Albanisch) | 252

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Zigeunerkulturen im Wandel

Abbildung 7: Umzäunter Baugrund für das neue Schulgebäude | 253 Abbildung 8: Straßenszene in Shutka | 253 Abbildung 9: Straßenreinigung in einer Seitenstraße Shutkas | 254 Abbildung 10: Müllberg am nördlichen Rand Shutkas | 254 Abbildungen 11–12: »Amdi-Džamija« (»Amdi-Moschee«) | 255 Abbildungen 13–15: Der neue Sportplatz in Shutka (»Sportsko Rekreativen Centar«) | 256 Abbildung 16: Vor dem Haus Shaban Salius | 258 Abbildung 17: Hauseingang mit Bankfiliale im Erdgeschoß | 258 Abbildung 18: Blick von der Hauptstraße auf das Haus Shaban Salius | 259 Abbildung 19: Bautafel vor dem Zentrum für Asylbewerber Skopje | 259 Abbildung 20: Sitz der NGO »Romaversitas« im Zentrum Skopjes | 260

Tabellen Tabelle 1: Entstehung der vier Roma- / Zigeunermahallas in Lom (BG) | 99 Tabelle 2: Akteurstabelle Bulgarien | 337 Tabelle 3: Akteurstabelle Mazedonien | 343

A bkürzungen BG Bulgarien BKP Bulgarski Kommunistitscheski Partija (Kommunistische Partei Bulgariens) C.E.G.A Creating Effective Grassroots Alternatives CEU Central European University CRM Cojus na Romite ot Makedonia (Vereinigung der Roma Mazedoniens) DPMNE Demokratische Partei für Mazedonische Nationale Einheit DSR Demokratski Sili na Romite (Demokratische Kräfte der Roma) ERGO European Roma Grassroots Organisations Network ERIO European Roma Information Office ERRC European Roma Right Center ERTF European Roma and Traveller Forum EU Europäische Union FOSIM Foundation Open Society Institute Macedonia HRP Human Rights Project IRU International Romani Union IIZ-DVV Institut für internationale Zusammenarbeit des deutschen Volkshochschulverbandes Bonn MIPD Mulit-Annual Indicative Planning Document

Verzeichnis der Kar ten, Abbildungen, Tabellen und Abkürzungen

MP Parlamentsabgeordneter (Member of Parliament) MZD Mazedonien NDI National Democratic Institute NGO(s) Nongovernmental Organisation(s) OPE Obedinen Partija za Emanzipatija (Vereinigte Partei für Emanzipation) OSI Open Society Institute OSZE Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa PCER Partija za Celostna Emanzipazija na Romite (Partei für die komplette Emanzipation der Roma) PIR Parija za Integratija na Romite (Partei für die Integration der Roma) PR Partija na Romite (Partei der Roma) REF Roma Education Fund RGW Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe RIC Roma International Congress RPP Roma Participation Program RPR Romska Progesivna Partija (Progressive Roma Partei) SSDID Student Society for the Development of Interethnic Dialogue WRC World Roma Congress UN United Nations UNHCR United Nation High Commissioner for Refugees VMRO Innere Mazedonische Revolutionäre Organisation

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Zigeunerkulturen im Wandel

Dank Vorliegende Arbeit ist Ausdruck meines Respekts und Dankes, vor allem gegenüber den Menschen des Untersuchungsgebiets und besonders den Akteuren dieser Arbeit. Aven saste! Den Dank für die wissenschaftliche Elternschaft schulde ich Prof. Dr. Bernhard Streck und Dr. Elena Marushiakova. Sie haben mich nicht nur dazu inspiriert, zum Thema »Roma- / Zigeunereliten« eine Studie zu verfassen, auch ihrer Hilfe und Unterstützung in allen Belangen meiner Feldforschung sowie ihres geduldigen und motivierenden Zuspruchs konnte ich mir stets gewiss sein. Annemarie und Peter Marx danke ich für jede Lebenswegstütze und ihren Fingerzeig auf den wissenschaftlichen Weg, den sie selbst nicht kannten. Für akribisch geduldiges Korrigieren danke ich ganz besonders Michael W. Lippold, Martin Müller, Steffen Hahn und Silvio Pfeuffer und dem transcript-Verlag für die freundliche und ermunternde Zusammenarbeit. Meinen Einstieg ins Feld der »Roma- / Zigeunereliten« und die ersten Kontakte in Bulgarien verdanke ich Dr. Elena Marushiakova und auch Dr. Vesselin Popov. Ihr ehrliches Urteil, ihr fachkompetenter und direkter Blick auf ihre Heimat Bulgarien sowie das Nachbarland Mazedonien haben mir fortwährend meine Position im Feld vor Augen geführt und waren und sind mir geschätztes Korrektiv meiner Datenfülle, die ich nicht zuletzt durch ihre reichhaltigen lokalen Kontakte sammeln konnte. Für die meisten der Kontakte mit mazedonischen Roma- / Zigeunereliten bin ich dem Dank an meinen Gastbruder und Begleiter Sabir Agush verpflichtet, der im Verlauf dieser Arbeit noch zu Wort kommen wird. Täglich zum Teil mehrfaches Nachhaken per Telefon, seltenes aber zeitraubendes Hinhalten in Sachen Terminvergaben und kurzfristige Absagen balancierte er eloquent und schulte mich in selbstbewahrender Geduld. Allabendliches Abgleichen und Diskutieren ließen mich, wennschon nicht komplett, sein Zuhause Shuto Orizari (im folgenden »Shutka«1) und dessen interne Verflechtungen verstehen. 1 | Shuto Orizari wird in ganz Mazedonien und nicht nur von Roma / Z igeunern, liebevoll als »Shutka« bezeichnet. So ist das Fahrziel »Shuto Orizari« auf den Bussen aller privaten Busunternehmen in und um Skopje mit »Shutka« (»шутка«) ausgeschrieben. Zum Ursprung dieser Namensgebung wurden mir von unterschiedlichen Seiten verschiedene Meinungen herangetragen. So auch solche, dass beispielsweise »Shutka«

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Zigeunerkulturen im Wandel

Jeder weiß, dass eine solche Arbeit nur ermöglicht werden kann, wenn sie von vielen wichtigen Menschen, Freunden und Unterstützern begleitet wird. Ich habe mir alle Personennamen notiert, die in der einen oder anderen Weise an dieser Arbeit beteiligt waren, um sie später alle in einen einzigen großen Dankestext einbinden zu können. Allein, die Zahl ist zu groß geworden, um hier jeden angemessen und gleichwertig zu nennen. Darunter sind nicht nur viele bereichernde Reise- und Feldaufenthaltsgefährten, liebe Freunde, weitere geduldige Korrekturleser oder kritische wissenschaftliche Kollegen. Bei ihnen allen will ich mich in dieser zugegebenermaßen etwas allgemeinen und unpersönlichen Form auf das Herzlichste bedanken, denn sie haben mir auf ihre ganz persönliche Weise meine Grenzen geweitet und mir Verständnis entgegengebracht, mich sensibel beraten und erduldet. Sie haben meine Eigenarten als Vater, Freund, Bruder, Kommilitone, Kollege oder Schüler ertragen und sind mir Stützen gewesen, haben mir ihre Zeit geschenkt, meine Beine geerdet, oder mir gezeigt, wie vieles mir zu kompliziert Erscheinende letztendlich meistens ganz einfach gedacht und gesagt werden kann. Sie alle sind auf ihre jeweils besondere Art die Begleiter dieser Arbeit gewesen, gleich ob sie mir in Bulgarien, in Mazedonien, in Rumänien, in Ungarn oder in Deutschland auf meinem Lebensweg wichtige Menschen geworden sind oder mir ihre Beraterdienste bis heute ohne Ausgleichserwartungen zur Verfügung gestellt haben. Die Sprache hält einen Ausdruck bereit, der, und das empfinde ich ihnen allen gegenüber, Respekt und das Gefühl in sich trägt, vervollkommnet worden zu sein: »Danke«!

im Russischen »Witzchen« hieße. Wann und wie es zur letztendlich »feststehenden« Namensgebung »Shutka« kam, kann nur vermutet werden. Obschon das Deutsch-Mazedonische online-Wörterbuch »шутка« mit »Schaf ohne Hörner« übersetzt (online: http://www.makedonisch.info/index.app, vom 24.05.2011), konnten weder ich noch einige Bewohner Shutkas diesen Begriff mit ihrer Heimat in Verbindung bringen. Die Endsilbe »~ка« lässt möglicherweise auf die Diminutivform schließen, die die erste Wortsilbe des vollständigen Namens »Shuto Orizari«, also »Shut~«, in seinen Spitzund Rufnamen »Shutka« wandelt.

Schreibweisen und Aussprachen Alle Namen und Begriffe aus dem Bulgarischen und Mazedonischen sind mit lateinischen Buchstaben und in deutscher Sprache geschrieben. Einige Begriffe bzw. Bezeichnungen werden durch die originale kyrillische Schreibweise ergänzt. Die Namen der Akteure in den anhängenden Akteurstabellen sind ihren eigenen Angaben entnommen und zum Vergleich in beiden Schreibweisen ausgeführt. Wichtige Schriftzeichen und ihre Aussprache kyrillischer Buchstabe

lateinische Schreibweise

phonetische Umschrift

Aussprache

Вв

Vv

[v]

»w« (wie in »Wilhelm«)

Чч

Čč

[t  ]

»tsch« (wie in »Tschechien«)

Xx

Xx

[x]

»ch« (wie in »Koch«)

Цц

Dz dz

[ts]

»ts« (wie in »Zeppelin«)

Жж

Zh zh

[]

»sch« (wie in »Genre«)

Зз

Zz

[z]

»s« (wie in »Siegfried«)

Сс

Ss

[s]

»ss« (wie in »Nass«)

Фф

Ff

[f]

»f« (wie in »Friedrich«)

Шш

Sh sh

[]

»sch« (wie in »Schule«)

Юю

Yu yu

[ju]

»yu« (wie in »Jugoslawien«)

Яя

Ya ya

[ja]

»ya« (wie in »Jana«)

_

Dž dž

[d]

»dsch« (wie in »Dschungel«)

»Und dann? Wer wird denn dieses Buch schon lesen? Wer wird einen Scheiß darauf geben? Weißt du, wer dieses Buch lesen wird? Ich werd dir sagen, wer dieses Buch lesen wird: Dieses Buch wird von den Bürokraten in Brüssel gelesen. Und das ist das Gefährlichste dabei! Und die entwickeln dann ihre Strategien und Pläne daraus. Und das alles basiert auf den wissenschaftlichen Untersuchungen. [...] Wer liest diese Untersuchung dann? Schau mal, (zeigt auf die Bücher im Regal), schau, wie viele Untersuchungen es darüber gibt. Wer liest denn das? Ich? Und die da (nach draußen zeigend), die 99 Prozent kannst du vergessen! Sie produzieren Papier, Papier, Papier!« N ikolaj K irilov über wissenschaf tliche V eröffentlichungen zum Thema »R oma - /  Z igeunerpolitik« in B ulgarien , L om

Zigeunerkulturen im Wandel

Vor mehr als zehn Jahren: Prolog und Einleitung Rumänien, nördlicher Bezirk (Judetul) Harghita (zwischen 1997 und 2000) »Das Zigeunerdorf ist dort hinten, draußen!« Der Pförtner der Gemeindeverwaltung eines beschaulichen, ungarisch-rumänischen Orts in Siebenbürgen zeigte in Richtung Ortsende. »Am besten, Sie sprechen mit dem Chef von denen!« »Mit dem Chef?« »Ja, der Chef von denen! Der sitzt in der nächsten Stadt, in so einer Organisation für Zigeunerkinder!« Ich hatte unser Auto etwas abseits, kurz hinter dem Ortseingang geparkt. Die Gemeindeverwaltung lag zwischen zwei Dreiseitengehöften mit Eingang zur Hauptstraße und besaß daher keinen eigene Parkfläche. Deshalb fielen dem Pförtner erst jetzt meine Begleiter am Auto auf. »Sind die von dort?« Sein Blick wies auf unser Auto. Dort genossen einige Roma- / Zigeunerjugendliche* aus dem rumänischen Kinderheim, in dem ich damals tätig war, ihre langersehnte Raucherpause. * | Für das Begriffspaar Roma / Z igeuner habe ich mich aus mehreren Gründen entschieden. Zum einen bezeichnet sich die Mehrzahl der Akteure dieser Arbeit sowohl als Rom bzw. Romni wie auch als Zigeuner (tzigani, Gypsy etc.). Zum anderen aus Übersetzungsgründen: Da mir zur Erarbeitung des Themas mehrheitlich englischsprachige Literatur zur Verfügung stand und diese Gruppen und deren Mitglieder dort als »Gypsy« bezeichnet werden, wird dessen deutsche Übersetzung ›Zigeuner‹ das Begriffspaar ›Roma / Z igeuner‹ bereichern. Zum Dritten sei hinzugefügt, dass diejenigen Mitglieder der Gruppen, welche u. a. an den auch von mir besuchten Konferenzen und Sommeruniversitäten der CEU teilnahmen, keinen gewinnbringenden Nutzen in einer Debatte sahen, die sich um die politisch korrekte Verwendung der Begriff lichkeiten drehte, weder für sich privat noch für die Wissenschaft oder ihre (politischen) Aktivitäten. Im Gegenteil wurde ich von den meisten meiner Informanten darauf hingewiesen, dass nicht dem Wort »Gypsy« oder »tsigan« selbst, sondern eher dessen Verwendung im Kontext eine spezifische Bedeutung zukommt. Im Gespräch wird demjenigen dann die entsprechende Be- oder eben Missachtung der Angesprochenen geschenkt, je nach Situation, Assoziation des Wortes und den inhaltlich mitschwingenden Vorurteilen. Wie unterschiedlich aber die eigene Perspektive einiger der Akteure dieser Arbeit auf beide Begriffe sein kann, veranschaulicht Kapitel 1.

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Zigeunerkulturen im Wandel

»Nein, wir wollen Spenden hinbringen und ihre Verwandten aufsuchen!«, entgegnete ich. »Bringen Sie denen ja nichts hin! Die verkaufen alles und denken dann, dass sie nicht arbeiten zu gehen brauchen. Die haben so eine Organisation, die ihre Kinder in die Schule bringt. Ich glaube auch, dass die Kleidung verteilen.« Wieder auf der Fahrt, klang mir noch sein Vorschlag nach, die Spenden dem »Chef« dieser Organisation zu übergeben, denn der würde sie für die betreuten Kinder gebrauchen können. »Ich zeige Ihnen, wo die sind!«, sagte der Chef jener Roma-Organisation. Sein bunt glänzendes Hemd hing locker über seiner Anzughose. Als wir auf ihn trafen, konnten meine Begleiter mit ihren Fragen kaum an sich halten. Eine laute Stimme aus ihrem Kreise übertönte plötzlich alle anderen Gespräche: »Was hast Du denn mit denen von hier zu schaffen?!« Daraufhin schwieg er. Als wir schließlich in der Siedlung ankamen, waren die mitgebrachten Spenden schnell ausgegeben. Wo wir die zu besuchende Familie finden würden, wollte unser Verbindungsmann von der uns umringenden Kinderschar aus der Siedlung wissen. »Was geht dich das an, wo die wohnen?«, tönten sie zurück. Nach einiger Zeit rief eine Frauenstimme aus dem oberen Stockwerk eines der heruntergekommenen Blockhäuser: »Geh dahin, woher du gekommen bist, Betrüger!« Während sie weiter schimpfte und der Chef der Organisation dagegen hielt, winkten uns die Kinder in den Block hinein und führten uns auf die Etage, auf der die Frau aus dem Fenster wetterte. »Der hat hier gar nichts zu sagen!« Als wir auf ihrer Etage ankamen, erklärte sie uns: »Er denkt, dass er unsere Kinder in die Schule bringen soll. Aber dort werden sie von der Lehrerin und von den anderen Schülern geärgert, weil wir Zigeuner sind. Ich habe keine Kleider, die ich ihnen anziehen könnte! Deswegen werden sie wieder nach Hause geschickt, ohne ihnen etwas zu essen zu geben.« »Aber wir haben etwas mitgebracht«, versuchte ich zu beschwichtigen. »Kinderkleidung!« »Geht und schaut, wo das ist!«, kommandierte sie einige der Zuschauer unseres Auftritts, die sich sogleich auf den Weg machten. Ein Mädchen aus dem Kinderheim, fast schon eine Jugendliche, deren Verwandte wir hier vermuteten, blieb derweil bei mir und der Frau. Sogleich tauschten die beiden von mir bis dato nie gehörte Namen, Personen und Orte aus. »Sie ist die Großtante meines Cousins zweiten Grades mütterlicherseits«, erklärte mir die Jugendliche sichtbar erfreut, »also die Mutter des Mannes ihrer Tante ist die große Halbschwester meiner Mutter.« Ich schaute verständnislos, worauf sie von vorn zu erklären begann. Auch auf diese zweite Erklärung hin konnte ich noch kein Pendant in meiner eigenen Familie finden. So ließ ich es auf sich beruhen. »Der macht gar nichts für uns, weißt du!« Die Frau nickte abermals in Richtung des Fensters, an dem sie bei unserer Ankunft gestanden hatte und erklärte weiter: »Der hat seine Organisation in der Stadt, der hat viel Geld, aber gibt uns nichts davon ab! Aber wenn die

Vor mehr als zehn Jahren: Prolog und Einleitung

hohen Herren kommen, dann zeigt er denen, wie wir hier leben, und dann gehen sie wieder. Mitbringen tun die nichts! Und dann wollen die mir sagen, wie ich meine Kinder erziehen soll? Wie denn, ohne Geld? Und wenn die sich prügeln, werden sie beschuldigt! Nicht die Kinder der Rumänen! Und der soll unser Chef sein? Der ist doch gar nicht von hier! Der kommt aus der Stadt. Der ist nicht wie wir! Wir lügen nicht und wir stehlen auch kein Geld! Und wenn wir welches haben, geben wir alles unseren Kindern, alles!« Als wir zurück im Heim ankamen, konnte ich kaum Freude oder gar Dank erkennen, dass ich versucht hatte zu helfen, Verwandte der Heimjugendlichen zu finden. »Die mögen uns nicht mehr, weißt du?«, gestand mir einer der Jugendlichen viel später. »Die denken, dass wir hier im Heim alles haben, weil ihr und die deutsche NGO hier seid. Und deshalb erwarten sie, dass wir ihnen Geld bringen, wenn wir dorthin kommen. Aber davon kaufen sie sich doch nur Schnaps und Zigaretten!« »Was macht der Chef dieser Organisation eigentlich, der uns den Weg gezeigt hat?«, wollte ich wissen. »Und warum wird er als der angesehen, der deren Kinder mit Schulbüchern und Kleidung versorgt, wenn er dann doch nichts hinbringt?« »Weil er ein Geschäftsmann ist! Der hat Kontakte, Beziehungen, verstehst du? Und Geld! Der ist außerdem nicht von dort, wo wir waren. Und deshalb wollen die den nicht! Der steckt das Geld und eure Spenden in seine eigene Tasche. Der gibt nichts davon ab!«

Durch solcherlei Erlebnisse schwanden meine anfänglichen Hoffnungen, dass »Roma-Vertreter« oder eine Organisation in der nächsten Stadt als Fürsprecher dieser Familien eintreten oder deren Situation maßgeblich verbessern könnten. Einige Jugendliche und ihre erwachsenen Anverwandten erwarteten von solchen Vertretern Mediation1 in den rumänischen Institutionen der Gadže2. Zwar hatten 1 | Damit ist beispielsweise die Fürsprache bei Angestellten der lokalen Schulleitungen, der rumänischen Melde- und Polizeidienststellen oder bei Bewerbungen in jenen Fabriken und Betrieben gemeint, in denen die Jugendlichen nach erfolgreichem Schulabschluss einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz finden sollten. 2 | ›Gadže‹ steht in der Mehrheit der Roma- / Z igeunerdialekte des Romanes, Romani oder romani čhib (Sprache vieler Roma / Z igeuner) für ›Nicht-Roma /  -Zigeuner‹ und damit als Sammelbegriff für die Mitglieder der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft(en). In Ländern mit einem großen Anteil von Minderheiten (nicht nur der Roma /  Z igeuner), werden auch andere Begriffe benutzt. Also gilt dieser Begriff seitens der Roma / Z igeuner in Rumänien für die Rumänen, aber für die ungarische oder die deutsche Minderheit im Land sind andere Begriffe gebräuchlicher. Für Roma /  Z igeuner in Bulgarien gilt ›Gadže‹ demnach für alle bulgarischen Nicht-Roma /  -Zigeuner, doch gibt es darüber hinaus weitere spezielle Begriffe für Bulgaren, Türken usw. Dasselbe trifft auf Mazedonien zu, wo mit dem Begriff ›Gadže‹ von den Roma /  Z i-

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diese Vertreter oder Organisationen solchen Erfahrungen nach wenig oder nichts mit diesen Familien zu schaffen, dennoch schienen sie seitens der rumänischen Institutionen, die auch ich während meiner Arbeit mehrmals aufsuchen musste, verantwortlich dafür gemacht zu werden, dass beispielsweise verbesserte Wohn-, Gesundheits-, Bildungs- und Finanzbedingungen in den Roma- / Zigeunerfamilien geschaffen wurden. So könnten auch deren Kinder aus dem staatlichen Kinderheim zurückkommen und wieder einen Platz in der Mitte ihres elterlichen Heimes finden. Einzig aus der Perspektive der Gadže, also der Pädagogen, Angestellten sowie der Direktion des Heimes, scheinen Roma- / Zigeunervertreter und Roma- / Zigeunersiedlungsbewohner aufgrund ihrer gleichen ethnischen Herkunft zusammengehörig. »Was also trennt sie tatsächlich von- und was bindet sie aneinander?«, fragte ich mich damals schon in Bezug auf die von mir betreuten Kinder und Jugendlichen im Heim. Wenn ich z. B. Eltern finden wollte, die ohne Meldegenehmigungen, Geburtsurkunden oder andere gültige Personaldokumente am Rande einer Stadt oder eines Dorfes in einer Roma- / Zigeunersiedlung lebten, war ich häufig auf die Hilfe jener Vertreter und Organisationen in der nächsten großen Stadt angewiesen. So manch wiederholtes Achselzucken und manche abschlägige Antwort von offizieller Seite auf Fragen nach einem Hinweis auf die gesuchten Eltern bestimmter Kinder können heute, mehr als 10 Jahre später, als erste Inspiration für die vorliegende Studie verstanden werden. Daher befanden sich auf meinen Wunsch- und Fragezetteln, die meine Feldforschungsaufenthalte in Bulgarien und Mazedonien für die vorliegende Arbeit prägten, schon damals folgende Punkte: • Wen würden Roma / Zigeuner am liebsten als ihren ›Führer‹ oder ›Vertreter‹ sehen? • Sind diese Vertreter oder deren Organisationen wie z. B. NGOs oder Romaparteien für das Scheitern von Inklusionsprogrammen verantwortlich? • Wer sind diese Akteure, die sich als Roma- / Zigeunervertreter, -repräsentanten oder -führer auf den verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen Sphären, den Erwartungen der Institutionen der Mehrheitsgesellschaft und denen der Roma- / Zigeunergruppen und -gemeinschaften stellen? • Haben Roma- / Zigeunerführer wirklich Macht und worin besteht diese? • Welchem Idealbild folgen sie selbst, wer sind ihre Gefolgschaften? • Bilden viele Roma- / Zigeunerführer und -vertreter eine ›Roma- / Zigeuner­ elite‹? Für die vorliegende Studie knüpfte ich die ersten Kontakte zu einigen der bulgarischen und mazedonischen Akteure hauptsächlich in Diskussionsrunden innergeunern im Land meistens die (ethnischen) Mazedonen bezeichnet werden. Für die albanische oder andere Minderheiten im Land haben mazedonische Roma /  Z igeuner andere Begriff lichkeiten im Sprachgebrauch.

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halb der Sommeruniversitäten der CEU (2008 in Cluj Napoca / Rumänien und 2009 in Budapest). Später kamen durch Vermittlungen und Empfehlungen teils von wissenschaftlicher Seite, teils von der Seite der Akteure selbst weitere Kontakte hinzu, auf deren Auswertung diese Arbeit schließlich fußt. Die meisten der Gespräche mit den Protagonisten fanden in den Jahren 2008–2010 im Rahmen von mehrmaligen längeren Feldaufenthalten in Mazedonien und Bulgarien statt.

G rundlegendes Das Bild der Roma- / Zigeunergruppen Bulgariens und Mazedoniens ist divergent und speziell je nach Region geprägt. Dennoch zeigen sich einige wichtige strukturelle Ähnlichkeiten. Darunter fallen folgende, dieser Arbeit zugrunde liegende Fakten: 1. Wenn mehr als nur eine einzige Gruppe von Roma / Zigeunern in einer Region lebt, so hebt sich jede der jeweiligen Gruppen von der oder den anderen als »die echten / r ichtigen / wahrhaftigen« (čače Roma, asıl Roma)3 Roma / Zigeuner ab. Dabei werden gruppenspezifisch bestimmte soziokulturelle Gesichtspunkte betont (z. B. Entlehnungen historischer Aspekte, kultureller Symbole und / oder Praktiken), die häufig aus verschiedenen Nachbargruppen, nicht nur der Roma / Zigeuner, stammen. 2. Das Verhältnis zwischen den Mehrheitsgesellschaft(en) und der oder den Roma- / Zigeunergruppen ist häufig ein hierarchisches, bei dem die Roma / Zigeuner hinauf blicken und die Mehrheitsgesellschaft auf sie herab sieht. Wenngleich die Mehrheitsgesellschaft(en) in den Augen vieler Roma / Zigeuner als »nicht anstrebenswert« gelten, bleiben sie dennoch ihr unvermeidlicher Alltagsvergleich und Bezugspunkt – kulturell, sozial, wirtschaftlich, sprachlich etc. 3. Gesetzt den Fall, mehrere Roma- / Zigeunergruppen leben in derselben Region und zur selben Zeit, so herrschen unter den Gruppen klare, aber nicht unüberwindbare Trennungslinien, die teilweise auch als Konfliktlinien bezeichnet werden können. Daraus lässt sich in der Logik der Alltagshandlungen eine »Wertehierarchie« herauslesen, die sich aus einzelnen Kriterien, Werten ergibt, die in den Alltagssituationen jeweils unterschiedlich gewichtet sind und immer neu verhandelt werden können. Solche Werte können unter anderem wichtige Kontakte (zumeist zu einflussreichen Roma / Zigeunern oder einflussreichen »Gadže«), die traditionellen Berufe der Vorgenerationen (die sich oft, aber nicht zwangsläufig, im Namen der Gruppe oder im Familienna3 | Čače (čačo, čači) steht in den meisten Dialekten des Romanes für »wahr« oder »wirklich / e cht« (s. Romlex, online). »asıl« stammt aus dem Türkischen ab, was ebenso »real«, »wirklich« oder sogar »edel« bedeutet.

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men verbergen), die Nähe bzw. Distanz vom gemeinsam angestrebten Wertekanon der Mehrheitsgesellschaften, finanzieller und gezeigter Reichtum, und weitere Aspekte sein, wie zum Beispiel die der Religion, der Festbräuche, der Sprache etc. Wir alle sind »kulturelle Mischlinge« (Welsch 2005: 326) und sind es umso mehr, je vielschichtiger die Auswahlpalette der ethnischen, religiösen, linguistischen usw. Identitäts- und Verhaltensmuster ist, die sich vor unserer Haustür für jedermann sichtbar seit Generationen darbietet. Im Falle meiner Informanten gilt es dabei immer mitzudenken, dass sie sich ständigen Repressalien von außen – den »Gadže« – gegenübersehen. Jene Fülle und breite Fächerung der damit möglichen soziokulturellen Konstellationen in einer Dissertation über »Roma- / Zigeunereliten« in Mazedonien und Bulgarien darzustellen, scheint vor diesem Hintergrund kaum noch durchführbar. Ein vereinfachender und verallgemeinernder Blick aus der Meta- oder Vogelperspektive heraus allerdings würde eine alltagsferne Homogenität suggerieren und wäre dem Ziel dieser Darstellung abträglich. Auf den gesellschaftlichen Wandel bewusst adaptiv zu reagieren und traditionelles Akkumulat mit der Moderne und ihren Herausforderungen zu verweben, gelingt denen, die sich sicher auf der Bühne des soziokulturellen Wechselspiels zwischen »Inklusion« und »Exklusion« bewegen können. Auf die meisten meiner Protagonisten und auf die meisten Roma- / Zigeunergruppen trifft das meines Erachtens zu. Sie zeigen sich souverän und anpassungsfähig zugleich und wissen alte sowie neue Wertekanons zu nutzen, gerade auch um der ständigen Diskriminierung entgegentreten zu können. Hierbei gilt es auch die unterschiedlichen Strategien der mehrheitsgesellschaftlichen Institutionen in Betracht zu ziehen, die einerseits die Roma- / Zigeunergruppen als Bestandteile der Gesellschaft einbinden wollen, sie aber auch andererseits ausnahmslos mit dem Etikett einer sozialen Randgruppe versehen. Die historischen und gegenwärtigen Entwicklungen von Migration, Sesshaftigkeit und Anpassung erheben daher ebenso den Anspruch auf Beachtung in jeder Analyse des Kolorits der südosteuropäischen Roma- / Zigeunergruppen, wie auch deren Wechselverhältnis zu den Mehrheitsgesellschaften, die sich, wie gesagt, nicht nur aus »Gadže« (Bulgaren sowie Mazedonen), sondern auch aus Türken (im Fall Bulgarien), Albanern und Kosovaren (im Fall Mazedonien) zusammensetzen.

G liederung Die angehängten Akteurstabellen enthalten u. a. die Klarnamen und viele andere Daten aller hier zu Wort kommenden Personen. Zum einen will ich es dem Leser damit erleichtern, sich in der Bandbreite der unterschiedlichen Protagonisten orientieren zu können. Zum anderen erweitern diese Tabellen das Datenverständnis und halten bei der Lektüre der Arbeit, insbesondere der Gesprächssequenzen,

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wichtige Grundlagen bereit. Das Narrative Glossar enthält alle ausführlichen Erläuterungen derjenigen Begrifflichkeiten, die als Gruppennamen von den Protagonisten erwähnt wurden. Um ein Verständnis für diese komplexe Nomenklatur zu bekommen und dafür, wie die Begriffe in der Alltagssprache der Akteure benutzt werden, sind an wichtigen Stellen die Begriffserläuterungen mit einigen Gesprächssequenzen verwoben.

Teil I Die dreigeteilte und stark von Akteursnarrationen geprägte Arbeit widmet sich im Kapitel 1 der ihr zu Grunde liegenden Forschungsinspiration, der Beschreibung des Feldes und einer Einführung in das Thema der Roma- / Zigeunerelite, wobei den Protagonisten auch hier häufig das Wort erteilt wird. Kapitel 2 stellt meine Forschungsansätze, Lesarten und Erhebungsmethoden der Daten vor, während die in der Arbeit zu klärenden Fragen jeweils problem-, zugangs- und lesartspezifisch geordnet sind. Das zweiteilige Kapitel 3 enthält in seinem ersten Teil einen Vergleich speziell der hier verwendeten Quellen im Hinblick auf deren Perzeption von Roma- / Zigeunerführern und -vertretern. Mit Hilfe der drei Analyseebenen »Makro-, Mikro- und Mesoebene«, die Barth (2000) bei der Begriffsanalyse von »Ethnizität« gebraucht, werde ich sowohl die unterschiedlichen Betrachtungswinkel der hier verwendeten Quellen auf die Roma- / Zigeunergruppen und deren Führer bzw. Vertreter, als auch die Blickwinkel der vorliegenden Arbeit auf diesen drei Ebenen versuchen zu verorten. Das Ebenenmodell eignet sich jedoch nicht nur dazu, den Fokus der verschiedenen Texte auf die Akteure zu bestimmen, sondern auch die Aktionsräume der Akteure (translokal-institutional, glokal-mediational, lokal-interaktional) zu verorten. Dabei wird deutlich, dass die translokal-institutional geprägte Makro- und die durch einen lokal-interaktionalen Aktionsraum charakterisierbare Mikroebene jene Perzeptionsebenen sind, die in den bisherigen Quellen am häufigsten gewählt wurden. Die Betrachtungen auf der glokal-mediationalen Aktions- und Perzeptionsebene, der Mesoebene also, sind deutlich unterrepräsentiert. Dort allerdings befindet sich der Hauptaktionsraum meiner Informanten. Die Betrachtung auf dieser Mesoebene stellt daher die fruchtbarste Perzeption für solcherlei Personen dar, wie sie hier im Betrachtungsfokus stehen. Die Bedeutung der Mesoebene nimmt darüber hinaus um einen weiteren Punkt zu, blickt man auf die Möglichkeit, auf dieser Ebene sowohl aktions- als auch betrachtungsseitig die beiden anderen Ebenen miteinander verbinden zu können. Da die Akteure vorliegender Arbeit größtenteils glokal-mediational agieren, fokussiere ich meinen Betrachtungswinkel auf diese Mesoebene. Der zweite Teil des Kapitels widmet sich den Bedeutungen der Gruppennamen und -begrifflichkeiten, mit denen sich die Protagonisten dieser Arbeit selbst identifiziert haben (s. Akteurstabellen und Narratives Glossar im Anhang) oder die sie gebrauchten, um andere Roma- / Zigeunergruppen zu benennen. Hier

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soll die Komplexität und Heterogenität der Bedeutungen aufgezeigt werden, die die unterschiedlichen Roma- / Zigeunergruppen für gleich klingende oder sogar gleichlautende Gruppennamen oder -bezeichnungen haben. Wie bereits erwähnt, enthält das Narrative Glossar im Anhang die jeweils ausführlichen Details zu den Begrifflichkeiten, die in diesem zweiten Teil des Kapitels kurz angerissen werden.

Teil II Dieser Teil steht ganz im Zeichen einer Betrachtung der Vergangenheit (Kapitel 4) und der Gegenwart (Kapitel 5 und 6) des Feldes. Kapitel 4 dient dabei der Einführung in die Geschichte der beiden Länder, in der ich die Präsenz und das Wirken von Roma- / Zigeunerführern oder -vertretern auf den Gebieten des heutigen Bulgarien und Mazedonien nachzeichne. Denn zweifelsohne haben heutige Dynamiken und Situationen ihren Ursprung in der örtlichen Geschichte und lassen sich daher vor dem geschichtlichen Hintergrund einfacher verstehen und deuten. Die hier eingefügten Sequenzen der Akteure berichten folglich davon, wie sich staatliche oder anderweitig institutionelle Aktivitäten in der Vergangenheit in der heutigen lokalen Praxis widerspiegeln und in Form von sozial gelebten Realitäten Gestalt annehmen. In den anschließenden Kapiteln 5 und 6 konzentriert sich die Arbeit ausschließlich auf Gesprächssequenzen der Akteure. Zunächst stelle ich die einzelnen Personen jeweils vor (im Kapitel 5 die bulgarischen und im Kapitel 6 die mazedonischen) und verdeutliche kurz die Gesprächssituationen mit ihnen, bevor ich ihre Ausführungen vergleichend diskutiere. Ausgewählte Erzählungen habe ich einerseits vor dem Hintergrund der Diskussion Erdheims (1973) um die Prestigebegriffe »Virtù« und »Fortuna« und um jeweilige Zugänge zu Prestige und Macht auf bereitet dargestellt. Andererseits stehen die Meinungen u. a. über Strukturen und Funktionen von Roma- / Zigeunervertretungen im thematischen Vordergrund der verarbeiteten Sequenzen. Im Hinblick auf die Fragen, die ich in Kapitel 2 je kontextabhängig stelle, demonstrieren Kapitel 5 und 6 exemplarisch die Meinungs- und Blickwinkelvielfalt der Akteure, die bei ähnlichen Themen oder Fragen ganz unterschiedliche Reaktionen an den Tag legten. Da sich meine Gesprächspartner selbst jeweils entweder zur »alten« oder zur »jungen« Generation zählten, habe ich diese Unterteilung übernommen. Als Generationsgrenze hat sich das Jahr 1970 herauskristallisiert. Dem liegt auch die Überlegung zugrunde, dass die meisten der vor 1970 geborenen (»alten«) Akteure noch in der sogenannten sozialistischen (bzw. kommunistischen) Zeit, und die nach 1970 geborenen (»jungen«) erst nach den Umbrüchen von 1989 gesellschaftspolitisch aktiv waren. Wie sie im Einzelnen diese Unterteilung selbst begründen, ergibt sich aus den Gesprächssequenzen. Drei kleine Anekdoten, die ich während meiner Aufenthalte in Shutka in meinem Feldtagebuch verzeichnet habe, werden Teil II abschließen. Diese drei Be-

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gebenheiten sind nur vor dem mazedonischen Hintergrund zu verstehen. Zum einen zeige ich dort, wie sich mir die Bürgermeisterwahlen in Shutka 2009 darboten, und zum anderen, wie der neue Bürgermeister von Shutka versucht, den am Rande der Legalität betriebenen »Shutka-Taxis« Einhalt zu gebieten. Die letzte der drei Erzählungen zeigt, wie es ist, wenn ein Abgeordneter des mazedonischen Parlaments und gleichzeitiger Repräsentant »der Roma Mazedoniens« vor den Augen einer gesamten Nachbarschaft in Shutka den Feuerwehrleuten und Polizisten der Stadt mit Kündigung ihrer Jobs drohen kann, weil diese scheinbar nicht bereit waren, Brände auch von semi- oder illegaler Bausubstanz zu bekämpfen.

Teil III Kapitel 7 wird die Begriffe ›Werte‹ und ›Zugänge‹, wie sie in Teil II diskutiert worden sind, ein weiteres Mal aufnehmen. Dabei gehe ich speziell auf den Wert bzw. Zugang ein, der von vielen Projektmitteln gefördert wird und ihnen zufolge maßgeblich zu implementieren sei: Bildung. Ist der Wert / Zugang ›Bildung‹, so stelle ich abschließend die Frage, als ein neuer oder gar anderer Wert zu betrachten, der in der Prestigeskala und Werteordnung vieler Roma / Zigeuner bislang keine Rolle spielte? Kapitel 8 bietet eine zusammenfassende Betrachtung der Daten und schließt die Arbeit. Dort werde ich darlegen, dass die Vertreter der ›Roma- / Zigeuner­ elite‹ infolge meiner Argumentation einen ›Gürtel‹ bilden, der die von ihnen vertretenen Mitglieder der Minderheit virtuell umschließt und wie eine eigene Mediationszone zwischen Roma- / Zigeunergruppen und den Institutionen der Mehrheitsgesellschaften fungiert. Andererseits dient Kapitel 8 auch als Ausblick, in dem ich eine letzte weitere Lesart vorstellen werde, mit der sich meine Daten aussichtsreich analysieren lassen: durch einen um das Konzept der »Transdifferenz« (Lösch 2005) erweiterten Blick schienen sie mir verständlicher zu sein als nur durch die dualistische Brille ›Roma-Gadže‹ betrachtet. Dieses Konzept werde ich nutzen, um einige Begrifflichkeiten wie Mediation, Herkunft und Heimat zu diskutieren. Das Ende des Kapitels und damit dieser Arbeit ist einigen Akteurswünschen gewidmet, die deutlich die Zwiespältigkeit ihrer Positionen demonstrieren, die sie zwingt, sowohl politische Korrektheit im Sinne der Institutionen an den Tag zu legen als auch gleichzeitig darauf zu achten, ihrer ethnischen Zugehörigkeit nicht den Rücken zu kehren. Ihre Handlungen sind erklärlicherweise eingegangene Kompromisse zwischen dem Handeln im Sinne der verschiedenen Gruppen und dem Erfüllen der Erwartungen der Institutionen, die aufgrund ihrer Perspektive nur mit einer Romaschablone messen und auf den Modellzigeuner zurückgreifen wollen, die es jedoch beide nicht gibt. Die Handlungen meiner Protagonisten, die sich im erklärten Spannungsfeld zwischen Erwartungen und begrenzten Erfüllungsmöglichkeiten, zwischen den Welten der Mehrheiten und der Roma / Zigeuner bewegen, nehmen folglich grenzgängerhafte Formen an, wie es auch eine große Anzahl der Akteure

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ausdrückte. Sie stehen ihrer Meinung nach zwar auf den beiden Bühnen der Mehrheitsgesellschaft(en) und der Gruppen der Roma / Zigeuner, die sich gegenund miteinander, komplementär und divergent zugleich verhalten. Doch leben sie in der sie umgebenden, sie gleichzeitig abstoßenden und zum Teil bedingenden gleichen Welt, die aber nicht nur Verachtungen bereithält, sondern auch Nachbarschaften und Kooperativen, und die, wie ich argumentiere, aus mehr als nur zwei getrennten Bühnen besteht.

Teil I

»Grau, teurer Freund, ist alle Theorie ...« von G oethe , J ohann W.

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1  Die Forschung: Problemstellungen und Felder Bei einem meiner Aufenthalte in Sofia stellte mir ein durchaus weltoffener und reiseerfahrener deutscher Journalist folgende Frage: »Obwohl die Zigeuner mittlerweile sogar Abgeordnete in den nationalen Parlamenten haben, Ärzte, Anwälte, reiche Männer mit großen Häusern, eigenen Firmen oder gar Parteien, wie wir wissen, integrieren sie sich scheinbar dennoch nicht in die sie umgebenden Mehrheitsgesellschaften. Warum machen diese reichen und gebildeten Zigeuner, also ihre Elite, nichts gegen die Diskriminierung, die Armut und dagegen, dass die meisten Roma / Z igeuner ohne Bildung sind?«

Wenn mein Bekannter nur in den lokalen Medien nach Antworten gesucht hätte,1 wären diese wohl wie folgt – oder ähnlich – ausgefallen: Sollte es eine Roma- / Zigeunerelite geben, ist diese korrupt, zerstritten und egoistisch. Als die Gruppe von Fürsprechern oder gar als eine Interessenvertretung der Roma funktioniert sie nicht. Ergo: Sie hat keine Macht! Weder als Instrument für eine Integration »ihrer« Roma- / Zigeunergemeinschaften, noch als einheitliche 1 | Die Berichterstattung der Mehrheit der Fernsehsender in Bulgarien und Mazedonien ist beim Thema Roma / Z igeuner noch heute von Populismus geprägt (vgl. ERGO 2010 http://www.spolu.nl/ergo-network/news/000/112010/, vom 26.06.2011). Einer entsprechenden Erhebung bulgarischer Medieninhalte zwischen 1997 und 2000 zufolge ist das Bild der Roma / Z igeuner in den bulgarischen Medien das des Außenseiters, des »hardened criminal, liable to social control, dangerous, brutal and irrational, associated with other marginal figures, or the victim and naïve ›Other‹, who does not deserve any serious attention« (Georgieva 2005: 317). Ein Trend in Richtung »Selbstrepräsentation« in Roma- / Z igeunermedien zeichnet sich in den beiden Ländern spätestens seit ca. 2007 ab. Dieser macht sich mit einer steigenden Anzahl der Projektmittel bemerkbar, die seitdem zur Finanzierung von Roma-Medien eingesetzt wurden und häufig unter der Leitung von Rom oder Romni standen. Ob und inwieweit hier von einer Tendenz hin zur Auf lösung der negativen Stereotype und einseitigen Berichterstattung über Roma / Z igeuner in den Mehrheitsmedien gesprochen werden kann, bleibt abzuwarten.

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Gruppe von politischen (Minderheits-)Repräsentanten. Die neue Romaelite hat kein Prestige, denn sie wird weder von ihren Leuten als führendes Organ akzeptiert noch angenommen, obwohl oder teilweise sogar weil sie Bildung in großen Städten, außerhalb ihrer Gemeinschaft genossen haben. Die für diese (Aus-)Bildungen aufgebrachten Finanzen (beispielsweise die Stipendien der neuen und besser gebildeten Romaelite) stammen zum überwiegenden Teil von Sponsoren, NGOs oder sogar staatlich organisierten Förderprogrammen.2 Einer sozialen Verpflichtung, sich nach einer solch aufwendigen (Aus-)Bildung und Investition in eigene Lebenszeit in ›ihre‹ Roma- / Zigeunergemeinschaft zurückzubegeben, um dort die Programme der zahlenden Gadže-Institutionen zu implementieren, entbinden sie sich damit scheinbar selbst. Folglich entsprechen sie weder den Erwartungshaltungen dieser Finanziers, noch denen der eigenen (Groß-)Familien, z. B. wirtschaftliche oder monetäre Prosperität, bessere Bildung, bessere Gesundheitsfürsorge oder Arbeits- und Wohnbedingungen in ›ihre‹ Gruppen hineinzutragen. Sie können damit nicht als effizient gelten, weder als Vertreter auf politisch-institutioneller Ebene, noch als Verbesserer der Lebensbedingungen oder des Bildungsniveaus ›ihrer‹ Gruppe oder Gemeinschaft. Eventuelle Gespräche mit Menschen vor Ort, das Beobachten von Romni3, die Blumen, Zigaretten, Kleidung usw. auf den Märkten verkaufen, oder einiger Roma- / Zigeunerkinder auf den Plätzen der Großstädte würden diese und die folgenden stereotypen Meinungen, die vor Ort durch die Massenmedien kursieren, sogar noch bekräftigen: Dass Roma- / Zigeunergruppen sich nicht integrieren lassen wollen. Dass die alte und die neue Roma- / Zigeuner­elite nur das Geld der Gadže-Gesellschaften abgreifen will, um sich und ihre Familien zu bereichern. Dass Roma- / Zigeunerparteien, wie auch die Mitglieder ›ihrer‹ Elite selbst, untereinander zerstritten sind und dass folglich sowohl diese Parteien als auch deren führende Elite nicht funktionieren. Ähnlich war auch mein erstes Fazit, als sich mir die Frage nach der wirklichen Übernahme einer politischen Vertretung, der Repräsentation der Roma / Zigeuner, sowie der legitimierten Projektimplementationen durch die reichen und als mächtig und prestigeträchtig erscheinenden Roma / Zigeuner stellte. Auf die Schwierigkeiten und möglichen Konsequenzen einer Integration der Roma / Zigeuner nach dem Konzept einer offenen Gesellschaft habe ich bereits hingewiesen (vgl. Marx 2011) und damit eine immer nur bedingt mögliche Inklusion dieser ethnischen Minderheit in die jeweiligen Gadže-Gesellschaften hypothetisiert und postuliert. Doch genügte mir diese Antwort nicht mehr, nachdem ich täglich in 2 | Hier sei auf nur drei der Akteure verwiesen, die u. a. Stipendien über NGO-Bildungsprogramme bezogen haben: Elvis Faslioski, Elvis Bajram und Ajet Osmanovski (vgl. FOSIM 2004: 151; online: http://www.soros.org.mk/izvestai/Annual_report_2004 _ part_2.pdf, vom 18.02.2012, siehe u. a. Gheorghe / M irga 1997; Klímová 2002: 125; Nicolae / Slavik 2007: 2; Rorke 2007: 90). 3 | »Romni« steht im Romanes für »Frau«, im Sinne von »verheiratete Frau«. »Rom« bedeutet demnach »Mann«, im Sinne eines »verheirateten Mannes«.

1  Die Forschung: Problemstellungen und Felder

den Büros der NGOs, in den Mahallas4 und auf den unzähligen Sitzungen, Tagungen und Treffen der hier dargestellten Akteure vom Gegenteil überzeugt wurde. Dort fochten Sie mit lauter Stimme gegen Hunger, Armut, Diskriminierung, Ausgrenzung und Analphabetismus ihrer durch sie offiziell repräsentierten ›Gemeinschaft der Roma / Zigeuner‹. Von allen Akteuren dieser Arbeit darf ich daher und nach all der gemeinsam erlebten Zeit mit Fug und Recht behaupten, dass sie mit Herzblut und überzeugter Hingabe jene stereotypen Bilder bzw. Meinungen auf brechen wollen, um sie mit Hilfe einer Kommunikation der Realität(en) ihrer Gemeinschaft(en) in soziopolitischen Institutionen der Gadže zu widerlegen. Tägliche Parteitreffen, Ratsausschüsse in den vielen NGOs, Besuche bei Menschen in armen Gebieten vieler Roma- / Zigeunersiedlungen, sowohl offene Ohren für und beherzter Umgang mit den Problemen vor Ort, als auch mit jenen im Parlament, in den Schulen, in den Stadträten, den Polizeidienststellen etc. sind alltägliche Aufgaben, die die Kalender aller meiner Informanten füllten. Bei meinen Besuchen bei den Akteuren, deren Organisationen, ihrem familiären Umfeld oder in den Institutionen bekam ich zwar selbst keine Diskriminierung und keinen Rassismus ihnen gegenüber zu spüren – weder von ihren Gadže-Kollegen, noch von deren Vorgesetzten. Sie berichteten mir jedoch oft vom Gegenteil, wie ich noch zeigen werde. Denn im sonstigen Arbeitsalltag, auf der Straße, in Cafés oder Einkaufszentren sah ihre Realität anders aus. Gerade bei Bewerbungen um eine Position oder gar während ihrer Anstellungszeit in einer der Institutionen der Mehrheitsbevölkerung(en) waren sie häufig auf Vorurteile, Vorbehalte oder Mobbing aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit gestoßen. Bereits das erste Gespräch mit einem Roma-Vertreter und leitenden Mitarbeiter am OSI in Budapest, das ich im Jahr 2006 durchführte, eröffnete mir das Spannungsfeld, in dem der rumänische Roma-Aktivist seine alltägliche Arbeit verrichtete: Als ethnischer Rom aus Rumänien galt er in der ungarischen Mehrheitsbevölkerung Budapests nur als etwas, wenn er offen seine Position am OSI preisgab, nicht aber seine rumänische Nationalität, und erst recht nicht, wenn er diese gar öffentlich in Verbindung mit seiner ethnischen Zugehörigkeit brachte. Seine Position am OSI ist allerdings an jene Zugehörigkeit geknüpft. Er sah sich aufgrund dessen, wie auch alle anderen Informanten und Akteure vorliegender Arbeit, in einem permanenten sozial-hierarchisch geprägten Wechselbad. Dennoch versuchten sowohl er als auch alle Akteure dieser Studie, den verschiedenen Interessenseiten Ausgleich zu verschaffen. »Führer sind nicht gemacht, Führer werden geboren!«, behauptete mir gegenüber einer meiner Gesprächspartner, Shaban Saliu. Die Gegenfrage müsste also lauten: »Roma- / Zigeunerführer auch?« Wie können Menschen in diesem durchaus 4 | Als Mahalla (Nachbarschaft; Viertel) werden die von Roma /  Z igeunern bewohnten Stadtviertel benannt.

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spannungsgeladenen Antagonismus, von dem so viel abhängt, alltäglich leben? Muss man tatsächlich zum Roma- / Zigeunerführer bzw. -repräsentanten geboren sein, wie Shaban Saliu behauptete? Wenn diese Frage mit »ja« beantwortet werden müsste, würde dies von vornherein ausschließen, dass sich durch Bildungsmaßnahmen oder offenere Zugänge zu Bildungsprojekten eine Gruppe von Menschen initiieren lassen könnte, die dann als repräsentative Führungselite die Vielfalt der Roma / Zigeuner widerspiegeln würde. Die »Janusköpfigkeit« (Wolf 1956)5 war mir beim Betrachten der Rolle der Akteure geradezu ins Auge gefallen: Sie »leben wie in zwei Welten«6. Sie sind teilweise Ausgebettete ihrer Herkunftsgruppe und oft Unverstandene auf der Seite ›ihrer‹ Gemeinschaften. Sie gehören zwar – trotz ihrer teilweise langen Abwesenheit während ihrer Universitätsausbildung – noch immer in den sozialen Kreis ihrer (Groß-)Familie, jedoch nur noch bedingt und bruchstückhaft in den Alltagskreis der Gruppe oder Gemeinschaft. In ihrem Arbeitsalltag allerdings sprechen sie ›im Namen‹ jener Gruppen, ›ihrer‹ Gemeinschaft(en) oder gar im Namen ›der Roma‹.7 Sie selbst sind ethnisch Romni oder Rom, und aus der Perspektive der Institutionen werden sie selbstverständlich als Vertreter dieser Roma- / Zigeu5 | Wolf, E. (1956) bezeichnet jene Personen auch als »broker«, welche »must serve some of the interests of groups operating on both the community and the national level, and they must cope with the conf licts raised by the collision of these interests« und bezeichnet deren Position folglich als »Janus-like« (ebd.: 1076). 6 | Über 2/3 der Akteure äußerte mir gegenüber dieses Phänomen der »zwei Welten«, wenn sie über ihre Arbeitsinhalte in den NGO oder anderen Institutionen ref lektierten, und versuchten diese mit den alltäglichen Situationen zu Hause oder eben in den Mahallas zusammenzubringen. In den nächsten Kapiteln wird dies an verschiedenen Beispielen noch detaillierter gezeigt werden. 7 | Als ›Gruppe‹ bezeichne ich hier soziale Gebilde, deren Verwandtschaftsmuster primär konsanguin und / o der affinal sind. So können zum Bsp. Ğavutno-Roma /  -Zigeuner in Shutka grob als eine Gruppe gelten, aber auch die am selben Ort ansässigen Barudžija-Roma / -Zigeuner. Mehrere solche Gruppen können eine ›Gemeinschaft‹ bilden: beispielsweise die Gemeinschaft der Shutka-Roma /  -Zigeuner, die der Topaana-Roma / -Zigeuner oder die der Kovači-Roma / -Zigeuner. Wenn man auf der Ebene der Gruppen teilweise noch von relativer religiöser und /  o der dialektaler Homogenität unter den Mitgliedern ausgehen kann, so gilt auf der Ebene der Gemeinschaft eher die lokal geographische Verortung als das Gemeinsame. Und jenes Gemeinsame wird zumeist durch Mischehen der Gruppen untereinander verstärkt. »Denn«, so will ich mit Baumann (2001) hier unterstützend argumentieren, »keine Anhäufung von Menschen wird als Gemeinschaft erfahren, wenn sie nicht auf eng verknüpften Biographien und der Erwartung einer langfristigen regelmäßigen und intensiven Interaktion beruht« (ebd.: 61, m. H.), die sich aus der geographischen Nähe heraus rekrutieren. Dabei sei darauf hingewiesen, dass ein und derselbe Gruppen-Name als Bezeichnung für eine Gruppe oder Gemeinschaft von Roma /  Z igeunern unterschied-

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nergruppen oder -gemeinschaften verstanden. Sie stehen in der Öffentlichkeit, bekleiden Ämter, sind in verschiedenen Gemeinschaften Funktionsträger und werden als Kundige oder gar als Diplomaten einer ›Roma- / Zigeunergesellschaft‹ (vgl. Nicolae 2007) wahrgenommen. Damit sind sie Teilhaber einer gebildeten Minderheit, innerhalb der Minderheiten der Roma / Zigeuner als solche, deren berufliche Positionen sich zudem weit oberhalb der Durchschnittsbevölkerung ihrer Heimatländer befinden. Die meisten der Akteure besitzen eine Sozialisationserfahrung, die in vielen Aspekten eine andere ist als die der Mehrzahl der von ihnen vertretenen Anhänger bzw. Wähler. Was sie grundsätzlich an diese bindet, ist die (ethnische) Herkunft, also als Rom bzw. Romni geboren zu sein. Denn nach dem Nachweis ihrer Bildungserfolge war es, wie gesagt, jene ethnische Zugehörigkeit, die sie als das ausschlaggebende Faktum in gehobene Positionen gebracht hat. Die Frage, die sich mir also aufdrängte – und die ich hier diskutieren werde – ist die nach dem wirkenden Sein und Tun der alten und neuen Roma- / Zigeunerelite. Darüber hinaus verweisen fachliterarische Lücken mehrfach auf noch offene Forschungsgebiete und -fragen, die diese Minderheit betreffen. Welche davon für meine Forschung inspirierend waren, werde ich im Verlauf dieses Kapitels noch darlegen.

1.1  P roblemstellungen Seit 2005 stehen Bulgarien und Mazedonien auf der Liste derjenigen Länder, die sich auto-obligatorisch an der größten internationalen Agenda die Minderheit »der Roma« betreffend beteiligen: Der Decade of Roma Inclusion 2005–2015 8 (im Folgenden Dekade). Nach Meinung einiger meiner Informanten wurden zur Eröffnungsveranstaltung dieser Dekade fast ausschließlich junge Roma- / Zigeunervertreter eingeladen. Die Frage, warum nicht auch auf ältere Personen mit größerer Erfahrung und tieferem Einblick in diese Entwicklungsprozesse der Projekte zurückgegriffen wird, drängte sich mir ebenso auf wie auch die Neugier auf den Grund und den Inhalt des oben benannten »Zwei-Welten-Symptoms«. Denn viele meiner Informanten suchten diese »zwei Welten« im Grunde argumentativ zu betonen und im gleichen Moment aus der Welt schaffen zu wollen. Letzteres, um dem Dualismus »Roma-Gadže« und damit einem Hauptgrund der Diskriminierungen eine licher Herkunft auch unterschiedlich benutzt wird und je nach Blickwinkel teilweise sogar ganz verschiedene Gruppen bezeichnet (s. Kapitel 3 und Narratives Glossar). 8 | Ihre Teilnahme an dieser transnationalen Initiative haben am 02.02.2005 neun Länder unterzeichnet: Bulgarien, Kroatien, Mazedonien, Montenegro, Rumänien, Serbien, die Slowakische Republik, die Tschechische Republik und Ungarn (vgl. u. a. Králová 2005).

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Absage zu erteilen und Ersteres, um diesen Dualismus zur selben Zeit aufrecht zu erhalten. Denn wen galt es noch zu integrieren, wen zu bilden, wem die besseren Gesundheits- und Wohnbedingungen zur Verfügung zu stellen und wessen bedrohte Kultur zu schützen (bzw. zu fördern), wenn dieser Dualismus weder auf sozialem, noch auf einem ethnisch-kulturellen Anderssein beruhen würde? Obwohl viele Roma / Zigeuner zu den ärmsten Bevölkerungsteilen ihrer Heimatländer gehören, schienen weder der »Chef der Organisation« (in der Begebenheit, die in der Einleitung zu lesen war), noch meine Informanten so recht in diese (Armuts-)Kategorie zu passen. Mit finanziellen Mitteln, zum Teil recht großen Familiennetzwerken und prosperierendem Business ausgestattet, war der offensichtliche Gegensatz zur Roma- / Zigeunerbevölkerung in den mir bis dato bekannten Siedlungen zu groß. Und genau diese Bewohner, so proklamierten sie, würden sie politisch repräsentieren bzw. institutionell vertreten. Zum Teil des Romanes9 nicht einmal mächtig, stehen diese Akteure dennoch an der von Gadže-Institutionen unterstützten und erwarteten (Führungs-)Spitze »ihrer« ethnischen Minderheit, deren intrinsische Heterogenität 10 jedoch unzweifelhaft ist. Die Frage ihrer legitimierten Führerschaft ist daher virulent. Denn ohne eine wenngleich nur virtuell generierte Homogenität, die auf dem Ersten Roma-Weltkongress 1971 zumindest in symbolische Formen 11 gebannt wurde, würden die Positionen vieler meiner Informanten unerheblich werden. 9 | Im Folgenden werde ich für die dialektal heterogene Sprache vieler Roma- /  Z igeunergruppen den Begriff »Romanes« verwenden. Im Falle einer spezifischen Benennung eines oder mehrerer bestimmter Dialekte der romani čhib benutze ich die jeweiligen Einzelbegriffe der Dialekte. 10 | Folgende Nachweise stehen exemplarisch für solche Quellen, in denen Autoren ausdrücklich und auf unterschiedliche Art und Weise darauf hinweisen, dass Roma- / Z igeunergruppen auf den verschiedensten Ebenen als heterogen zu betrachten sind und sich daher jede, unter welchen Umständen auch immer proklamierte Homogenität (oder »Roma-Gesellschaft«) an der sozialen Wirklichkeit messen lassen muß: u. a. Gheorghe / A cton 1997; 2001: 55; Guy 2001: 5; Kaminski 1987: 329; Klimova 2005: 13; Kovats 2001a: 97; Marushiakova / Popov 1997: 54 f f., 1997a: 37, 2001b: 371; Novoselsky 2007: 144; Simmhandl 2009: 78; Stoyanovitch 1974: 103 in Grevemeyer 1998: 21; Streck 2008: 23 f f.; Szuhay 1995: 112; Willems 1995: 32; 1998: 18 f f.; Vassilev 2004: 42. 11 | Auf diesem Kongress wurden die Symbole und Farben der ›Roma-Flagge‹ festgelegt: Vor dem grünen Untergrund und dem blauen Himmel befindet sich ein rotes Wagenrad. Die Hymne »Gjelem, Gjelem« [romanes: Gegangen, Gegangen], die Festlegung des 8. April als des internationalen Tags der Roma und des gemeinsamen Mottos »Roma, Opre« [Roma, Auf !] stellen weitere symbolische Festlegungen dar. Zu den einzelnen Details der Roma-Welt-Kongresse siehe u. a. Acton /  K limova 2001: 158 in Guy 2001; Kenrick 1971: 107 f f.; Klimova 2005: 53 sowie Marushiakova /  Popov 2004a: 78 f f. Zur Geschichte und Handlungsstruktur der einzelnen Organisationen, die aus dem WRC (»World Roma Congress«) hervorgingen (wie die IRU) siehe u. a.

1  Die Forschung: Problemstellungen und Felder

1.1.1  Roma oder Zigeuner? Das Selbstverständnis einiger Akteure Um zu verstehen, was ›meine‹ Protagonisten über sich und ihre Herkunft erzählten, wollte ich von ihnen zuerst wissen, wer sie sind und bat sie, sich kurz vorzustellen. Dabei benutzten sie manchmal das Wort »Rom« bzw. »Romni« und manchmal eine Form des Wortes »Zigeuner« (also »tzigan« oder »Gypsy«). Daher drängte sich mir die Frage nach dem Inhalt auf, den die Wörter »Roma« und »Zigeuner« der Meinung der Akteure / Informanten nach tragen und was sie mit den jeweiligen Begriffen assoziierten. Um die Vielfältigkeit darzustellen, die sich bereits bei dieser Problemstellung ergibt, werden im Folgenden Sequenzen aus einigen Gesprächen der Akteure unkommentiert wiedergegeben. Dabei bestätigen sich die Sequenzen manchmal und widerlegen sich zum Teil auch gegenseitig. Dies geschieht jedoch nicht, um den Leser zu verwirren, sondern um ihm nahezubringen, dass bereits hier das Begriffsverständnis situations- und personenabhängig ist. Rom ist ein Mensch, der seinen eigenen ethnischen Hintergrund hat. ›Zigeuner‹ zu sagen ist eine Art negatives Wort. Aber wenn du es so sagst, dass du es positiv meinst, ist es okay! Andere sagen ›Zigeuner‹ oder ›Oh, der ist ja wie ein Zigeuner!‹ ... da wird aber oft ›tsigani‹ gesagt. Das heißt dann, dass es nicht so gut gemeint ist. Aber du kannst es so sagen. Ich fühle mich nicht schlechter. Aber wenn jemand sagt: ›Oh, die schmutzigen Zigeuner!‹, dann ist es schon provozierend. […] Roma? Rom ist ein Mensch, der seinen eigenen ethnischen Hintergrund hat. Ich identifiziere mich als Bulgaren, aber ich sage auch, dass ich Rom bin. Es ist nur ein anderer ethnischer Hintergrund, die Sprache, Kultur, Traditionen. […] Die meisten sehen mich und denken, ich sei Asiate. Meistens denken sie, ich käme aus Indien. Und wenn ich dann sage, dass ich Bulgare bin, sagen sie: ›Das kann nicht sein. Du bist kein Bulgare!‹ Und dann erkläre ich, dass ich Rom bin und so weiter. Ich sage: ›Wir sind aus Indien nach Osteuropa gekommen, im 10. Jahrhundert und seitdem leben wir hier. Wir wandern nicht mehr herum und wir haben uns angesiedelt. Wir haben einige Traditionen der Länder angenommen, in denen wir leben. Wir sind Teil der Nationen, in denen wir leben.‹ […] Ich bin Bulgare! […] Roma zu sein heißt, man sieht sich Schwierigkeiten gegenüber, weil man auch sichtbar ein Roma ist. Man sieht sich Diskriminierungen gegenüber, negativem Verhalten der Mehrheit und es ist ein wenig schwerer, ein eigenes Selbst zu entwickeln. Das ist es, Roma zu sein: Es geht dabei meistens um Negatives, nicht um Positives. […] Aber in anderen Ländern kann es schon sein, dass sie sagen: ›Ich bin Roma, wir haben unsere eigene Sprache, Traditionen‹. Aber auch sie werden mit diesen Problemen konfrontiert. Also denke ich, dass es für sie dasselbe bedeutet. Aber alle diese Dinge, die die Roma Vermeersch 2007 und Klimova 2005, in Verbindung mit dieser Arbeit siehe Kapitel 4 (Abschn. 4.4.5) S. 114 und Fn. 21.

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betreffen, die in der Gesellschaft präsent sind, werden ja auch durch die Medien gemacht. Alle Nicht-Roma kennen diese Stereotype und wenn die Leute aus der Gemeinschaft herausgehen, dann sind sie meistens nicht willkommen. Und ich denke, das stellt auch für alle anderen Roma ein Leiden dar.  Emil Metodiev Roma zu sein, das sind für mich die engen internen Beziehungen. Roma, Zigeuner zu sein, bedeutet für mich … es kommt nicht darauf an, ob es Gadže gibt oder nicht! Für mich ... nun, was heißt es denn, ein Deutscher zu sein? Brauchst du in Deutschland Türken, um zu sagen: ›Ich bin ein Deutscher‹? Nein! Das ist dasselbe. Wenn wir dann darüber sprechen, müssen wir uns fragen: Was sind die Elemente, die eine ethnische Gruppe ausmachen? Ich meine, es sind die Traditionen. Roma zu sein, das sind für mich die engen Beziehungen innerhalb der Familie, in der Gemeinschaft. Eng heißt da respektvoll. Ich hab das auch in anderen Gruppen sehen können. Nicht eine große Mehrheit zu sein, das ist für alle in der Familie so. Nicht als eine Erwartung! Das ist eine Regel, ein Gesetz. Ich bin nach Bulgarien zurückgekommen, weil hier meine Familie ist. Nach dem Tod meiner Schwester waren meine Eltern allein. Ich hab meinen Job aufgegeben und bin hierher gekommen. Ich weiß nicht, wie viele Nicht-Roma das machen würden. Vor allem, wenn es einen Superjob irgendwo im Ausland gibt. Das ist nur ein einfaches Beispiel für die alten Beziehungen, weil für uns die Familie an erster Stelle steht. Ein Rom zu sein, darauf bin ich stolz! Natürlich haben wir auch einige schlechte Seiten, aber es gibt etwas unter den Roma, das für jeden relevant ist. Die schlechten Sachen, das Stehlen oder die kriminellen Sachen, sind nur für einige Roma relevant ... aber für jeden spielt – unabhängig davon, ob man ein Krimineller in den Augen der Gadže ist – die Familie, die Großfamilie die erste Rolle. Dort bist du anders. Wenn du Rom bist, erwartet man von dir, den Nachbarn und den Verwandten zu helfen und du selbst kannst ihnen auch vertrauen. Das ist Teil des gemeinsamen Gesetzes. Ein ungeschriebenes Gesetz. Wenn du z. B. als mein Nachbar zu mir kommst, dann sollte ich dir etwas geben. Wann immer ich meine Eltern in Vidin anrufe, sitzen sie mit jemandem aus der Nachbarschaft zusammen, trinken Kaffee oder sie kommen einfach zu ihnen und fragen nach etwas, Salz oder was auch immer. Meine Mutter geht manchmal einfach in den Laden und kauft für ihre Nachbarn etwas, weil sie dringend etwas brauchen. Für mich ist das sehr gewöhnlich. Es spielt keine Rolle, ob du Kalderaš oder jemand anderes bist. […] Die Sprache ist etwas anderes. Wir haben verschiedene Dialekte. Wir haben zwar einiges gemeinsam, aber auch einige Verschiedenheiten. Da gibt es verschiedene Untergruppen, die sich sehr nah stehen, und da gibt es andere, die sehr weit voneinander und [deshalb] zu unterscheiden sind.  Toni Tashev

1  Die Forschung: Problemstellungen und Felder

Meine Familiengeschichte ist es, die mich zum Zigeuner, zum Rom macht. Ich identifiziere mich als Rom. Ich sage: ›Ja, ich bin Rom!‹ […] Meine Familiengeschichte ist [es], die mich zum Zigeuner, zum Rom macht, mein Vater, meine Mutter, mein Großvater und meine Großmutter, die Lieder meiner Großmutter und die Lieder meines Mahallas. Also die kulturellen Umgebungen. […] Ich weiß nicht, ob es zigeunerische Werte sind. Aber was für uns spezifisch ist ... (sucht nach einem Wort). Wir sind nicht grob, wenn jemand am Boden liegt. Wir versuchen Wege zu finden, ihm zu helfen. Wir Zigeuner wissen, was es heißt, ausgeschlossen zu sein und akzeptieren jemanden, der ausgeschlossen wurde. Und wir akzeptieren die anderen, speziell wenn jemand in einer sehr schwierigen Situation ist, werden ihn wahrscheinlich nur die Zigeuner akzeptieren. Wir sind so. Ich sage dazu, dass wir ›offene Herzen‹ haben. Vielleicht ist das aber auch universell, ich will es nicht nur den Zigeunern zuschreiben. Aber wenn Sie mich fragen, dann kann ich sagen, dass ich es so fühle. Das ist etwas, was wirklich unterschiedlich ist. […] Und auch die Art, wie wir unsere Kinder mögen. Wir wollen gute Leute sein und respektiert werden. Vielleicht, weil wir früher nicht respektiert worden sind. Daher sind wir dafür sehr sensibel. […] Wir wollen einfach ein Teil dieser Welt sein. [...] Das ist vielleicht auch ein Spezifikum, der Grund, nicht respektiert zu werden, keinen Respekt zu bekommen. Wir waren immer am untersten Level. Wir wollen innerhalb der Hierarchie sein, nicht außerhalb. Nicht auf den höchsten Rängen, aber eben im System. Wenn Sie sich die Geschichte anschauen, dann sehen Sie, dass wir immer irgendwie außerhalb standen. Zwar als Teil der Gesellschaft, aber auch außerhalb von ihr.  Rumyan Russionov Roma sein, das ist die ethnische Nationalität. Roma sein, das ist die ethnische Nationalität. Ich schäme mich nicht zu sagen, dass ich Rom bin. Ich bin stolz auf meine ethnische Zugehörigkeit. Ich liebe Bulgarien, ich fühle mich als Teil Bulgariens und ich bin auch Bulgare in meinem Herzen.  Stefan Kolev Ich habe drei, vier Bücher gelesen, nur um herauszufinden, wohin ich gehöre. In den frühen 1990er Jahren war ich ein wenig verwirrt wegen meiner Identität. Und ich habe drei, vier Bücher über Identität gelesen, nur um für mich herauszufinden, wohin ich gehöre. Das ist das eine. Das andere ist die Zugehörigkeit. Denn der Blick der Gadže auf die Roma ist ungefähr der: ›Wir sind die Mehrheit. Es gibt einige ethnische Gruppen, die Minderheiten sind und sie

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müssen zu uns kommen, um eine Einigung oder eine Übereinkunft zu erzielen!‹ Aber der Blick der Roma auf die Gadže ist: ›Wir sind Roma. Wir sind eine gemischte Gruppe, etc., du musst zu uns kommen und dich in unsere Welt integrieren!‹ […] Ich kann nicht sagen, dass es da sehr große Unterschiede zwischen ethnischen Gruppen gibt. Es gibt viel größere Unterschiede zwischen Individuen in den ethnischen Gruppen selber. Und nicht nur eben der Gadže. Denn das größte Stereotyp gegenüber den Roma ist die Hautfarbe, die Farbe der Roma. Zum Beispiel ich und Ajet [Osmanovski], Elvis [Faslioski] und viele andere Roma haben diese Farbe nicht!  Azdrijan Memedov Und ganz Mazedonien weiß, dass das Gadže-Feste sind. Typisch für Roma ist unsere Tradition. Da wird dir jeder das Gleiche sagen. Unsere Hochzeiten. Wir haben diese Vasilitza-Feier, den Gjurgjov-Den. Es ist Jahre her, seitdem man das feiert, und ganz Mazedonien weiß, dass das eigentlich Gadže-Feste sind. Aber das machten schon unsere Ur- und Ur-Urgroßväter. Also ganz typisch für Roma sind diese Hochzeiten im Sommer, überall. In Deutschland auch. Also das ist typisch für mazedonische Roma. Für Serbien [gilt das] auch, kann ich sagen, und für Kroatien auch. Serbien und Mazedonien haben überhaupt sehr ähnliche Feste. Also was noch für Roma typisch ist, ist ja, das kann ich jetzt nicht [laut] sagen, denn das hört sich schlecht an: Dreck und diese Häuser. Dieser ganze Müll. Da wo Roma leben, gibt es immer sehr viel Müll und Kinder, [die] nicht angezogen [sind], [die] auf der Straße laufen. Das ist kein schönes Bild für die Roma.  Duduš Kurto Wenn du all das besitzt, bist du Rom. Rom als Rom sollte zunächst einmal seine Muttersprache sprechen können, um seine eigene Identität als Rom zu haben. Und die Identität, die Musik, also Kultur und Sport, seine eigenen Traditionen und Gebräuche zu haben und natürlich auch die eigene Flagge! Wenn du all das besitzt, bist du Rom. Und das hängt nicht davon ab, ob du eine religiöse Person bist oder ein Politiker.  Branislav Petrovski Ich weiß nicht, wie ein Roma aussieht: Musst du dazu schwarz sein, oder was? Heute z. B. habe ich immer noch Freunde von der Highschool. Sie sind Mazedonen, Albaner, Türken. Das war auch die erste Zeit, in der ich wirklich Roma getroffen habe. Bis dahin hatte ich keinen Kontakt mit Roma in meinem Alter […], also bis zum ersten Jahr meiner Secondary-School Phase. Und weißt du,

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ich fühlte mich wie verloren in diesem Kreis, mit Roma. Weil ich auch nicht auf Romanes gesprochen habe. Zu Hause haben wir natürlich Romanes gesprochen, aber ich hatte niemals Freunde aus einer Romagemeinschaft. Es war eine neue Erfahrung für mich: Ich habe dadurch gelernt, ein Roma zu sein, mit meinen Freunden. Sie nannten mich ›den Gadžo‹, weil ich nicht so aus­ sehe wie ein Roma, sagten sie, aber für mich ist es nicht wichtig. Und ich weiß nicht, wie ein Roma aussieht: Musst du dazu schwarz sein, oder was? Das ist dumm in meinen Augen! […] Und dann, als ich in der Secondary-School war, war ich in dem ersten Romafernsehsender BTR*. Ich hatte dort meine Show. […] Ja, ich war ungefähr 14 [Jahre alt], also 1998. Und alle Roma aus den Gemeinschaften, wenn sie mich gesehen haben, sagten: ›Schau mal, der Typ aus dem Fernsehen!‹ Und ab dann war es okay, denn jetzt kannten sie mich und wussten, dass ich ein Roma bin.  Ajet Osmanovski * | BTR ist einer der derzeit zwei bestehenden Fernsehsender in Shutka (Skopje, MZD).

Diese kleine Sequenzauswahl ist exemplarisch für die verschiedenen Akteursverortungen der beiden Begriffe. Der folgende Abschnitt soll nun den Fokus auf das Untersuchungsfeld richten, in dem ich meine Daten aufgenommen habe. Damit sind sowohl die geographischen Abgrenzungen gemeint, als auch das Problem einer Bestimmung des Feldes der ›Roma- / Zigeunerelite‹ vor dem Hintergrund meiner Daten.

1.2  F orschungsfelder 1.2.1  Geographische Abgrenzungen und Dimensionen des Feldes Die zwei Nachbarländer Mazedonien und Bulgarien eint nicht nur ihre zentrale geographische Lage auf der Balkanhalbinsel; auch ihre neuerlichen Beitrittsabsichten in die EU und gemeinsame historische Erfahrungen, die länger als die ebenso in beiden Ländern erlebte sozialistische Ära zurückreichen, lassen sie einander ähnlich erscheinen. Ihnen ist also nicht nur die postsozialistische Situation gemein, sondern auch die ca. fünf Jahrhunderte andauernde osmanische Herrschaft. Wenngleich die meisten der bulgarischen Informanten Letztere als Repressalie auffassten, so betrachtet eine große Mehrheit der mazedonischen Akteure jene osmanische Zeit eher als historische Ressource und steht ihr daher eher positiv gegenüber.12 Für beide Länder trifft ebenso zu, dass sie eine ethnisch stark heterogene Bevölkerung beheimaten, doch jeweils mit anteilig unterschiedlichen 12 | Zur historischen Betrachtung der Länder als Untersuchungsfelder siehe Kapitel 4.

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ethnischen Gemeinschaften. Als darin einbezogen möchte ich auch die mehrfach nachgewiesene Heterogenität der verschiedenen Roma- / Zigeunergruppen in den Ländern verstehen – beginnend bei dem relativen Anteil der Roma / Zigeuner an der Gesamtbevölkerung und endend mit ihrer örtlich spezifischen Zusammensetzung, wobei sowohl die Siedlungs- und Wohnformen erhebliche Unterschiede aufweisen als auch deren Besiedlungsgeschichten und eben jene innerethnischen Stratifikationen. So beträgt beispielsweise der relative Anteil der Roma- / Zigeunerbevölkerung an der Gesamtbevölkerung Bulgariens ca. 10% und in Mazedonien 3%.13 Anstelle einer genauen Zahl und Größe der Roma- / Zigeunerbevölkerungen sind für meine Betrachtungen vordergründig die spezifischen Konstellationen der einzelnen Gruppen untereinander von Relevanz. Wie groß die Roma- / Zigeunerbevölkerung in den einzelnen Ländern tatsächlich ist, darüber lässt sich vermutlich weiterhin nur spekulieren. Denn viele geben ihre ethnische Zugehörigkeit nicht öffentlich (z. B. bei der Ausstellung von Personaldokumenten) an. Geographisch erstreckt sich das für die vorliegende Studie umrissene Gebiet grob vom Ochrid-See im Südosten Mazedoniens bis hin zum Schwarzen Meer im Südwesten Bulgariens. Die Donau, in ihrem Verlauf entlang der bulgarischrumänischen Grenze, stellt die nördliche Grenze des Untersuchungsgebiets dar. Die Orte, in denen meine Informanten zu der Zeit meiner Besuche tätig waren, unterscheiden sich teilweise maßgeblich von ihren Geburtsregionen oder temporären (bzw. permanenten) Wohn- bzw. Aufenthaltsorten, wie anhand der Akteurstabelle ersichtlich wird. Teilweise arbeiten und leben sie allerdings auch in ihren Herkunftsorten. Welche Rolle der Herkunft als solche und der letztendlichen Wirkungsstätte der Akteure zukommt, werde ich anhand einiger Beispiele kontextuell beschreiben. In Bulgarien sind neben Lom mit seinen vier Roma- / Zigeunermahallas Stadiona, Mladenovo, Humata und Momin Brod die Sofioter Roma- / Zigeunermahalla Fakultäta Orte, in denen Akteure tätig sind und teilweise auch leben. Sofia als Hauptstadt und Sitz der Ministerien, Bildungs- und Integrationsinstitutionen 13 | Zwar zeigte die Quellenlage der frühen 1990er Jahre eine deutlich kleinere Zahl (relativ und absolut) der Roma / Z igeuner in den jeweiligen ost- und südosteuropäischen Ländern. Doch wurde diese bis heute teilweise drastisch nach oben korrigiert. Zum Beispiel eröffnet Grevemeyer (1998) eine Einsicht in die Zahlen für Bulgarien für 1989, wonach der Stand für Mai desselben Jahres weniger als 600.000 Roma /  Z igeuner zeigt (Grevemeyer 1998: 191). Der Ungar László Andor, 2010–2014 EU-Kommissar für »employment, social affairs and inclusion« in José Manuel Barrosos EUKommission, spricht heute von mehr als 700.000 Roma /  Z igeunern in Bulgarien (Andor 2011). Allgemein sind die offiziellen Zahlen der Roma- /  Z igeunerbevölkerungen verschiedener ost- und südosteuropäischer Länder stückweise denen angepasst worden, welche von verschiedenen Seiten (wissenschaftlichen als auch aktivistischen) als »geschätzte« Zahlen innerhalb ihrer Erhebungsländer verhandelt wurden.

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ist, ebenso wie Skopje als mazedonische Hauptstadt, für meine Informanten als Dreh- und Angelpunkt politischer Prozesse und Entscheidungen prädestiniert. Shutka als halbautonomer Stadtbezirk Skopjes und als einzige größtenteils von Roma / Zigeunern selbstverwaltete und -regierte politische Einheit 14 stellt in vielerlei Hinsicht eine Ausnahme dar, denn es handelt sich um einen Teil Skopjes, der mit eigenem Bürgermeister,15 einem Zentrum (Corso), einem Markt (bzw. verschiedenen Märkten und Marktplätzen), Moscheen und Schulen ausgestattet ist. Obschon Shutka als absoluter Ausnahmefall gelten muss, vereint es in sich doch letztlich viele strukturelle Eigenheiten, die andere Roma- / Zigeunermahallas ebenso, in stärkerer oder schwächerer Ausprägung, aufzeigen. In Verbindung mit seiner multiethnischen Gemengelage kann Shutka allerdings nur z. T. als stellvertretend für andere Siedlungsbeispiele stehen, die außer Roma / Zigeunern auch anderen ethnischen Gruppen ein Zuhause sind. Einige der leitenden Roma- / Zigeunereliten Shutkas stammen selbst nicht aus dem Stadtteil, sondern beispielsweise aus anderen Stadtgebieten Skopjes, wie Topaana, Topaansko Pole oder Chair. Tetovo und Kumanovo, die zwei weiteren mazedonischen Städte, in denen ich Daten erhob, waren Sitz und Aktionsgebiet zweier äußerst interessanter Akteursbeispiele: Ashmet Elesovski und Nadir Redzepi. Ihre Perspektiven besitzen insofern Relevanz, als beide Akteure nach der Datenerhebung den Karriereweg von der (trans-)lokalen Akteursebene hin zur internationalen Ebene gegangen sind und dort Positionen bekleiden, die mit größerer Verantwortung ausgestattet sind.16 Dass die Heterogenität der verschiedenen Roma- / Zigeunergruppen eine ebenso stark heterogene Landschaft an Roma- / Zigeunerführern und -vertretern hervorgebracht hat, steht hier außer Frage. Wie sich allerdings der Begriff »Roma- / Zigeunerelite« für diese Dissertation erfassen lässt, wird der folgende Abschnitt klären.

14 | Zur Zeit der Datenerhebung waren die Roma- / Z igeunerparteien in Shutka eine Koalition mit ethnischen Albanern, die von den ortsansässigen Roma /  Z igeunern »Chibani« genannt werden, und mit ethnischen Mazedonen, den Gadže, eingegangen. Zu weiteren Einzelheiten siehe Kapitel 6 und »Feldtagebuch Shutka«. 15 | Als »Obschtina s Kmet / O бщинa c кмет« wird ein eigenständiger Verwaltungsbezirk mit Bürgermeister (кмет) und Rat des Verwaltungsbezirks (Gemeinderat) bezeichnet. 16 | So wurde Nadir Redzepi nach Budapest an den vormals als Schweizer Stiftung gegründeten REF berufen, um dort fortan die Stelle als »project manager at Local Government Initiatives« auszufüllen. Das REF wurde im Februar 2006 auch als ungarische Stiftung registriert (vgl. http://www.romaeducationfund.hu/ref-boardswiss-foundation und http://www.romaeducationfund.hu/history-ref, vom 02.02. 2012). Ashmet Elesovski wurde 2009 zum Sekretär des ERTF nach Brüssel berufen (s. Abschn. 6.7.1).

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1.2.2 Wer oder was ist eine »Roma- / Zigeunerelite«? Versuch einer begrifflichen Näherung »The identification of ›elites‹ is of course a contextual issue«, erfahren wir beispielsweise in Harveys (2002: 74) anthropologischer Betrachtung von MestizoHändlern, die die staatlichen Institutionen in ländlichen Gebieten der Südanden kontrollieren. Bezüglich der beiden Herausgeber des Sammelbandes »Elite Cultures« (2002), Chris Shore und Stephen Nugent, notiert Harvey weiter: »Chris Shore und Stephen Nugent invited us to think with the idea of elites as those who, collectively, occupy the most influential positions or rules in the governing institutions of a ›community‹, the leaders, ruler and decision-makers.« (Ebd.: 74)

Wie würde die Antwort lauten, fragt man nun aber die Akteure nach der »Roma- / Zigeunerelite«, also danach, ob es eine solche gäbe und wer sie denn sei? Mir gegenüber stellten sie die Existenz einer derartigen Elite deutlich infrage, wie noch an vielen Aussagebeispielen bestätigt werden wird. Zudem variierte ihr Verständnis des Terminus‹ »Roma- / Zigeunerelite« stark: Einige der Akteure assoziierten mit diesem Begriff eher Individualpersonen. Andere verstanden darunter besondere Roma- / Zigeunergruppen und -gemeinschaften, weil diese sich auf einer oberen Ebene, der Ebene einer Elite der Roma- / Zigeunergruppen befänden. Um ein vorzeitiges Ende dieser Untersuchung aufgrund der Meinungsvielfalt der Akteure zu umschiffen, galt es meinerseits eine eigene Festschreibung zu finden, mit der ich mich Harveys Vorschlag anschließe. Der Begriff »Roma- / Zigeunereliten« vereint hier folgende, von den Akteuren mehr oder minder stark betonte bzw. als vordergründig bezeichnete Punkte: (1) Die Selbstbezeichnung und Selbstzuschreibung, Rom oder Romni zu sein, die alle verständlicherweise unverhüllt und sogar oft mit unterstrichenem Stolz zum Ausdruck brachten. In verschiedener Weise werden (2) alle Akteure von den Mitgliedern ihrer Gruppe oder Gemeinschaft als »lideri« (engl. leader), also »Führer«, »Vertreter«, »Vorbild«, »Modell«, »Mediator«, »Repräsentant« o. ä. bezeichnet und meist bezeichnen sie sich auch selbst als solche. Sie heben sich (3) in besonderer Weise durch bestimmte Fähigkeiten, Fertigkeiten oder Zugänge (z. B. zu Bildung oder zu Projektmitteln) vom Durchschnitt der Mitglieder ihrer Gruppe ab. Der soziale Ausschluss – im Sinne einer sukzessiven sozialen Ausbettung aus ihren lokalen Gemeinschaften während der (Aus-)Bildungsphasen – ist für viele der Akteure erlebte Realität. Kontakte und Fähigkeiten (hier auch als Zugänge zu Prestige verstanden) werden vielfach als eine Kompensation für diese Ausbettung gesehen und von den Akteuren zielgerichtet eingesetzt. Denn durch all ihre öffentlichen Aktionen – und das eint die Akteure letztendlich ebenso – senden sie (4) u. a. vermittels jener Zugänge häufig unverhüllt und deutlich das Signal an ihre Außenwelt, einen bedeutenden und bestimmten Status bzw. Ansehen innerhalb der Roma- / Zigeunergruppe oder -gemeinschaft und (5) ebenso

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ein Amt (Position, Stellung etc.) in den Institutionen der Mehrheitsgesellschaft(en) innezuhaben. Das Spektrum der bekleideten Ämter reicht dabei von der priesterlichen Leitung einer kleinen lokalen Roma- / Zigeunergemeinde über die einer NGO bis hin zum Abgeordnetenstatus in Stadt-, Bezirks- und / oder Nationalparlamenten. Oftmals bekleideten die Akteure gleichzeitig mehrere Ämter, wie folgendes Beispiel verdeutlicht: Amdi Bajram ist Abgeordneter im Parlament Mazedoniens und Chef der Romapartei CRM. Gleichzeitig ist er als Immobilienbesitzer, Händler und ehemaliger Fabrikant auch eine Person, die sich selbst vor seinen parlamentarischen Kollegen vordergründig als Geschäftsmann und nicht als Politiker ausgibt. Amdi Bajram war vor und nach mehrjähriger Strafverbüßung aufgrund von Etikettenschwindel und Steuerhinterziehung in allen diesen vorgenannten Bereichen aktiv. Zudem stellte er mir gegenüber seine Familie als ebenso relevant dar, wobei er auf deren Größe verwies, die im Vergleich zu Familien anderer Abgeordneter des Parlaments von Mazedonien beachtlich sei, und die für ihn als Rom Reichtum bedeute. Die meisten Roma / Zigeuner, die eher als durchschnittlich gelten können, antworteten auf meine Frage, woran man Roma- / Zigeunerführer (lideri) oder große Männer (Baro Rom) erkennen könne, dass die meisten eher reiche, also erwerbspotente Geschäftsmänner seien, Politiker, die ihrer Meinung nach »den Roma« dienen. Mit welchen Handlungen als vertrauensbildende Maßnahmen diese Personen im Einzelnen in Aktion treten, wird beispielsweise anhand von Liliyana Kovatcheva, Emil Metodiev, Mihail Georgiev, Nikolay Kirilov und Alvin Salimovski detailliert gezeigt werden. »Wo soll ich beginnen? Bei meiner Großmutter?«, fragte mich Mihail Georgiev in einem unserer ersten Treffen auf meine Frage nach seiner Herkunft. Implizit könnte seine Rückfrage aber auch folgendermaßen verstanden werden: Wie weit ist es notwendig, die Zeitlichkeit von komplexen Dynamiken im Kontext des hier beleuchteten Themas mit einzubinden, um damit das Komplexe zu begrenzen? Meine Antwort ist folgende: Sämtliche in den vielen Berichten, Anekdoten oder Erzählungen meiner Informanten erwähnten Familienmitglieder haben frühestens während der letzten Jahrzehnte der osmanischen Herrschaft im Untersuchungsgebiet gelebt oder wurden zu jener Zeit geboren. Und genau dort setze ich die zeitliche Grenze in der analytischen Dimension der Daten an: am Übergang des 19. zum 20. Jahrhundert, der das untersuchte Gebiet historisch tief geprägt hat, wovon das Kapitel zur Geschichte des Gebiets einen Eindruck vermittelt. Die Relevanz vieler aktueller Ereignisse, in die meine Informanten weit über den Zeitpunkt des Verfassens dieser Arbeit hinaus involviert sind, lässt diese Dissertation als teilweise überholt erscheinen. Eine Eingrenzung hinsichtlich der Einbeziehung von aktuellen Daten der Akteure war daher zwingend notwendig; diese Zäsur stellt das Jahr 2010 dar. Welche Vorüberlegungen und Fragen sich mir zum Thema stellten, bevor die eigentliche Feldforschung beginnen konnte, soll der nächste Abschnitt zeigen.

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2 Die Feldforschung: Ansätze, Zugänge, Fragen und Datenerhebung

»Dein Thema ist nicht durchführbar!« oder »Du stellst die falschen Fragen!« So oder ähnlich waren die Reaktionen meiner potentiellen Informanten, wenn ich ihnen anfänglich meine Themenstellung darlegte: Ausgehend von der gegenseitigen Anerkennung und sogar Betonung der sozialen Grenze zwischen Roma / Zigeunern und den Gadže – die die Mitglieder beider Seiten unwiderruflich und für jeden wahrnehmbar kommunizieren – stand für mich anfänglich die Frage nach einer ›Differenz zwischen den jeweiligen Prestigeskalen‹ auf dem ›Forschungswunschzettel‹. Denn wenn verschiedene Prestigeskalen zwischen Roma- / Zigeunergruppen und den Gadže existierten, würde sich auch ein jeweils spezifisches Prestigeprofil dieser Skala ableiten lassen. Anhand dessen wären wesentliche Eigenheiten auszumachen, die die jeweilige Skala dann als ›spezifische Prestigeskala‹ der Gadže oder der Roma / Zigeuner ausweisen würde, denn sie würden folglich aus unterschiedlichen Werten zusammengesetzt sein. Sollten solche Differenzen grundsätzlicher Art tatsächlich bestehen, würde das als eine Teilantwort auf die Frage nach den »lacks and gaps« vieler Integrationsbemühungen gelten können. Wie bereits angedeutet, beschränken sich diese Integrationsbemühungen seitens der Gadže-Institutionen seit geraumer Zeit auf die Intensivierung der schulischen Bildung, der Verbesserung der Gesundheits- und Wohnsituation oder auf den Zugang zum Arbeitsmarkt. Im Hinblick auf bisherige und immer wieder vergleichbare Maßnahmen sind diese vier Hauptschwerpunkte ihrer Herkunft nach – und der Argumentationslogik der Institutionen folgend – ›Gadže-Werte‹, die sich dann als nur bedingt in die andere Prestigeskala übersetzbar erweisen würden. Ihre Integrierbarkeit in ein Wertesystem von Roma- / Zigeunergruppen wäre daher nur selektiv und äußerst unvollständig möglich. Die mir gegenüber immer wieder herausgestellte und hier wiederholt angeführte Meinung, dass die Akteure »wie in zwei Welten leben« müssten, um Roma- / Zigeunervertreter in Gadže-Institutionen zu sein, veranlasste mich, dieses Phänomen in Verbindung mit den angenommenen Prestigesskalendifferenzen genauer unter die Lupe zu nehmen und daher Antworten auf Fragen wie die folgenden zu suchen:

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• Was sind der Meinung der Akteure nach spezifische Roma- / Zigeunerwerte und was sind ihrer Meinung nach dann spezielle Gadže-Werte? • Welche Stellung kommt dabei der (schulischen) Bildung als Wert zu? • Inwieweit sind die Akteure mit den ›Roma- / Zigeunerspezifika‹ ihrer Gruppe oder Gemeinschaft vertraut und binden diese in Alltag und Handlungen mit ein? • Welche Relevanz schreiben die Akteure den traditionellen Werten ihrer Gruppe und Gemeinschaft zu (beispielsweise den tradierten Heiratsbräuchen, den Endogamieregeln oder den oft als ethnospezifisch bezeichneten Familienstrukturen)? Wenn sich also jener Wertantagonismus als abbildbar erweisen würde, dann folglich auch das Translationspotential dieser Werte, womit gemeint ist, dass diese Werte in die ihnen jeweils gegenüberliegenden Ebenen der ›anderen‹ Prestige­ skala kontextuell relevant übersetzbar sind. Das wiederum würde bedeuten, dass so etwas wie eine Dekontextualisierung dieser Werte stattfinden müsste, bevor sie sich, rekontextualisiert, als integrierbar oder zumindest in der anderen Skala als verhandelbar erweisen. Folglich würde eine Einschränkung der dafür notwendigen Translationsleistung (sozial, institutionell oder biographisch begründet) die Stellung der Akteure erheblich begrenzen. Das Prestige der Akteure – soviel sei bereits hier vorweggenommen – wird durch unterschiedliche (Über-)Betonungen gesteigert: Je nach Kontext und Publikum wird mal das umfängliche Wissen in den Vordergrund gerückt, mal der Zugang zu speziellen und gefragten Fertigkeiten unterstrichen oder der Zugang zu bestimmten Personen herausgestellt. Beim Vergleich der Prestigeskalen der Gadže- und der Roma- / Zigeunerbevölkerung wird schließlich kein Wertunterschied zu erkennen sein, sondern eine Differenz in der situativen Potenz (bzw. Potenzierung oder Betonung) der einzelnen Werte im Profil der Skalen selbst. Und dieser Unterschied sorgt für die situational evozierten sozialen Hierarchien zwischen ihnen oder, bei einer historisch konstant gebliebenen Differenz der Werthervorhebungen (Wertpotenzierungen), für die Bestätigung der bereits bestehenden sozialen Hierarchien. Oberflächlich betrachtet, könnten letztere hierarchische Konstellationen dann als grenzbestätigende Konstellationen gelten. Den hier als Gedankenmodelle zu verstehenden Skalen liegen meines Erachtens allerdings die gleichen Werte zu Grunde. Ihre Unterschiedlichkeit besteht lediglich in verschiedenen und jeweils situativ betonten oder gar überbetonten Elementen (oder Wertigkeiten) und kann durch die Akteure, ihre Aktionen und ihre sozialen Positionen in den verschiedenen Gesellschaftshierarchien situativ unterschiedlich verhandelt werden.

2  Die Feldforschung: Ansät ze, Zugänge, Fragen und Datenerhebung

2.1 R oma -E liten und die biogr aphische H erkunft Zur Suche nach einem spezifischen Roma- / Zigeunerprestige gesellte sich die Frage nach der Anerziehung, also Sozialisation (bzw. Individuation) und (edukativer) Vermittlung jener Werte in den Skalen selbst, bzw. der Zugänge zu diesen Werten. Doch im Zusammenhang mit dem Postulieren einer Roma- / Zigeuner­ elite und der Suche nach Gründen ihrer scheinbaren Ineffizienz als Roma- / Zigeunervertreter eröffnete sich mir ein Fragenkatalog, der sich nicht mehr nur auf einen Zusammenhang zwischen (Sozial-)Prestige und einer eventuell daraus herauszulesenden Qualität des Repräsentanten der Roma beschränken ließ. Die weiteren Fragen richten sich folglich auch auf das Zusammenspiel der Dreierbeziehung zwischen dem ethnospezifischen Sozialisationsraum der Akteure, ihrer kontemporären Stellung als Akteure und der Autoperzeption ihrer Person. Mit anderen Worten: • Worin besteht der Unterschied zu den Lebensläufen anderer Mitglieder ihrer Gemeinschaften, mit denen sie aufgewachsen sind? • Können aufgrund einer Nebeneinander- oder Gegenüberstellung von ethnospezifisch auf bereiteten Lebensgeschichten Rückschlüsse auf ihren Zugang zu Macht, Prestige, Vertrauen etc. gezogen werden? • Warum sind sie es, die zu Vertretern oder Führern einer oder mehrerer Roma- / Zigeunergemeinschaften gemacht worden sind bzw. sich selbst in diese Positionen begeben haben? • Ist derjenige, der das meiste Prestige hat, auch der beste Repräsentant, und hat er damit auch die besten Führungsqualitäten? • Sind diejenigen Personen in den Ämtern der Gadže-Institutionen dadurch die legitimen Vertreter der Roma- / Zigeunergruppen oder -gemeinschaften? Daraus wiederum ergibt sich konsequenterweise die Notwendigkeit einer Diskussion um das Verhältnis zwischen Macht und Prestige innerhalb der verschiedenen Roma- / Zigeunergruppen und -gemeinschaften, unter besonderer Zuhilfenahme der Meinungen der Akteure. Doch auch bezüglich der GadžeInstitutionen ist eine Betrachtung der Daten im historischen Kontext sinnvoll. Denn Veränderungen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene (beispielsweise Wechsel von Herrschafts- und / oder Gesellschaftsformen und -normen) stehen im direkten Zusammenhang mit mikrosozialen Dynamiken und wirken sich auf die lokale Ebene aus. Wenn sich beispielsweise Erwartungshorizonte auf Seiten der Institutionen gegenüber Roma- / Zigeunergruppen bzw. deren Vertretern veränderten, so änderten sich auch – jedoch, wie ich zeigen werde, zeitversetzt – die bislang zur Verfügung stehenden Erfüllungs- oder Entsprechungsstrategien auf anderer Seite. Diese Veränderungen werden von Mitgliedern verschiedener Roma- / Zigeunergruppen oft nur fragmentarisch und selektiv in die Sozialisation der Nachgenerationen einbezogen, ein Zeichen dafür, dass die Sozialisation

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dadurch häufig hybrider und elastischer im Vergleich mit der Mehrheitsbevölkerung erscheint. Diese elastisch erscheinenden Anpassungsmuster, oder eben die Muster der Abgrenzung zwischen ethnisch unterschiedlichen Gruppen – wie in diesem Fall die der Gadže und der Roma / Zigeuner –, sind beim Prozess der Bildung einer ›Intellegentia‹ oder ›Elite‹ der Minderheit klar erkennbar ausgeprägt. Denn schließlich handelt es sich um eine Minderheit, die einen Teil ihrer ethnischen Entität gerade daraus konstruiert, eben nicht vollständig Glied der sie umgebenden Mehrheitsgesellschaft zu sein. Ein einfacher Dualismus ›Gadže–Roma / Zigeuner‹ allerdings würde voraussetzen, dass beide Pole in ihrem Inneren durch eine relative Homogenität gekennzeichnet sind. Da dem mitnichten so ist, positionieren und hierarchisieren sich ihre sozialen Segmente sehr unterschiedlich zueinander. Daher ist die Identität der Roma- / Zigeunereliten, wie dargelegt wird, mehr als nur die Summe aus ihren Zugehörigkeiten und deren anerzogenem Deutungskonzept. Auf der zur Deutungselite geronnenen Gruppe der Akteure lasten folglich mindestens zwei Erwartungsfelder, denen sie als Zugang und Quelle zur Verfügung stehen. Wie bereits gezeigt, sollen sie die Ansprechpartner für GadžeInstitutionen sein, wenn es sich um deren Werteimplementierung handelt. Infolge dieser Stellung können sie für ihre Familien- oder Gruppenmitglieder als Zugang und Quelle zu jenen Institutionen und deren Ressourcen betrachtet werden. Wie also bedienen die Akteure die verschiedenen Ebenen und wie werden sie gleichzeitig den jeweiligen Erwartungen gerecht?

2.2 D ie A k teure als kritische L eser : Ü ber F reundschaften , V ertr auen und R eziprozität »Endlich kommt jemand aus der wissenschaftlichen Welt und will über uns schreiben.« E lvis B ajram »Sie gehen nach Deutschland, schreiben Ihre Doktorarbeit und dann verdienen Sie viel Geld. Und das alles, weil wir Ihnen geholfen haben.« B ajram B erat

Was im Verständnis ihrer Informanten den Unterschied zwischen einem »wahren« und einem »guten« Buch ausmacht, sollte Elisabeth Tauber nach der Veröffentlichung ihrer Dissertation über Estraixaria-Sinti (2006) erfahren. Wenngleich auf der Seite der wissenschaftlichen Gemeinschaft die geläufige Erwartung bestand, ein so weit wie möglich »wahres« Buch in die wissenschaftliche Debatte einzubringen, so handelte es sich auf der Seite ihrer Informanten jedoch eher um

2  Die Feldforschung: Ansät ze, Zugänge, Fragen und Datenerhebung

den Wunsch nach Letzterem.1 Unter einem »guten« Buch verstand sie folglich eine Studie, die ganz im Sinne der Sinti-Gemeinschaft verfasst wäre, und unter einem »wahren« Buch das, was die wissenschaftliche Gemeinschaft erwartete. Was also tun, wenn der Vorteil der Distanz zu den Erwartungen der Informanten und damit zum Feld nicht (mehr) nutzbar oder zumindest eingeschränkt ist, ja den Forscher sogar z. T. in arge Gewissenskonflikte bringt? Zwar brauchte ich mir diese Frage nicht zu beantworten, wohl aber die nach dem Umgang mit der Erwartung meiner Informanten, das lesen zu wollen, was ich über sie schreiben würde. Denn viele unter ihnen sind auch der deutschen Sprache in Wort und Schrift mächtig. Eigentlich befand ich mich in der glücklichen Situation, viele Daten von äußerst gastfreundlichen und offenen Akteuren offeriert bekommen zu haben, zu denen allen ein ehrliches und vertrauensvolles Verhältnis bestand und, dem Internet sei Dank, noch besteht. Demnach spannt sich zwischen den obigen Kommentaren Bajram Berats und Elvis Bajram das, was ich selbst als »Reziprozitätserwartung« erfuhr, also das, was Taubers Informanten mit dem Begriff »gutes Buch« assoziierten. Nach mehrfachen Aufenthalten in Mazedonien und Bulgarien lagen mir fast tausend Seiten Gesprächsmaterial und weitere hunderte Feldtagebuchseiten vor. Darüber hinaus fühlte ich Verpflichtungen gegenüber meinen Informanten, denen ich nachkommen wollte. Von allen Akteuren bekam ich die mündliche Zusicherung, alles mit ihren Klarnamen wiedergeben zu können, worüber wir »offi­ziell« gesprochen haben. Auf diese Daten werde ich ausschließlich Bezug nehmen, um den Zugang zu diesem Feld für weitere Forscher und Untersuchungen zu ermöglichen. Denn die Akteure dieser Arbeit zeichnen sich, so scheint es mir, als eine der wenigen Eliten in der ethnologischen Forschungslandschaft aus, die mir den Forschungszugang ohne Weiteres ermöglichten. Auch haben sie mir zu selten das Gefühl gegeben, dass meine Fragen oder meine Anwesenheit unwichtig wären, als dass ich dieses in der Literatur recht häufig auftretende Problem einer Terminfindung oder gar das eines erheblichen Desinteresses an einer Erforschung bestätigen könnte (vgl. u. a. Kokot 2008: 104, 109; Lotter 2004: 6). Ein ausweichendes Verhalten bei einigen der Akteure, als meine Erstkontaktaufnahme durch ihr Handy schrillte, war mir mehr als verständlich: Ein wachsames Auge und äußerste Skepsis gegenüber Gadže-Forschern war, ist und bleibt gerade in ihrem Fall auch weiterhin angebracht. Mit ihrer Herzlichkeit und Geduld haben die Akteure dieser Arbeit bewiesen, dass sie meine Anwesenheit freute und sie Interesse an meinen Fragen hatten.2 Dies erstaunte mich im Hinblick auf den 1 | Tauber, E. (2011): Field research, participation and ethics of research in the context of Romanies, Paperpräsentation auf der Jahreskonferenz der Gypsy Lore Society in Graz. 01.–03.09.2011; vgl. Tauber 2006. 2 | In neueren Arbeiten, die die Elitenforschung innerhalb der Ethnologie thematisieren, wird zumeist auf die methodischen Schwierigkeiten hingewiesen, die bei einer solchen Forschung auftreten würden. Beispielsweise benennt Waltraud Kokot

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Großteil der bisherigen Elitenforschung innerhalb der Ethnologie bzw. Anthropologie, in der wiederholt auf Schwierigkeiten betreffs einer Zugänglichkeit von Eliten und des Umgangs mit der herrschenden Forschungshierarchie hingewiesen wird.

2.3 D atenerhebung : D er Z ugang zu den A k teuren Da Eliten für gewöhnlich in der Nähe infrastruktureller Zentren verschiedener Art tätig sind, wurden die meisten meiner Daten auch in solchen Zentren erhoben. Mit den einzelnen Akteuren habe ich mich anfänglich in ihren Büros oder an öffentlichen Plätzen getroffen. Ihren alltäglichen Arbeiten konnte ich hernach nur manchmal beiwohnen. Jedoch ließ ich, wenn es in meiner Macht stand, die Gelegenheiten nicht verstreichen, den Abend für weitere Treffen und »ero-epische Gespräche« (vgl. Girtler 1995: 219) zu veranschlagen. Für die Komplettierung meiner Daten am Tagesende habe ich es darüber hinaus von Tag zu Tag mehr zu schätzen gelernt, nicht nur von einigen Akteuren, sondern auch von Bewohnern aus den Siedlungen Reflexionen auf meine neu gesammelten Informationen zu erhalten.

2.3.1 Die richtige Frage am richtigen Ort, an die rechte Person, im rechten Augenblick Auf Anfragen hin boten die ersten Personen – viele von ihnen wurden später zu Hauptakteuren dieser Arbeit – nach und nach an, sich mit mir zu treffen und mir Fragen zu beantworten. Dabei ließ ich den Akteuren zwar einen großen thematischen Spielraum, der es mir durchaus erlaubte, viele unbekannte Fragenfelder eröffnen lassen zu können, ohne darauf achten zu müssen, wie vollständig deren Antworten sind. Doch befand sich bei jedem Gespräch der Fragenkatalog vor mir, dessen Inhalt ich am Anfang dieses Kapitels und in der Einleitung kurz skizziert habe. Die Reihenfolge der Fragen überließ ich dabei zunehmend dem Gesprächs(2008) Schwierigkeiten bei der Terminfindung oder beim Anonymitätsbedarf. Die Zugänge seien »oft nur durch persönliche Empfehlungen möglich« und bestünden eher aus »informellen Gesprächen« und »verhältnismäßig wenigen formellen Interviews« (ebd.: 104 f f.). Daraus folgend läge laut Kokot das »Problem in der Anwendung ethnologischer Forschungsansätze auf ein unzugängliches Feld.« (Ebd.: 105) Stephen Nugent (2002) spricht ebenso von einem »lack of accessibility of elites« (ebd.: 72), dem es durch zwei unterschiedliche Methoden beizukommen gälte, wobei der Fokus auf »accessible elites« den einen Ausweg darstelle, und beim anderen die »conventional anthropological definition of elites« ignoriert werden könnte, »and look instead at effective elites, those who shape the terms of debate including those terms regarding the definition of elites.« (Ebd.)

2  Die Feldforschung: Ansät ze, Zugänge, Fragen und Datenerhebung

verlauf und meinem Gesprächspartner. Meistens umriss ich schon im ersten Telefonat jeweils kurz einige Themen, über die ich reden wollte und wiederholte sie zu Gesprächsbeginn. Alle Gesprächspartner konnten auf alle Fragen eine oder sogar mehrere Antworten / Statements geben, die aber auch teilweise in sich selbst widersprüchlich sind, was an einigen Sequenzen aus den leitfragengestützten qualitativen Interviews3 sowie den ero-epischen Gesprächen 4 mit den Akteuren verdeutlicht wird. Im biographischen Erzählen5 der Akteure sammelten sich erstaunliche Geschichten über ihre Familien, ihre Kindheit und Jugend, über Herrschaft, Macht, Armut, Geschäfte, Beziehungen etc. als Feldmaterial an. Daneben diskutierten ›meine‹ Informanten über Unterschiede zwischen Roma und Gadže, über Roma- / Zigeunerführer und Familienkonstellationen vor Ort usw. Offizielle Gespräche in den jeweiligen Büros der NGOs, der Parteien, der Parlamente bzw. Ministerien ergänzte ich mit Gesprächen bei gemeinsamen Autofahrten, parlamentarischen Sitzungen, Familienbesuchen, Dienstreisen oder Besuchen bei ihren Verwandten und Freunden. Nicht zuletzt gab das Abendessen zu zweit oder mit weiteren Partei- oder NGO-Mitgliedern einen beinahe allabendlichen Auftakt zu langen Diskussionen und mir dabei die Möglichkeit, wie schon gesagt, meine Daten abzugleichen und zu komplettieren. Die Personenwahl entstand einerseits durch meine eigeninitiierte Kontaktaufnahme, andererseits durch sogenannte »Snowball-Auswahl« oder ihr Gegenteil, sodass die Entscheidung, wer noch zu fragen (zu besuchen und zu konsultieren) sei, mal von meinem Gegenüber getroffen wurde, etwa mit Worten wie: »Geh’ nie zu dem und dem! Das wäre dumm! Gehe lieber zu dem und dem! Der wird dir auch Interessantes erzählen!« Oder meine Wahl fiel auf Personen, die mir von den Leuten auf der Straße als die Baro Manush (Romanes: Großer Mensch), die Entscheidungsträger bzw. die lokalen lideri genannt wurden. Natürlich waren Besuche bei solchen Personen am spannendsten, die mir von anderen als »unfähige« oder »nicht richtige« lideri oder Roma-Repräsentanten dargestellt wurden. Überzogen grotesk wirkende Antipathien gegenüber weiteren Personen bargen verständlicherweise eine zu große Versuchung, eben auch mit diesen ins 3 | Der Begriff des leitfragengestützten Interviews besagt, dass der Leitfaden f lexibel gehandhabt werden sollte und innerhalb dessen sich offene, nicht wertende und keine direkten suggestiven Fragen befinden (vgl. Kruse 2004: 13 f f.). 4 | Das »ero-epische Gespräch« ist eine von Girtler (1995) so benannte Gesprächsführung, bei der »Frage und Erzählung miteinander im Gespräch verwoben« werden, das Girtler ausdrücklich vom narrativen Interview trennt, weil dieses mit »mehr oder weniger fixierten Fragebögen« arbeitet und »ein freies Gespräch, bei dem Fragen und Erzählungen sich abwechseln und aufeinander einwirken« nicht ermöglicht (vgl. Girtler 1995: 13; 219; 222). 5 | Kruse notiert zum biographischen Erzählen als einer Form der Gesprächsführung, dass dort die »Person ihre Lebensereignisse [und] Erfahrungen in eine zeitliche Struktur [bringt] und ihnen [...] Bedeutungen zu[schreibt]« (Kruse 2004: 9).

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Gespräch zu kommen. Aus derartigen Konstellationen ließen sich im Nachhinein oft zerbrochene Freundschaften feststellten, wobei sich die beteiligten Personen meist derart stark zerstritten voneinander getrennt hatten, dass sich im Nachhinein eine Seite regelrecht gegen die andere stellte. Dass die Endkonsequenz solcher Streits sich bei meinen Akteuren jedoch nicht nur persönlich auswirkte, indem sie einen Freund verlieren, sondern auch politische Konsequenzen hatte, ist unausweichlich: Entweder gewann nach einer solchen Trennung die frühere Opposition der beiden Ex-Freunde ein weiteres Mitglied für ihre Reihen oder einer der Streithähne gründete eine neue Partei, NGO oder einen anderweitig religiös, sozial, politisch oder kulturell aktiven Verband, wovon einige Gesprächssequenzen berichten werden. Häufig jedoch war Folgendes der Fall: Einer geht zur Opposition, der andere gründet seinen eigenen Verein und die Anhängerschaft spaltet sich auf oder zieht sich enttäuscht zurück. Die Organisation eines Gesprächstermins war um einiges einfacher zu handhaben als untereinander zerstrittene Roma- / Zigeunervertreter im Gespräch, und ein Empfang meiner Person bei den Akteuren war für mich oft bemerkenswert einfach zu organisieren. Die Bereitschaft für ein Gespräch war daher aus meiner Perspektive – wenngleich mit erheblichem Aufwand an Geduld verbunden – erstaunlich hoch. Doch noch erstaunlicher waren die letztendlichen Ergebnisse dieser Daten, nach eingehender Lektüre meiner gesamten Tagebuchaufzeichnungen und der verschriftlichten Gespräche: Alle Notizen waren durchsetzt von einer Fülle der oben angerissenen Themen, erzählt in Form von Anekdoten und manchmal in Form von Witzen. Die wichtigsten und aussagekräftigsten Gesprächssequenzen habe ich, soweit es mir möglich war, in den vorliegenden Text eingebracht.

2.3.2 Der ethnologische Zugang Emische Perspektiven aufzuzeigen, dazu verpflichtet sich der ethnologische Zugang, und er soll in Form der Selbstwahrnehmung der Akteure und ihren Handlungsweisen im Vordergrund der Betrachtungen stehen, um den Leser zu emphatisieren, ihm unverständliche Eigenheiten zugänglich zu machen. Die »Triftigkeit unserer Erklärungen«, folgen wir Geertz Argumentation, »haben wir [danach] zu beurteilen, inwieweit ihre wissenschaftliche Imagination uns mit dem Leben von Fremden in Berührung zu bringen vermag« (Geertz 2009: 24). Daher scheint es weniger angebracht, eine Repräsentativität der Daten der vorliegenden Studie mittels einer stabilen Empirie zu erreichen. Im Gegenteil möchte ich primär eine »gesättigte« Informationslage herstellen. Denn, so Geertz, die »Hauptaufgabe der Theoriebildung in der Ethnologie [besteht] nicht darin, abstrakte Regelmäßigkeiten festzuschreiben, sondern darin, dichte Beschreibung zu ermöglichen.« (Ebd.: 37) Die emische Perspektive bedeutet für diese Studie, dass eine Vielzahl von Akteuren mit ihren jeweiligen Wirklichkeiten bzw. wirklichen Erinnerungen der eigenen Vergangenheiten zur Pluralisierung des ›Feldes‹ führt.

2  Die Feldforschung: Ansät ze, Zugänge, Fragen und Datenerhebung

Der Antagonismus ›Sicherheit – Freiheit‹ lässt sich sowohl auf das Leben eines Menschen in Gesellschaften als auch auf die Darstellung meiner Daten anwenden: Auf Kosten der Sicherheit (hier die einer eindeutigen oder gar modellgeeigneten Aussage) gebe ich der Freiheit (hier die der Autoperzeptionen der Akteure) den größtmöglichen Raum. So schwindet auch in meinem Fall »das Geheimnis um das ›Sehen aus der Perspektive des Eingeborenen‹«, wie Geertz es nennt. Meine aus Gesprächsnotizen und Interviewpassagen bestehende Untersuchung hinterließ in mir den Eindruck, dass ich kein Feldforscher war, der ein »Einäugiger im Lande der Blinden« ist, um bei einer Metapher von Geertz zu bleiben. Ebensowenig war ich »König« unter ihnen oder »Zuschauer«, wie es Geertz schließlich für seinen Fall postuliert (Geertz 2009: 293). In meinem Falle war ich wohl eher das, was ein lernender Schüler gegenüber einem Lehrer ist, allerdings mit einer wichtigen, das Hierarchieverhältnis zwischen vielen Akteuren und mir stark beeinflussenden Tatsache: Einige meiner ›Lehrer‹ waren deutlich jünger als ich. Doch können sie eine vergleichsweise steile Karriere vorweisen. Hinzuzufügen ist auch, dass die meisten meiner Informanten eine Art Gewöhnung an solcherlei Gespräche zeigten: Weder war ich der erste Fragensteller, dem sie begegneten, noch waren meine Fragen, Kommentare oder Reaktionen (nicht nur in ihren Augen) immer die richtigen: Wie beispielsweise sollte ich mich verhalten, wenn ich feststellte, dass der Informant nicht nur gelogen hatte, sondern diese Fehlaussage obendrein ausdrücklich wiederholte? Wie sollte ich mich verhalten, wenn ich mit erwartungsvollen Blicken um meine Meinung oder gar Rat gebeten wurde, wenn es um politische Alltagsgeschäfte ging, um neue juristische Klauseln oder Probleme mit Geldgebern und Querulanten aus den eigenen Reihen? Im Sinne Geertz’ (2009), der das Malinowski‹sche »Tagebuch im strikten Sinne des Wortes« (1986) als »Entzauberung des Mythos der ethnologischen Feldforschung« darstellt, soll zu meiner Feldforschung erwähnt sein, dass es mir ebensowenig wie in Malinowskis Fall darum ging, eine »innere geistige Korrespondenz mit [meinen] Informanten herzustellen«, sondern darum »herauszufinden, wie sie sich überhaupt selber verstehen« (Geertz 2009: 292). Zu diesem Selbstverständnis zähle ich für meine Arbeit sowohl das Verständnis der Akteure für ihre soziale, religiöse, politische oder gar ethnische Position als auch ihre Sicht auf ihren Lebensweg im Vergleich zum Lebensweg anderer Bewohner der Siedlungen, aus denen sie stammen oder anderer Mitglieder der Mehrheitsbevölkerungen, mit denen sie (evtl. in Nachbarschaft) gelebt haben. Wie eingangs bereits erwähnt, habe ich die Akteure um eigene Meinungen und Sichtweisen auf ihre Familien, ihre Freundeskreise und Schulerfahrungen, also um ihre ›Sozialisationsnarrationen‹ gebeten. Ebenso ist bereits hervorgegangen, dass die Antworten zu verschieden ausfielen, als dass ich diese in ein Schema pressen könnte oder dass sich eventuell daraus ein »Modell von« (Geertz 2009: 52) einer Roma- / Zigeunerelitenbiographie ableiten lassen würde. Um mit Geertz zu sprechen, würde der Entwurf eines Modells für Roma- / Zigeunereliten-

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biographien »das Manipulieren nichtsymbolischer Systeme« bedeuten (in unserem Fall der wirklich gelebten Biographien), »nach Maßgabe der Beziehungen, die in den symbolischen Systemen zum Ausdruck kommen« (ebd.: 52 ff.). Letztere, die symbolischen Systeme, entsprächen in unserem Fall den zu erfüllenden Erwartungen, wie sie einige der Gadže-Institutionen gegenüber den Akteuren stellen. Wenn wir aber den gesellschaftspolitischen Vorgängen im Untersuchungsfeld mit einer adäquaten Betrachtungsform begegnen wollen, erfordert es verschiedene Blickwinkel einzubeziehen, um das gewesene und kontemporäre Sein meiner Informanten aus emischer Perspektive zu demonstrieren. Im Einzelnen sind das der Blickwinkel meiner Informanten auf ihre eigene Stellung innerhalb ihrer Herkunftsgruppe und die innerhalb der Gadže-Institutionen. Ein anderer Fokus rückt die spezifischen Alltagsaspekte (kulturelle, ethnische o. ä.) in den Vordergrund.

2.3.3 Der politikethnologische Zugang Mit diesem Zugang werden die multiplexen und sich überlagernden Tätigkeitsbzw. Aktionsfelder meiner Informanten in den jeweils fokussierten Roma- / Zigeunergemeinschaften und -mahallas unter der Einbeziehung von Machtstrukturdiskursen beleuchtet. Zur Diskussion stehen dabei ihre Sichtweisen auf ihren ›Idealtyp und Realtyp‹ eines Roma- / Zigeuneraktivisten oder -vertreters, eines politischen Akteurs oder gar Geschäftsmannes. • Wie war die Wahrnehmung meiner Informanten bezüglich ihrer eigenen Rollen in den Gadže-Institutionen? • Wie waren die Legitimationsstrukturen in den Gemeinschaften beschaffen, in denen sie arbeiteten, lebten oder auf Besuch waren? Da der größte Anteil der auf der Ebene der Roma- / Zigeunerrepräsentanten agierenden Personen zumeist mehrere Zugänge zu politischen Institutionen halten muss, kann oder will, wie wir bereits am Beispiel Amdi Bajrams erfahren haben, sind ihre Statements daher nicht a priori als politisch anzusehen, sondern sie müssen als symbolisch, strategisch und gleichzeitig äußerst individuell begriffen werden. Wie bereits angedeutet, bezogen sich die Akteure in ihren Erzählungen nur selten normativ und fokussiert auf ein einziges Thema. Das meiste Material ist geprägt von einer Erzählweise, die um vieles allegorischer, metaphorischer und manchmal überschwänglicher ist, als es beispielsweise in Interviews anderer Akteure auf der gleichen Ebene in der Literatur der Fall ist. Zudem fehlen in den Sequenzen der Akteure häufig klare Abgrenzungen zwischen persönlichem und öffentlichem Bereich, die sie selbstverständlich genauso wenig voneinander trennen können wie ihre eigene Biographie und Familie von ihrer Position. Sie sind, wie bereits erwähnt, Rom(ni) aufgrund ihrer Herkunft, repräsentieren

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oder leiten nach einem Universitätsabschluss diejenigen, die diese Herkunft erst ermöglicht haben und das in einer Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs und Wandels, der sich in beiden Ländern weiterhin unterschiedlich vollzieht. An der Verlaufsform des von außen und innen forcierten Elitebildungsprozesses bei Roma / Zigeunern sind diese Rahmenvoraussetzungen klar ablesbar. Allerdings lassen es diese Bedingungen nicht zu, in allen Bereichen vorliegender Arbeit klare Kernaussagen oder Schlüsse zu ziehen: Dafür ist die Situation der Roma- / Zigeunereliten in den beiden Ländern zu unstet und der Wandlungsprozess zur Untersuchungszeit in vollem Gange, die Meinungsmuster der Akteure aufgrund von Erfahrungs-, Bildungs- und Altersunterschieden sind zu vielfältig und Vergleichsmaterial aus der Forschung zu selten bzw. zu diesem Thema schlichtweg nicht vorhanden. Dennoch sind aus den wenigen Forschungen zu Eliten einige wichtige Parallelen zu meinen Daten zu ziehen, wie z. B. die Einsicht in die Notwendigkeit, Antipathien und Sympathien, also persönliche Befindlichkeiten, die unser aller Entscheidungen tagtäglich beeinflussen und prägen, mit in die Diskussion hineinzutragen. Inspiriert von Yanagisakos (2000) Analyse in italienischen Elitenfamilien, wo auch die Emotionen mit in die Diskussion der Daten eingebunden werden (ebd.: 67), werde ich gleichsam bei der Datenauswertung den Faktor der ausgrenzenden und stereotypen Verhaltensweise vieler Gadže – nicht nur gegenüber den Akteuren hier – mit einbeziehen und bei einigen Betrachtungen darauf eingehen. Eine Trennung der Begrifflichkeit, wie sie in der Politikethnologie bzw. in der political anthropology vorgenommen wird,6 erwiese sich allerdings für meine Betrachtungen als einengend. Denn Institutionen, ihre Ebenen und Strukturen sind vordergründig nicht von den in ihnen Handelnden trennbar – jedenfalls nicht für meine Akteure, da ihre Zugehörigkeit zu Roma / Zigeunern rein persönlich und subjektiv ist, und von ihrer sich aus der Zugehörigkeit heraus resultierenden Position Objektivität erwartet wird. Für meine Betrachtung stehen daher die akteursbezogenen Konzeptionalisierungen dieser Institutionen und der Handlungen zur Debatte, also, wie diese Instanzen von den Akteuren selbst narrativ dargestellt werden und welche Aktionen sich daraus ergeben. Denn letztendlich sind Staatsorgane, Strategien oder Handhabungen von Macht nicht nur, wie erwähnt, situativ, sondern auch kontextuell, weil von Menschen und ihrer Historie generiert bzw. ausgefüllt. Im Endeffekt stellen ihre jeweiligen Organisationsgeschichten grundlegende Quellen und Erklärungen für die Analyse dar, gleich ob es sich dabei nun um die Organisationsgeschichten der Institutionen oder um die Lebensgeschichten der Akteure selbst handelt. 6 | Im Bereich der Politikethnologie bzw. ihrem englischen Pendant, der political anthropology, wird zwischen polity, worunter Gemeinwesen und Staatsorgane zu verstehen sind, policy, welche sich auf verschiedene Absichten, Maßnahmen und Strategien beziehen und politics, welche die realen Prozesse oder Handhabungen von Macht beinhalten, klar unterschieden (vgl. Heidemann 2006: 157).

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2.3.4 Der historische Zugang Die Zuhilfenahme einer historischen Perspektive wird den komplexen gesellschaftlichen Prozessen gerecht, denn wenn wir ethnologisch ein Jetzt beschreiben wollen, dann nur eines, das nicht nur aus dem Gestern und dem Heute folgt, sondern auch jenes, das das Vorgestern und die jeweiligen Ideen von einem Übermorgen einbezieht. Anthropologie als Wissenschaft, also das Erforschen des gewesenen und gewordenen (kulturellen, ethnischen, religiösen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen, phänomenologischen usw.) Seins des Menschen aus seiner eigenen, der emischen Perspektive heraus, verstehe ich damit als Perspektivensammlung und emphatische Aufnahme der Lebensideen ihrer Protagonisten. Doch die Betonung der Fortdauer von gesellschaftlich dynamischen Wandlungsprozessen kann nur aus der Darstellung ihres prozesshaften Charakters bestehen und damit aus der Betonung jener Prozesshaftigkeit und Wandelbarkeit in den aufgenommenen Ideen und Denkweisen »unserer« Akteure, also unserer Daten selbst. Roma- / Zigeunergemeinschaften im 21. Jahrhundert und insbesondere in den von mir untersuchten Gebieten bzw. Regionen leben weder auf einer ethnisch abgrenzbaren Insel ohne Außenkontakte, noch beherbergen sie eine klar abgegrenzte Kultur. Sie gehören weder zu den unberührten, noch zu den vom Aussterben bedrohten Völkern. Sie sind den geschichtlichen Dynamiken der örtlichen Gegebenheiten ebenso ausgesetzt wie die sie umgebenden Mehrheitsgesellschaften. Die Darstellung eines historischen Verlaufs einer Organisationsgeschichte der Roma- / Zigeunerführer bzw. -vertreter soll diesem Rechnung tragen. Es handelt sich folglich um eine Suche nach einem Erklärungsansatz in der Vergangenheit, um gegenwärtige Phänomene zu verstehen, d. h. wie und unter welchen Umständen diese Akteure an »ihre« Gemeinschaften gebunden waren und es vergleichsweise heute sind. Denn bereits seit den ersten Quellen über Kontakte zwischen Bevölkerungsteilen der Roma / Zigeuner und den zumeist sesshaften Gadže-Gesellschaften finden sich wiederholt Hinweise auf Führer der vielen damals noch wandernden Gruppen.7 Nicht nur die Form und der Zweck ihrer Wanderschaft oder ihrer Sesshaftwerdung, sondern auch Form und Zweck der Führerschaften dieser Gruppen hat sich im Verlauf der Geschichte der untersuchten Gebiete z. T. stark gewandelt. Begreifen wir die Stellungen der historischen und kontemporären Roma- / Zigeunervertreter als einander ebenbürtig, so wird sich an den gesellschaftshistorischen Umbrüchen zeigen lassen, inwieweit die Stellungen diesen Umbrüchen ausgesetzt waren oder ihnen gegenüber souverän, also elastisch, blieben. Vordergründig stehen hier sowohl biographische Daten der Eltern- und Großelterngenerationen der Akteure als auch ihre eigene Erinnerung an Vergangenes zur Diskussion.

7 | Siehe dazu Kapitel 4, 7 und 8.

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2.3.5 Die biographischen Narrationen Der Datenzugang über die biographischen Narrationen der Akteure soll auf die Verschmelzung der drei bisher dargelegten Zugänge (also dem ethnologischen, dem politikethnologischen und dem historischen) hinauslaufen bzw. diese in sich subsumieren. Für jedes der biographischen Einzelbeispiele gelten zwar ganz individuelle Umgebungsvariablen, doch sind auch – wenngleich selten – klare Gemeinsamkeiten erkennbar. So unterschieden sich die Akteursbiographien deutlich von denen der meisten Altersgenossen oder auch denen anderer Mitglieder ihrer Herkunftsgruppe oder -gemeinschaft. Um ein annähernd stabiles Datengerüst – und dadurch Vergleichbarkeit – herzustellen, bezieht sich mein Betrachtungsfokus u. a. auf Aspekte ihrer Sozialisationsphasen in den jeweils historisch und ethnisch relevanten gesellschaftlichen Konstellationen. Wie auch bei der Diskussion um Prestige und seine Zugänge spielen beim Vergleich der Sozialisationsphasen z. B. folgende Fragen eine Rolle: • Wer waren bzw. sind die Personen, die meine Informanten als ihren Freundeskreis bezeichnen, also ihre ›peer group‹? • Ist ein Zusammenhang erkennbar, der sich aus dem Verhältnis ergibt, das zwischen ihren präferierten Sozialisations- und Vertrauensumgebungen und ihrem kontemporären Kontaktpotential besteht, das sie performativ präsentieren, wenn es um die Ausübung von Macht geht? Hierbei werden erwartungsgemäß diejenigen Betrachtungen mit einfließen, die für Zugänge und Konstellationen von Freundeskreisen im Jugend- und Erwachsenenalter der Akteure Relevanz besitzen. Wenn sich die Mehrheit der Akteure »wie-in-zwei-Welten-lebend« fühlt, so will ich hier der Frage nach den jeweils präferierten Personenkreisen und damit auch der nach ihrem Eingebettetsein in ihrer Herkunftsgruppe nachgehen: • Welcher Einfluss auf ihre gegenwärtige Stellung ist von den Akteuren selbst erkennbar, wenn sie auf ihren eigenen sozialen Umgang und ihr familiäres Sozialisationsumfeld blicken? • Stehen einer Elitenbildung, wie sie u. a. vom OSI forciert wird, diese Sozialisationsbereiche als determinierbare Einflussbereiche zur Verfügung? • Kann eine bewusst gelenkte und gezielt beeinflusste Sozialisation einen »Führer machen«, oder »werden Roma- / Zigeunerführer doch geboren«, wie ich Shaban Saliu bereits oben zitiert habe? Die örtlich-räumlichen Komponenten sollen hier ebenso mit betrachtet werden: • An welchen Orten spielte sich ihre unterschiedliche Sozialisations- bzw. Individuationsphase mit welchem Ergebnis für ihren Lebenslauf ab?

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• Lebten sie seit Beginn ihrer Kindheit in einer vorrangig von Roma / Zigeunern bewohnten Mahalla oder in einer eher ethnisch gemischten Umgebung? • Inwieweit stellt die Herkunftsgemeinschaft eine Heimat für die Akteure dar oder auf welche Weise rücken sie ihre Herkunft in den Vorder- oder Hintergrund ihrer Erinnerungen? Natürlich tragen die Erwerbstätigkeiten der Eltern- und Großelterngenerationen einen entscheidenden Faktor bei, wenn Migrationen familialer Art, zumeist aus ebenjenen erwerbstechnischen Gründen, zum Erfahrungsschatz einiger Akteure zählen. Viele ihrer Eltern sind oft unter hoher Risikobereitschaft migriert, wie Matras (2010) es jüngst bestätigte.8 Einer der vielen möglichen Zusammenhänge, die hier unter neuer Perspektive betrachtet werden sollen, ist die Fragestellung, ob heutige Ausbildungsprogramme verschiedener Projekte Führungs- und Vertreterqualitäten hervorbringen können, und inwiefern die daraus hervorgehenden neuen Eliten den Erwartungsmustern auf unterschiedlichsten Seiten gewachsen sind. Gleichsam soll meine Arbeit nicht als Effizienzmonitoring einer Roma- / Zigeunerelitenbildung verstanden werden. Vielmehr verstehe ich den Text als Beitrag zu einer ethnologischen / anthropologischen Diskussion über Eliten und zur Erforschung grenzüberschreitender ethnischer Minderheiten, am Beispiel der Roma / Zigeuner Bulgariens und Mazedoniens. Zudem reagiert diese Untersuchung auf ernstzunehmende Forderungen bereits vorliegender Fachliteratur dieses Forschungsbereichs. Auf diese Forderungen wird noch unter Abschn. 3.1.3 eingegangen werden. Die jeweils in den Text der Arbeit eingewobenen Gesprächssequenzen stellen bereits zusammengeschnittenes Material dar, das von mir aufgezeichnet und anschließend ausgewertet wurde. Verfälschungen entstanden insofern, als die Abfolge der einzelnen Gesprächsabschnitte innerhalb der Erinnerungen selbst zeitlich verschoben sind, um eine thematisch annähernd logische und dichte Zusammenstellung zu erreichen. Die Erinnerungen meiner Akteure selbst kamen manchmal »wie aus der Pistole geschossen« und setzten mich über ihre Ehrlichkeit und Offenheit in solches Erstaunen, dass ihnen meine Verdutztheit offenkundig wurde, mal kamen auch keine oder ausweichende Antworten. Fest steht, dass es meine Absicht war die Daten zu erheben. Die meiner Informanten war es, »dabei Regie zu führen« (vgl. Herzfeld 2000: 230), wie es oft in Expertengesprächen der Fall ist. Da die Gespräche sowohl auf Englisch, Mazedonisch, Romanes und Bulgarisch als auch auf Deutsch geführt wurden, ich selbst sie aber in meiner Muttersprache begreifen wollte, habe ich alle Sequenzen ins Deutsche transkribiert. 8 | Vgl. Matras, Y. 2010. Migrations and their impact on Romani political movement in the early 1990s. Paperpräsentation auf der internationalen Konferenz: »Romani mobilities in Europe: Multidisciplinary perspectives«, 14.–15. Januar 2010, University of Oxford.

2  Die Feldforschung: Ansät ze, Zugänge, Fragen und Datenerhebung

Als Originale liegen mir alle offiziell mitgeschnittenen Gespräche nachhörbar als Audiodateien vor. Im Folgenden soll zunächst die zum Thema herangezogene Literatur hinsichtlich ihrer jeweiligen Perzeption von Roma- / Zigeunervertretern einer Kurzbetrachtung unterzogen werden, um diese Perspektiven und gleichzeitig die der vorliegende Studie zueinander verorten zu können. Im Anschluß daran werden als Abschluss des ersten Teils der Arbeit die Begrifflichkeiten und Namen für die hier relevanten Roma-  /  Zigeunergruppen abgebildet und einer Erörterung unterzogen, bevor ich im zweiten Teil der Arbeit die geschichtliche und gegenwärtige Situation von Roma- / Zigeunereliten in den beiden Ländern nachzeichne.

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3 Roma- /  Z igeunervertreter in den Quellen Bevor im nächsten Kapitel in der historischen Einführung in das Thema der Roma- / Zigeunerelite der komplexe Befund von historischen Hintergründen auf den Gebieten Bulgariens und Mazedoniens veranschaulicht wird, stelle ich im Folgenden zum einen die unterschiedlichen Betrachtungsebenen dar, die bei der Literaturrecherche zum Thema Roma- / Zigeunerelite erkennbar waren, und verorte im Zuge dessen die Perspektive der vorliegenden Arbeit. Zum anderen werde ich im zweiten Teil des Kapitels die Heterogenität der Benennungen von Roma- / Zigeunergruppen, die für meine Akteure relevant sind, kurz erörtern. Das Narrative Glossar im Anhang der Arbeit führt hierzu alle relevanten Benennungen länderspezifisch auf und gibt Auskunft über ihre semantischen Bedeutungen und alltagssprachlichen Verwendungen, die nicht immer deckungsgleich sind.

3.1 D rei P erzeptionsebenen nach F redrik B arth Fredrik Barths Analyse des Ethnizitätsaspekts (2000) findet auf drei Betrachtungsebenen statt: der Makro-, der Mikro- und der Mesoebene (vgl. ebd.: 21). Bei der Lektüre der hier zitierten Quellen konnte ich deren Perspektiven auf Roma- / Zigeunergruppen und -vertreter nur auf zwei dieser drei Ebenen verorten: auf der Mikro- und der Makroebene, obgleich die Perspektivebenen innerhalb einzelner Quellen hin und wieder wechseln. Daher standen mir nur wenige Quellen zur Verfügung, die ihre Perspektive so ausrichteten, wie ich es mit meinen Daten vorhatte: auf einer Mesoebene, mit der sich die beiden anderen Ebenen verbindend darstellen lassen. Doch zunächst erfolgt eine kurze Klärung dieser drei Ebenen in Bezug auf meine Argumentation: Nach Barth (2000) werden auf der Makroebene die Zusammenhänge zwischen Normen, Strategien und deren Implementationen verhandelt (vgl. ebd.). Diese Makroebene und ihre Perspektive, der ich das Attribut ›translokal-institutional‹ voranstelle, ist mehrheitsgesellschaftlich etischer Natur. Auf dieser z. T. global normativ anmutenden Ebene findet beispielsweise das Setting der politischen oder sozialen Rahmenbedingungen einer Gesellschaft statt.

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Die Mikroebene, die ich als die ›lokal-interaktionale‹ Ebene charakterisiere, spiegelt ganz im Gegenteil zur Makroebene »die Geschehnisse und Arenen vom menschlichen Leben« wider (ebd., m. Ü.). Diese an der Lebenswelt ihrer Protagonisten orientierte Perspektive hat daher nicht nur die Gemeinschaft von Menschen in ihrem Fokus, sondern hier rücken die emischen Daten in den Vordergrund der Betrachtung. Doch wie bereits angekündigt sollten meine Daten mit diesen beiden Perspektiven und beiden Ebenen verbunden dargestellt werden, um eine Abbildung auf der nach Barth so genannten »Mesoebene« (»median-level«, vgl. ebd.) zu ermöglichen, die ich als ›glokal-mediationale‹ Ebene bezeichne. Sie stellt einerseits die Schnittstelle zwischen den anderen beiden Ebenen dar und bildet andererseits den Raum, in dem die hier diskutierten Akteure ihrer Aufgabe nachkommen, zwischen den Roma- / Zigeunergruppen und den Institutionen der Mehrheitsgesellschaften zu vermitteln. Und eben mit dieser Mesoperspektive will ich die Daten für die vorliegende Arbeit betrachten, da sich meine Akteure, wie ich es bereits mehrfach betont habe, zwischen den Ebenen der makrogesellschaftlichen Institutionen und der gemeinschaftlichen Mikroebene bewegen. Ihre Handlungen und Meinungen sind stets von beiden Ebenen beeinflusst und ihre Position fordert sie dazu heraus, sich sowohl translokal-institutional als auch lokal-interaktional zu orientieren, um letztendlich glokal-mediational agieren zu können.

3.1.1 Die Makroebene: Translokal-Institutional Im Vordergrund der Betrachtungen auf dieser Ebene stehen laut Barth »state policies«: »[T]he legal creations of bureaucracies allocating rights and impediments according to formal criteria, but also the arbitrary uses of force and compulsion that underpin many regimes.« (Ebd.)

Die Perspektiven der Akteure, deren Position und Handlungen sich auf dieser Makroebene ansiedeln lassen, unterteile ich in zwei Unterkategorien, wie ich auch weiter unten die Perspektiven der Mikroebene unterteile: Zum einen in die rein wissenschaftlichen Perspektiven – die das Thema unter Betrachtungsfokus setzten – und zum anderen in diejenigen, die das Themengebiet Roma- / Zigeunervertreter und -politiker nur sekundär erwähnen und sich nicht primär als wissenschaftliche Perspektiven bezeichnen lassen können. Relevante Beispiele für die erste Unterkategorie, den vorrangig wissenschaft­ lichen Fokus, analysieren z. B. die Stimme der Roma / Zigeuner im nationalstaatlichen oder europäischen Kontext.1 Dabei fokussieren sie die staatlichen und nicht1 | Vgl. beispielsweise Gheorghe / M irga 1997, Klimova 2005, Nicolae 2007, Sigona / Trehan 2009a, van Baar 2011, Vermeersch 2007.

3  Roma- /  Z igeuner ver treter in den Quellen

staatlichen Institutionen und analysieren deren Strategien, unter Zuhilfenahme eines eher sozio-politologisch anmutenden Zugangs. Folglich werden solche Strategien, Ursachen und auch Konsequenzen von Handlungen betrachtet, die auf diesen eher institutionell geprägten Ebenen entstehen, dort wirken und nur dorthin zurückstrahlen. Eine ethnospezifische Ursachensuche beispielsweise in der Geschichte oder in der Sozialisation der Akteure, um verschiedene Symptomatiken in der Gegenwart verständlich zu machen, ist in diesen Diskussionen nur spärlich zu finden. Ironischerweise ignorieren viele Autoren kontextuell die z. T. auto-obligative Referenz der Gruppenheterogenität 2 oder beispielsweise auch, dass Roma- / Zigeunergruppen sozial primär ihre Familie in den Vordergrund stellen und sich von der nächsten Roma- / Zigeunergruppe stärker distanzieren als von der GadžeGesellschaft. Die Konsequenz der Heterogenitätsproblematik der Gruppen wird vor der analytischen Betrachtung zwar häufig vorausgesetzt, doch später oft kontextuell und sukzessive unter den sprichwörtlichen »homogenen Roma-Teppich« gekehrt. In die zweite Kategorie der Makroebene ordne ich primär den nicht-wissenschaftlichen Blick auf bürokratisch institutionell angesiedelte Phänomene. Solche Perzeptionen finden sich beispielsweise in der Vielzahl der Veröffentlichungen des OSI und dessen finanzstarken Initiativen, wie dem REF oder in denen des RPP. Speziell durch die Dekade hervorgerufene Projektpapiere, die Dekade flankierende Artikel und Monitoringberichte über die ›Roma-Inclusion‹, stellen Normierungen wie die einer Verbesserung der Lebensumstände der Roma- / Zigeunergemeinschaften in ihren Mittelpunkt. Unter solche Lebensumstände zählen bekanntlich Wohn-, Siedlungs- und Gesundheitssituation, aber auch die Zugangsmöglichkeiten zum Arbeitsmarkt sind darin enthalten. Aspekte von Diskriminierung, Armut und Gender richten sich dabei, wenn man so will, als ›cross-cutting-themes‹ an die Leserschaft. Diese Blickwinkel widmen sich dann z. B. den Strategien der Parteien, NGOs oder den Vorgängen auf Regierungsebene. Die Betrachtungsausgangspunkte sind dabei sowohl die operierenden Organisationen, Institutionen und ihre Strategien, als auch ihre Effizienz und Lang- bzw. Kurzlebigkeit. Im Hauptfokus der meisten Integrationsprojektmittel steht jedoch der Aspekt der ›Bildung‹3, und in diesem edukativen Fokus ist prinzipiell ein wichtiger Grund 2 | Zur Problematik siehe Abschn. 1.1, S. 36 und Fn. 10. 3 | Die Zahlen der veröffentlichten Seiten, die diesen Themenkomplex betreffen, sind noch rasanter gestiegen als beispielsweise diejenigen für die Thematik der Wohn- und Unterkunftsbedingungen. Hierbei soll nicht unerwähnt bleiben, dass die allgemeine Zugriffsmöglichkeit auf das Internet (spätestens seit den 1990er Jahren) sowohl eine virtuelle Mitdiskussion und -gestaltung als auch das »Öffentlichmachen« von Texten enorm vereinfacht hat. Allerdings hat dies auch zu einer unüberschaubaren Quellen- und Informationsmenge geführt. Allein während der Forschungs- und Bearbeitungszeit dieser Dissertation sind mehr als 10.000 Informationsemails, also ca. neun

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für den geradezu inflationären Anstieg von diesbezüglichen Informationen zu sehen. Im Verlauf der Arbeit werde ich sowohl darauf als auch auf das Thema des NGO-mushrooming 4 in den Ländern zu sprechen kommen, denn ein Grund für diese Quellen- und Informationsflut liegt u. a. auch in diesem NGO-Phänomen. Auf dieser eher sozio-politologisch geprägten Makroebene scheint es, als ob von den Akteuren ein Reagieren erwartet wird, das losgelöst ist von ihrem eigenen sozialen Kontext und ihrer eigenen Geschichte. Als unpersönliche und politisch rational agierende Individuen werden ihren Handlungen folglich die Einflüsse ihrer eigenen Sozialisations- und Individuationsprozesse, ihrer Biographie also, abgesprochen. Diskursiv werden sie dadurch schier befähigt, besten Wissens und Gewissens im Namen »ihrer« Roma- / Zigeunergruppe agieren und reagieren zu können, normativ pragmatisch und scheinbar unabhängig von den äußeren sozialen und kulturellen Einflüssen – so als wären sie »Modellzigeuner« und all die unterschiedlichen Gruppen mit einer Schablone mess- und vergleichbar. Die Handlungsstrategien der Akteure, NGOs und eventuelle Programmbilanzen der NGOs oder Parteien im Blickpunkt, resultieren diese Beiträge dann zum ei-

pro Tag, über den Verteiler des Roma Virtual Network bei mir eingegangen. Diese Initiative mit den beiden elektronischen Informations- und Emailverteilern Romano Liloro und Roma Daily News wird durch Romarights.net (http://www.romarights.net) organisiert und durch viele Mitarbeiter (u. a. von Valery Novoselsky) am Leben erhalten. Novoselsky (2007) selbst spricht in diesem Zusammenhang bereits von einer »Roma virtual identity«: »The Roma virtual identity shown in websites, chat rooms, and blogs helps people to meet in person, hold events, and discuss vital issues in a real format« (ebd.:  195). Die verschiedenen Inhalte der Nachrichten, Newsletter und online-Bulletins speisen sich aus weiteren verschiedenen Newslettern unterschiedlicher Organisationen und Netzwerke. Unter ihnen befinden sich der Amalipe Newsletter, Informationen und Newsletter des ERIO und des ERRC. Des Weiteren sind hier die Pressemitteilungen, Konferenzberichte und sonstigen Publikationen des ERTF und der IRU versammelt. Auch das ERGO-Network bündelt Pressemitteilungen und Veröffentlichungen von eher kleineren Organisationen, um diese mit in den Verteiler einzuspeisen. Natürlich finden sich dort auch relevante Daten zum Thema, die die weltgrößten NGOs zur Verfügung stellen. Unter jene zählen beispielsweise das UNHCR, Amnesty International, CARE, OSI und weitere. Wie sich deren Aktualität hinsichtlich des Endjahres der Dekade 2015 entwickeln wird, bleibt abzuwarten. Betrachtet man die mittlerweile innerhalb kürzester Zeit eröffneten und wieder erfolglos geschlossenen Projekte, in Angriff genommenen Initiativen und ins Leben gerufenen Organisationen, wird wohl der weitere Trend von vielen Faktoren bestimmt sein. 4 | Kovats (2001b) spricht anhand von Ungarn und der sich dort rasant entwickelnden NGO-Szene von »positiv discrimination« (ebd.: 341) und Marushiakova und Popov (2004a) anhand des Beispiels Bulgarien von »Gypsy industry« (ebd.: 84 f f.), mit welcher sich die Entwicklung auf dem NGO-Markt beschreiben ließe.

3  Roma- /  Z igeuner ver treter in den Quellen

nen häufig in kritischer Betrachtung der Strategieeffizienz dieser Organisationen5 oder gar der Effizienz der Roma- / Zigeunervertreter selbst, zum anderen sind dann ihre Ausblicke auf und Forderungen nach möglichen Alternativen inhaltlich stark pragmatisch und normativ geprägt. Das betrifft beispielsweise jene oben genannten Wohnbedingungen oder auch die Zugänge der vielen Roma- / Zigeunersiedlungen zu Infrastruktur wie dem städtischen Wasserversorgungsnetz, den Abwasserkanälen, dem Straßennetz etc. Solcherlei sozio-politisch normativ geprägte und abstrakte Metaebenendiskurse, die die Gruppen unter einer »Romaschablone« betrachten, sind nur schwer auf direktem Wege mit beispielsweise rein ethnologischen (bzw. ethnographischen) Betrachtungen zu vereinbaren, die vorrangig Mikroperspektiven auf lokaler Ebene einnehmen, wie im Folgenden zu erfahren ist.

3.1.2 Die Mikroebene: lokal-interaktional Die Perspektiven dieser Ebene beziehen nach Barth (2000) »persons and interpersonal interaction« in die Diskussion ein: »the management of selves in the complex context of relationships, demands, values and ideas« (ebd.: 21). Interessant scheint mir bei aller Fülle solcher Arbeiten der Trend, dass viele dieser Studien den Gadže-Institutionen kritisch gegenüberstehen, sowohl ihren Strategien und ihrer Politik, als auch ihren handelnden Akteuren, den Politikern selbst – Gadže und Roma- / Zigeunern gleichermaßen. Barth (2000) weist im Zusammenhang mit einer Vermischung von Forschung und unreflektierter Empathie gegenüber den Informanten darauf hin, dass »[a]nthropologists regularly operate too narrowly (self-appointed) advocates and apologists for ethnic groups and their grievances« (ebd.: 24). Themen wie die der Forschungsethik scheinen bei einer diesbezüglichen Fürsprecherrolle des Ethnologen brisant. Die Lösung der jeweiligen Balancefragen vor Ort und im Feld (beispielsweise die Reziprozität gegenüber wichtigen Informanten) liegt jedoch, so sollte ich es erfahren, letztendlich in der Verantwortung des Forschers selbst. Um nochmals mit dem Beispiel Tauber (2011) zu sprechen, handelt es sich dabei um die Balance, die es zwischen einem »wahren guten« und einem »guten wahren« Buch zu finden gilt und die abhängig vom Dreiecksverhältnis Forscher – Informant – örtlicher Verhaltenskodex und den jeweils gegenseitigen Erwartungen ist.

5 | Zur Problematik der Ineffizienz von NGOs und der empirischen Erhebung ihrer Ergebnisse bietet beispielsweise Trehan (2009: 62–65) eine gute Übersicht über evtl. Gründe und Konsequenzen. Pinnocks (2002: 240 f f.) Vergleich einiger bulgarischer Roma-NGOs legt die Mitarbeiterkonstellationen, gemeint ist das Verhältnis zwischen Gadže- und Roma- / Z igeunermitarbeitern, in Korrelation zu erreichten Zielen der entsprechenden NGOs offen. Guy (2009) bietet in diesem Zusammenhang eine Überblicksstudie an, die allein PHARE-Programme betrifft (ebd.: 30 f f.; 36 f f.).

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Auf dieser Mikroebene werden im Gegensatz zur Makroebene die Akteure folglich als Wesen ihres spezifischen soziokulturellen und sozioökonomischen Wir-Netzwerkes ›ihrer ethnischen Gruppe‹ verstanden. In den hier zu verortenden Betrachtungsmittelpunkten dieser Quellen und Analysen befinden sich u. a. dann spezifisch sozioökonomische (Jacobs 2012, 2008a; Berta 2007), sozialreligiöse (beispielsweise Ries 2007; Slavkova 2003, 2005) oder linguistische Aspekte der Gruppen oder Gemeinschaften (Matras 2002; Boretzky 2000 u. a.). Solche Arbeiten stellen einen Quellenfundus dar, der meine Untersuchung zu einem erheblichen Teil befruchtete. Dennoch sei im Zusammenhang mit vorliegender Studie hier wiederholt auf die Unterschiedlichkeit der Betrachtungen und der betrachteten Gruppen hingewiesen. Beispielsweise zeigen einige Quellen sozialinterne Hierarchien einzelner Gruppen auf oder analysieren diese tiefgehend. Andere Quellen wiederum versehen sie per se mit dem Marker einer »relative absence of formal structures in the Romani community« (Gheor­ghe / Mirga 1997). Auch die auf der Mikroebene verorteten Betrachtungen und Perspektiven unterteile ich in primär wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Betrachtungsweisen. In der Kategorie der wissenschaftlichen Betrachtungen finden sich Analysen interner Macht- oder Hierarchiestrukturen der untersuchten Roma- / Zigeunergruppen, wobei hierzu nicht nur neue ethnologische Veröffentlichungen zu zählen sind. Studien zur Sprache und ihren Ausprägungen nebst lokalen Besonderheiten lassen sich beispielsweise bereits vor der Mitte des 19. Jahrhunderts finden (z. B. Miklosich 1827). Ein bereits in seiner zweiten und überarbeiteten Auflage erschienenes, umfassendes Überblickswerk, das Roma- / Zigeunergruppen und ihren historischen Hintergrund in Süd- und Südosteuropa fokussiert, stellt beispielsweise David Crowes A History of the Gypsies in Eastern Europe and Russia (1994; 2007) dar. Auch jene historischen Arbeiten, in denen verschiedene Gruppen und Sub-Gruppen der Roma / Zigeuner seit ihren ersten Erwähnungen auf europäischem Boden – wenngleich nicht primär mittels der Methode der teilnehmenden Beobachtung – erforscht und beschrieben wurden, möchte ich zu dieser Unterkategorie zählen. Welcher Gestalt die Verbindungen tatsächlich waren, welche Machtbeziehungen zwischen den Mitgliedern der Roma- / Zigeunergruppen und ihren Führern, Herren, Fürsten, Grafen oder gar Königen bestanden, ist den historischen Quellen (mit einzelnen Ausnahmen) jedoch nur vage zu entnehmen (vgl. Grevemeyer 1998: 13 ff.). Ob es den Autoren dieser Quellen als Gadže selbst zuzuschreiben ist oder einer tatsächlichen bzw. scheinbaren Abwesenheit von derlei Strukturen, lassen die Quellen jedoch oft unbeantwortet. Allein die vielfachen Erwähnungen von Führern als solche soll für diese Studie zum Anlass genommen werden, folgende historische Grundannahme zu postulieren, die als Hypothese formuliert wird: Sowohl viele der wandernden als auch der sesshaften Roma- / Zigeunergruppen ›besaßen‹ zumeist eine Person unter ihren Mitgliedern, die jene Quellen als »An-Führer« (»leader«) bezeichnen (vgl. Marushiakova / Popov 1997: 163 ff.). Laut diesen Quellen vertraten diese Führer die Gruppe beispielsweise gegenüber Gadže und deren Institutionen. Manchmal galten diese Personen auch als

3  Roma- /  Z igeuner ver treter in den Quellen

Entscheidungsinstanz über weitere Wanderrouten der Gruppe (Wlislocki 1892), über einzugehende (gewünschte) Heiratsallianzen (Remmel 1993), oder sie übernahmen einfach nur die Übermittlung von Kopfsteuern an die Institutionen der Gadže, wovon das nächste Kapitel berichtet. Jene Anführer wurden in einigen wenigen Roma- / Zigeunergruppen sogar in einen tradierten, z. T. institutionalisierten Rat berufen, den ich hier als einen ›Rat der Wichtigen und Weisen der Gemeinschaft‹ bezeichne. Bekannte (und z. T. untersuchte) Formen eines solchen Rats (kris oder meshere) (Weyrauch 2001, Marushiakova / Popov 2007) will ich hier im Übrigen als gleichwertig neben anderen nicht institutionalisierten oder nicht formalisierten Entscheidungsfindungsinstanzen, die in anderen Roma- / Zigeunergruppen existent sind, verstanden wissen. In Varna haben mich die Leute gerufen, dass ich in die Kris gehe. Mein Großvater war ein Rom-Baro für alle, die bei ihm [in der Groß-Familie] waren. Mein Großvater kannte jeden Kalderaš, weil mein Großvater Chef (Chema) in der Roma-Kris war. In Bulgarien sagt man für Roma-Kris ›Mešere‹. In Europa sagen die Zigeuner ›Kris‹. Das ist das Zigeuner-Gericht. Und mein Großvater war der Boss davon. Jetzt, also zurzeit bin ich vielleicht wie mein Großvater. Mein Vater war nicht so. […] Dieses Zigeunergericht gibt es heute noch, jeden Samstag und Sonntag. Zum Beispiel in Varna haben die Leute mich gerufen, geben mir Geld für die Reise und kaufen mir etwas, dass ich in die Kris komme.  Toma Nikolaeff Für den hiesigen Untersuchungsraum trifft eine solche gruppenimmanente Gerichtsbarkeit allein auf die Gruppen der »Kardaraši / K aldaraši« zu, die dafür die Termini »mešere, mešare, and mešarjava« gebrauchen (Marushiakova / Popov 2007: 69 ff.). Allen anderen Roma- / Zigeunergruppierungen meines Untersuchungsraumes ist eine solche Art traditionellen Gerichts – auch als »Femgericht« bezeichnet (vgl. Wlislocki 1892 in Grevemeyer 1998: 20) – offensichtlich nicht inhärent. Die Nachweise, die eine vergleichbare institutionalisierte und inhärente Machtstruktur anderer Roma- / Zigeunergruppen in Geschichte und Gegenwart belegen würden, darauf sei hier abermals dezidiert hingewiesen, stellten eine Mangelerscheinung dar. Doch sozial- und wirtschaftsstrategisch wichtige Entscheidungen sind in allen sozialen Gruppen, die vorrangig auf affinalen Verbindungen und auf lokal-interaktionaler Basis aufgebaut sind, erforderlich und setzten entsprechende hierarchische Strukturen und Instanzen (intrinsisch gewachsen oder extern evoziert)6 voraus. Dem Relevanzbereich dieser hierarchi6 | Darüber, dass Roma- / Z igeunerführer vorrangig von externer Seite evoziert oder sogar implementiert seien, herrscht in den bisherigen Abhandlungen weitestgehende Einigkeit. Es sind nicht nur die Bezeichnungen der Titel und Positionen (Ämter), die als institutionell gebildete Begriffe den jeweiligen Mehrheitsgesellschaften entnom-

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schen Strukturen selbst (mit oder ohne offensichtliche Instanz), so sei hier weiter postuliert, wurde bisher eben nur dann eine Bedeutung zugestanden, wenn diese Strukturen klar sichtbar und innerhalb der jeweiligen Gruppe selbst als traditionell empfunden wurden. Jene hier gleichwertig neben die eher unbeachtet (weil nicht als solche erkannten) Entscheidungs- und Schlichtungsinstanzen zu stellen, begründet sich auch aus ihrer vergleichsweise höheren adaptiven Flexibilität heraus. Denn diese ad hoc gebildeten und oft nur für einen äußerst beschränkten Bereich (zeitlich, räumlich und sozial) gültigen Entscheidungsinstanzen, ob hierarchisch oder nicht, sind weitaus anpassungsfähiger. Da diese immer oder immer wieder neu gebildet werden müssen, können sie in umfangreicherem Maße auf externe Einflüsse reagieren, als es dogmatisch beharrliche Strukturen und Institutionen imstande wären, in denen vorrangig dieselben Personen agieren. Du solltest der Gemeinschaft nicht das Recht nehmen, für sich selbst zu entscheiden! Denn wenn du in deiner Wohnung einen hast, der ständig Ärger macht, dann organisierst du ein Treffen und die entscheiden dann und sollten denjenigen auch bestrafen. Sie können diesen Typen ins Gefängnis sperren. Das Gefängnis lässt ihn vielleicht wieder raus, aber das ist demokratischer als alles andere! Und daher sage ich, [...] du solltest der Gemeinschaft nicht das Recht nehmen, für sich zu entscheiden! Denn wenn da jemand wohnt, ein Killer oder so etwas, dann sollte man ihn rausschmeißen. [...] ›Steckt ihn vor ein Gemeinschaftsgericht, um eine gemeinschaftliche Entscheidung zu treffen!‹  Nikolai Kirilov

3.1.3 Die Mesoebene: glokal-mediational Die »ethnologische Interpretation«, so Geertz (2009), stellt einen »Versuch« dar, der »den Bogen eines sozialen Diskurses nachzeichnet« und diesen »in einer nachvollziehbaren Form festhält« (ebd.: 28). Die dabei aufgezeigten Ergebnisse (und manchmal verratenen Geheimnisse) drängten viele Feldforscher in die Ecke der Unverstandenen. Die von ihnen in den Monographien dargestellten Handlungsweisen von Ethnien oder Gruppen – wenngleich ausreichend argumentierte und aus lokaler Sicht erklärliche Handlungen – machen aus diesen Arbeiten Bücher, die als hervorragende Einzelfallstudien viele Bibliotheksregale füllen. Ihre Verwendung, die mögliche Verarbeitung der aufgezeigten Fakten, dient dabei leider nur einer kleinen Personengruppe mit lokalen Interessengebieten und / oder aus verschiedenen Regionalwissenschaften. Gieryn (1983) bezeichnet solche eher men sind (siehe dazu Kapitel 4), sondern zum überwiegenden Anteil entspringen sowohl die Erwartungen als auch die Finanzierungen dieser Stellungen den GadžeInstitutionen (vgl. beispielsweise Grevemeyer 1998: 20; Klimova 2002: 106).

3  Roma- /  Z igeuner ver treter in den Quellen

grenzbetonenden bzw. grenzsetzenden Studien als »boundary works«, die Wissenschaft von Nichtwissenschaft deutlich abzugrenzen vermögen und beschreibt diese Grenzsetzung als »ideologischen Stil für den Schutz der professionellen Autonomie« (ebd.: 789, m. Ü.). Um eine Abgrenzungsminimierung zu erreichen, verfolge ich in meiner Arbeit einen transdisziplinären, kontextualisierten und multiperspektivischen Ansatz. Die Grenze, die zwischen Wissenschaft auf der einen und ihrer nichtwissenschaftlichen Verwertung auf der anderen Seite verläuft, bleibt zwar als solche relevant, doch möchte ich zum besseren Verständnis der Daten die disziplinären Grenzen aufweichen und das Material zur weiteren (evtl. auch nichtwissenschaftlichen) Verarbeitung auf bereitet darlegen. Nowotny (2001) spricht in diesem Zusammenhang von einer »kontextualisierten bzw. kontext-sensitiven Wissenschaft«, die durch jene Aufweichung der Grenze zwischen Wissenschaft und Gesellschaft bzw. einer »engeren Interaktion von Wissenschaft und Gesellschaft entsteht« (ebd.: vii, m. Ü.). Um einen tieferen Einblick und damit Verständnis zu erlangen sowie dem »mutual learning« (Scholz 2000) Vorschub zu leisten, ist es folglich notwendig, akteursrelevante Daten darzulegen. Die vorliegende Arbeit verfolgt also weniger das Ziel, eine theoriebeständige und empirisch robuste »Ethnographie von Roma- / Zigeunereliten« zu liefern, sondern vielmehr Daten aufzuzeigen und zu diskutieren, die aktuellpolitische Relevanz sowie Praxis- und Lebensnähe aufweisen. Hörning und Reuter (2004) sprechen bei einem derart praxisorientiertem Ansatz davon, dass dieser das »in-der-Welt-Sein kultureller Akteure betone« (ebd.: 13). Mit den beiden Autorinnen Susan Wright und Sue Reinhold (2011) kann diese Strategie auch als eine »Studying Through« bezeichnet werden, die für Wright und Reinhold aus drei wichtigen Elementen besteht: Erstens eine »multisided ethnography with a wide conception of the field«, in der durch das »back and forth, up and down and back again« die »connections between events in different local and national sites« darstellbar werden. Zweitens eine »history of the present, with an awareness that each event has multiple potential effects« und schließlich drittens eine »political and epistemological reflexivity«, die ein Bewusstsein für den »wider historical and political context« schaffen soll, in dem die Akteure die Rahmenbedingungen für ihre Handlungen erfahren (ebd.: 101 ff.). Damit wurde bestätigt, was auch bei der Recherche von Betrachtungsebenen von »Roma- / Zigeunereliten« in den Quellen klar zum Vorschein kam: Wissenschaftliche Betrachtungen sowohl auf der Barthschen »Mesoebene« als auch Betrachtungen, die sich thematisch und unter Zuhilfenahme einer »studying through« mit »Roma- / Zigeunereliten« auseinandersetzten, stellen offensichtlich ein Forschungsdesiderat dar. Das heißt, es fehlt ein Ansatz mit dem Versuch, die »grass-root-facts« (oder die emische Mikro-Perspektive) der lokalen Ebenen und deren Akteure mit der Perspektive der soziologisch-politologischen Forschung (Makroperspektive) zu verbinden oder, um mit Barth zu sprechen, eine Arbeit auf dem »median level«, »to depict the processes that create collectivities and mobilize groups for diverse purposes by diverse means«. Dieses Analysefeld bezieht laut

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Barth »entrepreneurship, leadership and rhetoric« mit ein, auf dem »Sterotypen geschaffen und Kollektivitäten in Bewegung gesetzt werden« (2000: 21, m. Ü.). Auf dieses Analysefeld lassen sich politologische Begriffe wie der von Legitimation und Führerschaft an eher soziophänomenologische und ethnologische Begriffe wie Prestige und Virtù ankoppeln. Bei der Suche nach Mustern oder Strategien, die in den einzelnen Roma- / Zigeunergruppen von deren Deutungseliten genutzt werden, um beispielsweise Entscheidungen aus den Institutionen der Mehrheitsgesellschaft in einer Gruppe zu kommunizieren oder gar durchzusetzen, trifft der ethnologisch vorgehende Fragensteller auf Daten beispielsweise über die Herkunft und auch die gewünschte Zukunft der Akteure, aber auch auf Begründungen ihrer Aktionen aus ihrer Sicht, und wie ihrer Erfahrung nach alles in- und miteinander verwoben ist. Eine der für mich relevanten Forschungsforderungen ist u. a. bei Klimova (2005) zu finden. Sie ruft zu einem »more country-specific approach to studying the [...] Romani activism« auf, um zum Verständnis der »reasons for their success and failure« beizutragen (ebd.: 155). Vermeersch (2007) versteht diesbezüglich unter einer »serious analysis« einen Zugang, der fragt »in what social and political circumstances« Phänomene wie die spezieller Formen von Lebensweisen, Traditionen, Verwandtschaft und Sprachgebrauch »become generally accepted as markers of Romani identity« (ebd.: 3), die die Ausgangspunkte der Handlungen hiesiger Akteure sind. Die folgenden Fragen sollen die Relevanz dieser ebenenverbindenden Arbeit nochmals verdeutlichen: • Kann die Form des Roma- / Zigeuneraktivismus und die damit in Gang gesetzte Debatte um eine ethnisch definierte, politische Partizipation dieser Minderheit(en) als ein Resultat der Gadže-Perspektive auf diese Gruppen gelten? • Welcher Gestalt ist die lokale Legitimation der neu gebildeten Roma- / Zigeunerelite, auf der hohe Erwartungen von Seiten der Gadže-Institutionen liegen? • Sind all die unterschiedlichen Roma- / Zigeunergruppen von diesen Vertretern miteinbezogen und ist somit das Netz der existierenden Elite dicht über sämtliche Gruppen gespannt, oder steht ein Großteil der Gruppen gleichsam außerhalb der institutionell forcierten Elitenentwicklung, und wenn ja, aus welchem Grund? • Sind die erreichten oder noch zu erreichenden Ziele der Akteure vor Ort vorrangig konnektiver oder kollektiver Natur? Oder mit anderen Worten: Geht es den Akteuren eher um Schaffung, Ausbau und Erhalt ihrer Zugänge oder eher um politik-strategische und inhaltliche Partei- oder Organisationsprogrammatik, die sich direkt auf die vertretenen Gruppen bzw. Gemeinschaften auswirkt und zur Verbesserung ihrer Lebensqualität beiträgt?

3  Roma- /  Z igeuner ver treter in den Quellen

Auf Grund ihres Alters mangelt es dieser ›neuen‹ Roma- / Zigeunerelite nicht nur an einer ausreichenden Erfahrung, ihre Gruppenmitglieder zu mobilisieren, sondern auch logischerweise an einer politischen Expertise sowie dem erfahrenen Umgang mit dem Wissen um gruppenimmanente Traditionen, wie ich zeigen werde. Auf ihre begrenzte Legitimität weisen Marushiakova und Popov (1997) vor dem bulgarischen Hintergrund zwar einerseits mit dem Argument hin, dass sie »generals without army« (ebd.: 38) seien. Anderseits stünden vor dem mazedonischen Hintergrund über 20.000 Roma / Zigeuner in Shuto Orizari (Shutka) als Wähler von parlamentarischen Abgeordneten (Rom) für ein stabiles Gegenargument, das ich noch ausführlich diskutieren werde, zur Verfügung. Ein damit postuliertes, numerisch fassbares Gefolge von Wählern (Roma / Zigeuner in Shutka), das – wie wir erfahren werden – offensichtlich ohne inhaltlich politisch legitimierte Gefolgschaft der Roma- / Zigeunervertreter oder -führer dennoch diese »leader« wählt, würde von der Metaebene aus betrachtet unerklärbar bleiben und kann daher von einer Metaebenendiskussion kaum erschöpfend begriffen werden. Vor diesem Hintergrund führt sich aber auch die Möglichkeit ad absurdum, durch einen länderübergreifenden Vergleich zu erschöpfenderen Ergebnissen zu gelangen, wie es bereits in der Forschungsaufforderung u. a. Klimovas (2005), landesspezifisch zu arbeiten, zum Ausdruck kam. Daher werde ich in dieser Arbeit die einzelnen Aspekte nacheinander und länderspezifisch betrachten. Ganz im Sinne des »Vor und Zurück, Auf und Ab und wieder zurück«, das Wright und Reinhold (2011) oben argumentierten, will ich mit dem folgenden Abschnitt beginnen, in dem die Heterogenität jener Begrifflichkeiten der Akteure diskutiert werden, die sie zur Verortung ihrer Person und ihrer Familie innerhalb der verschiedenen Roma- / Zigeunergruppen gebraucht haben.

3.2 G ruppenbezeichnungen : H e terogenität und V arianz Die Gruppentrennung ist sehr schlecht für die Roma. Ich bin Rom und da gibt es keine Subgruppen der Roma! Ich bin sehr stolz auf das, was ich bin. [...] Über die Untergruppen der Roma: Es ist eine schlechte Frage für einen Roma, aus welcher Gruppe er kommt. Denn für alle anderen sind wir entweder Rom, Tsigani oder Gypsies. [...] Meine Theorie ist, wenn man das, was an Zahl sehr klein ist, dazu noch trennt, dann ist man in der Theorie des Neonazismus. Ich weiß nicht, wie Sie die Roma in Ihrer Arbeit präsentieren wollen, aber es sollte klar sein, dass diese Gruppentrennung sehr schlecht für die Roma ist! All diese Subgruppen sind Unterteilungen verrückter Roma oder eben von Leuten, die keine Roma sind, oder Roma, die sich selbst in den Vordergrund rücken und sich Gehör verschaffen wollen!  Bajram Berat

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Du musst Rom sein, um zu verstehen Um zu begreifen, was wir unter einem bestimmten Namen, in einer bestimmten Situation, für ein bestimmtes Mitglied einer bestimmten Gruppe verstehen, musst du Rom sein! Anderenfalls wäre es irreführend, würde man versuchen, es zu verstehen oder eventuell zu erklären!  ein Rom aus Shutka Dieser kurze Abschnitt soll im Zusammenhang mit dem Narrativen Glossar (siehe Anhang) zum einen die Unterschiedlichkeit der Bedeutungen und Verortungen vieler oft gleichlautender Autonyme (Eigenbezeichnungen) und Xenonyme (Fremdbezeichnungen) zeigen, und zum anderen ihre gegenseitigen Überlagerungen, Doppeldeutigkeiten oder Mehrfachverwendungen verdeutlichen. Auf die Akteurstabelle und das Narrative Glossar Bezug nehmend, sei festgehalten, dass die Begrifflichkeiten mir gegenüber zwar so wiedergegeben worden sind. Jedoch beziehen sie sich auf ganz verschiedene Verständnisebenen, wie die beiden vorangegangenen Sequenzen zeigen sollten. Des Weiteren sei festgehalten, dass die Meinungen und Begrifflichkeiten der Protagonisten über Gruppen, denen sie nicht angehören, in der Regel als Stereotype verstanden werden müssen. Unzählige Male saß ich vor meinem aufgeschlagenen Feldtagebuch, um (m) eine Ordnung in diese Begrifflichkeiten (u. a. auch mit Hilfe anderer Quellen) zu bringen. Denn nicht nur meine Informanten, sondern nahezu sämtliche Monographien zum Thema Roma / Zigeuner zeigen jene äußerst komplexe Namensgebung bzw. Titulierung der betrachteten Gruppen, Gemeinschaften und Familien. Die begrifflichen Verschachtelungen untereinander erinnerten teilweise an ein »segmentäres Prinzip« (Durkheim 1977), wenngleich die meisten der Roma- / Zigeunergruppen nicht prinzipiell als herrschaftslos gelten können. Wie Barth bereits 1969 grundlegend herausgearbeitet hat, spielen bei der Abgrenzung der (eigenen) ethnischen Zugehörigkeit jeweils das Abgrenzungssetting und die Abgrenzungssituation eine entscheidende Rolle (ebd.: 13 ff.). Das zweite Zitat im letzten grauen Sequenzkasten gibt das deutlich zu verstehen. Allem voran stehen jedoch folgende, in der Einleitung bereits ausgeführte Tatsachen: Jede der einzelnen Gruppen sieht sich selbst als ›richtige‹ oder ›normale‹ Roma / Zigeuner an und weist anderen Gruppen – die also außerhalb der Demarkationslinie ›Wir–Sie‹ stehen – niedrigere Ränge zu (vgl. Marushiakova / Popov 1997: 84). Wiederholt ist auch hervorzuheben, dass alle meine Informanten sich ethnisch als Rom (bzw. Romni) bezeichnen. Was sie verbindet ist also, Teil einer – wenngleich in vielen Aspekten konstruierten und imaginären – größeren Gemeinschaft zu sein: der Roma, wohingegen ihre Identität als Bulgarin (bzw. Bulgare) oder Mazedonin (bzw. Mazedone) als »zivile Identität« (vgl. Marushiakova / Popov 2009) oder »nationale Identität« (Welsch 2005: 328) gelten kann, die jedoch von der »ethnischen Identität« abgelöst ist.

3  Roma- /  Z igeuner ver treter in den Quellen

Die Sprache? Das ist dumm! Wenn wir sie lernen wollen, dann lernen wir sie. Meine Eltern leben hier in Sofia, im Zentrum. Unsere Sub-Gruppe lebt nicht in einer Gemeinschaft, in keiner Mahalla. Sie treffen sich nur in der Zeit der Hochzeiten und zu Feiern. […] Mein Bruder ist ein sehr großer Musiker in Bulgarien, ein sehr populärer Komponist, Pop-Musik und Jazz. […] In unserem Herzen sind wir Gypsies. Die Sprache? Das ist dumm! Wenn wir sie lernen wollen, dann lernen wir sie. Aber ich habe es noch nicht, weil ich nicht weiß, welchen Ehemann ich haben werde. Nach meiner Hochzeit werde ich den Dialekt meines Mannes lernen. Das ist die Tradition meiner Familie.  Ludmila Zhivkova Für die Mehrheit der Bevölkerung in den Untersuchungsgebieten stand jedoch außer Frage – und im öffentlichen Diskurs wusste ›jedermann‹ –, »wer sie (die Roma / Zigeuner) sind« und nicht wenige meiner Gesprächspartner unter den Bulgaren und Mazedonen wussten sogar, dass »sie aus Indien kamen«. Im Sinne Andersons (2006) sind »sie« für die Umgebungsgesellschaft(en) die »imagined community« ›der‹ Roma / Zigeuner. Erst die Begegnung zweier Roma / Zigeuner unterschiedlicher Gruppen macht eine differenziertere Namensgebung relevant (vgl. Barth 1969: 13), wie Bajram Berat im obigen Zitat auch, wenngleich nur indirekt, zu verstehen gab, als er meinte: »Für alle anderen sind wir ... « Auch und gerade die Begegnung von Personen aus einer der Roma- / Zigeunergruppen mit Forschern diverser Fachrichtungen (die sich den Roma- / Zigeunergruppen widmen, ohne Rom oder Romni zu sein) hinterließen Begrifflichkeitsspuren, deren Wirkung sich im ›Ethnonymiediskurs‹ niederschlugen. Unter der Bezeichnung Ethnonym sind Endonyme, Professionyme, Exonyme (in der Regel Pejorativonyme), Lingonyme und Religionyme oder auch Lokalonyme zu finden, wodurch sich mir die Frage nach einer ›Identität‹ oder ›Zugehörigkeit‹ einzelner Akteure zwar immer wieder neu stellte, doch immer nur unzureichend beantwortet werden konnte. Denn nicht jedes Lingonym, Religionym, Professionym oder Pejorativonym usw. gilt zum gleichen Zeitpunkt auch als Ethnonym (oder gar Endonym) und nicht jedes Ethnonym (oder Endonym) kann einer der obigen Begriffskategorien zugeordnet werden (vgl. Marushiakova / Popov 1997: 72; 2013: 62 f.; 77). Somit besitzen viele der Begrifflichkeiten eine hohe Deutungsvarianz innerhalb der sprachlich, religiös, geographisch etc. eher heterogenen Gruppen. Kopytoffs Analysemethode, das »soziale Eigenleben« (1986: 65 ff.) der Begrifflichkeiten durch die Geschichte hindurch nachzuzeichnen, inspirierte mich zu einem zugegebenermaßen fruchtlos gebliebenen Vorhaben, eine ähnlich geartete »kulturelle Biographie« (ebd.) aller mir von den Akteuren genannten Gruppenbezeichnungen zu entwerfen. Wenn die Akteure schließlich darüber berichteten, woher sie ihrer Meinung nach kamen oder welcher Familie und Gruppe sie sich

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zugehörig fühlten, bezogen sie sich vorrangig auf drei prägnante Einflussfaktoren, die jedoch unterschiedlichen Priorisierungen unterlagen: • Herkunftssprache(n) bzw. -dialekt(e): –– Was spricht man zu Hause? (Lingunyme; Dialektonyme) • Gruppe(n) der Eltern: –– Benennungen für die Tätigkeiten der Vorfahren (Professionyme) –– Bezeichnung ihres Herkunftsgebiets (Toponyme) oder Herkunftsortes (Lokalonyme) • gelebte, gezeigte oder assoziierte Religiosität (Religionym) Da sich die Akteure je nach lokaler Gruppenkonstellation verorten, primär jeweils nach dem einen oder dem anderen Aspekt, je nach Situation und Gesprächskontext, könnte man gewissermaßen allegorisch von einem »sozialen Eigenleben« (Kopytoff 1986) der Begriffe und Namen sprechen. Bei der Wahl der Begriffe aus der Akteursperspektive heraus spielen daher u. a. folgende Fragen eine Rolle: • Welche Gruppen wohnen in meiner Nachbarschaft und in welchem Verhältnis stehen meine Familie oder ich zu ihnen? • Wann hat sich welche der Gruppen woher kommend und wo (im Verhältnis zu meiner Gruppe) angesiedelt? • Welche gemeinsamen Punkte oder Marker existieren, um mich selbst zu verorten (Religion, Sprache bzw. Dialekt, Profession, Herkunftsort usw.)? • Wie konstituieren sich die einzelnen Gruppen jeweils gegenüber den Gadže, im Vergleich zu meiner Gruppe? Die letztendliche Bedeutung vieler Begrifflichkeiten ergibt sich daher erst aus dem Kontext heraus und ist keineswegs (nur) als »Endonym« zu begreifen. Wenn man verstehen will, was sie im einzelnen Gespräch für die jeweilige Person bedeuten, sind sprachliche, religiöse und geschichtliche Hintergründe hinzuzuziehen. Um jedoch einen Überblick darüber zu bekommen, welche historischen Verläufe eine Rolle spielen, wenn wir von »Roma- / Zigeunerführern oder -vertretern« dieser unterschiedlichen Gruppen in Bulgarien und Mazedonien sprechen, werde ich im folgenden Kapitel die Geschichte des Gebietes der beiden Länder vorrangig bezogen auf meine Forschungsthematik darlegen.

Teil II

» ... Und grün des Lebens goldner Baum!« von G oethe , J ohann W.

Zigeunerkulturen im Wandel

4 Roma- /  Z igeunervertreter in der Geschichte »[E]ven after you learn to eat, drink, and sleep with the natives, indeed, live as they do, and just as you think you are beginning to understand them, something happens and you realize, you were as far as ever from seeing things from their point of view. To do this you must leap across the centuries, wipe the West and all its ideas from out of you, let loose all that there is in you of primitive man, and learn six languages, all quite useless in other parts of the world.« M ary E dith D urham 1905 über das D ilemma , den B alk an mit ›westlichen A ugen ‹ sehen und verstehen zu wollen, in Todorova 2009: 121 »Will man Klarheit schaffen, geht man zwei Risiken ein: erstens, dass man ebenfalls Selbstverständlichkeiten zu wiederholen scheint (muß man doch alles von Grund auf aufrollen), und zweitens, dass man die Dinge anscheinend durch allzu überspitzte Unterscheidungen komplizieren möchte.« L ejeune 1994: 13

Ein kurzer Blick auf die Nachbarregionen Bulgariens und Mazedoniens soll zunächst zeigen, dass Roma- / Zigeunerführer (soweit in den Quellen vermerkt) in der Geschichte der gesamten Balkanhalbinsel anzutreffen waren. Bei der Lektüre der kommenden Seiten gilt es zu beachten, wie u. a. Grevemeyer unterstreicht, dass die Quellenlage »über Zigeuner in Bulgarien […] dürftig« ist (1998: 13). Zwar ist sein Hinweis auf das »Fehlen sozialwissenschaftlicher Analysen der internen politischen, ökonomischen und kulturellen Strukturen der Zigeunergesellschaft« angesichts der gestiegenen Anzahl der Veröffentlichungen zu Roma- / Zigeunergruppen im Untersuchungsgebiet unzeitgemäß, doch unterstütze ich seine Vorbehalte gegenüber der verbreiteten Meinung, dass aufgrund des nachweislichen »Vorhandenseins von Führern (Königen, Herzögen) oder In-

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stanzen wie etwa Schlichter, Richter oder Femgerichte […] automatisch auf eine segmentübergreifende Funktion« zu schließen sei (ebd.:  20). Davon sind beispielsweise auch Rumyan Russinov und weitere Akteure überzeugt, denn, so Russionov: »[d]ass es da eine kohärente Roma-Mahalla und eine kohärente Gemeinschaft gibt und dort findest du auch einen leader, das ist in keinem Fall wahr.«

4.1 R oma - /  Z igeunerführer und - vertre ter in den N achbarregionen der heutigen G ebie te B ulgariens und M a zedoniens Die Belege über Anführer vieler nach Zentraleuropa eingewanderter Roma- / Zigeunergruppen reichen bis weit in das späte Mittelalter hinein. Block (1936) berichtet beispielsweise von dem Anführer Michael, der im Jahr 1422 mit »einer solchen Schar […] und etwa 50 Pferden nach Basel« kam. Im selben Jahr soll »Zigeuner Herzog Andreas […] in Bologna ab[gestiegen sein], während sein Troß von etwa 100 Mann vor dem Tore von Galeria lagert und den Eingang zur Stadt versperrt«. Ein Jahr später, so Block, verweist der »Woiwode1 Ladislaus« auf einen »lateinischen Schutzbrief von Kaiser Sigismund«, demzufolge »[u]nsere Getreuen, Ladislaus, Woiwode der Zigeuner, nebst andern zu ihm gehörige[n]« zu schützen seien, »so daß dieser Woiwode Ladislaus und die Zigeuner ohne alle Fährde und Beschwerde sich in euren Mauern aufhalten können« (Block 1936: 33, vgl. u. a. Fraser 1995: 71 ff.; Freytag 1867: 460). Barany (2002) notiert, dass polnische Könige es den Roma- / Zigeunern erlaubten, für Steuersammlungen unter ihresgleichen Führer zu bestimmen bzw. zu wählen. Die damit in Gang gesetzten Steuerverschuldungsketten in den Familien oder Gemeinschaften sorgten auch für die Herausbildung wirtschaftlicher und somit sozialer Gefälle im Gruppen- oder Gemeinschaftsinneren. Dadurch konnten sich einige der Familien der Steuereinsammler ökonomisch derart stabilisieren, dass sie laut Barany sogar Mitte des 17. Jahrhunderts durch die polnische Monarchie zu »Königen der Zigeuner« nominiert und später gar zu polnischen Adligen erhoben wurden (Djuric 1996: 177, so zit. in Barany 2002: 92 ff.). Klimova (2002) zeigt anhand der Länderbeispiele Rumänien und Ungarn, wie die einst für Gadže-Instanzen gültigen Führerbezeichnungen von einigen Roma- / Zigeunergruppen erhalten und mit ihnen in die Moderne transportiert wurden, vor allem nachdem diese Instanzen Funktion und Inhalt in den entsprechenden Institutionen der Gadže-Gesellschaften verloren hatten (ebd.: 106 ff., 110). Zumindest die Begrifflichkeiten dieser Positionen wurden von Roma- / Zigeunergruppen bis in die Gegenwart hinein tradiert und umgedeutet und dabei, so werde ich bestätigend herausarbeiten, durch die jeweils unterschiedlichen (makro-) gesellschaftlichen Umbrüche hindurch transportiert und konserviert. 1 |  Als Woiwoden werden Stammeshäuptlinge in der polnischen Geschichte und Gegenwart bezeichnet (vgl. u. a. Mosca 1950: 56).

4  Roma- /  Z igeuner ver treter in der Geschichte

Aus der Perspektive des französischen Naturwissenschaftlers und Reisenden Pierre Belon du Mans aus dem Jahr 1553 schien die Stärke des Osmanischen Reiches, das zu der Zeit Herr über die gesamte Region der Balkanhalbinsel war, folgende zu sein: »This is precisely what has supported the power of the Turk: because, when he conquers a country, he is satisfied if it obeys, and once he receives the taxes, he doesn’t care about the souls.« (du Mans [1553], so zit. in Todorova 2009: 74)

Mit Crowe (1994) kann die Herausbildung von Führern der Roma- / Zigeunergemeinschaften bestätigt werden, die durch den Steuerabgriff der jeweiligen Herrscher vor Ort initiiert wurde. Während bei Barany das Habsburger Gebiet und die spätere »K. u. K. Monarchie« und deren Besteuerungen im Fokus stehen, berichtet Crowe für das Gebiet des damaligen Osmanischen Reiches: »1610 the kadi (Muslim religious judge) in Sofia responsible for the administration of the sancak (provincial district) received a berat (imperial decree) to strengthen his ability to collect the cizye (head tax on non-Muslims in return for the guarantee of state protection of their lives and property and exemption from military service) from the Gypsies.« (Ebd.: 3 f f.)

Dieses Erfassungssystem der osmanischen Herrscher unterschied die zu Steuerzahlungen Verpflichteten anhand religiöser Maßstäbe in Muslime und Nichtmuslime. Wie bereits andernorts gezeigt, können die Obmänner oder Gruppenvertreter, auch die der Roma- / Zigeunergruppen im osmanischen Imperium, allgemein als Mediatoren der steuerlichen Sammelzahlungen ihrer Gruppe bzw. Großfamilie verstanden werden (vgl. Marx 2010). Dabei entstanden, wie gesagt, aller Wahrscheinlichkeit nach Verschuldungsketten innerhalb vieler Gemeinschaften, da der Steuervermittler die Zahlungen vorstreckte und im Nachhinein bei den Seinen die jeweiligen Anteile eintrieb.2 Im folgenden Absatz wird das Problem der Legitimationsgrundlage dieser Steuereintreiber vor dem geschicht­ lichen Hintergrund zu erhellen versucht.

4.2 R oma - /  Z igeunerführer und - vertre ter in der osmanischen G eschichte der heutigen G ebie te B ulgariens und M a zedoniens (11.–19. J ahrhundert) Die frühesten Erwähnungen von Roma- / Zigeunergruppen auf dem Gebiet des Balkans allgemein stellen u. a. Marushiakova und Popov im 11. Jahrhundert fest, 2 | Im Kapitel 5 weist u. a. auch Toni Tashev darauf hin, dass dasselbe Verschuldungsphänomen innerhalb vieler Roma- / Z igeunergruppen noch und gerade heute oft zu beobachten sei (s. Abschn. 5.1.3).

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und bezeichnen sie als die erste der insgesamt drei großen Migrationswellen von Roma / Zigeunern auf dem Gebiet des heutigen Europas (2001: 13 ff., s. dazu Abschn. 4.2.4). Wenngleich für meine Argumentation die Zeit der Ersterwähnung von Roma- / Zigeunergruppen auf dem Untersuchungsgebiet keine direkte Relevanz besitzt, ist es im Hinblick auf die weitere historische Entwicklung durchaus bedeutsam, dass es offensichtlich bereits seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert im Byzantinischen Reich zur gängigen Praxis gehörte, herausragenden Vertretern der jeweiligen Gruppe Steuereintreibungsprivilegien zu verleihen. Basierend auf dem vorhandenen Quellenmaterial kann daher von einer bis weit in die vorosmanische Zeit reichenden historischen Kontinuität der Herausbildung vieler Roma- / Zigeunerführer als Steuereintreiber ausgegangen werden: »For example, in the records of the Patriarch of Constantinople, Gregorios II Kyprios (1283– 89), special taxes are mentioned that have to be collected from ›the so-called Egyptians and Tsigani‹ as well as the practise of sub-contracting the collection of these taxes. […] Tax collectors paid a percentage of the amount due in advance and then recovered the whole sum from the taxpayer.« (Ebd.: 16)

Einige der auf diesem Gebiet lebenden Gruppen sind bis ins 20. Jahrhundert hinein eher einer nomadisierenden als einer sesshaften Lebensweise nachgegangen. Doch nicht alle waren nach ihrer Ankunft in der Region Wandernde; einige gerieten als Sesshafte in Abhängigkeitsverhältnisse zu lokalen Großgrundbesitzern. Grevemeyer belegt in seiner Arbeit Geschichte als Utopie (1998) mittels eines Urkundenverweises aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, »dass Zigeuner sesshaft waren und als Paroiken3 der Klöster fungierten« (ebd.: 42). Im Osmanischen Reich, darüber herrscht in der Roma- / Zigeunerforschung kein Zweifel, war jene »poll-tax« (so u. a. Marushiakova / Popov 2001: 27) das Mittel der Herrschenden schlechthin, die Bevölkerung der eroberten Gebiete ins Reich zu integrieren bzw. sie zu erfassen. Bereits das erste Steuerdokument des Osmanischen Reiches von 1430 registrierte 431 Roma- / Zigeunerhaushalte und belegt, dass sowohl sesshafte als auch wandernde, nomadisierende Gruppen bereits zu dieser Zeit auf dem Gebiet lebten, die »regardless of whether they were Muslim or Christian, paid a poll-tax«. Weiter führen Marushiakova und Popov 3 | Als Paroiken wurden im byzantinischen Reich verarmte Freibauern bezeichnet, deren Landbesitz von mächtigen Großgrundbesitzern aufgekauft wurde und die in ein Hörigkeitsverhältnis zu diesen neuen Landeigentümern gerieten (vgl. Ostrogorsky 2006: 224). Diesen Paroiken »der Klöster und Kirchen«, so Ostrogorsky weiter, »wurde die Herdsteuer (Kapnikon) auferlegt«, jeweils von der Familie eingetrieben; diese bildete »die wichtigste Abgabe« in der byzantinischen Zeit. Die Haftung für diese Steuer gestaltete sich nach dem Solidaritätsprinzip: »[D]er Dorfgemeinde wurde ein Gesamtsteuersoll auferlegt, für das alle Einwohner des Dorfes haftbar waren und für ausfallende Zahlungen die Nachbarn der Nichtzahler aufzukommen hatten.« (Ebd.: 153)

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aus, dass die jeweiligen Magistrate der Gebiete einem gesetzlichen Vertreter die Macht verliehen, diese Beträge einzusammeln, indem er mit der jeweiligen nomadisierenden Gruppe mitreiste. Doch die Autoren weisen darauf hin, dass »[i]n reality the power of attorney was probably given to a representative coming from the Gypsy community itself« (ebd.: 28) und damit unmittelbar aus dem Kreis der betroffenen Familien bzw. Großfamilien selbst. Ginio legt in einem Aufsatz zu Gypsies in the Ottoman State (2004) dar, dass Roma / Zigeuner sich genau an der Grenze zwischen Muslimen und Nichtmuslimen befanden (im Sinne der osmanischen Grenzziehung zwischen den Religionszugehörigkeiten als Steuerkategorien). Die Roma / Zigeuner im Osmanischen Reich, so notiert er, seien »the most outstanding example of Ottoman people who lived on a flexible border – the one that distinguished Muslims from non-Muslims« (ebd.: 119). Als Norm galt jedoch der »free sedentary Muslim male adult« in den osmanischen Steuerlisten. Alle anderen Personen wurden mit dem Kennzeichenzusatz ihrer Andersartigkeit vermerkt. Darunter zählten »women, non-Muslims, minors and nomads« (ebd.: 124). Hinzu gesellte sich das Stigma, Roma / Zigeuner seien aufgrund ihrer nichtsesshaften Lebensweise generell als »potential tax envaders« zu sehen, die sich den staatlichen Akteuren entziehen würden. Dabei wurde kaum zwischen nomadisierenden und sesshaften, muslimischen oder christlichen Roma / Zigeunern differenziert: »From the administration’s point of view all Gypsies were suspected tax dodgers who must be forced to pay their dues.« (Ebd.: 127) Um auf diese Zahlungsunsicherheit zu reagieren, setzten osmanische Administratoren Kontrollinstanzen ähnlich den von Marushiakova und Popov beschriebenen ein. Auch Ginio (2004) verweist darauf, wenn er die Kontrollinstanz der administrativ unterteilten Roma- / Zigeunergruppen zu je 50 steuerpflichtigen Personen (cemaat) als »nominated leader (çeri başı)« bezeichnet, die »had to stand bail for the full payment of the tax by all the group members.« (Ebd.: 132) Die Regelung, über diese Steuerhauptmänner die Zahlungen der verschiedenen Gruppen zu kontrollieren, findet sich laut Ginio u. a. in einer Quelle aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts (vgl. ebd.: 133). Auch Marushiakova und Popov (1997) führen solche Steuergruppen als »dzhemaats, i. e. communities […] with their own leaders« auf, wobei sie auf ein weiteres administratives Steuerkonstrukt bzw. -modell verweisen. Die »mahalas (neighbourhoods) also headed by persons in charge« (ebd.: 20) beschreiben sie an anderer Stelle als das »basic principle of settlement for all minority communities in the Ottoman Empire.« (Marushiakova / Popov 2001:  38, H. i. O.) Dass daher zu Beginn des 17. Jahrhunderts auf dem heutigen Gebiet Bulgariens bereits weitgehend eigenständige Roma- / Zigeunerviertel existierten, legt auch Grevemeyer (1998) dar. Nach einer türkischen Quelle aus dem 16. Jahrhundert besaßen die Mahallas in der Provinz Rumelien4 »einen eigenen 4 | Rumelien galt aus osmanischer Sicht als das Gebiet des Reiches, welches sich auf der Balkanhalbinsel befand.

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Verwalter«, der in »der entsprechenden Zigeunergemeinde« sogar Bestrafungen vornehmen konnte, ohne Einmischung von »Verwaltern anderer Gemeinden, Militärs, Janitscharen oder sonstige[r] Leute« (ebd.: 53). Dieser »head of household« wurde laut Anordnung des Sultans im Jahr 1638 als »cheri-bashi« bezeichnet und trug damit einen Amtstitel, der seitens der Gadže-Institutionen generiert und implementiert wurde und im Türkischen eigentlich »the head of an army, or chieftain« bedeutet (Marushiakova / Popov 2001: 58, s. Fn. 9, Abschn. 4.2.3). Ob sich eine interne Rechtsregulierungsinstanz in den Mahallas personell auch mit der Instanz der Steuerhauptmänner deckte, geht aus den Quellen nicht eindeutig hervor. Geht man jedoch davon aus, dass bereits damals Personalunionen existierten (wie sie die meisten meiner Informanten verkörperten), so müsste die entsprechende Person innerhalb der Gruppe beides zugleich sein: die Schaltzentrale zwischen der Gruppe und der Administration in steuerlichen Belangen und die gruppeninterne (und von außen legitimierte) Rechtsprechungsinstanz. Geht man jedoch von verschiedenen Personen aus, die jeweils nur eine oder wenige Aufgaben übernahmen, so ergibt sich bereits hier eine Diversität an Stellungen und Funktionen innerhalb ein und derselben Gruppe, die eher für eine Heterogenität der als »leader« bezeichneten Personen sprechen würde. Meiner Erkenntnis nach – und wie ich im weitern Verlauf dieser Arbeit mittels meiner Felddaten zeige – existieren beide Erscheinungsformen bis zum heutigen Tag nebeneinander: die Form der Personalunionen (und damit ein sich herausbildendes Machtund Legitimationszentrum) einerseits5 und die Form der Einzelverantwortlichen (interne Machtverteilung und damit verbundene Konkurrenzerscheinungen zwischen den Akteuren) andererseits. Wie und vor welchem historischen Hintergrund sich diese Institutionalisierungen im Einzelnen vollzogen, soll im Folgenden für die beiden Untersuchungsgebiete getrennt voneinander beschrieben werden. Dabei werden sowohl der unterschiedliche Migrations- bzw. Wanderungshintergrund einzelner Roma- / Zigeunergruppen mit einbezogen als auch gegebenenfalls einzelne Erinnerungen der Akteure an ihre eigene Vergangenheit (oder das, was sie darüber zu sagen hatten). Damit werden nicht nur die jeweilige örtliche Vielfalt und Diversität auf-

5 | Wie im weiteren Verlauf gezeigt wird, sind nicht nur meine Informanten in beiden Lagern zu verorten. Auch aus anderen Ländern weisen die Quellen einerseits auf solcherlei Personalunionen hin und andererseits auf die große Diversität von Führern (bzw. »leadern«) innerhalb einer Gruppe oder eines Mahallas. Am Beispiel von Emil Sčuka, einem tschechischen Rom /  Z igeuner, führt Nirenberg (2009) dessen Personalunion aus (ebd.:  100). Wie sich die Eröffnung einer NGO parallel zum Amt des Pastors als Prestigeerweiterung auszahlt und damit zur Personalunion führen kann, erläutert Slavkova (2007) innerhalb einer Untersuchung in ihrem Heimatland Bulgarien (ebd.: 231). Anhand des Beispiels Ungarn und der dort entstandenen Romaelite weist Szuhay (1995) auf deren »multiplexe Personalunionen« hin (ebd.: 112, m. Ü.).

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gezeigt, sondern auch Verständnisvoraussetzungen geschaffen, um die Darlegungen der Akteure kontextuell einbinden zu können.

4.2.1 Roma / Zigeuner im Dienst des osmanischen Militärs Viele der muslimischen Roma / Zigeuner Rumeliens, so berichtet Grevemeyer (1998), waren bereits seit dem 16. Jahrhundert »in das osmanische Militärwesen auf vielfältige Weise eingebunden« (ebd.: 54). Folgt man Puxons (1976; 1980) Argumentation, so sind bereits Ende des 14. und zu Beginn des 15. Jahrhunderts »Baručija« bekannt, die in »Skopje (Usküp) [als] eine spezielle Klasse von Schießpulverherstellern« galten (Puxon 1980:  12). Eine der wohl ältesten Mahallas in Skopje, Topaana-Mahalla, kündet mit ihrem Namen noch heute von einer Verflechtung der Bewohner in militärische Aufgaben.6 Die beiden türkischen Historiker Ismail Altinöz und Bilgehan Pamuk bestätigten beispielsweise auf der Jahreskonferenz der GLS im Jahr 2011 in Graz, dass sowohl viele der mobilen Schmiede als auch das Personal im Unterhaltungssektor des osmanischen Militärs bereits in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts als typische Sparten der »occupations of Gypsies in the Ottoman Empire« gelten können. Diese von Grevemeyer (1998) als »spezifische Zigeunerinstitutionen« deklarierten Positionen verloren ihre Bedeutung und deren Amtsinhaber damit ihre »relativ privilegierte Stellung«, nachdem sich das Osmanische Reich Stück für Stück von vielen sich zu emanzipieren beginnenden Herrschaftsgebieten trennen musste und darüber hinaus im eigenen Auflösungsprozess befand (ebd.: 54). Ein besonderes Privileg, das nach Marushiakova und Popov (2001) allein Roma / Zigeuner besaßen, war beispielsweise jährlich nach Istanbul reisen zu dürfen, um die Pferde des Sultans zu grasen. »Dschanbasani-Esb« nennt sie Grevemeyer, »oder Seelenspieler der Pferde« (1998: 60), und bezieht sich dabei auf die Quelle von Joseph von Hammer-Purgstall (1821–22), einem österreichischen Orientalisten und Botschafter in Istanbul Anfang des 19. Jahrhunderts, der diese als »eine Art von Pferdemäklern oder Pferdedieben, meistens Zigeuner« beschreibt (ebd.: 453 in Grevemeyer 1998: 60, s. Narratives Glossar). Ginio (2004) berichtet hingegen, dass Roma / Zigeuner zwar allgemein vom Dienst an der Waffe im osmanischen Heer ausgeschlossen gewesen seien; dennoch wurden die Muslime unter ihnen gern als Hilfskräfte rekrutiert, um die Ochsenkarren zu leiten, oder sie fanden als (Militär-)Musiker ihr Auskommen (ebd.: 135 ff., s. arabacı in Narratives Glossar). Daher sei sogar eine spezielle Besteuerung der Musikgruppen erhoben worden (mehter hakkı), die folglich besonders die Roma / Zigeuner betraf. Zusammenfassend stellt Ginio fest, dass Roma / Zigeunern im Osmanischen Reich zwar eine inferiore Stellung zukam und sie sogar eine gesonderte Besteuerung erfuhren, doch waren besonders im Militär »the Gypsies’ services […] nevertheless needed« (ebd.: 142). 6 | Siehe Kapitel 3 und Narratives Glossar.

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4.2.2 Bulgarien und das Osmanische Reich: Zwischen Okkupation und Emanzipation Bereits kurz nachdem sich 1185 Bulgarien von der byzantinischen Herrschaft befreite und das Zweite Bulgarische Reich 1186 gegründet wurde, begann von türkischer Seite aus eine erfolgreiche Eroberungskampagne, die das bulgarische Gebiet gänzlich unter seine Kontrolle brachte (vgl. Crowe 1994: 2). Zu Beginn des 14. Jahrhunderts befand sich das Gebiet des heutigen Bulgarien weitestgehend in osmanischer Hand und sollte sich noch ein weiteres halbes Millenium dort befinden, bevor das Osmanische Reich, u .a. wegen finanziellen Ruins und administrativ chaotischer Zustände zum Ende des 19. Jahrhunderts, seinen Einfluss auf Bulgarien gänzlich verlieren sollte (vgl. Pamuk 1984: 108 ff.). Das auf islamischer Gesetzgebung basierende Osmanische Reich setzte ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts »in the Rhodope region of southern Bulgaria« auf Massenkonvertierungen zum Islam (Crowe 1994: 3). Doch bereits gegen Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts sei ein deutlicher Rückgang des osmanischen Einflusses festzustellen gewesen, zumal sich parallel eine »rebirth of Bulgarian national consciousness« (ebd.: 4) abgezeichnet habe. In diesem Zusammenhang sei ein weiteres Mal auf eine Quelle in Todorovas Arbeit Imagining the Balkans (2009) verwiesen, in der wiederholend auf den Vorwurf der »corruption of the main Ottoman institutions« (ebd.: 75) hingewiesen wird, der aus den Memoiren von Delacroix‹ Sohn 1684 deutlich hervorgeht. Nach dem siebten und achten der vielen Russisch-Türkischen Kriege (1806– 1812 und 1828–1829) musste das Osmanische Reich zwei geostrategisch wichtige Gebiete auf der Balkanhalbinsel abtreten: Serbien und Griechenland. Das fortschreitend kollabierende Finanzsystem des Osmanischen Reiches zwang die Behörden zehn Jahre später, im Jahr 1839, zur »Tanzimatsreform«7: Land musste neu vermessen, Steuern neu bestimmt sowie die Bevölkerung des Reiches nach dem neuerlichen Zensus zwischen 1831 und 1838 neu erfasst werden. Diese Reform brachte unter anderem Erleichterungen dergestalt mit sich, dass Steuern fortan »be assessed according to the ›individual ability to pay‹ and were anchored by an empire-wide census« (Crowe 1994:  5). Die sich aus dieser äußerst vagen Steuerbestimmungsformulierung ergebenden Konsequenzen ließen im weiteren Geschichtsverlauf die Veränderungen auf bulgarischem Gebiet »oftentimes chaotic« werden, zumal die mehr schlecht als recht durchgesetzte Landreform von 1834 ihr Übriges tat (ebd.: 5). Inalcik und Hurewitz (1975) notieren, dass sich bald vielfache Beschuldigungen und Beschwerden der Menschen in den Provinzen an den Staat richteten, der darin für die »extortionate tax rates« und für seinen 7 | Diese Reform umfasste großenteils Land- und Besteuerungsfragen der Bevölkerung, die von einer Steuerlast befreit wird und zugleich über die finanziellen und administrativen Mängel des Osmanischen Reiches zu dieser Zeit hinwegsehen lassen sollte.

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mangelnden Schutz der Nahrungsmittelproduzenten oder des Handels verantwortlich gemacht wurde. Laut dieser Quelle wurde der Begriff des »tax-farming« (iltizam) zu einem Beiwort für »extortion of cash and goods from artisans and peasants«. Zudem heißt es weiter, dass der Steuereintreiber, der »tax-farmer«, höhere Steuern einsammeln konnte als eigentlich vertraglich geregelt und den Restbetrag unter Umständen einbehielt (ebd.: 3). Den von 1853 bis 1856 zwischen Russland und dem Osmanischen Reich bzw. ab 1854 dessen britischen und französischen Alliierten tobenden Krimkrieg konnte ›der kranke Mann am Bosporus‹ nicht zuletzt dank der anglo-französischen Intervention für sich entscheiden. In der Folge kam es freilich durch die erhöhte Einfuhr westlicher Waren und den wachsenden Einfluss westlichen Kapitals zu einer weiteren Verschärfung der ohnehin angespannten finanziellen Lage, an der auch die Tanzimatsreformen kaum etwas zu ändern vermochten. Immer wieder musste das Osmanische Reich im Ausland hochverzinste Anleihen aufnehmen und fand sich schließlich 1875 in der Insolvenz wieder (vgl. Marushiakova / Popov 2001:  53, Pamuk 1984:  108 ff.). Die sich daraufhin zunehmend verschärfenden Gesetze und Restriktionen betrafen die Roma / Zigeuner des Gebiets insofern, als die Regierung 1882 »the mahalla (or mahalles), self-contained ethnic quarters« für illegal erklärte, obwohl daraufhin einige der Siedlungen (so z. B. in Varna und Sofia) weiterhin existierten (Crowe 1994: 11). Bekanntlich bekam Bulgarien im Zuge der Konsequenzen des Friedens von San Stefano und den des Berliner Kongresses 1878 seine Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich zugesprochen. Mit einem neuerlichen Einwanderungsverbot, das dem »Gypsy nomadism […] entering Bulgaria from other countries« den Kampf ansagte, beschränkte sich die neue bulgarische Regierung jedoch nicht nur auf einen Einwanderungsstopp, besonders aus den Anrainerstaaten Moldawien und der Walachei, sondern sie drängte, im Gegensatz zum ehemaligen Osmanischen Reich, auch auf eine schnelle Sesshaftmachung der vielen noch wandernden Roma / Zigeuner auf ihrem Staatsgebiet.

4.2.3 Roma / Zigeuner zwischen Freiheit und Sklaverei: Serbien, Moldawien und die Walachei Serbien erlangte nach den beiden blutigen Aufständen von 1804–1813 bzw. 1815– 1817 den Status eines semiautonomen Fürstentums innerhalb des Osmanischen Reiches.8 Als sich um 1804 serbische Bevölkerungsteile gegen ihre osmanischen Okkupanten zu erheben begannen, wanderten zugleich türkische Landbesitzer aus dem unsicher werdenden Gebiet nach Osten aus und brachten dabei »weiße 8 | Im Jahr 1817 wird Serbien Teilautonomie als Fürstentum gewährt, die 1830 bestätigt wird. Seine Unabhängigkeit erlangte Serbien de facto mit dem Abzug der letzten osmanischen Truppen im Jahr 1867, de jure jedoch erst durch den Vertrag von Berlin im Jahr 1878.

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Zigeuner (Bijeli Gypsies)« – vorrangig Musiker – und ihre Pferdehändler mit sich (Crowe 1994: 202). Nach einem Aufstand serbischer Führer im Jahr 1806 gegen die türkischen Besatzer gelang es zwar den serbischen Einheiten, Belgrad – die künftige Hauptstadt Serbiens – zu besetzen, doch musste sich die den serbischen Truppen beistehende russische Armee bereits 1812 aus der Stadt und den nun serbisch besetzten Gebieten wieder zurückziehen: Napoleons Truppen standen vor russischen Toren und sorgten damit indirekt für den Verlust Belgrads, das wieder unter türkische Kontrolle gelangte. Der darauffolgende Krieg zwischen den Osmanen und Russland (1821–1829) jedoch bestätigte Belgrad als Hauptstadt des 1830 (wenngleich nur virtuell) unabhängig gewordenen Serbiens, wo sich fortan Roma / Zigeuner frei bewegen und ansiedeln durften. Diese Freiheit blieb in Serbien für die nächsten Jahrzehnte bestehen, ganz im Gegensatz zu den benachbarten Gebieten Moldawien und der zum heutigen Gebiet Rumäniens zählenden Walachei. Durch die dort seit dem 14. / 15. Jahrhundert geltenden und im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert nach wie vor gültigen Sklavereigesetze strömten viele der rumänischen Roma / Zigeuner (vor und nach deren Abschaffung) ins damalig serbische Gebiet ein, wo sie sich durch ihre stückweise und zumeist freiwillige Ansiedlung an die damals im Land aufkommende serbisch-nationale Stimmung anschlossen, da diese unter ihnen auf Zustimmung traf. Ihr ehemaliger Sklavenstatus wurde in Moldawien und der Walachei in drei Kategorien gefasst: die Sklaven der Krone, die Sklaven der Klöster und die Sklaven der Boyaren (vgl. Marushiakova / Popov 2001: 84; Achim 2004: 32 ff., m. H.). Achim beschreibt neben einer ausführlichen Aufstellung der Aufgaben und Privilegien der verschiedenen Sklaven und den unterschiedlichen Sonderregulierungen für die einzelnen Sklavenkategorien auch die Besteuerungsform der Roma / Zigeuner detailliert. Ihm zufolge wurden die Steuern der Zigeuner der Krone »collected by their leaders and handed over to state officials who were specifically responsible for the supervision of these slaves« (ebd.: 53). Des Weiteren weist Achim darauf hin, dass jede der verschiedenen Roma- / Zigeunergruppen einen Anführer besaß, der durch einen Rat und während eines bestimmten Rituals gewählt wurde. Dabei soll die Auswahl des Anführers aus der Reihe der stärksten und weisesten Männer erfolgt und seine Funktion auf Lebenszeit bestimmt worden sein (ebd.: 59). Dass diese Anführer eine Art Aristokratie der Zigeuner bildeten, die den »Gehorsam der gesamten Gruppenmitglieder« (ebd., m. Ü.) genossen, führt Achim aufgrund der Beschreibungen Heinrich von Wlislockis (1894) aus (ebd.: 58 ff.). »In this way, the Gypsy prince played the role of intermediary between the community and the authorities« (ebd.:  60), und laut einer aus dem Jahre 1793 stammenden Charta verboten die Administrationen jedwede Einmischungen in Angelegenheiten, die die Gruppen als solches betrafen, außer im Falle eines unnatürlichen Todes eines Mitglieds dieser Gruppen. Wie bereits anhand des osmanisch beherrschten Gebiets gezeigt, wurden auch in der Walachei und Moldawien für diese Art der Anführer und Steuersammler

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von administrativer Seite Bezeichnungen kreiert, die gleichfalls der militärischen Nomenklatur entstammten. Als bulibasha9 galt eine Person unter den Roma- / Zigeunergruppen, die als Anführer mehrerer Gruppen »collected tax, presided over disputes between bands or between Gypsies from different bands and sometimes even in disputes between members of the same band« (ebd.: 61). Im Gegenzug wurden sie von allen Steuerabgaben und anderen Verpflichtungen gegenüber staatlichen Institutionen befreit.

4.2.4 Migrationswellen: Wanderungen während und nach der Sklaverei Obgleich dieser kleinen Gruppe von Anführern, Steuereinsammlern und -überbringern gewisse Freiheiten geboten wurden, blieben sie dennoch Sklaven. Nach der schrittweisen Durchsetzung der Anti-Sklavereigesetze auf dem Gebiet der Walachei und Moldawiens im Jahr 1864 befanden sich viele der Roma / Zigeuner in einer wirtschaftlich schwierigen Situation (vgl. u. a. Barany 2002: 86). Vielen Handwerken entschwanden zusehends ihre Verwendung oder ihre Rohstoffgrundlage, wodurch sich wiederum neue Handwerkszweige herausbildeten.10 Aufgrund des seitens der Administration zunehmend wachsenden Drucks auf die wandernden Bevölkerungsteile beginnen viele der Roma / Zigeuner über die Landesgrenzen zu migrieren, wobei im Fall des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts die Quellen von der dritten der drei Migrationswellen ausgehen: Zunächst ist jene zu nennen, die erstmalig Roma / Zigeuner ins Gebiet Europas brachte und von der bereits eingangs berichtet wurde. In der zweiten Welle, die Marushiakova und Popov (1997) in der Zeit des 17.–18. Jahrhunderts ausmachen, nutzten viele Roma / Zigeuner die »Kriegszustände zwischen Österreich und dem Osmanischen Reich, sowie die temporäre Besetzung Nordostserbiens, Nordostbulgariens und der Walachei (1690–1718) aus, um den Weg ins Osmanische Reich zu finden, wo sie sich zerstreuten« (ebd.: 23, m. Ü.). Diese dritte und letzte der drei Migrationswellen bezeichnen Marushiakova und Popov (1997) als die »Great Kalderara Invasion« (ebd.:  26). Die Hauptantriebskraft innerhalb dieser letzten großen Migrationswelle waren die Sklaven der Krone, zu denen auch die noch nomadisierenden Gruppen der Kalderara in diesen Gebieten zählten. Zu jenen Kalderara-Gruppen sind u. a. die Ursara, Lin9 | Als buluc bashi galten im Militär jene, die als Unteroffiziere (bahsi) ein Battalion (buluc) von ca. 30 Soldaten befehligten (vgl. u. a. Powell-Cotton [1902] 2009: 448). 10 | Beispielsweise führt der Goldschwund an den Flussufern dazu, dass die Goldwäscher (Aurari) verpf lichtet wurden, Waldarbeiten durchzuführen, ihre Bezeichnung als Aurari verlieren und nun als Rudari bezeichnet werden. Die bis dato als Rudari bezeichneten Gruppen wiederum beginnen aufgrund des auf kommenden Hausbaus Steine und Ziegel für die ländliche Bevölkerung zu produzieren etc. (vgl. Achim 2004: 87 f f.).

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gurara, Aurara und die Rudara zu zählen (ebd.). Achim verortet diese dritte Migrationswelle besonders in die Jahre 1906–1913 und spielt dabei auch auf die vermehrte Überseemigration vieler Roma / Zigeuner nach Amerika, England und zeitgleich auch auf den südamerikanischen Kontinent an (Achim 2004:  125). Um die Reich- und Tragweite dieser letzten Migrationswelle zu unterstreichen, die hauptsächlich von Ost nach West verlief, seien nochmals Marushiakova und Popov zitiert: »In only a few decades the massive Gypsy waves of migration which began in the second half of the 19th c. from the lands of what today is Rumania, changed the picture of the Gypsy community scattered in different countries and continents all over the world.« (Marushiakova /  P opov 2004a :  75; vgl. 2001: 88)

Mein Großvater kam aus Serbien, ging nach Rumänien und kam zurück nach Bulgarien. In Bulgarien gibt es [heute] vielleicht 50.000 bis 60.000 Kalderaš-Zigeuner. Sie leben in verschiedenen Regionen. […] Mein Großvater kam vor 100 oder 150 Jahren aus Serbien nach Bulgarien. Er war erst in Rumänien und kam danach zurück nach Bulgarien. Als dann der Kommunismus kam, blieb er auch hier (in Bulgarien).  Toma Nikolaeff

4.2.5 Das Gebiet Mazedonien: Zankapfel seiner Nachbarn Um die historischen Abläufe und die daraus resultierende Dynamik auf dem Gebiet des heutigen Mazedoniens (zunächst Teilgebiet des Osmanischen Reiches und später Teilgebiet Serbiens) betrachten zu können, werde ich mich im folgenden kurzen Abriss wiederholt auf Crowes (1994; 2007) und Grevemeyers (1998) Darstellungen stützen. Brepohls Bericht, der im Jahr 1911 Eingang in das damals erst 23 Jahre junge Journal of the Gypsy Lore Society fand, zeigt nicht nur Phänomene wie die eines »Zigeunerkönigs« auf dem ungarisch-banatischen 11 Gebiet auf, sondern auch, welche Möglichkeiten diesem »Zigeunerkönig« seine spätere Migration auf das serbische Gebiet offerierte. Brepohl berichtet von dem »Wojwoden oder Zigeunerkönig der ungarisch-banater Zigeuner, Kis Mihajlo«, der auch bei den »serbischen Zigeunern in großem Ansehen« stand. Kis Mihajlo sei im Jahr 1810, also zur Zeit des sich erhebenden serbischen Volkes gegen die osmanische Herrschaft 11 | Mit Timişoara als Zentrum erstreckt sich das Gebiet des Banat über einige Teile der drei heutigen Gebiete Serbiens, Rumäniens und Ungarns. Dabei stellte Belgrad die südwestliche und Arad als Grenzstadt zwischen Ungarn und Rumänien die nördliche Begrenzung dar (s. Karte 2, S. 94).

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und zwei Jahre vor der ersten Unabhängigkeitsdeklaration Serbiens durch den Bukarester Vertrag 1812, als »Sohn eines Banater Wanderzigeuners« geboren. Er »kämpfte auf ungarischer Seite gegen das österreichische Heer« (ebd.:  47). So soll er in der Zeit seines Dienstes als »Spion der ungarischen Revolutionsarmee« nicht nur als Anführer »der Zigeuner des Banats« gewählt worden sein, sondern »die ungarische provisorische Regierung bestätigte ihn [sogar] als Wojwoden« (ebd.: 48). Interessant erscheint in diesem Zusammenhang Brepohls Hinweis darauf, dass Kis Mihajlo »oft nach Serbien berufen [wurde], um Streitigkeiten unter den Zigeunern zu schlichten«. Aufgrund von sich wandelnden gesellschaftlichen Umständen Ende der 1850er Jahre hätte sich das Leben dann »für die Zigeuner in Süd-Ungarn erschwert«, und Kis Mihajlo migrierte, jetzt ca. vierzigjährig, gänzlich nach Serbien. Doch »Fürst Michael III. von Serbien [sah] sich gezwungen, den ›Zigeunerkönig Kis Mihajlo‹ ausweisen zu lassen«. Als Kis Mihajlo schließlich »dem Druck der Gesetze nachgebend« zusehen musste, wie »die Zigeuner immer mehr und mehr ihr Wanderleben aufgeben [mussten], […] wanderte [er], beweint von den Zigeunern Süd-Ungarns, nach Nord Amerika aus« (ebd.: 48). Wie bereits im Zusammenhang mit dem Osmanischen Reich dargelegt, war jene Migrationsrichtung, die Kis Mihajlo nahm (aus dem ungarisch-banatischen Gebiet über Serbien nach Amerika), nicht die einzige der damaligen Zeit. Viele türkische Landbesitzer wanderten aus den Gebieten des sich erhebenden Serbiens 1804–1806 über den Drina-Fluss nach Osten aus und brachten Bijeli-Gruppen 12 (vorrangig Musiker) und dźambasi (Pferdehändler) mit (Crowe 1994:  202). Auf anderer Seite ließ Serbien, nach seiner 1830 virtuell erreichten Unabhängigkeit, die aus rumänischen Gebieten einwandernden Roma- / Zigeunergruppen selbst entscheiden, ob sie sich ansiedeln oder nicht-sesshaft leben wollen. Viele der auf diesem Gebiet lebenden Roma- / Zigeunergruppen sind in den drei von Crowe aufgeführten Zensus der Jahre 1866, 1874 und 1880 als sesshaft deklariert: »all Gypsies resident in Serbia.« (Ebd.: 205) Ein Jahr nach dem ersten Zensus, im Jahr 1867, übte Alexander II. von Russland verstärkt Druck auf die türkischen Machthaber aus, sodass diese ihre Truppen schließlich aus dem serbischen Gebiet abzogen. Als Serbien im Jahr 1875 abermals in Konflikt mit den Türken kam, konnte es sich wiederum nur durch russische Hilfe gegen die türkische Armee behaupten und so eine türkische Rückeroberung abwenden (vgl. Crowe 1994: 208). Dieser erneute Krieg mit Russland endete in jener desaströsen Niederlage der türkischen Armee, aus der im Vertrag von Berlin im Juli des Jahres 1878 die Unabhängigkeit 12 | Die Wanderbewegungen der als »Bijeli-« oder »weiße Zigeuner« benannten Gruppen sollten laut »Dekret des Sultans Murad IV« bereits im 17. Jahrhundert unterbunden werden. Diese Gruppen der »Bijeli-Zigeuner« werden später aufgrund ihres Dialekts als »Arlija« bezeichnet und machen laut Crowe den größten Teil der Roma /  Z igeuner in Mazedonien und im südlichen Teil Serbiens aus (Crowe 1994: 199).

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der beiden Staaten Serbien und Montenegro resultierte. Dieser serbisch-türkische Krieg »zwang ungefähr eine Million Christen und eine Million Muslime ihre ›Wohngebiete zu wechseln‹« (Protić 1989, so zit. in Hayden 2002: 244). Doch sei der größte Teil »der muslimischen Bevölkerung« bereits vorher, seitdem Serbien im Jahr 1830 seine Autonomie als Fürstentum durch das Osmanische Reich anerkannt wurde, »abgewandert« (ebd.). 1879 sprach die serbische Regierung im Dekret 06 / 1884 (Crowe 1994: 209) ein generelles Wanderverbot aus, das aufgrund seiner offensichtlichen Wirkungslosigkeit nach 12 Jahren (1891) radikalisiert wurde. Die Regierung Serbiens rief darin sogar zur Gefangennahme aller nomadisierenden Personen auf. Damit fiel der sechs Dekaden anhaltende freiheitliche Status der wandernden Roma / Zigeuner zu Beginn des 20. Jahrhunderts der nationalstaatlichen Sesshaftmachung anheim. Für Roma / Zigeuner in Bulgarien jedoch erging derselbe Reiseverboterlass bereits acht Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung und Staatsgründung, wie oben bereits erwähnt, nämlich im Jahr 1886. Damit sahen sich die wandernden Roma- / Zigeunergruppen auf beiden Gebieten zu Beginn des 20. Jahrhunderts der mittels Sanktionen durchzusetzenden Regulierung zur Sesshaftmachung gegenüber und waren, entgegen den Erfahrungen ihrer Elternund Großelterngeneration, gezwungen, ihre Lebensweise neu zu konfigurieren. In der Quelle des bulgarischen Geographen, Politikers und Ethnographen Vasil Kanchov aus dem Jahr 1900, Ethnographie und Statistik Mazedoniens (m. Ü.), ist die allgemeine Einschätzung des relativen sozialen Status der Roma / Zigeuner dennoch folgende: »[U]nter der hiesigen Bevölkerung sind sie bei weitem keine solchen Parias wie in anderen Ländern. Ihr Zusammenleben mit den Bauern hier ist gut und teilweise sind sie ziemlich wohlhabend.« (Kantschov 1900, so zit. in Grevemeyer 1998: 114)

Grevemeyers Einschätzung der Situation der bulgarischen Roma / Zigeuner fällt ähnlich aus, denn »[s]ie waren weder Parias noch gleichberechtigte Subjekte. Sie gehörten zu den ärmsten Schichten, behielten jedoch ihre Würde und vermochten sich als Vertreter einer Nischenökonomie praktische Anerkennung zu sichern.« (Ebd.) Aus einer frühen Quelle der beiden britischen Autoren S.G.B. St. Clair und Charles A. Brophy aus dem Jahr 1869 ist laut Crowe (1994) zu entnehmen, dass diese beiden Reisenden die Roma / Zigeuner vor Ort als »to be as honest as their Bulgarian neighbors« (ebd.: 6) wahrnahmen. In dieser Darstellung, die auf einem jahrelangen Aufenthalt der beiden Autoren in einem Dorf bei Varna fußt, stellen sie den Umgang der Mehrheitsbevölkerung mit den Roma / Zigeunern deutlich unter Kritik. Die Roma / Zigeuner vor Ort würden ihrer Meinung nach unfair behandelt und sie finden, dass sie »earned their living by harder labour than the Christian, who hated the Roma more than the Muslims.« (Ebd.)

(Karten nach: MdI der DDR 1953. Karten für den Geschichtsunterricht. Volk und Wissen volkseigener Verlag: Berlin, S. 72)

Karte 1: Ländergrenzen der Balkanländer 1877 bis 1887 (links) und die territoriale Entwicklung bis 1914 (rechts)

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Karte 2: Die Grenzen von 1918–1938 mit Kennzeichnung des Gebiets Banat

(Karte nach: Joaquín de Salas Vara de Rey 2006. Historical and Political Maps of the Balkan States. [online: http://www.euratlas.net/history/hisatlas/balkan_ states/193818BK.html, vom 20.06.2012])

4.3 B ulgarien und M a zedonien zu B eginn des 20. J ahrhunderts Die Karten aus der Zeit an der Schwelle des 19. zum 20. Jahrhundert weisen Bulgarien und Serbien als jene zwei Nachbarländer aus, deren zu diesem Zeitpunkt jeweils eigenen, geostrategischen Territorialinteressen sich u. a. auf das Gebiet des heutigen Mazedonien konzentrierten. Die beiden in den Jahren 1912 / 1913 aus vorrangig jenem Territorialinteresse resultierenden ausbrechenden Kriege sind als »die beiden Balkankriege« in die Annalen der Geschichte eingegangen und haben mit einem (weiteren) Friedensvertrag von Bukarest, im August des Jahres 1913, ihr Ende gefunden. Gemäß diesem Vertrag wurde die Landfläche Serbiens fast verdoppelt, da Nord- und Zentralmazedonien nun der serbischen Kontrolle unterstellt wurde und der südliche Teil des heutigen mazedonischen Territoriums wiederum unter griechische Kontrolle fiel. Albanien bekam im selben Atemzuge seine Unabhängigkeit zugesprochen (s. Karte 1, S. 93).

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Maria Todorova stellt in ihrer Arbeit Imagining the Balkans heraus, dass die Geburtsstunde der »Macedonian question« den Ruf der Halbinsel als »turbulent region« bedeutend geprägt hat (2009:  117). Mit einem Verweis auf eine Quelle des britischen Reiseautors John Foster Fraser aus dem Jahr 1906 argumentiert Todorova sogar, dass für Fraser die »Macedonian question ›the Balkan problem‹« als solches darstellen würde (ebd.). Und ebendies bestätigend währte der fragile Frieden von Bukarest nicht lang und wurde jäh unterbrochen, als am 28.  Juni  1914, dem serbischen Nationalfeiertag, bosnisch-serbische Nationalisten den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gattin in Sarajevo ermordeten. Die darauf hin ausgesprochenen Kriegserklärungen – Österreich an Serbien am 28. Juli; Deutschland an Russland am 1. August (weil Russland mobilzumachen begann, um abermals Serbien zur Seite zu stehen) – ließ den Ersten Weltkrieg ausbrechen, der für eine erneute Durchmischung und dadurch Potenzierung der ohnehin komplexen Bevölkerungsheterogenität auf der Balkanhalbinsel sorgte. Der als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts bekannte Krieg mündete am 1. Dezember 1918 u. a. in die Gründung des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen (vgl. Crowe 1994:  210–12, m. H.). Doch dieses südslawische Königreich, so Crowe weiter, ist entlang seiner inneren ethnischen Grenzen mit vielerlei Problemen durchsetzt. Und in diesem »chaos in the Balkans at the end of World War I« migrieren viele der Roma / Zigeuner, die als Zeltbewohner (Ćergari) bekannt sind, nach Serbien (ebd.: 213). Auf diese Gruppenbezeichnung Bezug nehmend, weist Grevemeyer (1998) auf eine auf Deutsch erschienene Quelle von Ami Boué aus dem Jahr 1889 hin, der die »elenden Zelte von grauer oder schwärzlicher, mit einer öligen Masse getränkter Leinwand« als »Čerga« benennt (Boué 1889: 507, so zit. ebd.: 81; s. Narratives Glossar). Grevemeyer (1998) bedient sich des Weiteren einer französischen Quelle des Arztes und Historikers Alexandros Georgios Paspatis (1870), demzufolge die sesshaften Roma / Zigeuner an der Schwelle zum 20. Jahrhundert im Gebiet »›nicht allzu zahlreich‹ im Verhältnis ›zu ihren nomadisch lebenden Brüdern‹« gewesen wären (Paspatis 1870, so zit. ebd.: 92), und zeigt nicht nur, dass die wandernd lebenden Roma / Zigeuner die Mehrzahl ausmachten, sondern weist auch darauf hin, dass diejenigen »Tchinghianés Sédentaires« in der Mehrzahl Christen seien (Paspatis 1870: 11). Ob allein daraus zu schlussfolgern ist, dass die nicht-sesshaften Gruppen daher eher muslimischer Religionszugehörigkeit waren, bleibt zweifelhaft, aber nicht unwahrscheinlich. Betrachtet man die Tatsache der weitgehenden Sesshaftigkeit der Roma / Zigeuner in Serbien um das Jahr 1880 herum, und setzt voraus, dass Paspatis‹ Argument nicht völlig falsch ist, und zählt des Weiteren hinzu, dass kurz nach der Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich die anti-muslimischen Ressentiments auf serbischem Gebiet hochgehalten wurden, könnte es sich durchaus auch um eine erzwungene Nichtsesshaftigkeit und Migration aufgrund

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dieser religiösen Kategorisierung handeln, die sich gegen alles Muslimische im Land richtete. Sollte diese Argumentationsfolge stimmen, so ist weiter zu folgern, dass sich innerhalb der letzten 120 Jahre an diesen anti-muslimischen Vorbehalten nicht viel geändert hat, denkt man an die Geschehnisse der 1990er Jahre, die am Schluss dieses Kapitels von einigen Akteuren reflektiert werden.

4.3.1 Bulgarien im 20. Jahrhundert – Beginnender Aktivismus Dass die ehemals auf osmanischer Seite gebräuchliche Bevölkerungskategorisierung nach Muslimen und Nichtmuslimen auch über die Grenze zum 20. Jahrhundert hineingetragen wurde, soll hier mit Gilliat-Smith (1915–1916) belegt sein, der im Übrigen ebenso der Meinung ist, dass der Unterschiedlichkeit der einzelnen Roma- / Zigeunergruppen des Gebiets bei ihrer Beforschung mit einer klaren Kategorisierung zu begegnen wäre. Zwar rät er anfänglich bei der Diskussion verschiedener »Gypsy tribes inhabiting the Balkan Peninsula«, die vier ausschlaggebenden Gruppenspezifika »(1) the district; (2) the religion; (3) the mode of life, whether sedentary or nomad; (4) the occupation or trade« zu beachten (ebd.: 3), doch unterscheidet er auf den nächsten Seiten letztendlich »nur« noch zwischen siedelnden und nomadisierenden Muslimen und zwischen siedelnden und nomadisierenden Christen. Doch zurück zum weiteren Entwicklungsweg, den Bulgarien nach dem Ersten Weltkrieg nahm. Grevemeyer (1998) meint, dass Bulgarien bis ins Jahr 1944 hinein »keine spezifische Minderheitenpolitik gegenüber Zigeunern« auf seiner Agenda hatte (ebd.: 131). Dem ist insofern zu widersprechen, als die bulgarische Regierung den Roma / Zigeunern in einem Dekret vom 31. Mai 1901 ein generelles Wahlverbot erteilte. Hierzu notieren Marushiakova und Popov (2001b), dass dieses Wahlverbot für Roma / Zigeuner beider Konfessionen galt, »the Muslim Gypsies (the majority) and the nomads« (ebd.: 374). Als Reaktion auf dieses Verbot trafen sich u. a. der Anwalt Marko Markov (ethnischer Bulgare) und der »tzari-bashi of Bulgarian Gypsies, Ramadan Ali« in Vidin, um mit einer Petition die gleichberechtigte Stimmabgabe der Roma / Zigeuner im Land wieder einzufordern. Als diese Petition, die laut Marushiakova und Popov am 1. Juni 1905 in der Nationalversammlung einging, dort allerdings keinerlei erwähnenswerte Reaktionen hervorrief, wurde der »first Gypsy congress in Sofia on 19 December 1905« ausgerufen (ebd.). Laut einem im selben Jahr in Bulgarien durchgeführten Zensus konnten drei Prozent der bulgarischen Roma / Zigeuner lesen und schreiben (Crowe 1994: 13), doch die allgemeine Bildungskampagne seit der nationalen Unabhängigkeit Bulgariens sorgte innerhalb der nächsten Dekaden für einen Anstieg der Alphabetisierungsrate, die nach einem Zensus von 1926 bereits bei acht Prozent lag. Zur selben Zeit steigen die Publikationszahlen von Roma- / Zigeunerzeitungen. Dieser Anstieg ist deshalb auch als Auswirkung der Alphabetisierung und der zunehmenden Organisation von Roma / Zigeunern zu verstehen. Als einer der aktivsten Roma/Zigeuner in Bulgarien dieser Zeit kann Shakir Pashov gelten, »who edited Roma Gypsy

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publications and organized Gypsies from 1923 to 1934« (ebd.: 16). Eine Akteurin dieser Arbeit, Lilyana Kovatcheva, bezeichnet Shakir Pashov in einer über ihn veröffentlichten Biographie als »Apostle of the Roma in Bulgaria« (vgl. Kovatcheva 2003)13, der erstmalig eine Bildungsorganisation und eine Romazeitung initiiert habe. Pashov saß beispielsweise der Organisation »Egypt« vor, die 1925 verboten wurde und später unter dem Namen Istikbal (Zukunft) reetabliert werden konnte (Marushiakova / Popov 2001b: 374). Später wurde im Jahr 1931 die Zeitung Terbie (Bildung) der »Mohammedanischen Kulturorganisation für nationale Bildung« unter seinem Vorsitz ins Leben gerufen (ebd.). Wenngleich Guy (2001) darauf aufmerksam macht, dass für die Mehrheit »of Roma the 1920s and 1930s were years of deprivation and discrimination« (ebd.: 10), so soll hier Grevemeyer (1998) hinzugezogen werden, der auf die »spezifische kleine Elite« hinweist, die sich in den 1920er Jahren unter Bulgariens Roma/Zigeunern herausbildete. Die durch die »beginnende Alphabetisierung eines Teils der vor allem in den Städten lebenden Zigeuner« entstandene kleine Elite kann als »Basis zur Verbreitung der Funktionärselite unter den Zigeunern« gelten (ebd.: 156). Daraus ist zum einen zu schließen, dass der Anteil der Muslime in diesem Personenkreis größer als der der christlichen Roma/Zigeuner war, und zum anderen, dass die frühen Aktivisten wohl primär aus Familien stammten, die einer wandernden Lebensweise nachgingen und sich eher in Städten als auf dem Land ansiedelten. Die christlichen und – den Quellen nach zu urteilen – vorrangig sesshaft lebenden Roma-/Zigeunergruppen stehen bei dieser Entwicklung scheinbar abseits, obwohl sie die eher Angesiedelten auf dem Gebiet sind und ihre Religionszugehörigkeit sich näher zu der der bulgarischen Mehrheitsbevölkerung verorten lässt. Bevor im weiteren Kapitelverlauf auf die Entwicklungen eingegangen wird, die Bulgarien und das Gebiet des heutigen Mazedoniens mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges bis hin zur Demokratisierung der 1990er Jahre erfuhr, wird im folgenden Exkurs wiedergegeben, wie es dazu kam, dass sich in Lom, der kleinen Donaustadt in Nordwestbulgarien, innerhalb jener Zeit (ca. 1886–1932) die heutigen vier Roma- / Zigeunersiedlungen herausbildeten, und dadurch gleichzeitig sowohl Abgrenzungs- als auch Gruppenbildungsprozesse stattfanden.

13 | Auf der Internetseite der NGO »Next Page«, einer der vielen vom OSI unterstützten Organisationen, ist zu diesem Buch vermerkt, dass Shakir Pashov »one of the most charismatic figures in the history of the Roma community in Bulgaria« sei, der als »the Apostle of the Roma people« gelte. Und weiter heißt es dort zu ihm: »He was also the first Roma representative at the National Assembly. Describing Pashov as a pioneer of the Roma particularly in their education, the author sets out to establish him as an example for his contemporaries as well as for the modern reader.« (online: http://www.npage.org/article55.html, vom 30.11.2011)

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4.3.2 Historischer E xkurs: Die Stadt Lom und ihre vier Roma- / Zigeunermahallas Im Gleichklang mit anderen ethnographischen Quellen über die zwei in Lom lebenden Roma- / Zigeunergruppen bestätigten meine Daten, dass es sich zum einen um muslimische Kalajdži handelt, die den Balkan-Dialekt des Romanes sprechen und in den beiden Mahallas Stadiona und Momin Brod leben. Die andere Gruppe (»Zuzumani«) bewohnt die Mahallas Humata und Mladenovo. Letztere sprechen einen Vlach-Dialekt des Romanes und bezeichneten sich mir gegenüber auch als Rešetari, wenngleich ›Zuzumani‹, als das Exonym der Kalajdži ihnen gegenüber, mittlerweile auch als ihre Selbstbezeichnung, als Endonym zu hören ist (vgl. u. a. Slavkova 2005, Matras 2002, s. Kapitel 3 und Narratives Glossar). Dem Namen der Stadt Lom kommt seit dem Jahr 1996 eine unliebsame, wenngleich nicht allzu bekannte Rolle zu: Hier wurde durch die Medizinerin Luba Kalaydjieva eine besonders schwere Form der Charcot-Marie-Tooth-Krankheit (CMT) entdeckt, aufgrund dessen sie seit 1996 den Namen »Lom-Krankheit«14 trägt. Luba Kalaydjieva et al. (1996) stellte die Krankheit bei »14 affected individuals from the Gypsy community of Lom« fest. Für meine Betrachtung ist ihre Quelle insofern interessant, als sich eine kleine Gruppe »of 50 to 100 individuals«, aufgrund ihrer Handelstätigkeit mit Pferden als »Džambazi« bezeichnet, bereits um das Jahr der bulgarischen Unabhängigkeit dort angesiedelt haben sollen. Wenngleich diese Daten nicht gänzlich mit den ethnographischen zu vereinbaren sind, ist dennoch das Ansiedlungsjahr interessant und auch, dass sie Kalaydjieva zufolge aus Mazedonien nach Bulgarien migriert seien »and settled in Lom in 1886« (ebd.). Lassen wir die Frage nach der Richtigkeit der Bezeichnung »Džambasi« 14 | Unter dem Namen »Charcot-Marie-Tooth Disease, Typ 4D« wird sie seither in den internationalen medizinischen Datenbaken geführt, so auch in der des OMIM® (Online Mendelian Inheritance in Man®). Weitere Veröffentlichungen von Humangenetikern und Medizinern, die beispielsweise die Konsequenzen dieser Genstörung und die der Krankheitsherkunft medizin-soziologisch verarbeiten und versuchen, das Phänomen als solches vor dem Hintergrund der Bevölkerung in Lom zu erfassen, lassen sich nahezu als primordial-essentialistisch bezeichnen und erinnern an menschenverachtende Untersuchungen vor und während des Zweiten Weltkriegs. Zunächst postulierten die drei Mediziner Semerdjieva, Mateva und Dimitrov (1998; 1999) eine »Sexual culture of Gypsy population« (vgl. dies. 1998). Eine Ursache für diese genetische Anomalie, die in ihrer weiteren Publikation als »Inf luence of family tradition on reproductive behavior of Gypsy population” (dies. 1999) diskutiert wird, seien die Familientraditionen, die Einf luss auf »the patterns of reproductive behavior in Gypsy population« hätten, weil jene Traditionen einen »indispensable part of their lifestyle and their intentions to have many children« darstellen würden (vgl. online: http:// www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/10462939?itool=EntrezSystem2.PEntrez.Pubmed.­ Pubmed_ResultsPanel.Pubmed_RVDocSum&ordinalpos=20, vom 21.03.2012).

4  Roma- /  Z igeuner ver treter in der Geschichte

und ihrer Herkunft auf sich beruhen, stimmen zumindest die Zeitangabe und der Migrationsverlauf mit den historisch belegbaren Daten und denen der beiden Akteure aus Lom, Nikolai Kirilov und Peter Goranov, überein. Die folgende Übersicht über die einzelnen Mahallas in Lom, die in ihnen lebenden Gruppen und ihren wahrscheinlichen Besiedlungszeitpunkt bzw. Zeitpunkt der Gründung der Siedlung (inkl. dem Entstehungsgrund der Mahallas) soll zur besseren Verständlichkeit der anschließenden Sequenzen der beiden Akteure Nikolai Kirilov und Peter Goranov sorgen. Die in der Tabelle enthaltenen Daten speisen sich aber auch aus Gesprächen mit Magdalena Slavkova in Sofia. Des Weiteren beziehe ich mich auf die eben genannte Quelle Kalajdjieva et al. (1996) und ein Konferenzpaper Slavkovas (2005). Tabelle 1: Entstehung der vier Roma- / Zigeunermahallas in Lom (BG) Siedlungsname

Stadiona

Mladenovo

Momin Brod

Humata

Besiedlungs­ reihenfolge (chronologisch)

1.

2.

3.

4.

Zeitpunkt der Besiedlung

eventuell 19. Jhd. (1886)

o. A.

o. A.

ca. 1932

Hauptsächlich bewohnt von (Ethnonym)

Türkische Kalajdži

Rešetari; Zuzumani

Türkische Kalajdži

Rešetari; Zuzumani

(vormalige) Religion

(Ex-)Muslime

Orthodoxe Christen

(Ex-)Muslime

Orthodoxe Christen

Romani-Dialekt Balkan-Dialekt Vlach-Dialekt Balkan-Dialekt Vlach­Dialekt Besondere Bemerkung

ehemaliges die erste MaDorf am halla befand sich im Stadt- Stadtrand zentrum am Flusstal, später am Berghang

ehemaliges Dorf am Stadtrand

ehemaliges Dorf am Stadtrand

Nikolaj Kirilov: Die erste Mahalla in Lom war im Zentrum der Stadt. Aber die Stadt wurde überflutet * und einige der Roma sind weggezogen. Und man kann da eigentlich nicht mehr sagen, wer der erste, wer der zweite war usw., denn die verschiedenen Gruppen sind zu verschiedenen Zeiten gekommen. Was wir für Humata und für Momin Brod sicher sagen können ist: Humata wurde von

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Leuten gemacht, die in Momin Brod Ärger gemacht haben. Ich will eine Geschichte erzählen: 1932 wurde eine Gruppe ›trouble-makers‹ rausgeschmissen und die haben dann eine vierte Gruppe gegründet. Die dritte Gruppe, das weiß niemand woher die kommen. […] Sie sprechen verschiedene Dialekte, und sie sind vor 100 Jahren gekommen und da gab es dann diese ›trouble-makers‹. Das zweite Mal – 1932 – hat die gesamte Gemeinschaft, die dort gesiedelt hat, aber nur einige Familien rausgeschmissen. Und diese haben dann Humata gegründet. Es liegt sehr nahe an Mladenovo, gleich hinter Mladenovo. Sie [die dortigen Bewohner] haben dieselben Wurzeln, sprechen denselben Dialekt, kommen aus derselben Gruppe und haben dieselben Probleme, dieselbe Krankheit: eine spezielle Krankheit in dieser Gemeinschaft, diese ›Lom-Krankheit‹. […] Sie sind aus dem Zentrum der Stadt nach Stadiona gekommen, dann eben auf den Berg hinaufgezogen, weil … mein Urgroßvater hatte da [in Stadiona] seinen Wohnort. Der Fluss trat über seine Ufer und alles war überflutet. Sie haben dann zum ersten Mal ein Treffen organisiert und sind einfach auf den Berg gezogen. Daher ist an dieser Bergseite Stadiona und hinter Mladenovo liegt Humata. Die ganz am Rand gelegene Mahalla ist Momin Brod. Die Leute aus Momin Brod sind nicht aus Lom. Sie sind gemischt und sind die Leute, die wirklichen Ärger machen. Da gibt es Kriminelle und so weiter. * | Die Donau sorgte nicht erst seit einem Jahrhunderthochwasser im Jahr 1890 immer wieder für verheerende Überschwemmungen. Da das Zentrum Loms nicht sehr viel höher als der Normalpegel der Donau liegt und die Hauptstraße geradewegs zum kleinen Hafen der Stadt führt, wird der im Tal liegende Stadtteil (das Zentrum mit den Verwaltungsgebäuden und die Hauptgeschäftsstraße) bei einem Hochwasser völlig überf lutet.

Peter Goranov: Die Mahallas – Mladenovo und Stadiona – existieren seit mehr als 100 Jahren. […] Und als sie [die Roma/Zigeuner] gezwungen wurden sich anzusiedeln, waren sie immer Fremde gegenüber den Leuten, mit denen sie zusammen gelebt haben. Während bei uns [in Mladenovo] die Ansiedlung viel früher erfolgt ist. Vor mehr als 100 Jahren. Während dieses Wanderverbot [1958] ca. 60 Jahre zurückliegt. […] Wir sind bestimmt schon die 15. Generation, die hier geboren und aufgewachsen ist.

4.3.3 Nach dem Zweiten Weltkrieg: Bulgarisierung und staatliche ›Minoritätenerblindung‹ »Like most other nations in Eastern Europe, Bulgaria was deeply affected by the rise of Nazism in Germany«, ist bei Crowe (1994: 17) zu lesen. Während der Kriegsjahre bis zur Machtergreifung durch die kommunistische Partei am 9. Sept. 1944

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nahm Bulgarien gegenüber der Roma- / Zigeunerbevölkerung eine stark ambivalente Haltung ein. Einerseits wurde Bulgarien, aufgrund seiner Allianz mit Hitlerdeutschland, dessen »principal trading partner« und bekam 1940 das Gebiet der Süddobrutscha zugeschrieben, wo laut Crowe »8000–12.000 Romanian Gypsies« lebten, die zusammen mit den meisten der Roma / Zigeuner Mazedoniens (welches sich Hitlers Jugoslawien-Feldzug anschloss) ab 1941 »under Sofia’s jurisdiction« fielen. Im Inneren passte sich Bulgarien schnell an die faschistischen Bedingungen an und »fascist and Nazi-type political and paramilitary movements began to crop up throughout the country«. Doch entgegen der mörderischen Vernichtungsapparatur, wie sie sich in Zentraleuropa entwickelte, fasste die bulgarische Administration im Mai 1942 einen Beschluss, »which provided for the employment of Gypsies for compulsory labor, mainly in public works« und bewahrte somit viele der Roma / Zigeuner auch auf dem heutigen mazedonischen Gebiet vor Gefangennahme, Deportationen und Vernichtungslagern (ebd.: 17 ff.). Als zwei Jahre darauf, 1944, für Bulgarien das sozialistische Zeitalter begann, belebten sich langsam einige der zuvor eingestellten Roma- / Zigeunerzeitungen wieder. So wurde bereits 1948 Romano Esi (Die Stimme der Roma) als eine »four page newspaper« von »Gypsy leader« gegründet, die ein Jahr später durch Nevo Drom (Der Neue Weg) ersetzt wurde (ebd.: 19). Im Gründungsjahr der Zeitung Romano Esi 1948, so Crowe, eröffnete sogar bereits eine »Gypsy School in Sofia« mit 40 Schülern, deren Zahl bis 1952 auf 500 Schüler angestiegen sei (ebd.). Auch im politischen Leben des jungen sozialistischen Staats bekam eine wachsende Zahl von Roma / Zigeunern, »including the activist Shakir Pashov« in den nationalen Versammlungen, den »communist-dominated Subranie«, Sitze zugesprochen und landesweit wurden unter ihnen »Communist Party secretaries« ernannt (ebd.). Doch bereits 1953 beginnt die bulgarische Regierung mit einer restriktiven Assimilationskampagne gegenüber den Minderheiten des Landes (primär der türkischstämmigen Bevölkerung), also auch gegenüber vielen Roma / Zigeunern, und führt diese in den Bevölkerungszensus nicht mehr explizit auf. Dem bereits fünf Jahre darauffolgenden Verbot des »Gypsy travelling« (Beschluss No. 258, 1958, vgl. Crowe 1994: 22) folgte 1959 eine Direktive der BKP, die »directed local authorities to ensure full Romani employment« (Barany 2002a: 115 ff.). Es war sehr schlimm für die Familien, weil es nicht mehr möglich war zu reisen. Der Vater meiner Mutter war Kalajdži-Kalderaš. Als diese Veränderung mit dem Kommunismus kam, sind die Zigeuner Stück für Stück an einem Ort geblieben.[…] Dobrič war die Region, in die die Kommunisten meinen Großvater schickten, um dort zu leben und zu arbeiten. Das war gesetzlich so verankert. Das war aber speziell für Wanderzigeuner so. Und wegen der Kommunisten bin ich dann auch zur Schule gegangen. Die haben meinem Großvater gesagt, dass er hier bleiben soll. ›Wenn du weggehst, wanderst du ins Gefängnis‹,

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haben die ihm gesagt. So ist er geblieben und mein Bruder, ich und meine Schwestern sind zur Schule gegangen. Es war eine gemischte Schule, nicht speziell für Zigeuner. […] Daher haben alle Zigeuner, ob Kalderaš oder andere, ihre [Wander-]Arbeit beendet. Das war sehr schlimm für die Familien, weil es nicht mehr möglich war, von einem Ort zu einem anderen zu reisen. Das hat ein anderes Problem an den Tag gerufen: die Zigeuner haben ihre eigene Arbeit verloren (selfwork). Die Sache ist ja, dass die Zigeuner, wie die in unserer Familie, es sehr schwer haben einen anderen Job zu machen, eine andere Arbeit zu verrichten. Die Kommunisten haben immer allen gesagt: ›Du musst arbeiten gehen!‹ Aber meine Familie, mein Großvater wollte einfach nicht. So arbeitete er einfach nicht gut, und er wurde entlassen. […] Er hat einfach gesagt, dass es nicht gut ist, arbeiten zu gehen. So war er einfach […]. Er wollte mit seinen Kalajdži weiter auf Wanderschaft sein. […] Und jetzt ist es für die Kalderaš-Zigeuner nicht möglich, in einer Fabrik zu arbeiten oder woanders. Es ist nicht möglich! Jetzt machen die Kalderaš Geschäfte mit Gold, mit Autos, mit Wasser, mit allem.  Toma Nikolaeff Mein Vater war Lehrer in unserer Segregationsschule*. Mein Vater hat sich in seiner Jugend für ein Studium entschieden. Und er ist die erste und einzige intellektuelle Person in der Familie, die den Weg der Bildung gegangen ist. […] Zu der Zeit, als er jung war, gab es einige RomaOrganisationen … in der kommunistischen Zeit, den 1950er Jahren. Es gab da einige Organisationen, die ihn beeinflusst haben und das hat zu einem großen Teil sein Leben verändert. Also war es eher ein Einfluss der Umgebung als ein Einfluss der Familie. […] Danach ist mein Vater in dieser Schule hier [in der Mahalla] (75. Schule) Lehrer geworden. Und das hat natürlich auch das Schicksal seiner Kinder bestimmt, inklusive mein Leben. Diese Schule wurde 1949 gebaut, aber ich bin mir da nicht sicher. Georgi Dimitrov, ein kommunistischer leader, er war der Erste, der dieses Gebäude begonnen hat zu bauen.  Mihail Georgiev *| Als Segregationsschulen werden solche Schulen bezeichnet, die ausschließlich Kinder aus Roma- / Z igeunerfamilien besuchen und die sich zudem häufig in einer Roma-/Zigeunersiedlung befinden.

Der von Mihail Georgiev erwähnte Schulbau in der Mahalla war eine der vielen (Crowe zufolge 145) Spezialschulen landesweit, die mit der Einführung des »segregated school system« durch »minority experts« bis 1962 entstanden (vgl. Barany 2002a: 118, Crowe 1994: 25). Im Zuge der Assimilationskampagne setzten die bulgarischen Regierungsinstitutionen jedoch ganz auf eine landesweite

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Bulgarisierung, die die meisten Minderheiten (auch hier wieder primär die türkische Minderheit) im Land betraf und auch mit der Bulgarisierung der Namen einherging (vgl. Kuchyukov 2004; Krasteva-Blagoeva 2006). Und um auf dem ›staatlichen Minderheitenauge‹ völlig ›erblinden‹ zu können, erwähnten die bulgarischen Bevölkerungszensus ab 1971 nur noch »Einwohner nicht-bulgarischer Herkunft«, wie Barany (2002a), Crowe (1994) und Marushiakova und Popov (2001b) belegen, und schon drei Jahre darauf (1974) fehlen die Erwähnungen von Minderheiten im Land gänzlich (vgl. Barany 2002a: 115). Das ist eine reale Geschichte und nicht die schönste! In den 1960er Jahren haben sie die Namen der türkischen Leute geändert. Geschichtlich gesehen war das der Weg hier in Bulgarien: Sie kamen einfach in dein Haus und sagten dir: ›Von morgen ab bist du nicht mehr Arthur, sondern Angel!‹ Oder, da gab es Fälle in unserer Mahalla Stadiona, dass sie mit den Gewehren gekommen sind, alle Roma zum Stadion geleitet haben, und dort mussten sie dann ihre Sachen ausziehen und dann standen sie nackend im Stadion und das war 1965 ca., nur um diese Desinfektion zu machen (verächtlich), und die Leute durch diese speziellen Maschinen zu schicken. Ja, das ist eine reale Geschichte und nicht die schönste!  Nikolai Kirilov Doch als ob die bulgarische Regierung unter Shivkov noch nicht genug für ihre ›Minoritätenerblindung‹ getan hätte, sollte ein weiteres Verbot nach 1984 die Sprache Romanes letztendlich völlig verbannen, das öffentliche Tanzen und Spielen auf Instrumenten verbieten, sowie die restlichen Veröffentlichungen und die Stimmen des Romani-Theater mit einem staatlichen Erlass im Jahr 1987 ganz zum Schweigen bringen (vgl. Barany 2002a: 118, Marushiakova / Popov 2001b: 376). Wie sich die darauffolgenden Jahre, vom Ende der Ära Schivkovs bis zur Wirtschaftskrise zum Beginn der 1990er Jahre, in die Erinnerung Rumyan Russinovs gebrannt haben, erklärte er mir gegenüber so: Es war wirklich eine schlechte Zeit, in den Anfängen der 1990er Jahre! Wie ich bereits sagte, es war ja eine große wirtschaftliche Transition damals, 1992/93 bereits. Natürlich waren da ernsthafte Versuche der sozialistischen Wirtschaft, aber das dauerte etwa zwei bis drei Jahre. Dann begann die schwere Zeit. […] Wie ich sagte, Bulgarien hat seinen ernst zu nehmenden Markt in den sozialistischen Ländern verloren: Bulgarien hat [zur sozialistischen Zeit] viele landwirtschaftliche Produkte verkauft, viel Konserven und Zigaretten, auch Wein usw. Und viele Fabriken haben hier für diesen Export gearbeitet. Natürlich haben Menschen ihren Job verloren. Und wie Sie sich vorstellen können, die Ersten die rausgeschmissen wurden, waren die Zigeuner. Weil, damals im

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Sozialismus, waren sie ungelernte Arbeitskräfte, aber sie waren Arbeiter. Nebenbei bemerkt, können viele Menschen das nicht verstehen. Während des Sozialismus’ (überlegt lange), nun, ich will es nicht romantisieren und ich weiß, dass es damals viele Probleme gab, aber für viele Roma war es besser, meiner Meinung nach. Sie waren mehr integriert in der Gesellschaft. Wenn wir sagen, die Kinder waren zwar in der Segregationsschule, so sind doch zumindest Vater und Mutter Arbeiter gewesen. Ja, sie waren zwar ungelernte Arbeiter, aber sie waren ein Teil der Gesellschaft! Es gab so etwas wie eine Kohäsion der Gesellschaft und auf einigen Ebenen haben sich daher die zwei Gemeinschaften getroffen, es gab einen Dialog und sie waren Teil des gesellschaftlichen Wettbewerbs. Das war nach 1991/1992 nicht mehr der Fall. Schritt für Schritt… naja, die Kinder blieben in der Segregationsschule, aber die Eltern kamen dann hierher (zeichnet einen Kreis, der die Romamahalla darstellen soll und zeigt darauf) und haben eben nicht mehr gearbeitet. Und die Isolation ist so extremer geworden, speziell für die Roma, die in den Mahallas geblieben sind. Schritt für Schritt haben die Männer also angefangen, einfach nur noch vor dem Haus herumzusitzen und Bier zu trinken und gaben somit ein schlechtes Beispiel für die Kinder ab. Sie können es sich ja vorstellen, wenn der Vater so ein Leben lebt, sich nicht mehr gut ankleidet und zu trinken beginnt, welches Vorbild er damit seinen Kindern gibt, und inwieweit diese Kinder dann einen Schulbesuch ernst nehmen usw. Es war wirklich eine schlechte Zeit, in den Anfängen der 1990er Jahre. Und die wirtschaftliche Situation hat sich ständig verschlechtert. Und die Roma waren die, die am stärksten darunter gelitten haben. Natürlich waren einige von ihnen arbeitslos und hatten keine Perspektive auf einen Job. […] Für einige Roma muss ich sagen, dass sie eben stehlen gegangen sind, dies und das. Vor der Transition war es ja alles Staatseigentum. Jetzt ist es eben privates Eigentum. Und viele der privaten Eigentümer haben paramilitärische Gruppen, die dann Leute schlagen oder sogar töten. Aber auch die Polizei, denn die Polizei hat zum ersten Mal die Freiheit besessen, Leute so zu behandeln. Und tausende Roma wurden eben von der Polizei so schlecht behandelt und in dieser Zeit hatten wir eben tausende von Menschenrechtsverletzungen. Daher war der Menschenrechts-Blick der, der diese ersten Jahre der Roma-Bewegung dominiert hat. […] Wir hatten aber auch viele Fälle, in denen Roma deswegen keinen Job bekommen haben, weil sie Roma sind. Leider haben die Medien die ersten Signale damals dazu genutzt, um die Zigeuner zu denunzieren und dadurch die Vorurteile bestärkt. Jetzt konnten sie sagen: ›Du bist ein Zigeuner, du begehst kriminelle Handlungen, du stiehlst und hast keine Bildung!‹ Das war die Freiheit, und es war auch der erste Indikator für Antiziganismus hier. Und die Menschenrechtsprojekte waren damals ein wichtiges Element.  Rumyan Russinov

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Abschließend wird zunächst Rumyan Russinov abermals zu Wort kommen und darlegen, welchen Weg seine Biographie zu dieser Zeit genommen hat und wie die oben angesprochene Wirtschaftskrise, die über Bulgarien in den Jahren 1992 / 93 hereinbrach, seinen Lebensweg mitbestimmt hat. Und schließlich wird Toma Nikolaeff über den Bildungsunterschied zwischen seiner Herkunftsgruppe und anderen Roma- / Zigeunergruppen resümieren. Die 1990er Jahre sieht er dabei als Wendepunkt, an dem sich dieser Unterschied durch Bildungskampagnen aufzulösen beginnt. Hier in Bulgarien wusste man bis 1991/92 nicht, was eine NGO ist. Das Studium habe ich 1992 beendet. Das war zum selben Zeitpunkt wie der Beginn der Romani-Bewegung. Der Beginn des aktiven Teils. Also die RomaSache wurde zu einer internationalen Sache. Und auch die NGOs wurden hier langsam sichtbar. Also hier in Bulgarien wusste man bis 1991 / 92 nicht so richtig, was eine NGO ist. Also, wie kann es dazu kommen, dass jemand anderes deine Aktivitäten finanziert, jemand aus dem Ausland? Wie alle meine Kollegen habe auch ich mich an zwei verschiedenen Banken beworben, um dort ein Spezialist zu werden. Hier in Sofia. Ich habe zwar ein Stipendium von einer großen Fabrik in Vidin bekommen und sie erwarteten von mir, dass ich ein Wirtschaftler dort werde. Aber leider wurde die Fabrik geschlossen, wie fast 95 Prozent aller Fabriken damals. Bulgarien hat seinen Markt geschlossen. Der RGW, der die kommunistischen Länder gestützt hatte, ist abgestürzt. Wir haben den Markt verloren und sind somit in eine Finanzkrise gestürzt.  Rumyan Russionov Kalderaš – Zuzumani und Bildung in der Demokratie Unsere Leute, die [Kalderaš-]Zigeuner, haben dann andere Zigeuner, die ›Zuzumani‹ [als Heiratspartner] genommen. Das ist eine andere Zigeunergruppe, die nicht in die Schule gegangen ist, sie leben in jeder großen Stadt. […] Das sind die Zuzumani! […] Andere Zigeuner sind – es ist schwer zu sagen, alle seien Zuzumani-Zigeuner. Also über 90 Prozent sind Zuzumani, originale Zigeuner. Und diese Leute gehen nicht zur Schule. Sie leben in der Stadt und gehen (herum), nur um zu sehen, was es zu stehlen gibt, betteln um Nahrung und gehen in Fabriken arbeiten. Und sehr wenige – aber viele der Kalderaš – gehen zur Schule. Und das ist prinzipiell so. Aber jetzt – es hat ca. vor 15 Jahren begonnen –, als die Demokratie nach Bulgarien gekommen ist, schicken die Zigeuner ihre Kinder in die Schule. Das ist sehr interessant. Und die Zigeuner werden dadurch sehr stark.  Toma Nikolaeff

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Karte 3: Die ehemalige Republik Jugoslawien in den Grenzen 1954–1991 mit Kennzeichnung des Gebiets Sandžak

(Karte auf Grundlage von Bessarabov, V. 2007. Map of former Yugoslavia. The Cartographic Section of the United Nation [CSUN])

4.4 M a zedonien im 20. J ahrhundert Die Großmutter meines Großvaters [D]ie Großmutter meines Großvaters hat damals in [Kosovska] Mitrovitza, im Kosovo gelebt. Das war während des Ersten Weltkrieges. Ihr Ehemann hatte damals dem serbischen König gedient, und als die königliche Armee unterwegs war, um Steuern einzutreiben, da …: Einer der Offiziere hat meine Urgroßmutter sexuell gemocht. Er wollte also etwas mit ihr anfangen und diese verrückte Frau hat ihn mit einem Messer erstochen, hat ihre neun Kinder genommen und hat auch die gesamten Dokumente mitgenommen. Daher kam sie mit gültigen und vollständigen Papieren [hierher] – nicht wie die Roma aus dem ehemaligen Jugoslawien, also heute Bosnien, Kosovo. Und so hatte eben meine Urgroßmutter diese Probleme nie, um zu bezeugen, dass wir Land in Izmir (Türkei) haben. Frag mich nicht warum! Mein Vater hat es immer abgelehnt, darüber zu reden.  Ramadan Berat

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4.4.1 Nach dem Ersten Weltkrieg: die 1920er und 1930er Jahre Wie bereits in der kurzen historischen Darstellung des Verlaufs bis zum Ende der osmanischen Herrschaft angeklungen ist, wurde das heutige mazedonische Gebiet am 1. Dezember 1918 Teilgebiet des neu gegründeten Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen. Laut Crowe (1994) befanden sich unter den insgesamt ca. zwölf Millionen Einwohnern des neuen Königreichs mehr als neun Millionen Serben und Kroaten und ca. eine Million Slowenen, wobei sich das gesamte Volk entlang »ethnischer und religiöser Linien« spaltete und konsequenterweise von diesbezüglichen Problemen durchsetzt war (vgl. ebd.: 212 ff.). Die neue Verfassung wurde am 28. Juni 1921, dem serbischen Nationalfeiertag, ausgerufen. Sie fußte grundsätzlich auf der 1903 entwickelten, ehemaligen serbischen Verfassung, die die ohnehin serbienzentrierte politische Struktur weiter untermauern sollte (vgl. Koinova 2000: 5). Einige Jahre nach der Inthronisierung König Alexanders I. (Amtszeit 1921–1934) drohte das Reich eben entlang dieser Spaltungen auseinanderzufallen. Alexanders Antwort bestand in der Auflösung des Parlaments, einer Verfassungsüberarbeitung sowie einer neuen politischen Verwaltungsstruktur und einer »creation of a temporary dictatorship« (Crowe 1994: 213). Diese neue Bezirksverwaltungsstruktur sollte von nun an die alten Loyalitäten zerstreuen helfen und versuchen, die serbische Dominanz im Reich abermals zu stärken (vgl. Banac 1984). Obwohl die Albaner (speziell die albanischen Muslime) seit der Gründung des neuen Königreichs bis in die frühen 1920er Jahre hinein zur »most oppressed national group« (Crowe 1994: 214) im Reich wurden, verkündete das jugoslawische Ministerium für Auslandsangelegenheiten 1929, es existierten keine nationalen Minderheiten in der südlichen Region des Reiches. Crowe (1994) konstatiert, dass das seit Ende 1912 unabhängige Albanien zum »haven for Kosovan Roma« wurde, da dort ähnlich freiheitliche Umstände herrschten wie in der türkischen Ära. Denn die meisten Serben waren christlich-orthodoxen Glaubens und assoziierten Roma / Zigeuner mit den »hated Albanian Muslims« (ebd.: 214). So besuchten zwar die christlich-orthodoxen unter den Roma / Zigeunern dieselben Kirchen wie ihre albanischen Glaubensbrüder und -schwestern, doch wurde den Muslimen unter ihnen der Zutritt zu deren eigenen Gotteshäusern, den Moscheen, nicht gewährt. Als Konsequenz beginnen Roma / Zigeuner ihre eigenen Moscheen in ihre Mahallas zu bauen (ebd.: 215). Die erste Moschee, die wir Roma erbaut haben. Und in seinem Haus … also das meines Großvaters – er war in einer sehr bekannten religiösen Gemeinschaft – er und der Onkel meines Vaters, sie haben begonnen ein Gebetshaus zu bauen. Es war keine Moschee, denn dafür brauchst du viel Geld und der Staat hat es meistens verboten. Und die erste Moschee, die wir Roma erbaut haben, fürs Gebet, war das Haus meines Urgroßvaters Mutshe. Das ist der Vater meiner Großmutter. Damals hatten wir noch kei-

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nen Roma-Imam*. Bedauerlicherweise haben sie an allen Treffen auf türkisch oder auf albanisch teilgenommen. […] Die Repräsentanten des Islam waren die Türken. Aber die haben Mazedonien verlassen und die Albaner haben die Rolle dann einfach übernommen. Und alles, was dann mit Islam zu tun hatte, wurde durch ethnische Albaner durchgeführt. Aber es gab auch Roma-Muslime, so wie es da auch ethnische Mazedonen gab, die Muslime waren.  Ramadan Berat * | Hier spielt Ramadan Berat auf seinen jüngeren Bruder Ali Berat an, der im Untersuchungszeitraum in Shutka die Position als Imam in einer der größten Moscheen vor Ort innehatte (siehe Kapitel 6 und 7).

Während sich die Muslime unter den Roma / Zigeunern im südlichen Jugoslawien derartigen Repressalien gegenübersahen, gründeten einige der serbischen Roma / Zigeuner bereits 1930 in Belgrad die Organisation Drustva Rom (Gesellschaft der Rom), die sich allerdings wegen fehlender Finanzierung bald wieder auflöste, wie auch die fünf Jahre darauf von dem Serben Alexander Pretrović gegründete Belgrader Roma- / Zigeunerzeitung Romano Lil, die nur drei Monate lang existierte (ebd.: 217). Wie ist eine derartig unterschiedliche Situation von Roma / Zigeunern in Jugoslawien zu begründen? Antwort darauf gibt ein Einblick in die demographische Karte Jugoslawiens dieser Zeit: Koinova (2000) notiert nach Friedmann (1998) einerseits, dass auf dem Gebiet des heutigen Mazedoniens weit über 25 Prozent aller jugoslawischen Roma / Zigeuner lebten (Friedmann 1998, so zit. in Koinova 2000: 6). Andererseits zeigt einer der vielen jugoslawischen Zensus vom März 1931, dass sich über die Hälfte der ca. 70.000 Romanessprecher Jugoslawiens zum Islam bekannte und sich nur ca. 30 Prozent unter ihnen als christlich-orthodox bezeichneten, wie auch die meisten Serben, Montenegriner und Mazedonen; ca. 17 Prozent nannten sich selbst Katholiken, wie die meisten der Kroaten (Crowe 1994: 217). Zudem muss erwähnt werden, dass zu dieser Zeit in Jugoslawien keinerlei staatlich verordnete Sesshaftmachungsprogramme zu implementieren versucht wurden, die viele Roma / Zigeuner in weitere Zwänge gebracht hätten. Denn die meisten Bewohner des Gebiets »Vardar Macedonia« bspw. lebten in der Zwischenkriegszeit bereits aufgrund des gerade beendeten Ersten Weltkriegs in »extreme poverty« (Koinova 2000: 5). Die aufgrund des neuerlichen Zensus ausgerufene neue Verfassung von 1931 sollte die vielfachen inneren Spannungen lösen und die politische Macht in Belgrad festigen helfen, sowie »separatist sentiments« reduzieren (Crowe 1994: 216), die sich nicht nur, aber besonders unter vielen Kroaten breitmachten, die es nach Demokratisierung und territorialer Autonomie verlangte (ebd.). Als die Regierung, etwa zeitgleich mit der Machtübernahme Hitlers in Deutschland 1933, mit hartem Durchgreifen in der Region reagierte und am 9. Oktober 1934 König Alexander I. bei seinem Besuch in Marseilles durch kroatische und mazedonische Separatis-

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ten (mit ungarischer und italienischer Komplizenschaft, auch bekannt unter dem Namen »Ustaša«) ermordet wurde, versank das Land »in the Depression« (ebd.). Neuwahlen riefen den Premierminister Milan Stojadinivić auf den Plan, um das kroatische Problem zu lösen. Seine politische Wende 1938, hin zu mehr Autonomierechten für die kroatische Bevölkerung, mündet ein Jahr später im »Sporazum« vom 26. August 1939, in dem der Banovina Hrvatska (Banschaft Kroatien) weitgehende Autonomie zugesichert wurde. Doch bereits zwei Jahre darauf tritt Jugoslawien dem Dreimächtepakt bei, und im April 1941 wird der Staat Kroatien gegründet, dessen Ustaša-Regime sogleich Hitlers »radical laws and genocidal tactics to deal with Serbs, Jews, and Gypsies« (ebd.: 219) übernahm.

4.4.2 Der Zweite Weltkrieg: die 1940er Jahre Im Jahr 1941, wie bereits oben ausgeführt, fielen das mazedonische Gebiet, und damit alle Roma / Zigeuner des Gebiets, unter bulgarische Kontrolle (s. Abschn. 4.3.3), wo die Roma- / Zigeunerbevölkerung – im Verhältnis zu den anderen Teilgebieten Jugoslawiens vor dem Zweiten Weltkrieg – zahlenmäßig am größten war (Crowe 1994:  221). Doch anders als die jüdischen Bewohner Mazedoniens sind sie nicht der Vernichtung zum Opfer gefallen. Zwei der Gründe dafür seien Koinova (2000) zufolge in deren »adherence to Islam« und in »their general trend of declaring themselves as other minorities« (ebd.: 5) zu suchen. Doch blieb die Situation der Roma / Zigeuner in Mazedonien im Vergleich zu anderen Gebieten in der Zeit des Zweiten Weltkriegs eine Ausnahme: In den anderen jugoslawischen Territorien wurden die meisten der Roma / Zigeuner Opfer der Pogrome (Crowe 1994: 220). Als die Partisanentruppen unter dem Befehl des aus Kroatien stammenden Marschalls Josip Broz Tito ihren Sieg über die deutschen und italienischen Besatzungstruppen im Jahr 1945 feierten, kündigte sich eine Rückkehr des Staates Jugoslawien und eine »Kommunisierung« des Landes an (ebd.: 222). Relativ große Autonomie gestand die im Januar 1946 beschlossene neue sozialistische Verfassung den einzelnen sozialistischen Teilrepubliken zu. Im selben Jahr wurden entsprechende Rechte für den Schutz der kulturellen Entwicklung und der Freiheit, die eigene Muttersprache zu benutzen, in der Verfassung Mazedoniens verankert (Koinova 2000: 34). Zwar existierten bereits seit 1945 einige kulturelle Roma- / Zigeunerorganisationen, doch sorgten die nun auch per Gesetz zugesicherten Rechte und Freiheiten für ein Neuerwachen der Roma- / Zigeunerbewegung um das Jahr 1946. So wurde 1948 nicht nur das Roma-Theater Phralipe (Brüderschaft) gegründet, sondern die Roma / Zigeuner Skopjes gewannen sogar Sitze in ihrem Stadtrat (Puxon 1980: 31; Barany [1995] in Koinova 2000: 11; Crowe 1994: 218). Der offizielle Zensus desselben Jahres weist auf, dass von den über 72.000 Roma / Zigeunern in Jugoslawien mehr als 50.000 in Serbien und ca. 20.000 in Mazedonien lebten und alle anderen in den übrigen Gebieten Kroatiens, Sloweniens, Bosnien-Herzegowinas und Montenegros (Crowe 1994: 222). Der fünf Jahre dar-

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auf abermals durchgeführte Zensus bestätigte, dass auch weiterhin ca. 25 Prozent aller Roma / Zigeuner Jugoslawiens Bewohner Mazedonien seien (ebd.).

4.4.3 Die 1950er und 1960er Jahre Das Grundgesetz Jugoslawiens von 1953, das der Amtseinführung Titos als Staatspräsident folgte, sah eine Abkehr von der Betonung einer »ethnic representation« in der Volkskammer vor und kündigte den neuen Kurs Titos an, der nach seiner Abwendung vom streng Stalinistischen Kurs zwar weiterhin auf nationalen Kommunismus setzte, doch einen unabhängigen Weg einschlug. Dieser Weg ging mit der Dezentralisierung der Werks- und Fabrikverwaltungen, sowie später, nach Stalins Tod und der Ent-Stalinisierungsrede Krushchevs 195615, mit einer Liberalisierung der jugoslawischen Wirtschaftspolitik einher. Während die albanischen Bevölkerungsanteile (primär auf dem Gebiet des Kosovo und Mazedoniens) in der Nachkriegszeit rapide stiegen, reagierten viele der Roma / Zigeuner auf den assimilierenden politischen Kurs der Regierung und gaben immer seltener ihre ethnische Zugehörigkeit an, was sich in den rückläufigen Zahlen im Zensus von 1961 (Crowe 1994: 223 ff.) widerspiegelt. Laut dieser Quelle bekundeten ca. 32.000 Personen in Jugoslawien, Roma / Zigeuner zu sein, obwohl nach Grattan Puxon (1976) im Jahr 1958 bereits ca. 140.000 Roma / Zigeuner in Jugoslawien lebten (ebd.: 128). Ashmet Elesovski erzählte mir über die 1960er Jahre in Jugoslawien und die in Kumanovo (u. a. ein zentraler Armeestützpunkt Jugoslawiens) miteinander lebenden Nationalitäten in den frühen 1970er Jahren Folgendes, wobei er die jugoslawische Zeit, u. a. aufgrund der Existenz einer Mittelklasse der Gesellschaft, als eine bessere Zeit nicht nur für die Roma / Zigeuner einschätzt: In den 1960er Jahren sind noch mehr Roma-Familien unterwegs gewesen. Damals zu dieser Zeit, in den 1960er Jahren, sind noch mehr Romafamilien draußen in der Natur unterwegs gewesen. Sie waren Arbeiter in der Landwirtschaft. Damals war das eine der Möglichkeiten etwas Geld zu verdienen, um eine normale Existenz zu führen. […] In dieser Periode gab es hier in Kumanovo viele Mischehen, weil es damals viele Offiziere gab, die aus ganz Jugoslawien hierher kamen. Und Kumanovo war daher eine sehr multikulturelle Stadt. Es gab da auch mehr Gelegenheiten und eine gute Atmosphäre des Lebens. […] Und ich habe mit all diesen Kindern gelebt, den Slowenen, den Kroaten damals. Und auch in den letzten Jahren habe ich einigen Kontakt mit denen, verstehst du? […] Damals die jugoslawische Zeit und diese jetzt sind nicht dieselben! […] Also die jugoslawische Zeit war einfach etwas sehr positives! […] 15 | Nikita S. Krushchev war von 1953 bis 1964 Erster Sekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und verantwortlich für die Ent-Stalinisierung des Landes.

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Und da gibt es eine Wahrheit: In Ex-Jugoslawien hatten wir drei Klassen: Die armen Leute, die Mittelklasseleute und die reichen Leute. Aber heute nicht mehr. Heute hat man nur noch zwei Klassen: die Armen und die Reichen. Und wer die Reichen sind, wissen wir ja (lacht)!  Ashmet Elesovski

4.4.4 Anfang der 1960er Jahre: Das Erdbeben, seine Folgen und wie »Shutka« entstand Im Juli beginnt es in Skopje zumeist sommerlich heiß zu werden, während in den frühen Morgenstunden noch oft ein kühler Wind aus dem Flusstal der Varda hinauf in die Stadt weht. An einem solchen Morgen, am Freitag des 26.  Juli  1963, als die Uhren 5.17 Uhr zeigten, bebte die Erde in Skopjes Zentrum mit einem Ausschlag von 6.0 auf der Richterskala.16 Skopje glich keine halbe Stunde darauf einem Trümmerfeld. Über eintausend Menschen verloren dabei ihr Leben, weit mehr als 200.000 ihre Wohnungen und Häuser. Auch in Topaana, der wohl ältesten Roma- / Zigeunersiedlung der Stadt (vgl. Puxon 1980: 12), stand kein Stein mehr auf dem anderen. Die daraufhin sofort anrollende internationale Hilfe mit der aufsehenerregenden Beteiligung von über 75 Ländern (darunter sowohl afrikanische als auch asiatische und europäische Länder von beiden Seiten der in Blöcke geteilten Welt [z. B. Japan, Rumänien, BRD, DDR, USA, UdSSR, Bulgarien, die Schweiz, Polen, Griechenland usw.]) befand sich zu Beginn des Jahres 1964 in vollem Gang (vgl. Dunin 1998:  3 ff.; Koinova 2000:  7). Die mazedonischen Behörden offerierten den Roma- / Zigeunerführern der Familien, die ihr Obdach verloren hatten, zwei Möglichkeiten: Entweder sie siedeln in neuen, »integrierteren« Nachbarschaften oder sie ziehen in eigene Siedlungen am Stadtrand (Crowe 1994: 224). Die Regierung hat vielen Leuten Unterstützung gegeben, um Häuser zu bauen. Als das Erdbeben am 26. Juli [1963] war, war ich nicht einmal ein Jahr alt. Für mein Glück oder Unglück habe ich hier in Shutka gewohnt. Meinen ersten Geburtstag habe ich hier in Shutka gefeiert, in diesem Haus hier. Denn als meine Familie von Topaana geflüchtet ist, sind sie direkt hierher gekommen, 1963, […] und mein Vater hat begonnen, dieses Haus zu bauen und die Regierung hat vielen Leuten Unterstützung gegeben, um ihre Häuser hier zu bauen.  Branislav Petrovski 16 | Die alte Bahnhofsuhr Skopjes zeigt seither den Passanten diese Uhrzeit an und gilt als Wahrzeichen für jenen Julitag (vgl. online: http://katastrophen.anabell.de/ katastrophen_nach_jahren_09.php; http://www.skopje.diplo.de/Vertretung/skopje/ de/Skopje_20Studentenseite/Seiten/Erdbeben.html, vom 27.03.2012).

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Es gab keine Kontrolle in dieser Erdbebenzeit und jeder hat einen Platz in Shutka gefunden. Als das Erdbeben war, damals, da sind auch viele Leute aus Skopje hierher [nach Tetovo] gekommen. Zu uns ist eine Familie gekommen, die aus Topaana kam. Das sind dann gute Freunde geworden, aber wir besuchen uns gegenseitig nicht mehr. Die älteren Generationen vielleicht noch. In Topaana ist es vielleicht so wie hier. Das ist eine eher traditionelle Mahalla. Wenn Sie aber in Shutka nach den traditionellen Wurzeln fragen, dann werden Sie erfahren, dass sie von überall herkommen. […] Die einen kommen aus Südserbien, die anderen aus Kosovo und so weiter. Es war keine Kontrolle in dieser Erdbebenzeit und jeder hat einen Platz in Shutka gefunden. Deshalb ist Shutka bis zum heutigen Tag so vielfältig. […] Hier sind die Leute, ich meine in meiner Mahalla [in Tetovo], seit mehr als 100 Jahren zusammen, sie kennen sich untereinander. […] Und in Shutka ist es anders. Ich kenne Shutka, denn ich habe oft dort Musik gespielt zu vielen Hochzeiten.  Nadir Redzepi Sie haben dich gefragt, ob du Land haben willst, um zu bauen. Und im kommunistischen Regime wurde ja alles nationalisiert. Und so hat es der Staat einfach nur weggenommen. Und mein Großvater war der Erste, dem offiziell Land zur Verfügung gestellt wurde, um in Shuto Orizari ein Haus zu bauen. […] Aber der Bau begann später und daher bin ich mir nicht ganz sicher wann. Und diese Entscheidung wurde persönlich von Tito unterschrieben. Wir haben auch noch das Papier. Ich weiß nicht, wie der Staat in der damaligen Periode funktioniert hat. Aber als sie alles nationalisiert hatten, haben sie dich gefragt, ob du Land haben willst, um zu bauen. Aber das kam ja damals alles aus Serbien. Alles war einfach zentralisiert.  Ramadan Berat Doch viele der Roma / Zigeuner Skopjes, die vom Staat »pre-fabricated houses« zur Verfügung gestellt bekamen, verkauften sie zu »unrealistically low prices« und kehrten zurück an ihren alten Siedlungsplatz Topaana, nicht zuletzt um ihre Gemeinschaften zu erhalten (vgl. Barany 1995 in Koninova 2000: 18). Dennoch fanden 1963 tausende Roma / Zigeuner in Shuto Orizari ihre neue Wohnstätte und behielten sie bis zum heutigen Tage. Die mazedonische Regierung erließ 1963 eine neue Verfassung, die auch und gerade auf diese neue Situation reagierte. Koinova (2000) zitiert aus einem Aufsatz zur Geschichte der Albaner in Mazedonien von Milosavlevski und Tomovski (1997) wie folgt:

4  Roma- /  Z igeuner ver treter in der Geschichte »The 1963 [Macedonian] Constitution went further by guaranteeing the right to education in the languages of the nationalities and the ethnic groups, proportional representation of the nationalities and the ethnic groups in the municipal assemblies, the equality of those languages with the Macedonian language in the areas of self-management, and in procedures before state organs and organizations carrying out public duties.« (Koinova 2000: 34)

Abdi Faik 17 wurde daraufhin erster gewählter Roma- / Zigeunerabgeordneter in der mazedonischen Nationalversammlung und das überwiegend von Roma / Zigeunern bewohnte Shutka zu einem Hauptaugenmerk, nicht nur in der Verwaltung Skopjes, sondern auch für viele Roma / Zigeuner ganz Mazedoniens (vgl. Crowe 1994: 225 ff.), wenngleich Crowe vermutet, dass das Phänomen Shutka dem Ruf der Roma / Zigeuner im Allgemeinen eher geschadet hätte (vgl. ebd.: 224). Im Kino Shutkas begannen bald indische Filmvorführungen die Bewohner dieser neuen Siedlung zu begeistern, denn viele unter ihnen fühlten sich mit Indien verbunden, »due to their physical likeness with the Indians«, wie es bei Koinova (2000: 11) heißt. Oder wie es mein Gastbruder ausdrückte: »Wenn ich die sehe [Bollywoodfilme], denke ich immer, ich verstehe alles. Die haben viele Worte, die im Romanes ähnlich oder genauso sind! Und die können tanzen wie wir!« In einem breit angelegten Reformpaket der jugoslawischen Regierung unter Tito von 1965 wurden den Arbeitern des Landes größere Freiheiten eingeräumt, um im Ausland eine Anstellung zu finden. Viele der Roma / Zigeuner nahmen die Gelegenheit wahr und kamen als Gastarbeiter beispielsweise nach Deutschland oder in andere Länder Westeuropas. Crowe (1994) argumentiert, dass die Vorbehalte gegenüber Gastarbeitern gerade in Deutschland aus dieser Zeit stammen würden und dass »Xoraxané Roma (›Turkish Gypsies‹)« am stärksten unter ihnen vertreten waren, die »predominantly Muslim nomadic groups from Bosnia-Hercegovina, Montenegro, and Kosovo« gewesen seien (ebd.: 225).

4.4.5 Die 1970er und 1980er Jahre Die Entwicklungen in den Folgejahren des Erdbebens sind gleich durch mehrere entscheidend prägende Wegmarken, u. a. die internationale Romabewegung, 17 | Abdi Faik sollte als einer der ersten Romaaktivisten, auf den sich viele Akteure dieser Studie beziehen und als Vorbild erwähnen, mit auf meiner Akteursliste stehen. Leider durchbrachen widrige Lebensumstände meiner- und auch seinerseits diesen Wunsch. So wurde mir kurz vor einem weiteren Aufenthalt in Shutka bekannt, dass sich Abdi Faik bereits in Belgien bei seiner Tochter befinde und auch nicht mehr nach Shutka zurückkommen wolle. Grund dafür sei sein sich damals rapide verschlechternder Gesundheitszustand. Das Nichtzustandekommen wenigstens eines Treffens mit ihm bedauere ich zutiefst, denn seine Kommentare hätten interessante Aspekte in meine Datensammlung gelegt und damit die Diskussion erweitert. Im Einzelnen werde ich wichtige Beziehungen der hier zu Wort kommenden Akteure mit ihm einbeziehen.

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gekennzeichnet. Denn durch die weitgehenden verfassungsmäßig zugesicherten Rechte für ethnische Minderheiten (s. o.), das stetige Wachsen von Shutka 18 und die Möglichkeit, sich als Gastarbeiter frei zu bewegen, beginnen beispielsweise der in Skopje lebende Šaib Jusuf, ein Džambasi-Rom, und der Mazedone Krume Kepeski an einer zweisprachigen Grammatik (Romanes–Mazedonisch) zu arbeiten,19 die vorrangig auf dem Arlija-Dialekt von Skopje aufgebaut ist. Dort bezieht Šaib Jusuf sich häufig auf seinen Herkunftsdialekt und verweist gelegentlich auch auf Formen des Barudžija- und des Gurbet-Dialekts (vgl. Koinova 2000: 28, s. Kapitel 3). Das Manuskript dieser Grammatik lag bereits vor, als sich im April des Jahres 1971 Roma- / Zigeunervertreter zum Ersten Roma-Weltkongress bei London trafen.20 Doch konnte sie erst neun Jahre darauf, 1980, in Ljubljana und Skopje veröffentlicht werden, »to establish a literary norm for the use of Romani in Macedonia, Kosovo and the southern parts of Serbia« (ebd.; vgl. Puxon 1980: 35). Bereits 1978 veröffentlichte Jusuf jedoch eine Biographie des Präsidenten Tito auf Romanes (vgl. Crowe 1994: 226; Puxon 1980: 35), deren Erscheinen, trotz innerer Spannungen im Vielvölkerstaat Jugoslawien, auf die bis heute bestehende TitoAffinität vieler Roma / Zigeuner des Landes hindeutet. Wenngleich Samer (2001) von 14 und Hanckock (1991) sogar von 20 Ländern (ebd.: 145) ausgehen, aus denen die Teilnehmer an jenem Ersten Roma-Weltkongress nach London kamen, spricht Kenrick (1971) von nur insgesamt zwölf Staaten, unter denen acht Länder die Gründungsmitglieder des Internationalen RomaniKongresses (Roma International Congress – RIC) stellen.21 Dabei waren nur zwei osteuropäische Länder vertreten: Jugoslawien und die Tschechoslowakei. Die drei 18 | Laut Acton (1974) wohnten im Jahr 1971 bereits ca. 30.000 Roma /  Z igeuner auf dem Gebiet Shutkas (ebd.: 228). 19 | Nach dieser Grammatik wird in der Grundschule Shutkas der Unterricht in Romanes noch heute gelehrt. Alvin Salimovski, der Interimsdirektor, machte diesbezüglich folgende Bemerkung: »Wir halten uns an die Grammatik von Shaib Jusuf. Das ist eine Mischung aus Arlije-Dialekt und Džambasi.« 20 | Siehe Fn. 11, Kap 1. 21 | Die einzelnen Länder sind hier nach Teilnehmerzahlen geordnet aufgezählt (nach Kenrick 1971): Großbritannien (fünf, darunter Grattan Puxon als Kongresssekretär des RIC), Frankreich (fünf, darunter der Autor Mateo Maximoff ), Tschechoslowakei (drei), Jugoslawien (drei), Spanien (zwei), Finnland, Deutschland und Irland (jeweils ein Teilnehmer). Dr. Jan Cibula wird zum Vizepräsidenten des Kongresses gewählt (Samer 2001:  2). Im 2005 veröffentlichten »Leitfaden zum Besuch des Dokumentations- und Begegnungszentrums der Radgenossenschaft der Landstrasse in Zürich« (vgl. online: www.radgenossenschaft.ch) ist unter dem Titel »Jenische in der Schweiz« zu Dr. Jan Cibula Folgendes vermerkt: »Die neue jenische Organisation [Radgenossenschaft der Landstrasse in Bern Scharotl – »Wohnwagen« im Jenisch] arbeitete auch mit dem Berner Arzt Dr. Jan Cibula zusammen, einem Rom, der 1968 aus der Tschechoslowakei gef lohen war. Er organisierte im Jahr 1978 den zweiten Weltkongress der

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aus Jugoslawien stammenden Teilnehmer waren zum einen Abdi Faik, der im selben Jahr noch ins mazedonische Parlament gewählt wird, Slobodan Berberski, ein aus Belgrad stammender Rom / Zigeuner, der zum Vorsitzenden des Kongresses gewählt wurde, sowie der ebenso aus Belgrad stammende Rom / Zigeuner Xusret Schari.22 Abdi Faik gelang es im selben Jahr, Roma / Zigeuner als offiziell anerkannte Minderheit in die mazedonische Verfassung aufnehmen zu lassen, die sich damit zwar längst noch nicht auf der selben Ebene mit der türkischen oder der albanischen Minderheit des Landes befanden, doch wurden u. a. die Romaflagge und viele kulturelle Rechte zugestanden, die beispielsweise Radio- und Fernsehsendungen auf Romanes erlaubten (Crowe 1994: 226). In höheren Rängen musste man Albaner sein oder was anderes, aber kein Rom! [W]ir [Roma/Zigeuner] hatten keinen im Stadtparlament von Tetovo, außer diesem stellvertretenden Bürgermeister. […] Der war als ein offizieller Albaner registriert. […] Wenn man damals [zu kommunistischen Zeiten] in höheren Rängen arbeiten wollte, musste man entweder Albaner sein oder etwas anderes, aber eben kein Rom! Und er ist Rom […], aber wir hatten ja keine Ahnung.  Nadir Redzepi Nur drei Jahre darauf wurde den mazedonischen Roma / Zigeunern offiziell der Status als »ethnische Gruppe« in der Verfassung von 1974 zugestanden, die den jeweiligen Teilrepubliken größere Autonomie und eine kollektive Präsidentschaft zusicherte, was die lokalen Kooperativen und Entscheidungsfindungsprozesse vereinfachen sollte (vgl. Crowe 1994: 226; Koinova 2000: 6, 34). Diese Verbesserung ihres von nun an offiziell anerkannten Status‹ drückt sich auch im Anwachsen der mazedonischen Roma- / Zigeunerzahlen in den beiden Zensus von 1971 (ca. 25.000) und 1981 (ca. 43.000) aus (Koinova 2000: 8). Hier sei hinzugefügt, dass von der Gesamtbevölkerung Skopjes und seines Umlands im Radius von 50 Meilen (ca. 40.000 Bewohner) bereits im Jahr 1977 ca. 23.000 in Shutka lebten (Crowe 1994: 225), deren Zahl bis in die 1980er Jahre hinein auf 40.000 anwuchs (Barany 2002a: 124). Trotz der vielfachen Freiheiten und per Gesetz zugesicherten Rechte, in deren Genuss viele der Roma / Zigeuner in den Nachbarländern nicht kamen, waren zum Ende der 1970er Jahre die meisten der jugoslawischen Roma / Zigeuner weiterhin ohne Arbeit oder führten nur minderwertige Hilfsjobs aus. Im Jugoslawien dieser Zeit, so schätzt Crowe, studierten landesweit nur 50–100 Roma / Zigeuner an Universitäten und ca. 200 Roma / Zigeuner waren als Ärzte, Juristen oder Ingenieure tätig (ebd. 1994: 230). Roma zur Gründung der Internationalen Romani Union in Genf.« (Onlinedokument: http://www.thata.ch/rgdokzentrumleitfaden.pdf, vom 02.06.2012, ebd.: 25) 22 | Vgl. u. a. Crowe 1994: 227; Kenrick 1971: 107; Koinova 2000: 11; Samer 2001: 2.

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Mitglied des Rates des Bezirks in der Sozialdemokratischen Union Mazedoniens In der Zeit Jugoslawiens war ich auserwählt – zu meiner Armee-Zeit – der Kapitän der ›Union der Kommunisten‹ zu sein. Das war 1980. Nach meiner Armee-Zeit … ich muss noch sagen, dass alles, was damals [in Staatshand] war, einfach geschlossen wurde. Meine politische Karriere begann dann eigentlich mit der ›Sozialdemokratischen Union Mazedoniens‹. 1986 war ich in die ›Union‹ eingetreten, wo ich ein Mitglied des Rates des Bezirks war. Ich war ein Mitglied des hohen Rates für politische Agitation. […] Danach bin ich der Präsident der ›Demokratisch Progressiven Partei der Roma in Topaana‹ gewesen.  Milazim Sakipov Das Jahr 1980 spielte hinsichtlich des jugoslawischen Tito-Regimes und der im Land herrschenden wirtschaftlichen Verhältnisse eine entscheidende Rolle: Am 4. Mai 1980 starb Tito und hinterließ Jugoslawien in einer wirtschaftlichen Krise, in der die mazedonischen Roma / Zigeuner zunehmend unter den Druck des sich verstärkenden albanischen Nationalismus‹ gerieten (ebd.:  227). Die verschiedenen jugoslawischen Roma / Zigeuner wurden nur in Montenegro und BosnienHerzegowina zu den »Nationalitäten« (narodost) gezählt; in allen anderen Republiken wurden sie als »ethnische Gruppen« in die dreistufige Kategorisierung »Nation«, »Nationalitäten« und »ethnische Gruppen« eingeordnet (vgl. Koinova 2000: 6). An den Lebensverhältnissen der meisten mazedonischen Roma / Zigeuner vermochte jedoch auch die Aufnahme in die gesamtjugoslawische Verfassung von 1981 als »Nationalität« kaum etwas zu ändern, denn Bildung war die einzige Hürde, die die Roma / Zigeuner des Landes zu nehmen hatten, um ihre Lebensumstände verbessern zu können. Doch diejenigen unter den Roma / Zigeunern, die die Schulen besuchten, brachen diese zumeist noch vor ihrem Primary-Abschluss ab (Crowe 1994: 229). Die auf dem gesamtjugoslawischen Gebiet immer wieder aufflammenden verschiedenen nationalen Bewegungen kamen auch zu dieser Zeit nicht zum Erliegen und sollten in weniger als einer Dekade erneut zum Krieg führen. So annektierte Serbien im Frühjahr 1989 das Gebiet des Kosovo, um auf die dortigen albanischen Nationalbewegungen zu reagieren. Diese sollten auch vor dem bereits bestehenden Hintergrund slowenisch-serbischer Spannungen, die sich in den Jahren zuvor aufgebaut hatten, betrachtet werden (vgl. ebd.: 230). Die dadurch entfesselte Kette von Kampfhandlungen ließ Jugoslawien gänzlich zerfallen23 und 23 | Zum Zerfall Jugoslawiens in seine sieben Teilrepubliken siehe u. a. Sundhausen (2008:  10) mit einer Literaturliste zu Krise und Zerfall, die ausschließlich politisch ambitionierte Texte enthält. Der spätere serbische Ministerpräsident Zoran Djindjić (Amtszeit 2001–2003), dessen Mandat mit dem vorzeitigem Ende seines Leben durch ein Attentat abriss, stellte in einer Betrachtung von 1990 das Gebiet Jugoslawiens als

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mündete primär in die Unabhängigkeit Mazedoniens, in dessen eigenständiger und neu angelegter Verfassung die Roma / Zigeuner nun zum allerersten Mal in der Geschichte als eine nationale Minderheit auf einer Ebene mit der albanischen und der türkischen Minderheit standen (Koinova 2000: 6). Der eigentliche Krieg hat ja begonnen, als die Tito-Zeit beendet war. 1985–1995 habe ich hauptsächlich Musik gemacht. Ich erinnere mich aber auch deutlich an diese Krise, den Krieg und die Flüchtlinge, die hierher kamen, auch an die Unabhängigkeit Mazedoniens kann ich mich klar erinnern. Wir haben ja in der Zeit gelebt … wir haben diesen Krieg gesehen und ich war froh, nicht daran beteiligt gewesen zu sein. Und ich erinnere mich an den ersten Präsidenten Mazedoniens, wie er einfach das Gebiet ohne Krieg an andere Länder (also Serbien und ihre Gebiete) abgegeben hat. Eigentlich sind mir die Erinnerungen an die kriegerischen Handlungen Kosovos gegenüber Mazedonien deutlich vor Augen, als wir diesen Krieg in Bosnien hatten und, wie die Serben sich dort verhalten haben. Der eigentliche Krieg hat ja schon begonnen, als die Tito-Zeit beendet war. […] Wie Sie wissen, ist die Romafrage im Kosovo dergestalt, dass alle Albaner aus dem Kosovo vertrieben wurden und die Roma geblieben sind. In den Augen der Kosovo-Albaner waren die Roma deshalb mit den Serben zusammen. Sie wurden tatsächlich von den Serben benutzt, um in die albanischen Häuser zu gehen und den Serben alles zu bringen, was sie dort finden konnten. Und die Serben kamen ja von überall her, um den Albanern alles zu stehlen. Und die Albaner haben die Roma natürlich dann mit den Serben zusammen gesehen und als sie zurückkamen 1999, wurden sie [die Roma] daher zusammen mit den Serben aus dem Kosovo vertrieben. Als der Krieg hier war (2001–Aufstand albanischer Separatisten, bei dem das mazedonische Militär in Nordwestmazedonien intervenierte) und Tetovo wegen der Berge hier ein zentraler Punkt des Krieges war, haben die Albaner alles gesehen und … Tetovo war eine der heißesten Kampfzonen. Die Roma haben jedoch versucht unabhängig zu bleiben, das hat meistens funktioniert. Aber es einen »scharf gewürzten Nationalitäteneintopf« dar und postuliert insbesondere durch die Schwierigkeiten der Unabhängigkeitswerdungen der Teilrepubliken, dass sie »keine volle Befriedigung der nationalen Appetite garantiere« (Djindjić 1990: 157). Für das Gebiet Mazedoniens drückte Djindjić es so aus: »Ein Mazedonien ohne jugoslawischen Hintergrund wäre eine leichte Beute für Bulgarien, Griechenland und Albanien, die alle drei die mazedonische Nationalität nie anerkannt haben und territoriale Ansprüche erheben.« (Ebd.: 163) Wie sich Mazedonien in den Folgejahren seiner Unabhängigkeit von 1991 bis zu den Wahlen 2008 immer wieder sowohl den Interessen seiner Anrainerstaaten vor dem Hintergrund seiner jungen Nationswerdung stellen muss, als auch dem inneren Zerrissensein entlang wirtschaftlicher und nationaler bzw. ethnischer Linien, ist beispielsweise bei Opfer-Klinger (2008) und bei Daftary (2001) nachzulesen.

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gab einige Roma, die auf einer Seite gestanden und gekämpft haben. Die Mazedonen haben die Roma über die Armee einbezogen und die Albaner haben die Roma gezwungen mit ihnen zu kämpfen. Wenn man da nicht wollte, haben sie dich einfach getötet oder dich schlecht behandelt. Wir hatten ja auch die albanisch sprechenden [Roma], in der Mahalla ›Dechep‹. Die leben hauptsächlich mit Albanern zusammen und werden bis heute von ihnen unterdrückt. […] Vielleicht hatten die Roma in der kommunistischen Zeit ein besseres Leben, aber wir hatten als solches keinen Zugang zu den Institutionen, wir hatten keine eigenen Institutionen. Unser Recht hatten wir nicht, in unserer Muttersprache gebildet zu werden.  Nadir Redzepi

4.4.6 Die 1990er Jahre Der Beginn der 1990er Jahre stellte Mazedoniens Situation gegenüber den anderen Teilrepubliken Ex-Jugoslawiens unter vielen Aspekten als besonders heraus, und wenn man so will, schien sich das Rad der Geschichte in den 1990er Jahren in Mazedonien schneller als sonst zu drehen: Unzählige NGOs entstanden, die für Roma / Zigeuner arbeiteten, gleich mehrere Roma- / Zigeunerparteien meldeten ihre Programme an, um bei anstehenden Wahlen um Stimmen zu ringen, während Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten im Westen und Norden nach Mazedonien strömten und Shutka den Status als erste von Roma / Zigeunern selbst verwaltete Einheit bekam. Wie ich bereits im Kapitel 3 gezeigt habe, sind durch das sich in den 1990er Jahren verbreitende Internet die Informationen schneller und leichter zugänglich geworden, was zu dem Eindruck von sich überschlagenden Ereignissen führen könnte. Doch schauen wir uns zunächst deren Kausalitäten aus der mazedonischen Perspektive an. Koinova (2000) spricht von 12–30 NGOs, die nach der Unabhängigkeit Mazedoniens 1991 entstanden, »to defend Roma cultural, social and human rights« (ebd.: 13), wohingegen der REF-Report von 2007 auf »approximately 200 associations« verweist, die seit 1992 entstanden seien, »among these, 120 are RomaNGOs« (Kovács-Cerović 2007:  21). Wenngleich Koinova und Crowe von einer »sympathy towards the Roma on many occasions« sprechen, die der neue Präsident Kiro Gligorov gegenüber den ca. 51.000 Roma / Zigeunern des Landes24 empfindet (Koinova 2000: 8; Crowe 1994: 232), so ist dem wohl hinzuzufügen, dass bis zum heutigen Tage politische Allianzen und strategische Querelen im Parlament Mazedoniens sich entlang der albanisch–mazedonischen Linie bewegen und durch eine Koalition mit den entstehenden Roma- / Zigeunerparteien 24 | Crowe (1994) argumentiert mit Poulton (1993), dass der »offical census« des Jahres 1991 weit unter den geschätzten Zahlen liegt, die laut Roma-Aktivisten sich bei 200.000 bis 220.000 befinden müssten (ebd.: 350; Petrovski 2009: 42).

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die jeweilige mazedonische oder albanische Mehrheitspartei gestärkt wird. Mitev et al. (2008) benennt Mazedonien als ein »Land am Scheideweg« (Macedonia at a crossroad) und stellt vor weiteren Hauptcharakteristiken, die Mazedonien auch derzeit auszeichnen, die folgenden zwei als die primären dar: »1. Macedonia is de facto segregated in all spheres of social life. 2. The Macedonians, Turks, Torbeshi, Roma and other minorities on the one hand and the Albanians on the other cannot, and do not want to coexist.« (Ebd.: 148)

Damit führte die offizielle Politik des Landes gegenüber den Roma / Zigeunern konsequenterweise zur Nutzung der nun endlich freiheitlichen Organisationsund Emanzipationsmöglichkeiten, auf die sie so viele Jahre verzichten mussten. In diesem Zuge schrieb sich die erste Roma- / Zigeunerpartei PCER (1990 von Abdi Faik gegründet) ›Bildung‹ als erstes Thema in ihr Rahmenprogramm: »They demanded the opening of a pre-school day-care center providing education in both Romani and Macedonian« (Koinova 2000: 38). Als ein Jahr nach der Gründung der PCER eine weitere Roma- / Zigeunerpartei RPR unter Bekir Arif das Licht der Welt erblickte (ebd.: 12), begannen sich viele der noch in den beiden Parteien bestehenden persönlichen Allianzen und Koalitionen zu entflechten und ließen während der nächsten Jahre eine Vielzahl von weiteren Parteien entstehen. So trat Amdi Bajram – einer der Akteure meiner Arbeit, der bis dato als Hauptsponsor der Partei PCER galt und gemeinsam mit Abdi Faik im mazedonischen Parlament saß – am Vorabend der Wahlen 1996 aus der Partei aus (s. Kap. 7) und gründete seine eigene Partei CRM (Koinova 2000: 11 ff.). Zwei Jahre darauf löste Neždet Mustafa den ehemaligen Vorsitzenden der PRP Bekir Arif ab und benannte die Partei in PR um. Wiederum zwei Jahre darauf, im Jahr 2000, wurde Neždet Mustafa im Amt des Bürgermeisters von Shutka bestätigt (ebd.: 12). Die meisten der Organisationen (sowohl die politischen Parteien als auch die NGOs) haben das Thema Bildung im Fokus ihrer Programme und / oder ihrer Projekte (ebd.: 13; vgl. Kap. 1 und 7), um der Situation der meisten Roma / Zigeuner in Mazedonien zu begegnen. Doch für die Mehrzahl der mazedonischen Roma / Zigeuner hat sich trotz ansteigender Zahlen der NGOs, der politischen Parteien und Bildungskampagnen bis dahin nicht viel geändert. Auch das im September 1993 auf den Weg gebrachte Roma-Bildungsprogramm, das die selbst auferlegte Verpflichtung, zwei Wochenstunden lang eine Einführung in die Romani-Sprache an den Schulen zu lehren, infolgedessen eine Abteilung für Romani-Studien an der Universität Skopje eröffnet wurde (Crowe 1994: 232 ff.), beinhaltete, vermochte nichts Wesentliches zur Veränderung beizutragen. Denn obwohl mittlerweile Roma / Zigeuner im öffentlichen Leben auch als Polizisten zu sehen sind (Koinova 2000:  20), erfahren die meisten unter ihnen in dieser Öffentlichkeit weiterhin keine Anerkennung, werden gerade beim Bearbeiten von Personaldokumenten in den Institutionen gemobbt oder ihnen werden sogar Papiere verweigert, wie

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ich es auch selbst erlebte und wovon einige Akteure dieser Arbeit noch berichten werden. Ein Regierungszensus im Jahr 1995, der wohl auch und gerade vor dem Hintergrund der gestiegenen Zahlen von Ausländern im Land und den im Jahr 1996 bevorstehenden Lokalwahlen stattfand, stellte »30.000 to 40.000 non-citizens living in Macedonia« fest (Koinova 2000: 21), wobei hier der Anteil der Roma / Zigeuner nicht klar hervorgeht. In der Zeit um das Jahr 1995 herum kam es zu vielen unbegründeten Verhaftungen von Roma / Zigeunern seitens der Polizei, viele Kleinwarenhändler bekamen keine Handelserlaubniserneuerung und in einigen Landesteilen wurden Häuser von Roma / Zigeunern ohne Kompensation abgerissen. Mit dem neuen Gesetzestext über die »Territorial Division« des Landes erhielt Shuto Orizari den Status als »self-governing community« und wurde fortan von einem Rat des Bezirks geleitet, der aus 17 Mitgliedern bestand, von denen 13 Roma / Zigeuner, zwei Mazedonen und zwei Albaner waren (ebd.: 26). Die Kriegshandlungen auf dem kosovarischen Gebiet trieben von März bis Juni 1999 viele Roma- / Zigeunerflüchtlinge nach Mazedonien, von denen ca. 4.500 nach Shutka kamen, wie das Blatt Večer vom 7. Juli 1999 berichtet, wo sie – zunächst gemeinsam mit den albanischen Flüchtlingen und später separiert von ihnen – zum Teil bis heute auf ihren Asylstatus warten, wobei oft anstatt von Flüchtlingszelten stabile Baracken errichtet wurden (Koinova 2000: 22). Allen Schwierigkeiten und historisch begründbaren Zerwürfnissen zum Trotz, denen sich Mazedoniens Roma / Zigeuner bis heute gegenübersehen, ist Crowe (1994) überzeugt, dass die Geschichte des Landes seit der ersten Mehrparteienwahl im Jahr 1990 als »einziger Lichtblick für die Roma / Zigeuner Jugoslawiens« gelten kann (1994: 232 ff., m. Ü.), und geht damit sowohl mit den Akteuren dieser Arbeit konform, als auch mit der bisherigen Literatur zum Thema (vgl. ebd.: 20). Gott hat sich von uns viel weiter entfernt als im Kommunismus! Und sage Ihnen, dass Gott sich heute viel weiter von uns [Roma] entfernt hat als in der Zeit des Sozialismus oder Kommunismus. Da haben wir alle zusammen gelebt, manchmal sogar alle zusammen in einem Raum, und die jüngere Generation hat die alte respektiert. Die Gesichter der Leute haben öfter gelacht und sie waren einfach in einer besseren Stimmung untereinander. Da kannten die Roma noch ihre Traditionen, ihre Kultur, ihre Zivilisation, es gab einfach alles.  Branislav Petrovski

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Zwischen meiner Kindheit und heute gibt es einen großen Unterschied, was die Diskriminierung angeht. Ich kann sagen, dass in meinem Freundeskreis viele Roma waren, aber auch viele Mazedonen, zu denen ich bis heute noch Kontakte habe! Und bin sogar heute noch mit vielen von ihnen befreundet. Das macht da keinen Unterschied, ob sie von Topaana weggezogen sind. Wir haben unsere Freundschaften aus unserer Jugend bis heute gehalten. […] Ich muss sagen, dass in der damaligen Zeit die Freundschaften viel wichtiger waren als alles andere. Vielleicht waren da versteckte Diskriminierungen. Aber es war nicht so offensichtlich, wie es heute ist! Es war sehr oft der Fall und normal, dass meine mazedonischen Freunde in mein Haus gekommen sind, wir aßen zusammen oder ich bin halt zu ihnen gegangen. Auch dort haben wir zusammen gegessen und haben alle an einem Tisch gesessen. Und ich kann ehrlich sagen, dass du heute solche Dinge kaum noch sehen und erleben kannst. Also zwischen meiner Kindheit und heute gibt es einen großen Unterschied, was die Diskriminierung angeht.  Miljazim Sakipov Ich habe meine Tür niemals zugemacht, bis die Demokratie kam! Hier sind die Leute, ich meine in meiner Mahalla [in Tetovo], seit mehr als 100 Jahren zusammen, sie kennen sich untereinander. Ich habe niemals meine Tür zugemacht, wenn ich mein Haus verlassen habe, bis die Demokratie kam. Seit der Demokratie schließt jeder seine Tür zu und sie kümmern sich um ihre Sicherheit.  Nadir Redzepi Grundsätzlich muss geschlussfolgert werden, dass gegenüber den Roma / Zigeunern auf dem Gebiet Mazedoniens nur begrenzt von einer repressiven Politik gesprochen werden kann (ganz im Gegenteil zum Nachbarland Bulgarien), denn aufgrund der heterogenen Gesamtbevölkerung Jugoslawiens und selbst der auf dem relativ kleinen Gebiet Mazedoniens ist in der Bevölkerung eine Art multiethnische Akzeptanz zu finden. Zudem gab es weder radikale Programme zur Sesshaftmachung oder Umsiedlung von Minderheiten, noch wurden Roma / Zigeuner gezwungen in Fabriken zu arbeiten oder in Betonsiedlungen zu hausen. Natürlich darf der relative Anteil der Roma / Zigeuner Mazedoniens an der Gesamtbevölkerung nicht vergessen werden und auch nicht – wie ich verdeutlicht habe – ihre recht verlässliche Loyalität eher zur mazedonischen als zur albanischen Mitbevölkerung (Koinova 2000:  20). Laut offizieller Zahlen betrug der Anteil der Roma / Zigeuner in Mazedonien 2002 2,6 Prozent, doch Schätzungen zufolge lag die Zahl bereits 2004 jenseits der Grenze zu 100.000 Menschen, was einem Anteil von ca. fünf Prozent der Gesamtbevölkerung entsprechen würde (vgl. ERRC 2006: 17).

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4.4.7 F azit: Die ›kulturhistorische Linse‹ Als die, denen aufgrund ihrer Wirtschafts- und Lebensverhältnisse eine der untersten Stufen einer Sozial- oder Wirtschaftshierarchie zugeschrieben wurden, gelang es vielen Roma- / Zigeunergruppen dennoch – wenngleich nur partiell – dafür zu sorgen, dass sie aus der Nomenklatur der Gadže-Institutionen einzelne Begrifflichkeiten übernahmen, diese rekontextualisierten und damit zumindest den Vorbildern (und Erwartungen) jener Institutionen entsprachen, was sie auch heute noch versuchen. So konnten sie für sich in den Reihen der ›Gadže-Herren‹ bzw. deren Institutionen mit einigen ›Baro Rom‹ (Romanes: Große Männer) als Mediatoren oder zumindest als Fürsprecher, Steuerübermittler, Parteifunktionäre oder NGO-Leiter einige vermittelnde Plätze verbuchen. Zu Beginn führte ich mit Klimova (2002) aus, wie sie anhand der Länderbeispiele Rumänien und Ungarn zeigte, dass diese Bezeichnungen von einigen Roma- / Zigeunergruppen in die Moderne transportiert wurden, nachdem sie bereits ihre Aufgabe in den Institutionen der Gadže-Gesellschaften verloren hatten (ebd.: 106 ff., 110). Marushiakova und Popov (2004a) vermuten bezüglich der Bezeichnungen für die Anführer der verschiedenen Roma- / Zigeunergruppen in der Geschichte – und speziell des Titels »Gypsy king« –, dass diese Gruppen ihre Führer deshalb als Könige bezeichneten, um »European rulers« zu täuschen und ihren Gruppen damit Privilegien zu verschaffen (ebd.: 76). Diesem auch für die Gebiete Bulgariens und Mazedoniens gezeigten Phänomen ist das Attribut ›adaptiv‹ voranzustellen, das metaphorisch mit der Verhaltensweise einer ›kulturhistorischen Linse‹ verglichen werden kann: Kulturelle (kontemporäre) Elemente der Majoritätsgesellschaft(en) werden durch diese Minoritätslinse wie durch eine Vergrößerung hervorgehoben und partiell verzerrt. Was allerdings soziale Gruppen im Gegensatz zum Körper einer echten Glaslinse darüber hinaus zu leisten imstande sind, ist die Fähigkeit der Konservierung dieser hervorgehobenen Elemente innerhalb ihres (Linsen-)Körpers, der in dieser Metapher konsequenterweise die Roma- / Zigeunergruppen darstellt. Es bleibt natürlich fraglich, ob aufgrund eines nachweisbaren ›Rom-Shero‹, ›Sherudno‹ o. ä., also Kopf-Mann der Gruppe, sei er nun Steuerübermittler oder Parlamentarier gewesen, pauschal auf (institutionalisierte) hierarchische Strukturen innerhalb der verschiedenen Roma- / Zigeunergruppen auch jenseits dieser steuerlichen Abgaben oder politischen Interessenvertreter in der Mehrheitsbevölkerung zu schließen sei. Dies ist nach meinem Ermessen wohl kaum der Fall. Gerontokratische Strukturen einer Führung nach dem Senioritätsprinzip oder gar eine derartige Herrschaft per se für Roma- / Zigeunergruppen zu prognostizieren (wohl in Ermangelung einer anderen, den Gadže-Forschern vorstellbaren und daher nicht erforschbaren Aufstellung eines wie auch immer gearteten Systems von Entscheidungsfindungsprozessen ohne zentrale Leitung), liegt mir daher fern. Doch wie sind die Führer- und Vertreterschaften in den einzelnen Gruppen und Ländern heute konstituiert? Wer hat da welche Macht und worüber? Wonach

4  Roma- /  Z igeuner ver treter in der Geschichte

richten sich den Akteursmeinungen nach die heutigen Roma- / Zigeunerführer, wenn sie ihre Anerkennung und ihr Image unter den Mitgliedern der durch sie vertretenen Gruppe erhöhen wollen? Haben sie Prestige unter ihnen? Ist dieses Prestige mit Bildung aufzuwerten? Wie steht es nun um den hier bereits oft hervorgehobenen und scheinbar von vielen Organisationen fokussierten Wert der Bildung? Nach einer kurzen Vorüberlegung zu den Begriffen ›Macht‹, ›Prestige‹ und deren ›Zugängen‹ will ich in den beiden folgenden Kapiteln versuchen, mittels vieler Akteursargumente Antworten auf diese und weitere Fragen zu finden.

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Vorüberlegungen zu Kapitel 5 und 6: Macht und Prestige

§ A Ü ber die V ielfalt der A k teure und E infalt der I nstitutionen Der Begriff der Macht hat innerhalb und außerhalb der Ethnologie1 vielfache Darlegungen und Diskussionen erfahren. Anstatt hier aber die vorhandene Quellen- und Analysenfülle darzustellen, beschränke ich mich in meinen Argumentationslinien mit Foucault (1982) – der eine interaktionistische Verbindung zum Begriff herstellt – 2 auf die sichtbaren Manifestationen, also Handlungen und Mei1 | Hierzu zähle ich beispielsweise die themenrelevante politikethnologische Literatur. Drei der mir umfassend erscheinenden Übersichtsarbeiten seien hier stellvertretend kurz vorgestellt: Kurtz (2001) gibt eine weitreichende Übersicht zu den aus der Diskussion herauszulesenden »Paradigmen« und führt aus, wie sich Führerschaft sowohl inhaltlich als auch paradigmatisch gewandelt hat. In die folgende Darlegung werden einige seiner Argumente eingebunden. Lewellen (2003) diskutiert vorrangig Beziehungen und Strukturen der Politik vor dem historischen Forschungshintergrund. Sein mittlerweile in dritter Auf lage erschienenes Werk verweist gegenüber den beiden vorherigen Auf lagen (1983, 1992) auch auf die Begriff lichkeit der Identitätspolitik und somit auf die Transitionsprozesse in der Postmoderne. Heidemann (2006) gibt hingegen eine detaillierte Übersicht über die Unterschiede zwischen der deutschsprachigen Politikethnologie und der anglophonen political anthropology. 2 | Obwohl Webers normativer Machtbegriff bis zum heutigen Tag federführend wirkt, hat sich die wissenschaftliche Perspektive und Analyse dem Begriff vielfältig genähert. So kann ich mit Ellrich sagen, dass auch mir bei der Sichtung der Analysen der Eindruck entstand: »anything goes« (Ellrich 1998: 103). Politologische Metaebenendiskurse suchen normativ auf verschiedenen Ebenen Macht zu betrachten. Eine besondere Leistung Foucaults bestand hingegen darin, den Machtbegriff aus seiner Normativität zu befreien und ihm mehr soziale Aspekte zuzugestehen, seine Sichtbarkeit untrennbar mit sozialer Interaktion zu verbinden und damit der Geistes- und Kulturwissenschaft wieder bedeutenderen Diskussionsraum zu bieten.

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nungen meiner Gesprächspartner. Denn Macht, so Foucault, existiert nur »when it is put into action.« (Ebd.: 788) Macht im Sinne Max Webers als die Fähigkeit, einem anderen seinen Willen aufzwingen zu können (vgl. Weber [1922] 2006: 62), verstehe ich in Verbindung mit den Aktionen der hier vorgestellten Personen als ein von ihnen zu erreichendes Ziel. Angelehnt an den Machtbegriff Webers führt auch Erdheim (1973) aus, dass »Macht […] die Möglichkeit […], den eigenen Willen durchzusetzen« sei. In seiner Studie Prestige und Kulturwandel (1973) diskutiert der Schweizer Ethnologe und Psychoanalytiker Mario Erdheim vor dem Hintergrund des Wandels der aztekischen Klassengesellschaft den Begriff Prestige, der als »eine Bedingung dieser Möglichkeit« der Durchsetzung des eigenen Willens gelte. Prestige als das »Wissen von der Vorbildlichkeit« seines Trägers schaffe auch »ein Autoritätsverhältnis« (ebd.: 34). Wenn einer Person also Autorität zugesprochen wird, so kann diese Person ihren Willen unter jenen Zuspruchgebern durchsetzen. Sie wäre für diesen Fall im Besitz von Macht, wie sie klassischer Weise hier verstanden werden soll. Dass Macht sich erst zeigt wenn sie wirkt, habe ich Foucault zustimmend zitiert, wenngleich er selbst »niemals das Ziel verfolgte, Phänomene der Macht« sondern die Resistenzen gegen verschiedene »Formen der Macht« zu analysieren. Damit postuliert er implizit, dass Macht weder in essentiellem Sinne, noch auf direktem Analyseweg greifbar gemacht werden könne (1982: 777 ff.; 781, m. Ü.). Macht, so betont er, sei ausschließlich erst dort zu erkennen, wo sie durch ihr Wirken beobachtbare Phänomene evoziert. Somit würde sich die Frage »wie manifestiert sich Macht selbst« nicht mehr stellen, sondern »was geschieht, wenn Individuen diese Macht über andere ausüben (wie sie sagen)« (ebd.: 786, m. Ü.). Vor diesem Hintergrund soll wiederholt werden, dass hier nicht die Begrifflichkeiten Macht und Prestige als solche diskutiert, sondern die beiden folgenden Kapitel vielmehr anhand des Sprechens über die Alltagspraxis und die Erfahrungen der Akteure verdeutlichen werden, wie sie ihre jeweiligen Zugänge zu Macht und Prestige selbst verstehen, und wie sie diese auf den verschiedenen Erwartungsebenen nutzen. Im Verlauf der folgenden zwei Kapitel wird auch deutlich gemacht, dass zum Arbeitsalltag der Akteure in den verschiedenen Roma- / Zigeunergemeinschaften (bzw. -mahallas) einerseits begrenzte Einflussmöglichkeiten, komplexe Machtverhältnisse sowie soziale und kulturelle Verpflichtungen gehören, und wie sie andererseits die alltäglichen Sichtweisen in den Institutionen der Mehrheitsgesellschaft und deren Perspektiven auf die verschiedenen Roma- / Zigeunergemeinschaften in ihre Perzeption einbinden.

§ B Z ugänge Macht als solche sprachen sich die Akteure niemals absolut zu (oder wurde ihnen selten zugeschrieben), sondern ein »hohes Ansehen«, »einen Namen zu haben« oder eben, wenngleich oft nur temporär, »Prestige« (s. o.). Wenn Macht oder Pres-

Vorüberlegungen zu Kapitel 5 und 6: Macht und Prestige

tige als das Ziel der Akteursaktionen verstanden wird, so ist ein bestimmtes Maß an verschiedenen Zugängen (u. a. Fähigkeiten) nötig, um das »gültige Vorbild« (einer Gruppe) zu verkörpern (Erdheim 1973: 35). In der politologischen und der politikanthropologischen Diskussion wird hierfür auch der Begriff »Ressourcen« gebraucht (vgl. u. a. Kurtz 2001, Lewellen 2003). Die Zugänge zu Prestige stellen für meine Interviewpartner u. a. Reichtum, Familiengröße (i. e. soziales Netzwerk) und Bildung dar. Doch ob diese Zugänge vorbildlich genutzt worden sind, ist von einem legitimierenden Publikum abhängig, das überzeugt werden will und, mit Erdheim gesprochen, »Wissen« um das Prestige benötigt (1973: 34). David Graebers (2001) theorieanalytisch-anthropologische Diskussion des Begriffs »Wert« in seiner Monographie Toward an Anthropological Theorie of Values stellt hier den zum Verständnis beitragenden Zusammenhang und Zugang her: Die (Überzeugungs-)Fähigkeiten, auf die ich weiter unten detaillierter und im Hinblick auf Sprachfähigkeiten bzw. Eloquenz eingehen werde: »To a large extent, power is just the ability to convince other people that you have it (to the extent that it’s not, it largely consist of the ability to convince them you should have it).« (Ebd.: 245, H. i. O.)

Laut Ellrich (1998) »dient Macht dem Pomp, nicht Pomp der Macht« (ebd.: 104 ff.). Demnach könnte »hergezeigter« oder objektivierter Reichtum auch rein intellektueller Natur über den Umweg der Potenzierung des Prestiges nicht zu Macht führen. Jedoch brachten alle Akteure ganz im Gegensatz dazu explizit oder implizit zum Ausdruck, dass Reichtum sehr wohl zu Ansehen führe, dass Pomp also sehr wohl der Macht dient – aber auch, dass Geld allein nicht ausreiche, um das eigene Ansehen zu vergrößern (sich einen »Namen zu machen«) bzw. dieses Ansehen erst zu schaffen. Gezeigter, also nicht im Verborgenen gebliebener, materieller Reichtum, dessen abstrakter Betrag auf einem Bankkonto sich in sicht- und begreifbaren Reichtum gewandelt hat, kann als eine der vielen wichtigen Grundlagen und Zugänge gelten, um zunächst Prestige aufzubauen, wie bereits u. a. auch anhand von Gábor-Gruppen in Rumänien detailliert nachgewiesen wurde (Jacobs 2012). Doch wo ist in dieser Konstellation der Begriff des Weber‘schen »Charisma« zu verorten und lässt er sich klar vom Begriff des Prestiges trennen? Mit Kluth (1957) und Erdheim (1973) muss dieser Trennung eine Absage erteilt werden: Wie Kluth in seinem frühen Werk zu »Sozialprestige und sozialer Status« (1957) argumentiert, entspricht das Weber‘sche »Charisma« nahezu dem Prestigebegriff des ungarischen Sozialpsychologen und Nationalökonomen Ludwig Leopold (1916), der wiederum seinerseits »Prestige« als das »unheimliche Gefühl« bezeichnet, das entstünde, »wenn man jemand vor sich hat, dem man denkend, wertend oder wollend nicht beikommen kann« (Leopold 1916: 25, so zit. in Kluth 1957: 10). In einem wesentlichen Punkt jedoch trennt Kluth Charisma von Prestige: »Die außeralltägliche Qualität des Charismas ist Führungsqualität, auf Führung

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gerichtet. Prestige dagegen ist gegenüber dem Phänomen Führung–Herrschaft prinzipiell neutral, wenn sich auch auf Prestige Herrschaftsverhältnisse oder herrschaftsähnliche Beziehungen auf bauen mögen« (ebd.: 20). Des Weiteren unterscheidet Kluth die beiden Begriffe hinsichtlich ihrer Quellen, die für das »Charisma in [der] Vergangenheit und Gegenwart [liegen, aber] die Quellen des Sozialprestiges in der Zukunft.« (Ebd.: 25) Wenn Leopold (1916) noch argumentiert, dass das Prestige »durch Bilder, nicht durch logische Überzeugung hervorgebracht« wird (ebd.: 53), folgert u. a. Kluth (1957), dass zu den wesentlichen Merkmalen von Prestige vor allem der »Besitz von außergewöhnlichen, dem Verständnis, Urteil, Vorurteil und Gefühl der Umwelt verschlossenen Werten« und eine »sichtbare Manifestation dieser Werte« vonnöten ist. Um nochmals mit Leopold zu sprechen: »je weniger Theorie, desto besser« für den »Mensch von Prestige« (ebd.). Deshalb sollen hier, wie auch Kluth betont, nicht »der Begriff [Prestige] […] untersucht werden, sondern die Erscheinungen, Zusammenhänge, Strukturen oder Prozesse, auf die er sich bezieht« (ebd.: 7) zu einer ersten Diskussion auf bereitet werden.

§ C V irtù , F ortuna und ein appl audierendes P ublikum zum E rfolg »Der in den vergleichenden Kulturwissenschaften oft mit allzu großer Vorsicht angepackte Schlüsselbegriff des Prestiges […]«, so Streck, besitze mehrere Seiten, von denen »das Normative« die eine Seite sei und die andere aus »Machthunger und Gefolgsbildung« bestehe. Zudem laufe »wahrscheinlich mehr über Ästhetik und Blendung ab als über Ethik und Menschlichkeit«, sobald auf den entstehenden »Streit um Einflusszonen« fokussiert würde (2008: 10). Das »Normative« des Prestiges findet sich bei Erdheim als »vorbildliches Verhalten« wieder, das sich dort messen lassen würde, wo Menschen »Virtù« und »Fortuna« zu einer erfolgreichen Verwirklichung eines Idealwertes miteinander verweben können, denn »Erfolg« sei das »maßgebliche Kriterium des Prestiges«. Der Begriff »Virtù« stellt hierbei die »Fähigkeit der Erkennung, wo Fortuna zu finden ist«, dar. Doch eine »günstige Gelegenheit [als solche] zu erkennen«, das ist »Fortuna« (Erdheim 1973: 28). Wenngleich »Virtù […] in jeder Gesellschaft anders definiert« sei, gilt er dennoch als der »Inbegriff der Eigenschaften, die dem Menschen erlauben, den Entwurf seiner Gesellschaft zu realisieren.« (Ebd.: 29) Erfolg zu haben ist folglich, die günstige Gelegenheit zu erkennen und zu handeln, um ein angestrebtes Wertideal zu verwirklichen bzw. dessen Verwirklichung zumindest glaubhaft performativ zum Ausdruck zu bringen. »Das gesellschaftlich gültige Vorbild« – hier das Wertideal –, so argumentiert auch Erdheim, »ist jeweils die Verkörperung der Fähigkeiten, welche notwendig sind, um diesen Entwurf [einer Gesellschaft oder eines Wertes] zu realisieren« (ebd.). Doch damit wird das Vorbild, das zu verwirklichende Idealbild, zu einem »führenden Bild

Vorüberlegungen zu Kapitel 5 und 6: Macht und Prestige

der Führer«, und dadurch »werden Führer zu Geführten.« (Ebd.: 34) Wenn sich eine günstige Gelegenheit (Fortuna) einstellt und diese zur Verwirklichung eines gesellschaftlich angestrebten Wertes (Vorbildlichkeit) erkannt und genutzt wird – bei Erdheim die Virtù –, kann sich also durch diesen Erfolg Prestige zu jenen Prädikaten gesellen, die dem Akteur zugesprochen werden. Wenn daher ein soziokulturell spezifischer Wert – sagen wir eine große und reiche Familie mit gut situierten Kindern und Enkeln, die dem Familienimage keine Schande machen, aus denen also »etwas geworden ist« – sichtbar verwirklicht wurde, stehen die Chancen um so besser, sich durch erfolgreich generiertes Sozialprestige einen Zugang zur Macht eröffnet zu haben. Doch, wie bereits betont: Ohne Anhänger wird der auf Prestige, Macht oder Einfluss hoffende Akteur darauf ewig warten müssen. Er braucht das applaudierende Publikum, das Gefolge und die Wähler, deren Zuspruch erst die angestrebte Berechtigung trägt: die Legitimation zur Macht. Um mit Erdheim zu sprechen: »Das Prestige eines Individuums besteht aus dem Wissen, das die Angehörigen seiner Bezugsgruppe von seiner Vorbildlichkeit haben« (1973: 27). Die Potenzierung ihres Zuspruchs, ihrer Legitimation, ist folglich ein vor Augen zu haltendes Ziel jedes Akteurs. Denn Zuspruch erweist sich auf dem Weg zur Macht als unabdingbar. Die legitimierende Gruppe konstituiert sich im hiesigen Fall größtenteils aus den Mitgliedern der verschiedenen Roma- / Zigeunerfamilien in den Nachbarschaften, mitsamt ihren unterschiedlichen sozialen und / oder »Opportunitätsnetzwerken« (Bernhard 2010: 82). Demnach sollten die Erwartungen der Familien- und Gruppenmitglieder prinzipiell im Interessenvordergrund der Akteure stehen.

§ D G egebene und generierbare Z ugänge Die eben angesprochenen Zugänge (Reichtum, Zuspruch und Legitimation, Kontakte und Netzwerke, Bildung, Eloquenz usw.) verstehe ich, weil zum überwiegenden Teil in der Hand des Akteurs liegend, als generierbare Zugänge. Ihre Potenz, Fokussierung und Relevanz ist mit persönlicher Note des Akteurs gestaltbar. Im Unterschied dazu verstehe ich unter gegebenen Zugängen solche, die dem Menschen vererbt oder auch anerzogen werden können. Zu diesen Zugängen, die außerhalb einer persönlichen Wahl der Akteure stehen, gehören beispielsweise ihr Elternhaus mitsamt seinem familiären Image und den jeweiligen soziokulturellen Gegebenheiten ihrer Herkunftsumgebung. Darunter ist auch das anerzogene Verständnis über die vor Ort vorherrschenden Hierarchieverhältnisse der Roma- / Zigeunergruppen untereinander, die bestehenden Verhältnisse zu den jeweiligen Gadže und u. U. zu anderen ethnischen Gruppen und deren Institutionen mit einzubeziehen. Zu den primär gegebenen Zugängen zähle ich auch die sozialpolitischen Gegebenheiten der Makrogesellschaften, und hier ganz besonders die je unterschiedlich verlaufenen makrogesellschaftlich prägenden Transitionen, wie im Geschichtskapitel verdeutlicht wurde.

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Zigeunerkulturen im Wandel

Es steht hier außer Frage, dass zwischen der sogenannten sozialistischen oder als kommunistisch bezeichneten Zeitspanne und der seit ca. 20 Jahren bestehenden, sogenannten demokratischen Ära grundsätzliche makrosoziale Neunormierungen stattgefunden haben. Solchen Umbrüchen, die alle Sphären des Alltags, u. a. durch die Neujustierung von (Gemein-)Werten, betreffen, sind die Akteure gleich mehrfach und je verschieden ausgesetzt, wie bereits angedeutet wurde und noch detailreich gezeigt wird. Den hier vordergründig narrativ dargelegten Wirkungsbereich der Akteure differenziere ich in die beiden Sphären ›Kontemporäres‹ und ›Vergangenes‹ und nutze ihre eigenen Grenzbestimmungen zwischen den zwei Bereichen. Als das Vergangene wird hier im Allgemeinen das bezeichnet, was für die Akteure in der Zeit geschah, bevor sie »für die Roma« sozial-politisch oder eben anderweitig aktiv waren. An dieser Grenze könnte man also auch den Schlüsselmoment finden, der die Akteure zu der Entscheidung brachte, für den Roma-Aktivismus tätig zu werden. Als Vertreter ›ihrer‹ Roma- / Zigeunergemeinschaft jedoch erfuhren die meisten unter ihnen, wenn überhaupt, erst sehr viel später ihre Legitimation. Die davorliegende Zeit kulminiert, wenn man so will, in jener Entscheidung, an der die Akteure ihre »präprofessionelle« Vergangenheit (die Kindheit, die schulische und berufliche Ausbildungszeit) vom »professionellen« Lebensabschnitt trennen – wenn wir den Begriff »professionelle Roma« aus der Fachliteratur übernehmen würden (Marushiakova / Popov 2004a: 84). Ob jedoch davon auszugehen ist, dass jener berufliche Weg dem Vor- oder Wunschbild ihrer eigenen Zukunft entspricht, darf, wie in den Narrationen abzulesen ist, allgemein fraglich bleiben. Anhand von Gesprächssequenzen werde ich zeigen, ob und wie sich die Begrifflichkeiten »Prestige«, »Fortuna«, »Virtù«, »Zugänge« sowie soziales, kulturelles und materielles Kapital abbilden lassen, bevor ich sie im anschließenden Teil der Arbeit tiefer gehend besprechen werde. Des Weiteren werde ich ihre Ansichten und Meinungen zeigen, die mit ihrer Herkunft in Verbindung stehen, oder auch, wie die Legitimationskonstellationen beschaffen sind, die sie als Roma- / Zigeunervertreter nutzen müssen. Dabei werden die Akteure darlegen, welche Zugänge (bzw. Voraussetzungen) sie bereits durch ihre Sozialisation erfahren haben und wie sie ihre Herkunft selbst sehen. Vor dem Hintergrund ihrer politischen Erfahrungen habe ich sie über vergangene und gegenwärtige Prozesse reflektieren und folgende Fragen beantworten lassen: • Wie ist die Konstellation der Führer- und Vertreterschaften in den jeweiligen Gruppen und Siedlungen beschaffen? • Welche Legitimationsgrundlagen stehen dabei in Verbindung mit ihrer Herkunft? • Wie ist die Vorstellung der Akteure von einem ›idealen‹ Repräsentanten oder gar Führer ›der‹ Roma? Und wie erfüllen die Akteure selbst die gestellten Erwartungen an ihre eigene(n) Position(en)?

Vorüberlegungen zu Kapitel 5 und 6: Macht und Prestige

• Wie verhalten sich der Erwartungs- und ein entsprechender Erfüllungshorizont im Spannungsfeld zwischen den ›zwei Welten‹? • Wie passen diese zwei Welten schließlich unter einen Akteurshut und welche der jeweiligen Werte jener zwei Welten müssen unter welchen Translationskosten durch die Akteure übersetzt werden? • Sind die verschiedenen Zugänge als Kapitalformen zu verstehen, folgt man der Argumentation Bourdieus (1983), die die Akteure auf den unterschiedlichen Aktionsebenen strategisch in Dienst nehmen? In Einklang mit der Aufteilung der historischen Betrachtungen in Kapitel 4, der Akteurstabellen im Anhang und dem Narrativen Glossar sind die Akteure zunächst länderspezifisch geordnet. Die junge Generation wird dabei das erste, die ältere das letzte Wort haben. Innerhalb der einzelnen Länder habe ich die Anordnung nach Städten gewählt, in denen sie zur Zeit meiner Feldforschung tätig waren, wobei die Hauptstädte Sofia und Skopje an jeweils erster Stelle stehen. In der Akteurstabelle sind die dort verankerten persönlichen Eckdaten der einzelnen Akteure bei der Lektüre der folgenden Kapitel einzusehen. Die dargelegten Gesprächssequenzen stellen prägnante und aussagekräftige Beispiele dar, die jeweils mit Kurzkommentaren und Überleitungen meinerseits versehen sind. Teils werden verschiedene Analysen aus der Sozial- und Kulturwissenschaft eingearbeitet, teils lasse ich die Kommentare für sich selber sprechen. Denn es ist mir nur bruchstückhaft gelungen, auf alle von mir vorgefundenen Meinungen und Perspektiven adäquate, analytisch vorgefertigte Theoriemodelle zu projizieren, deren wissenschaftliche Aussage durch meine Daten bestätigt würden. Da die Gespräche mit den Protagonisten dieser Arbeit sehr unterschiedlich lang bzw. intensiv waren, entstanden aus manchen von ihnen ganze Tages- oder Wochenaufzeichnungen, während andere Akteure meinen Besuch bei ihnen nur kurz hielten und es aus unterschiedlichen Gründen zu keinen weiteren Treffen kam. Somit mag zwar die Verteilung und Gewichtung der hier dargelegten Meinungen sehr asymmetrisch oder nicht ausbalanciert erscheinen, doch habe ich bereits in Kapitel 2 offengelegt, wie und unter welch unterschiedlichen Bedingungen die Gespräche stattfanden und auch, wie dadurch die Dichte und Spannweite der oft allegorisch gegebenen Antworten variierte.

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Zigeunerkulturen im Wandel

5 Bulgarien 1 5.1 S ofia -S tadt : D ie junge G ener ation 2 (L udmil a Z hivkova , E mil M e todie v, Toni Tashe v) 5.1.1 »In Roma-Gemeinschaften ist das Wichtigste die Freiheit.« Ludmila Zhivkova, die Tochter einer Musikerfamilie, die »mit [den] Traditionen der Roma bricht« und über sich selbst meint, das »schwarze Schaf der Familie« zu sein, arbeitet und lebt seit ihrer Geburt in Sofia, jedoch nicht permanent in oder bei ihrer Familie: Sie ist unverheiratet und war zur Untersuchungszeit parallel zu ihrem Zweitstudium der Filmproduktion3 im Team der NGO SSDID (Student Society for the Development of Interethnic Dialogue4) tätig, in deren Büro wir uns anfänglich trafen. Weitere gemeinsame Zeit verbrachten wir u. a. in der Abteilung »Studii Romani« des ethnographischen Instituts an der Akademie der Wissenschaften in Sofia. Ludmila, eloquent und sich durchaus ihrer Stellung bewusst, war zumeist verärgert über »dumme Fragen« meinerseits, die sie als symptomatisch für das Verhältnis zwischen Wissenschaft und praktischer Anwendbarkeit des Wissens über Roma / Zigeuner ansah. 1 | In Bulgarien habe ich mit mehr als nur den hier zu Wort kommenden 12 Akteuren gesprochen. Dasselbe gilt auch für Mazedonien, wo ich mich ebenso mit mehr als den zitierten 17 Akteuren getroffen habe. Wie viele Akteure im Sinne dieser Arbeit, also wie viele Vertreter einer Roma- / Z igeunerelite in den jeweiligen Ländern insgesamt tätig sind, ist mir durch die Fülle an Siedlungen in den beiden Ländern, ihre möglichen (Gruppen-)Konstellationen und Personenvielfalt unbekannt geblieben. 2 | Zur Einteilung in »junge« und »alte« Generation siehe »Buchstruktur und Gliederung« im Kapitel 1. 3 | Bereits vor dem Abschluss ihres Studiums wurde ihr Kurzfilm »A Gypsy in the Central Committee of the Bulgarian Communist Party« (Regie: Ludmila Zhivkova, BG 2008, 19 Min.) auf einem Roma- und Sinti-Filmfestival in Salzburg vorgestellt (vgl. Studio West 2008. Roma und Sinti Filmfestival. 9.–12.06.2008; Onlinedokument: http://www.romavideodrom.net/files/programmheft_romadrom.pdf, vom 21.07.2011). 4 | Online: http://romastudents.org/, vom 21.07.2011.

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Zigeunerkulturen im Wandel

Der Gesprächssprache Englisch war sie mächtiger, als sie mir gegenüber zunächst zugestand. Bei dem »offiziellen« Teil unseres Gesprächs nahmen zwei weitere Roma-Mitarbeiter, Nasko Borisov5 und seine jüngere Schwester teil. Ludmila hat sich während der Feldforschungszeit verstärkt ihrem Studium gewidmet und zur selben Zeit die Organisation geleitet, sodass mein Zugang zu ihr zunehmend unter Terminfindungsschwierigkeiten stand. Denn nachdem sie ihr erstes Studium der Feinkunst mit der finanziellen Hilfe ihrer Eltern abgeschlossen hatte, stand sie nun auf eigenen Beinen: »[E]s ist meine Entscheidung! Sie [meine Eltern] helfen mir nicht mehr. Sie haben mein erstes Studium bezahlt. Das ist mein zweites jetzt. Vorher habe ich Feinkunst studiert, an der Universität in Sofia.« Sie wiederholte ausdrücklich, dass es nicht nur eine Vielzahl von Führern innerhalb einer Roma- / Zigeunergemeinschaft gibt, sondern dass die Führer untereinander zerstritten sind – Ludmila meinte in diesem Zusammenhang etwas belustigt, dass das so etwas wie deren Sport sei (s. u.). So gelten in den verschiedenen Gruppen nicht nur diejenigen als Führer, die wie sie ein Stipendium bekommen, oder die bspw. Hochzeiten organisieren, sondern auch die Familienoberhäupter oder die Priester: »Ich denke, wenn wir über Roma-Elite sprechen, dann müssen wir sagen, dass es den Führer nicht gibt, also es ist nicht nur eine Person! Unsere Leader haben immer nur Probleme untereinander, die Konkurrenz! […] Aber sie wissen selber nicht warum. Das scheint ihr Sport zu sein (lacht).«

Und mit dem Verweis auf den Zusammenhang zwischen hierarchischen Stratifikationen und Führerschaften innerhalb der Gemeinschaften der Roma / Zigeuner führte sie aus: »Von Führerschaft (leadership) in Roma-Gemeinschaften zu sprechen ist dumm! Leadership ist für mich Bullshit! In Roma-Gemeinschaften ist das Wichtigste die Freiheit! Wenn jemand in der Gemeinschaft existiert, der dir die Freiheit nehmen will, dann wird er weggeschickt!6 Das ist ein großes Problem, dass alle Leute, die im Roma-Movement arbeiten, denken, dass die Führerschaft wichtiger ist. Aber die Führerschaft in Roma-Gemeinschaften kann nur für ein Jahr sein und dann im zweiten Jahr ist jemand anderes der Führer. [...] Es ist dumm zu denken, dass einer der Führer der Gemeinschaft ist. So denke ich.«

5 | Naskos Karriere innerhalb der SSDID war beendet, noch bevor ich ein weiteres Mal mit ihm in Kontakt treten konnte. Er folgte seinem Wunsch, als Anwalt tätig zu sein, nahm eine Anstellung innerhalb der juristischen Abteilung eines internationalen Elektronik-Unternehmens an und beendete damit seine Lauf bahn als Aktivist für Roma /  Z igeuner. 6 | Siehe u. a. Kommentar von Nikolaj Kirilov in Kapitel 3, Abschn. 3.1.2.

5  Bulgarien

Mit diesen beiden recht kurzen Sequenzen von Ludmila Zhivkova sollen meine Beobachtungen und auch die mir immer wieder entgegengebrachte Meinung hervorgehoben werden, dass es den Führer oder den Vertreter einer Roma- / Zigeunergruppe nicht gibt. Diese Führer- oder Vertreterschaft ist zum einen häufig unstet und heterogen zugleich, zum anderen sei hiermit auch verdeutlicht, dass die meisten der Gruppenmitglieder ihre eigene Entscheidungsfreiheit und die siedlungsinterne Entscheidungsautonomie wiederholt unterstrichen und auch wahrgenommen haben. Wie aber gestaltet sich vor diesem Hintergrund der Heterogenität und Vielschichtigkeit von Führer- und Vertreterschaft eine angestrebte Projektimplementierung, wenn der Akteur bspw. einerseits nicht aus der Siedlung stammt, in der er tätig ist, und wenn er andererseits eine andere Stratifikation zwischen den Roma- / Zigeunergruppen in seiner Herkunftsumgebung gewohnt war, aus der er sich wegbegeben hat, um in einer größeren Stadt zu studieren? Welche sozialen Auswirkungen hat seine Tätigkeit in der ihm eigentlich fremden Gemeinschaft, in der er aktiv ist? Im Folgenden werde ich versuchen, diese Fragen mit Hilfe von Emil Metodievs Äußerungen zu beantworten.

5.1.2 »Keine gut gebildeten Personen, die noch in meiner Gemeinschaft leben.« Emil Metodiev 7 ist zwar ebenso in Sofia und dort in der NGO C. E . G. A . (Creating Effective Grassroots Alternatives) tätig, doch gilt für ihn die bulgarische Hauptstadt lediglich als Arbeitsort. Emils Herkunftsort ist Dupnica (ca. 60 km südwestlich von Sofia), wo er in einer gemischten Siedlung von Gadže und Roma / Zigeunern, der Gorna Mahalla, aufgewachsen ist. Doch stellt keine der dort wohnenden Gemeinschaften eine Zielgruppe der Initiativen von C. E . G. A . dar, was bedeutet, dass Emil nicht auf direktem Wege für ›seine‹ Roma- / Zigeunergruppe aktiv ist. Zu Hause in Dupnica, so berichtete er, existieren fünf verschiedene Mahallas, von denen zwei ausschließlich von eher ärmeren Roma / Zigeunern bewohnt seien (Gizdova-Mahalla und Turska-Mahalla). Die anderen drei Siedlungen (Cenevi, Podina, Gorna-Mahalla) würden sich hingegen, als ethnisch gemischte Viertel, außerhalb des Stadtkerns befinden. 7 | Emil Metodiev ist die erste Person gewesen, zu der ich mich für diese Studie begeben habe. Er empfing mich unter Zeitdruck, der sich aber während des Gesprächs, aufgrund eines abgesagten Termins, auf löste. Seiner freundlichen und offenen Art, seiner Bereitwilligkeit, meine damals noch sehr unausgefeilten Fragen zu beantworten und seiner Geduld für wiederholte Erklärungen zollte ich von Beginn an hohen Respekt, gerade weil Emil recht demotivierende Erfahrungen mit seinem Job gemacht hat. Die Gespräche und nachträglichen Emails ließen sich ohne weiteres auf Englisch realisieren.

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Emil Metodiev war zur Zeit meiner Besuche jedoch vorrangig für Roma- / Zigeunersiedlungen in Rakitovo tätig, einem Ort, der sich über 100 km südöstlich von Sofia befindet und von seinem Heimatort Dupnica ca. 90 km entfernt ist. Er selbst fühlt sich der Gruppe der Dasikane-Roma aus Dupnica zugehörig. Die Gruppe der Roma / Zigeuner in Rakitovo, in welcher er tätig ist, identifiziert sich vorrangig über religiöse Zugehörigkeit, nämlich die muslimische, und sie werden daher von ihm als Xoroxane-Roma bezeichnet (s. Narratives Glossar). Eine muslimische Roma- / Zigeunergruppe, deren Mitglieder von christlich geprägten Roma / Zigeunern als Xoroxane bezeichnet werden (und sich selbst auch so nennen), gilt in Emils Heimat Dupnica als eine den Dasikane-Roma untergeordnete Gruppe. Zum einen, weil sie in einer ausschließlich von Roma / Zigeunern bewohnten Mahalla lebt, was von außen eher als ein Zeichen von Armut, sozialer sowie materieller Degradierung und Ausgrenzung gedeutet wird. Auf der nachbarschaftsinternen Seite wird dies jedoch zum anderen häufig als familien- und gemeinschaftsförderlich verstanden. Des Weiteren verkörpert es auch das spannungsreiche makrosoziale Verhältnis zwischen den bulgarischen und den muslimischen Befindlichkeiten, wobei bulgarische Befindlichkeiten eher mit orthodoxen und pan-balkanischen assoziiert sind, welche bis zum heutigen Tag ihren Frieden mit dem »osmanischen Joch« noch nicht gemacht haben (vgl. Kapitel 4). Und eben dies schwingt in alltäglichen Assoziationen und Ressentiments8 der eher christlich (oder gar orthodox) orientierten Dasikane-Roma und auch der bulgarischen Gadže mit, wenn die Rede von »muslimisch« oder »türkisch« ist. Emil Metodiev spricht mit seinen Eltern eher Bulgarisch als Romanes, was ihn in den Augen anderer Roma / Zigeuner wiederum auf eine untere Ebene stellt, weit unter die der »echten« Roma / Zigeuner (»čače-Roma«). Bei Besuchen in seiner Herkunftssiedlung – von der er meint, dass man dort »keine gut gebildeten Personen finden könne, die noch in ihrer Gemeinschaft leben« würden – sehen ihn die Gemeinschaftsmitglieder dennoch als ein »Vorbild« an. Als NGO-Vertreter von C. E . G. A ., das »building capacity on the local level«9 zum Arbeitsziel hat, wählt Emil Metodiev Personen aus den Siedlungen aus, die es hernach zu unterweisen gilt. So fällt die Wahl laut Emil auf solche Personen, die »bereits gebildet seien«, und »aus vorbildlichen Familien stammen« würden, die evtl. »auch reich sind« und von denen die Mitglieder ihrer Gruppe der folgenden Meinung seien: »[D]ie haben Geld, die haben Jobs, die machen keine Probleme« – Familien also, deren Zugang zu Sozialprestige über dem Durchschnitt der Gruppe angesiedelt ist. 8 | Anhand Nikolaj Kirilovs Betrachtungen (S. 164 f f., Abschn. 5.4.1) werden sogar angstvolle Sentiments und Vorbehalte gegenüber einer evtl. Ausnutzung der Armut von Roma / Z igeunern von Seiten islamistischer oder externer muslimischer Unterstützer deutlich, die erklärlicherweise eher in muslimisch geprägten Roma- /  Z igeunergruppen Zugänge finden als in christlich orthodox geprägten Gruppen. 9 | Vgl. C. E . G . A . 2007.

5  Bulgarien

Die Arbeit in den Gemeinschaften sei schwer, betont Emil, obwohl ihn viele Mitglieder als »etwas über ihnen [stehend] ansehen«, als »Outsider, aber als respektable (Informations-)Quelle«, wie er meint. In seiner Herkunftsgemeinschaft gilt er auch, wie erwähnt, als »Vorbild«, obwohl er sie bereits für seine universitäre Bildung verlassen musste. Zwar würde er sich seiner Gemeinschaft sicher näher fühlen, würde er dort leben, doch hätte er sich seiner Meinung nach in dieser nicht entwickeln können: »Klamotten und Partys« seien das Wichtigste dort (s. Kapitel 7). Daher seien Freundeskreise und Partybekanntschaften vor Ort zwar vorhanden, diese würden für seine Arbeit jedoch nicht als »grundlegende Netzwerke« erkenn- oder gar nutzbar sein. Beim Thema der Führung der Gruppen durch einen »Rom Baro« entspricht seine Meinung der der meisten meiner Gesprächspartner: Dass diese Personen einen »sehr großen Respekt in der Gemeinschaft« genießen. Zwar seien innerhalb der Gemeinschaften starke Führer vorhanden, doch seien diese »untereinander stark zerstritten« und somit »existiere keine Kooperation zwischen den (beiden) Generationen«, was beispielsweise auch der Meinung von Ludmila Zhivkova entspricht. Ein Akzent der NGO liegt zwar auf »Roma-Traditionen«, wie das onlineBulletin der NGO C. E . G. A ., »START« angibt (2007: 1), doch sind einige dieser Traditionen beim Erreichen der NGO-Ziele scheinbar beschränkend, zumindest was die Alltagseinstellungen betrifft, die, wie Emil Metodiev es äußerte, ihm bei seiner »Entwicklung hinderlich« gewesen seien. Mein Fazit aus den Sequenzen von Emil Metodiev ist folgendes: Scheinbar spielt bei der Tätigkeit eines Akteurs zunächst seine Herkunft eine entscheidende Rolle und ob diese Herkunftsgruppe auch seine / ihre Wirkungsstätte ist. Dabei gilt es zu beachten, wie die Roma- / Zigeunergruppen vor Ort jeweils zueinander stratifiziert sind. Für den Bereich der Projektimplementierung machte Emil Metodiev sehr deutlich, dass nicht alle Mitglieder direkt potentielle Kandidaten sind, um im Projekt eingebunden zu werden, sondern bereits hier eine Auswahl getroffen werden muss, die u. a. von der Meinung anderer Mitglieder der betreffenden Gruppe abhängig ist. Damit fällt zum einen der Großteil der Mitglieder einer im Projektfokus stehenden Gruppe aus der Suche nach geeigneten Personen heraus. Zum anderen werden diejenigen bevorteilt, deren Habitus sich ohnehin bereits in elitären Kategorien messen lässt. Seine Entscheidung, die Herkunftsgruppe zu verlassen, um »sich weiterentwickeln zu können«, ist insofern relevant, als sich die Begründung einer solchen Entscheidung bei den meisten Akteuren wiederholte: Das offenbar geringe Interesse der Mitglieder der eigenen Herkunftsgruppe an einer weiterführenden Ausbildung, die Abwesenheit der »gut gebildeten« Mitglieder und schließlich die eigene Neugierde, mehr über andere Roma- / Zigeunergruppen im Land zu erfahren.

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Solche Entscheidungen begründeten sich meiner Erfahrung nach aber auch aus dem Sozialisationsumfeld der eigenen Familie, und dort besonders aus den Bildungshintergründen ihrer Eltern. Im Kapitel 7 kommen alle drei hier versammelten Interviewpartner (Ludmila Zhivkova, Emil Metodiev, Toni Tashev) auf diesen Hintergrund zu sprechen, wenn sie darüber berichten, woher ihrer Meinung nach das Vorbild für ihre Lauf bahn kam. Toni Tashev wird nun im Folgenden u. a. berichten, wen er als einen »lokalen Führer« versteht und welche Voraussetzungen dieser mitbringen müsse, um Respekt unter seinen Mitgliedern zu haben. Vor seinem eigenen familiären Hintergrund wird Toni Tashev bereits hier einige Zusammenhänge darstellen, anhand derer sich die eingangs angesprochenen Zugänge zu Prestige, Image, Ansehen und Macht abbilden lassen können.

5.1.3 »Es ist nicht genug, nur Geld zu haben.« Toni Tashev: »Mein Vater hatte ebenso genug Respekt, und sein Respekt kam nicht [nur] davon, weil er etwas für die Gemeinschaft getan hat. Er hat sich den Respekt während der sozialistischen Zeit in Russland durch das Verdienen von genug Geld erarbeitet. Das ist ein anderer Teil unserer Traditionen, dass diejenigen mit viel Geld Respekt verdienen. Weil sie clever sind. Wenn du kein Geld hast, bist du nicht clever genug, es zu verdienen. Natürlich kann es sein, dass du, wenn du Geld hast, zwar respektiert wirst, weil du reich bist, aber die Leute mögen dich trotzdem nicht. Es ist nicht genug, nur Geld zu haben.«

Im Unterschied zu Toni Tashev10 sind Emil Metodiev und Ludmila Zhivkova im Anschluss an ihre universitäre Ausbildung – oder gar noch während dieser – mit ihrer späteren Tätigkeit als Roma-Aktivisten in Berührung gekommen. Nicht so Toni Tashev, der nach seinem Jurastudium erst einmal ein Business beginnen wollte und mit diesem Wunsch keineswegs alleine war, wie ich bis zum Ende des folgenden Kapitels noch häufig anhand anderer Personen aufzeigen werde. Erst die Begegnung seiner Mutter mit dem Vater eines weiteren, heute recht be-

10 | Mit ruhiger Art erzählte Toni Tashev mir offenherzig über seine Vergangenheit, die im Vergleich zu anderen Akteuren von einer Vielzahl zeitlicher Interruptionen durchzeichnet ist. Toni Tashev sprach ein exzellentes Englisch, sodass eine Übersetzung nicht vonnöten war. Sein großer Erfahrungsschatz hinsichtlich juristischer Einforderung und Vertretung von Rechten der Roma bzw. seine Aktivitäten im Bereich des Schutzes für Menschenrechte machen ihn zu einem bekannten bulgarischen Roma-Aktivisten und zu einer scheinbar unerschöpf lichen Quelle von Kontakten, die er in seinem bewegten und noch recht jungen Leben akkumulieren konnte.

5  Bulgarien

kannten und wichtigen politischen Akteurs, Rumyan Russinov, brachte Tashev in Kontakt mit dem Roma-Aktivismus. Am Begriff »Image« führt er weiter aus, was er anhand von Respekt und Reichtum begonnen hatte zu erklären. Denn dieses Image könne zerstört werden, »wenn das eigene Verhalten in der Gemeinschaft beschämend ist«. Daher genüge es nicht, wie er meinte, reich zu sein, um sein Ansehen in der Gemeinschaft zu stärken: »[J]etzt gibt [es] einige lokale Leader, die Macht haben, wegen ihrem Geld, aber das Geld ist nicht das Einzige, was dir Respekt verschafft. […] Da gibt es zwar dann Abhängigkeiten, Geldverleihen oder so etwas. Aber der Rest der reichen Leute hat kaum Einfluss auf die Gemeinschaft. Es liegt halt nicht nur am Geld! Da gehört z. B. auch die Fähigkeit zu sprechen dazu und auch der Kontakt zu den Gadže spielt da eine Rolle. Ich glaube, wie du dich in der Gemeinschaft verhältst, ist wichtiger. Und natürlich, wenn man eine öffentliche Figur ist, dann sprechen sie dich auf der Straße an. Es kommt darauf an, wie man sich verhält! Wenn jemand der reichen Jungs unser Leader wird, und [dieser] dann wie ein großer Boss zu den Leuten redet, macht das keinen guten Eindruck.«

Die »Fähigkeit zu sprechen«, die Eloquenz, kann, wenn man so will, sowohl als Zugang als auch als Ziel begriffen werden. Um dieses zu erreichen, bedarf es bekanntermaßen bestimmter Formen der Bildung. Sie ist daher ein generierbarer Zugang, der allerdings unter besseren Voraussetzungen steht, wenn bereits die Elterngeneration auf das Sprechvermögen ihrer Nachgeneration achtet. Ähnlich verhält es sich auch mit den Kontakten zu wichtigen Persönlichkeiten und / oder zu einflussreichen Gadže. Die Wichtigkeit des »Kontakts zu den Gadže«, wie es der in Vidin geborene Toni Tashev formulierte, wird in der folgenden Argumentation durch andere Akteure bestätigt und erweitert werden. Denn dieser Kontakt kann sich sowohl erweiternd als auch hemmend auf das Prestige eines Akteurs auswirken. Die Unterscheidung liegt dabei in der Form, wie diese Kontakte in der Roma- / Zigeunergemeinschaft verhandelt und zu wessen Voroder Nachteil sie genutzt werden.11 Alle drei bisher erwähnten Akteure sind in einer gemischten Umgebung aufgewachsen und hatten unterschiedliche Möglichkeiten, sich Zugänge zu schaffen. Während sich Ludmila Zhivkova (als Tochter einer Musikerfamilie) viele ihrer Zugänge erarbeiten musste, weil sie ihr nicht in die Wiege gelegt waren, konnten Emil Metodiev und Toni Tashev auf diese bereits von Anfang an zurückgreifen. Würde man mit Bourdieu (1983) argumentieren, läge deren soziales, kulturelles und materielles ›Start-Kapital‹ augenscheinlich höher als das Ludmila Zhivkovas. 11 | Vgl. beispielsweise die Argumentation der Kontakte zu Gadže-Politikern bei Toma Nikolaeaff und Rumyan Russionov (Kapitel 7) oder die Mediation zu den Gadže, wie sie durch Michail Georgiev (ebd.) ausgedrückt wird.

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Der Status von Toni Tashevs Großvater (als Kalajdži und Händler von Rindern und Pferden) prägt zum großen Teil das Image seines Enkels. Denn dieses Image war und ist sowohl in einer Roma- / Zigeunergemeinschaft als auch unter den Gadže nicht unerheblich. Für Toni Tashev existiert eine ›Kapital-Grundlage‹, die es mit seinen ganz persönlichen Zugängen zu erhalten und zu vervollständigen gilt. An seinem Imagezuwachs lässt er auch seine Gemeinschaft teilhaben, wenn er bei öffentlichen Auftritten seine Herkunft als Rom nicht versteckt. Der Stolz seiner Gemeinschaft ist ihm dabei gewiss: »Viele sprechen über die Reichen mit Neid. Die machen Geld, aber das heißt nicht, dass sie clever sind! […] In meinem Fall kann ich sagen, ich habe viel Geld und deswegen werde ich respektiert. Ich werde [aber auch] respektiert wegen meiner öffentlichen Arbeit. Also, wenn die News durch die Medien gehen, dann sehen sie mich im Fernsehen. Sie sind sehr stolz darauf, dass sie aus demselben Ort kommen. Ich sage auch immer, wo ich herkomme. Also nicht nur aus Vidin, sondern aus der Roma-Gemeinschaft in Vidin.«

Dass das Gegenstück von Zukunft nicht einzig die Vergangenheit, sondern auch die Herkunft ist, spiegelt diese Sequenz deutlich wider. Um das Ansehen seiner Herkunftsgruppe und deren Image zu steigern, schenkt Toni Tashev den Seinen Aufmerksamkeit, indem er sie durch den offenen Umgang mit seiner Zugehörigkeit zu ihnen ehrt. »Seine« Gruppe blickt mit Stolz auf ihn, der sich nicht nur um die Belange »der Roma« kümmert, sondern den Bekanntheitsgrad seiner Herkunft(-sgruppe) nährt, indem er sie präsentierend ausstellt. Innerhalb seiner Tätigkeit für Menschenrechte am REF war Toni Tashev als juristischer Berater und Anwalt für Roma im Kosovo tätig. Anhand seiner persönlichen Erfahrungen schildert er, was seinem Verständnis nach ein »natürlicher Führer« der Roma- / Zigeunergemeinschaften vor Ort sei. Diese hätten zwar nur geringfügige oder gar keine Bildung bzw. formale Führerqualitäten, doch besäßen sie weitreichenden Respekt unter ihresgleichen und würden, im Gegensatz zu manch anderen Führern, ihre Entscheidungen offen fällen. Transparenz, Demokratie und offene Entscheidungsfindung sind ihm zufolge – und hier sei an vorangegangene Statements Ludmila Shivkovas erinnert – auch ohne »Politik-Papiere« möglich: »Im Kosovo [...], ja, da gibt es Roma-Leader. Da gibt es keine NGO. Dort weiß man einfach noch nicht, wie politische Papiere zu schreiben sind, um Unterstützung anzufordern. Das sind nur ›natürliche‹ Führer. Leute, die einfach nur einen größeren Respekt von den anderen bekommen, in ihrer Gemeinschaft. […] Einer von ihnen ist der Gebildetste und [der] versucht wirklich objektiv und seinen Leuten eine Unterstützung zu sein. Für die Diskussionen im Kosovo sind ja noch einige Serben [relevant], sollte dieses unternommen werden, ich meine, die Führer der [dortigen] Roma zu entwickeln. […] Da gibt es schon eine Führerschaft, wir brauchen da keine neue erschaffen! Wir müssen ihnen nur Fertigkeiten und Fähigkeiten geben, die Interessen der Gemeinschaften auf offiziellen Treffen zu schützen.

5  Bulgarien […] Die anderen vertrauen ihnen. Wenn sie etwas entscheiden sollen, dann sprechen sie zu ihnen, vorher, und dann ... naja, was sie eben entscheiden, und die anderen folgen ihnen dann. Das sind ganz natürliche Leader. Sie treffen die Entscheidungen nicht hinter den Türen. Sie denken nicht, dass sie repräsentieren, weil sie Vertrauen haben und daher ohne Rücksprache Entscheidungen treffen könnten. Es existiert da eine wirkliche Demokratie!«

Ob hier im ursprünglichen Sinne von einer Demokratie die Rede sein kann, mag dahingestellt sein. Doch steht bereits nach diesen wenigen Sequenzen fest, dass den Erwartungshaltungen der Gadže-Institutionen, in einer Roma- / Zigeunersiedlung einen einzigen Vertreter finden zu können, der legitimiert von seinen Mitgliedern jedwedes Projekt nicht nur in seiner, sondern auch in anderen Gruppen implementieren kann, im Allgemeinen kaum entsprochen und somit der »Modellzigeuner« nicht gefunden werden kann. Zudem ist klar geworden, dass sich die Akteure bei ihrer Arbeit dennoch immer wieder auf jene Mitglieder stützen (müssen), die bereits mit vergleichsweise vielen Zugängen ausgestattet sind, sei es durch ihre Familie, durch nutzbringende Kontakte oder durch den (groß-)elterlichen Reichtum und deren Image. Die propagierte gleichberechtigte Partizipationsmöglichkeit aller Gruppen- oder Gemeinschaftsmitglieder an den NGO-Finanzen und den Integrations- oder Bildungsprojekten ist folglich nicht gegeben.

5.2 S ofia -S tadt : D ie alte G ener ation (R umyan R ussinov, Toma N ikol aeff, L ilyana K ovatche va , J ossif N oune v, H risto K yuchukov) Wie im Einleitungsteil erwähnt, sind die Akteure der älteren Generation bereits vor der Demokratisierung, also vor dem Fall des Eisernen Vorhangs, ihrer Ausbildung nachgegangen, haben eine Universität besucht und / oder bereits damals Erfahrungen (nicht nur durch ihre Eltern) gemacht, die sie der jungen Generation konsequenterweise voraus haben. Fünf der zu dieser Generation zählenden bulgarischen Gesprächspartner werden nun vorgestellt. Rumyan Russinov wird sich dem Thema der Schul-Desegregation 12 in Bulgarien widmen, da er diese Kampagne selbst federführend mit entworfen und durchgesetzt hat. Dabei wird 12 | Dazu Russinov an anderer Stelle: »Also haben wir in Vidin begonnen. Ich bin sicher, sie kennen die Schuldesegregation: Es gibt eine Schule innerhalb dieses Raumes [zeigt auf einen von ihm gezeichneten Kreis, der die Mahalla verdeutlichen soll], und wir versuchten die Kinder hierher zu bringen, in die normale Schule der Mehrheit [deutet auf eine Stelle außerhalb des Kreises].« Im Zusammenhang mit der Diskussion um eine »Roma-Elite« schreibt Russinov (2002) in der vom OSI herausgegebenen »Special Desegregation Issue«: »To meet this formidable challenge [to thrive, to take our places and be respected as free and equal citizens of our state] we can no longer simply rely on the thin stratum of an educated Roma elite. For the mass of our people,

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seine politische Lauf bahn eine entscheidende Rolle spielen und auch, wie er über sich selbst und seine Vergangenheit im Hinblick auf dieses Projekt reflektiert. In der von mir hier durchgeführten Diskussion um eine mögliche Abbildung von Prestige und den damit zusammenhängenden Begrifflichkeiten in den Akteurssequenzen stellte sich anhand der Gespräche mit Rumyan Russinov die Frage, ob das Projekt der Desegregation einen »zu verwirklichenden Idealwert« darstellt. Auch ihn werde ich über weitere Aspekte zu Wort kommen lassen, beispielsweise über den Kontakt zur Herkunftsgruppe. Ein ganz besonders auffälliger Fakt in der bulgarischen Roma- / Zigeunerpolitik ist die Gründung zahlreicher Parteien durch Mitglieder der Kalderaš-Gruppen, die sich auch heute noch in deren Händen befinden. Anhand einer prominenten Figur des bulgarischen Roma-Aktivismus, »Zar Kiro«, wird Rumyan Russinov darüber Aufschlüsse geben und versuchen, für das »NGO-mushrooming«, welches zu Beginn der 1990er Jahre in Bulgarien zu beobachten war, Erklärungsansätze zu finden. Alle fünf der nun folgenden Beispielakteure stammen aus unterschiedlichen Orten Bulgariens. Einzig der letzte Akteur Toni Tashev und der folgende kommen beide aus Kalajdži-Gemeinschaften oder -Familien in und um Vidin: Toni Tashev wurde in Vidin geboren und Rumyan Russinov hat später dort, erstmalig in der bulgarischen Geschichte, ein Desegregationsprojekt auf Schulebene mit verwirklicht. Doch unterscheiden sich ihre Sozialisationserfahrungen, also ihre gegebenen Zugänge, erheblich voneinander: Wenn Toni Tashev beispielsweise auf seine Familie und deren Image sowohl aufgrund von Reichtum durch clevere Geschäftstüchtigkeit – den Handel mit Pferden und Rindern (s. o.) – als auch auf seine Sprachkompetenzen zurückgreifen kann, die er sich in seiner Kindheit und Jugend aneignen musste, bringt Rumyan Russinov von seiner Elterngeneration bereits institutionelle Bildung als Zugang mit: Als Sohn eines Geschichtslehrers erfuhr er mehr Respekt als »nur Zigeuner zu sein«, wie noch ausführlich in Kapitel 7 gezeigt wird.

5.2.1 »Wir mögen es, wenn [unsere] Leute in hohen Positionen sind.« Bescheiden, freundlich, ohne jedwede Allüren einer wie auch immer gearteten Selbstdarstellung, beantwortete Rumyan Russinov mir alle Fragen ausführlich. Gern zeichnete er hin und wieder etwas auf Papier oder ging mit mir im Büro herum, um mir mittels Bildern, Broschüren oder auf Karten zu zeigen, worüber er gerade sprach und so verdeutlichte, was er meinte. Mein sehr langer Besuch in seinem Büro im dritten Stock eines recht unscheinbaren Hauses in einer der bekanntesten großen Straßen Sofias war äußerst interessant und aufschlussreich. Leider kam es daraufhin zu keinem weiteren Treffen, da Rumyan Russinov in and especially for future generations, education is the sine qua non for full and equal participation in society.” (ebd.: 5, H. i. O.; vgl. dazu auch Evgeniev 2002)

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Wahlausgang und Organisationsverfahren tief involviert war und dem ewig Fragen stellenden deutschen Feldforscher daher absagen musste. Das Gespräch fand auf Englisch statt, dessen Russinov durchaus auch auf fachlicher Ebene mächtig war und deshalb auch vermochte, komplexe Zusammenhänge deutlich zu machen. Nach erfolgreichem Abschluss seines Wirtschaftsstudiums war es nicht sein Anliegen, im Roma-Aktivismus tätig zu werden, sondern (und damit ähnelt seine Einstellung der Toni Tashevs) »ein Professioneller [Businessmann bzw. Ökonom] zu werden«. Von seinem Vater jedoch wurde Russinov, wie er sagt, »überstimmt« und er trat somit »als Erbe seines Vaters in dessen Fußstapfen«: »Mein Vater war im linken Flügel der ehemaligen Demokratisheski Sojus Roma, in der [später gegründeten] Konfederatzija na Romite in Bulgarien.13 Natürlich, wenn ich sage ›linker Flügel‹, meine ich, sie sind eher der Sozialistischen Partei und der sogenannten Demokratischen Partei verbunden. […] Da war mein Vater also einer der Vizes. […] Er wollte natürlich, dass ich ein Aktivist werde. Aber ich sagte: ›Schau, ich will ein Ökonom werden […] und in einer Bank arbeiten.‹ Aber er war einfach an einigen Punkten stärker. Und ich […] bin dann Aktivist geworden. 1992 war mein Vater eine prominente Figur in diesen beiden Organisationen. 1992 hat auch die Menschenrechtsorganisation begonnen zu arbeiten, wo ich dann sieben Jahre lang gearbeitet habe, also zwischen 1993 und 2000.«

Rumyan Russinov war, wie erwähnt, federführend am sogenannten »Desegregationsprozess« für bulgarische Schulen beteiligt, infolge dessen Roma- / Zigeunerkinder aus Segregations- in Gemeinschaftsschulen außerhalb der Roma- / Zigeunersiedlungen gehen sollten, um dort eine bessere Schulbildung zu bekommen (vgl. Evgeniev 2002: 6 ff.). »Nach unserem Programm 1999 [in Bulgarien] wurde dasselbe dann in Rumänien 2000 übernommen und auch in der Slowakei. Mehr oder weniger in allen Ländern in SüdostEuropa hatten wir dasselbe Programm für Roma. Das Programm ist bis zum heutigen Tag die wichtigste Strategie der Regierungen. Für uns war das ein wichtiger Schritt nach vorne. Weil wir damit gezeigt haben, dass wir als Leader ein gutes Selbstwertgefühl haben. Nicht nur einfach sich zu beschweren. Nicht nur die Opferrolle zu spielen. Denn nur die Opferrolle 13 | Rumyan Russinovs weiterführende Erklärung lautete wie folgt: »Am Anfang war es eine Organisation mit dem Namen Demokratishen Sojus na Tsiganite (Democratic Union of Gypsies). Da war ein Mann, der bereits gestorben ist: Manush Romanov. Er hat diese Organisation gegründet. Danach hat sich der Name geändert in Demokratisheski Sojus Roma. Und dann 1992 haben sie sich aufgespaltet. Am Anfang war es also Demokratishen Sojus na Tsiganite. Und eine Seite ist zum linken Flügel und die andere Seite zum rechten Flügel geworden. Der linke Flügel wurde zur Konfederatzia na Romite in Bulgarien und der rechte Flügel wurde zu Obidinen Romski Sojus (United Romani Union).«

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Zigeunerkulturen im Wandel zu spielen bedeutet, dass wir auch die Opfer sind. Sondern eben auch zu sagen: ›Schau, okay, wir sind die Opfer, aber wir wollen nicht mehr so weiterspielen! Wir wollen ein konstruktiver Partner werden. Das und das sind die Punkte, wie wir die zukünftige Politik sehen. Wir geben euch unsere Visionen und unsere Kapazitäten!‹«

Mittlerweile hat sich dieses universell eingesetzte Konzept der Schul-Desegregation gebietsweise als nicht praktikabel erwiesen, da es aufgrund der angesprochenen Gruppenheterogenität nicht auf alle Segregationsschüler und deren Bedingungen in den einzelnen Roma- / Zigeunergruppen und -siedlungen übertragbar ist. Wie dem auch sei, Rumyan Russinovs genutzter Zugang besteht vorrangig aus Kontakten zur höchsten Ebene der Gadže-Institutionen, der bulgarischen Regierung, wo seine Stimme Überzeugungsarbeit geleistet hat: »Natürlich hat die Regierung anfänglich gesagt: ›Wer seid ihr, dass ihr uns sagt, was wir zu tun haben? Wir sind die Regierung und ihr seid eine Organisation, die vom Ausland finanziert wird. Wer seid ihr denn?‹ Dann haben wir aus dem Feld viele Unterstützer, viele Leader und viele Organisationen gewonnen und nach einem Jahr sind wir dann wieder an die Regierung gegangen. Dann hat die Regierung gesehen, dass wir es ernst meinen, und hat begonnen, mit uns wirkliche Verhandlungen zu führen. Und nach einem Jahr, im April 1999, haben wir das Programm unterzeichnet bekommen und es hat 2000 begonnen.«14

Ist diese Desegregation ein verwirklichter, sozial relevanter »Soll-Wert« und daher mit Erfolg gekrönt, weil Rumyan Russinov hier Virtù (die Idee, alle Roma- / Zigeunerkinder gleich ihm in gemischte Schulen gehen zu lassen, um einen höheren Bil14 | An anderer Stelle erzählte Rumyan Russinov ausführlicher: »Ich habe die ganze Zeit mit der Regierung verhandelt, um diese Strategien zu adoptieren. Natürlich haben sie erst negativ reagiert. Sie sagten: ›Wir haben hier keine Segregation. Das gibt es nur in Amerika! Wir haben so etwas hier nicht!‹ Sie sagten: ›Wir haben hier keine Schwarzen!‹ Dann sagten sie: ›Ja, vielleicht haben Sie recht, aber das ist das Erbe des Sozialismus. Das ist nicht unsere Absicht gewesen!‹ Und dann, 2002, haben sie Instruktionen entworfen für die Schuldesegregation, also das Ministerium für Bildung. […] 2005 haben sie einen Staatsplan für die Decade-of-Roma-Inclusion entworfen. 2007 haben sie eine Körperschaft gegründet für die Integration von Kindern der Minderheiten. Mit einem kleinen Staatsetat. Aus unserer Sicht war das ein großer Durchbruch, dass der Staat aus seiner Tasche Geld für Zigeuner ausgibt, um sie zu integrieren. Und 2008 wurde die Schuldesegregation als eine spezielle Rubrik integriert, als ein Punkt des speziellen Strukturfonds der EU. Das alles ist passiert, weil wir darüber verhandelt haben. Also haben wir gezeigt, dass es möglich ist, es auf dem lokalen Level durchzuführen. Und der REF hat Stück für Stück die Unterstützung ausgeweitet. Wir haben erst mit einer Stadt begonnen, [im Jahr] 2000, und jetzt haben wir 11 Städte, die alle Distrikthauptstädte sind: Da wären Sliven, Stara Zagora, Plovdiv, Pazardzhik, Lovengrad, Kyustendil, Sofia, Vidin, Montana, Pleven.«

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dungsgrad zu erreichen) und Fortuna (die günstig genutzte Gelegenheit des NGOmushrooming, um »viele Unterstützer, viele Leader und viele Organisationen« zu gewinnen) zu verbinden und, gemeinsam mit dem Zugang seiner Kontakte zu Gadže-Politikern, zu nutzen weiß? Für einen bestimmten Zeitraum muss dem wohl zugestimmt werden, doch nur – und Rumyan Russinovs weiterer Wirkungsweg zeigt dies – bis dieser Wert auf Abwehr stößt oder eben nicht mehr ohne weiteres als zu verwirklichender Wert gilt. Denn eine Verwirklichung der Schul-Desegregation kann nur an solchen Orten zum Imagegewinn des Wertverwirklichenden führen, an denen diese Desegregation als gemeinschaftsinterner Soll-Wert, also als common sense, gilt. An anderen Orten mit beispielsweise einhundertprozentiger Roma- / Zigeunerbevölkerung, an denen andere Zugänge zu Bildung und Schulen genutzt werden können, endet möglicherweise das Prädikat »Soll«. Als ein Wert steht er zwar weiterhin zur Verfügung, doch seine Durchsetzung stieße dort wohl eher auf Gegenwehr, als dass sie wohlwollenden Applaus erfahren würde. In Anbetracht der Gruppen- und Siedlungsheterogenität von Roma / Zigeunern ist seine universelle Anwendbarkeit daher fragwürdig. Eine mit Applaus von allen Seiten honorierte Wertimplementierung in einer Roma- / Zigeunergruppe durch einen Rom, der als »Outsider« gilt, scheint somit ausgeschlossen. Rumyan Russinov bezeichnete seine eigene, eher provinzielle Herkunft als profitablen Zugang und brachte damit auch seine Studien in Verbindung, welche er im Jahr 1987 begann, die über den Zeitpunkt des Endes der sogenannten sozialistischen Ära hinausgingen und die er im Jahr 1992 abschloss. Nach seiner Tätigkeit als Menschenrechtsaktivist für sieben Jahre (s. o.) bewarb er sich auf die Ausschreibung des Direktorenpostens des RPP am OSI in Budapest: »Also war es für mich eine große Herausforderung. Ich habe mich beworben, aber nicht erwartet, dass ich akzeptiert werde, denn wie ich bereits sagte, ich hatte zwar die Fähigkeiten, aber eben nicht den Lebenslauf. Daher war ich sehr überrascht, dass ich ausgewählt wurde. Und dann habe ich fünfeinhalb Jahre dort verbracht.«

Das Thema der Führerschaft in den Roma- / Zigeunergemeinschaften kommentierte er auf der Fahrt zu einem Treffen der Sozialistischen Partei, in der er mittlerweile als Mitglied auf einen der ersten zehn Plätze gewählt wurde, wie folgt: »[E]s ist immer noch die Vorstellung – und es ist eine absolut falsche Vorstellung –, dass es da ein kohärentes Mahalla und eine kohärente Gemeinschaft gibt und dort findest du auch einen Leader. Das ist in keinem Fall wahr! […] Ich denke, ich bin ein Meinungsführer. Denn zuerst habe ich damit [mit dem Programm der Desegregation] begonnen und dann, Stück für Stück, ist das zu einem allgemeinen Fokus geworden und schließlich zu einem Regierungsprogramm. Daher kann ich mich als einen Meinungsführer bezeichnen. Weil das erst in meinem Kopf war und dann wurde es zu einem HRP und dann zu einem allgemeinen Regierungsprogramm!«

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Zum einen deckt sich seine Meinung über die Führerheterogenität in den Mahallas hier mit der vieler weiterer Akteure und zum anderen stellt Russinov hier seine eigene Position als Meinungsführer heraus. Auf die Frage, ob er noch Kontakte zu den »Seinen« pflege, also zum Beispiel seine Eltern zu Hause besuchen würde, antwortete er: »Nur wenig. Um ehrlich zu sein, gehe ich nur sehr selten hin. Ich habe hier [in Bulgarien] zehn Jahre lang nicht gelebt. Ich komme hierher [nach Vidin] nur für einige Geschäfte usw. Es war ein großes Netzwerk, was ich unterhalten habe. Aber die Leute erinnern sich an mich. Und wie ich bereits sagte, meine Resultate 15 haben gezeigt, dass, wenn die Leute jemanden haben, in der Praxis, unterstützen sie ihn auch auf der hohen Ebene. Dann behandeln wir ihn nicht als eine Gadže-Person oder so etwas. Wir [Zigeuner] mögen solche Leute. Wir mögen es, wenn Leute in hohen Positionen sind.«

Nach der Zeit am RPP (2000–2005) wechselte er innerhalb der Organisationen des OSI den Wirkungsbereich und begann mit seiner Tätigkeit am REF. Danach kam Russinov zurück nach Sofia, um in die Politik zu gehen: »Ich habe es in den zehn Jahren gezeigt: wenn man in eine Institution geht, die die Kapazität hat und es will, dann kann man es auch tun. Anstatt an die Türen der Regierung zu klopfen, will ich es nun selber tun, in einem Büro der Regierung, anstatt jemanden dazu zu bewegen.«

Der neu zu verwirklichende Wert ist Russinovs Meinung nach der folgende: »Und ich denke, dass ich anfangen sollte, den Blick hervorzuheben, dass es nicht gut ist, dass es Roma-Politiker für Roma oder türkische Politiker für Türken oder armenische Politiker für Armenier gibt usw. Ich denke, dass ich ein Mainstream-Politiker sein kann. Und das 15 | Rumyan Russinov hat sich für die Kandidatenliste der Sozialistischen Partei, einer Mehrheitspartei im bulgarischen Parlament, aufstellen lassen. Seine Wahlergebnisse waren selbst für ihn eine Überraschung, wie er mir mitteilte: »Ich habe mich bei den Wahlen aufstellen lassen. Leider habe ich keinen Erfolg gehabt, aber ich habe sehr gute Resultate bekommen […] für die Sozialistische Partei. (wir gehen in den Arbeitsraum an den Rechner) Meine Resultate hier [...] waren sehr vielversprechend. Und daher habe ich entschieden, die Linie zu ändern. [Aus dem Grund bin ich in die Politik gegangen, weil] ich wollte exakt dieselbe Politik mit viel mehr Ressourcen. Das heißt mit politischen Geldern. Auf dem Posten einer NGO, wie dem REF, hatte ich das NGO-Budget in meinen Händen. Aber ich wollte das als eine Politik gestalten. […] Dieses relativ hohe Resultat war für mich ermutigend, denn ich war ja für zehn Jahre außerhalb des Landes, in Ungarn. Und zu einem großen Teil haben die Leute mich auch vergessen. Aber ich habe viel mehr Stimmen bekommen als die arbeitenden MPs. Und ich denke, dass nicht nur Zigeuner für mich gestimmt haben. Ich weiß es, denn viele haben es mir gesagt.«

5  Bulgarien habe ich auch bei den Wahlen vor vier Monaten so propagiert, also im Juni [2009]. Die Leute haben mich als einen Mainstream-Politiker akzeptiert. Ich muss dazu sagen, dass ich während meiner Wahlkampfkampagne die Hälfte der Zeit in Nicht-Roma-Nachbarschaften war. […] Natürlich bin ich ein Zigeuner, aber ich war in der Wahlkampfkampagne der Sozialisten. Und ich habe die Sozialistische Partei in Debatten über generelle Dinge vertreten. Nicht einmal auch nur annähernd nur für Roma. [Auch Themen wie] Metallurgie, Energie usw. Und wie ich bereits gesagt habe, ich habe auch bulgarische Stimmen bekommen. Ich glaube, das ist der Weg: Um die Probleme der Roma zu lösen, muss man die Probleme der Nicht-Roma lösen. Ich weiß, dass es komisch klingt, aber ich denke, dass wir die Dinge zusammen lösen müssen. Die Roma einzeln zu sehen und die Roma-Probleme als solche zu lösen, ist nicht gut. Ich denke auch, dass es nicht gut ist, die Probleme der Bulgaren zu lösen, ohne die [der] Roma. […] Weil sie uns auch brauchen, denn wir sind [...] ein Zehntel der Gesellschaft. Wenn wir über Bulgarien in der Zukunft nachdenken, dann müssen wir immer auch die Roma einbeziehen. […] Und vielleicht, in der Zukunft, werden die Zigeuner etwas Wichtiges erfinden oder die Genies der Gesellschaft sein.«

Rumyan Russinov lieferte eine sich von den meisten Argumentationen anderer Akteure deutlich abhebende und zugegebenermaßen ebenso stichhaltige und logisch erscheinende Erklärung für das Phänomen, dass sich viele der bulgarischen Roma-Parteien in Händen von Kalderaš-Roma befinden. Um zuvor nochmals kurz einige Worte Ludmila Zhivkovas zu bemühen: »Von 28 Roma-Parteien in Bulgarien sind 80 Prozent von Kalderaš-Leadern. Das ist so etwas wie ein politisches Business. Sie haben keine Ideologien oder so etwas, also Gründe, um so etwas zu machen. Die politische Partizipation für die Kalderaš ist einfach nur ein Business. Das Business ist Business, die NGO der Kalderaš ist Business.«

Am Beispiel von »Zar Kiro«16, einem der frühen Roma-Politiker bzw. Parteiführer und Kalderaš, führt Rumyan Russinov seine Erklärungen aus und spricht, wenn16 | Russinov über »Zar Kiro«: »Also am Anfang, als Zar Kiro gestartet ist, hat er massiv auf Roma-Stimmen gesetzt. Es war nicht unbedingt er persönlich, sondern eher seine Leute auf lokaler Ebene, es waren die lokalen Wahlen 1999. Seine Partei hieß ›Freies Bulgarien‹. Er wollte diese Partei, aber hatte nicht die besten Leute, er hatte es nicht auf normalem Weg gemacht. Er hat eben diese Partei nicht auf normalem Wege gegründet und er war ein normaler Business-Mann, der Rakija und Whisky produzierte. Er ist ein sehr ernstzunehmender Rakija- und Whisky-Produzent! Er benötigte einfach diese Macht für sein Business. Er hat nichts zu tun mit Politik. Er weiß einfach nichts darüber. Dann kam diese Enttäuschung. Und er war auch kein Apparatschik (s. Anmerkung im folgenden Absatz) Und nach ihm kamen zwei oder drei andere Wellen von Personen, die eigentlich mehr oder weniger in seine Fußstapfen getreten sind. Eigentlich waren es Toma Tomov mit ›Partei Roma‹ und Zvetelin Kanchev mit ›EvroRoma‹. Also drei waren es insgesamt. Sie haben etwas mehr oder

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gleich indirekt, so aber ohne weiteres ablesbar, den Aspekt der Nachahmung und Adaption an: »Wenn es Business-Parteien bei den Gadže gibt, dann machen wir [Roma / Z igeuner] eben auch Business-Parteien! Und wir Roma, also diejenigen, die es gemacht haben, haben es als eine Oase in der Wüste gesehen und sind dem Beispiel gefolgt, dem Beispiel eines Geschäfts. Und wer kann schon so eine Partei gründen? Natürlich die reichsten Leute! Die Kalderaš! Das ist die Antwort auf die Frage, warum sie. Und nicht nur sie. Aber deren Unternehmungen waren eben relativ erfolgreich und sichtbarer, weil sie einfach mehr Geld hatten. Und sie haben dieselbe Rolle gespielt wie die bulgarischen Business-Männer. […] Wie ich sagte, keiner Ideologie folgend! Das war die generelle Umgebung: Eine Gründung von Businesses. Jedoch, es war keine normale Umgebung, ein Business zu gründen [zu Beginn der 1990er Jahre]. Hier [in Bulgarien] war es eine eher halblegale oder sogar illegale Umgebung. Und, um an der Macht zu sein, war ein wichtiges und notwendiges Element, ein Business zu machen. [...] Das hat ihr Interesse an einer Partei geweckt. Wir hatten auch andere als die Kalderaš, aber die haben keinen Erfolg gehabt. Denn zunächst einmal erfordert das Funktionieren einer Partei ja Geld. Man braucht ein Büro, Elektrizität, Wasser, Telefone, einen Computer, Ausrüstung eben. Und wenn man ein Geschäftsmann ist, kann man so etwas tun. […] Reisekosten und so weiter. Schauen Sie, ich muss ihnen Folgendes sagen: Es war eine schwere Zeit damals. Natürlich sagen sie, dass sie die Roma repräsentieren. Aber das heißt gar nichts. Denn die, die in den lokalen Ebenen gewählt wurden, die lokalen Repräsentanten, die haben fast nichts gemacht oder erreicht. Es war sehr enttäuschend. Und dann haben sie [die Leute] gesagt: ›Schau, wir haben für Roma gestimmt und sie haben nichts gemacht! Wir sollten also Bulgaren wählen, denn unsere Leute scheinen nicht vorbereitet zu sein!‹«

Die Ineffizienz der Programmimplementationen der NGOs schließlich kommentierte er recht deutlich: »In den NGOs, die zu einer Vielzahl entstanden sind, konnte ja einfach jeder arbeiten, und die Spendengeber haben dann auf diese Leute in den NGOs vertraut und gedacht, dass weniger Ernsthaftes gemacht. Innerhalb der Bezirkswahlen haben sie einige Stimmen gewonnen. Leider haben wir keine gute Realisierung der Macht gesehen. Also zu sagen: ›Ja wir haben sie gewählt und sie machten das und das für uns!‹ Nun, das konnten wir leider nicht sagen. Und die Leute waren enttäuscht. Ich denke, es hängt einfach mit den Versprechungen zusammen, die sie ihren Leuten bei den Wahlen gegeben haben. Und dann werden die Leute in den Mahallas einfach enttäuscht, wenn sie sehen, was ihre gewählten Vertreter erreichen können.« Zum Begriff »Apparatschik« bietet Bourdieu (1997) eine definitorische Näherung, die hier kurz zitiert sei: »Der Apparatschik, der dem Apparat alles verdankt, ist der menschgewordene Apparat, und man kann ihm die größte Verantwortung übertragen, weil er nichts zur Förderung seiner eigenen Interessen tun kann, was nicht eo ipso zur Verteidigung des Apparats beiträgt.« (Ebd.: 44 f .)

5  Bulgarien das ›die Leader‹ sind. […] Viele von uns haben einfach nur schnell ›Ja‹ gesagt zu den Regeln der Spendengeber. […] Es wurde viel zu viel Geld für dumme und kontraproduktive Dinge ausgegeben.«

An dieser Stelle sei kurz resümiert, wie Russinovs Meinungen sich in seiner bisherigen Biographie verorten lassen, mit welchen Zugängen er daraus hervorging und sich später dadurch in die vordere Reihe der Mainstreamparteien manövrierte. Als Sohn eines Lehrers begann er noch in der sozialistischen Ära das Studium der Wirtschaft in Sofia. Danach war er sieben Jahre als Menschenrechtsaktivist tätig, vorrangig für Roma seiner Heimat, und führte, kurz bevor er sich erfolgreich auf den Direktorenposten des RPP nach Budapest bewarb, in seiner Heimatregion um Vidin die Desegregation der Schüler in Roma- / Zigeunersiedlungen als Inte­grationsprogramm ein. Daraufhin verließ er Bulgarien, um den Direktorensitz am RPP und später eine Stelle am REF in Budapest zu bekleiden, und kam erst zehn Jahre später zurück. Nach einer derart langen Zeitperiode im Aktivismusbereich für Roma tätig, entschloss sich Russinov für eine Mehrheitspartei Bulgariens zu arbeiten, anstatt »nur für Roma-Projekte«. Die von vielen Roma / Zigeunern erklärte Distanz zu ihren Vertretern oder Führern findet hier eine beispielhafte Erklärung. Nicht weniger beispielhaft sind seine Ausführungen im Zusammenhang mit den primär von Kalderaš gegründeten Parteien: in der Zeit der Wirtschaftskrise Bulgariens und dem zeitgleichen Aufkommen von NGO-Sponsoren aus dem Ausland nutzten einige der ohnehin eher reichen Gruppen unter den Roma / Zigeunern diese günstige Gelegenheit. So entstand das Bild einer vielfachen Vertretung der Gruppen dieser Minderheit. Doch mit steigender Anzahl wurden die Erwartungen seitens vieler hoffnungsvoller Roma / Zigeuner in den Siedlungen enttäuscht, dass diese Leute ihnen aus ihrer miserablen Lebenssituation heraushelfen würden. Andererseits bildet sich in dieser wachsenden Vertretergruppe auch die Heterogenität der verschiedenen von ihnen vertretenen Gruppen ab. Die an die Öffentlichkeit getretenen Aktivisten stammten aus weniger als der Hälfte aller Gruppen. Und obendrein entpuppten sich viele Parteien als Gebilde, die sich mehr oder minder aus den Mitgliedern der Kalderaš zusammensetzten, aus eher ökonomischen Zwecken heraus entstanden und, wie Russinov betonte, ohne Programm ins politische Feld zogen. Eine eventuell niedrige Wahlbeteiligung oder Politikverdrossenheit seitens vieler Mitglieder von Roma- / Zigeunergruppen begründet sich hier fast von selbst und kann in keiner Weise als »ethnischer Marker« oder typische »Roma-Tradition« gekennzeichnet werden. Die Hoffnung auf Änderung der Missstände liegt meinem Eindruck nach nur noch in der Chance einiger Mitglieder, die Kontakte und Beziehungen zu nutzen, die die Vertreter in ihrer Aktivistenlauf bahn gebündelt haben. Doch beschränkt sich diese Art von Distribution offensichtlich auf jenes Netzwerk, das dem Akteur am nächsten ist und nicht von eventuellen Konkurrenten oder Neidern einer anderen Gruppe als der eigenen unterwandert werden kann. Russinovs Entschei-

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dung, in die sozialistische Mehrheitspartei einzutreten, ist vor diesem Hintergrund mehr als logisch. An dieser Stelle möchte ich Toma Nikolaeff als den einzigen Kalderaš-Roma / -Zigeuner unter den Akteuren dieser Arbeit vorstellen, den ich nach kurzem Kontakt via E-Mail in Sofia traf.

5.2.2 »Kalderaš sind die Elite der Zigeuner.« Toma Nikolaeff 17 ist Direktor und Begründer der Roma Community Foundation und des National Council of Roma Organisations and Parties. Er ist ebenso Begründer und Präsident der zweiten registrierten Roma-Partei Bulgariens, der Central Unifying Movement »Salvation« und stellvertretender Vorsitzender der International World Roma Union (vgl. Slavcheva 2006). Der aus Dobric stammende Nikolaeff bestätigte, was u. a. in Rumyan Russinovs Worten bereits wiederholt anklang: Dass Geld eines der Kriterien sei, um heute von einem »Rom Baro« sprechen zu können. Den früheren Stand, was einen solchen »Großen Mann« ausmachte, führt der Roma-Aktivist, Journalist, Parteiführer und Geschäftsmann so aus: »Aber die Rom Baro nehmen das Geld, vielleicht ein falsches Dokument und sagen: ›Ich habe das Geld den Leuten gegeben!‹ Aber die haben es nicht erhalten. So ist es heute. Aber wissen Sie, nicht jeder ist so, aber 90% sind so. Auch bei den Kalderaš und Lovara, die sind sich sehr nahe.18 Diese Leute, es sind vielleicht 50 Leute, die einen Freund in der Politik 17 | Gemeinsam begaben wir uns in ein Café gegenüber dem Haus, in dem sich sein Büro und Wohnsitz befand. Obwohl sein Englisch das Gespräch in mehrfacher Hinsicht entschleunigte, boten die Stunden mit ihm eine sehr interessante Datenaufnahme. Denn sein umgänglicher Ton und seine große Lust, mir etwas zu erzählen, bef lügelten das Gespräch, welchem trotz störender lauter Musik unschwer zu folgen war. Nachdem wir den offiziellen Teil im Café hinter uns gebracht hatten, fuhr er mich und meine Tochter in seinem Mercedes kurz durch die Stadt, während er weiter seine Bedenken hinsichtlich meiner Arbeit und hinsichtlich des Themas der »Roma-Elite« zum Ausdruck brachte. Das Ziel der Fahrt war sein elterliches Haus am Rande der Stadt, wo wir auf seine Mutter und einen Bruder trafen. Dort händigte er mir Werbematerial aus, das seine Arbeit als Journalist und seine Organisation Roma Information Agency Defacto (RIA Defacto) betraf, die wohl eine der ersten Organisationen dieser Art war und 2003 ihre Tätigkeit aufnahm. 18 | Kalderaš- und Lovara-Gruppen sind sich hinsichtlich ihrer jeweiligen hierarchischen Stellung innerhalb der Roma- / Z igeunergruppen und ihrer gruppeninternen gerichtskompatiblen Instanzen sehr ähnlich. Diese sind für die Position Toma Nikolaeffs von bedeutender Relevanz, da er, wie sein Großvater, häufig als Beisitzer zu verschiedenen Sitzungen der meshere, den gerichtsähnlichen Instanzen, gerufen bzw. eingeladen wird (s. Kapitel 3).

5  Bulgarien haben und solche Jobs mit Politik machen und das Geld daher haben. Und früher gab es auch Rom Baro! Mein Großvater war Rom Baro für alle, die bei ihm (i. e. in der Großfamilie) waren. Mein Großvater kannte jeden Kalderaš. Weil mein Großvater Chef (chema) in der Roma-Kris war. In Bulgarien sagt man für Roma-Kris: Meshere. In Europa sagen die Zigeuner ›Kris‹. Das ist das Zigeuner-Gericht. Und mein Großvater war der Boss davon. Jetzt, also zur Zeit, bin ich vielleicht wie mein Großvater. Mein Vater war nicht so. Aber ich bin – vielleicht nicht exakt wie mein Großvater – aber ich bin ihm näher.«

Wenn Toma Nikolaeff sich in der Nachfolge seines Großvaters sieht, setzt er einen eher traditionellen Wert als den von ihm verwirklichten ein, um sich über sein Image, sein Ansehen zu äußern: Er und sein Großvater haben beide einen Sitz in einer traditionellen Instanz der Kalderaš-Gemeinschaft, der meshere, inne. Wenngleich in der Literatur über das Phänomen des sogenannten Zigeuner-Gerichts kein klarer Nachweis darüber vorhanden ist, dass sie nur von einem einzigen Chef angeführt wird, so existieren doch viele Quellen, die zumeist ältere Männer und Frauen in mediierender Stellung nachweisen.19 Nichtsdestotrotz entscheidet sich Toma Nikolaeff für die Erwähnung, dass er nicht nur wie sein Großvater sei, sondern auch, dass dieser »jeden Kalderaš kannte«, und bestärkt das Argument der (performierten) Kontakte, die seinem Großvater ein spezifisches Image zuerkennen: soziales und kulturelles Kapital. Gleichzeitig allerdings stellt Nikolaeff heutige »Rom Baro« als Betrüger hin, die sich der Veruntreuung von Projektgeldern schuldig machen und diese Mittel über »Freunde in der Politik«, hauptsächlich Gadže, generieren würden. Toma Nikolaeffs Begrifflichkeit einer Roma-Elite unterscheidet sich von denen der meisten anderen Akteure, denn für ihn sind Kalderaš die »Elite der Zigeuner«, deren Prinzip es sei: »[…] Geld zu machen, Geschäfte zu machen, aber nicht zur Schule zu gehen. […] Meine Generation, alle brachten Geld nach Hause, machten Geschäfte und arbeiteten und ich ging in die Schule. Als ich das gesehen habe, wollte ich nicht mehr studieren und in die Schule gehen. Ich hab dann mein Geschäft angefangen.«

Sein anfänglicher Wunsch, nach der Schule die Universität zu besuchen, wurde von seinem Vater abschlägig beschieden – im Gegensatz zu den Erfahrungen von Rumyan Russinov oder auch Toni Tashev –, denn zum traditionellen Wert, so 19 | Aktuelle Entwicklungen zeigen, dass bei verschiedenen Lovara-Gruppen in Österreich die kris kaum noch in Erscheinung tritt. Demgegenüber erfährt eine solche Instanz bei anderen Roma- / Z igeunergruppen in italienischen Camps in der Nähe der Stadt Rom ihre Wiederentdeckung (persönl. Gespräche mit Christiane FenneszJuhasz und Daniele Ulderico, anlässlich der Konferenz der Gypsy Lore Society in Graz [Österreich] 1.–3. September 2011).

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Toma Nikolaeff, gehöre es für Roma / Zigeuner, nicht zur Schule zu gehen. Seine Argumentation begründet er mit einer »Zigeuner-Psyche«, die »auf ›Nicht-in-dieSchule-gehen‹ eingestellt [sei]. Die Psyche sage da eher: ›Gehe fort! Einfach nur wandern und das arbeiten, was man findet.‹« Damit steht er in jenem prekären Spannungsverhältnis zwischen den Erwartungen, die seiner Meinung nach die seiner Gemeinschaft seien, also traditionelle Werte zu pflegen (Wanderschaft, Geld machen, die interne Instanz der meshere aufrecht zu erhalten etc.), und denen, die ihm die Moderne auferlegt (Projektgeldtransparenz, schulische Bildung, Sprachkompetenz etc.). Eine Brücke zu schlagen gelingt ihm nur lückenhaft, wenn er sagt, dass zum Beispiel »die Jungen nicht in die Schule gehen wollen«, da der »Wert der Bildung nicht in die Zigeuner-Psyche [gehöre]«. Denn traditionell sei es, »Geld zu machen und ein Business«, wofür die Kalderaš bekannt wären, wie Ludmila Zhivkova bereits angedeutet hatte. Die nächste Akteurin, Lilyana Kovatcheva, werde ich mittels ihrer Erzählungen über ihre Lauf bahn und ihre familiären Erfahrungen in ihrer Herkunftssiedlung als ein Gegenbeispiel zu Nikolaeffs Auffassung vorstellen. Im Einklang mit Toni Tashev wird sie argumentieren, dass nicht Geld primär wichtig ist, sondern Bildung und der Kontakt zur Herkunftsgruppe. Doch zuvor wird sie berichten, wie sich ihrer Meinung nach eine Führerschaft in Roma- / Zigeunergruppen konstituiert, um hernach mit einigen Abschnitten ihres Lebenslaufs zu veranschaulichen, was es für sie bedeutet hat, nach einer universitären Ausbildung zur Lehrerin in ihre Herkunftsgruppe zurückzukehren, um dort in diesem Beruf zu arbeiten.

5.2.3 Vom negativen zum positiven Helden: Zwei Lehrer im Bildungsministerium Bulgariens Lilyana Kovatcheva20 erklärte mir wie andere Akteure auch, dass »in allen Roma- / Zigeunergruppen informelle Führer« existierten, die jedoch »keinen klaren Kriterien« folgen würden, da es »keine eindeutigen Unterteilungskriterien« gäbe. Damit folgt die aus Kyustendil stammende Lilyana Kovatcheva der Argu20 | Lilyana Kovatcheva trug, wann immer wir uns begegneten, ein sanftes Lächeln in ihrem Gesicht. In ihrem Büro, in der Abteilung des Ministeriums für Bildung, standen u. a. Bilder ihrer Tochter, mit der sie außerhalb Sofias in dem kleinen Ort Bankija wohnt, der aufgrund seiner heilenden Quelle bis heute Touristen anlockt. Wann immer ich mich mit Lilyana traf, befand sie sich in bester Laune, sprach leise und bedächtig. Ihre Antworten waren klar, gerade heraus und erstaunlich offen und ehrlich. Auf keinem dieser oder der nachfolgenden Treffen, sei es innerhalb der CEUSummer University 2009 in Budapest, als Freundin und Ratgeberin bei allen weiteren Aufenthalten in Sofia oder als Mit-Doktorandin Prof. Dr. Marushiakovas, erlebte ich sie etwa ungehalten oder als sich in den Vordergrund drängend.

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mentation u. a. Ludmila Zhivkovas. Denn »für die Alten«, so führt sie aus, gelten vielleicht Kriterien wie Reichtum, ein wohl situiertes Haus und ein Auto, die einem den Respekt der Gruppe verschaffen. Doch für die Jüngeren seien andere Kriterien vorrangig. Unter jenen, so Lilyana Kovatchevas Argumentation, befänden sich »einige eben nicht Reiche«, die aber »im richtigen Moment [ihre] Meinung [sagen] und diese klar« zum Ausdruck bringen würden: Sie erweisen sich oft dann als »Meinungsführer«, wenn sie beispielsweise frühzeitig in einer Partei ihre Mitgliedschaft bekundet haben. Ihr Vater, so berichtete sie, sei ein »informeller Führer in der Gemeinschaft« gewesen, der für Zugänge gesorgt habe, von denen seine Tochter Lilyana später reichhaltig profitierte – dies jedoch nicht ohne hohe Anstrengungen unternehmen zu müssen, diese Zugänge für sich zu nutzen und ihren Respekt in der Gemeinschaft (zurück) zu gewinnen. Sie musste erst ihre Fähigkeiten in relevante und von den Mitgliedern »ihrer« Herkunfts- und später auch Wirkungsgemeinschaft abgreif bare Zugänge übersetzen. Als informeller Leader in seiner Gemeinschaft hatte Lilyana Kovatchevas Vater die Sekretärsposition beim Jugend-Komsomol inne und wurde »später Sekretär der kommunistischen Partei in der Siedlung«. Somit habe er »viel mit den Gadže zusammengearbeitet und viele gute Dinge gelernt«. Das Potential der Kontakte ihres Vaters zu den Gadže sei sogar so hoch gewesen, dass er seine Familie »ein wenig in [die] Gadže-Welt integriert [und] auf Bildung geachtet [hat]«. Zwar konnte Lilyana Kovatcheva ihrer Sozialisation nach in ihrer Familie weder Romanes sprechen noch »die Kultur der Roma kennenlernen«, doch ihr Zugang zum Schreiben und Lesen der bulgarischen und englischen Sprache, ihre Fertigkeiten am Computer (E-Mails organisieren, Informationen bereitstellen etc.) werden noch heute von vielen ihrer Gemeinschaftsmitglieder abgefragt und boten ihr nach ihrer universitären Ausbildung ein (Rück-)Portal in ihre Gemeinschaft. Darauf werde ich noch detaillierter in Kapitel 7 eingehen. Ihren Traum, Lehrerin zu werden, verwirklichte sie zwar mit Erfolg, doch galt dies zu jener Zeit in Roma- / Zigeunergruppen keineswegs als erstrebenswerter Beruf, wenn er nur in Schulen der Gadže ausgeübt wird. Bis sie in ihrer Herkunftsgruppe wieder zu Ansehen und Respekt gelangte, musste Kovatcheva zunächst erfahren, wie ihre Gruppenmitglieder sie als »eine Gadži« ansahen. Denn sie musste sich »neu in der Gemeinschaft ihren Stand und Namen schaffen«, durch die Umsetzung ihrer Fähigkeiten und Erfahrungen aus ihrer gemeinschaftsexternen (Aus-)Bildung. Erst so konnte sie allmählich zu einem »Modell in der Gemeinschaft werden«, von dem die Mitglieder ihren Kindern sagen: »[Sie] ist respektiert von den Gadže, hat Geld und ein leichtes Leben«, wenn sie »früh in die Schule geht und dann frei hat«. »So wurde ich von einem negativen Helden zu einem positiven!«, lächelte sie mich überzeugt an, als sie über ihre anfängliche Zeit als Lehrerin resümierte. Obwohl Lilyana Kovatcheva die Gegenstimmen in der Herkunftssiedlung stark entgegenprallten, wenn sie, dorthin zurückgekehrt, als »Gadži« verschrien

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wurde, so scheint doch ihre Annäherung an die Wertewelt der Gadže (als verwirklichter Wert) gemeinschaftsintern gern genutzt zu werden, ja sogar in eine Modellfunktion umwandelbar zu sein. Um diese Annäherung, die Erfahrung einer Bildung in Gadže-Schulen, nicht als Ausnahme wirken zu lassen und ihre Position als eine Normerfüllende zu bestätigen, führt Lilyana Kovatcheva an, dass es in ihrer Generation einige gibt, die zeigen, dass Bildung keine Gefahr bedeutet, wenn – und darauf sei hier dezidiert hingewiesen – »man nahe seinen Wurzeln bleibt.« Denn »viele der alten Gebildeten oder Reichen im öffentlichen Leben bekennen sich nicht zur Zugehörigkeit zu den Roma.« Auch aus Jossif Nounevs21 Perspektive gelten in den Gemeinschaften der Roma / Zigeuner solche Personen als »Meinungsführer«, die »Positionen in der Gadže-Welt« bekleiden. Die »traditionellen Führer« seien dagegen »eher informelle Führer«, die ihre Führerschaft aus »den Wurzeln der Traditionen heraus« rekrutieren: »Ich bin in die Gemeinschaft zurückgekommen und habe für sie gearbeitet. Die Leute, also Lehrer, Doktoren, Krankenschwestern, sind in der Gemeinschaft sehr anerkannt. Ob sie es wollen oder nicht, [sie] sind ›Meinungsführer‹. Also beeinflussen sie in bestimmten Fällen die Gemeinschaftsmeinung, auch in gesellschaftlichen Aspekten. Die wirkliche ›Führerschaft‹ liegt in den Händen der alten Verwandtschaftsmitglieder, dem ältesten Vater. Und daher sind die wirklichen Führer der Gemeinschaft die Köpfe der Verwandtschaft. Aber da sind halt noch die Meinungsmacher, die Dienstleister, wie ich sie bereits nannte. Und diese traditionellen Führer sind informelle Führer. Sie können sich selbst nicht als NGO-Führer ausgeben oder als Partei-Führer. Sie sind es nur aufgrund der Wurzeln in der Tradition.«

Auch Nounev bestätigte, dass die Distanz, die er später zwischen sich und seine Gemeinschaft gebracht hat, ihn »viel verlieren lassen hat«. Doch ging er darauf nicht näher ein. Der in Rakitovo Gebürtige hat sich, wie Lilyana Kovatcheva auch, zum Lehrer ausbilden lassen und ist später ebenso in seine Heimatstadt zurückgegangen, um »beratender Direktor in einer Schule und danach […] Direktor einer Zigeunerschule in meiner Heimatstadt« zu werden, wie er es formulierte. Insofern hat er wie auch viele andere meiner Gesprächspartner zumindest einen Aspekt der Erwartungskomplexe erfüllt: Wenngleich nur für eine knappe Zeit21 | Jossif Nounev, Experte im Ministerium für Bildung in Sofia, sitzt in einem der vielen Räume dieses Ministeriums und war zur Zeit meines Aufenthalts verantwortlich für Integrationsmaßnahmen, die sozial minderbemittelten Kindern von ethnischen Minderheiten galten. Sein Alltag bestand aus dem Anfertigen von Strategiepapieren, aus Sitzungen und Treffen sowie daraus, eine Übersicht über verschiedenen Strategien zu haben, die sich um seine Abteilung und speziell seine Position drehten. Seine absolut ruhige Art und Weise im Gespräch und auf Fragen zu reagieren nahm mich augenblicklich für ihn ein.

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spanne hat er seine Kompetenzen, die er als Erster seiner Gemeinschaft in der Welt der universitären Bildung erlangt hat, zurück in seine Herkunftsgruppe getragen, »für sie gearbeitet«, wie es Nounev ausdrückte. »So bin ich, Schritt für Schritt, den professionellen Weg gegangen. Mein ›Herausgehen‹ aus diesem System war 1999, als das ›Framework-Programme‹ 22 für die Roma angenommen wurde. Dabei wurde ich eingeladen, im Ministerrat für die Implementierungskoordination des ›Framework-Programms‹ zu arbeiten, 1999. Bis 2001 habe ich versucht, das Ganze zu koordinieren und etwas aus nichts zu machen. Und dabei habe ich erfahren, was ein Staat bedeutet, der Staat als Maschinerie. Also bin ich 1999 hierher nach Sofia gekommen.«

Spätestens mit diesen beiden Akteuren sollte zum einen klar geworden sein, wie und warum eine grobe Einteilung der verschiedenen Roma- / Zigeunerführer in ältere, also traditionsorientiertere und in jüngere vorgenommen werden kann. Die »traditionellen« oder traditionsorientierten unter ihnen charakterisierte nicht nur Nounev als »wirkliche« und »informelle Führer«, die ihre gemeinschaftsinterne Stellung und die Legitimation ihrer Führerschaft vorrangig »aufgrund der Wurzeln in der Tradition« besäßen. Den Aspekt der Tradition, der Familie, der Verwandtschaft oder der Gruppe brachten die meisten der bisher dargestellten Protagonisten mit eben jenen »traditionellen Führern« in Verbindung. Diejenigen unter ihnen hingegen, zu denen sich demnach auch die beiden letzten Akteure zählen müssten, seien »Meinungsführer« in den Gruppen, die »die Gemeinschaftsmeinung« beeinflussen könnten. Doch sie sind nicht durch ihr Alter, die Größe ihrer Familie oder sozialpolitische Programmentwürfe die »Meinungsführer«, sondern aufgrund ihrer Fähigkeiten, die sie gemeinschaftsextern erworben und nun gemeinschaftsintern gewinnbringend für die Mitglieder umzusetzen wussten. Diese Fähigkeiten und Fertigkeiten stehen zweifelsohne im Zusammenhang mit ihrer schulischen, also akademischen Bildung. Aufgrund eben dieser Bildung ist Hristo Kyuchukov in einer ähnlichen Situation wie viele weitere meiner Gesprächspartner auch: Er wird als »Gadže« angesehen, obwohl er mit seiner Gruppe in Kontakt steht. 22 | Das ERRC gibt auf seiner Internetseite einige Informationen das »FrameworkProgramme« betreffend preis, welche von Rumyan Russinov verfasst wurden (Russinov 2001). In seinen Sequenzen (s. o.) sind einige Informationen bereits enthalten. Das Programm wurde 1998 entwickelt und 1999 von der bulgarischen Regierung und weiteren 70 Organisationen gemeinschaftlich unterzeichnet. Das Programm mit dem Namen »The Bulgarian Framework Programme for Equal Integration of Roma: participation in the policy-making process« soll im gemeinschaftlichen Verbund für eine Gleichstellung und Gleichbehandlung der Roma in der bulgarischen Gesellschaft eintreten. (vgl. online: http://www.errc.org/article/the-bulgarian-frameworkprogramme -for- equa l-integrat ion- of-roma-par t icipat ion-in-t he -polic y-ma k ingprocess/1729, vom 07.05.2012).

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5.2.4 »Bildung ist als Wert dazugekommen.« Hristo Kyuchukov23, den ich hier abschließend vorstellen möchte, verleitete mein Thema und meine Anwesenheit dazu, mir Informationen über Führerschaften in und Hierarchien zwischen den vielen Roma-Gruppen zu geben. Über seine Kindheit und die Erfahrungen einer staatlich forcierten Entislamisierung und Christianisierung in Bulgarien reflektiert er in seinem Kinderbuch My Name was Hussein (Kyuchukov 2004, vgl. Kapitel 4). Hristo Kyuchukovs Herkunftsgemeinschaft sieht ihn »als einen verrückten Mann an«; er gilt als »Ausnahmefall«, denn die Mitglieder seiner Herkunftsgemeinschaft können »nicht verstehen«, warum er »in der Welt herumfliegt, auf Konferenzen geht und sein Geld lieber für Bücher ausgibt als ein kleines Business zu eröffnen.« Doch zollt ihm seine Gemeinschaft Respekt, wie er bestätigte, weil er Kontakt zu ihr hat, obwohl er »wie ein Gadže« angesehen wird. Auf die mögliche Existenz einer »Roma-Elite« angesprochen, antwortete er: »Die Roma-Elite gibt es nicht!«, denn »alle Phänomene wie Rom Baro oder gar Zigeunerkönige« oder »andere Hauptmänner sind als Reflexionen der größeren Mehrheitsgesellschaft zu sehen« (vgl. Kapitel 4). Jedoch habe sich das Wertesystem in einigen Roma- / Zigeunergruppen »in den letzten 20 Jahren drastisch geändert: Wenn es vorher als eine hohe Bildung galt, die achte Klasse zu haben, so sind heute die Jura-Studenten in einigen Gemeinschaften an diese Stelle getreten.« Bildung sei »vor ca. 20 Jahren als Wert in einigen Roma- / Zigeunergruppen hinzugekommen«. Ansonsten haben nach Kyuchukovs Meinung Roma / Zigeuner und Gadže dieselben Werte, um Prestige oder Status aufzubauen: »Also Auto[s], Reichtum, ein großes Haus und ein formidabler Lebensstil«. Damit lässt sich hier abermals das von Bourdieu so bezeichnete »materielle Kapital« fokussieren, als scheinbar primärer Zugang, dessen Transformation in Respekt und Prestige seitens der Herkunftsgemeinschaft Kyuchukov nur geringfügig zugesprochen wird. Selbst die Veröffentlichung seines Kinderbuches konnte daran nichts ändern. Das Wissen um seine Vorbildlichkeit, um in die Termi23 | Hristo Kyuchukov betrat den Raum der Sektion Ethnographie und Studii Romani in der Akademie der Wissenschaften in Sofia in edlem Äußeren und füllte mit seiner Person sogleich die Szene aus. Leider waren alle unsere Treffen von allzu großer Hektik und dem Fehlen jeglicher Privatatmosphäre gekennzeichnet. So bat ich ihn nachträglich auf elektronischem Wege um Antworten. Ohne Hinhaltetaktiken, versuchtes Abwimmeln oder Ausschlagen von Antworten bekam ich all die Informationen, die ich erfragen wollte. Hristo Kyuchukov ist als Berater und promovierter Wissenschaftler im Bereich Linguistik und Pädagogik vielerorts verpf lichtet. Zur Zeit unserer Treffen hatte er eine Professur für Linguistik an der Universität Konštantína Filozofa in Nitra in der Slowakei inne. Nach seiner Sozialisation zu fragen, hatte ich bei den Treffen keine Gelegenheit.

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nologie Erdheims zurückzukehren, kann sich nur aufgrund universitärer (Vor-) Kenntnisse einstellen. Und eben dort, also unter vielen Roma- / Zigeunerstudenten, gilt er als vorbildlich.24

5.3 S ofia – F akultäta -M ahall a (M ihail G eorgie v, S tefan K ole v) Mihail Georgiev und Stefan Kolev sind in Fakultäta geboren, aufgewachsen und dort auch tätig. Dennoch geben sie kein vollständiges Bild über alle in Fakultäta agierenden Vertreter, Aktivisten oder gar »Führer« wieder. Mit Stefan Kolev steht zudem ein Gesprächspartner im Fokus, der wie Ali Berat aus Mazedonien (s. Abschn. 6.5.5) seine Führerschaft mehr oder minder auf religiöser Basis begründet.

5.3.1 Nüchterne Vorbildlichkeit und Gottes Gnade Stefan Kolev leitet die noch recht junge Gemeinde der Kirche »Leben und Licht«25 in Fakultäta-Mahalla, die einer christlich-französischen Roma- / Zigeunermission angehört. Ihn besuchte ich in Begleitung der bulgarischen Ethnographin Magdalena Slavkova, die das Gespräch übersetzte. Unser Gespräch nach dem Gottesdienst – dem wir beiwohnten – fand in einem Speisesaal statt, der sich an das Gotteshaus anschloss. An diesem Tag war eine Gruppe koreanischer Jugendlicher zu Besuch in seiner Gemeinde. Nach dem Gottesdienst saßen alle gemeinsam im Speisesaal zu Tisch. Auch einige in der Kirche aktive Personen brachten ihre Neugierde an deren und meinem Besuch durch ihre Anwesenheit zum Ausdruck. Stefan Kolev, einem jungen Mann von fülliger Gestalt, war es daran gelegen, so viele Kommentare und Geschichten wie möglich mit Hilfe von Bibelzitaten oder zumindest mit biblischem Kontext darzustellen.26 Leider trafen meine Fragen zu einer Roma-Elite oder Prestige auch bei ihm zum Teil auf Verwunderung oder gar Unverständnis, so dass mich Magdalena Slavkova nicht selten korrigierte 24 | Vgl. http://www.bubkes.org/2007/04/10#a346, vom 09.04.2007]. 25 | »Leben und Licht« (»Vie et Lumiere«) ist eine evangelikale Roma-/Zigeunermission in Frankreich (Mission évangéliques des tziganes de France, online: http:// vieetlumiere.fr, vom 05.07.2011). Stefan Kolev berichtete hierüber wie folgt: »Der Name unserer Kirche ist ›Leben und Licht‹. Das ist eine sehr berühmte evangelikale Bewegung in Frankreich. Der Präsident dieser Organisation ist Jimmy Meyer. Diese Organisation wurde von Clément Le Cossec gegründet. Er ist ein französischer Priester, der als Erster mit Roma in Frankreich und auch in Europa gearbeitet hat. Das war vor ca. 50–60 Jahren. Jetzt ist er tot.« 26 | Auch Ali Berat folgte diesem Erzählschema, wie unter Abschn. 6.5.5 dargestellt ist. In seinem Fall allerdings handelte es sich um Gleichnisse aus dem Koran.

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bzw. einige Fragen als nicht adäquat gestellt empfand und daher fallen ließ oder ihren Inhalt lang erklären musste. Stefan Kolev hatte in seiner wohl schwierigsten Lebensphase eine intensive Gotteserfahrung, als die Frau eines Bekannten ihn fragte, ob er mit ihr beten wolle. Jene Erfahrung bewahrte ihn vor weiteren Problemen und löste seine eigenen, die er aus seiner Vergangenheit mit sich trug. Er wäre so stark alkoholabhängig gewesen, erzählte er, dass »sein Bruder ihn mit großer Scham« ansah. Seine Eltern hätten dadurch viele Schwierigkeiten mit ihm gehabt. Sogar seine Frau wollte sich von ihm scheiden lassen. Folglich stehen im Leben Stefan Kolevs der Bezug zu Gott, seine Konvertierung und seine Übernahme des Priesteramtes im Vordergrund, die ihn »zum Führer« gemacht hat, wie er erzählte. Im Gegensatz zu einer zu verwirklichenden Integration der Roma / Zigeuner in die Mehrheitsgesellschaft oder eines zu erwirtschaftenden Reichtums, um Prestige unter den Gruppenmitgliedern zu erlangen, gilt es für Stefan Kolev die »Berühmtheit der Nachbarschaft [Fakultäta] als christliches Zentrum« zu erreichen, der er selbst als Führer seiner Gemeinde vorsteht. Unter einem idealen Führer ist seiner Meinung nach eine Person zu verstehen, die: »[…] weiß, was er [oder sie] will und was zu tun ist, und, wie man den richtigen Weg anderen Personen zeigt. Führer ist, wenn es jemand durch seine Handlungen zeigt! Dann folgen ihm die Leute. [Wenn] der Führer sagt: ›Wir gehen!‹, aber er dabei hinter den Leuten steht, dann ist es kein Führer. Führer ist jemand, der den ersten Schritt macht. Er ist der, der vorn steht.«

Was er hier beispielhaft beschreibt, kann auch als seine Darstellung der Begrifflichkeit des »Vorbilds« verstanden werden, dem man folgt, wenn sein Träger, der Führer »vor den Leuten« steht. Seiner Meinung nach ist er selbst ein Führer »mit der Hilfe des Wortes Gottes«, wie er sich ausdrückte. Und um zu diesem Ziel zu gelangen, aus Fakultäta ein christliches Zentrum erwachsen zu lassen, gilt es zunächst natürlich, »die Leute in die Kirche zu holen«. Als »Vizepräsident der Assoziation der Roma-Priester in Bulgarien« betrachtet er die Kirche als »eine Art NGO«, wohingegen er im selben Atemzug folgende Worte über andere NGOs fand (also auch die »Roma-Baht-Foundation«, der der zweite Akteur in Fakultäta, Mihail Georgiev, vorsteht): »Die anderen Roma-Repräsentanten in den NGOs arbeiten, um Geld von Europa zu bekommen. Aber es bleibt kein Nutzen für die Gesellschaft. Ich denke, dass die Roma-NGOs nicht fähig sind, das Leben in der Gesellschaft zu verändern. Nur die Kirche kann das tun. Weil die Kirche den Leuten näher ist und weil die Leute an die Rolle des Priesters und seine Aktivitäten glauben. […] Ich denke, die Tätigkeiten der Leute in den NGOs sind nicht die richtigen. Sie versuchen die Leute zu manipulieren und für Leute, die eine höhere Bildung haben und ein größeres Wissen ist das nicht die richtige Art zu handeln. Ich hasse

5  Bulgarien es, wenn die Leute sich selbst präsentieren [...] und einfach nur Aktionen aufzählen, ohne Nutzen.«

Wie aus diesen wenigen Zeilen zu entnehmen ist, stellt Stefan Kolev gleich mehrere Argumente auf, mit denen er sich und seinen Bildungshintergrund positioniert, den säkularen Zugang der NGOs zu den Gemeinschaftsmitgliedern kritisiert sowie deren moralischen Verfall proklamiert, indem er den NGO-Aktivisten trotz ihrer höheren Bildung manipulatives Beeinflussen der Leute, Egozentrismus und Diebstahl vorwirft. Dem gegenüber stellt er sein eigenes »kleines Business mit Musik«: »Meine Kirche führt ein kleines Geschäft, ein kleines Business mit Musik, mit evangelikalen Songs. [...] In Fakultäta gibt es zwei berühmte evangelikale Sänger, aber auch unsere eigenen Sänger aus der Kirche machen eine sehr gute Musik. Zum Beispiel, letztes Jahr haben wir drei oder vier Alben gemacht. Und die verschiedenen Studios realisieren diese Alben nur. Danach geben uns die Studios das Geld für die verkauften Alben.«

Sein Prestigegebilde rekrutiert sich, wenn man so will, aus der Wertverwirklichung einer »ernüchterten« Vorbildlichkeit und der Lösung seiner großen Probleme durch die Berufung zum christlichen Glauben, die nun wie ein Ideal für weitere potentielle Konvertiten als Orientierung gelten kann. Der Priester erteilte dem Aspekt »Gadže-Bildung« eine forsche Absage, indem er das Verhalten kritisiert, das »die Gebildeten« an den Tag legten. Damit beantwortete er auch meine Frage, wie er selbst zu seinem Schulabschluss, der die achte Klasse nicht übersteigt, stehen würde.

5.3.2 Die Macht der Mediationserfolge Zu Mihail Georgiev sind einige Bemerkungen voranzustellen: Seine Meinungen, nicht nur die zur Stratifikation von Führern in Roma- / Zigeunergruppen, scheinen sehr widersprüchlich zu sein. Doch spiegelt eben diese Widersprüchlichkeit sein ambivalentes Verhältnis zur Tätigkeit als Roma-Aktivist wider, das er einerseits seinen Erfahrungen mit der Arbeit im »Roma-Aktivismus« und andererseits seinen familiären Verhältnissen in der Siedlung verdankt: »Dimiter Georgiev ist mein ältester Bruder. Ich bin der mittlere, und da ist dann noch ein jüngerer Bruder. Mein älterer Bruder hat einen großen Einfluss auf die Menschenrechtsbewegung in Bezug auf die Roma in Bulgarien. Er hat in einigen Menschenrechtsprojekten gearbeitet. Das Problem ist, dass er zu idealistisch ist. Einfach zu närrisch. Das hat ihm seine Arbeitslosigkeit beschert. Er kann sich einfach nicht so leicht in die neuen Werte einbinden, mit der europäischen Inklusion und so weiter. Und es ist sehr schwer für ihn, seine Sichtweise und seine Tätigkeiten zu transformieren. Er war in der Bewegung mit den NGOs

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Zigeunerkulturen im Wandel und so weiter und er ist sehr stolz, dass wir es nicht geschafft haben, in die ›Europäische Familie‹ einzutreten (lacht). Er mag es einfach nicht, was zurzeit geschieht. Mein jüngerer Bruder lebt mit meinem Vater. Er hat zwei Kinder und wohnt hier in der Nachbarschaft. Er ist kein Aktivist. Er hat ein Geschäft, ein kleines Café. Er ist nicht interessiert daran [an Roma-Problemen]. Er ist ein wenig wie ein Gangster (lacht). Nur ein kleiner Gangster! Er ist ein typisches Mitglied der Gemeinschaft: Hat eine Familie, hat seine Füße auf der Erde, er ist sich darüber bewusst, dass er die Situation der Roma nicht ändern kann und er kümmert sich einfach nur um seine Familie. Er denkt, alle seine Brüder sind verrückt.«

Mihail Georgiev ist Leiter der NGO »Roma-Baht-Foundation«27 in Fakultäta-Mahalla, der wohl größten Ansiedlung von Roma / Zigeunern in der bulgarischen Hauptstadt, die auch seine Heimat und die seiner Familie sowie der Stefan Kolevs, des vorgenannten Akteurs, ist. Die Organisation »Roma-Baht-Foundation« hat ihren Sitz in einem Haus, das sich direkt an die Segregationsschule vor Ort anschließt. Mihail, ein stattlicher Mann, ließ unseren »offiziellen« Besuch mit Witz und Humor über sich ergehen (»Über meine Biographie? Wo soll ich anfangen? Bei meiner Urgroßmutter?« [er lacht]). Seinen Antworten mangelte es allerdings weder an Ernsthaftigkeit noch vermittelte er jemals das Gefühl, nicht auch tiefergehend über verschiedenste Thematiken nachgedacht zu haben, die, wie wir sogleich erfahren werden, weit über die soziale Sphäre seiner Arbeitsumgebung hinausgehen. Mit einem Satz: Mihail verstand sein Handwerk und »seine« Mahalla. Und so stammt folgende Sequenz erstaunlicherweise nicht von Stefan Kolev, der wohl derjenige der bisherigen Akteure sein mag, dem eine solche Meinung am ehesten zuzuschreiben wäre, sondern von dem NGO-Leiter Mihail Georgiev selbst, dessen Erfolgschancen Stefan Kolev oben sehr deutlich in Frage gestellt hat:

27 | Auf den zwölf Seiten, die das »Profile of the Romani Baht Foundation« beinhalten, sind anfänglich die folgenden fünf Hauptziele der NGO festgehalten: »1. Mediation between the Roma community and state and local authorities; 2. Creation of partnership and tolerance between Roma community and Bulgarian civil organizations; 3. Creation of equal status of Roma community in its dialogue with the institutions, civic organizations and media and lobby for equal access of Roma in all spheres of Bulgarian society as it is anticipated with the Framework Program for Equal Participation of Roma in the Bulgarian Public Life […]; 4. Providing of legal education for Roma youth; 5. Providing of legal aid and legal representation in cases of human rights abuses and discrimination on ethnic base and prevention of inhuman and degrading treatment of Roma.« (Georgiev 2008: 1 f f.) Es bedarf keines tiefgehenden analytischen Blickes um festzustellen, dass das Dokument immer wieder in verschiedener Ausführung auf das Thema der Bildung (»education«, »teaching«, educational group«, »school« und »Desegregation«) zu sprechen kommt.

5  Bulgarien »Wenn Sie mich persönlich fragen, welche Leader zurzeit die wirklichen Leader sind, dann sind es die Priester in den Kirchen. Sie haben viele Leute hinter sich, sie machen eine wirk­l iche Gemeinschaft und es gibt reale Beispiele für ihre Hilfe, also sichtbare Hilfe in der Gruppe. Sie helfen mit Nahrungsmitteln, mit Geld. Wenn jemand krank ist, dann gehen die Leute aus dieser Gemeinschaft zu ihm und da gibt es einen wirklichen Gemeinschaftssinn.«

Das Schicksal von Michail Georgievs Vater, der als einer der wenigen seiner Zeit »aus der Gemeinschaft herausgegangen ist, um zu studieren«, würde die Liste derer fortführen, die sich ›wie Fremde in der eigenen Gemeinschaft‹ wiederfinden, während oder nachdem sie sich unter Gadže und deren Bildungseinrichtungen aufgehalten haben. Somit kann sein Sohn, Mihail Georgiev, zwar auf eine Herkunft blicken, die ihm und seinem Bruder Dimiter Georgiev den Zugang zur Führer- bzw. Vertreterschaft in die Wiege gelegt hat, doch ist es nun an Mihail Georgiev selbst, diese Entfremdung seines Vaters von der Gemeinschaft wieder zu kompensieren, um Respekt, Ansehen, Vertrauen etc. unter den Gemeinschaftsmitgliedern für sich und seine Familie zu generieren. Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang folgende Aussage von Georgiev: »Der Führer meines Typs, der in der Gemeinschaft lebt und arbeitet, ist nicht sehr daran interessiert, was die Gemeinschaft über ihn denkt. Das ist sehr wichtig!« Also ist es nicht primär der Zuspruch der Gemeinschaft, nach dem Georgiev strebt? Doch wonach strebt er dann? Zunächst benannte auch Mihail Georgiev das, was seiner Ansicht nach einen Roma- / Zigeunerführer ausmacht: »Reichtum«. Um die verschiedenen Führer in den Gemeinschaften zu unterscheiden, entschloss sich Mihail Georgiev daher zwischen denen, die aus reichen, und denen, die aus ärmeren Familien stammen, zu differenzieren, wobei er sich zur ersten Kategorie zählt. Er führt aus, dass die anderen Führer aus nicht reichen Familien »ihre Arbeit zu ernst nehmen« würden: »Sie verhalten sich so, als ob die Welt von ihnen abhängen würde, und sie glauben zu stark an sich selbst.« Auf ihrem Weg an die Macht »versuchen sie reich zu werden und bewegen sich dabei von der Gemeinschaft weg!« Trotz seines oben erwähnten scheinbaren Desinteresses gegenüber dem, was die Gemeinschaft von ihm denkt, bedeutet für ihn, in der Gemeinschaft Erfolg zu haben, dennoch ihr »Vertrauen zu erlangen«. »Der Fakt, wie man ihren Erfolg [der verschiedenen Führer] messen kann, ist das Vertrauen der Gemeinschaft in sie und nicht ihre Bildung oder ihre Fähigkeiten. Es ist der Erfolg, wie sie Mediatoren sind, zwischen ihrer Gemeinschaft und den Autoritäten der bulgarischen Gesellschaft.«

Mediation zwischen den Autoritäten der Gadže und der Gemeinschaft trägt auch den Aspekt der zum beiderseitigen Vorteil genutzten Kontakte und Fähigkeiten in sich und erinnert an das, was u. a. anhand der Lebensläufe von Lilyana Kovatcheva und Jossif Nounev bereits dargestellt wurde.

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An anderer Stelle kam Georgiev auf das Thema der Gadže-Institutionen und deren Perspektiven und Erwartungen gegenüber einem Roma- / Zigeunerführer zu sprechen. So gäbe es seiner Meinung nach keine Führer in Roma-Gemeinschaften, die den Erwartungen der Gadže entsprechen könnten: »Die Gadže suchen immer nur eine Person, die alle Leader-Funktionen vereint. Aber mein Typ eines Leaders sieht die Rolle und Funktion darin, ein guter Mediator zu sein und das Leben der Gemeinschaft zu verbessern.«

Doch, so Georgiev, es gäbe Führer des »alten« und des »neuen« Typs. Wenn die »alten« Führer auf »voluntärer Basis die Leute begeistern konnten, etwas zu machen«, so würden diejenigen des »neuen« Typs »mit Geld kommen«, um etwas zu verändern: »Sie bezahlen die Leute dafür, dass sie etwas machen. Das ist vielleicht der Einfluss der neuen Zeit. So machen die Leute nichts mehr, ohne nach Geld zu fragen.«

Georgiev hatte nach seinem Schulabschluss – ebenso wie andere Akteure – weder eine aktivistische Tätigkeit noch eine Teilnahme daran im Sinn. Doch bewegte ihn die Frage nach dem Grund des »Andersseins« der Gadže-Gesellschaft schon lange: »Eigentlich war ich anfänglich nicht an der sozialen Arbeit interessiert, sondern eher am Business. […] Ich habe einen großen Laden geleitet. Das war in den beginnenden Transitionsjahren. Er hieß ›1000 und 1 Dinge‹. Ich habe zehn Leute angestellt. Ich habe darin ca. fünf Jahre gearbeitet und ich bin im Land herumgereist, wegen der Sachen. Das war ein guter Job. Das Geschäft habe ich dann gelassen. Ich habe Leute getroffen, die in der Menschenrechtsbewegung waren. […] Und es war eher ein Gefühl, als ein wirklicher Grund, das Geschäft zu lassen. Und ein anderer persönlicher Grund ist auch, dass ich mich als eine mehr oder weniger erfolgreiche Person sehe, und dass ich die Verhältnisse und die Unterschiede zu meinen Verwandten hier in der Mahalla sehe und ihre Lebenssituation verbessern wollte. Ich kenne diese versteckte Diskriminierung in der Gesellschaft und die Meinungen der Gadže über die Roma sehr gut, aber ich kannte das nur an der Oberfläche. Aber wenn man tiefer und tiefer kommt, dann… Das war diese Zeit, als es undenkbar war, über Menschenrechte zu sprechen usw. Ich habe nicht richtig verstanden, warum die Situation der Roma diese ist. Ich wusste nicht, warum wir so weit weg sind von den Prozessen, die in der [Gadže-]Gesellschaft vor sich gehen, und warum sie so anders sind. Als ich 24 Jahre alt war, also etwa 1990, habe ich ein Projekt begonnen, das vielleicht das größte war, in der damaligen Zeit in Bulgarien. Ich habe das Gebäude hier an die Schule angebaut. Es gab da noch keinen Prozess einer Desegregation. [...] Und in dieser Zeit haben wir viel in die Schule investiert und wollten den Standard der Bildung verbessern, anstatt einer Desegregation. Und so haben wir begonnen. Und jetzt sind wir seit zwölf, dreizehn Jahren (seit ca. 1995) hier, also diese NGO hier.«

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Erfolg hat derjenige, der durch die förderliche Vermittlung zwischen den Mitgliedern seiner Gruppe und den »Autoritäten der bulgarischen Gesellschaft« Vertrauen unter diesen Mitgliedern erlangen kann, meinte Georgiev. Dabei spiele Bildung keine primäre Rolle, sondern einzig die erfolgreiche Mediation. Dass auch er Reichtum als eine der wichtigsten Voraussetzungen ansah, um von einem Roma-Führer zu sprechen, ist wohl auch mit seiner eigenen Herkunft zu begründen, wobei er sich eher unter die »reicheren« zählt, die »sich selbst nicht so wichtig nehmen würden«, im Gegensatz zu denen, die aus »ärmeren« Familien stammen und daher schnell zu Geld kommen wollen. Doch dabei, so schlussfolgerte er, würden diese sich von der Gemeinschaft distanzieren. Die Pauschalität seiner Meinung kann beispielsweise mit der Herkunft und Biographie von Rumyan Russinov entkräftet werden. Interessanterweise unterschied auch Mihail Georgiev nicht nur zwischen den alten und den neuen Führern, sondern warf den neuen unter ihnen vor, sich die Zustimmung der Gruppe mit Geld zu erkaufen, wohingegen die älteren unter ihnen ihre Gruppenmitglieder »auf voluntärer Basis« begeistern konnten. Und eben diese voluntäre Basis ist seiner Meinung nach diejenige, auf welcher die Kirche noch »eine wirkliche Gemeinschaft« auf baut, und daher seien deren »Leader die wirklichen Leader der Gemeinschaft«. So bleibt festzuhalten, dass Georgiev die drei Zugänge der Mediation, des Reichtums und der Gemeinschaftsbildung als die wichtigsten auf dem Weg zu Ansehen und »wirklicher Führerschaft« anschaulich verdeutlichte.

5.4 L om (N ikol a j K irilov, P e ter G or anov) Peter Goranov: »Es gibt bei uns [in der Mahalla] keine Beleuchtung, im Zentrum [der Stadt] schon. Es gibt keine Spielplätze, viele Hunde, keinen normalen Friedhof. Die Stromstärke ist unter normal, sie sperren Strom und Wasser. Es gibt keine Kanalisation und noch viele Sachen. Aber wir machen alles in unserer Kraft Stehende zusammen mit den Behörden, damit wir das verbessern. Wir werden mit den Behörden keine Konfrontation, sondern zusammen mit ihnen nach Lösungen suchen. Das ist unsere Politik.«

Sowohl Peter Goranov als auch Nikolaj Kirilov, beide in Lom gebürtig und tätig, gehören, ebenso wie die zuletzt zu Wort gekommenen Michail Georgiev und Stefan Kolev, zu der Gruppe, die ich hier als die ›ältere‹ Generation verstehe. Insbesondere Nikolaj Kirilov zeigte sich äußerst interessiert an dem Thema meiner Arbeit und bot mir Einblicke in viele Perspektiven, die seine Position und Aktivitäten betrafen, wobei es ihm in keiner Situation an Eloquenz mangelte.

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5.4.1 »Ich bin selbst ein Rom Baro.« Als Berater der Bürgermeisterin von Lom und Leiter der »Roma-Lom-Foundation« kann Nikolaj Kirilov einen relativ großen Erfolg verzeichnen. Seine Heimatstadt Lom28 wurde im Jahr 2009 als vorbildliche Stadt in Sachen Zusammenleben zwischen Roma und Gadže ausgezeichnet. Nikolaj Kirilov bevorzugte es, seine Antworten, die von seinen reichhaltigen politischen Erfahrungen gekennzeichnet sind, auf Englisch zu geben. Trotz mancher Unstimmigkeit, die ich erst später wahrgenommen habe, ist Nikolaj Kirilov wohl einer derjenigen, deren Ansichten am klarsten und eindeutigsten formuliert sind. Viele Klarstellungen hinsichtlich seiner Arbeit und Position legte er mir dar – nicht zuletzt darüber, wie sich eine Integrationsstrategie in der Praxis implementieren lässt, und auch, welchen alltäglichen Erwartungen der Menschen er sich gegenüber sieht. Sein Auftreten, immer im Anzug und mit Krawatte, hob sich von dem seiner Mitarbeiter in der Organisation ab. Der Besuch in den Mahallas und auch seine Anwesenheit auf den Straßen dort waren durchsetzt von mehrfachem Verweilen mit Menschen, deren Sorgen er sich anhörte und Probleme geduldig besprach. In den Gesprächen mit mir hat »Niki«, so sein Spitzname, nicht selten seinen Standpunkt mit lauter Stimme dargelegt. »Ich bin selbst ein Rom Baro«, sagte er mir und führte später aus, dass er aus einer Kalajdži-Familie »mit sehr gutem Image« stamme, mit guten Verbindungen und Geschäften. Und auch der Name seines Großvaters sei sehr bekannt, denn dieser sei »ein VIP der Stadt gewesen«, da er beim Entwurf des Lomer Hafensystems mitgewirkt habe. Seit seiner Rückkehr in seine Heimatstadt im Jahr 1994 hat Nikolaj Kirilov sein mittlerweile äußerst feinmaschig stratifiziertes Netzwerk in alle vier Roma- / Zigeunersiedlungen Loms stetig ausgebaut. So arbeite er heute »mit allen drei Roma- / Zigeunergruppen in Lom«, obwohl sich der Sitz seiner NGO anfänglich in seiner Herkunftsmahalla Stadiona befand:

28 | Mein erster Besuch in Lom, den ich gemeinsam mit den beiden Journalisten Simone Böcker und Dirk Auer unternahm, stand im Zusammenhang mit der Auszeichnung mit dem »Dosta-Preis«. Fachlich interessant scheint mir hier die Erwähnung, dass Böcker und Auer innerhalb ihrer Tätigkeit in Bulgarien u. a. ein virtuelles Balkan-Büro eröffneten (vgl. http://www.balkanbiro.org, vom 30.01.2012). Böcker produzierte als Journalistin des Weiteren die Hörfunksendung »Wo Zigeuner kein Schimpfwort ist« (Böcker 2009). Auch Auer bezieht sich in einem seiner Artikel auf diese Stadt (vgl. Auer / O zsváth 2009). Auch auf den Forschungsagenden der einheimischen, also bulgarischen Roma- / Z igeunerforschung steht die Stadt Lom nicht an letzter Stelle. So beschreibt beispielsweise Magdalena Slavkova am Beispiel von Lom und in Verbindung mit der Stellung und dem Wirken von Roma-Pastoren, wie eine priesterlich geleitete NGO das Prestigebild des Pastoren in der Gemeinschaft wandeln kann (vgl. Slavkova 2007: 231).

5  Bulgarien »Am Anfang haben wir nur mit Leuten aus meiner Gemeinschaft zusammengearbeitet und dann haben wir entschieden, das Büro aus der Gemeinschaft herauszunehmen. Wenn du in einer Gemeinschaft das Büro hast, sagt die andere Subgruppe sofort, dass das Büro nicht für sie da ist: ›Das ist eure Organisation!‹ […] Wir wollten das Problem umgehen und dann haben wir begonnen, das Team zu diversifizieren. Jetzt haben wir Leute aus verschiedenen Mahallas und wir haben ein voluntäres Netzwerk in den verschiedenen Gemeinschaften gebildet. Ich möchte zum Beispiel sagen, dass, bevor wir begonnen haben hier und so zu arbeiten, es wenige Heiratsverbindungen zwischen den Gemeinschaften gab. Weil es in einer Gemeinschaft eine spezielle Krankheit 29 gab. […] Früher gab es nur einige Heiratsverbindungen, heute gibt es sehr viel mehr.«

Dass Nikolaj Kirilov keinen Hehl daraus macht, mit den »informellen Führern« aller vier Nachbarschaften, also mit allen der drei Roma- / Zigeunergruppen in Lom, zu arbeiten, weckte mein Interesse an seiner Vertrauensstrategie. Denn bisher waren viele andere Akteure im Gegenteil davon überzeugt, dass die Jungen mit den Alten konkurrieren würden und sich die Gruppen stark voneinander abgrenzen. »Niki« hat sich verschiedene Eingänge (»Enterports«), wie er es selbst formulierte, in die jeweiligen Gemeinschaften geschaffen, um die je verschiedenen Gruppen zu erreichen: »Ich fand heraus, dass die Roma-Gruppen hier aus drei Subgruppen kommen. Mit verschiedenen Stilen in der Entwicklung, und ich denke, dass es gut war, mit allen Gruppen zusammenzuarbeiten und mit dieser Diversität zu spielen und dadurch zwischen ihnen die Balance zu halten.«

Jeder Mitarbeiter in seinem sehr facettenreichen Team hat seine ganz eigenen Netzwerke in die Herkunftsgemeinschaft hinein aufgebaut und erhalten, die in sich selbst »hochgradig diversifiziert« sind: »Denn eines der größten Probleme ist, dass die Nicht-Roma denken, dass die Roma-Gemeinschaft eine Masse ist. Und das ist sie ja offensichtlich nicht! Sogar innerhalb einer Subgruppe gibt [es] soziale Strata. Und diese sozialen Strata, also jede Ebene, hat ihre informellen Führer. Und da gibt es auch wechselseitige Beziehungen innerhalb dieser sozialen Strata. Wenn du deine Botschaft hineinbringen willst, solltest du die Kommunikationskanäle innerhalb der Gemeinschaft sehr, sehr gut kennen. […] Wenn du nur diese eine Gruppe erreichen willst, dann gehst du zu der Person, die die bekannteste ist, die zu den anderen in der Gruppe einen Zugang hat. Und du solltest sehr gut wissen, wie die Beziehungen in der Gruppe gestaltet sind. Diese Binnen-Beziehungen meine ich und wie die richtigen Leute zu erreichen sind. Weil manchmal, wenn du dahin kommst und Außenseiter bist und dann im selben Moment diese und auch jene mit derselben Botschaft erreichen willst, dann ist das nicht möglich! Daher können wir nicht sagen, wer der Führer ist und wer nicht.« 29 | Zum Phänomen der ›Lom-Krankheit‹ siehe Kapitel 4, Abschn. 4.3.2, Fn. 14.

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Hier deckt sich seine Meinung über die bereits dargestellte starke Diversität der verschiedenen Führer in den Roma- / Zigeunergruppen mit den Meinungen anderer Beispielakteure. Doch ging »Niki« weiter und tiefer auf die Frage nach dem »Wie« des »Erreichens der Gruppen mit einer Botschaft« ein: »Und die Gemeinschaft musst du überzeugen! Doch wie kannst du sie überzeugen? Du musst erst einmal demonstrieren, mehr oder weniger, dass du ihrem Verständnis nach die richtige Person bist. Dass du die Fähigkeit hast und auch der richtige Förderer bist. Aber wie? Du solltest vorher etwas gemacht haben, bereits in etwas aktiv sein, dass deine Nachbarn sagen können: ›Dieser Typ hat uns die letzten Male geholfen und unterstützt, beispielsweise unsere Straße zu reinigen. Er hat die Fähigkeit, das zu tun. Er ist die richtige Person! Deshalb werden wir ihn als stellvertretenden Bürgermeister wählen!‹ Das ist der normale Weg. Oder wie kannst du noch Unterstützung bekommen? Wenn ich den 40 Leuten helfe, einen Zugang zu Einkommen zu haben, also einen Job zu bekommen, dann werden diese 40 Leute mir vertrauen. Das ist normal, wenn du die Leute überzeugen willst. Und nicht, wenn man für die Stimmen bezahlt, wenn man losgeht und Stimmen kauft! Wir kaufen keine Stimmen!«

Jobangebote und Einkommensgenerierung, also Distribution statt Stimmenkauf und »vorher etwas gemacht haben«, einen Zugang, der Vertrauen schafft, sind im Laufe dieses Kapitels von einigen weiteren meiner Interviewpartner wiederholte Aspekte, die zu Respekt, Ansehen und Wählerstimmen führen können. Derartige vertrauensbildende Maßnahmen werden wir beispielsweise in der kommentierten Darlegung der Daten über und aus Shutka (Mazedonien) wiederfinden. Somit schafft das Distributionsversprechen, welches die legitimierenden Wähler für ihre Stimme entgegennehmen, Vertrauen. Dennoch scheint politische Parteiprogrammatik abseits jedweden bisherigen Konzepts der Akteure zu sein. Sind »die Roma« dafür nicht – oder noch nicht – gebildet genug? Die Anzahl der Bildungsprojekte spricht dagegen und obendrein die Zahl der Universitätsabsolventen, die sich »den Roma« zugehörig fühlen. Gehen diese nicht in ihre Gemeinschaften zurück, um dort auf lokaler Ebene für ein besseres Verständnis der Prozesse zu sorgen und den Ihren beizustehen? Zu dieser Erwartungshaltung, die vielen Gadže-Institutionen zuzuschreiben ist, fand Nikolaj Kirilov die folgenden starken Worte, wie sie bereits Rumyan Russinov ähnlich gebrauchte, als er von falschen Versprechen der Roma-Repräsentanten berichtete: »Als ich 1996 begonnen habe, bin ich zurückgekommen und habe gesagt: Wir sollten die Roma besser bilden! Und wenn sie sehr gut gebildet sind, dann werden sie ... […] Ich schaue nicht nur auf die Bildung in der Schule! Für mich heißt ›gute Bildung‹, dass du, wenn du deine Schule beendet hast, dich gut in den Arbeitsmarkt integrieren kannst. Und dann hast du auch Zugang zu Einkommen. Denn du kannst die achte Klasse abschließen und danach, wenn du einen sehr guten Job hast, der sehr gut bezahlt ist, heißt das für mich, dass du gebildet genug bist. Denn du kannst genauso gut auch sechs Universitätsabschlüsse haben und arbeitslos sein. Und das heißt für mich, dass du nicht korrekt gebildet bist.

5  Bulgarien Und was geschah zwischen 1994 und 1996 und bis zum heutigen Tage? Wir haben 15 Jahre sehr schwerer Arbeit hinter uns. Wir [in Lom] haben die kleinste Schulabbrecherrate in ganz Bulgarien, weniger als dreieinhalb Prozent. Wir haben eine Armee von Leuten, die [die] Highschool abgeschlossen haben. Wir haben mehr als 80 Studenten in den Universitäten und (seine Stimme wird laut) sie haben keine einzige Chance zu arbeiten! Das heißt, dass ich die Roma-Gemeinschaft angelogen habe! Weil ich ihnen 1996 versprochen habe, dass sie, wenn sie ihre Kinder in die Schule schicken, eine große Veränderung in ihrem Leben und einen besseren Lebensstandard haben werden. Und das ist nicht wahr!«

Das Phänomen der ›zwei Welten‹ kennt auch Nikolaj Kirilov sehr gut: Obwohl dieses Phänomen noch zu wenig anklang, soll Kirilov es hier stellvertretend für viele andere meiner Gesprächspartner wiedergeben und zeigen, wie er in sich zwei »Personen« erfährt – wobei die eine Person als Roma- / Zigeunerrepräsentant und -führer die Beziehung zur Gemeinschaft unterhält und die zweite Person die Beziehungen zu »den Institutionen«. Auf seine Eloquenz und das »offene Visier«, mit dem er auftritt, soll bereits hier hingewiesen werden. Beginnend mit dem Thema der Implementierung von Bildungsprojekten, das er in Verbindung mit seiner eigenen Person setzt, weiß er den Bogen über das »Zwei-Welten-Phänomen« hin zur Frage zu spannen, an welcher Stelle ihm die Wissenschaft von Nutzen (oder ein Zugang) sein könnte: »Wie kann ich in eine Romagemeinschaft gehen, eine sehr marginalisierte Gemeinschaft, und sagen: ›Ihr solltet eine bessere Bildung haben‹? Was sind dann die Instrumente, die ich nutzen sollte als Roma-Repräsentant und Roma-Führer? Wie kann ich die Leute davon überzeugen – die jungen –, dass sie eine gute Bildung haben sollten? Und das ist meine Person als Roma-Repräsentant und Roma-Führer! Aber das ist nur ein Teil, diese Beziehung mit meiner Gemeinschaft. Ein anderer Teil sind die Beziehungen zu den Institutionen. Und das ist eine andere Person! Wenn ich den Zugang als Instrument benutze, um die lokale Regierung zu ermahnen, dass sie etwas in Sachen Roma tun müssen. Was ist da mein Instrument, das ich benutzen kann, die Administration dazu zu bringen? Das einzige Instrument, das die Roma-Repräsentanten haben, ist etwas für die Roma zu tun und dadurch Wählerstimmen zu bekommen. Das ist zurzeit das einzige Interesse der Politiker. Und wenn die Gemeinschaft hinter mir steht, als Unterstützer und nicht nur als Wähler, dann kann ich die Politik der Regierung auch ändern. Aber wie kann mir in Bezug darauf ein Wissenschaftler helfen? Ich wüsste nicht wie!«

Was er mit »ein Wissenschaftler« meint, darüber ließ er sich bei einem späteren Treffen aus. Wir besprachen, wie und was in derlei Fällen die Wissenschaft an Zugängen bereitzustellen imstande wäre. Dabei begann er über die Diversität von Perspektiven zu sprechen: »Die Roma leben nicht wie eine Affenherde!« Und dennoch würde sich seiner Meinung nach dieses stereotype Bild ergeben, wenn man nur die wissenschaftlichen Veröffentlichungen anschauen würde. Der Grund dafür läge an der Perspektive der Wissenschaft. Denn, so Kirilov, »Gadže schließen

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aus, dass Roma so wie sie denken«. Die Roma »leben nicht mehr wie vor 500 Jahren im Klan, wandern und die Alten sitzen Pfeife schmauchend auf den Planwagen!« Dazu kämen solche bereits erwähnten falschen Erwartungen der GadžeInstitutionen, dass die Strategiepapiere, die von einigen wenigen Roma gemacht wurden, sich auf andere Gemeinschaften übertragen lassen würden. Damit ließ er mich deutlich spüren, dass sich die Wissenschaft seiner Meinung nach nicht am Wandel des Bildes der Roma beteiligen kann, da sie, die Wissenschaftler, »keine lokalen Kenntnisse« besitzen würden. Und wütend über meinen Versuch, Wissenschaft als denkflexible und lernfähige Instanz darzustellen, führte er mir sogar Gefahren vor Augen, die wissenschaftliche Veröffentlichungen in sich bergen würden, denn: »[D]as ist das Ding mit der Wahrnehmung: Denn die Leute mögen diese alte traditionelle Art, die Roma zu sehen, das gute alte schöne Bild: Das Bild, wo man die Roma in Caravans sieht und die alten Roma sitzen dort, mit der Pfeife im Mund, und die jungen Roma laufen neben den Pferden her. Das ist die Wahrnehmung über diese Dinge! Wir sind eine moderne Gesellschaft! Da gibt es keine Klans, in denen wir herumwandern. Das ist 500 Jahre früher gewesen! Und das Bild, dieses Konzept, wird immer wieder perpetuiert. Sogar in der wissenschaftlichen Welt! Wie viele Wissenschaftler haben mit mir darüber gesprochen? Ich weiß nicht. Sie suchen im Internet und sie zählen dann auf diese Daten dort. Die sind Wissenschaftler und sie bekommen dafür Staatsgelder. Und ich habe mich mit denen getroffen, weil ich ein sehr guter Freund bin mit dem Chef der Sofioter Universität, Klimontov. Und jetzt gehen sie [seine wissenschaftlichen Kollegen] sogar nach Rumänien und machen dort die Untersuchung, und später für den ganzen Balkan. Und dann werden sie ihr Buch präsentieren und wer wird einen Scheiß darauf geben? Wer wird denn dieses Buch schon lesen? Weißt du, wer dieses Buch lesen wird? Dieses Buch wird von den Bürokraten in Brüssel gelesen. Und das ist das Gefährlichste dabei! Und die entwickeln dann darauf ihre Strategien und Pläne.«

Ein paar Momente darauf wird er konkreter: »Die Programme sollten sehr speziell ausgearbeitet sein und auf der Basis der lokalen Gegebenheiten. Das ist auch ein Problem auf der internationalen Ebene, mit den sogenannten ›Roma-Leader‹ dort: Die schreiben Programme, die auf Vorstellungen beruhen, die nichts mit der Realität zu tun haben. Sie wollen ihr Bestes geben, aber sie können keine Ergebnisse erzielen, weil es einen Clash gibt zwischen der Realität und der Vorstellung. Das größte Problem ist dabei, dass beide Seiten recht haben. Sie machen und tun ihr Bestes, aber erreichen nichts. Und dann fragen sie: ›Warum passiert nichts?‹ Man kann nicht das eine Programm, das in Afrika Erfolg hatte, auf Roma übertragen!«

An dieser Stelle komme ich nochmals auf den anfänglich ausgeführten Begriff der Zugänge und des Vertrauens der Roma- / Zigeunergemeinschaften zu sprechen und darauf, wie Nikolaj Kirilov sie mit dem Einfluss auf diese Gemeinschaf-

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ten argumentativ verbindet. Wenn er zuvor noch davon sprach, wie durch »Aktionen« – die Zugänge zu Jobs, durchgesetzte Straßenreinigung in den Mahallas, Festivitäten, etc. – das Vertrauen der Gemeinschaftsmitglieder generiert werden kann, so sei der damit erreichte »Einfluss auf die Roma-Gruppen dennoch ungleich«, und er führt aus, dass die Leute, die zu einem Treffen kommen, um einem Vertreter zuzuhören, nur mit ein wenig »Bier, Kekse, Kebabže« bedient werden müssten. Denn Applaus ließe sich nur auf diese Weise generieren. Doch »die guten Leute« seien nicht darunter, denn diese seien, wie er auch, »unterwegs«. Zwar spenden »die Leute, die zu Treffen kommen, Applaus«, doch hätte der, der seine »Botschaft« in die Gemeinschaft tragen wollte, die Leute nicht erreicht: »Sie sitzen dort, applaudieren immer wenn du willst und schütteln deine Hände, du bist sehr glücklich und erzählst den anderen, dass diese Leute dich verstehen. Und dass ihr mit ihnen einen sehr guten Dialog habt. Aber da gibt es nichts! Nach zwei Stunden kommt ein anderer Repräsentant und der erzählt etwas Entgegengesetztes! Sie gehen in ein anderes Treffen, haben dort ihr Bier und alles und applaudieren wieder und bekommen die total entgegengesetzte Message.«

Wie er zu der Erwartung stehen würde, dass die gebildeten Gemeinschaftsmitglieder in ihre Gruppen zurückgehen sollten, um dort die Integrationsprogramme zu implementieren, wollte ich von ihm wissen. (Kirilov verärgert und gereizt) »Ich war kürzlich in Brüssel. Die Dame aus Brüssel fragte mich – vielleicht hast du schon von ihr gehört, sie ist ein sehr bedeutendes Mädchen, sie ist verantwortlich für das komplette Sozialbudget dort – sie fragte mich also: ›Niki, aber viele der Roma, die sehr gut gebildet sind, gehen nicht zurück!‹ Und ich habe gesagt: ›Aber Entschuldigung! Ihr wolltet das Geld für die Roma ausgeben, dass sie besser gebildet sind und natürlich aus der Roma-Gemeinschaft rausgehen, um sich besser in die Gesellschaft zu integrieren. Warum erwarten Sie, dass sie zurück ins Ghetto gehen sollen?‹ ›Du hast Recht!‹, hat sie gesagt. Weil sie nicht vermutet hat, dass das ein ... Nein! Weil alle, alle diese Politiker fragen die Roma-Repräsentanten, dass sie ihnen helfen. Also die Roma zu nehmen und sie in die moderne Gesellschaft zu integrieren. Warum sollten sie denn zurückgehen? Ich wüsste nicht warum! Und das ist meine Frage! Die Solidarität, okay. Aber ich sollte nicht nur zu den Roma solidarisch sein, sondern auch zu der bulgarischen Gesellschaft« (wirft den Kugelschreiber quer über den Bürotisch).«

Die Gründung von Roma-NGOs war nach Kirilovs Meinung die »einzige Chance, die Roma in den gesamten [Integrations-]Prozess mit einzubinden«. Doch der stückweise Rückzug der Finanziers dieser NGOs aus seinem Land birgt Risiken, die er wie folgt darlegte: »Wenn man dieses Segment [der Finanzierung der NGOs] nun schließt – denn wir befinden uns ja bereits im Prozess, die Finanzierung der Roma-NGOs in ganz Osteuropa zu verlieren

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Zigeunerkulturen im Wandel – dann kreiert doch bitte ein anderes Spiel! Gebt diesen Typen ein anderes Spielzeug in die Hand! Sie sollten mit etwas weiterspielen, denn das ist sehr menschlich! Womit soll ich denn spielen? Ich bin ein Spieler und ich will beim Spiel dabei sein und will dann auch mein Spiel! Weil wenn man diese Türen und Zugänge erschafft, dann [kann ich] keine Unterstützung in meine Gemeinschaft geben, weil die Administration mich nicht ernst nimmt, da ich keine Finanzierung habe. Ich bin dann einfach nicht mehr wichtig, ich verliere meine Unterstützer. Und die Leute von der Gemeinschaft werden sagen: ›Geh weg! Du bist nicht mehr für uns da!‹ Verstehst du? Die Leute, die von den islamischen Gruppen kommen, sagen dann: ›Komm her! Hier hast du 5000 Leva (ca. 2500 Euro) und du kannst damit dein Business beginnen. Dann wirst du zu einem anständigen Kerl!‹ Das ist aber normal und nicht nur in den Roma-Familien so! Das ist auch in deiner Straße so! Wenn du zu deinem Nachbarn gehst und gibst ihm 5000 Euro und sagst: ›Ich will dich unterstützen und du kannst dein eigenes Business aufbauen!‹ Verstehst du?«

Der Loyalitätswechsel seiner Unterstützer hin zu potenteren Finanziers von Kleinkrediten von muslimischer Seite nimmt auf der gesamten Balkanhalbinsel mit den sich minimierenden NGO-Finanzen aus den westlichen Ländern zu. Das phasing out der Gelder für Roma-NGOs lässt die Zahl der bisherigen loyalen Unterstützer schrumpfen, wenn sie durch jenen Zugang nicht mehr mit dem RomaRepräsentanten verschaltet sind. Dass sich islamische Gruppen durch solcherlei Stipendien oder Kleinkredite in arme Roma- / Zigeunergruppen »einkaufen«, belegt er anhand der recht großen Mahallas in Pazardžik. Dort würden islamische Finanziers »500 Leva jeder Familie« geben, um ein kleines Geschäft eröffnen zu können. In diesem Zusammenhang ist auch seine Äußerung zu religiösen Führern in Roma- / Zigeunergruppen zu verstehen, wenn er andeutet, dass ein Priester einen »Ausgleich der Interessengruppen ›arm und reich‹« übernehmen kann, da »alle in die Kirche gehen« und stimmt damit indirekt Michail Georgiev zu (s. o.). Dennoch sei Kirilovs Meinung nach, zumindest ein Stück weit, sein selbst ernannter »Soll-Wert« erreicht, denn er träumte einst davon, »dass Roma in wichtigen Positionen der Stadt sitzen«, und dieser Traum ist durch seine Person selbst »in Erfüllung gegangen«. Denn er selbst wolle etwas hinterlassen, gleichwohl er sich verschmitzt lächelnd als »schlechten Menschen« darstellte, als »den größten Dieb«, aber er habe »etwas erschaffen«. Zum Zeitpunkt meines zweiten Besuchs in Lom wurde über einen möglichen stellvertretenden Bürgermeister der Stadt verhandelt, welchen es eventuell aus der Gesamtheit der Roma- / Zigeunergruppen in Lom zu finden galt. Peter Goranov, der folgende und letzte Akteur dieses Kapitels, stand als Kandidat für jenes Amt ebenso zur Debatte wie auch der in der folgenden eingeschobenen Gesprächssequenz aufgrund seiner gewünschten Anonymisierung als »Anonym« bezeichnete junge Mann, der wie auch Goranov aus Mladenovo stammte, doch im Gegensatz zu diesem im Dienste der Roma-Lom-Foundation stand, in der Nikolaj Kirilov arbeitet.

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Nikolaj Kirilov: »Wir sprechen davon, die lokale Administration herauszufordern. Um Roma-Repräsentanten hier [im städtischen Parlament] zu haben. Wir haben aber noch nicht über die Personen diskutiert. Weil das auch zwei Paar Schuhe sind. Es ist das eine, die Position zu haben, und das andere ist der Spieler, der für diese Position geeignet ist. Aber das Problem ist, dass sie [die potentiellen Besetzer der Position] die Namen nicht hier diskutieren, sondern sie nehmen den Klatsch und Tratsch, um die Leute gegeneinander aufzuhetzen. Denn sie sagen: ›Du bist besser als die anderen! Du müsstest den und den doch besiegen können!‹ Und sie denken dann, dass dies das politische Spiel ist. Und das ist ja auch ein Teil des Trainings des Teams. Man sollte es ihnen gut erklären! Und manchmal denke ich, ich bin ihre Metro, fahre unter ihnen hindurch, um zu sehen, was sie gesch... haben und auch um zu sehen, wie viel Sch... um die Politiker herum ist. In der Politik generell ist es so, nicht nur in Bulgarien!«

Anonym: »Aber warum? Schau doch mal in die Nachrichten!«

Nikolaj Kirilov: »Nein, nein! Schau nicht darauf, was du im TV siehst oder im Kongress oder im Parlament. Du solltest sehen, was im Café geschieht, was in einigen Büros ist oder auf der Straße! Du solltest dorthin gehen, um zu wissen, was so vor sich geht. Du solltest dich darauf gut vorbereiten, was für eine Sch... da passiert!« (zu mir gewandt) »Weißt du, ein Problem der jungen Experten, die in die Administration gehen, ist genau das! Weil sie mit diesen Träumen von der Universität kommen. Sie sind sehr enthusiastisch, sie kommen und denken, dass sie die Welt verändern können. Und sie wollen diese Welt wirklich verändern. Und dann gehen sie dahin oder hierher, und die Maschine trimmt sie dann. Und nach zwei Wochen fragen sie mich dann: ›Kannst du mal mit dem und dem reden, weil der hat das und das!‹ […] Meine Philosophie ist: Es spielt keine Rolle, ob du Roma innerhalb der Institutionen hast oder nicht! Es ist für mich viel wichtiger, dass die Administration ausreichend vorbereitet ist, um mit den Roma-Angelegenheiten zu arbeiten. Das ist viel wichtiger als einen Roma zu haben, der in der Ecke sitzt und der dann die ganze Politik in Sachen Roma macht; der ganze Kontext über die Roma muß verstanden werden. Und das ist meine Logik. Aber wir kämpfen die ganze Zeit, um Roma in verschiedenen Positionen zu haben, naja! Wir haben jetzt die Chance, einen stellvertretenden Bürgermeister zu bekommen. Das ist das dritte Mal bereits. Ich war zweimal Vorsitzender des lokalen Parlaments hier. Das war das erste Mal, dass ein Roma einen solchen Sitz hatte. Und das Problem ist, dass sie ihre Stimme für diesen Sitz verkaufen oder ihre Stimme für den Sitz für etwas anderes. Und sie wollen dadurch ihre eigene Position stärken. Und zur selben Zeit, wenn man einen Konflikt hat, kann man keinen Kampf aufnehmen, um eine Position für Roma zu haben. Weil, sie werden sie benutzen. Weil sie denken, dass Pepi (Peter Goranov) der nächste Repräsentant sein wird in den nächsten Wahlen. Er ist die letzte Person, die ein

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Zigeunerkulturen im Wandel stellvertretender Bürgermeister wird. Entschuldigung, dass ich das sagen muss. Er ist einfach die letzte Person! Er wird genau so eine Bedeutung haben wie er (zeigt auf »Anonym«). Aber niemals effektiv für uns. Der Typ ist doch so alt wie ich! […] Sie fördern ihr persönliches wirtschaftliches Interesse und dann spielen sie damit ... (macht eine Bewegung, die Geld zwischen den Fingern zeigt). (Weiter zu »Anonym«): Das ist nicht sein Kampf, das ist was ich zu ihm sage. Er nimmt da einen Kampf auf, der nicht der seine ist!«

Anonym: (zu mir gewandt) »Weißt du, ich bin aus Mladenovo, woher auch Pepi ist.«

Nikolaj Kirilov: » ... meine Kritik ist nun, dass Pepi sich von einem der Gadže-Stadträte instrumentalisieren lässt. Weil er sich von Gadže-Typen instrumentalisieren lässt, benutzen sie ihn nur. Und das nur, um die Diskussion zu provozieren, und ich verstehe das nicht und mag es auch nicht. Denn wenn ich will, dass sie mich ins lokale Parlament wählen, um einen stellvertretenden Bürgermeister als Roma zu haben, dann ... ach, da gab es gar keinen politischen Kontext dahinter. Da gab es nur prinzipielle Fragen: Pepi hat nicht gewählt? Warum hat er nicht gewählt? Etc.«

Anonym: »Ja, deswegen [wegen der Entscheidung, wer als Rom ins städtische Parlament gehen soll] liegt da aber ja noch nichts auf dem Tisch, aber die Leute kommen bereits jetzt in mein Haus mit ihren Problemen. Und niemand von ihnen geht ins Parlament. Du solltest mal dahin gehen und die Leute über uns fragen! Da ist nichts!«

Nikolaj Kirilov: »Und ich habe ja gesagt, dass wir zum ersten Mal erfolglos waren, weil Pepi nicht gewählt hat. Weil er eine Marionette ist. Weil er den stellvertretenden Bürgermeister aus seiner Nachbarschaft haben möchte oder keinen. Das ist die dümmste Entschuldigung, die ich gehört habe. Das ist einfach ein dummes Argument. Weil, stell dir vor, wenn wir jetzt zum zweiten Mal wählen würden, dann würde ich nicht wählen, weil der Kandidat von Mladenovo sein könnte, und ich aus Stadiona bin. Das ist doch das allerdümmste Argument. Keine Logik steckt dahinter! Ich habe ihn nur als Beispiel genommen, denn es ist dieselbe dumme Entschuldigung, wenn ich sage: ›Nein! Ich will keinen Rom haben, weil der dann nur Programme für Mladenovo macht und nicht für Stadiona!‹ Das ist dieselbe Entschuldigung gewesen, als wir die 50 km lange Straße gebaut haben nach Stadiona hinein. Wir haben es in dieser Gemeinschaft [Stadiona] gemacht, weil diese Gemeinschaft einen Plan und Bauplan-Ausarbeitungen und alles hatte. Nicht, weil es Stadiona oder Mladenovo ist. Und eine andere dümmste Entschuldigung von Mitku Kanshev, der gesagt hat: ›Ich werde das

5  Bulgarien Projekt nicht unterstützen, weil ihr die Straße in Stadiona und nicht in Mladenovo baut! Und wir werden nichts für die Roma machen können, weil ihr die Straße baut.‹«

5.4.2 Peter Goranov Ebenso wie Nikolaj Kirilov hat Peter Goranov30 einen Sitz im städtischen Parlament Loms inne. Der Rešetari-Rom Goranov ist Anhänger der pentekostalen Gemeinde im Stadtviertel Mladenovo,31 einer Mahalla, die größtenteils Mitglieder der Rešetari-Roma beheimatet. Unter den Mitgliedern der Mahalla Stadiona gelten die Rešetari als ›Zuzumani‹, eine Zuschreibung, die die Mitglieder der

30 | Seine Person strahlte eher Zurückhaltung und Gedämpftheit aus, als ich ihm zum ersten Mal begegnete. Nach einem kurzen Plausch in einem Straßencafé im Zentrum der Stadt lud er meine Begleiter und mich ein, »seine« Mahalla Mladenovo zu besuchen und mit ihm dort durch die Straßen zu gehen. Es war bereits spät am Abend, als wir unsere Schritte von der Hauptstraße weg hinein nach Mladenovo lenkten. Wenige Lampen waren in den Häusern zu sehen, Menschen hinter Fernsehbildschirmen, deren Größe mich beeindruckte: Flachbildschirme, die in mir die Assoziation an Heimkinos weckten. Aus einigen f limmerten Musikvideos auf die dunkle Straße, auf anderen liefen Fußball oder Soaps, indische oder auch andere. »Pepi«, so Peter Goranovs Spitzname, blieb von Zeit zu Zeit stehen, sprach mit einigen Leuten, telefonierte, ging weiter und stellte mir mal den einen, mal den anderen vor: Eine Romni, die sich nach Geld erkundigte, eine andere, die nach einem Computer für ihren Sohn fragte. Ein Mann, dessen Alter schwer einzuschätzen war, wollte wissen, ob er morgen früh bei Pepi’s Frau, die »das beste Frühstück in Lom verkauft«, anschreiben lassen darf, um sich ein paar der gefüllten und schmackhaften riesigen Croissants holen zu können. Pepi klärte jedes Gespräch kurz ab und ging ohne Hast weiter neben mir her. Ein weiteres Mal traf ich auf Pepi, als er selbst im Laden stand und hinter der Theke herum-hantierte. Mein Gesicht erkannte er sogleich wieder, freute sich über die Überraschung und ließ sich mit mir auf einige Kaffees an einem der Tische im Laden nieder, während seine Frau mich über und über mit gefüllten Croissants und Joghurt versorgte und Pepi mich davon abhielt, meine Zeche selbst zu bezahlen. Im Raum des Cafés standen beim zweiten Besuch Computer und alte kleine Monitore, die er dort installieren wollte, um eine Internetmöglichkeit einzurichten, was keine zwei Monate später auch teilweise realisiert war. Aus Pepis Kindheit etwas zu erfahren, stellte sich als schwieriger heraus als gedacht. Anstatt mir darüber zu berichten, zog er es vor, die Situation und deren geschichtliche Zusammenhänge vor Ort, wie er sie verstand, zu erklären. Viele dieser Details sind bereits im Geschichtsteil dieser Arbeit mit eingef lossen. 31 | Diese pentekostale (pfingstliche) Gemeinde in Lom kann als eine der ältesten Pentekostalkirchgemeinden in Bulgarien überhaupt gelten (vgl. Slavkova 2007).

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Kalajdži alltagssprachlich benutzen, um den Rešetari einen unteren Rang in der Hierarchie der Roma- / Zigeunergruppen zuzuweisen (siehe Narratives Glossar). Peter Goranov war zum Untersuchungszeitpunkt verantwortlich für die Belange Religion, Kultur und ethnische Angelegenheiten im Stadtrat von Lom. Um seiner Herkunftsmahalla Mladenovo einen städtischen Zuschuss zukommen zu lassen, entschied sich Goranov bei der Abstimmung im Stadtrat, wie Kirilov auch verlauten ließ, gegen solcherlei Projektgelder, um damit einen wiederholten Einsatz der Mittel in der Mahalla Stadiona zu verhindern und stimmte gemeinsam mit einem der bulgarischen Abgeordneten generell gegen solche Projekte. Ein davor bereits implementiertes Bauprojekt, das viele Kilometer asphaltierte Straße in Stadiona-Mahalla verwirklichte, wurde von Kirilov oben mit logistischen Argumenten verteidigt. Ähnlich wie Stefan Kolev bediente sich auch Goranov religiöser Argumente, um seinen Zugang zur Imageaufwertung seiner Herkunftsgruppe zu bedienen. Und so mag es nicht verwundern, dass auch er sich für eine moralische Verbesserung seiner Herkunftsgemeinschaft einsetzt, die durch die evangelikale Religion in die Gemeinschaft hineingetragen wurde. Gleichzeitig seien Werte wie Bildung, Fleiß, Ehrlichkeit in die Gemeinschaft damit indirekt implementiert worden und der »Respekt der Leute untereinander« sei »durch diese evangelikale Religion« gewachsen, so Goranov. Im Gegensatz zu Nikolaj Kirilov, aus dessen Argumentation deutlich zu entnehmen war, dass er keiner Konfrontation mit Institutionen aus dem Weg gehen will, suchte Pepi eher den medialen Weg der Kommunikation und setzte auf Zusammenarbeit mit diesen Behörden. »Es gäbe viele andere Dinge zu tun«, und daher würde er »als Bürgermeister die Roma-Viertel aus dem Auge verlieren«, gestand er offen ein. Daher sei es »besser, Kader in den Institutionen zu haben, die mit der Verwaltung zusammenarbeiten, als einen Roma-Bürgermeister«. So sei die Verantwortung der Roma im städtischen Parlament eher die, Veränderungen auch in die äußeren Viertel zu tragen. Auch Nikolaj Kirilov fand ähnliche Argumente, wenn er sagte, dass es »nicht wichtig« sei, Roma im Parlament zu haben, sondern es primär darum gehen sollte, die »Aufklärung der Politiker über Roma-Angelegenheiten« voranzutreiben. Und infolgedessen sei es an den »politischen Mainstreamparteien, Roma mit einzubinden«, denn sonst würden sich ethnische Roma-Parteien bilden. Damit folgt auch er u. a. dem Standpunkt Rumyan Russinovs (s. Abschn. 5.2.1).

5.5 K urzresümee In den Diskursen und Argumenten der Akteure sind klare Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Auffassungen zu finden, dass Reichtum einen hinlänglichen, aber nicht ausreichenden Zugang zu Prestige (bzw. Imagegewinn aufgrund

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von Cleverness) darstellt, und dass sich die Unterschiedlichkeit der verschiedenen Roma- / Zigeunerführer immer nur begrenzt veranschaulichen lässt. Die Erwartung vieler Institutionen »der Gadže«, auf einen bzw. den modellhaften Roma- / Zigeunervertreter der Gruppe oder Gemeinschaft zurückgreifen zu können, wird daher unerfüllbar bleiben. Je nach Gegebenheit, persönlicher Position und Vorgeschichte der bisher betrachteten Akteure werden verschiedene Zugänge (Geld, Image der Familie, Moral durch Religion, Kontakte, Bildung, Desegregation etc.) als vorbildliche und zu verwirklichende Werte angesehen. Traditionsbewusstsein und die Verwirklichung eher traditioneller Werte (Größe der Familie, Romanes als Sprache etc.) gehörten laut bisherigen Daten scheinbar an keine vordergründige Stelle einer »Soll-Wert-Skala«, obschon sich Toma Nikolaeff explizit darauf berief und auch die Andeutungen Nounevs in eine ähnliche Richtung wiesen. Hier sollte klargeworden sein, dass es sich bei einer Diskussion über bulgarische »Roma-Eliten«, und wenn es darum geht, wie Programme, Roma-Vertreter oder staatliche Institutionen ihren Einfluss auf die verschiedenen Gruppen geltend machen, immer nur um eine punktuelle Betrachtung handeln kann, dass eine Diskussion auf Metaebene durch Verallgemeinerungen und unter Ausschluss lokaler Gegebenheiten hingegen zum Scheitern verurteilt ist. »Man muss die einzelnen Gruppen sehr gut kennen«, ließ nicht nur Nikolaj Kirilov verlauten und damit auch, so will ich hier einbringen, die einzelnen Zugänge zu ihnen. Diese einzelnen Zugänge werde ich im letzten Teil der Arbeit thematisch erfassen und analytisch diskutierend umreißen. Zunächst sollen jedoch im nächsten Kapitel die mazedonischen Akteure vorgestellt werden.

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6 Mazedonien V orbemerkungen So wie im vorherigen Kapitel die Meinungen und Statements der bulgarischen Akteure themenspezifisch auf bereitet dargelegt wurden, reihe ich hier die der mazedonischen Akteure in gleicher Ordnung aneinander. Die Reflexionen über ihre Herkunft und ihren familiären Hintergrund werden sie jeweils zu Beginn erzählen. Je nach Akteur und Prägnanz ihrer Meinungen stehen dann, wie auch im letzten Kapitel, u. a. die Themen zu Führerschaften in den Siedlungen oder Gruppen zur Debatte. Nicht jeder Akteur hatte zu jedem Thema gleich viel oder gleich Interessantes zu berichten. Daher wird auch in dieser Darstellung keine eindeutige Stringenz eingehalten werden können. Um die analytische Diskussion über Werte, Prestige, Zugänge usw. im nächsten Kapitel mit weiterem Material zu bestücken, stehen auch hier jene Sequenzen im Vordergrund, anhand derer sich die damit im Zusammenhang stehenden Begrifflichkeiten abbilden lassen können. Zwar ist Skopje der Sitz der meisten staatlichen und überstaatlichen Institutionen in Mazedonien, wie es auch Sofia im Falle Bulgariens ist, doch bezogen sich die von mir besuchten Akteure in Mazedonien während ihrer Ausführungen immer wieder auf das Beispiel Shutka. Teilweise fanden ihre Aktionen auch vollends vor dem Hintergrund der Gegebenheiten Shutkas statt, obwohl sie vielleicht nicht einmal von dort stammten oder in anderen Orten bzw. Organisationen tätig waren. Doch erschien es mir geradezu auffällig, dass sie anhand der dortigen Bedingungen und Strukturen ihre Tätigkeiten legitimierten, ihre Perspektiven verorteten oder ihre Gedankengänge immer wieder auf Shutka hinausführten. Die meisten aller in Skopje tätigen Akteure waren durchaus mit den Verhältnissen dort vertraut und mussten sich bewusst darüber sein, dass Shutka als ein Ausnahmefall gesehen werden muss! Doch möglicherweise wurde dies zum Zeitpunkt einiger meiner Besuche, die vor dem Hintergrund der Wahlen in Mazedonien allgemein und dem Wahlausgang in Shutka im Besonderen stattfanden, von den Akteuren in den Hintergrund gedrängt.

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6.1 S kopje -S tadt : D ie junge G ener ation (A je t O smanovski , A zdrijan M emedov, E lvis F a zlioski , R amadan B er at) 6.1.1 »Wenn du reich bist, bist du auch in der Politik.« Ajet Osmanovski, der Zweitjüngste in der Akteursliste überhaupt, war immer adrett gekleidet – schwarzes Jackett, Jeans und manchmal einen schwarzen Binder vor dem oft seidig schillernden Hemd – und saß während seiner Arbeitszeit zumeist in einem Raum im Erdgeschoss des recht versteckten Hauses der Organisation Romaversitas 1 in Skopje. Die Räumlichkeiten bestehen aus einer umfunktionierten Dreieinhalbraumwohnung, die in Büro-, Sitzungs- bzw. Schulungsräume aufgeteilt ist. Die NGO gilt als Sprungbrett und Anlaufstelle unter den Aktivisten (zumindest der Stadt Skopje) und unter vielen der Roma / Zigeuner, die ein Studium begonnen oder bereits hinter sich haben – so auch im Falle der drei Akteure Azdrijan Memedov, Ajet Osmanovski (Skopje) oder Daniel Petrovski (Shutka). Als Einstiegsplattform bietet Romaversitas im Bereich des Roma- / Zigeuneraktivismus’ beispielsweise mögliche Anknüpfungspunkte für die persönliche Netzwerkerweiterung und -stabilisierung. Im Arbeitsalltag umgeben »Ajo« – so sein Spitzname – Telefonate, Besprechungen, Antragsstellungen und Begutachtungen von Anträgen, sowie die wohl zeitaufwendigste Tätigkeit der persönlichen Betreuung der Roma- / Zigeunerstudenten. Ajos englische Ausdrucksweise schien geübt, flüssig und war ohne Umstände verständlich. Nur manchmal schwenkte er ins Mazedonische ab, um etwas zu erklären. Oder er benutzte die mazedonische Sprache, wenn er meiner Begleitung etwas erläutern musste. Ajos neu angezündete Zigarette lag oft auf dem Rand des Aschenbechers und qualmte vor sich hin. Nur manchmal zog er daran, wenn er in seiner Erinnerung an Vergangenes schwelgte, und hielt sie dann lange in seinen vom Arbeitsstress zitternden Händen. »Und der Status meiner Eltern war nicht so wie der der anderen [Roma], dass sie auf der Straße leben, dass sie arm sind, dass sie betteln usw. Wir waren und sind eine normale Familie. […] Meine Mutter hat auch gearbeitet. Meine Mutter war Lehrerin für die erste bis vierte Klasse an einer Primary-School. Aber jetzt ist sie Rentnerin. Mein Vater hat seine Secondary-Bildung abgeschlossen und er hat sein eigenes Business. […] Er arbeitet mit (überlegt) Export /  I mport von Textilien.«

Der in eine Kovači-Familie Geborene, wie er selbst über sich sagte, hat sich kurz vor meinem ersten Besuch mit einer Romni aus der Siedlung Topaana (»Mahalla«)

1 | S. Abb. 20, S. 260.

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verehelicht. Auf die Verbindung zwischen ihm (als Kovači) und ihr (als Džambasi) angesprochen, erklärte er Folgendes: »Die Kovači und die Džambasi mögen einander nicht sehr. Es gibt da sehr viele Stereotypen zwischen den Kovači und den Džambasi 2 […] Aber es ist interessant, wenn du dir die Hochzeitstraditionen anschaust. Die Kovači nehmen oft Džambasi. […] Ich weiß es nicht, wo der Grund dafür zu suchen ist. Vielleicht der Reichtum, aber in meinem Fall war es das nicht. Aber ich denke, dass es vielleicht der Grund ist, etwas zu schützen und vielleicht eine bessere Kommunikation zwischen den Familien zu haben.«

Ajet Osmanovski stellte in seinen ersten Reflexionen über Roma- / Zigeunerführer primär seine Bekanntschaften (ja sogar Freundschaften) in den Vordergrund, die er mit »allen politischen leadern dort [in Shutka]« hätte: »Amdi Bajram, Neždet Mustafa, Bajram Berat usw.« Doch bezweifelt er, dass »die Roma leaders, […] leader im korrekten Sinne« seien, denn: »[D]ie sind nicht gut gebildet! Amdi Bajram nicht, Neždet Mustafa hat sich sein Diplom gekauft, Elvis [Bajram] hat Primary-School, Kuzo [Duduš Kurto] ist auch nicht hoch gebildet. Die Leute in Shutka sehen leader als jemanden, der gebildet ist, der etwas vorher [erreicht] hat und nicht nur reich ist! […] Wie es zurzeit der Fall ist in Shutka? Kuzo ist reich, Amdi Bajram ist reich und die sehen es nicht, dass wenn du reich bist, du ›etwas‹ in der Gemeinschaft sein musst! Bürgermeister zum Beispiel. Vorher war Erduan Iseni der Bürgermeister [von Shutka] und die Leute haben gesagt: ›Oh, er ist gebildet!‹ Und die Leute haben an ihn geglaubt. Jetzt wird es sehr schwer in Shutka, weil keiner gute Bildung hat.«

Im Stadtzentrum Skopjes aufgewachsen und aus einer recht moderaten, oder sogar modernen Familie stammend, setzt Ajet Osmanovski auf den Zugang der Bildung, der ihm als einem noch sehr jungen Akteur vorerst als Einziger zur Verfügung steht. Daher verwies er ausschließlich auf den Bildungshintergrund, um seine Meinung über die »leader« der Roma- / Zigeunergemeinschaften anhand von Shutka darzulegen. Ob ihm zuzustimmen ist, wenn er sagt, dass »es sehr schwer in Shutka« werden wird, wenn keiner der dortigen Roma- / Zigeunerführer oder -vertreter eine akademische Bildung hat, soll außerhalb der Fragestellungen bleiben. Ajet Osmanovski kann auf viele unterschiedliche Lebensstationen verweisen, die ihm im Bereich der Bildungsarbeit, der Mediation und auch der Arbeit für weitaus ältere und erfahrenere Akteure dieser Studie reichhaltige Erfahrungen eingebracht haben. So resümierte er, wenngleich mit einem eher düsteren Blick 2 | Kommentar meines Begleiters Sabir Agush: »Es ist wegen der Konkurrenz. Weil, es war sehr bekannt in der Geschichte, dass die Kovači oder die Džambasi die reichen Roma [in Shutka und Umgebung] sind und dadurch gibt es Interessenkonf likte. Ja, es geht darum, den Familienreichtum zu steigern. Das sind politische Hochzeiten, sozusagen.«

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auf Roma- / Zigeunerführer, was bereits von anderen Akteuren bestätigt wurde und auch weiterhin wiederholt wird: Der Reichtum einer Person ist ein ausschlaggebender Faktor für das Ansehen in der Gemeinschaft vieler Roma / Zigeuner. Denn dieser »schütze vor Diebstahl«. Jedenfalls würden die meisten Leute in Shutka es so sehen, glaubte Ajet Osmanovski. Daher würden sie auch immer nur Reiche als ihre Vertreter oder Führer wählen, denn diese würden in den Augen der Bewohner »nicht stehlen«. Hier schwingt die Erwartung und die Hoffnung mit, dass Reiche ihre Gemeinschaft an ihrem Akkumulat partizipieren lassen. Und diese Partizipationserwartung daran oder an anderen Zugängen scheint auf der Seite der Wähler mit steigendem Reichtum der betreffenden Person zu wachsen. Dass jedoch nicht alle dieser Meinung sind, werden wir beispielsweise von Daniel Petrovski erfahren. Die derzeitige Einstellung »der Leute in Shutka« sei, wie Ajet Osmanovski sagte, eine falsche, womit er implizit den Unterschied ausdrückt, den er zwischen der jetzigen Situation und dem zu verwirklichenden Idealzustand sieht, denn er führte aus, dass Bildung als wichtiges Kriterium mit in die Auswahl der führenden Roma / Zigeuner einbezogen werden sollte. Er persönlich kann diesen Wert für sich als teilweise verwirklicht ansehen und stellt einzig ihn – wie gesagt, in Ermangelung eines weiteren Zugangs – als noch nicht vollständig verwirklichten Wert in den Roma- / Zigeunergemeinschaften dar. Dabei bestätigte er, dass aus der Perspektive der Gemeinschaftsmitglieder heraus irrelevant sei, auf welchem Wege der Reichtum letztlich entstand. Der bereits durch Toni Tashev aufgeführte Begriff der Cleverness findet hier zum wiederholten Male Bestätigung: Ein (durch Cleverness) zum Erfolg geführtes Business trägt zur Aufwertung des Prestiges (Images, Ansehens) der Gruppe bzw. Familie bei, wenn es als solches sichtbar gemacht wird. Aber auch die Begriffe Erfolg, virtú und fortuna ließen sich hieraus deutlich ablesen. Beim Thema der Kontakte als Zugänge zu Ansehen oder Macht kam Ajet Osmanovski mit kritischen Anmerkungen auf den neuen Bürgermeister Elvis Bajram zu sprechen: Dieser hätte erstens keine Bildung und zweitens keine wichtigen Kontakte »zu den Intellektuellen«, denn die würden »auch keinen Kontakt mit ihm haben wollen«. Warum dem scheinbar so ist, wird anhand des Abschnitts über Shutka (Abschn. 6.4) erläutert werden. Obwohl sich Ajet Osmanovski kritisch zum Thema des Reichtums äußert und auch zur Perspektive der Wähler auf die Reichen, muss er dennoch eingestehen, dass Reichtum definitiv als Zugangsvoraussetzung gilt, um in die Politik zu kommen: »[W]enn du reich bist, bist du auch in der Politik! Du kannst auch der Bürgermeister oder im Gemeinderat sein. Du bist dann einfach überall, wenn du Geld hast. Du wirst an den Wahlen teilnehmen, du wirst Kampagnen haben.«

Reichtum, Bildung und Kontakte können als Zugänge angesehen werden, die Roma- / Zigeunerführer nach der Meinung Ajet Osmanovskis auszeichnen bzw. die sie parat haben sollten, um als Roma- / Zigeunerführer anerkannt zu werden.

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Damit setzt er die Reihe derjenigen Akteure fort, in der auch die meisten »meiner« Protagonisten zu finden sind, da solche Aspekte bei nahezu allen weiteren besonders betont wurden.

6.1.2 Vermittler zwischen den Instanzen in einer Roma- / Zigeunergemeinschaft: Strukturierungen Azdrijan Memedovs3 Studienerfahrungen im Ausland (Deutschland und Österreich) bevorteilten ihn auf der edukativen Ebene. Auf der Expertisenebene allerdings haben andere, weitaus stärker mit der lokalen Basis verbundene Akteure, ein größeres Potential vorzuweisen. Interessant erschienen mir seine Darstellungen, wie sich seiner Meinung nach die unterschiedlichen Führer und Vertreter zueinander verorten oder miteinander verbinden lassen würden, wie auch die, ob sich ein Verhältnis zwischen der Position und dem persönlichen Kontakt zur Herkunftsgruppe der Führer und Vertreter zeigen würde, und ob bzw. wie sich die generationsübergreifende Arbeit in den ihm bekannten Roma-Parteien darstellen lassen kann. Prinzipiell, so Azdrijan Memedov, unterscheiden sich junge und alte Führer voneinander und es sei auch »Romabrauch«, dass jede Familie ihren eigenen Führer hat. Damit gilt auch für ihn die Führerschaft innerhalb der Roma- / Zigeunergruppen von vornherein als divers und komplex. Er unterscheidet dabei zwischen den »Familienführern«, deren Alter Respekt und Prestige verschaffe und den »Führern der Gemeinschaft«, den lokalen Repräsentanten. Letztere bezeichnete er als die »Rom Baro« oder die »Sherudno«. Des Weiteren nannte er die Kategorie der »politischen Führer«. Allesamt stünden seiner Meinung nach im folgenden Verhältnis zueinander: Die lokalen Familienführer seien Repräsentanten, die Macht und Status hätten, zwischen den Familien und den politischen Führern zu vermitteln. Die religiösen Führer wiederum seien die Scharniere der Familienführer und der politischen Führer. Die NGOs stellte er als Vermittler dar, die zwischen die Familienführer und die lokalen Repräsentanten geschaltet sind. Dabei ist der Fakt mit einzubeziehen, dass das Bild durch die bereits 3 | Azdrijan Memedovs häufige Anwesenheit bei Romaversitas, wo er zur damaligen Zeit arbeitete, gab mir Gelegenheiten, auch ihm meine Fragen zu stellen. Azdrijan Memedov war hoch gewachsen, schlank, mit hellem Teint und einem sehr ausgeprägten mitteleuropäischen Gesicht, aus dem sein heller und wacher Blick schaute. Zum Untersuchungszeitpunkt war er Projektassistent bei Romaversitas und hatte seine Promotion im Bereich der »Menschenrechte oder aber der Politik« bereits angemeldet. Sein Englisch war hervorragend, seine Antworten sortiert und strukturiert: ein Mann von Bildung. Nicht, dass andere, die ich als »meine« Informanten bezeichne, ihm in etwas nachstehen würden, doch fiel es lediglich einigen unter ihnen derart leicht, sich auch auf abstrakter bzw. theoretischer Ebene über Roma-Eliten, Repräsentanz und all die anderen Themen zu unterhalten.

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erwähnten Personalunionen eher zu dem gerinnt, was auch Elvis Fazlioski mit einfachen Worten formulierte: Dass es an einer klaren Struktur mangeln würde, die das Gesamtbild zum Ausdruck bringen könnte. Daher bergen die Ausführungen Azdrijan Memedovs den eingangs bereits dargelegten Sachverhalt in sich, dass Akteure allgemein, ihre Aktionsebenen und die in Organisationen gebundenen Aktionen hier nicht klar voneinander zu trennen sind, wenn es gilt, Gesamtzusammenhänge darzustellen. So monolithisch sich Parteien also darstellen lassen könnten, wenn sie ohnehin nur aus einer Person bestehen (s. u.), so sind NGOs zwar als Organisationen von Akteuren zu sehen, doch deren Beschaffenheit ist um einiges komplexer und nicht von vornherein auf eine Person zurückzuführen, die dann »die NGO sei«. Dies ließe sich allerdings am Beispiel Toma Nikolaeff (Bulgarien) und »seiner« NGO »Defacto« genau entgegengesetzt darstellen und damit widerlegen. In Anbetracht der mazedonischen Wahlen kam auch Azdrijan Memedov auf den Bürgermeister Shutkas zu sprechen. Ihn gelte es seiner Meinung nach daran zu messen, wie »die Legalisierung der Wohnungen in Shutka erreicht wird«. Dieselbe Problematik führte im Übrigen auch Ajet Osmanovski an. Und auch Memedov bestätigte, dass die neu gewählten Vertreter »die Leute« vor Ort »vergessen« würden, sobald sie ins Amt gekommen sind, und führte Amdi Bajram, den Vater des derzeitigen Bürgermeisters von Shutka, Elvis Bajram, als Beispiel an: »Und je höher die Position eines Rom ist, um so mehr scheint er seine eigenen Leute zu vergessen! […] Weil, ... Amdi [Bajram] ist mein Verwandter, lass uns da anfangen. Amdi hat den Leuten bereits bevor er der Führer der politischen Partei war geholfen; mit finanziellen Mitteln, mit sozialen Mitteln etc. […] [A]ber er war ja in irgendeiner Art und Weise mehr ein Geschäftsmann, als ein politischer Parteiführer. Jetzt hat er seine eigenen finanziellen Nöte beseitigt und die Leute vergessen. Er hat die Leute vergessen, die ihren Repräsentanten ins Parlament gewählt haben!«

Dennoch, so resümiert Azdrijan Memedov, seien die alten Parteiführer effektiver gewesen als die jungen es sind. Zwar gäbe es in den Parteien der Roma / Zigeuner junge Mitglieder, doch würden diese nur an die Partei angekoppelt, nicht aber in deren Arbeit einbezogen sein. Folglich nennt er diese Parteien »Parteien vom Sultan-Typ« und bringt die Partei PCER 4 als Beispiel an, die heute »nur noch Samka Ibraimoski« (vgl. Abschn. 6.2, S. 187) sei: 4 | Zur Entstehungsgeschichte der politischen Roma- /  Z igeunerparteien Mazedoniens siehe Kapitel 4 und Kapitel 7. Für meine Darstellungen sind vorrangig folgende Parteien, ihre Parteivorsitzenden und Kandidaten u. a. fürs Bürgermeisteramt Shutkas im Jahr 2009 relevant: Bajram Berat (PIR = Partija ca Integratija na Romite), die aus den beiden koalierenden Parteien von Samka Ibraimoski (PCER = Partija ca completen Emanzipatija na Romite, dessen Gründer und erster Vorsitzender Abdi Faik war) und der Partei von

6  Mazedonien »In den frühen 1990er Jahren, als die Roma Abdi Faik gewählt haben und seine Partei PCER, haben sie viel effizienter als jetzt gearbeitet. Weil es damals nur eine Partei gab und die meisten der Roma waren in dieser Partei. Und es gab einfach keine Opposition. […] PCER war damals viel größer. Damals hatte es einen jüngeren Teil, also ich meine der jüngere Teil der Partei war erst drei oder vier Jahre alt. Und heute ist PCER nur noch Samka Ibraimoski. Nur noch er!«

6.1.3 Traditionen: Hemmnis und Verpflichtung (Elvis Fazlioski, Ramadan Berat) Auch Elvis Fazlioski5, der ebenso bei der NGO Romaversitas tätig ist und von dieser Organisation finanzielle Unterstützung seines Studiums erfahren hat, schloss sich der Meinung Azdrijan Memedovs an: Dass die Führer der Parteien von Roma / Zigeunern wie »Pater« seien und deren Partei »die Familie«, also ein »Sultan-Parteityp« vorherrsche. Ebenso sieht seine Perspektive auf die jungen Mitglieder aus, die zwar mit Bildung aufwarten könnten, doch in den Parteien selbst unbeachtet blieben. Hinzu kämen zwei erschwerende Punkte, denn zum einen – wie eben anhand von Azdrijan Memedovs Ausführungen angemerkt – gäbe es keine klare Struktur, die die Situation komplett erfassen könnte. Zum anderen wären die Roma- / Zigeunerführer in Shutka überzeugt davon, dass sie die Führer aller Roma / Zigeuner seien. Zudem bestätigte er, dass sowohl Amdi Bajram seine Leute vergessen würde, nachdem sie ihn gewählt haben, als auch dass die Roma-Führer nur dann mit ihren Leuten kommunizieren würden, wenn Wahlen anstünden. Amdi Bajram (CRM = Cojus na Romite ot Makedonija) hervorging. Die Koalition aus Shaban Salius DSR (Demokratski Sili na Romaite) und Neždet Mustafas OPE (Obidinen Partija ca Emanzipatija) ging mit ihrem Bürgermeisterkandidaten Duduš Kurto »Kuzo« in die Wahlen. Der Kandidat der anderen Koalitionsseite PIR, Elvis Bajram, trat schließlich als dritter Bürgermeister Shutkas seit der Schaffung des Bürgermeisteramtes im Jahr 1996, und also nach der jeweils zwei Legislaturperioden langen Inhabe dieses Amtes durch Neždet Mustafa und Erduan Iseni, seine Tätigkeit an. Vgl. u. a. CIA World Factbook 2006 sowie online: http://www.theodora.com/ wf bcurrent/macedonia/macedonia_government.html, oder http://www.exxun.com/ Macedonia/d_gv.html, vom 22.09.2009. 5 | Elvis Fazlioski, der jüngste der hier versammelten und zur Analyse gebrachten Akteure, kann auf keinen unbedeutenden Lebenslauf blicken. Aus seinen Erfahrungen, die er innerhalb der institutionellen Strukturen sehr früh sammeln konnte, und seinem klaren analytischen Blick aus der Perspektive eines lokalen Außenseiters konnte ich unschwer erkennen, welche Zugänge und Kontakte er bereits besaß. Als Absolvent des Jurastudiums, als Mitarbeiter beim NDI und Assistent bei Amdi Bajram, mangelte es ihm nicht an persönlichen Einblicken in den Bereich des hier als »Roma-Elite« deklarierten Personenkreises in und um Shutka herum.

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Aufgrund seines Sozialisationshintergrundes proklamiert Elvis Fazlioski für sich, einen »anderen kulturellen Zugang« zu besitzen, der ihn von den anderen Roma / Zigeunern unterscheiden würde: denn er ist sowohl mit Gadže als auch mit Albanern aufgewachsen. Den kulturellen Traditionen der Roma / Zigeuner steht er äußerst skeptisch gegenüber, denn diese müsse man »wie Knochenmark« entfernen, obwohl er seine eigene Hochzeit nach eben diesen gefeiert hätte: Seine Frau sei zu jenem Zeitpunkt »noch jungfräulich gewesen«, betonte er mir gegenüber. Es sei hier erwähnt, dass auch er sich, wie viele der bereits vorgestellten Akteure, in einem ambivalenten Verhältnis zu eben jenen Traditionen »der Roma« befindet, wenn er diese gleichzeitig versucht als ethnische Distinktion im Vordergrund zu halten, um seine eigene Legitimation, als Rom für Roma zu arbeiten, nicht zu untergraben. Andererseits sind er und viele weitere Akteure gefordert, diesen Traditionen teilweise eine ganz persönliche Absage erteilen zu müssen. Denn würden diese nicht selektiv negiert werden, würden Integrations- und Modernisierungskonzepte quer zu den zu bewahrenden Traditionen liegen und, wie im Fall Elvis Fazlioski oder Ajet Osmanovski, zur gelebten Widersprüchlichkeit führen, zur Alltags- und Wirkungsambivalenz, welcher auch der nächste Akteur ausgesetzt war und ist. Ramadan Berat 6, ein überaus hilfsbereiter und zuvorkommender Mitarbeiter der OSZE Mazedoniens, steht meines Erachtens gleich mehrfach unter einem Damoklesschwert: Zum einen ist er in einer transnationalen Institution tätig. Zum anderen sieht er sich den Erwartungshaltungen seiner Familienmitglieder gegenüber, von denen hier noch zwei weitere zu Wort- und Meinungsäußerungen kommen werden: sein kleiner Bruder Ali Berat und Bajram Berat, ein Bruder seines Vaters. 6 | Ramadan Berat holte mich und meine Begleitung am Fahrstuhl ab, aus dem wir – nach Abgabe unserer Personaldokumente am Empfangstresen im Foyer des großen Gebäudes der OSZE in Skopje – auf einem der oberen Stockwerke angekommen ausstiegen. Seine Magisterstudien in Deutschland und seine Erfahrungen in anderen Ländern machen Ramadan Berat einerseits zu einem virtuosen Mehrsprachler und andererseits zu einer geradezu sprudelnden Quelle für meine Studie. Selbst aus einer renommierten Familie stammend, ließen ihm seine Fähigkeiten und persönlichen Neigungen kaum eine andere Wahl, als einen Posten außerhalb seiner Verwandtschaft anzunehmen. Während der Bearbeitung und Erstellung der Dissertation erwies sich Ramadan nicht nur als äußerst neugieriger, sondern auch als kritischer Leser meiner Analysen und Darstellungen, sodass er zu einem weiteren Korrektiv der Daten und Betrachtungen dieser Studie wurde. Den permanenten Kontakt seit dem ersten Treffen in Skopje nutzte ich, um mich über Neuigkeiten im Feld zu informieren und gleichzeitig um weitere Daten zu erhaschen, von denen mir viele erst im Nachhinein als wichtig erschienen. Alle Gespräche mit ihm fanden entweder auf Deutsch oder auf Englisch statt.

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Ramadan Berat: »Ich bin den Leuten begegnet, die hier die Politik machen. Die haben mich gefragt: ›Ah, Sie kommen aus der Berat-Familie und sind studiert? Wenn Sie in meine Partei kommen, da können Sie das und das werden!‹ Ich aber wollte in keine Partei eintreten. Ich bin nicht ihre Marionette! Ich habe einen Magistertitel, aber ich bin kein Stimmenvehikel! Wenn man aus einer bekannten Familie kommt und einen Titel hat und die Personen in der Familie haben in den Roma-Gemeinschaften gute Positionen, dann bringt man Stimmen.«

Der Zugang über (familiäre) wichtige Kontakte war aus der letzten Sequenz deutlich herauszulesen und bedarf keines weiteren Kommentars. »Als Rom mit Roma zu arbeiten« sei schwer, gab Ramadan Berat ähnlich offen zu, wie auch einige der bisher vorgestellten bulgarischen Akteure, denn es herrsche auch Ramadan Berats Meinung nach »kein Vertrauen« und »keine Verlässlichkeiten«. Zudem seien sie »untereinander zerstritten«. Als einer, der nicht aus der Gemeinschaft käme, in der die Arbeit als RomaAktivist stattfinden sollte, benötige es »einen Stammhalter in der Gemeinschaft«, sonst »ist man niemand«. Viele der Roma-Repräsentanten würden die Erwartungen, die die OSZE an sie stellt, nicht erfüllen, beschwerte sich der in der Nachbarschaft Topaansko Pole (zum Viertel Chair gehörend) geborene Sohn einer KovačiRomni und eines Džambasi-Rom (der zu Hause den Burgudži-Dialekt spricht, vgl. Kapitel 3 und Narratives Glossar): »Die OSZE hat ein großes Interesse, den Roma und Sinti in der Region der OSZE-Staaten zu helfen und die Situation zu verbessern. Leider scheinen das nicht alle der Gruppen adäquat zu verstehen. Als Rom muss ich manchmal sagen, dass ich sehr pädagogisch sein muss, wenn es darum geht, die Mitarbeiter zu schulen, was sie in den Roma-Gruppen sagen und wie sie sprechen sollen. Was ich sehe, in vielen Situationen mit Roma speziell im Kosovo, ist Folgendes: Ich als Ramadan Berat musste den Job der Roma machen, den sie eigentlich hätten selber machen sollen. Das hat mich nicht sehr glücklich gemacht. Die Leute, die marginalisierte Gruppen mobilisieren wollen, müssen sehr geduldig sein und nicht zu schnell aufgeben. Obwohl ich danach zu mir selbst gesagt habe, dass ich nie wieder etwas mit Roma-Dingen zu tun haben will. Aber ich habe mich wieder beworben, um diesen Job hier zu machen. In Afrika war es viel einfacher.«

›In Afrika?‹, mag man sich hier fragen. Obwohl er seinen einjährigen Vertrag mit der UN in Liberia zu arbeiten aufgrund klimatischer Gegebenheiten nicht beenden konnte, meint Ramadan überzeugt zu sein, dass: »... es in Liberia funktioniert [hat], denn die Leute haben gesagt: ›Wir wissen nicht wie, lehre es uns!‹ Sie haben nicht gesagt: ›Wir wissen es nicht, mach’ du es für uns!‹ So reagieren oft die Roma-Gemeinschaften. Das macht mich als Roma unglücklich. Ich fühle mich als ein Jäger für solche Repräsentanten aus den Gruppen. Ich weiß, dass sie mich oft in

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Zigeunerkulturen im Wandel schlechtem Lichte sehen. Wir leben in einer Demokratie und in dieser hat man ein Mandat, das durch Wahlen entsteht. Und wenn man ein gewählter Repräsentant ist, dann muss man das Mandat erfüllen und dann auch wissen, was die Gruppe braucht.«

Wie genau Ramadan Berat dieses Auswahlverfahren darstellt und welche internen Maßgaben dabei eine Rolle spielen, führt er wie folgt aus: »Ich habe auch gesehen, wie die Parteien ihre Kandidaten aussuchen. Sie suchen einfach nicht nach den gut gebildeten oder nach denen, die Fähigkeiten haben, die sie später im Parlament brauchen. Sie suchen immer den, der am meisten [hat], auf der Straße am bekanntesten ist und dort den meisten Respekt hat. Und das ist der, der am meisten ›love‹ [Romanes: Geld] hat. Und sehr wenige von ihnen haben einen Bildungshintergrund. Und diese werden als Ratsmitglieder auf lokaler Ebene ernannt. Wir nennen sie nicht ›Sherudno‹ oder ›Baro‹. Wie können wir also erwarten, dass sie gute Politik machen oder effektiv sind? Nur einige haben gute Bildung oder Sekundäre Schule. In der letzten Ratsversammlung in Shutka waren fünf Leute, die Analphabeten waren. Die konnten weder lesen noch schreiben. Ich hatte ein großes Projekt mit dem Bezirk. Also, egal wie wir sie nennen, ›Baro‹ oder ›Sherudno‹, sie sind nicht effektiv. Die Roma haben hier in diesem Sinn eine Art Entwicklung gemacht. Ich muss noch etwas sagen: Warum sind sie in politischen Parteien? Es geht dabei nicht um Rationalitäten, es geht hier nicht um das Implementieren der Roma-Sachen. Hier geht es oft darum – speziell die Führer der Parteien –, dass sie ihre Partei wegen ihres geschäftlichen Interesses leiten. Das ist nicht schlecht. Denn ein Politiker sollte wissen – in US-amerikanischer Art und Weise –, wie man Geschäftliches in Politisches übersetzt und ebenso andersherum. Aber ich muss auch die demokratischen Regeln kennen. Die Familie ist natürlich der Kern der Demokratie, aber sie sollte kein geschäftliches Monopol darstellen. Daher können wir sie einfach nicht ›Bare‹ oder ›Sherudne‹ nennen. Shero heißt Kopf! Aber deren Kopf ist eben leer!«

Als »street representer« bezeichnete Ramadan Berat diese ›Rom Baro‹ oder ›Sherudno‹, die eher aufgrund ihres Geldes ausgewählt würden und bei deren Wahl »Bildung kaum eine Rolle spiele«. Die Macht dieser Sherudnes in den Gemeinschaften sei nicht unerheblich, doch engen sie seiner Meinung nach den »Entfaltungsraum ein«. »Roma wissen nicht, wie ein echter Vertreter zu wählen ist, nach demokratischen Regeln!« Und im Thema und Erzählrausch befindlich, gab Ramadan Berat schließlich zu, dass: »[f]ür mich ›Baro‹ oder ›Sherudno‹ eine negative Konnotation [haben]. Ich muss sagen, dass diese Männer Kontrolle über Macht haben. Ich könnte nicht in diesen Umständen leben, weil ich Platz zum Leben benötige. Die meisten leben nicht mal in den Gemeinschaften, die sie kontrollieren. […] Andere Leute, die fähig wären, etwas in ihren Gemeinschaften zu verändern oder zu erreichen, werden von den ›Sherudno‹ oder ›Baro‹ einfach unterdrückt. […] Alles, was die Leute tun wollen, muss ihrer Prüfung unterstehen. Sogar zu mir sind sie gekommen und haben gesagt, dass ich kein Projekt machen darf ohne ihren Zuspruch. Das war aber im Kosovo. Wir wollten NGOs auf lokaler Ebene schaffen und damit Programme und Budgets im-

6  Mazedonien plementieren. Und diese ›Sherudne‹ hatten natürlich Angst, ihre Autorität zu verlieren. Und dann haben sie gesagt, dass ich ihnen das Geld geben muss und dann das Projekt machen kann. Aber dann hätten wir kein Geld mehr gehabt, na super! Deshalb bin ich gegen ›Sherudne‹ usw. Aber wenn es einen Repräsentanten in der Gruppe gibt, der Legitimität besitzt, dann kann man ›pressure-groups‹ kreieren. Wenn man eine Wahl macht, eine ›intra-communityWahl‹, wenn zum Beispiel einer eine reiche Person ist, würde er dann das Sagen haben.«

Um die Situation der Roma- / Zigeunervertreter und deren Handlungsweisen in Zusammenhang mit der Gadže-Gesellschaft zu bringen, bemüht Ramadan Berat etwas allgemeiner einen Vergleich mit einem Spiegel. Denn die Roma- / Zigeunervertreter seien »wie ein Spiegel«, vor dem die »Gadže in Ohnmacht fallen« würden, schauten sie genauer hinein. Denn dieses Bild würde bestehende Vorurteile der Gadže gegenüber Roma- / Zigeunervertretern bekräftigen: »Politische Subjekte wie [Neždet] Mustafa, [Shaban] Saliu, [Amdi] Bajram sorgen für den Erhalt von Vorurteilen und Stereotypen!« »Roma-Experte ist nicht jeder, der über Roma-Fragen arbeitet«, meint Ramadan resümierend und fordert eher die junge Generation auf, »proaktiver zu werden«: »Die Studenten sollten lernen, wie sie proaktiv werden und jemand sollte ihr Proaktivsein unterstützen. Denn sie sind die neue Generation der Eliten! Sie sind nicht genug mobilisiert. Sogar wenn man ihnen viel Geld gibt, viel Rat zur Verfügung stellt, kann man die Projekte und deren Impacts nicht leicht erkennen. Es endet auf Projektebene. Aber wenn man auf politischer Ebene etwas erreichen will, bedeutet es, dass man viel Arbeit hat. Das bedeutet [sowohl] eine starke Repräsentation der Roma als auch deren Unterstützung! Es gibt eine politische Monopolbildung in den sechs existierenden politischen (Roma-)Parteien.7 Aber alle von ihnen haben eine Koalition mit der regierenden Mehrheitspartei VMRO! [E]s gibt keine interne Zusammenarbeit der einzelnen Roma-Parteien. Ich denke, ich muss nicht ausführen, was das bedeutet. Was ich sagen will, ist, dass die politischen Repräsentanten manipuliert sind. Ich kann das sehen, an bestimmten politischen Handlungen, für die die Regierung verantwortlich ist.«

6.2 S kopje -S tadt : D ie ältere G ener ation (S amk a I br aimoski) Am Beispiel der Partei PCER und ihrem derzeitigen Vorsitzenden Samka Ibraimoski 8 erklärte Azdrijan Memedov bereits, was er unter einem »Sultantyp« einer Partei versteht. Doch welchen Standpunkt nimmt Samka Ibraimoski selbst ein? 7 | Vgl. Kapitel 4, Abschn. 4.4.6 und Abschn. 6.1.2, Fn. 4. 8 | Durch den großen Raum, in dem wir Samka Ibraimoski trafen, erstreckte sich ein langer Konferenztisch, an dessen Ende sein Schreibtisch stand, hinter dem die mazedonische und auch die Flagge der Roma ihren Platz hatten. Auf der langen Kon-

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Zigeunerkulturen im Wandel »Meine Partei ist eine der stabilsten politischen Parteien.«

Neben Neždet Mustafa (den ich leider nicht in meine Studie einbeziehen konnte) war Samka Ibraimoski einer derjenigen, die mir die bisher in der Literatur aufgetauchten Zugangsprobleme zu Eliten bestätigten: Schwierigkeiten bei der Terminfindung, wiederholtes Aufschieben von Treffen, und im Falle Neždet Mustafas sogar die Verweigerung eines Gesprächs mit mir,9 da ich die von ihm geforderte staatliche Forschungserlaubnis nicht vorlegen konnte. So traf ich Samka Ibraimoski schließlich nach wiederholten und oft kurzfristigen Absagen in seiner Wirkungsstätte, dem Asylzentrum in Skopje,10 an einem allzu heißen Sommertag. Vor und in dem Gebäude sammelten sich tagsüber viele Flüchtlinge aus dem Kosovo, um ihren Antrag auf Asyl zu stellen. Die meisten unter ihnen waren zur Neuantragstellung hier und nicht zur Verlängerung, die damals nach bereits einem halben Jahr fällig wurde. Samka Ibraimoski, hochgewachsen mit markanten Gesichtszügen, lud mich und meinen Begleiter in sein Büro ein, nachdem wir mehrfach und über Stunden hinweg im Gebäudevorraum Platz nehmen sollten. Die Asylbewerber hingegen mussten draußen warten. Ein harter Umgangston herrschte, wenn einige Bedienstete der Abteilung die sichtferenztafel erkannte man Spuren von Sitzungen: Notizzettel lagen vereinzelt herum, gebrauchte Gläser und Kaffeetassen, Stifte und hier und da benutzte Aschenbecher. Unser Gespräch wurde vergleichsweise häufig von Telefonanrufen oder dem Klopfen seiner Sekretärin an der Tür unterbrochen. Da sich Samka ebenso wie viele andere Akteure dieser Studie noch in der Auswertung der Wahl des Jahres 2009 befand, lag sein Hauptaugenmerk auch darauf. Denn er hatte kurz zuvor im Verbund mit Bajram Berat und Amdi Bajram die Koalitionspartei PCR (Partija ca Completen Integratija na Romite) gegründet. Eine lang erwartete Kommission, die vor der Tür wartete, schob dem ohnehin kurzen Treffen einen zusätzlichen Zeitriegel vor. Leider hat Samka Ibraimoski auf keine weiteren Anfragen meinerseits reagiert. Daran änderten weder meine häufigen weiteren Besuche im Asylbewerberzentrum etwas, noch meine fast täglichen Telefonanrufe, die seine Sekretärin bald übernahm. 9 | Nach zahlreichen Anrufen und täglich teils mehrfachem Aufsuchen seines Hauses in Shutka, in dem sich damals das Zentrum seines Fernsehsenders »Shutel TV« befand, traf ich eines Tages und unvorhergesehen auf Neždet Mustafa, als er sich den unzähligen Löchern im Zufahrtsweg seines Hauses widmete und diese notdürftig zu f licken versuchte. Nachdem er mir und meinem Begleiter gegenüber Folgendes verlauten ließ, drehte er uns wieder den Rücken zu und schenkte seine ungeteilte Aufmerksamkeit der schwarzen Teermasse, die in einem Eimer vor sich hin dampfte: »Ohne offizielle Erlaubnis können Sie nicht einfach so hier forschen! Ich bin ein Minister und daher brauchen Sie eine offizielle Forschungserlaubnis vom mazedonischen Staat, wenn Sie mich was fragen wollen! Dann machen wir einen Termin und mein Fahrer holt Sie dann mit meinem Dienstwagen ab!« 10 | Siehe Abb. 19, S. 259.

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lich erschöpften und geplagten Asylbewerber nach Namen fragten, ihnen Dokumente abnahmen oder sie wieder zurückgaben. Ebenso wie manch andere Akteure dieser Studie ist Samka Ibraimoski als Geschäftsmann in die Politik eingestiegen. Den Rekurs auf die eigene Legitimation, seine Partei und seine Position nahm Samka Ibraimoski mittels des Vergleichs mit anderen Parteien vor, von deren Fehlverhalten er sich anklagend distanzierte: »Es ist sehr schwer, innerhalb der Roma-Gemeinschaft jemanden zu finden, der stabil in einer politischen Partei arbeiten kann und will. Meine Sicht auf diese Partei, also meine Partei, ist, dass es eine der stabilsten politischen Parteien ist. Wir arbeiten nicht so, dass wir unsere eigenen Leute einkaufen müssen oder ihnen Lügen auftischen. […] Ich will nicht über die anderen Parteiführer reden. Fast alle diese Führer schauen zuerst nach ihrem eigenen Interesse. Sie gewinnen sehr viel im Namen der Roma.«

Als Vize-Präsident der Partei Abdi Faiks (PCER) und Verantwortlicher im Westraum Mazedoniens stellte er fast beiläufig fest, die Partei habe dort sehr gute Ergebnisse erzielt. Doch im Gegensatz zu ihm selber würden die anderen alten leader ein »zu großes Eigeninteresse« haben. So habe Bajram Berat als Arzt nur solange für Roma gearbeitet, solange die Funds flossen. Danach habe er die Arbeit für Roma beendet, meinte Ibraimoski enttäuscht und führte darüber hinaus Neždet Mustafa an, der als Besitzer des TV-Senders »Shutel TV« ebenso nur solange mit Roma-Funds gearbeitet habe, solang diese geflossen seien. Damit stellte er deutlich die Abhängigkeit von Spendengeldern heraus, die ich eingangs als einen kritischen Aspekt in der Tätigkeit der meisten Akteure erwähnt hatte. Ibraimoski machte aber auch klar, dass das Eigeninteresse der Führer (leader) höher sei als das Interesse an denen, in »deren Namen sie tätig« seien: ›der Roma‹.

6.3 S kopje -Topa ana – M ahall a (M il ja zim S akipov) 6.3.1 »Das wirkliche Schicksal der Roma ist das fehlende Vertrauen der Gesellschaften.« Auch Miljazim Sakipov 11 war überzeugt davon, dass die PCER eine qualitativ hochwertige und effiziente Partei sei und so sah auch er in Abdi Faik ein großes Ideal. 11 | Bereits seit meinem ersten Besuch in Skopje 2007 war mir Miljazim Sakipov als politischer Aktivist bekannt. In seinem Haus in Topaana-Mahalla befindet sich im Erdgeschoss ein kleiner Lebensmittelladen, den er gemeinsam mit seiner Frau und einem Kollegen betreibt. Seine Wohnung im oberen Geschoß ist hell und für die Verhältnisse vor Ort äußerst luxuriös eingerichtet. Zum Gespräch im Rahmen dieser

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Doch nahm Sakipov in seinen Erzählungen nicht nur auf sein politisches Umfeld oder seine Karriere, sondern, wie im Folgenden zu erfahren sein wird, auch immer wieder auf seinen familiären Hintergrund Bezug. Gleichwohl Miljazim Sakipov in der Roma- / Zigeunermahalla Topaana wohnte, welche sich nahe des Zentrums Skopjes befindet, war er doch im Alltagsleben in der »Mahalla« selten zu sehen. Die Treffen mit den Mitgliedern der Partei und anderen Partnern fanden häufig in Shutka statt, so wie auch einige Gesprächsabende mit mir. »Ich bin in Arachinovo geboren, einem Dorf bei Skopje. Und in der Politik bin ich exakt seit 30 Jahren. Ich will damit sagen, dass ich über Politik Bescheid weiß, also was speziell die Roma-Politik anbelangt. […] Vor 44 Jahren bin ich nach Topaana gezogen, ich war sechs Jahre alt. […] Weil du mich gefragt hast: nun, damals hatten wir vier Häuser. Eines, in dem ich geboren wurde, eines in Singelic und zwei in Topaana. Und wir sind nach Topaana gekommen, obwohl wir ein weiteres Haus in Singelic hatten. Wir hatten mehr als genug. Und meine Eltern haben die beiden Häuser verkauft, die wir nicht brauchten und wir sind immer noch an diesem Platz, also in diesen zwei Häusern, die sie uns gelassen haben, wo ich auch bis zum heutigen Tage wohne. […] Und wenn ich wahrhaftig und ehrlich sprechen soll, dann ist unsere politische Partei eine der qualitativ Hochwertigeren. Du kannst das an unserem Bildungskader sehen. Die Mitglieder sind wirklich sehr gute und ehrliche Leute, die ihre Familie haben. Und viele vertrauen ihnen. Und das ist die Partei der Demokratischen Kräfte der Roma in Mazedonien« (DSR, s. Abschn. 6.1.2, Fn. 4).

Auf den Verlauf seiner politischen Karriere und seine Vorbilder angesprochen, schlug Miljazim Sakipov den Argumentationsweg über seine Vorgänger ein, denen er Respekt zollte, und begründete seine Entscheidung, in der Politik tätig zu sein, mit dem Zugang, welchen er seinem Vater verdanke: »Ich kann sagen, dass ich meine Interessen an Politik von meinem Vater geerbt habe. Weil mein Vater die Funktion des Generalsekretärs des Roten Kreuzes in Mazedonien innehatte, damals. Und ich weiß, dass mein Vater so etwas wie ein Präsident für zwölf Dörfer um Skopje herum war. […] Aber zuerst muss ich ein paar Informationen geben, die ich als Miljazim nicht übergehen will. Die erste Person, die wir alle [dafür] respektieren müssen, dass wir diese politische Ebene erreicht haben, dass wir auch über Politik reden können, ist Herr Abdi Faik. Er ist es, der die Fundamente der Roma-Politik gelegt hat. Nach ihm gab es Amdi Bajram, Neždet Mustafa und mich, als der Präsident meiner politischen Partei,

Studie traf ich ihn in Shutka; da er gerade mit zwei weiteren Mitgliedern seiner Partei von einem Parteitreffen kam, war er in Anzug & Krawatte, als die drei ihren Feierabend gemeinsam mit mir bei einem Abendkaffee in einer Straßenbar begannen. Das Gespräch fand auf Romanes statt. Einer seiner Parteifreunde sprach mit mir während des Gesprächs auf Deutsch.

6  Mazedonien die begonnen hat, seinen Schritten nachzufolgen. Nach uns als leader kamen Hr. [Bajram] Berat und Shaban Saliu.«

Auf die chronologische Reihenfolge von Amtsbesetzungen und Amtsübernahmen in Shutka komme ich im nächsten Abschnitt zu sprechen. Doch zuvor noch einige Anmerkungen von Miljazim Sakipov, die er in Bezug auf Gadže-Institutionen und seine Erwartungen in sie geäußert hat: »Wenn sie [die Gadže-Institutionen] uns als Menschen respektieren und schätzen wollen, dann sollten sie unseren hohen Kadern Positionen in den Staatsinstitutionen bereitstellen.«

Stattdessen aber würde die Regierung seiner Meinung nach »Spiele mit den einzelnen [Roma-]Parteien« treiben, von denen viele in Koalition mit der VMRO (der Mehrheitspartei im mazedonischen Parlament) seien – eine Koalition, die letztlich nur als ein Vehikel für Arbeitsplätze gelten würde. Und auch die Uneinigkeit der einzelnen kleineren Parteien untereinander betrachtete er mit Missgunst und meinte im Hinblick auf die Aktionen der mazedonischen Regierung: »Die Formel dafür ist sehr bekannt: Du bringst einfach alle Seiten [i. e. die einzelnen RomaParteien] in einen Kampf gegeneinander, und dann kannst du sie beherrschen!«

Aber »um die Gadže-Institutionen zu beruhigen«, würden viele »Roma-Repräsentanten sagen, dass es den Roma gut geht«. Und daher würden sie die Regierungsverantwortlichen nicht mit den wahren Problemen konfrontieren, sondern mit Versuchen, ihre Loyalität zu ihnen zu zeigen und Misstrauen zu zerstreuen. Wenngleich Miljazim Sakipov bis dahin von »den Roma-Repräsentanten« gesprochen hatte, teilt auch er die politischen Akteure vor ihren jeweiligen Sozialisationshintergründen, Lebensalter und den unterschiedlichen makrosozialen Gegebenheiten in »Generationen« ein. Doch seien seiner Meinung nach weder jene Roma-Repräsentanten ein großes Problem, noch die Transition von der kommunistischen in die postkommunistische Periode, denn die »Roma sind die fähigsten Leute auf diesem Planeten, die sich sehr schnell in jede Gesellschaft integrieren können«. Das Hauptproblem der Roma bestehe hingegen primär im fehlenden Vertrauen der Mehrheitsgesellschaften, wie er sich ausdrückte: »Und welche Politiker in der lokalen Ebene oder auf der öffentlichen Ebene dominieren, dazu sage ich: ›Generationen‹. Die Generationenbewegung auf politischer Ebene der Roma. Es kommt aus der Generation 1952, ’54, ’56 bis ’62, das begann mit Hr. Abdi Faik und es endet bei Shaban Saliu. Der Unterschied ist, dass das Generationen sind, die die kommunistische und postkommunistische Periode [erlebt] hatten. Und der Unterschied zu den Jüngeren ist der, dass sie nicht an denen interessiert sind und den demokratischen Einflüssen ausgesetzt sind, oder der Zeit der Transition. [...] [A]ber das einzige [wirkli-

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Zigeunerkulturen im Wandel che] Schicksal der Roma ist, dass sie niemals das Vertrauen der Mehrheitsgesellschaften bekommen.«

Dieses fehlende Vertrauen sei mit der »Balkanmentalität« zu begründen, die die Roma durch die Geschichte auf dem Balkan erfahren hätten: »Wenn wir diese Dinge aus der Geschichte sehen, dann wurde jedes Land auf dem Balkan und Mazedonien als solches von anderen Ländern beherrscht, und die generelle oder globale Politik wird von den Roma reflektiert. Nur die Roma sind ohne ihr eigenes Land. […] Mein Wunsch ist, mich direkt einzubringen und direkt meinen Leuten zu helfen, denn ich kenne die Roma-Probleme sehr gut. Mein Wunsch ist, dass mein Volk mir die Möglichkeit gibt, ihnen zu helfen. Ich muss es etwas offizieller erklären, dass mein Wunsch ist, ein MP (Member of Parliament) zu werden. Und dann kann ich mich als ein Roma-Patriot zeigen, der nicht ist wie die anderen Leute, die nur mit ihren eigenen Augen die Probleme unseres Volkes sehen. Aus meiner politischen Erfahrung heraus und von meinem Standpunkt aus denke ich, dass ich vom ersten Tag an, wenn ich ein MP werden sollte, beginnen würde, das Leben der Roma zu verändern. Und wenn ich nichts mehr tun kann, dann wenigstens das Lächeln in die Gesichter der Roma zurückholen.«

6.4 S huto O riz ari (»S hutk a«) Wie eingangs bereits angedeutet, durchdringt das Thema ›Shutka‹ als städtebaulicher, sozio-geographischer und vor allem sozio-ökonomischer Sonderfall die gesamte Sphäre der Diskussion um und mit Roma- / Zigeunereliten in Skopje und teilweise in ganz Mazedonien. Seine vergleichsweise große Bevölkerungszahl und -dichte sowie die politische Struktur machen es bekannt und attraktiv: nicht nur als Ort von potentiellen Zusprechern und Wählern, sondern auch auf Grund einer großen Menge verschiedener anderer Potentiale. So gibt ein online-Dokument, das die Charakteristika aller Bezirke Mazedoniens kurz darstellt, Shutka als den Bezirk aus, in dem eine große Anzahl einer »cheap and flexible workforce« zur Verfügung stehen würde (Shabani 2010: 50). Die offiziellen Einwohnerzahlen Shutkas sind mit dem Zensus des Jahres 2002 (auch in der UpdateVersion des Dokuments) mit 22.017 Einwohnern angegeben (ebd.). Die meisten meiner Gesprächspartner gehen allerdings von einer weit größeren Anzahl (ca. 30.000–80.000 EW, vgl. Kapitel 4) aus. Das ständig an seinen Rändern sich erweiternde und siedlungsbezogen intern verdichtende Shutka entstand, wie in Kapitel 4 zum Ausdruck kam, infolge der Nachwirkungen des schrecklichen Erdbebens im Jahr 1963 und den darauf folgenden Wiederauf bauhilfen der internationalen Gemeinschaft. Seine politisch-administrative Eigenverantwortung bekam Shutka aber erst im Jahre 1996, mit der Amtsbesetzung Neždet Mustafas als erstem Bürgermeister überantwortet, und kann sich seitdem als »Obschtina c kmet i sujet« (Bezirk

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mit Bürgermeister und Bezirksrat) bezeichnen lassen. Sowohl der erste Bürgermeister Neždet Mustafa (1996–2000 und 2000–2003) als auch sein Nachfolger Erduan Iseni (2003–2006 und 2006–2009) hatten über zwei Legislaturperioden hinweg das Amt inne. Gleichwohl ich beide zur hiesigen Datenauswertung nicht persönlich befragen konnte,12 nahmen meine Akteure das eine oder andere Mal auf sie Bezug, wenn sie über Shutka reflektierten.

6.5 S hutk a : D ie junge G ener ation (D aniel P e trovski , D uduš K urto , E lvis B a jr am , A lvin S alimovski , A li B er at) 6.5.1 »Meine Seele gehört mir«: In Opposition zu den »Alten« Daniel Petrovski13, Sohn Branislav und Neffe Trajko Petrovskis, ist sich seiner Position als junger Akteur und ebenso noch junges Mitglied der Partei Shaban Salius wohl bewusst und stellt seine Opposition zum Parteiführer und Arbeitgeber Shaban Saliu beispielhaft heraus; dies kennzeichnet den Unterschied zu den meisten der anderen jungen Parteimitglieder. Gleichzeitig kann seine oppositionelle Haltung auch als Wert angesehen werden, den es seiner Meinung nach zu verwirklichen gilt: Die ›Befreiung der jungen Parteimitglieder‹ aus den ›Händen‹ des Parteivorsitzenden, beispielsweise durch dessen allgemeine Abwahl:

12 | Wie bereits dargelegt, konnte ich mich leider nicht mit allen relevanten Akteuren treffen, mich mit ihnen unterhalten oder sie im Alltag begleiten. Dies trifft nicht nur auf Neždet Mustafa zu. Unter diese Personen fallen auch Abdi Faik, Sami »der Reiche« Serbesov, wie ihn Ajet Osmanovski bezeichnete, Martin Demirovski, Erduan Iseni, sein Vater Shaib Iseni, der ehemalige Direktor der Schule Shutkas Brakja Hamis i Hamid und viele andere, wie beispielsweise viele der Gemeinderatsmitglieder Shutkas. 13 | Für ein erstes offizielles Gespräch begaben wir uns in ein Straßencafé, wohin er seinen Vater mitbrachte. Nach mehrfachem Bitten meinerseits willigte sein Vater Branislav beim ersten Treffen ein, einen separaten Gesprächstermin zu verabreden, in dem nur er zu Wort kommen sollte. So verließ Branislav mein erstes Treffen mit seinem Sohn Daniel nur widerwillig und nur nach zusätzlicher Versicherung, dass auch er Platz in meinem Kalender und seine Perspektiven Platz in vorliegender Arbeit finden würden. Zu weiteren Terminen wurde ich ins Haus der Petrovskis geladen, in dem ich mich später auch mit seinem Vater unterhielt. Daniels Äußeres wirkte sehr jung. Seine Antworten fielen sehr offen und ehrlich aus, sodass meine ersten Bedenken bald abgelegt waren und auch seine Informationen zur wichtigen Quelle wurden. Da sein Gesprächsenglisch etwas ungeübt war, wählte er auf mein Anfragen hin Romanes.

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Zigeunerkulturen im Wandel »In der DSR-Partei, der Partei von Shaban Saliu, bin ich zurzeit. Nicht weil ich ihre Politik unterstütze, sondern weil sie mir zurzeit meine Arbeitsstelle geben und das ist meine Art, es ihnen zu danken. Vor einigen Tagen gab es eine Situation mit Shaban Saliu und in seiner Partei bei einem Treffen, wo wir darüber gesprochen haben, wer was macht oder arbeitet. Und ich hatte einen kleinen Streit mit ihm. Ich betrachte mich als einen Akademiker und eine gebildete Person. Aber er hat mich ausgesucht, um von Tür zu Tür zu gehen, um die Leute zu diesem Kongress zu rufen. Ich habe mich schlecht gefühlt, denn er hat meine Qualitäten oder Fähigkeiten nicht in Betracht gezogen und was ich am besten kann. Ich habe ihm gesagt, dass ich das, was er von mir will, nicht machen werde. Er war danach sehr böse und hat das Treffen verlassen. Und dann hat jeder zu mir gesagt: ›Warum hast du das gemacht? Wie kannst du das nicht annehmen? Er ist doch der, der dir den Job gegeben hat und wir können und sollten ihn doch wertschätzen, wie wir nur können!‹ Und ich habe zu diesen Leuten dann gesagt: ›Ihr seid scheinbar alle verrückt! Denn wie könnt ihr euch vor ihm nur so verneigen, als wäre er Gott und könnte mit euch machen, was immer er will? Ihr solltet ihn als das sehen, was er ist: Der Führer einer politischen Partei und nicht der Besitzer eurer Seelen! Und wenn ihr wollt, könnt ihr ihn auswechseln. Denn ihr seid die Mitglieder der Partei!‹ Aber auf der politischen Bühne ist es mit uns [Roma] immer so, dass das richtig ist, was eine Person sagt. Und weil unsere Leute arme Leute sind, und ihre Arbeit behalten wollen ... Ich hatte keine Angst und ich habe meine wirkliche Meinung gesagt und nicht das gemacht, was er mir gesagt hat!«

Dass der Erhalt des Arbeitsplatzes von vordergründigem Interesse ist, erfuhren wir bereits von anderen Akteuren und damit auch die Schlussfolgerung, in welcher Form die Erwartungen der potentiellen Wähler an sie gestellt werden: Vorrangig die Eröffnung einer Chance, ein geregeltes Einkommen zu erlangen und für dessen Fortdauer Sorge zu tragen. Somit kann dichter Kontakterhalt zum potentiellen Arbeitgeber in der Form zum Ausdruck kommen, dass sich Bekannte und weite oder nahe Verwandte der Familie als Mitglieder der Parteien oder NGOs eintragen – wie Daniel Petrovski auch –, um bei einer eventuell siegreich verlaufenen Wahl oder einem gewonnenen Projektantrag aus der Partei- oder NGOMitgliedschaft und der Loyalität zu ihrem jeweiligen Führer einen Zugang zu einem bezahlten Arbeitsplatz generieren zu können. Dabei, so wurde mir häufig durch andere, nicht in der Politik agierende Bewohner Shutkas bestätigt, handelt es sich nicht primär um die Sorge um eine eigene Anstellung, sondern der für den ältesten Sohn der Familie. Verschiedene Formen von Zugängen und Kapitalarten, wenn man die Daten so lesen will, fließen hier in den Handlungs- und Transformationsprozess ein: Aufgrund des fehlenden finanziellen und edukativen Kapitals, gepaart mit der Erwartung, das Image des eigenen Namens bzw. der Familie steigern zu können, in Kombination mit der Hoffnung auf eine Distribution von Kapitalzugängen unter den Mitgliedern, wählten viele der heutigen Mitglieder in Roma-Parteien oder

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-NGOs den Weg über diese Mitgliedschaften. Die Folgen, die sich aus den gegebenen Voraussetzungen ableitbar darstellen lassen, geben jenes scheinbare Zerrbild ab, dass die Roma-Parteien ›Sultan-Parteien‹ seien, deren Mitglieder häufig, bar jedweder Bildung und nur aufgrund ihrer Mitgliedschaft in der Partei oder NGO, auf Partizipation an der Verteilung von Arbeitsplätzen hoffen. Doch kommen wir in diesem Zusammenhang nochmals auf Wertverwirklichung zu sprechen: Abdi Faik hat in den Augen Daniel Petrovskis einen wichtigen, die Roma und deren politische Partizipation betreffenden Wert verwirklicht: Abdi Faik hat »die« Roma in die Verfassung und in das Parlament Mazedoniens gebracht und würde sich Daniel Petrovski zufolge damit maßgeblich von den heutigen »leadern« unterscheiden, »die denken, dass sie ihre eigene Situation zuerst verbessern müssen«. Daniel bezeichnete Abdi Faik als »alten« leader, und damit gehört Amdi Bajram zu jenen, die er als die »heutigen« leader bezeichnet. Er ließ es jedoch nicht aus zu erwähnen, dass selbst Abdi Faiks Handlungen zu seiner Zeit für keine allzu große Begeisterung unter vielen Roma / Zigeunern sorgten: »Der Unterschied zwischen den alten und den neuen [Führern] ist, dass die alten leader wirklich helfen wollten und die Situation zum Besseren wenden wollten. Sie wollten sich nicht unbedingt so bekannt machen und ihre eigene Situation verbessern. Sie wollten die Gesamtsituation der Roma verbessern! Im Unterschied zu den leadern, die denken, dass sie zuerst kommen, und die denken, dass sie ihre eigene Situation zuerst verbessern müssen und dann die der anderen. Sie binden sich überall ein, aber eben nur im Interesse ihres eigenen Profits, und die Leute und das Volk kommen an zweiter Stelle. Ich kann da auch konkreter werden und es mit Namen benennen: Wir können bei den älteren Politikern beginnen, wie zum Beispiel Abdi Faik. Da gibt es einen großen Unterschied zwischen Politikern wie ihm und den heutigen, wie zum Beispiel Amdi [Bajram]. Abdi Faik hat wirklich versucht, den Roma zu helfen und hat jeden Tag für die Rechte der Roma gekämpft. Und konkret: Bevor er in der Politik tätig war, waren die Roma überhaupt nicht in der Verfassung erwähnt (vgl. Kapitel 4). Als Mazedonien ein autonomes Land geworden ist, hat Abdi Faik dafür gekämpft, die Roma in die Verfassung aufzunehmen. Er war sehr respektiert von den Leuten und die Leute haben von ihm sehr viel profitiert. Und als ein konkretes Beispiel kann ich dir raten, gehe zu jedem Politiker und frage ihn über Abdi Faik und sie werden alle sagen, dass er der Grund ist, warum wir heute das sind, was wir sind. Aber zu seiner Zeit, als er ein MP war, haben ihn alle gehasst. Und wenn sie jetzt sehen, was er wirklich getan hat, zeigt jeder seinen Respekt ihm gegenüber.«

Zwar seien, so Daniel Petrovski, die alten Führer relativ ungebildet, doch hätten sie jederzeit das Wohl und den Erfolg, der sich auf der Seite der Gruppen- oder Gemeinschaftsmitglieder einstellen sollte, im Auge gehabt – ganz im Gegensatz zu den »neuen leadern«, die zwar gebildet seien, doch ihren Eigenprofit und sich selbst in den Vordergrund stellen würden. Ein Beispiel, warum Skepsis auch

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gegenüber den neuen gebildeten Führern angebracht sei, stellte er anhand des ehemaligen Bürgermeisters Erduan Iseni heraus. Denn ihn zeichneten nicht nur Bildung – Erduan Iseni hat eine Ausbildung zum Dentalmediziner erfolgreich abgeschlossen – und gute Führungsqualitäten aus, sondern auch ein gutes Familienverhältnis. Dennoch hätte sich Shutka unter Erduan Iseni kaum verändert, auch nicht die Situation der Roma / Zigeuner. »Wenn wir es also heute betrachten, dann versucht jeder seine eigene Arbeit entgegen der Leute und nicht im Namen der Leute auszuüben. Sie machen einige Projekte und das Geld ist ihnen nicht genug. Dann machen sie immer größere Projekte. Und das dann aber nicht für die Leute, es ist für sie selbst! So, dass sie selber das Geld bekommen können.«

Bevor ich im nächsten Abschnitt eine längere Sequenz Daniel Petrovskis anschließen lasse, in der er über die Bürgermeisterwahlen in Shutka im Jahre 2009 reflektiert, wird er hier mit zwei mir wichtigen Äußerungen exemplarisch ausdrücken, was zwischen den Zeilen bereits bei einigen anderen Akteuren der jungen Generation herauszulesen war: Zum einen, dass eine Ablösung der älteren Generation sich (nur) durch den Auf bau eines eigenen Netzwerkes, einer »Mafia« und mit eigenem Geld bewerkstelligen lassen würde, und zum anderen, dass ein reicher Führer im Grunde gar nicht verstehen könne, wie es sei, so arm überleben zu müssen, wie es die meisten der Roma / Zigeuner gezwungen sind zu tun, und damit seinerseits keinerlei Verständnis für diese Lebenssituation auf bringen könne. »Und es wird so weitergehen, bis wir, die junge Generation, unsere eigenen Unterstützer haben, unser eigenes Geld und unsere eigene Mafia, die diese alten Leute rausschmeißt, und wir die Führung übernehmen können. Und ich bin sehr skeptisch über die Resultate, selbst wenn das passieren würde. Denn Edu [Erduan Iseni] war ja ein junger und gut gebildeter Bürgermeister. Er hat seinen [Universitäts-]Abschluss. Aber hat nichts geändert. Es hat sich nicht einmal ein Stein gerührt, im Bezirk. Es ist einfach: Ein leader muss zunächst einmal ein Mensch sein, dass er helfen kann. Er muss Menschlichkeit zeigen, um seinen Leuten zu helfen. Und das ist ein Fakt, dass ein Mensch, der reich geboren wurde, niemals den armen Leuten helfen kann! Denn er weiß nicht, was es bedeutet arm zu sein.«

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6.5.2 Bürgermeister wahlen 2009 in Shutka 14 : Kandidaten, Marionetten und Abhängigkeiten (Duduš Kurto vs. Elvis Bajram) »I was pleased to hear that the two of them are friends, but political opponents working for the well-being of their municipality. One of them will win the municipal elections, whereas the other will resume his significant role as a leader. What is important, is the election process to be held through free, fair and democratic process, being every voter’s right and accountability.«15 US-B otschaf ter in M azedonien P hilip R eeker [2009], nach einem Treffen mit den beiden B ürgermeisterk andidaten S hutk as am Vorabend der Wahlen

Daniel Petrovski: »Und was ich über die [Bürgermeister-]Wahlen [hier in Shutka] sagen kann, ist sehr einfach: Enttäuschung, Glück und wieder Enttäuschung. Warum? Weil wir von Anfang an wussten, dass Amdi [Bajram] gewinnen wird, weil er sehr, sehr mächtig ist. Ich möchte nur die ersten Wahlresultate beschreiben, also von 19 Uhr an, als die Wahlen beendet waren, bis 22 Uhr. Danach gab es eine Information, dass Duduš Kurto gewonnen hat, und jeder war sehr glücklich. Duduš Kurto ist durch die Straßen gegangen, um seinen Sieg kundzutun. Einige Leute waren ebenso glücklich, weil sie dachten, jetzt eine Arbeit zu bekommen und einige andere waren sehr glücklich, weil sie ihn sehr unterstützt haben und dachten, dass sie jetzt den Profit zurückbekommen können. Und einige waren es einfach, weil sie die Politik des vorherigen Bürgermeisters [Erduan Iseni] nicht gemocht haben. Ich habe die Information, dass Amdi [Bajram], als bekannt war, dass Kuzo [Duduš Kurto] gewonnen hatte, mit seinen Leuten dorthin gegangen ist, wo sie die Stimmen auszählen. Dort haben sie dann ihre eigenen Stimmen dazugetan. In diesem Moment haben uns viele Jugendliche darüber informiert, dass Amdi [Bajram] dort ist, wo sie die Stimmen auszählen und er mit seinen Leuten die Stimmenkästen mit Stimmen auffüllt. Aber niemand hat auf sie gehört. Das heißt, dass im Allgemeinen in der Politik die Stimme der Jugend und der Studenten, der jungen Intellektuellen, nicht gehört wird. Und dann, als wir im Fernsehen gesehen haben, dass der Gewinner Elvis Bajram ist, gab es eben diese zweite Enttäuschung. [...] Für die Leute, die Kuzo [Duduš Kurto] gewählt haben, gab es wiederum eine kleine Hoffnung, dass 14 | Die Bürgermeisterwahlen im März / A pril 2009 in Shutka konnte ich auf unterschiedlichen Ebenen verfolgen. Das bereits über diese Wahlen Gesagte will ich auch in erzählender Form, anhand der Feldtagebuchaufzeichnungen im Anschluss an dieses Kapitel, wiedergeben. 15 | Vgl. MIA 2009 (vgl. online http://www.mia.com.mk/default.aspx?mId=130&vId =63499059&lId=2&title=MACEDONIA+-+ELECTIONS+2009, vom 08.04.2012).

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Zigeunerkulturen im Wandel sie in der Periode von innerhalb eines Monats einen Streik 16 machen oder sich über die Ergebnisse der Wahlen beschweren können und Kuzo der Bürgermeister sein kann. Aber das war ohne Erfolg, denn die staatliche Kommission für die Wahlen hatte entschieden, dass der Gewinner der Wahlen Elvis Bajram ist. Aber für viele Leute ist Kuzo der moralische Gewinner gewesen. Weil, wie viele Leute sagen, Elvis und Amdi [Bajram] hätten ohne die Unterstützung der Albaner in Shutka nicht gewonnen. Aber wir wissen alle, dass Politik ein schmutziges Spiel ist, deswegen wollen wir da nicht noch tiefer hineingehen.«

Mitnichten, sei hier meinerseits eingeworfen. Da beide Bürgermeisterkandidaten zur Akteursliste dieser Studie gehören und ich mich mit beiden mehrfach getroffen und intensive Gespräche über diese Bürgermeisterwahl geführt habe, werden sie als die nächsten Akteure zu Wort kommen. Duduš Kurto (s. Abb. 3, S. 250) stand breitschultrig vor mir, als er sich zum ersten Mal hinter seinem Schalterfenster erhob, um nach vorne in den Kundenbereich seiner Wechselstube17 in Shutka – einer der beiden Wechselstuben vor Ort – zu kommen und mich zu begrüßen. In gebrochenem Deutsch fragte er, was ich denn wolle. Zwar sagte »Kuzo«, so sein Spitz- aber auch Wahlkampfname, mehrere Termine vor den verabredeten Treffen ab, doch letztendlich waren seine Absagen ohne weiteres Zögern telefonisch auf Alternativtermine verschoben worden. Dafür hatte ich in seinem Falle größtes Verständnis, denn ein mehrfaches persönliches Erscheinen des Deutschen in der Wechselstube und langes Diskutieren über Termine führte stets zu einer größeren Zuschauerzahl, die im Falle der kleinen Wechselstube leicht zu einem Gedränge führte und zum Sicherheitsproblem wurde. »Ich bin hier geboren, in Skopje, also im Krankenhaus […] Mein Großvater lebt hier [in Shutka]. Sie sind vor 40 Jahren (ca. 1970) hierher umgezogen. Von Topaana. Ich bin also hier geboren und auf dieser Straße hier aufgewachsen. Das war unser Haus hier, auch vorher schon. Aber ohne das Geschäft hier vorne. Das war ein Haus mit vier Zimmern und Hof, Garten und so. […] Ich habe einen Bruder, der arbeitet mit mir im Geschäft, also in der Wechselstube. Ich bin hier schon zehn Jahre tätig. […]. Das Geschäft meiner Eltern besteht ja seit mehr als 20 Jahren (überlegt). Ich bin jetzt 35, also sieben Jahre alt bin ich gewesen … phu, also seit 28 Jahren! Seit immer eigentlich schon.« 16 | Vgl. »shutka,miting,protest1«, http://www.youtube.com/watch?v=dA _wRzclEP8 & »shutka,miting,protest2«, http://www.youtube.com/watch?v=xvUFA7hcsPI, vom 25.06.2011. 17 | Noch vor Ende des Jahres 2011 wurde diese Wechselstube geschlossen. Seitdem nutzt Duduš Kurto einen kleinen Bereich des Verkaufsraumes seines elterlichen Lebensmittelladens, um seinem Wechselgeschäft nachzugehen. Der Raum der vormaligen Wechselstube war ihm von Neždet Mustafa vermietet bzw. zur Verfügung gestellt worden, wie mir Bewohner Shutkas nachträglich berichteten.

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Seine Einladung, infolge derer wir uns letztendlich für ein ›offizielles Gespräch‹ trafen, führte mich in sein elterliches Haus, über das Duduš Kurto eben sprach. Vom hinteren Teil des Ladens seiner Eltern aus gelangte man über eine kleine Treppe in die wohlhabend ausgestatteten Wohnräume der Familie. Das Gespräch am Küchentisch wurde ausschließlich auf Deutsch geführt. Als sein Bruder oder seine Mutter einige Minuten dem Gespräch beiwohnten, ließ er sie im Abseits sitzen, ohne ins Mazedonische oder Romanes zu übersetzen bzw. etwas zu erklären. Als Person gab er mir anfänglich den Eindruck, ein etwas harscher Typ zu sein. Sobald das Aufnahmegerät lief, löste sich mein anfänglich auf Äußerlichkeiten beschränktes Bild von ihm, ein eher grober Typ zu sein, auf und kehrte sich in sein Gegenteil um. Wie bereits vorweggenommen wurde, ist Duduš Kurtos Weg in die Politik ein eher indirekter gewesen, auf dem er »nur einem Freund helfen wollte«. Damit ähnelt sein Weg sehr stark jenem, den einst auch Amdi Bajram einschlug, der auf Grund seiner finanziellen Mittel in die erste und damals noch größte RomaPartei Mazedoniens, die PCER unter Abdi Faik, eingetreten war. Duduš Kurto: »Durch Freunde, die etwas in der Politik gemacht haben, bin ich eingestiegen. Ich wollte eigentlich nur einem Freund helfen. Naja, Freund: der Amdi [Bajram]. Der ist damals aus dem Knast rausgekommen. Als er rausgekommen ist, war er ganz allein und hatte gar nichts, kein Geld, keine Parteifreunde. Er hatte die Partei gehabt, aber eben ohne Leute. Er hat mir leid getan und da habe ich gesagt: ›Okay, ich helfe ihm!‹ Also finanziell und mit Leuten und so. Und so bin ich eingestiegen: Ich wollte jemandem helfen! Und er hat damals viel mehr versprochen: ›Ich werde Abgeordneter‹, hat er gesagt, ›Und du wirst Bürgermeister! Wir werden zusammen arbeiten!‹ Und ich habe gesagt: ›Ja, ich möchte das eigentlich gar nicht. Ich will damit nichts zu tun haben.‹ Da meinte er: ›Nein! Die Leute hier respektieren dich alle! Die wissen, dass du der Richtige bist für so etwas!‹ […] Damals habe ich es als einen Spaß verstanden.«

Und am Ende resümierte Kuzo, enttäuscht, desillusioniert und mit dem Gefühl, betrogen worden zu sein, über die Personen, mit denen er gewillt war politisch aktiv zu werden: »Und deswegen sage ich, dass ich mit keinem mehr zusammen bin! Ich rede mit keinem von ihnen und ich bin ganz raus aus der Sache! [...] Aber die Wahlen haben gezeigt, dass die Leute alle hinter mir standen. Ich meine hier, in Shutka. Es war aber so, dass sie [die Vertreter seiner Koalition] falsche Sachen gemacht haben. Es waren manche Sachen, die ›fünf vor zwölf‹ falsch gemacht worden sind. Und so habe ich verloren. […] Wir hatten keine Chance! Hätte er [Amdi Bajram] auch nur eine Stimme in Shutka gehabt, hätte er trotzdem gewonnen. Er hatte die volle Unterstützung der Wahlkommission gehabt. Die Regierung hat ihn komplett unterstützt, mit der Polizei usw. Die Schulen, die Direktoren der beiden

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Zigeunerkulturen im Wandel Schulen waren auch alle in diesen Wahlen dabei gewesen.18 Und die haben auch für sie gearbeitet. […] Aber das ganze andere hatte er gut organisiert, weil er wusste, dass er verliert. Und deswegen ging er davon aus, so zu spielen. Er wusste, dass er nicht gewinnen kann. Er war sich in der ersten Runde sehr sicher, dass ich nicht gewinne. Er hat zu allen Leuten hier gesagt: ›Ah, wer ist Kuzo? Der kann mir nichts! Der kann hier in Shutka nicht gewinnen!‹ Und es ist so, dass er [Amdi Bajram] hier in Shutka noch nie verloren hat. Er meinte: ›Ich habe noch nie verloren und auch diesmal [werde ich es] nicht!‹ Wir haben uns sehr ruhig verhalten. Wir haben nur gearbeitet und gesagt: ›Lass den nur reden! Wir gehen unserer Sache nach.‹ Und so haben wir keine Probleme gemacht. Keine Schlägerei, nix. Ich hatte die ganzen Leute unter Kontrolle. Deswegen bin ich auch 20 bis 22 Stunden am Tag unterwegs gewesen. Als ich hörte, dass da und dort Probleme waren, habe ich die Leute beruhigt und gesagt: ›Wir brauchen so etwas nicht. Ihr wusstet, dass die Polizei hinter denen steht. Wollt ihr in den Knast gehen? Nein?! Wir gewinnen fair!‹«

Inwiefern der von Duduš Kurto hier angedeutete Wahlbetrugsvorwurf an die Seite der Koalition um Amdi Bajram gerechtfertigt ist, soll aufgrund der fehlenden Nachweisbarkeit offen bleiben, jedoch nicht, ohne auf die Ausführungen Daniel Petrovskis zu verweisen, die mir gegenüber, gleichfalls mit anderen Stimmen innerhalb und außerhalb Shutkas, bestätigten, was die ›Spatzen Shutkas‹ ohnehin bald ›laut von den Dächern pfiffen‹: Amdi Bajram hat wahrscheinlich mit einer nicht unerheblichen Summe – einige Stimmen sprachen von 100.000 und 150.000 € – albanische Stimmen gegen das Versprechen gekauft, im Falle seines Wahlsiegs in der zweiten Runde das vorwiegend albanisch bewohnte südliche Teilgebiet Shutkas auf der städtebaulichen Finanzierungsagenda im Laufe seiner Legislaturperiode stärker zu berücksichtigen. Duduš Kurtos Meinung, wer der Koalition Amdi Bajrams seine Wählerstimme gegeben hätte, wiederholt, was bereits bestätigend anklang: Unter vielen Roma / Zigeunern Shutkas sind Wählerstimmen sowohl durch »verwirklichten Reichtum«19, ein Versprechen auf Berücksichtigung bei Arbeitsplatzvergabe,

18 | Alvin Salimovski, der Interimsdirektor in »Brakja Hamis i Hamid«, einer der beiden Schulen in Shutka, der auch zum Kreis »meiner« Akteure zählt, berichtete in diesem Zusammenhang von einem handfesten Schülerstreik: Als die Direktorenstelle mit einem neuen und permanenten Direktor besetzt wurde, ging unter den Schülern das Gerücht, »der Neue« sei albanischer Herkunft, worauf hin die Schüler ihre Teilnahme am Unterricht verweigerten und sich vor der Schule lautstark über den neuen Direktor beschwerten. Die zweite Schule in Shutka (»26. Juli«) ist zwar keine »albanische Schule«, wie sie von einigen Roma / Z igeunern Shutkas genannt wird, doch ist der Anteil der Kinder aus Familien mit albanischem Hintergrund bedeutend höher als in »Brakja Hamis i Hamid«. 19 | Siehe Feldtagebuch Shutka, S. 235 f f.

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oder auch mittels der Legalisierung bisher semi- oder illegaler Bausubstanz generierbar. Weiter Duduš Kurto: »Aber naja, die Leute schauen eher darauf, wer wirklich reich ist, und den wählen sie! […] Es gab Leute in diesen Wahlen ... fast das ganze Shutka, ohne die die [Koalitionsseite Amdi Bajrams] keinen Zusammenhalt gehabt hätte, ob Arbeit oder ein Haus gebaut und das ohne Dokumente. Und da hat er gesagt: ›Okay, wenn ich gewinne, mache ich dir deine Papiere klar!‹ Solche Leute haben sie gehabt, also nur solche, die von ihnen materiellen Profit erhofften. Aber sonst haben sie keine Leute gehabt, die darauf achten, ob er [Elvis Bajram] gebildet ist. Reich ist er eigentlich gar nicht. Wir wissen, wie er sein Geld verdient. Deswegen denke ich, dass sie in diesen Wahlen gesehen haben, ob er gebildet ist oder ob er finanziell gut eingerichtet ist oder ob er das schaffen kann, als Bürgermeister. Vorher hat er [Amdi Bajram] immer gewonnen, obwohl er keine Schule hat und er sich nicht ausdrücken kann. Aber er hat immer gewonnen, weil er keine Konkurrenz gehabt hat. Die anderen, die immer noch in der Politik sind, die sind nur hinter dem Geld her. Sie machen nicht einmal das wenigste für die Leute hier. Ganz zu schweigen von den ganzen Roma hier in Mazedonien. Einer ist Minister 20, der andere ist, was weiß ich. Die sind jetzt alle zusammen in der Regierung und die machen gar nichts!«

Drei Tage, nachdem Elvis Bajram seinen Wahlsieg feierte, fand ein hauptsächlich von Duduš Kurto und Neždet Mustafa organisierter Protest gegen den Wahlausgang statt: Zum internationalen Tag der Roma, also am 8. April 2009, zu welchem ihre Koalition DSR-ORE aufgerufen hatte. Wie dieser Protest in den Augen von Duduš Kurto vorbereitet wurde und wer daran in welcher Form beteiligt war, erzählte er mir mit folgenden Worten: »Also, als wir den Protest gemacht haben, ich weiß nicht […], aber das Video musst du im Internet [an-]schauen! Das heißt ›Shutka, Miting, Protest‹ 21. Und da waren mehr als 5000 Leute bei diesem Protest. Und da meint er [Neždet Mustafa] zu mir [nach den Wahlen]: ›Weißt du, wir machen einen Protest, denn die Wahlen waren falsch!‹ Ich war frustriert und sagte: ›Ja, machen wir!‹ ›Was meinst du, kriegen wir genug Leute, die hinter uns stehen, damit wir diesen Protest durchführen?‹ Und ich war mir sicher, dass ganz Shutka hinter mir stand. Da sagte er: ›Ach, der 8. April ist der Roma-Tag. An diesem Tag machen wir es! Du organisierst alles in Shutka, damit wir an dem Tag einen Protest machen!‹ Okay! Ich [habe das] an zwei, drei Tagen alles organisiert. Ich habe den Protest gemacht. Wir sollten eigentlich zum Regierungssitz gehen. Und dann ruft der [Nikola] Grujevski 22 an und er

20 | Hier spielt Duduš Kurto auf Neždet Mustafa an, der einen Posten als »Minister ohne Geschäftsbereich« in der mazedonischen Regierung innehat. 21 | Vgl. Fn. 16, S. 198. 22 | Nikola Grujevski ist seit Mai 2003 Parteivorsitzender der Koalition VMRO-DPMNE. Er wurde am 25. August 2006 ins Amt des Ministerpräsidenten Mazedoniens ge-

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Zigeunerkulturen im Wandel hörte, dass mehr als 5000 Leute zum Regierungssitz laufen und meinte: ›Du bekommst mit mir Probleme!‹ Am Telefon sagt er mir, die Leute [sind] alle im Parlament und nicht in der Regierung. Und dann ›fünf vor zwölf‹ wechselte er [Neždet Mustafa] die Richtung und sagte: ›Nein, nicht zum Regierungssitz!‹ Ich wusste gar nichts. Ich gehe nur einen Protest machen und mir ist es egal, wohin. Und am Ende, als alles beendet war … Naja, also dafür braucht man Geld! Wir haben Wasser gekauft, für 5000 Leute. Diese Pfeifen gekauft und was weiß ich noch alles. Und das [Geld dafür] habe ich alles selbst gegeben. Und am Ende war das Ganze so, dass sie dafür [für das Wasser] Geld [aus der Parteikasse] kassiert haben. Als ich das gehört habe, war ich sauer. Da sagte ich: ›Ich organisiere die ganzen Leute! Ich mach mich kaputt und mache die ganze Arbeit, damit das alles professionell aussieht, damit das alles okay ist! Und die kassieren Geld dafür? Ich weiß davon nicht einmal etwas!‹ Oh, da war ich sauer. Und da habe ich sie sofort alle angerufen und gesagt: ›Sofort heute Abend irgendwo reden!‹ ›Ja, was ist los?‹ ›Sofort will ich mich mit Euch treffen!‹ Dann habe ich sie getroffen. Aber sie sind ... Weißt du, sie meinten: ›Nein! Langsam! Moment!‹ Ach, Arschlöcher!«

Aller Enttäuschung über die verlorene Wahl überdrüssig und den verständlichen Totalabschied aus der Politik Shutkas bereits hinter sich lassend, ließ Duduš Kurto es sich mir gegenüber nicht nehmen zu erwähnen, warum er eigentlich in der Politik tätig sein wollte: »Also, ich war die ganzen zwei Jahre jeden Tag mit Amdi Bajram zusammen, so wie du jetzt hier, bei uns. Jeden Tag. Und da haben wir die ganze Zeit überlegt: ›Kuzo, was machen wir, wenn wir die Bürgermeisterwahl gewinnen? Dann machen [wir] Shutka besser als die Stadt [Skopje]. Machen wir das und das!‹ Und ich habe mich gefreut. Ich bin dafür in die Politik eingestiegen, um etwas zu machen. Nicht, dass du mich falsch verstehst. Aber schau mal, wie wir leben hier, modern [weist auf die Einrichtung der Wohnküche], für uns so. Wenn du zu mir in das Haus kommst, so etwas gibt es sonst in der Stadt, so modern. Und das wollte ich auch in Shutka machen. Dass ich [Shutka] irgendwie [ein] andere[s] Bild gebe. Deswegen bin ich eingestiegen in die ganze Sache und nicht, um irgendwie etwas für mich zu machen!«

6.5.3 »Ich bin ein echter Shutkarianer«: Der neue Bürgermeister Wie sich Elvis Bajram den Wahlsieg, aus seiner Perspektive heraus betrachtet, erkämpft hat, wie er sich als Führer und handelnder Politiker sieht, der nicht nur der fast jüngste Bürgermeister in Mazedonien ist (im April 2009 war er 31 Jahre alt), sondern auch derjenige mit der vergleichsweise niedrigsten Schulbildung, davon soll nun in den folgenden Abschnitten die Rede sein.

wählt, in dem er am 26. Juli 2008 und am 05. Juni 2011 bestätigt wurde. Grujevski ist im Jahr 1970 geboren und damit einer der jüngsten Ministerpräsidenten Europas.

6  Mazedonien »Nach meiner Grundschule – ich muss dazu sagen, dass mein Vater [Amdi Bajram] bereits politisch sehr aktiv war und er hatte bereits seine eigene Partei in der Zeit – war ich als ein politischer Aktivist stark in die Partei meines Vaters einbezogen. […] Ich war seit meinem 15. / 16. Lebensjahr in der Jugendbewegung. […] Ich habe die Elementarschule in ›Brakja Hamis i Hamid‹ besucht. Danach war ich im Geschäft meines Vaters aktiv. Da war ich 17 Jahre alt. Ich hatte wirklich den Wunsch, meine Bildung weiter zu betreiben. Aber ich und mein großer Bruder sind im Geschäft meines Vaters gewesen und daher viel gereist und hatten keine Möglichkeit, mit unserer Bildung weiterzumachen. Wir hatten 170 Angestellte. Wir mussten auf das Geschäft aufpassen und mein Vater ist in der Zeit gereist. Ich hatte einen großen Wunsch, etwas über Handel zu lernen, also eine Ausbildung dafür zu machen. Ich kann für mich selbst sagen, in der Zeit, in der ich in die Ausbildung gegangen wäre, hatte ich bereits meine eigenen Studenten und Lehrlinge, die in unserem Geschäft ihr Praktikum machten. Sie wurden aus der Schule in die Fabriken geschickt, um etwas aus der Praxis zu lernen.«

Trotz der recht späten Stunde, zu der wir uns mehrfach trafen, waren die Außentemperaturen noch immer recht hoch und die Klimaanlagen im Café der Bajrams, an der Hauptstraße Shutkas, liefen auf Hochtouren. Elvis Bajram trug kurzärmelige, zumeist graue Hemden, über denen eine seidig glänzende Krawatte hing. Sein beleibter Körper schwitzte und der Tagesstress hinterließ deutliche Spuren in seinem Gesicht. Das »offizielle« Interview führte er auf Romanes. Elvis Bajram selbst wollte, wie einige andere Akteure ebenso, »kein politischer Aktivist werden« und betonte dies um »zu zeigen, dass es nicht vom Vater abhängt«, sondern davon, dass er mit seinen »Freunden einfach etwas für die Roma machen« wollte. Das Vertrauen unter den Leuten und schließlich in der Partei selbst stellte sich Elvis’ Meinung nach ein, als er gemeinsam mit seinen Freunden in der Jugendbewegung der Partei …: »… oft und viele große Feiern und Parties organisiert [hatte] in der Stadt. Wir hatten einen Platz im Zentrum. Also das war eine große Disco. Wir wollten den jungen Roma auch zeigen, wie das Leben außerhalb des Ghettos ist. […] Durch diese Parties habe ich das große Interesse gesehen, das die jungen Leute hatten, nicht nur aus Shutka. Ich habe dann eines Tages ein großes Konzert organisiert. Nach einer Weile wusste ich, wie ich das Vertrauen der Leute um mich herum bekomme. Und dann habe ich auch langsam gesehen, dass wir fast 200–300 Leute in den regelmäßigen Treffen waren. Mit diesen Aktionen haben wir den Leuten der politischen Partei gezeigt, dass wir fähig sind.«

Vertrauensbildende Maßnahmen sind Elvis Bajram zufolge Feierlichkeiten und Discos zu organisieren. Erinnern wir uns kurz zurück, an Nikolaj Kirilovs Ausführungen in Kapitel 5, so können hier Parallelen gefunden werden, die auch Branislav Petrovski noch bestätigen wird: ›Mit Speck fängt man Mäuse‹, und mit Veranstaltungen wie Feierlichkeiten, Discos oder Banketts etc., oder wie es Nikolaj Kirilov formulierte, mit »Bier, Kekse und Kebabtže« versuchen viele, zusätz-

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liche Wählerstimmen einiger Roma / Zigeuner zu gewinnen. Elvis Bajram war schließlich Fortuna hold, die ihm bei den Wahlen 2003 einen Sitz im Gemeinderat bescherte: »Nach einer Weile, in den Wahlen 2003, gab es einen Beschluss in der Partei, dass es einen Jugendkader in der Liste geben wird, der Mitglied im Stadtrat Shutkas sein soll. Es war nicht meine Entscheidung, dass ich der Kandidat war. Das war der Beschluss der Jugendkader, dass ich der Repräsentant der Jugendbewegung der Partei im Bezirk Shuto Orizari sein soll. […] Der Führer (Präsident des Bezirksrates) war Sami Serbezov 23 . Ich war also die Nummer sieben und wir haben sieben Sitze bekommen und ich, als Repräsentant der Jugendkader, war damit im Rat des Bezirks. Ich war glücklich darüber.«

Die Virtú, welche ihm zusammen mit der günstigen Gelegenheit, der Fortuna, den Erfolg einbrachte, einen Sitz als Abgeordneter im Stadtbezirksrat von Shutka zugesprochen zu bekommen, basiert auf seiner Initiative, innerhalb der Partei seines Vaters eine Jugendbewegung initiiert zu haben. Doch blieb es nicht dabei. Ein halbes Jahr vor Ende der Legislaturperiode sträubte sich Elvis Bajram, die »falschen Sachen«, die dem damaligen Bürgermeister Erduan Iseni, und die »kriminellen Sachen«, die dem damaligen Präsidenten des Rates des Bezirks zuzuschreiben waren, weiter hinzunehmen. Die damals in Shutka noch zu unsäglichen Mengen auf den Wegen und Straßen verteilten Berge von Müll und Abfall24 empfanden alle Bewohner als störend und wünschten sich eine ständige Straßenreinigung, Licht in den Straßen bei Nacht und ebenso eine verlässliche Versorgung mit Leitungswasser. Elvis Bajram, der diese Dinge ansprach und sich offen darüber im Rat des Bezirks mokierte, wurde daraufhin zum Präsidenten dieses Rates des Bezirks gewählt: »Ich habe ihm [Erduan Iseni] im Nacken gesessen, was die elementaren Dinge in Shutka, also das, was die Leute brauchen, betraf. Ich meine die Müllprobleme, Wasser, Licht in den Straßen usw. Aber er hat kein wirkliches Interesse gezeigt. Sechs Monate vor dem Ende der Legislaturperiode gab es hier in Shutka ein richtiges Problem im Rat. Der Ratspräsident [Sami Serbezov] hat einige kriminelle Sachen gemacht. Das Problem war, dass ich der Erste 23 | Unter den politisch aktiven Roma / Z igeunern in Skopje ist Sami Serbezov auch als »Sami der Reiche« bekannt, wie mir u. a. Ajet Osmanovski bestätigte. 24 | Ein Telefonat im Januar 2012 mit einigen Bewohnern Shutkas bestätigte mir, dass sich der Ort in der Folgezeit meiner Datenanalyse gewandelt hat. So wären deutlich weniger Müllberge zu sehen und in einigen Straßenzügen sei die Straßenreinigung sogar mehrmals wöchentlich zu Gange. Der Müll würde täglich abgeholt werden und auch die Wasserdruckstörungen und die Probleme mit der Elektrizitätsversorgung seien zurückgegangen. Dennoch, so berichtete man mir, sei der Unterschied zu anderen Stadtteilen Skopjes Ende März 2014 weiterhin sehr deutlich wahrnehmbar (s. Abb. 9 u. 10, S. 254).

6  Mazedonien war, der gesagt hat, dass der Bürgermeister die Pläne für Stadtplanung hat und jeder wusste, dass der Bürgermeister Unregelmäßigkeiten macht. Dann haben wir uns im Rat getroffen. Wir haben dann, fünf Monate vor Ende des Mandats, einen neuen Präsidenten gewählt, der in den letzten Monaten, die wir noch hatten, alles in die richtige Richtung lenkt. […] Ich habe nicht gehofft, dass sie mich als Präsidenten des Rates wählen. Ich habe es irgendwie als Antwort und Lohn bekommen, für die letzten drei, vier Jahre, dass ich ehrlich gearbeitet habe und so, wie es sein sollte. In den ersten sechs Monaten als Präsident hatte ich offene Treffen mit dem Bürgermeister, um alles ins rechte Licht zu rücken. In diesen sechs Monaten sind wir leider nicht dazu gekommen, mit dem Bürgermeister in derselben Sprache zu sprechen. Er hat uns immer als Opposition angesehen. Wir haben aber auch immer außerhalb, also unter und mit den Leuten gearbeitet und so den Respekt zuerst für die Partei gewonnen und zum anderen für mich als Elvis Bajram. […] Ich möchte Ihnen sagen, dass ich den Respekt [in der Partei] bekommen habe, unabhängig davon, dass mein Vater in derselben Partei ist.«

Wenngleich Elvis Bajram mit letzter Aussage seine eigenen sozialen und materiell gegebenen Zugänge zur Politik und schließlich zur Amtsübernahme als Ratspräsident von Shutka auf Seiten seines Vaters unterschätzt (siehe Duduš Kurtos Ausführungen, die allesamt von Leuten in Shutka bestätigt wurden, dass Elvis Bajram »ohne seinen Vater nichts wäre«), kann er als ein Werteverwirklicher gelten, der sich mit »ehrlicher« Arbeit den Respekt der Parteimitglieder und auch der »Leute«, wie er meint, gewonnen und erarbeitet hat. Elvis Bajram äußerte sich nicht nur laut über die kriminellen Machenschaften des ehemaligen Bürgermeisters [Erduan Iseni] und seines Ratspräsidenten [Sami Serbesov], sondern prangerte damit den vorherrschenden Wert der politischen Handlungen der Ratsvorsitzenden offenkundig an. Im selben Atemzug kommt gleichsam der Wert zum Tragen, den er innerhalb der ersten Monate als Bürgermeister im Jahr 2009 mit Erfolg verwirklichte: »Wir hatten eine große und intensive Kampagne für diese [letzten Bürgermeister-]Wahlen. Viele andere Parteien haben sich dabei beteiligt, um Sitze und Positionen im Rat zu bekommen. Leider, ja, die Leute wählen und entscheiden, wer gewinnt. Ich muss allen Leuten danken und sagen: ›Ja, 75 Prozent sind Roma [hier in Shutka] aber die anderen 25 Prozent sind andere, also Albaner, Mazedonen usw.‹ Das war mein Lohn dafür, dass ich mich seit 13 Jahren in der politischen Arbeit aktiv beteilige. […] Seit vier Monaten bin ich jetzt im Amt als Bürgermeister. Vielleicht sehen Sie bereits jetzt meine Arbeit in Shutka, das Licht usw. Ich kann sagen, dass ich in diesen vier Monaten viel gemacht habe: Das erste war, die vielen kleinen Mülldeponien in Shutka zu beräumen. Zwei Monate haben wir dafür gebraucht. Wir haben festgestellt, dass wir 500 Kubikmeter Müll aus Shutka herausgefahren haben. Das ist zu viel! Bis heute arbeiten viele der Reinigungskräfte Tag für Tag in den Straßen. Wir wollen damit den Leuten deutlich zeigen, dass wir nicht wie die Bezirksleiter sind, die vor uns im Amt waren! Wir als armes Bezirksamt haben diese Hauptstraßen repariert, den Corso haben wir beleuchtet und gestrichen. Vielleicht haben Sie es bereits gesehen. Sie haben auch

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Zigeunerkulturen im Wandel gesehen, dass es in den Hauptstraßen Licht gibt. Wir haben innerhalb eines Monats mit einem Projekt den Sportplatz repariert, den Fußballplatz neu geschaffen mit Sitzplätzen, mit Grünflächen, dass es gut aussieht (s. Abb. 13–15, S. 256  f.). Seit sieben Jahren haben die Straßen am Ende Shutkas kein Wasser gehabt. Dem Bürgermeister Skopjes sei Dank, dass wir eine Spende bekommen haben, um diesen Straßen Wasser zuleiten zu können. So wie er bin auch ich ein neuer Bürgermeister und ich hoffe, dass wir unsere interne Zusammenarbeit weiterhin so fruchtbar halten können, um damit Gutes in Shutka zu bewerkstelligen.«

Ob Elvis Bajram mit seiner Bemerkung »aber die anderen 25 Prozent sind andere, also Albaner, Mazedonen usw.« den (ihm bewussten?) Wahlbetrug entschuldigend erwähnte, blieb mir wie gesagt unbekannt. Sein Wahlsieg sei ihm zufolge der Erfolg seiner langen Tätigkeit in der Politik, in welcher er »seit 13 Jahren« aktiv beteiligt war und nicht die Assoziation seiner Person mit der seines Vaters. Die allerdings ist, wie gezeigt, die Assoziation der meisten Bewohner Shutkas. Wie auch immer letztendlich die genauen Hergänge gedeutet und (miss-)verstanden werden könnten; als wirklicher, weil wirkender Fakt bleibt festzuhalten, dass seine politische Karriere mit seinem Vater begann, dessen Ansehen, Respekt und Image sich unter vielen Bewohnern Shutkas als letztlich wahlentscheidend benennen lässt, ob mit oder ohne Wahlbetrug durch gekaufte Wählerstimmen aus der albanischen Bevölkerung Shutkas. Dennoch lässt es sich auch Elvis Bajram nicht nehmen, beim Thema Respekt und Image eines Roms, Abdi Faik mit in seine Erzählungen einzubinden und seinen Vater als einen Führer in der Folge Abdi Faiks zu verorten: »Meiner Meinung nach, bevor mein Vater ein Roma-leader wurde und Neždet Mustafa, gab es einen einzigen anderen. Ich habe wirklich Respekt vor meiner Generation in der Partei, aber wir müssen über Abdi Faik sprechen, der damals der wirkliche König war. Und so nennen sie ihn heute noch: ›König‹. Er war wirklich der erste der großen Führer. All die Politiker nach ihm sind nur seine Studenten oder Lehrlinge. Vor 15 Jahren gab es noch keine fünf politischen [Roma-]Parteien wie heute. Er war der Erste und Einzige damals, nicht weil er reich ist! Damals, in der jugoslawischen Zeit, war er der Erste, der die Courage hatte, für die Rechte der Roma zu kämpfen. Jedes Recht, das wir heute haben, ist auf seinen Schultern gelagert. Seine Autorität war damals viel schwerer zu erarbeiten, als zu heutiger demokratischer Zeit. Vor ein paar Jahren, als ich mit meinem Vater zusammengelebt habe, hat er mir alles über Politik erklärt. Mein Vater war damals der Vize-Präsident der Partei [Abdi Faiks]. Es war die kommunistische Zeit und er war ein sehr couragierter Mann. Alles, was sie gemacht haben, war geheim. Sie haben sich im Geheimen getroffen und alles im Geheimen besprochen. […] In meinen Augen ist er der erste und einzig wahre Roma-leader, der für uns gekämpft hat, und war derjenige, den die Leute in der politischen Partei wollten.«

Wie bereits angeklungen, wurden die Aktionen Abdi Faiks zu Zeiten seiner Amtsinhabe eher mit Bedenken, ja sogar mit Zweifel und Missgunst betrachtet. Sein Respekt und Image entstanden erst, nachdem er sein politisches Geschäft und

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die Position verlassen hatte. Seine »Autorität« war schwerer zu erarbeiten, eröffnete nicht nur Elvis Bajram, da zum einen »kommunistische Zeiten« herrschten und zum anderen dadurch, dass »alles im Geheimen besprochen« und durchgeführt werden musste. Heute hingegen würden Aktionen wie der Wiederauf bau des Sport- und Spielplatzes in Shutka, die Versorgung der Hauptstraßen mit Straßenbeleuchtung, die Anbindung der Häuser ans Wasserversorgungsnetz und die Entsorgung des Mülls aus den Straßen als Aktionen gelten können, nach denen die Gewählten eingeschätzt werden und durch die sich beispielsweise das Ansehen und Prestige von Elvis Bajram vergrößern kann.

6.5.4 Familieninteressen und staatliche Bildung: Vermittlungser wartungen an den Interims-Schuldirektor Der Interimsdirektor der Grundschule »Brakja Hamis i Hamid«, Alvin Salimovski, beschrieb das im letzten Abschnitt genannte Phänomen wie folgt: »Ich beschäftige mich mit Politik überhaupt nicht, aber ich weiß, dass die Leute hier in Shutka den Bürgermeister so sehen, dass wichtig ist, was er für sie gemacht hat. Zum Beispiel Amdi Bajram und der Sohn von Amdi [Elvis] haben etwas für sie gemacht: Der Sportplatz, die Moschee (s. Abb. 11 u. 12, S. 255) auch und die Müllbeseitigung. Und die Leute sehen es so: ›Also er hat etwas für uns gemacht.‹ Als Edu [Erduan Iseni] [Bürgermeister] war, hat er überhaupt nichts gemacht. Sozusagen: ›Er [Elvis Bajram] ist unsere bessere Option als jemand anderes!‹ Sie sehen eher die praktischen und materiellen Dinge.«

Der in Kriva Palanka in eine Arli-Familie Geborene wurde aufgrund folgender, kurz darzulegender Umstände zum Interimsdirektor einer der beiden Grundschulen in Shutka ernannt. Als die Art und Weise der Amtsführung Erduan Isenis in seiner zweiten Legislaturperiode (2006–2009) langsam unter der Bevölkerung Shutkas bekannt und deren Unmut darüber sichtbar wurde, entschlossen sich Sohn und Vater Iseni, laut den mir gegenüber geäußerten Aussagen, sich mit den übriggebliebenen Finanzen aus dem Bürgermeisteramt »aus dem Staub zu machen«. Mir gegenüber wurden die abenteuerlichsten Geschichten offenbart, nach denen sich Vater und Sohn Iseni mittlerweile in Amerika befinden und dort das Geld Shutkas verprassen würden. Shaib Iseni war, während sein Sohn zwei Amtsperioden lang den Posten als Bürgermeister innehatte, der Direktor der Schule »Brakja Hamis i Hamid«. Damit ist er der Amtsvorgänger Alvin Salimovskis, den Iseni selbst als seinen Nachfolger ernannt hatte. Als Rom, der außerhalb Shutkas aufgewachsen ist, kam Alvin Salimovski eine besondere Aufmerksamkeit meinerseits zu: Wie sieht er die Dinge als Rom, der in einer Mahalla aufgewachsen ist – weit entfernt von seiner Arbeitsstelle in Shutka – und sich damit von seiner Geburtsumgebung entfernt befindet, wohin er nur sporadisch zurückkehrt?

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Seine offene und frische Art, über seinen Alltag zu sprechen, sein beherzter Umgang mit Kollegen und seine engagierten Bittstellungen und findigen Umtriebe, Gelder für die Schule heranzuschaffen, zeichneten ihn besonders aus. Nichtsdestotrotz weckte seine »preußische« Herangehensweise an verschiedene Alltagsaspekte in mir zunächst Erstaunen, da diese in meinen Augen so gar nicht in seine mazedonische Umgebung zu passen schien. Einige Zeit nach unseren ersten Treffen und den Gesprächen wurde er vom »neuen« Bürgermeisterteam 2009 abgesetzt und die Direktorenstelle neu vergeben. Die Gespräche und Treffen mit ihm fanden alle in deutscher Sprache statt, der er als Deutschlehrer durchaus mächtig war und ebenso darauf bestand, aus Zwecken der Übung, wie er meinte, deutsch als die »offizielle« Sprache zwischen uns zu benutzen, sowohl in Gesprächen, als auch in der nachhaltigen, bis heute andauernden Kommunikation via Email oder Facebook. Meinen Bitten, doch auch in seiner Heimatsprache bzw. -dialekt zu sprechen (bzw. zu schreiben), kam er nur bedingt nach, wenn es beispielsweise Unverständliches gab, was es dann mit Hilfe meiner Begleitung näher zu erklären galt.25 Alvin Salimovski: »Ich habe früher dem Direktor Herrn Shaib [Iseni] sehr geholfen. Ich habe alles gemacht hier in der Schule. Nicht nur Unterricht! Alles! Und er hatte Vertrauen in mich. Er sagte: ›Niemand kann diese Arbeit machen außer Alvin!‹ Und er hat dem Bürgermeister gesagt: ›Alvin wird der nächste Direktor sein und Punkt!‹ […] Denn der Bürgermeister bestimmt den Direktor der Schulen im Bezirk.«

Seiner Meinung nach sei Amdi Bajram »nur« ein »Baro Rom«, ein »Businessmann«, der reich wäre, aber kein »Sherudno«. Denn »ein Sherudno ist der Direktor«. Dieser Unterscheidung möchte ich mich etwas nähern. Wie wir von Ramadan Berat erfahren haben (S. 184, Abschn. 6.1.3), existierten dessen Meinung nach im Kosovo zwar »Sherudnes«, deren »Köpfe allerdings leer« seien, denn »Shero« sei die Begrifflichkeit für Kopf. Alvin Salimovski hingegen versteht den Begriff allein als Titel für jene Personen, die sich (wie er selbst) in einer leitenden Position befinden, in der man »oft Streits schlichten« müsse. Die mediierende Position dieser Streitschlichtungsinstanz, in Verbindung mit der leitenden Stellung einer Bildungsinstitution, unterscheidet Alvin Salimovski hier jedoch von jener, die um den Faktor Reichtum zu erweitern wäre, wenn man an Personen wie Amdi Bajram oder Shaban Saliu denkt. Deren Stellung würde 25 | Im anschließenden Kapitel stelle ich anhand eines Gesprächs zwischen Alvin Salimovski und meinem Begleiter Sabir Agush heraus, wie Alvin vor dem Hintergrund des Wertes der »höf lichen Anrede« eine Art Vorbildlichkeit einfordert, indem er auf die Verwendung der Höf lichkeitsform »Tumen« im Romanes besteht, wohingegen Sabir diese Form als »Nicht-Roma-Art« verwirft (s. Abschn. 7.2.5).

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dann eher als »Baro Rom« und seltener als »Sherudno« bezeichnet werden müssen. Das jedenfalls trifft auf seine Perspektive als Außenseiter Shutkas zu. »Ich weiß nicht, ob er [Amdi Bajram] Grundschule hat. Er hat keinen Abschluss. Er kann lesen und schreiben. Er ist ein Businessmann, er ist reich, er ist aber kein Sherudno. Ein Sherudno ist der Direktor. […] In Shutka ist er [Amdi Bajram] ein Baro Rom. Und die Leute wissen, dass er nicht des Geldes wegen arbeitet.«

Die Erwartungshaltungen an Alvin aufgrund seiner Amtsinhabe drückten sich nicht nur durch die staatlichen Curricula und die administrative Leitung der Schule aus. Auch die Eltern der ihm anvertrauten Kinder trugen ihre Erwartungen an ihn heran: »Da kommen die zwei Familien hierher zu mir. ›Mein Kind hat Recht!‹, ›Nein, mein Kind hat recht!‹ Es gibt in der Woche ca. dreimal so etwas. […] Sie sagen zu mir dann: ›Du bist der Direktor! Egal ob es 200 Kinder gibt oder 2000, du musst die Streitereien regulieren!‹ […] Also schon wie ein ›Sherudno‹, ja! […] Eine andere Möglichkeit zu sagen: ›Okay, ihr habt einen Streit miteinander, aber ich kann nicht vermitteln, ihr müsst euch einen anderen suchen!‹, das kann ich schlecht. Dann sagen sie: ›Du bist der Direktor, du musst das machen!‹ […] Das ist die Erwartung an den Direktor, auch wenn der Streit zwischen zwei Erwachsenen besteht!«

Obwohl sich Alvin Salimovski im Klaren darüber ist, nicht nach Shutka zu gehören – und dort auch nicht zu Hause sein zu wollen (er hat sich eine Wohnung in einem Neubauviertel der Stadt Skopje gemietet) –, ist er überzeugt davon, dass kein Außenseiter beispielsweise das Amt des Bürgermeisters von Shutka bekommen würde, denn: »Die Leute von Shutka werden keinen anderen (einen Nicht-Shutka-Bewohner) akzeptieren. Zum Beispiel, wenn ich mich für das Amt des Bürgermeisters hier in Shutka bewerbe, dann werden sie mich bestimmt nicht akzeptieren und wählen. Weil ich aus Kriva [Palanka] bin.«

In der Argumentation des zu verwirklichenden Wertes stellt Alvin Salimovski den Bildungsaspekt, der Logik seiner Position folgend, in den Vordergrund. Er ist daher fest überzeugt davon, dass Bildung nicht nur bei den Kindern stattfinden, sondern gleichzeitig die Bildungsarbeit mit ihren Eltern vorangetrieben werden sollte, deren Einstellung gegenüber schulischer Bildung in Alvins Augen genauso unbefriedigend sei, wie auch z. T. seine Arbeit mit deren Kindern: »Einen Tag kommt er [ein Schüler in die Schule] und dann kommt er zwei Tage nicht. Eine Woche kommt er und dann eine Woche wieder nicht. Und es ist alles normal! Wenn du ihn fragst: ›Warum bist du nicht gekommen?‹ ›Ich habe geschlafen!‹ Und dann sage ich: ›Okay, was machen deine Eltern? Gehen sie zur Arbeit?‹, ›Nein!‹ ›Geht dein Vater zur Ar-

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Zigeunerkulturen im Wandel beit?‹ ›Nein!‹ ›Deine Mutter?‹ ›Auch nicht!‹ ›Warum wecken sie dich nicht?‹ ›Die schlafen auch!‹ Und darüber spreche ich, diese Kultur und dieses Verhalten, dieses Benehmen. Sie verstehen einfach die Schule nicht! Sie nehmen sie nicht so wichtig. Viele Kinder sagen auch: ›Wann brauche ich die Schule? Mein Vater arbeitet auf dem Markt und ich werde das auch machen! Und Schluss!‹ […] Deshalb sagte ich, dass ich hier nicht mehr kann. Also wie viel du [auch immer] machen willst, man ändert es nicht einfach so. […] Es scheint, dass viele Eltern – nicht alle – die Bildung als keinen Alltagswert betrachten. […] Es scheint vielen Eltern [in Shutka] nichts zu bedeuten.«

6.5.5 Religiöse Führer: Ehrlichkeit gegenüber Gott und der Gemeinschaft Eine Implementation des Wertes Bildung sieht auch Ali Berat – der zu der Gruppe der religiösen Führer dieser Studie zu zählen ist – als einen zu verwirklichenden Wert an; seiner Meinung nach zumindest dort, wo Personen in der Politik aktiv sind. Im Alltag Shutkas kann man Ali anhand seines Äußeren leicht als Muslim ausmachen. Sein dunkler schwarzer Bart bedeckt fast vollständig seinen kurzen und kräftigen Hals. Seinen Umhang, den er in die Moschee zum Gebet überwirft, lässt er danach noch lange an. Nach dem Gebet begibt er sich oft unter die Gebetsteilnehmer, die vor der Moschee in Shutka noch eine Weile plaudern. Im städtischen Parlament, in dem er für religiöse Fragen zuständig ist, sind eher die legeren Anzüge mit Jeans und Polohemd sein Outfit. Für das einzige »offizielle« Gespräch lud er mich und meinen treuen Begleiter Sabir Agush in die »Amdi-Džamija«26 ein. Am Rand des innen riesig erscheinenden Gebetshauses nahmen wir auf lehnenlosen Holzhockern Platz. Langsam, bedächtig und bedeutungsschwer ließ mich der stattliche Mann seine Worte vernehmen. Sein ruhiger und erwachsen wirkender Habitus führten mir immer wieder die Dekade an Lebensjahren vor Augen, die ich älter bin als er. Seine Sprache ist metaphernreich und durchsetzt von Zitaten aus dem Koran, sodass nicht nur ich, sondern auch mein treuer Deuter, Begleiter und Dolmetscher vor Verständnisschwierigkeiten stand. Sein Kovači-Dialekt, in dem das Gespräch stattgefunden hat, wurde von meinem Begleiter später als »sehr traditionell« bezeichnet. 26 | Der Name der Moschee »Amdi-Džamija« kursiert daher unter den Bewohnern in Shutka, weil Amdi Bajram einen recht großen Betrag in den Bau und die Vollendung der Moschee investierte, die bis zum heutigen Tage auf ihre Fertigstellung wartet. Beide Minarette sind unvollständig (s. Abb. 11 u. 12, S. 255) und auch im Innenraum ragt in einigen Ecken noch Baugeschehen hervor. Aufgrund von Grundwassereinbrüchen im Innenraum und Problemen mit der Fertigstellung werden diese Baustellen wohl noch lange auf ihre Komplettierung warten müssen.

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Auf die Differenzen der alten und neuen Roma- / Zigeunerelite angesprochen, reagierte Ali Berat wie folgt: »[D]ie Jugend von heute [ist] eher gebildet. Und meine Meinung ist, dass wenn man in die Politik einsteigen will, dann sollte man wenigstens [eine] Rechts- oder Wirtschafts-Fakultät besucht haben oder es einfach gleich wieder vergessen. Diese Jugendgeneration und ihre Aktivitäten, [sie] haben einen besseren Blick über die Roma-Traditionen. Und wir dürfen nicht vergessen, dass die alten Führer die Dinge durch die kommunistische Linse sehen und alles was geschieht, heute. Und auch noch heute machen sie alles nach kommunistischem Gesetz. Aber die Jugend sieht es eben nicht so. Sie haben Demokratie gelernt und nicht Kommunismus und sie wollen Demokratie implementieren. Sie können somit keine gemeinsame Sprache finden.«

Implizit stellte er mit seinem Bildungsanspruch, als Politiker entweder Wirtschaft oder Jura studiert haben zu müssen, sowohl die Legitimität der Amtsinhabe Amdi Bajrams (der einer der Koalitionspartner seines Onkels Bajram Berat ist) als auch die seines Sohns Elvis Bajram deutlich in Frage. Und bekräftigend stellte auch er fest: »[d]as größte Problem der leader hier ist, dass sie ihre Mitglieder in der Gemeinschaft vergessen, wenn sie ihre Position erreicht haben. Und darum kann nicht jeder diesen Job machen. Man hat Verantwortung gegenüber den Mitgliedern dieser Welt und auch gegenüber Gott. Wenn wir Führer hätten, die gegenüber Gott ehrlich sein würden, dann würden sie auch in ihrer Arbeit ehrlich /  a ufrichtig sein. Und dann würde alles, was materiell ist, nicht mehr so wichtig sein für sie.«

Für Ali als Mitglied der Familie Berat kam finanziell zum großen Teil seine Familie auf, um sowohl seinen Aufenthalt mitsamt seiner eigenen kleinen Familie – der Ehefrau und den beiden Kindern – als auch seine Studien in Medina zu ermöglichen, wie ich von seinem großen Bruder Ramadan Berat erfuhr. So wie beispielsweise für Alvin Salimovski der Wert, den es unter den Leuten zu verwirklichen gilt, der der schulischen Bildung ist, so ist für Ali Berat, wie auch für andere religiöse Aktivisten dieser Studie (s. Abschn. 5.4.2, Stefan Kolev), die moralische Wertsetzung von primärer Bedeutung, wenn er von »Verantwortung gegenüber Gott« oder von »Ehrlichkeit« spricht oder gar von der Art und Weise, wie die Führer und Repräsentanten für sich Erfolge verbuchen oder zumindest erreichen können: »Alle leader und Repräsentanten, wenn sie Erfolg haben wollen, dann sollten sie für die Leute wünschen, was sie für sich selbst wünschen. Wenn diese Personen auf diese Schlussfolgerung kommen, dann kommen sie auf die Ebene, wo sie ihre Arbeit machen können, wie sie sein sollte: ohne Korruption oder andere Störungen, die ihre Arbeit beeinflussen könnten.«

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Und schließlich könnten Führer nur aus den religiösen Reihen kommen, wenn Ehrlichkeit und Moral zur Handlungsnorm gehören sollen. Denn »es ist besser Vertrauen zu haben zu einer Person. Und kann man einen ehrlicheren Führer finden als einen religiösen?«

6.6 S hutk a : D ie ältere G ener ation (A mdi B a jr am , B a jr am B er at, S haban S aliu , B r anisl av P e trovski) Dass Amdi Bajram eine besondere Stellung in der »Roma-Politik« Mazedoniens zuzuschreiben ist, steht mittlerweile außer Frage, wie mit folgendem Kommentar von Daniel Petrovski unterstrichen werden soll: »Ich kann sagen, dass alle Politiker heutzutage, die durch die Hände von Amdi Bajram gegangen sind, zu ihrer Zeit seine Marionetten waren, wie Neždet Mustafa, Shaban Saliu und auch Duduš Kurto. Alle waren mit ihm zusammen. Wir können sagen, dass er sehr mächtig ist! Denn sogar bei den letzten Stipendienvergaben, die zur einen Hälfte durch das REF und zur anderen Hälfte durch den Staat finanziert werden, hat der Staat plötzlich verlauten lassen, dass dieses Budget keine große Kraft hat und dass der Staat es deshalb nicht geben wird. Und wenn Amdi nicht dahin gegangen wäre und seinen Einfluss geltend gemacht hätte, hätten sie das Geld nicht gegeben.«

Als ich Amdi Bajram in seinem Büro im nationalen Parlament begegnete, offenbarte sein Verhalten die Neigung, sich selbst in den Vordergrund zu rücken und mit lauter Stimme zu argumentieren. Erstaunlich unbeschwert sprach er über seine nicht immer in allen Phasen glücklich verlaufene Jugend und unterstützte seine Worte mit großen Gebärden. Als Vater des neuen Bürgermeisters von Shutka und Mitbegründer der neuen Koalition PIR gilt er als einer der einflussreichsten Roma Mazedoniens, nicht nur in Shutka. Die Romanes sprechende Sekretärin im Vorzimmer seines Arbeitsbüros im Parlamentsgebäude Mazedoniens zeigte sich mehr als erstaunt über mich als deutschen Feldforscher und über mein Untersuchungsthema einer »Roma- / Zigeunerelite«. Während des Gesprächs mit Amdi Bajram kam es zu mehrfachen telefonischen Unterbrechungen, deren Inhalte weiter unten in die Diskussion einfließen werden: Ein Streit und eine handfeste Prügelei brachen während unseres Gesprächs vor einer der beiden Moscheen Shutkas aus, weil ein junger Rom einen albanischen Jugendlichen beleidigt haben sollte. Daraufhin kam es zwischen den jeweilig herbeigerufenen Familienmitgliedern und Freunden zu gefährlichen Auseinandersetzungen vor dem Supermarkt, der sich im Untergeschoß der Moschee befindet. Seine Herkunft und frühe Kindheit verhandelte Amdi Bajram mit Zurückhaltung, und nur auf mehrfaches Ansprechen und wiederholtes Fragen hin gab er bei weiteren Treffen auch etwas aus dieser Vergangenheit preis. Primär jedoch sah er

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seinen Erfolg im Leben unter wirtschaftlichen Aspekten und gab sich folglich bei anderen Treffen eher als ein Geschäftsmann aus denn als Politiker. Das Gespräch fand in mazedonischer Sprache statt, da, so Amdi Bajrams Begründung, »alle Regierungsgeschäfte auf Mazedonisch ablaufen«. »Ich wurde in Skopje, im Zentrum, wo keine Roma leben, geboren. Danach, als das Erdbeben [1963] war, wurde unser Haus zerstört. Vom Staat haben wir ein anderes Haus bekommen, in einem anderen Bezirk. Im [Stadtbezirk] Buthel. Ich lebe da seit 1964 bis heute. […] Mein Vater starb 1973, also hatte ich, als ich 16½ Jahre war, nur noch einen Elternteil. Und dann habe ich angefangen, mit meinem Leben etwas zu machen. Meine Eltern hatten fünf Kinder. Vier Jungs und ein Mädchen. Ich bin der Zweitgeborene. Also ich habe mit 16½ Jahren begonnen zu arbeiten. Meine Mutter war die Einzige, die ein Einkommen hatte, doch konnten wir davon kein Essen auf den Tisch stellen. Ich komme aus einer sehr armen Familie. Ich weiß also wie es ist, nichts zu haben und auch wie es ist, normal zu leben. Mein erster Job war in einer Fabrik, wo Soda in die Flaschen abgefüllt wurde. In der Nacht habe ich die Flaschen gereinigt und am Morgen habe ich sie dann verkauft. So habe ich meiner Familie helfen können ein normales Leben zu führen. Danach habe ich angefangen Geschäfte zu machen. Als ich den Juice in Sodaflaschen und Eiskrem auf der Straße verkauft habe, habe ich Leute gesehen, die Jeans verkaufen. Ich bin dann darauf gekommen, sie dort zu kaufen, auf dem ›Novi Bazar‹ und hier zu verkaufen. Danach habe ich Geld an fünf Leute gegeben, die die Jeans für mich gekauft und für mich verkauft haben. So kam ich langsam zu Profit. Irgendwann hatte ich 13 Leute, die für mich gehandelt haben und dabei habe ich mein Geld verdient. […] Da war ich 21 Jahre alt. Ich habe Tag für Tag mehr verdient.«

Amdi Bajram als derjenige, der eine Medaille für den erfolgreichsten Geschäftsmann des Jahres 1991 bekam, trat auf Grund seines großen finanziellen Kapitals auf die politische Bühne Shutkas und bald darauf Mazedoniens: Als Finanzier der Partei von Abdi Faik, der PCER.27 Dort wurde er von Abdi Faik aufgrund seiner finanziellen Potenz gleichsam in das Amt des Vize-Vorsitzenden gehoben. Rückbesinnend auf diese Zeit äußerte Amdi Bajram folgende Worte: »1991 wurde die erste Roma-Partei durch Faik, Abdi gegründet. Damals war ich der größte Geldgeber für diese Partei und für die Fußballmannschaft [vor Ort]. Mit diesen Donationen hat die Partei dann auch gearbeitet. Dann haben sie mich als Vize-Präsidenten und Stellvertreter von Faik Abdi gewählt. Damals war ich kein Politiker. Ich hab niemals daran gedacht, einer zu sein. Da ich in einer guten Geldsituation war; aber die Politik braucht höher gebildete Leute. Aber ich war ein sehr guter Geschäftsmann. Deshalb musste ich meine Bildung nicht fortsetzen. In den ersten Parlamentswahlen war die sozialistische Partei noch in Mazedonien. Ohne jemanden zu fragen, hat Herr Faik Abdi eine Koalition mit dieser Partei gemacht. […] Als er bereits die Koalition gemacht hatte, kam er, um es der Partei zu berichten. Damals hatte ich keine Ahnung, was eine Koalition ist. Daher habe ich auf den 27 | Vgl. S. 139 f f., Abschn. 4.4.5 und S. 182, Fn. 4.

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Zigeunerkulturen im Wandel Tisch geschlagen und gesagt: ›Du hast unsere politische Partei verkauft!‹ Ich wusste es nicht. Ich weiß es jetzt. Und daher habe ich die Partei verlassen. Der junge Vogel hatte also begonnen zu fliegen und den großen Vogel zu fressen.«

Der Alltag Amdi Bajrams endet seiner Aussage zufolge »mit einer Fahrt durch Shutka«, bevor er sich zur Nachtruhe begibt. Mit diesem Argument reagierte Amdi Bajram auf mein Bedenken hin, wie er Roma / Zigeuner vertreten könne, wenn er selbst niemals unter ihnen gelebt hätte. Wie erwähnt, war unser erstes Gespräch durchsetzt von vielen Telefonaten, aus welchen ich nun eines darlege, an dem ich Amdi Bajrams Zugänge nachzeichnen werde. Bei jenem Telefonat – einem Anruf eines hohen Polizeiverantwortlichen auf eines der vielen Handys von Amdi Bajram – handelte es sich um einen handgreiflichen und heftigen Streit zwischen einigen jugendlichen Roma und einigen ethnischen Albanern Shutkas,28 vor einer der beiden großen Moscheen im Ort. Den Streit zu schlichten bzw. beratend Auskunft zu geben, lag nach Meinung der vor Ort befindlichen Polizei in Amdi Bajrams Händen – jedenfalls kontaktierten sie nur ihn telefonisch, und nicht den eben ›frisch‹ gewählten Vertreter und neuen Bürgermeister Shutkas, seinen Sohn Elvis Bajram. Zuvor jedoch eine kurze Zwischenbilanz der hier abgedruckten Sequenzen Amdi Bajrams: Derjenige mit dem größten und erfolgreichsten Business hat das meiste Prestige. Aber auch Name und Größe der Familie spielen eine bedeutende Rolle dabei, wer in den Augen der Mitglieder einer Roma- / Zigeunergruppe ein »Baro« sei. Die Person, die es versteht, ein Geschäft mit Erfolg aufzubauen und dies zum (ausgestellten) Vorteil zumindest seiner (Groß-)Familie zu nutzen, hat Prestige. Wenn man so will, findet die Akkumulation des ökonomischen Kapitals, welches Amdi Bajram zeit seines Lebens und bis ins Jahr 1992 vorrangig betrieben hat, beispielsweise im Jahr 1991 einen Gegenwert, als er, der größte Geldgeber einer Partei, nicht nur in diese aufgenommen, sondern gleichzeitig ihr Vize-Präsident wurde, nachdem er bereits eine Fußballmannschaft finanziert und sich dadurch einen Namen geschaffen hatte. Sein ökonomisches Kapital erfährt unter der Ägide einer politischen Partei den Umsatz in symbolisches, wenn nicht sogar soziales Kapital, das sein Prestige erheblich steigert. Doch zurück zum Telefonat. Erstaunlicherweise ist Amdi Bajrams Rat an den Polizeichef ein sehr simpler, 28 | Duduš Kurto erwähnte in diesem Zusammenhang: »Weil ich schon immer sehr gut mazedonisch gesprochen habe, hab ich keine solche Diskriminierung in meiner High-School erlebt, da gab es nie Probleme. Also es gibt dieses Roma-GadžeProblem. Aber eigentlich nicht so ein großes. Es gibt mehr Roma-Albaner-Probleme in der Schule. Und das ist schon immer so gewesen. Mit den Mazedonen kommen wir gut klar. Das sind friedliche Leute wie wir. Die Albaner sind ein bisschen ... also ich meine in der Schule und in diesem Alter sind sie aggressiver. Damals war es so und heute ist es genauso.«

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doch für diese Betrachtung beispielgebend. »Ich habe ihm gesagt, dass er alles nach Gesetz machen soll und keinen bevorteilen darf!« Vor dem Hintergrund der Biographie Amdi Bajrams stellen sich hier gleich mehrere diskutable Aspekte dar: Zum einen Bourdieus Ansatz der Kapitalformen (1983), welche transformierbar ineinander übergehen können, wie ich bereits vor Beginn des fünften Kapitels erörtert habe: Der finanzielle Reichtum Amdi Bajrams als materielles Kapital fließt in eine politische Organisation. Die somit finanziell gestützte Arbeit der Mitglieder der Organisation kann ihren Ruf durch eine Potenzierung ihres Images oder Namens aufgrund der Parteimitgliedschaft steigern. Folglich handelt es sich bei ihrer Anstellung in der Partei nicht mehr nur um eine simple Jobgelegenheit, sondern der Gewinn des eigenen Bekanntheitsgrades, ein Gewinn an symbolischem Kapital also, kommt hinzu. Wenn ökonomisches Kapital in soziales und symbolisches umgewandelt, also transformiert wird, entsteht zumindest in diesem Fall ein sozial relevantes Gegenpotential. Amdi Bajrams Perspektive auf sein Amt, in Verbindung mit seinem Ideal, was einen Führer und ein Repräsentanten ausmache, wird hier abschließend unkommentiert dargelegt: »Ich bin der Präsident einer politischen Partei, welche eine Partei im Parlament ist. Jede Partei muss einen leader haben, wie mich. Meine Partei hat 35.600 Mitglieder. Ich habe nicht nur Roma in der Partei, aber 85 Prozent sind Rom. 15 Prozent sind anderer Herkunft. Albaner, Mazedonen usw. Alle können in meiner Partei Mitglied werden. Das ist, was ich unter dem leader einer Partei verstehe. Ich bin ein Repräsentant der Roma im Parlament dieses Landes. […] Ein Repräsentant der Roma zu sein: Das ist der leader einer Partei, die im Parlament ist. Der Status eines Parteiführers gibt mir das Recht. Ich, als der Präsident einer politischen Partei, habe vier Vize-Präsidenten: Drei Männer und eine Frau. Der Unterschied ist, dass ich alle Roma im Parlament vertrete. Neben mir gibt es andere Personen, die Rom sind. Aber es gibt keinen anderen Rom im Parlament. Daher bin ich der Einzige.«

6.6.1 Geldwäsche auf dem Rücken der Armen: Die Perspektive des Arztes Bajram Berat ist, ebenso wie seine Frau, praktizierender Arzt in Shutka und darüber hinaus medizinischer Berater und Gutachter im Auftrag der mazedonischen Regierung. Er stellte sich in der Öffentlichkeit sehr dezent in den Hintergrund der Aktionsfläche, auch als wir uns im Café in Shutka trafen. Der Gesprächstermin entstand nach mehrfachen Nachfragen per Telefon und persönlichem Vorsprechen in der mit seiner Gattin gemeinsam geführten Arztpraxis vor Ort. Zum Gespräch und weiteren Treffen erklärte er sich prinzipiell bei der ersten Anfrage per Telefon bereit. Da er, wie auch alle anderen Akteure seiner Generation, mehrere Ämter und Positionen gleichzeitig innehat, bestehen seinerseits vielfältige

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Verpflichtungen und Kontakte. In der mehrfachen Verschiebung des Gesprächstermins konnte ich daher seine Verpflichtungen, nicht aber einen Unwillen oder gar eine Art von Abneigung gegenüber meiner Forschung oder meinen Fragen erkennen. Sein Wissen über die Anfänge der Roma-Politik in Shutka und seine Erfahrungen mit Journalisten bzw. interessierten Befragenden äußerten sich von der ersten Minute an: Eloquent und metaphernreich stand er mir Rede und Antwort. Er selbst ist ein Onkel väterlicherseits der zwei Akteure Ali und Ramadan Berat.29 Das Gespräch mit ihm fand in mazedonischer Sprache statt. »1976 habe ich begonnen, in der Medizinischen Fakultät in Skopje zu studieren. Ich habe als einer der ersten 32 [Roma-]Studenten meiner Zeit in dieser Fakultät meine Ausbildung beendet. Die Dame, die dort gearbeitet hat, sagte mir, dass sich viele andere [Roma] wie ich in der Fakultät eingeschrieben und das Studium später aufgegeben haben. Und ich habe ihr gesagt, dass ich, wenn ich mein Diplom bekomme, sie anrufen werde, um es ihr zu zeigen. Ich habe dann am Tag meiner Diplomierung ein Paket Süßigkeiten und Rosen gekauft und es ihr gebracht und gesagt, dass sogar Roma Doktoren werden können. […] Seit damals (1982) habe ich im Militärischen Hospital gearbeitet, weil ich ja ein Stipendium des Militärs hatte, und ich bin sehr dankbar dafür! Dort habe ich ungefähr zehn Jahre [gearbeitet]. Bis zum Zerfall der jugoslawischen Republik und ein wenig länger.«

Vor dem Hintergrund der prekären Lebensbedingungen vieler Roma / Zigeuner in Shutka erzählte er ausführlich, was er selbst von ihren Führungskräften hielt. Ideale Führerschaft beruhe seiner Ansicht nach auf einer stabilen wirtschaftlichen Situation, die im Falle Shutkas nicht gegeben sei, weshalb die Führerschaft nicht effektiv handeln oder gar Veränderungen in Shutka hervorbringen könne. »Ideale Führer und den idealen Repräsentanten einer Roma-Gemeinschaft, so etwas gibt es nicht! Damit es einen idealen Repräsentanten oder Führer gibt, benötigt man eine stabile wirtschaftliche Lage! Solange es in Roma-Gemeinschaften jemanden gibt, der die Armut der eigenen Leute ausnutzt und diese Armut, wenn Wahlen sind, sehr teuer verkauft und seine Worte auf diese armen Leute überträgt, solange werden wir keine Repräsentanten oder Führer haben. Was wir haben, sind gut trainierte und ideale Händler und Kriminelle. 29 | Ramadan Berat wählte folgende Worte, als er über seinen Onkel ref lektierte: »Mein Onkel, Bajram Berat – er hat ja auch sein Medizinstudium beendet und auch seine Frau. Aber ich habe ihn nicht so gemocht, weil er zu ... Er war einfach nicht freundlich genug, würde ich sagen. Er ist der jüngste Bruder meines Vaters. […] Er verhält sich ein bisschen sehr befremdlich. Aber ich finde ihn jetzt gut, jetzt, als ein Erwachsener. Aber in all seinem Chaos kann man einen (zögert) verrückten Jungen sehen (lacht). Seine Frau ist da ein wenig stabiler. Sie ist da wie eine Mittlerin gegenüber den Gadže. Seine Tochter hat auch ihr Studium der Medizin, der Inneren Medizin, und wird wohl in der Universitätsklinik arbeiten.«

6  Mazedonien Wir haben Händler, die mit dem Unglück der Leute und mit deren Stimmen handeln. Und das Resultat ist immer dasselbe.«

Um die allgemeine Arbeitsmarktlage vieler Roma / Zigeuner in Shutka zu kompensieren, so meint Bajram Berat, gingen »viele in die Politik«, als Ausgleich »zur fehlenden Industrie«. Und im Vergleich zu den bereits vorgestellten Akteuren liegt seine Meinung über die Führerschaft in Roma- / Zigeunergruppen wohl kaum außerhalb der seiner Vorredner: »Die Führerschaft ist ein Problem! Je mehr man für seine eigenen Leute arbeitet, umso weniger wird man von den Leuten gewollt. Der Führer ist kein Zauberer und kann die Dinge nicht über Nacht ändern! Und das Leben ist keine russische Klassik! […] Doch das hier ist Mazedonien, das ist Skopje, das ist leider Shutka, und die Führerschaft hier ist eine total andere, wenn wir sie mit anderen Führerschaften vergleichen. Shutka hat keine industriellen Objekte! Die Mehrheit ist arbeitslos. Die Leute sind gezwungen in Wegen zu überleben, die nicht gut mit demokratischen Richtlinien zusammenpassen. Wir wollen nach Europa gehen, in Europa eintreten? Wir leben aber wie in einem Stamm vor 100 Jahren und hier kann man Häuser finden, in denen vier bis fünf Generationen unter einem Dach leben. Wo ist der Führer, der einen solchen Platz und eine solche Situation verändern kann? […] Sie [die Roma-Führer] sind sehr clever im Lügen! Das Geldwaschen auf dem Rücken der Armen wird eines Tages vorbei sein! Was dann? Nach meiner Bildung bin ich Doktor [med.]. Ich habe auch die Militärakademie absolviert. Ich habe aber etwas verstanden: Immer, und leider ist es so, bringt das Geld die Lösung! Die Gruppe, die etwas bestimmt, ist immer etwas höher als die anderen! Sie machen keine Kinder, sie machen Geld! Das tut sehr weh! Sie richten sich immer nach ihren eigenen Bedürfnissen!«

6.6.2 »Leader werden nicht gemacht, leader werden geboren.« Shaban Saliu lächelte mich bereits beim ersten Besuch in Shutka von einem Werbeplakat herab an, auf dem er für Wählerstimmen für die letzte stattgefundene Wahl von 2009 warb. Sein Arbeitsplatz im Büro der Regierungsabteilung für »Schutz und Rettung«30 befindet sich auf einem Militärgelände innerhalb Skopjes. Nach einigen Minuten Wartezeit empfing er mich und meinen Begleiter freundlich zuvorkommend und kündigte an, dass wir gern am nächsten Tag weiter sprechen können, sollte der erste Termin nicht ausreichend sein. So trafen wir uns auch am Folgetag am selben Ort. Entrüstet über den Ausgang der Bürgermeisterwahl und auch über die abermalige Besetzung des Parlamentssitzes durch Amdi Bajram, machte er während der Unterhaltung immerfort Anspielungen, die seine Zweifel an der politischen Qualität der beiden Bajrams zum Ausdruck bringen sollten. Am ersten Gespräch nahm ein Mitarbeiter der Abteilung 30 | Влада на Република Македонија. Дирекција за Заштита и Спасување (Regierung der Republik Mazedonien, Direktion für Schutz und Rettung)

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teil. Beim zweiten Gespräch, am Tag darauf, war Shaban Saliu allein anzutreffen. Seine laute Stimme hallte im Raum, wenn er sprach, und verlieh den Besuchen bei ihm einen etwas theatralischen Charakter. Auch Shaban Saliu meinte, der einzige Weg für viele Roma / Zigeuner aus ihren prekären Lebensbedingungen heraus führe über die Bildung. Er selbst sieht sich ebenso wenig als einen Roma-leader wie viele andere Akteure. Denn »wirkliche Roma-leader« gäbe es auch seiner Meinung nach nicht. In seinem Direktionsbüro zeigte Shaban Saliu gleich bei unserem ersten Treffen eine Ausgabe des Abendblattes »Večer« vom 18. August 2009. Der Titel »Elvis Bajram bereitet sich auf den Schulbesuch vor«31 prangte auf der Frontseite der Ausgabe, die er mir wedelnd entgegenhielt und dazu äußerte: »Ich bezeichne mich selbst nicht als einen leader einer Roma-Gemeinschaft, aber ich fühle mich wirklich nicht gut, dass wir keine richtige Führerschaft in unserer Roma-Gesellschaft haben. (nimmt das Abendblatt hervor) Vielleicht haben Sie bereits gehört, wer zurzeit der Repräsentant im Parlament ist und wer der Repräsentant im Bezirk Shuto Orizari ist. Leider können Sie diese beiden Personen beobachten und dann wird Ihnen alles über Roma klar werden. Beide sind Analphabeten! Die Gadže, die Regierung, sie lachen über uns und spielen mit der Frage der Roma. Und der Sohn und der Vater (hält mir die Zeitung näher an mein Gesicht) geben dabei ein schlechtes Beispiel. Beide haben nicht die Kapazität, die Roma auf die richtige Art und Weise zu repräsentieren. Beides, lokal, auf der Ebene der Obschtina, und auch auf der Regierungsebene im Parlament nicht. Weil die Roma solch schlechte Repräsentanten im Parlament und auch auf den anderen Ebenen haben, sind sie unter den Gadže bekannt als die Lügner, die Diebe und die Bettler usw. Meine Partei hat in der ersten Runde der lokalen Wahlen [in Shutka] gewonnen und in der zweiten Runde haben sie [die Koalitionsseite Elvis Bajrams] mit den Albanern gemeinsame Sache gemacht und dabei gewonnen. Sogar in der zweiten Runde hat meine Partei von 15 Sitzen 13 gewonnen. Die anderen waren Sitze für die Albaner. Und so haben sie die zweite Runde gewonnen. Ich würde die Zeit nicht für diese zwei leader, die wir haben, verschwenden! Wenn Sie jetzt noch nicht wissen, wer diese beiden sind und wie sie arbeiten, dann schreiben Sie unberechtigter Weise eine Doktorarbeit!«

Shaban Saliu wendet sich hier in meiner Gegenwart offiziell gegen Amdi Bajram und seinen Sohn, obschon er Amdi Bajram bei dessen Verhandlungen wegen der gestohlenen Marken und des Plagiatsschwindels vor Gericht als Anwalt vertreten hat. Der Wahlverlust seiner Koalition im Jahr 2009 bei der Bürgermeisterwahl in Shutka hat eine für Shaban Saliu etwas bitter anmutende Seite. Er selbst stammt aus einer Familie mit Roma- und Albaner-Hintergrund. Wenngleich seine Koalition den ersten Wahlgang gewann, so entschied sich die Seite Elvis Bajrams auch 31 | Елвис Бајрам се спрема за во школо. (online: http://www.vecer.com.mk/default. asp?ItemID=77A9D5909AA8CE4B8E44DC57ED12FCC9, vom 04.07.2011)

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seiner Meinung nach dazu, albanische Stimmen zu den ihren dazuzuzählen, um den Wettbewerb für sich zu entscheiden. Als verwirklichtes Ideal pries er seine ehrliche Wahlkampagne an und das damit einhergehende Ende des Wählerstimmenkaufs gegen eine Gabe von Lebensmitteln. Denn das sei bei jeder vorherigen Wahl die gängige Praxis in Shutka gewesen. Trotz aller Bescheidenheit und Vorbildlichkeit, sich im Legalen bewegen zu wollen, konnte auch Shaban Saliu nicht umhin, mir seine Prestigeobjekte einzeln aufzuzählen, worunter zunächst die Bank im Untergeschoß seines Hauses in Shutka gehöre (s. Abb. 16–18, S. 258 f.), dann die insgesamt 1600m2 große Fläche, die ihm und seiner Familie auf seinem Grundstück zur Verfügung stünde, sowie auch der Job, den seine Frau bei der Regierung innehabe. Auch sein anzustrebender Wert sei allen voran der der Bildung, denn diese bedeute, »im Leben Erfolg zu haben«. Um seinen Sohn auch einen solchen Erfolg erfahren zu lassen, unterweist Shaban Saliu ihn in Sachen Politik und Führungsqualitäten. Denn seiner Meinung nach sind die »ungebildeten Führer der Roma der Grund dafür, dass Roma die ärmsten Leute der Welt sind«. »Und zwischen leader und Repräsentanten gibt es einen Unterschied: Ein Repräsentant kann fast jeder sein! Und fast jeder kann von sich selbst sagen, dass er ein Repräsentant ist. Aber der leader sollte viele Gaben und Wissen haben. Ein leader kann keiner sein, der nicht intellektuelles Wissen hat. Jemand, der keine Bildung, kein Computerwissen oder keine Visionen hat. Der nichts Spezielles in sich hat. leader werden nicht gemacht, leader werden geboren. Der leader hat etwas Spezielles an sich, was kein anderer hat. Er weiß, was er opfern muss für seine Leute. Er muss sich selbst opfern, aber eben für seine Leute und nicht seine Leute opfern. Nur mit einer Krawatte und einem Anzug kann man kein leader sein.«

Die Gaben, die ein Führer haben sollte, und die Visionen, die Saliu hier zum Ausdruck bringt, können kaum klarer als Beispiel der Fortuna und der Virtú gelten, wie sie Erdheim (1973) verhandelt. Damit finde ich zum einen Anschluss an die vorangestellten Akteursmeinungen über die Führerschaft und Vertreterschaft der Roma- / Zigeunergruppen. Zum anderen findet sich hier auch der Verweis auf den Begriff des Charismas wieder, auf den Shaban Saliu indirekt zu sprechen kommt, wenn er von »Visionen« und »etwas Spezielles an sich haben« spricht. Doch, wie auch die meisten meiner Gesprächspartner, kam auch er schnell auf Egoismen der Führer, besonders der der NGOs zu sprechen: »Gandhi hatte keine Krawatte und keinen Anzug, aber er war ein idealer leader. Gandhi hatte ein gutes Motto: ›Mein Leben ist mein Motto‹. Wenn man die leader der NGOs sieht, dann kann man erkennen, dass sie sich selbst eingebracht haben, um für sich selbst und ihr eigenes Geld zu kämpfen, aber eben nicht [wie Gandhi] für ihre Leute.«

Und eben jene besonderen Fähigkeiten würde Elvis Bajram, der Meinung Shaban Salius nach zu urteilen, nicht besitzen, was ihn zwar als »Repräsentanten«, aber

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nicht als »Führer« legitimiert. Auch Saliu bestätigte, dass »Roma-leader immer erst an Materielles denken«, also ihr finanzielles Interesse im Vordergrund stehen würde. Seine Begründung, warum die NGOs fast als Familienunternehmen empfunden werden können, lautete: »Weil es auf einem anderen Wege keine Möglichkeit gibt, einen Job zu bekommen.« Und vor diesem Hintergrund können ihre zu implementierenden Programme nur ineffizient sein, denn der Wert einer »richtigen« Programmimplementierung könne so kaum verwirklicht werden. Shaban Saliu dazu: »Wenn auch nur 30 Prozent der Programme richtig implementiert wären, würde dies die Roma zu den reichsten Leuten im Land machen!« Doch bisher flossen seiner Meinung nach alle diesbezüglich relevanten Gelder in private Taschen. Dafür allerdings macht er den Verlauf der Geschichte und die problematische Beziehung der Geldgeber zu den Roma- / ZigeunerNGOs verantwortlich: »Es gibt Projekte, die nicht einmal begonnen wurden. Sie schreiben einfach nur ein Monitoring und dann bekommen sie das Geld. [...] Die Leute aus dem Ausland haben einen großen Fehler gemacht, weil sie nicht wussten, wohin sie das Geld investieren sollen. Sie haben einfach Geld geschickt, um zu helfen, aber sie haben nichts geholfen! Das gesamte Geld ging in private Taschen.«

Jedoch weist auch Shaban Saliu darauf hin, dass die Roma-Frage unter einem geographisch-sozialen Aspekt »immer eine andere« sei, und bestätigt, was beispielsweise Nikolaj Kirilov ausdrücklich forderte: Den spezifischen Determinanten der jeweiligen Orte und Situationen muss bei der Projektarchitektur besondere Beachtung geschenkt werden: »Die Frage der Roma ist immer eine andere, wenn man die Länder vergleicht. Für Deutschland ist sie eine andere, für Italien, Slowenien etc. Man kann die einen nicht mit den anderen vergleichen! Es gibt kein einziges Ding, was man allen gleich tun könnte! Es gibt einfach keine Roma-Schablone!«

6.6.3 Die gespaltene Führerschaft Dass sich die Roma-Parteien nicht einig seien, darüber wusste auch Branislav Petrovski zu berichten. Doch seiner Meinung nach ist nicht die suboptimale Führerschaft der Roma / Zigeuner für die Situation »der Roma« verantwortlich, sondern dass die »Roma-Politiker«, anstatt sich zu einen, sich eher spalten würden und damit »das Schicksal der Roma / Zigeuner weitestgehend zum schlechteren hin trieben«. Branislav Petrovski ist u. a. Chefinitiator des Theaters »Romano Ilo« in Skopje. Sein Sohn, Daniel Petrovski, lebt im Haus seiner Eltern. Branislav selbst traf ich, als ich mich bereits mit seinem Sohn in einem Straßencafé Shutkas verabredet hatte (s. o.). Ihm lag sehr viel daran, mich und mein Thema in Seminare oder Ausstellungen zur Kultur der Roma in Mazedonien einzubinden. Mein Termin-

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kalender und mein Alltag in Deutschland ließen es leider nicht zu. So traf ich ihn ein weiteres Mal in seinem Haus, nachdem er auf diesen Gesprächstermin baute bzw. darauf sogar bestand. Seine Antworten fielen ausgiebig und z. T. ausufernd aus, sodass meine Begleitung nach einigen Stunden intensiven Gesprächs aufgab und um einen weiteren Termin bat. Problemlos willigte »Branko«, so der Spitzname Branislav Petrovskis, ein. Während unserer Treffen bei ihm zu Hause ließ er Enkel oder andere Kinder im Haus in seiner Nähe sein, streichelte sie oder gab ihnen Süßigkeiten, ließ sie auf seinem Schoß Platz nehmen und hinderte sie nicht, wenn sie den Raum wieder verlassen wollten. Während der gemeinsam verbrachten Zeit mit Branko musste ich seine großen, muskulösen Hände bestaunen, die deutlich von schwerer, und seine gerissenen Fingernägel gar von gefährlicher Arbeit berichteten.32 Für seine Antworten wählte er Romanes als Sprache. Kein einziges Wort Mazedonisch oder Englisch kam über seine Lippen. Wir werden im 8. Kapitel (Abschn. 8.5) erfahren, warum er diese Wahl traf. Er selbst schenkte den Saft und das Wasser für seine Gäste nach oder holte und reichte Kaffee und Gebäck, was in den anderen von mir besuchten Roma- / Zigeunerfamilien für gewöhnlich von den Frauen erledigt wurde. Zuallererst resümierte er desillusioniert über die beiden Seiten, die jeder aktive Roma-Politiker bedienen müsse, und meinte: »Als ein Politiker musst du deine eigenen Leute enttäuschen und gleichzeitig animieren. Denn wenn du an irgendetwas einen Profit haben möchtest oder Erfolg, dann musst du entscheiden, welche Seite die der Verlierer und welche die der Gewinner ist. Ich kann also sagen, dass Politik bedeutet, dass sie auf jemanden tritt oder jemand tritt auf ihr herum, du kannst als Politiker gewinnen oder die Leute /  M enschen gewinnen. Aber dann bist du kein guter Politiker.«

Was sich hinter der Dynamik und der Meinung verbergen würde, dass die RomaParteien vielmals als ›Sultan-Parteien‹ bezeichnet werden, deutete Branislav Petrovski wie folgt: »Der Politiker, als ein ›leader‹, als ein Vater einer Nation, gibt den Leuten durch eine Bank Kredit, dass sie auf dem Markt arbeiten können. Aber selbst wenn sie dort verkaufen, ha-

32 | Branislav Petrovski erwähnte dazu: »Ich habe acht Jahre als Installateur gearbeitet, in einer Baufirma. […] Dann bin ich in die Phase gekommen – ich habe ja damals sehr hart auf meinem Arbeitsplatz arbeiten müssen, sodass ich mir fast meine Finger gebrochen habe, wenn ich die Rohre hin und her getragen habe –, dass ich meine eigene Gruppe [von Arbeitern als Betreuer] bekommen habe, die ich anleiten sollte. Ich war katastrophal enttäuscht und ich habe ihnen dann gesagt, dass ich mit dieser Arbeit nicht mehr weitermachen würde. Ich habe diesen Job dann sein gelassen, denn dort gab es auch eine sehr große Diskriminierung.«

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Zigeunerkulturen im Wandel ben sie manchmal 20–50 Denar am Tag Profit. 33 Mit diesem Geld kannst du zwar Essen für deine Familie kaufen, jedoch reicht es nicht aus, um den Kredit zurückzuzahlen. Und damit wirst du gezwungen, all dein Gold zu verkaufen und jede mögliche suspekte Arbeit anzunehmen, um die Existenz zu sichern. So wirst du in der schlechten Lebensverfassung gelassen und sein Business geht dabei gut. Also nimmt er sich die ungebildeten Personen, die, die eine Zunge haben, aber nicht fähig sind zu sprechen, die, die Augen haben, aber nicht fähig sind zu sehen und die, die einen Kopf haben, aber nicht fähig sind zu denken. Also immer diese Leute, die er regieren und leiten kann. Würde er clevere zu sich nehmen, so würde ihm diese clevere Person immer wieder mit Einwänden und Ablehnungen kommen.«

Folglich würde Branislav Petrovski sich auch gegen die Gründung einer weiteren Partei entscheiden, obwohl sein Bruder, Trajko Petrovski, der promovierter Ethnologe ist, ihm, wie Branislav erzählte, dazu geraten hätte: »Ich kann sagen, dass es sehr schade ist, dass diejenigen, die das Leben der Roma kennen und dieses wirklich verbessern könnten, leider nicht in der Politik involviert sind. Und im Unterschied dazu sagt mein Bruder Dr. Trajko Petrovski mir immer, dass wir beginnen sollten, eine politische Roma-Partei zu formen. Und ich sage ihm dann immer, dass wir nicht aus einer solchen patriarchalen Familie stammen, dass wir ebenso Idioten wären gegenüber unseren Menschen.«

Denn es lohne sich nicht, viele verschiedene Roma-Parteien zu haben: »Unsere lokalen Politiker können niemals auf die Art denken wie die Gadže. Sie denken niemals nach, ob es besser ist oder nicht, zusammen zu sein. Sie denken, je getrennter voneinander sie sind, umso bessere Erfolge können sie haben, als mit allen zusammen zu sein.«

An dieser Stelle sei eine Zäsur gesetzt, die uns von Shutka weg, hin zu den beiden noch ausstehenden Akteuren in Mazedonien führen wird, nach Kumanovo und Tetovo. Wie bereits erwähnt, kommt den Anmerkungen und Gesprächsdaten der beiden folgenden Akteure Ashmet Elesovski und Nadir Redzepi insofern eine besondere Bedeutung zu, als sich beide kurz nach meinen Besuchen auf ihrer Karriereleiter treppauf bewegt haben. Ashmet Elesovski übernahm eine Sekretärsstelle beim ERTF in Strasbourg und Nadir Redzepi ging nach Budapest, um dort beim REF als Projektmanager im Bereich »Local Government Initiatives« tätig zu sein.34

33 | Zum Zeitpunkt des Gesprächs entsprachen 20–50 Denar ca. 0,30–0,83 €. Zum Vergleich: der durchschnittliche Monatsverdienst meines Gastbruders, als Lagerarbeiter in einer Vertriebsfirma für Schokoladenriegel, lag bei ca. 12.000 Denar = ca. 200 €. 34 | Vgl. http://www.romaeducationfund.hu/ref-board-swiss-foundation, vom 23.08.2011.

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6.7 K umanovo 6.7.1 »Und Bildung ist nicht das Problem. Die Lebensbedingungen sind das Problem.« Ashmet Elesovski ist einer der wohl bekanntesten mazedonischen Roma-Aktivisten auf nationaler und internationaler Ebene. Er war wie gesagt keineswegs am Ende seiner Karriereleiter angelangt, als ich ihn in seiner Position als Leiter der Organisation NRC in Kumanovo traf. Teils begeistert, teils genervt von meinen Fragen, ließ er sich erstaunlicherweise immer wieder auf Provokationen meinerseits ein und zu interessanten Antworten hinreißen. Wie in vielen anderen Organisationen bekam ich auch von Ashmet Elesovski vielfältiges Informationsmaterial ausgehändigt, u. a. die Dokumentar-DVD »Off the Beaten Path – Stories from Balkan Roma«35 . Der Film unter der Regie von Katalin Bársony feierte im Mai 2009 in Skopje Premiere. Die beiden offiziellen Gespräche mit Ashmet Elesovski fanden im Büro des »National Roma Centrum« statt, in das mich mein treuer Gefolgsmann Sabir Agush begleitete. Beide Male warteten wir nur kurz mit einem Kaffee, den uns mal eine Mitarbeiterin, mal ein Mitarbeiter (beides Gadže, also »ethnische« Mazedonen) servierten. Die zu einer Büroetage ausgebaute Dreieinhalbraumwohnung im zweiten Stock des sehr zentral gelegenen Gebäudes befindet sich über einem kleineren, offiziellen »Empfangsbüro« im ersten Stock. Bei jedem meiner Besuche warteten unten im ersten Stock viele Menschen, um sich Rat zu holen, Geld zu erbitten oder andere Probleme an die Mitarbeiter der Organisation heranzutragen. Ashmet Elesovski versuchte sich um jeden Einzelnen zu kümmern, wenn er vor Ort war, blieb stehen, hörte sich die Geschichten an und griff häufig in seine eigene Tasche, um hier und da mit ein paar Denar auszuhelfen. 35 | Die Ungarin Katalin Bársony stellt ihre Idee und das Ziel des Films auf dem Umschlagcover der DVD so vor: »I made this film to give a voice to the concerns of Roma in Macedonia and to provide a fresh insight into the solutions being worked out by Roma across the country. It is clear from their message that while progress has been made, the effective implementation of Roma’s basic rights in the country remains a significant test for Macedonia’s accession to the EU.« (Bársony 2009: umschlagseitig) Sowohl Martin Demirovski als auch Ashmet Elesovski kommen im Film persönlich zu Wort. Viele der Aufnahmen von Menschen und Straßen verschiedener Roma- /  Z igeunersiedlungen sind u. a. in Shutka entstanden. So begleitet u. a. Martin Demirovski die EU-Parlamentsabgeordnete Els de Groen zu Roma- /  Z igeunerfamilien und hört sich mit ihr die Sorgen der Menschen vor Ort an. Neben musikalischen Einlagen, die für allgemeine Belustigung sorgten, als ich den Film einigen Einwohnern Shutkas vorführte, findet der Zuschauer alle grundlegenden Informationen zu Lebensbedingungen vieler Roma / Z igeuner Mazedoniens, die sich aus musikalischen, historischen und viktimologischen Aspekten zusammensetzen.

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Die Gespräche führten wir teils auf Romanes, teils auf Englisch, teils auch auf Mazedonisch, je nach Kontext oder Stimmung. Eine eindeutige Stringenz, auf welcher Diskursebene er welche Sprache gebrauchte, ist daraus aber nicht abzuleiten gewesen. Nur wenn er aus der Perspektive anderer Roma / Zigeuner sprach, benutzte er einzig Romanes. Wenn ein Wort nicht klar war, wiederholte er es auf Englisch, Mazedonisch oder eben Romanes. Wenn es ging (und darum bat ich nicht nur ihn), ließ ich ihn in seiner Muttersprache berichten. Denn bereits nach dem ersten Treffen bemerkte ich, dass auf seiner Seite schnell Ermüdungen zu beobachten waren, wenn er Englisch sprach. Einer diesbezüglichen Frage begegnete er mit den Worten: »Dann spreche ich einfach weiter auf Romanes, denn das ist ja die Sprache, die aus der Seele kommt!« »Ich komme aus einer sehr großen und alten Familie. Mein Großvater ist sehr, sehr alt geworden und diente in der türkischen Armee. [...] Er [mein Vater] hat viele Male die Arbeit gewechselt, zuletzt war er in einer Fabrik. Aber in dieser Zeit, damals in Ex-Jugoslawien, war er ein sehr Aktiver im politischen Prozess.«

Und wie es dazu kam, dass sich Ashmet Elesovski entschloss in der »Roma-Bewegung« tätig zu sein, reflektierte er so: »Ich erinnere mich an eine für mich sehr einprägsame Situation in meiner Kindheit. Eines Tages ist Tito nach Kumanovo gekommen. Die Mahalla wurde einfach abgesperrt. So war sie für den Präsidenten nicht sichtbar. Dann habe ich meinen Vater gefragt: ›Warum grenzen sie die Mahalla so ein?‹ Und er hat gesagt: ›Weil die Politiker die Armut nicht sehen sollen!‹, und das empfand ich als große Provokation! […] In der Zeit Titos war die Diskriminierung nicht so groß wie jetzt. […] Ich selbst habe aber auch direkte Diskriminierung erfahren: Als ich im Krankenhaus als Physiotherapeut gearbeitet habe, wollte ich irgendwann einen Arbeitsvertrag haben, wie die anderen auch. Der Direktor hat mir aber keinen gegeben, weil ich ein Rom bin. Das hatte was Gutes und was Schlechtes. Das Gute: Es hat mir die Augen geöffnet und mich dazu bewegt, im Roma-Movement zu arbeiten. Und das Schlechte: So habe ich die Diskriminierung direkt erfahren. Im Allgemeinen muss ich aber sagen, dass ich meinen Eltern sehr dankbar bin und auch meinen Gadže-Freunden und den Lehrern. Von den Gadže habe ich viel gelernt.«

Auch Ashmet Elesovski findet bestätigende Worte dafür, dass Roma / Zigeuner gegenüber einer imaginären ›Roma-Nation‹ nicht unbedingt die größten Patrioten sind, und bestärkt somit das bereits von anderen Gesprächspartnern dargelegte Argument, dass er selbst eher Gadže in Institutionen (ver-)trauen würde, die sich für die Belange der Roma einsetzen, als dass er Roma vertrauen würde. »Es ist besser, Gadže in Institutionen zu haben!«, weil »nur falsche Roma […] Repräsentanten in Positionen [sind]«. Des Weiteren sprach er davon, dass er »nicht an Roma-Repräsentanten in hohen Ebenen« glauben würde, und applaudierte verbal,

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als ich mit der sich daraus ergebenden Konsequenz als Frage formuliert aufwartete, dass »je höher ein Roma-Repräsentant in der Aktions-Ebene steigt, er umso weniger Unterstützung von den Roma [hätte]«. Mir entgegnete er daraufhin mit einem »Bravo!«, denn seiner Meinung nach »existierten Roma-Repräsentanten nur auf lokaler Ebene richtig«. Zudem sei es fast unmöglich, einen »Roma-Repräsentanten zu finden, der an hoher Ebene arbeitet und auch wirklich Rom ist«, denn »je höher die Position ist, in der er arbeitet, um so weniger wird er von Roma akzeptiert!« Diese Personen würden, so sie sich denn in Position befänden, oft und sehr schnell vergessen, dass sie Roma sind. Vorrangig allerdings bezogen sich Ashmet Elesovskis Argumente und Erzählungen, die nicht von seiner Biographie oder Familie handelten, darauf, wie er die Lebenssituation der Roma / Zigeuner einschätzt; er stellte darüber einerseits Verbindungen zur Bildungsproblematik und andererseits zum Thema Kriminalität her: »Du hast die Frau an der Tür vorhin gesehen? Sie brauchte Geld, um ins Krankenhaus nach Skopje zu fahren. Sie hat nicht einmal zwei Euro, um eventuell nach Kotsho (Kotshani) zu fahren, zu ihren Kindern! Okay, manchmal helfe ich, aber manchmal ... Weißt du, ich bin doch nicht Gott! Also ich bin keine Institution und auch nicht das Zentrum der Sozialarbeit. Der Bereich Sozialarbeit hat das Budget und die Möglichkeit, das Problem zu lösen. Und Bildung ist nicht das Problem! Die Lebensbedingungen sind das Problem! Gerade jetzt habe ich von einem Kollegen erfahren, der in Tetovo arbeitet, dass in einer der Siedlungen in Tetovo, wo sehr arme Roma leben, sie Hassan – so ist sein Name – gefragt haben: ›Hassan, du bringst unsere Kinder zur Schule? Dann hast du die Verantwortung, ihnen die neuen Hefte zu kaufen und auch neue Kleidung! Denn der Professor in der Schule hat gesagt, wenn sie nicht ordentlich angezogen kämen und auch schlecht riechen würden, dann sollen sie doch bitte nicht in die Schule kommen!‹ Das ist die Realität mein Freund! (schlägt mit der Hand laut auf den Tisch) Mit 35 Euro im Monat Sozialhilfe kann man doch keine Veränderung herbeiführen, (seine Stimme wird laut) auch nicht auf der Bildungsebene!«

Und in welche Situationen Jugendliche vieler armer Familien unter Roma / Zigeunern folglich jeden Tag kommen, stellt er so dar: »Alles ist Geld, alles ist Business! Aber wo sollen denn die Roma das finden? Aber vielleicht kommen da noch andere Möglichkeiten. Vielleicht nicht in diesen zehn Jahren [der Dekade], aber vielleicht nach 20, 30. Wir haben niemals Institutionen eröffnet! Und es gibt auch keine Ideen, wie den Roma zu helfen ist. Und damit werden neue Probleme entstehen. Wer garantiert, dass junge Roma nicht in negative Strukturen abrutschen? Wer garantiert das? Sag mir das? (weiter auf Romanes und sehr laut): ›Ich habe nichts zu essen! Dann werde ich versuchen, irgendwie irgendwas auf meinen Tisch zu bekommen!‹ (wieder Englisch) Aber das ist doch normal, oder? Dann heißt es, etwas Illegales zu tun, zu stehlen.«

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Doch gibt er die Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen armer Roma / Zigeuner nicht auf und ermahnt, die monetäre Distribution in Richtung dieser Familien voranzutreiben: »Aber wenn einige wirklich die Situation der Roma verändern wollen, dann müssen sie die affirmativen Aktionen vorbereiten! Sie müssen das Geld in Zirkulation bringen, um die Häuser zu reparieren und Jobs zu verteilen. Dann werden wir sehen was passiert!«

Der gelernte Physiotherapeut Ashmet Elesovksi, mit Wurzeln in einer ArlijaFamilie,36 ist, wie auch viele andere meiner Gesprächspartner, in einer ethnisch gemischten Umgebung aufgewachsen und hatte den Abschluss der Sekundarschule in Skopje absolviert, bevor er die Ausbildung zum Physiotherapeut begann. Die jugoslawische und seine jüngste Vergangenheit miteinander vergleichend, stellte Ashmet Elesovski resümierend fest, dass: »damals, die jugoslawische Zeit und diese jetzt, nicht dieselben sind! […] Also die jugoslawische Zeit war einfach etwas sehr Positives! Ich weiß nicht, was uns diese neue Zeit wirklich bringen wird. Aber wir können es als ein sehr gutes Instrument nutzen, um in das System hineinzugehen und dort unsere Kritiken und unsere Meinungen abzugeben. In der jugoslawischen Zeit mussten wir darauf aufpassen, was und worüber wir reden dürfen und wie man spricht! Und da gibt es eine Wahrheit: In Jugoslawien hatten wir drei Klassen: Die armen Leute, die Leute in der Mittelklasse und die reichen Leute. Aber heute nicht mehr! Heute hat man nur noch zwei Klassen: Die Armen und die Reichen. Und die Reichen kennen wir ja! (lacht) Und der Unterschied ist, dass wir heute sogar härtere, stärkere Klassen haben. Also noch ärmere Leute. Also die Armen und die noch ärmeren Klassen. Und diese zweite Klasse lebt buchstäblich von heute auf morgen.«

Aus einer sehr alten Familie stammend und in einer ethnisch gemischten Mahalla aufgewachsen, wurde Ashmet Elesovski dennoch nicht nur mit der Armut der meisten Roma / Zigeuner vor Ort konfrontiert, sondern auch mit ihrer alltäglichen Diskriminierung. Diese beiden Aspekte treten bei seiner Darstellung der Roma- / Zigeunergruppen in Kumanovo in den Vordergrund und so begründet er, dass der primäre Blick auf die Bildung und die betreffenden Institutionen keinen Erfolg bringen könnte. Erfolg versprechend seien einzig die Verbesserung der Lebensbedingungen durch »affirmative Aktionen«. Ashmet Elesovski äußerte großen Unmut gegenüber dem EU-Parlament, das »keine großen Roma-leader akzeptiert« und »viel Geld ausgegeben hat«, ohne Ergebnisse für Roma erreicht zu haben. »In Strasbourg« gäbe es zwar eine »RomaElite, mit Organisationen«, doch sei die EU mit diesen nicht zufrieden. 36 | Ashmet Elesovski versicherte mir, dass er trotz seines hohen Arbeitspensums noch starken Kontakt mit seinen Verwandten halten würde, auch mit denen, die in der Mahalla wohnen.

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Die politische Karriere Elesovskis begann mit seinem Eintritt in die Partei PCER im Jahr 1990, die von Abdi Faik gegründet wurde. Doch nach drei Jahren Mitgliedschaft verließ Ashmet Elesovski diese wieder, als erkennen musste, dass »junge Leute in der Partei nicht an höhere Positionen gelassen [werden]!« Dieser Meinung waren auch viele andere Akteure. Als wirkliche oder richtige Roma-leader bezeichnet er Nikolae Gheorghe und Rudko Kawczynski, als deren Schüler er sich selbst sieht und als deren Gegensatz er sich begreift, wenn er sich selbst die Bezeichnung als Roma-leader abspricht. Letztmalig soll hier eine Zäsur gesetzt und Nadir Redzepi vorgestellt werden. Dazu begeben wir uns nach Tetovo. Vor seinem Erfahrungshintergrund werde ich ihn über die Aspekte der Führerschaften und deren Stratifikationen in Roma- / Zigeunergruppen berichten lassen, aber auch darüber, wie er seinen Einstieg in den Roma-Aktivismus oder die Arbeit in seiner NGO erfahren hat. Des Weiteren stellt er gruppeninterne Erwartungen gegenüber den gebildeten Mitgliedern einer Roma- / Zigeunergruppe dar und erörtert, ob diese Erwartungen von einer RomaElite erfüllbar seien. Darüber hinaus wusste Nadir Redzepi die bereits aufgeführte Distanz zur Gruppe zu begründen.

6.8 Te tovo 6.8.1 »Wissen Sie, die er warten, dass sie in zehn Jahren reich sein werden [...]. Aber das ist nicht wahr.« Nadir Redzepi37 legte mir gegenüber eine bescheidene Einstellung an den Tag, als er sich selbst und seine Position als NGO-Leiter38 innerhalb der Szene der 37 | Nadir, ein kräftiger und hochgewachsener Mann mit ruhigem und souveränem Auftreten, erfüllte den Raum mit einer wohligen Atmosphäre. Er selbst, in Alltagskleidung und unauffälligem Äußeren, lächelte kaum und seine Antworten zeigten, dass er alles andere ist als ein Mann, der sich in den Mittelpunkt stellen will – ganz im Gegenteil zu manch anderen Akteuren dieser Studie. Nadir Redzepi erschien auf den ersten Blick um einiges älter zu sein als sein Geburtsjahr verriet. Seiner englischen Sprachkenntnis, die er seiner Meinung nach »schnell und viel intensiver verbessern müsse«, mangelte es weder an Klarheit noch an Ausdruckskraft. 38 | Das Büro (eine Dreiraumwohnung unterm Dach) der Organisation »Sonce« (mazed. »Sonne«) befand sich zum Zeitpunkt meines Besuchs im sechsten Stock eines Neubaublocks in Tetovo. Der Umzug dorthin erfolgte einige Tage bevor ich Nadir besuchte. Vorher hatte die Organisation ihren Sitz in einem gemieteten vierstöckigen Haus, dessen Besitzer allerdings die Immobilie veräußert hatte. Darauf hin gab es laut Nadir wenige so günstige und vergleichbare Möglichkeiten, ein Büro einzurichten und genügend Platz zu haben.

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Roma- / Zigeuneraktivisten einschätzte und argumentierte, er selbst würde sich ebenso wenig als Roma-Führer oder -Repräsentant bezeichnen. Während meiner Zeit vor Ort wurde Nadir nach Budapest eingeladen, um dort fortan am OSI zu arbeiten. Sein Karrieresprung, und auch der Ashmet Elesovskis, war in meinen Augen nicht nur bezeichnend, sondern auch zu erwarten. Nadirs Kommentaren und Berichten hier verhältnismäßig viel Platz einzuräumen ist damit begründet, dass er bestes Wissen sowohl über viele andere Roma- / Zigeunersiedlungen besaß als auch über deren interne Strukturen. Des Weiteren fiel es mir bei der Datenauf bereitung besonders schwer, seine zusammenhängende Erzählweise zu zerstückeln. Nadir stützte beispielsweise das Argument, das bereits bei vielen Akteuren zum Ausdruck kam: In einer Roma- / Zigeunermahalla ist meist mehr als nur ein Führer zu finden. Deren Vielzahl ließe sich entlang gleich »mehrerer Linien untereinander abgrenzen«, zu denen das »Alter«, »die Familiengröße«, »der Reichtum«, die traditionsbewusste Vorbildlichkeit und auch die Ebene der verhandelten Sachverhalte zu zählen sind. So seien beispielsweise die »eher traditionellen leader häufiger in der älteren Generation« zu finden, die sich »ihren Respekt und das Prestige mit Hilfe ihres Reichtums und ihrer Religiosität aufgebaut« hätten. Doch im Unterschied zu vielen bisher vernommenen Akteursstimmen geht Nadir Redzepi einige Schritte weiter, wenn er offen eingesteht, dass »die Leute in den Mahallas sich gegenseitig kaum vertrauen« würden »und auch den Institutionen nicht trauen könnten« – daher auch nicht denen, die »sich Roma-NGOs nennen« oder deren handelnden Personen. Obschon dieses Argument nicht zur Überraschung des Zuhörers geäußert wurde, verwundert es dennoch, dass die NGO »Sonce«, in der Nadir Redzepi zur Datenerhebungszeit leitend angestellt war, aus einer sparvereinähnlichen Organisation heraus geboren wurde. »Und 1996 war da die Idee, Geld zu sammeln, und die leader der vier Mahallas [in Tetovo] haben dann das Geld gesammelt, um später den Leuten zu helfen, also einen Found zu haben. Das sind Dolna-Mahalla, Sapotok Mahalla, dann Detchep und Gorna-Mahalla. Und das Geld haben sie recht transparent gesammelt, also jeden Monat [umgerechnet] fünf bis zehn Euro und nach einem Jahr war da eine Menge Geld für andere Sachen. Da gab es 1997 einen Brand von drei Häusern und das Geld hat dann geholfen, sie zu reparieren. Und wenn jemand krank war. Und dann kam 1997 jemand aus Budapest und sagte, sie sollten diese Organisation doch registrieren lassen. Seitdem funktioniert sie.«

Und über seinen persönlichen Einstieg in »die Roma-Fragen« im Jahr 1998 resümierte Nadir Redzepi: »Also bin ich in die Armee gegangen und dann auf die Universität in Skopje. Ich habe das aus wirtschaftlichen Gründen genutzt. Ich habe damals als Musiker gearbeitet und viel mehr verdient als ein universitär gebildeter Angestellter. Und damit habe ich die Studien für Maschinenbau gelassen und als Musiker gearbeitet. Meine Eltern konnten mich damals

6  Mazedonien finanziell nicht unterstützen. Und dann habe ich geheiratet und zwei Kinder bekommen. 1998 war ich eigentlich außerhalb der Roma-Fragen und hatte ein ganz normales Leben. Aber wissen Sie, diese demokratischen Veränderungen in Mazedonien haben auch die Veränderungen in den Organisationsfragen gebracht. Es sollte eigentlich Verbesserungen bringen, mit Demokratie usw., aber fast alles wurde schlechter! Die erste NGO und die Einladungen zu Runden Tischen und Seminaren kamen und ich habe dann einen dreimonatigen Kurs bei der NGO ›Mesechina‹ (Romanes: ›Mond‹) in Gostivar gemacht. Es ging hauptsächlich um Geschäftsführung und Management. Also wie man Business-Pläne entwirft und erstellt und auch etwas über den NGO-Sektor. Ich habe es sehr gemocht! ›Mesechina‹ war eine sehr gute NGO. Dann habe ich gedacht, ich sollte so etwas auch in Tetovo starten. Dann 1999 begann die Kosovo-Krise und viele Flüchtlinge kamen. Damals hatte ich keine Ahnung, dass diese Organisation hier (NGO ›Sonce‹) bereits existiert hat, seit 1997. Und ich wurde also 1999 von ihnen [zur Bewerbung] nach Gostivar eingeladen, weil sie Fachkräfte brauchten.«

Über seine Arbeit als leitendes Mitglied einer NGO erzählte Nadir Redzepi eher mit dem Unterton seiner Enttäuschung, dass viele der armen Bewohner der Roma- / Zigeunermahallas nicht verstehen würden, dass es sich bei der Verbesserung ihrer Lebensbedingungen nicht um kurzfristige Initiativen handeln könne: »Dort [in der Mahalla] gibt es keine Elektrik, kein Wasser usw., wie in Slums. Wir haben versucht zu helfen und sind oft dorthin gegangen, mit wichtigen Leuten, mit Senatoren, vielen Botschaftern. Aber das Problem wurde nicht gelöst. Wir wollten ihnen helfen, ihre Kinder in informelle Schulen bringen und auch andere Sachen, aber sie sagten: ›Bringen Sie uns zu essen und Geld!‹ Sie sehen einfach nicht, dass es wichtige, langwierige Prozesse sind.«

Wie auch andere meiner Interviewpartner bestätigte Nadir Redzepi, wie es sich mit jenen Roma / Zigeunern verhalten würde, die Bildung genossen haben und sich hernach der Erwartungshaltung gegenübersehen, für »ihre« Gemeinschaft tätig werden zu müssen: »Ein gutes Beispiel für die Gruppenmitglieder sind die Gebildeten. Sie [die anderen Mitglieder der Gruppe] könnten sagen: ›Schaut, der hat gute Bildung und einen guten Job!‹ Aber das Problem ist, dass sich diese gut Gebildeten nicht um die Gemeinschaften kümmern. Wir haben den Eindruck, dass sie nicht daran interessiert sind, deren Probleme zu lösen.«

Dementsprechend verstand Nadir Redzepi eine »Roma-Elite« als eine Gruppe, die »eine Nation führt« und im »kollektiven Sinne« denken würde. Doch ist er auch davon überzeugt, dass diese Gruppe nicht existiere: »Die Definition der Elite ist, dass es eine Gruppe ist, die die Nation führt, die sich von den anderen im Sinne der Bildung und im wirtschaftlichen Sinne abhebt. Wir haben [eine] solche nicht! Also wir als Mazedonen und auch als Roma. Wir haben so viele Unterschiede

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Zigeunerkulturen im Wandel zwischen uns[-eren Gruppen] und eine Elite denkt immer im kollektiven Sinne, aber solche haben wir nicht.«

Selbst wenn eine solche Roma-Elite zu finden wäre, könne diese den Erwartungen vieler Roma / Zigeuner hinsichtlich beispielsweise der Projektimplementation der Dekade in den Siedlungen nicht gerecht werden, denn: »Wissen Sie, die erwarten, dass sie [die Menschen in der Mahalla] in zehn Jahren reich sein werden, dass sie in reichen Häusern wohnen werden und alle Probleme gelöst haben. Aber das ist nicht wahr!«

Die deutlich von einigen bisherigen Akteuren argumentierte Differenz, die zwischen ihrer Tätigkeit in Gadže-Institutionen und den Notwendigkeiten in vielen Roma- / Zigeunersiedlungen entstehen würde, beschrieb Nadir Redzepi abschließend so: »Ich bin Mitglied im Vorstand des REF und der Soros-Foundation. Aber diese Debatten dort sind so weit weg vom normalen Leben der Roma in den Mahallas. Ich habe Probleme, diese Dialoge mit den normalen Leuten hier vor Ort zu kommunizieren. Die fragen mich, wenn ich sie auf der Straße treffe, wie es in Washington oder in Genf, in Salzburg, in Budapest war, was ich dort gemacht habe. Was soll ich sagen? Dass wir über Diskriminierung in Ungarn oder das MIPD (Multi-annual Indicative Planning Document) in Brüssel sprechen? Für sie ist das nichts! Sie brauchen die Sachen nicht, die ich hier veröffentliche.«

6.9 I nteressen - oder G ener ationskonflik t ? – V ersuch eines K urzresümees Die meisten Akteure betrachteten Reichtum und verschiedene Kontakte und Fähigkeiten als das, was Ansehen, Respekt oder das Image, teilweise der gesamten Familien, prägen würde. Viele stellten auch einen oder mehrere Verwandte in den Vordergrund, die eine bedeutende Stellung in der Herkunftsgemeinschaft oder sogar eine bedeutende Position in der Gadže-Gesellschaft innehatten, um von ihrer Herkunft zu berichten. Die Familie kann infolge einer solchen Person einen Namen haben, dem dieses Ansehen angehaftet wird und als Basis zur Erlangung von Prestige innerhalb der nächsten Generationen zur Verfügung steht. Doch endet der Ruf des Namens – also die Einschreibung der Vorbildlichkeit –, sobald Erwartungen fortwährend unerfüllt bleiben, anstatt nach ihnen und deren Entsprechungen fürs jeweilige Publikum sichtbar zu streben. Denn es ist der Zuspruch, das Vertrauen und die Legitimation jener Publika, die es zu erreichen gilt, von denen in letztendlicher Instanz wiederum vieles abhängt: Die eigene Position, der Respekt, das Image, der Name und allem voran die dazu notwendigen Zugänge. In diese Publika gilt es für die Akteure einzutauchen, deren Erwartungen, Erwartungsver-

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schiebungen und multiplen Hierarchiesphären gilt es beizukommen, wenn Vertrauen aufgebaut oder erhalten werden soll, um sich die Legitimierung der eigenen Stellung (wieder) zu sichern. Den jungen Akteuren mag das mehr oder minder gelingen, denn ihrem Verständnis nach steht fest, dass es die demokratische (oder pluralistische) Neunormierung ist, mit ihren spezifischen Sollwerten, die es zu erreichen bzw. nach der es sich zu richten, der gesellschaftliche Wert also, den es zu verwirklichen gilt. Der älteren Generation der Akteure allerdings fällt es in ihren Augen umso schwerer, diesen Neunormierungen beizukommen. Das nächste Kapitel wird die einzelnen Zugänge zu Prestige und Macht (wie Familie, Reichtum, einen Namen haben, Kontakte, Bildung) eingehender diskutieren. Ein ganz besonderes Augenmerk richtet sich dabei auf den Aspekt der Bildung. Im nun direkt anschließenden Teil sind aufgearbeitete Feldnotizen aus dem täglich geführten Tagebuch in Shutka dargelegt, Episoden und Ereignisse, wie ich sie erlebt oder erzählt bekommen habe. Mit der ersten Geschichte (»Bürgermeisterwahl 2009«) versuche ich nahezubringen, wie in den Augen einer durchschnittlichen Roma- / Zigeunerfamilie (meiner Gastgeberfamilie in Shutka) die Bürgermeisterwahlen vonstatten gingen. Wie sich einige Aspekte dieser Wahl aus der Perspektive der Akteure dieser Arbeit darstellten, habe ich in den Abschnitten 6.3 bis 6.6 demonstriert. Im Anschluss daran sollen die zwei weiteren kurzepisodisch dargelegten Tagebuchaufzeichnungen zeigen, wie sich die Ausübung von Macht in einzelnen Fällen äußert. Die erste Kurzepisode (»Shutka-Taxis«) zeigt, wie beim neuen Bürgermeister Shutkas (Elvis Bajram) eine mediierende Handhabung von Macht zu erkennen ist, als es galt, zwischen legal-formalen Regelwerken und informell-sozialen Gegebenheiten auszubalancieren, ohne dabei die Missgunst des einen oder anderen Publikums auf sich zu lenken. Das zweite Beispiel (»Ein Haus steht in Flammen«) bezieht sich auf einen Hausbrand, der sich kurz vor meinem ersten Forschungsaufenthalt in Shutka, in der Straße meiner Gastgeberfamilie, in deren unmittelbarer Nachbarschaft abspielte.

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Feldtagebuch Shutka I–III

Zigeunerkulturen im Wandel

Feldtagebuch Shutka I: Bürgermeister­w ahl 2009 1

Z wei Tage vor der W ahl Mazedonien, »Shutka«; Freitag, 20. März 2009 Auf der knallroten Einladung der CRM, der Partei Amdi Bajrams, die Sabir, mein Gastbruder, mir mit Stolz zeigte, stand: »Beginn 18.00 Uhr, auf dem großen Hauptplatz«. Das Bild auf der Einladungstitelseite war mir bereits als Wahlwerbung an Shutkas Hauptstraße aufgefallen (s. Abb. 5, S. 251). »Meine Eltern interessieren sich nicht für Politik«, hatte Sabir mir unlängst erzählt, »deswegen gehen sie auch nicht wählen.« Wir hatten uns im Gespräch über die Bürgermeisterkandidaten in Shutka verloren, als sein Vater plötzlich vom Fernseher aufsprang, sich hektisch warme Kleidung überzog und uns zunickte. »Er wird zum Treffen gehen, auf den großen Hauptplatz!« Sabir zeigte auf das Bild der Einladung zur Wahlveranstaltung. »Sie ist seine Schwiegertochter! Die Frau seines ältesten Sohnes aus erster Ehe!« Sein Finger tippte auf eine Frau, die neben anderen Kandidaten in die Kamera lächelt. »Er muss dorthin! Sie ist seine Schwiegertochter!«, wiederholte er. Nach einigen Minuten kam sein Vater fröstelnd zurück und tönte: »Da ist noch niemand!« Er ließ sich auf das Sofa fallen und fragte mich, ob ich einen Kaffee wolle. »Ja, ich nehme auch einen«, antwortete ich. »Danach können wir gehen«, sagte Sabir, zwischen den unzähligen Fernsehkanälen hin und her zappend. Draußen vor dem Haus riefen Kinderstimmen immer wieder die Namen der beiden Hauptkandidaten für den Bürgermeisterposten im Chor – als würden sie eine Fußballmannschaft anfeuern: »Elvis, Elvis!« und »Kuzo, Kuzo!« 1 | Dieser Text wurde bereits in anderer Form in der ersten Ausgabe des OnlineJournals »Blickpunkte. Tsiganologische Mitteilungen« im April 2009 unter dem Titel »Kein Anschluss unter dieser Nummer, oder Ver-Wählt?« veröffentlicht (http://www. uni-leipzig.de/~ftf/blickpunkte/blickpunkte1.pdf, Onlinedokument, 05.02.2012). Vorliegende Version gilt gleichzeitig als Revision der ersten Veröffentlichung.

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Sabir erhob sich vom Sofa, leerte seine Kaffeetasse, ging ins Schlafzimmer, zog sich um und rief mir nach einigen Augenblicken ein aufmunterndes »Lass uns gehen!« zu. Auf dem großen Hauptplatz angekommen – schon von weitem war laute Pop-Musik vernehmbar – versanken unsere Schuhe tief im Schneematsch. Eine große Menschenmenge hatte sich bereits auf dem dunklen Platz vor einer hell erleuchteten Bühne versammelt. Violette Flaggen der CRM hingen schwer und nass über den Schultern ihrer Träger. Der dichte und kalte Schneeregen drang bald in alle Ritzen meines Mantels, schnell waren auch Schuhe und Socken durchnässt. Wir verließen die wartende Menge, um uns in einem nahen Café aufzuwärmen, setzten uns an den letzten freien Tisch und bestellten zwei Bier und zwei Kaffee. Sabir begann mir nochmals die Geschichte der Parteien und ihrer Kandidaten zu erklären. Die dröhnende Musik im Lokal ließ mich ihn kaum verstehen. Wir tranken und verließen nach etwa einer Stunde die Kneipe. Auf den Platz zurückgekommen, hörten wir, wie die Musik ausgeschaltet wurde und ein Sprecher auf Romanes die Wartenden begrüßte. Es war bereits nach 21.00 Uhr. Nach einigen Worten kehrte abermals Ruhe ein. Aus den Boxen war nur noch ein rauschendes Brummen zu vernehmen und nach wenigen Augenblicken ertönte – total übersteuert (ich zuckte heftig zusammen, als die Musik zu spielen begann) – die mazedonische Nationalhymne. Danach »Dželem, Dželem«, die Roma-Hymne. Sabir sang andächtig mit und blickte mich dabei an, als würde er mir das Lied voller Stolz vortragen wollen. Oder wollte er mich zum Mitsingen animieren? Ich bewegte meinen Mund und sang schließlich mit: » … ah, Romale, ah, Čavale«. Applaus und Pfiffe erfüllten die Szene, als das »Roma-Lied« beendet war. Im Gegensatz dazu herrschte nach der mazedonischen Hymne betretenes Schweigen. Es folgten die Ansprachen von Ali Berat, Amdi Bajram und David Berat, wechselnd mal auf Romanes oder auf Mazedonisch. Sabir übersetzte, so gut er konnte, wenn ich etwas nicht verstand: »Die sagen, dass der vorherige Bürgermeister (Erduan Iseni) Geld gestohlen hat. Die sagen, dass sie Straßen und Häuser legalisieren und den Müll beseitigen wollen.« Seine Stimme war laut und aufgeregt. Mit fragendem Blick schaute ich in seine schon seit Wochen übermüdeten Augen. »Naja, das haben die beim letzten Mal auch gesagt«, räumte er mir gegenüber ein, als ich wissen wollte, ob man dem Glauben schenken könne. »Und jetzt fährt der alte Bürgermeister einen großen Wagen und hat sich einen Palast als Haus gebaut!« Ich nickte verständnisvoll und versuchte ein paar Fotos zu machen. Das Display meiner Kamera beschlug rasch, daher beließ ich es beim Mitschneiden einiger Ansprachen. Als ein Mann mit dichtem Vollbart an das Mikrofon trat, stöhnte die Menge laut auf. Buhrufe ertönten. »Das ist Ali Berat! Er ist der Imam der größten Džamija (Moschee) hier!«, brüllte Sabir mir ins Ohr. »Ich hasse es, wenn sie Religion und Politik vermischen! Lass uns gehen!« Ich bat ihn, mir noch ein wenig Zeit zu geben, denn er begann ungeduldig von einem auf das andere Bein zu treten. »Du wolltest doch auch sehen, was bei der Veranstaltung der Gegenpartei so los ist, oder?« Ja, das hatte ich gesagt. Ich packte also mein

Feldtagebuch Shutka I: Bürgermeister ­w ahl 2009

Aufnahmegerät ein und wir begaben uns wieder durch das Getümmel auf die Straße. Hupende Autos drängten sich durch das Schneegestöber. Passanten versuchten unermüdlich die riesigen Pfützen zu umgehen. Nach einigen Minuten Weg kam uns eine Menschentraube entgegen. »Da scheint schon Schluss zu sein.« »Wo?« »Na auf der anderen Wahlveranstaltung.« Sabir blieb stehen und begrüßte einen Mann. Im Dunkel war er für mich nicht zu erkennen. »Mein Bruder!«, sagte er und richtete seinen Blick auf mich. Ich gab dem mir bis dato noch Fremden meine Hand und hörte ein klares, dialektfreies, deutsches »Hallo! Wie geht’s?« Sie redeten laut und kurz und trennten sich nach wenigen Worten wieder. »Tschau!« »Er sagt, dass da schon Schluss sei.« Unentschlossen standen wir da und ließen die Leute an uns vorbeiströmen. »Das wird einen Kampf in der Familie geben, hat er zu mir gesagt.« Ich blickte Sabir fragend an: »Kampf?« »Na er war auf der Veranstaltung der Gegenpartei und will die auch wählen, übermorgen! Verstehst du?« Ich nickte verständnisvoll und deutete an, dass ich zurück und nach Hause gehen wollte. »Okay, dann lass uns gehen!«

W ahlsonntag Mazedonien, »Shutka«, 22. März 2009 Schnee fiel seit mittlerweile einer Woche in dicken Flocken auf die riesigen Schlaglöcher der ausgefahrenen Wege und Straßen im Ort. Vor der Anhöhe der Schule »Brakja Hamis i Hamid«, wo die Wähler Shutkas ihre Stimmen abgeben sollten, schlängelte sich träge der Verkehr. Die Straßenbreite bot gerade mal Platz für einen Kleintransporter, dennoch wurde sie in beiden Richtungen gleichzeitig befahren. Bar jedweder Hektik begannen Polizisten die zähe Automasse zu regulieren, wohl um dem vorprogrammierten Stau entgegenzuwirken. Jedoch ohne Erfolg. Es war Sonntag, der Sonntag, auf den ich seit einigen Tagen wartete: Wahltag! Mazedonien wählte in erster Instanz seinen neuen Präsidenten und in zweiter Instanz den Bürgermeister der Stadtteile, der Obshtinas, die Stadtteilräte (Sujets), sowie den Oberbürgermeister und den Stadtrat Skopjes. Fünf Wahlzettel erhielten die Wähler Shutkas, um ihre Stimmen abzugeben. Nach mehrmaligem Hin- und Herfahren, auf der Suche nach einem freien Platz am Straßenrand unterhalb der Schule, stellte Sabir das Auto ab. »Sieh dir doch diesen Matsch an. Da will keiner laufen!« Den Weg von seinem Haus hinauf zur Schule zu gehen, dauerte für mich bisher nie länger als zehn Minuten. »Wir würden alle nasse Füße bekommen und ich will in dieser Kälte nicht laufen«, fügte Sabir hinzu. Auf dem leichten Anstieg zur Schule kamen wir an Polizisten vorbei, die allen privaten Fahrzeugen den Weg zum kleinen Parkplatz versperrten. Nur »Wahltaxis«, Polizeiautos und die Autos der Vertreter der OSZE ließen

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sie gewähren. Diese rasten mit nagelneuen Mercedes und BMW an den Wählern vorbei, ohne Rücksicht auf den spritzenden Matsch. »Hey, wie geht’s?«, hörte ich Sabir rufen. Ein Auto hielt neben uns und blockierte damit die Zufahrt zum Schulgebäude. »Ganz gut!«, kam die Antwort mit rauchiger Stimme aus dem Auto zurück. »Das ist mein Cousin, er ist Taxifahrer und das ist sein Auto!« Auf dem alten, rostigen Lada konnte ich weder ein Taxischild noch irgendeinen anderen Hinweis erkennen, dass es sich um ein Taxi handle. Sabir ergänzte: »Weißt du, die Parteien, die wir hier wählen können, und die den Bürgermeister stellen, haben auch schon letztes Mal private Taxis bezahlt. Jedes Taxi hat eine Straße zugeteilt bekommen und dort können sich die Leute, die wählen gehen wollen, kostenlos abholen und nachher wieder nach Hause fahren lassen.« *** In der Schule schlängelten wir uns durch die Flure, während Sabir angestrengt die kleinen Zettel neben den menschenbelagerten Zimmereingängen las: »Nein, hier auch nicht«, murmelte er. Wir trotteten weiter. »Wonach suchen wir?«, fragte ich seine Frau, die das Geschehen mit einer bewundernswerten Gelassenheit und Ruhe hinnahm. »Unsere Straße« antwortete sie leise. Menschen drängten an uns vorbei, blieben stehen, blickten lange auf die Zettel neben den Eingängen, kniffen ihre Augen zusammen, reihten sich in den Pulk der Wartenden ein oder setzten wie wir die Suche nach ihrem Wahlraum fort. »Hier müssen wir rein.« Sabir zeigte auf den Eingang eines Klassenraumes. Am Eingang hing weder ein Hinweis noch eine Liste mit Straßennamen, auf der die Straße meiner Gastfamilie geschrieben stand. »Das hier ist mein zweiter Nachbar«, tönte Sabir überaus beglückt. »Hier müssen wir auch rein.« Mir wurde eine Hand entgegengestreckt. »Guten Tag, wie geht’s?« »Guten Tag.« Ein zermürbtes männliches Gesicht lächelte mich an. Ein fester, mich kurz schmerzender Griff umklammerte meine Hand. Sabirs Frau lächelte ruhig und stellte sich neben ihren Mann, der sich aufgeregt mit seinem Nachbarn zu unterhalten begann. Draußen, auf dem Schulhof, fiel immer dichter werdender Schnee und bedeckte den knöchelhohen Zaun mittlerweile vollständig. »Das kann hier eine Weile dauern!« Sabir deutete in die Richtung des Zimmers, vor dem wir standen. »Willst du warten, oder …?« Ich entschied mich, draußen zu warten. Das Menschengedränge auf der Straße und die hupenden und dröhnenden Autos betäubten. Wie benebelt ging ich die Anhöhe hinab, um auf dem schmalen Bürgersteig weiter unten stehen zu bleiben und das Geschehen zu beobachten. *** Der Stau hatte sich aufgelöst, eine Autoschlange wand sich im Schritttempo an mir vorbei, als endlich, nach fast zwei Stunden, mein Blick auf Sabir und seine

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Frau fiel, die vor der Schule wieder auftauchten und sich in Richtung des parkenden Autos begaben. »Kommst du?« rief Sabir mir zu. »Steigt ein«, hörte ich ihn sagen, als seine Frau und ich bereits im Wagen saßen. Erst jetzt bemerkte ich, dass der Nachbar, dessen Händedruck ich noch immer zu spüren glaubte, und eine Frau an der Hintertür des Autos standen und einstiegen. Mit einigen geschickten Vorwärts- und Rückwärtsstößen kam das Auto aus der engen Parklücke frei. Sabir trat das Gaspedal durch. Der Motor heulte auf, mein Körper wurde in den Sitz gedrückt. Ein lautes und heftiges Gespräch begann zwischen den Männern. Sabir drückte genervt eine CD ins Autoradio und drehte am Lautstärkeregler: Aus den scheppernden Plastikboxen dröhnten amerikanische Popsongs, die das Gespräch verstummen ließen. Zu Hause angekommen deutete Sabir auf eine Uhr im Wohnzimmer: »Jetzt haben wir einen ganzen Tag dafür gebraucht.« 13.30 Uhr zeigten die glitzernden Zeiger. »So, jetzt ruhen wir uns aus und ich rufe dich dann zum Mittagessen.« Ich nickte und begab mich in das Gastzimmer im oberen Geschoss des Hauses, das Sabir und seine Eltern nach dem Hauskauf angebaut hatten. *** »Weißt du, wir Roma haben ein Sprichwort: Die Familie sind deine Augen, die Freunde dein Herz!« »Du hast dich gewundert, warum mein Vater trotzdem zur Wahlveranstaltung gegangen ist. Darum!«

Mit dieser Erklärung geleitete Sabir mich in die Wohnstube zum Essen, wo der Fernseher an der Wand lief und auf dem Esstisch große, hoch gefüllte Teller standen: Brot, Fleisch, ein Topf »Kraftsche Taftsche«, eine dicke Bohnensuppe und »Mese«, kleinere Teller voller geschnittener Gurken-, Tomaten-, Paprikaund Zwiebelstücke. Im Ofen knackte das brennende Holz. Seine Frau öffnete die Brandluke und warf weitere Holzstücke hinein. »Setz dich!« Sabirs Mutter atmete schwer und zeigte auf den Platz, auf den ich mich setzten sollte. Nachdem mir Sabirs Vater ein weiteres Mal Rakija ins Glas eingeschenkt hatte und in seiner Gastfreundschaft mich auf baldige Leerung des Glases hin drängte, begannen wir zu essen. Vom wohltuenden Gefühl erfüllt, gesättigt und schläfrig zu sein, stand ich nach dem reichhaltigen Mahl vom Tisch auf und begab mich mit Sabir ins Gästezimmer, wo er begann, mir sein Wissen über die Zusammenhänge der lokalen Politik, der Roma- / Zigeunervertreter, -eliten und -führungskader sowie der Parteien in Shutka zu präsentieren. Nach zwei Stunden endete er mit der Frage: »Hast du alles verstanden und was willst du noch wissen?« »Erzähl mir, wie es in der Schule bei der Wahl war«, bat ich ihn. Er winkte ab und begann laut: »Ach, das ist doch immer dasselbe: Die meisten Leute kommen dorthin und eigentlich können sie lesen. Aber wenn sie dann unterschreiben sollen, dass sie ihre fünf Wahllisten erhalten haben, bevor sie in die Kabinen gehen, sagen sie, sie können nicht

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schreiben. Wie meine Frau: Ich weiß, sie kann es. Aber wenn sie es vor anderen zeigen soll oder von anderen beobachtet wird beim Unterschreiben, dann ruft sie mich immer. Aber ich habe sie dieses Mal gelassen.« Er nippte an seinem Kaffee und erzählte weiter: »Weißt du, auch heute war es so wie die letzten Male: Wenn jemand nicht lesen kann, dann wird der Nächste, der lesen kann, hereingerufen und der muss dann vorlesen, wo welcher Kandidat auf der Liste steht.« Zu den Parteiprogrammen gefragt, entgegnete mir Sabir lachend: »Programme? Du hast doch vorgestern Abend gehört, was die versprechen. Es ist immer dasselbe! Da ändert sich nichts! Wir Roma, uns geht nichts über die Familie! Deshalb wählen die meisten den, der aus der Familie entweder in einer Partei ist, oder, wenn es niemanden gibt, dann wählen sie den reichsten der Kandidaten!« »Den reichsten«, entgegnete ich, »also den mit dem meisten Geld?« »Geld? Es geht nicht ums Geld, es geht um große Häuser, Autos die sie fahren oder ums Business das sie haben! Das heißt ›reich‹! Schau, zum Beispiel hat der Leader der einen Partei, der DSR, für die Kuzo der Kandidat ist, ein riesiges Haus. Das ist das größte Haus hier in Shutka. Und unten drin im Haus ist die einzige Bank-Filiale hier in Shutka (s. Abb. 16–18, S. 258 f.). Außerdem hat er noch weitere Häuser und seine Partner haben Cafés und Restaurants hier. Die sind reich! Und wir Roma haben ein Sprichwort: ›Wer reich ist, stiehlt nicht.‹« Er schaute mich eindringlich an: »Verstehst du?« »Wir können dann mal im Fernsehen schauen, wie die Ergebnisse sind!« Ich deutete ihm an, dass ich noch mehr erfahren wollte. »Als ich durch die Straßen gegangen bin«, sagte ich, »habe ich fast nur Wahlwerbung von den Bajram’s gesehen (s. Abb. 4 u. 5, S. 250 f.). Sind die auch reich?« »Naja, die machen viel Werbung und der Vater des Kandidaten für den Bürgermeisterposten war ja auch schon mal Bürgermeisterkandidat und hat dann im Gefängnis gesessen. Aber die sind nicht so reich. Die haben nicht so große Häuser und auch nicht so gut gehende Businesses! Die müssen viel Werbung machen. Aber die werden gewinnen. Die sind zwar nicht so reich, aber die wollen hier in Shutka beginnen etwas zu verändern. Die haben gute Ideen und vor allem hat der Sohn vom Vater gelernt und damit Erfahrungen, die Kuzo [Duduš Kurto] nicht hat. Der ist ein weißes Blatt in der Politik. Und seine beiden Hauptunterstützer, also die reichen, haben keine Ahnung von Politik. Die haben nur ihre Geschäfte, verstehst du?« Nachdem Sabir mir weitere Details erklärt hatte und wir dabei unsere Kaffeetassen geleert hatten, begaben wir uns in die Stube vor den Flachbildfernseher, der einer Kinoleinwand gleich von der Zimmerwand strahlte. »Schau, sie zeigen die ersten Ergebnisse.« Gespannt blickte ich zum Bildschirm und versuchte mich auf Zahlen und statistische Abbildungen einzustellen. Meine Erwartungen wurden enttäuscht; ein Sprecher eines lokalen Kanals berichtete auf Romanes über die Wahlen in Shutka. Sabir kommentierte: »Wir hatten hier in Shutka die geringste Wahlbeteiligung in ganz Mazedonien, nur 33 Prozent sind wählen gegangen.« Ich erinnerte mich an die Menschentrauben in der Schule am Vormittag und die scheinbar nicht enden wollenden Staus vor der Schulhofeinfahrt. Verwundert verfolgte ich Sabirs Ausführungen. »Und Kuzo hat gewonnen! Der Reiche! Er-

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innerst du dich? Die Leute hier sind einfach noch nicht bereit, wirklich bewusst zu wählen!« Er ließ sich, sichtlich enttäuscht, vor seinem Computer in den Stuhl sinken und begann ein Spiel zu spielen, das ich ihm als Geschenk aus Bulgarien mitgebracht hatte. *** »Was ist das für eine laute Musik?«, fragte ich ihn am nächsten Morgen. »Das ist mein Bruder! Du erinnerst dich? Der, den wir getroffen haben, als wir auf die andere Wahlveranstaltung gingen. Er feiert den Sieg seines Kandidaten [Duduš Kurto]. Und weißt du, meine Frau hat auch Kuzo gewählt!« Erzürnt und mit bösem Blick deutete er in Richtung Wohnzimmer, wo seine Frau vor dem Computer saß und mit ihrer Tante chattete. »Sie sagt, weil Kuzo und die anderen so schöne Häuser haben, und weil sie nicht so aggressive und so viel Wahlwerbung in Shutka aufgehängt haben!«

W ahl ausgang Mazedonien, »Shutka«, 5. April 2009 Das Fernsehen meldete, dass bei der heutigen, letztendlich entscheidenden Wahl, nicht weniger als 43 Prozent der Wähler Shutkas ihre Stimmenzettel in die Wahlurnen geworfen haben. Das Ergebnis: Elvis Bajram ist der Sieger und damit der neue Bürgermeister in Shutka. Die Koalition um seinen Vater Amdi Bajram hat sich im Zuge der politischen Entwicklung der letzten Jahre als koalierende Partei der »Koalition für ein besseres Mazedonien« (VMRO-DPMNE) angeschlossen. Der Parteiverbund DSR-ORE stand als ein vom Koalitionsbündnis VMRO-DPMNE unabhängiges Bündnis auf der Liste und führte während seines Wahlkampfes mitunter heftige anti-albanische Parolen in seiner Argumentation. Das Ergebnis folgte stehenden Fußes: der größte Anteil der Albaner boykottierte die zweite Runde der Wahl, als der Anschein sich verstärkte, dass Duduš Kurto das Rennen machen würde. Der große Unterschied der Wahlbeteiligung zwischen der ersten und der zweiten Runde lässt sich nicht nur, wie wir erfahren haben, mit den fast 1000 ungültigen Stimmen begründen, die wohl offensichtlich ein Ergebnis der verwirrenden Anzahl von Stimmzetteln in der ersten Wahlrunde waren. Diese wurden in mazedonischer und albanischer Sprache sowie in Romanes ausgestellt. Hinzugefügt muss hier noch werden, dass die PIR die Anschläge auf zwei Albaner in der Vorwahlkampfzeit im April des Jahres 2009 in Shutka aufs Äußerste kritisierte. Ein Kommentar der DSR-ORE-Koalition zu diesen Vorkommnissen blieb aus.

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Feldtagebuch Shutka II: Die »Shutka-Taxis« Die infrastrukturell eher ungenügende Versorgung Shutkas mit öffentlichen Verkehrsmitteln und die hohe Arbeitslosigkeit seiner Einwohner haben im Laufe der Jahre viele Autobesitzer dazu gebracht, ihre Privatfahrzeuge als »Shutka-Taxis« einzusetzen, die keineswegs zu den legal betriebenen Taxis gehören. Zum einen bessern sich damit viele Familien ihr Einkommen auf. Zum anderen ergänzen sie, gewollt oder ungewollt, die vorhandene Infrastruktur und erweitern somit die Mobilität und Flexibilität ihrer Mitbewohner. Der Preis für den Transport mit einem Shutka-Taxi beläuft sich auf denselben Fahrpreis, der auch beim Fahrer (oder dem Fahrtbegleiter) der öffentlichen und privaten Buslinien bei Abfahrt zu entrichten ist.1 Allerdings ist die Fahrt mit dem Bus an das System der Haltestellen und Fahrzeiten gebunden. Beides trifft zum Vorteil der Passagiere auf die Shutka-Taxis nicht zu. Sie bringen ihre Mitfahrer auf Fahrgastwunsch auch direkt ins Zentrum der Stadt, halten, wenn ein Fahrgast aussteigen möchte, an fast jeder Straßenecke und fahren von gemeinhin als bekannt geltenden Park- oder Halteplätzen im Stadtzentrum oder in Shutka wieder ab. An diesen Halte- und Wartepunkten in der Stadt finden die Fahrgäste zumeist einige, häufig auf der Motorhaube älterer Fahrzeuge sitzende und im Gespräch befindliche Männer, die ihre aufmerksamen Blicke nach Mitfahrwilligen schweifen lassen. Die Frage »Shutka?« – auf einem Halte- oder Wartepunkt in der Innenstadt Skopjes – oder »Ki Diz?« (Romanes: ›In die Stadt?‹) – an einen Fahrer, der sich in Wartestellung in Shutka befindet – ist dann ausreichendes Kennzeichen, um sowohl den Mitfahrwillen als auch das Ziel anzugeben. Während der Fahrzeit wird von vielen »Fahrgästen« die Möglichkeit gesucht, den Zahlungszeitpunkt hinauszuzögern, also das zu tun, was hierzulande gemeinhin als »Anschreiben lassen« verstanden wird. Doch dafür muss bis zum Ausstieg ein Vertrauensverhältnis hergestellt sein, das auch erst während der 1 | Während der Zeit der Erhebung der hier verwendeten Daten blieb der Fahrpreis stabil und lag für die Hauptstrecke zwischen Bitbazar im Zentrum der Stadt und Shutka bei 20 mazedonischen Denar, was ca. 0,33 € entsprach. Die Fahrt mit einem regulär aus der Innenstadt benutzten Taxi nach Shutka belief sich auf ca. 60 bis 80 mazedonische Denar, also ca. 1 €–1,30 €.

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Fahrt entstehen kann. Für gewöhnlich wird das Geld jedoch bereits während der Fahrt bzw. bei Ende, kurz vor dem Ausstieg, dem Fahrer persönlich ausgehändigt. Sofern Fahrer und Fahrgast sich (gut) kennen(-gelernt haben) oder sich bereits Familienmitglieder beider Seiten in Schuldner-Gläubiger-Verhältnissen befinden, werden Zahlungen der Fahrten eventuell auch ganz erlassen. Doch müssen sich dann auch »fremde«, also weitere Fahrgäste im Shutka-Taxi befinden, um zumindest mit ihrem Anteil für den Preis des verfahrenen Benzins aufzukommen. Bei anhaltendem und einseitigem Verschulden gegenüber dem Fahrer (also auch seiner Familie) wird solchen Mitfahrwilligen die Mitnahme konsequenterweise ausgeschlagen. Dies konnte ich zwar persönlich nicht beobachten, doch wurde mir davon in Erzählungen berichtet, die von Familien handelten, deren sozialer Status als unterprivilegiert dargestellt wurde. Durch die schnelle Vermehrung der aktiven Shutka-Taxis – deren »Haltestellen« in Shutka teilweise dieselben sind, die auch die Busse benutzen – stand der Verkehr oft still, wenn sich Busse und Shutka-Taxis an diesen Haltestellen begegneten. Zwar befanden sich unter den Fahrern der Shutka-Taxis ausschließlich Bewohner Shutkas, zumeist Roma, doch waren die meisten der Busfahrer Gadžes, die ihren Unmut bei geöffneter Bus-Einstiegstür häufig und laut zum Ausdruck brachten. Denn im ohnehin recht engen Straßenverkehr Shutkas konnten sie so ihre offizielle Haltestelle nicht anfahren und blockierten damit die Haupt- und gleichzeitige Marktstraße komplett, wenn sie neue Fahrgäste aufnehmen oder Aussteigenden genügend Platz geben wollten. Im Jahr 2009, kurz nach den Bürgermeisterwahlen in Shutka, kam es diesbezüglich zu einer offiziellen Beschwerde einiger Busfahrer beim neuen Bürgermeister Elvis Bajram, woraufhin dieser sich im Handlungszwang sah. Seiner bald darauf verteilten Einladung ins Bürgermeisteramt folgten fast alle ShutkaTaxifahrer persönlich. Unter der Androhung, alle illegalen Taxis samt ihren Fahrern auffliegen zu lassen, stellte Elvis Bajram ihnen drei Alternativen zur Auswahl: entweder sollten sie ihm einen bestimmten finanziellen Betrag zukommen lassen, damit er seine Drohung nicht wahrmachte, oder sie sollten in einem von ihm eröffneten Taxiunternehmen eine Festanstellung finden, was sie einerseits an ihn und seine Kon­ trolle binden und ihnen andererseits Schutz bieten würde, oder aber sie sollten ihre Fahrzeuge fortan außerhalb des Zentrums Shutkas und abseits der Haltestellen postieren, wobei dann natürlich viele der potentiellen Fahrgäste dem Bus den Vorzug geben würden anstatt sich auf den Weg zu jener entlegenen Stelle zu machen. Die Shutka-Taxis parken heute seltener an der offiziellen Bushaltestelle und demnach an jenem Straßenabschnitt, den Elvis Bajram ihnen zugewiesen hat. Kein einziger der Fahrer sei auf jenen Vorschlag eingegangen, durch die Anstellung in einem neu zu gründenden Taxiunternehmen bei Elvis Bajram sowohl Schutz als auch ein Einkommen zu erwerben, erzählten mir Bewohner Shutkas. An dieser Stelle sollen die vielen Hoffnungen in Erinnerung zurückgerufen werden, die sich Personen hinsichtlich einer Anstellung machen, die sich im Falle

Feldtagebuch Shutka II: Die »Shutka-Taxis«

eines Wahlsiegs ihres politischen Kandidaten ergeben würde, aber auch ihre Hoffnungen, wenn sie sich um ein Amt in Gadže-Institutionen oder eine andere Position bewerben, die eher mit den Gadžes als mit Roma / Zigeunern assoziiert wird. Loyalität und Unterstützung, Patriotismus und Hierarchiebezogenheit der meisten Roma / Zigeuner, mit denen ich darüber gesprochen habe, existierte meines Erachtens und auch meiner Datenlage zufolge vorrangig gegenüber Gadžes und deren Institutionen und nicht prinzipiell gegenüber Personen der gleichen ethnischen Zugehörigkeit, es sei denn, es handelte sich dabei um eine Partei oder NGO mit direktem Geldfluss. So wurden Sätze wie »Roma würden niemals einem Rom-Computer-Laden trauen! Lieber gehen sie zu einem Gadže-Laden, der möglichst ein deutsches Label hat« oder »Rom sind eventuell in einigen Fällen patriotisch, aber niemals zu ihrer eigenen ›Nation‹«, mir gegenüber geäußert, wenn ich fragte, warum man sich beispielsweise nicht für die günstigeren Computerersatzteilläden in Shutka entschied, sondern den teuren »Gadže-Laden« im Zentrum aufsuchte. Warum dann aber die Taxis? Eine Ausnahme? Elvis Bajrams Anordnung an die Fahrer der Shutka-Taxis, sich entweder aus dem Zentrum Shutkas zu entfernen, um auf Passagiere zu warten, oder einen Betrag an ihn als Straf- und gleichzeitig Schweigegeldzahlung zu erstatten, oder aber zu seiner Arbeitnehmerschaft zu gehören, folgten die meisten Fahrer dieser Taxis, indem sie die ausweichende Variante wählten. Die Zahlung der Bestechungssumme könnte schließlich unendlich oft wiederholt werden und eine wahrscheinlich schlecht bezahlte Anstellung bei der Familie Bajram würde dem Familieneinkommen eher schaden. Die Kontrolle (und der Schutz), die dadurch zustande kämen, würden ohnehin beim nächsten verlorenen Wahlkampf der Bajrams hinfällig werden. Zwar konnten Vater und Sohn Bajram die Bürgermeisterwahl für sich entscheiden, doch wirkt ihre Macht und deren Ausübung gegenüber den Bewohnern Shutkas genau so weit, wie der Verwandtschafts- und Freundes-, also der Loyalitätskreis reicht. Letzterer ist, wie festgestellt wurde, ein Mischprodukt, das zum großen Teil auf pekuniären Beziehungen auf baut. Das obgleich nur auf imaginärer Grundlage bestehende Anstellungsangebot Elvis Bajrams würde sich dieser Logik nach ausschließlich auf jenen Personenkreis beziehen. Doch mangelt es sowohl Elvis als auch seinem Vater Amdi an solcherlei Bindungen, wie im Falle der Bürgermeisterwahl und auch im Falle ihrer Sozialisation erkennbar wurde. Dementsprechend sind sie auf fiskal gestützte vertrauensbildende Maßnahmen angewiesen, um ihre Gefolgschaft zu vergrößern, die Zusprecherzahl zu erhöhen.

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Feldtagebuch Shutka III Das folgende Beispiel soll davon berichten, welchen Unterschied es macht, wenn in Anwesenheit des einen Publikums gezeigt wird, wie man das andere Publikum beherrscht: im Beisein vieler Roma / Zigeuner nimmt Amdi Bajram sogar unter Androhung von Sanktionen Gadže-Institutionen in die Pflicht.

E in H aus steht in F l ammen Der Brand war an einem sonnenheißen Wochenendtag im Sommer 2008 in einer Seitenstraße des Zentrums von Shutka ausgebrochen. Bereits mehrfach hatten die Hausbewohner und Nachbarn sowohl die Feuerwehr als auch die Polizei gerufen. Nur langsam fanden sich deren Fahrzeuge am Brandort mitten in Shutka ein. Die wenigen und spät eintreffenden Fahrzeuge der Feuerwehr hatten nach Informationen der Straßenanwohner kein Löschwasser im Tank. Als nach vielen erfolglosen Anrufen der besorgten Nachbarn bei der Polizei und Feuerwehr Amdi Bajram am Ort des Geschehens auftauchte, »schaltete der vor den Augen der gesamten Nachbarschaft gleich mehrere Handys ein und telefonierte mit beiden Händen gleichzeitig«, wie mir im Nachhinein die Nachbarn gestenreich berichteten. Als er endlich den Verantwortlichen des Feuerwehrnotrufdienstes erreicht hatte, begann er mit ungefähr folgenden Worten ins Telefon zu schreien: »Wenn ihr nicht in fünf Minuten hierher kommt, mit allen verfügbaren Leuten und Löschwasser, könnt ihr morgen alle zu Hause bleiben und müsst Euch einen neuen Job suchen!«

Es sollen keine fünf Minuten vergangen sein, bis sich schließlich die Straße mit Fahrzeugen der Polizei und den mit Löschwasser betankten Feuerwehrwagen füllte und der Brand unter Kontrolle gebracht wurde. Ohne die – vor den Augen der zu generierenden Fürsprecher in Dienst genommenen – Zugänge zu Gadžes und deren Institutionen, wie sie Amdi Bajram aufgrund seines Amts zur Verfügung stehen, könnte er unter diesen potentiellen Anhängern in Shutka keinen zusätzlichen Zuspruch für sich verbuchen. Den Respekt, der sich aufgrund dieser Situation ergibt – und ihm einen »Namen macht«

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bzw. seinen Namen größer macht – hat Amdi Bajram in diesem Fall daher nicht unbedingt auf direktem Wege generiert. Die Situation einiger Roma- / Zigeunerfamilien, die keine Beziehungen in Gadže-Institutionen für sich in Anspruch nehmen können, und seine Position als Abgeordneter im nationalen Parlament verschaffen Amdi Bajram jenen Respekt, der auch später noch in aller Munde sein wird: ein Retter im letzten Augenblick zu sein, der die Situation zugunsten von Roma / Zigeunern entscheiden kann. Denn in Anwesenheit mehrerer Roma / Zigeuner einer gesamten Gadže-Institution zu drohen und Kraft eines Amtes und Zugänge diese Institution auch aushebeln und die Mitarbeiter arbeitslos machen zu können, hätte für die Verhältnisse jener Nachbarn ein aussichtsloses Unterfangen dargestellt.

Abbildungen 1 bis 2

Abbildung 1: Drei Fahnen in Shutka (v. vorn n. hinten: Fahne der Roma, weiße Fahne mit dem Wappen Shutkas, Nationalfahne Mazedoniens)

Abbildung 2: Fahnen vor einem Wahlbüro der Koalition DSR-OPE (die Fahnen v. l. n. r.: »Gemeinsam für Shuto Orizari« [DSR], Nationalfahne Mazedonien, Fahne der Europäischen Union, Fahne der Roma, SchwarzRote Fahne in Anlehnung an die albanische Fahne, Fahne der DSR, »Uniime Partia baśi Emancipacia e Romengiri« [OPE]; oben: Fahne der Roma) Zigeunerkulturen im Wandel

Abbildungen

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Abbildung 3: Wahlplakat des Bürgermeisterkandidaten Duduš Kurto (»Bürgermeisterstimme für Duduš Kurto – Kutzo«; im Emblem: »Koalition DSR-OPE – Gemeinsam für Shuto Orizari«)

Abbildung 4: Wahlplakat des Bürgermeisterkandidaten der CRM, Elvis Bajram

Abbildungen 3 bis 5

Abbildung 5: Wahlplakat der CRM im Zentrum Shutkas (»Gemeinsam für die Erneuerung in Shuto Orizari«)

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Abbildung 6: Dreisprachiges Ortseingangsschild »Shuto Orizari« (Mazedonisch, Romanes, Albanisch)

Abbildungen 6 bis 8

Abbildung 7: Umzäunter Baugrund für das neue Schulgebäude

Abbildung 8: Straßenszene in Shutka

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Abbildung 9: Straßenreinigung in einer Seitenstraße Shutkas

Abbildung 10: Müllberg am nördlichen Rand Shutkas

Abbildungen 9 bis 12

Abbildungen 11 und 12: »Amdi-Džamija« (»Amdi-Moschee«)

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Abbildungen 13 bis 15

Abbildungen 13–15: Der neue Sportplatz in Shutka (»Sportsko Rekreativen Centar«)

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Abbildung 16: Vor dem Haus Shaban Salius

Abbildung 17: Hauseingang mit Bankfiliale im Erdgeschoß

Abbildungen 16 bis 19

Abbildung 18: Blick von der Hauptstraße auf das Haus Shaban Salius

Abbildung 19: Bautafel vor dem Zentrum für Asylbewerber Skopje

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Abbildung 20: Sitz der NGO »Romaversitas« im Zentrum Skopjes

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7 Prestige und Zugänge 7.1 P restige I: V orüberlegungen Die folgenden Ausführungen Besprechungen, die um den Begriff Prestige kreisen, verstehe ich als ersten Überblick und auch als thematische Weiterführung der Vorüberlegungen zu Kapitel 5 und 6. Im Hinblick auf die Herstellung einer stabilen Eindeutigkeit sei auf meine Ausführungen im Zusammenhang mit Geertz (2009) im Kapitel 1 hingewiesen. Dort habe ich argumentiert, dass es eines der Ziele meiner Arbeit ist, eine dichte Beschreibung darzulegen, und dass ich mich von einer umfassenden empirischen Stabilität distanziere. Eine dichte Beschreibung erhält »dadurch [Dichte], dass sie Oberflächen durchschaut«, wie wir in der Einleitung des Sammelbandes von Mörth und Fröhlich (»[email protected]« 1998) erfahren, der dem Geertz‹schen Ansatz innerhalb der symbolischen Anthropologie in der Moderne nachgeht. Daher wird meine Darstellung umso stärker bestrebt sein, »vielschichtige Bedeutungsstrukturen sichtbar« zu machen (ebd.: 18; m. H.). Meine Überlegungen knüpfen auch an eine der eingangs gestellten Fragen an: Worin bestehen die Unterschiede zwischen den Prestige-Skalen der Roma-  /  Zigeunergruppen und denen der Gadže (bzw. ihrer Institutionen)? Wenngleich die der Gadže unter einigen Roma- / Zigeunergruppen als eher verachtete »Skala« gilt (vgl. u. a. Bancroft 2005: 44 ff., Scheffel 2005: 135), steht sie dennoch laut Aussage »meiner« Informanten an höchster Stelle in einer Prestigehierarchie »Gadže – Rom / Zigeuner«, selbst dann noch, wenn sie die Hierarchien der verschiedenen Roma- / Zigeunergruppen untereinander mit in ihre Ausführungen einbezogen haben. So äußerte nicht nur Alvin Salimovski, dass er einen »Vorsprung« gegenüber den Roma / Zigeunern hatte, die nicht wie er »zwischen«1 Gadže aufgewachsen wären: 1 | Alvin betonte, dass er den Begriff »zwischen« in diesem Zusammenhang wissentlich benutzte. Denn mit dem Wort »unter« assoziierte er eine Hierarchisierung zwischen ihm und seinem Umfeld. Als Deutschlehrer war er sich durchaus der verschiedenen Wortbedeutungen bewusst, wie er mir bestätigte. Dennoch bestand er auf der Formulierung »zwischen« statt »unter«.

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Zigeunerkulturen im Wandel »Wie ich schon gesagt habe, wir sind ›zwischen‹ Gadže erwachsen geworden. Das hatte seinen Vorteil. Wir hatten viele Vorbilder von den Gadže, aber auch von den Roma. Zwischen [i. e. unter] den Arli in Kriva Palanka gibt es Professoren, Ärzte, Anwälte, Polizisten, Juristen usw. Also das ist alles normal für uns!«

Zwar ist mein treuer Begleiter in Shutka, Sabir, nicht wie Alvin Salimovski unter Gadže aufgewachsen, doch ist auch er davon überzeugt, dass der Ruf eines Rom oder einer Romni in der Gruppe und Gemeinschaft mit zunehmender Nähe zu (bedeutenden) Gadže wächst. Auf meine Frage, ob in den Alltagsgesprächen der Bewohner Shutkas dann Personen (Rom oder Romni) höheres Ansehen genießen, wenn sie unter den Roma / Zigeunern oder eher unter den Gadže aufgewachsen wären, antwortete auch er: »Ich denke das Zweite.« Und nach unserem ersten Besuch bei Amdi Bajram fügte er hinzu: »Wenn ich meinen Familienmitgliedern sage, dass ich mit dir im Parlament war, zu einem offiziellen Empfang bei Amdi Bajram und dort für dich übersetzt habe, dann ist das prestigeträchtiger als wenn jemand einen neuen Mercedes vor sein Haus fährt!«

Hier spricht Sabir gleich zwei der immer wieder, sowohl von den Akteuren als auch von anderen Roma / Zigeunern, aufgezählten Faktoren an, die eine bedeutende Rolle spielten, wenn ich mit ihnen über »Rom Baro«, »Roma-Führer« oder darüber diskutierte, wer das meiste Prestige hätte: Dem Kontakt zu einer »wichtigen« Person (hier zu Amdi Bajram) ist möglicherweise mehr Prestige abzuringen als dem Besitz eines Luxusfahrzeugs, also einer symbolträchtigen Objektivierung des objektgebundenen und damit gezeigten Reichtums. Darauf werde ich in den folgenden Abschnitten zu den Themen Reichtum (s. Abschn. 7.2.2) und Kontakte (s. Abschn. 7.2.3) zu sprechen kommen. Wie im Verlauf der Arbeit klar geworden ist, existieren zwischen den einzelnen Gruppen der verschiedenen Roma / Zigeuner, ob innerhalb oder außerhalb der Mahallas (s. Kapitel 1), je unterschiedliche Hierarchisierungen. Das stellten sowohl Nikolaj Kirilov und Nadir Redzepi anhand ihrer jeweiligen Heimatstädte Lom und Tetovo exemplarisch dar als auch Alvin Salimovski anhand von Kriva Palanka oder Liliyana Kovatcheva am Beispiel ihres Herkunftsorts Kystendil. Für den Sonderfall Shutka äußerten einige der dortigen Bewohner häufig folgende Kategorisierung: »Die meisten der gebildeten Roma / Zigeuner [hier in Shutka] sind Kovači und die reichen Roma / Zigeuner sind [meist] Džambasi.« Zwar deckt sich diese Aussage nicht hundertprozentig mit meinen Daten, doch beinhaltet sie zwei sich wiederholende Aspekte: dass die »nächste« oder die »andere« Gruppe eher im Unterschied zur und nur selten in einem Zusammenhang mit der eigenen Gruppe (beispielsweise im Falle der affinalen Beziehungen) gesehen wird, und dass, außer Reichtum und Kontakte zu besitzen (s. o.), der Faktor Bildung eine entscheidende Rolle bei der Darstellung einer Prestige-Hierarchie spielt. Beim genauen Betrachten der Daten ist aber auch zu beobachten, dass der sehnsuchtsvolle Blick derjenigen Akteure aus

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sozial und materiell besser situierten Herkunftsmilieus verstärkt zu den Gadže hervorgehoben ist, wohingegen der Blick in Richtung vieler anderer Roma- / Zigeunergruppen sich oft abwertend, pejorativ gestaltet (siehe beispielsweise Toma Nikolaeff, Ramadan Berat, Ajet Osmanovski, vgl. Kapitel 3). Wenn ein Akteur aus einer sozial und materiell verhältnismäßig schlecht gestellten Familie stammt, so richtet sich dessen Blick wiederum wahrscheinlich eher auf jene anderen, finanziell prosperierenden Roma- / Zigeunerfamilien (vor Ort), die aus seiner Perspektive den Gadže näher sind, wie an vielen Beispielen auch zum Ausdruck kam. Doch dieser sehnsuchtsvolle Blick ist oft von Unverständnis oder sogar von (versteckter) Missgunst und Verachtung (s. Branislav Petrovski, Hristo Kyuchukov, Nadir Redzepi) der Mitglieder der Herkunftsgruppe begleitet, da solche Personen mit den Worten Ramadan Berats oder Rumyan Russinovs keine »wahren Zigeuner« mehr sind. Rumyan Russinovs weitere Ausführungen, dass »Bildung den Zigeuner nicht wegwischen würde«, sollen dabei keinesfalls als spätere Dementi oder Eingeständnisse seiner Zwiespältigkeit gelten, sondern sie zeigen die Konsequenz (s)einer Integration in die Moderne, wie im Kapitel 8 näher ausgeführt wird. Jene Akteure aus sozial und materiell schlechter gestellten Herkunftsmilieus leben nach absolviertem Bildungsweg häufiger gemeinschaftsextern als jene, deren potentere Voraussetzungen (materiell, ideell und edukativ etc.) bereits durch die (Groß-)Elterngenerationen generiert und stabilisiert worden sind. Denn Letztgenannte können nicht nur auf eine Geschichte zurückblicken, aus der sie vergleichsweise bevorzugt hervorgingen, sondern ihre Rückkehr nach absolviertem Bildungsweg ist die in eine ethnisch heterogene Umgebung, nicht in eine Mahalla. Nikolaj Kirilov, dessen Herkunft eine besser gestellte Familie Loms ist, reagierte jedoch äußerst aufgebracht und laut auf meine Frage, warum viele junge gebildete Roma / Zigeuner nicht zurück in ihre Herkunftsgemeinschaften gingen, während er jenen mittlerweile gruppenextern lebenden Roma / Zigeunern zur Seite sprang (Kapitel 5), obwohl er selbst in seinem Heimat- und Herkunftsort Lom-Stadiona lebt und dort aktiv ist. Wenn wir also die hierarchische Verortung der jeweiligen Ebenen bestimmen wollen, so ist meiner Ansicht nach auch der Frage nachzugehen, in welche Richtung sich die »Wertflüsse« orientieren. Also, wie und wann »überformen« GadžeWerte diejenigen, die laut meinen Akteuren als »typische« Werte der einzelnen Roma / Zigeuner gelten und unter welchen Umständen verhält es sich andersherum? Kurz: Wer gilt als Wert-Geber, wer als Wert-Nehmer und in welchem Fall?

7.1.1 Respekt der Gadže – Verachtung der Roma / Zigeuner – Scham fürs eigene Land Branislav Petrovski: »Ich wurde von den Gadže und den Institutionen sehr respektiert und auch von den GadžeLeadern. Und als ich in der Umgebung von bekannten Gadže war, haben die immer gesagt:

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Zigeunerkulturen im Wandel ›Schaut euch Branko an, das ist der Weg zu eurem Erfolg! Wer sich an Brankos Weg orientiert, wird im Leben gewinnen.‹ Diese Worte sind mir im Kopf geblieben und deswegen bin ich heute ein größerer Manager und Organisator. [...] Um diese Frage zu schließen: Ich bin zwar jemand, der nicht beliebt ist unter den Roma, also ich werde von ihnen diskriminiert, aber das Zweite ist – das größte Opfer für meinen Erfolg: meine Familie. Ich hatte [in letzter Zeit] nicht ein einziges Mal Zeit für ein gemeinsames Abendessen mit ihnen. Aber ich bin sehr zufrieden damit, dass meine Kinder so aufgewachsen sind, dass sie heute selbst ganz eigene Intellektuelle sein können.«

Branislav Petrovski ist seiner Auskunft nach Džambasi und daher auf keinem der untersten Ränge der Hierarchie zwischen den Gruppen in Shutka zu verorten. Doch stehen seinem Status- bzw. Prestigegewinn von Roma- / Zigeunerseite zwei wesentliche Einschränkungen entgegen: Erstens ist er, wie er selber sagte, zwar Džambasi, doch eben nicht muslimischen (wie es andere Džambasi in Shutka mehrheitlich sind), sondern christlichen Glaubens. Zweitens bringt ihm seine Nähe zu den (zumeist Gadže-)Kollegen seines Bruders, dem promovierten Ethnologen Trajko Petrovski, eher unter ihnen Ansehen als unter den Bewohnern Shutkas. »Mit meinem Bruder Trajko haben wir begonnen – in dieser Zeit von 1993 bis 1997 war ich der Dechiffrierer meines Bruders, wenn er seine Sprachaufnahmen 2 in Dörfern gemacht hat – und in diesen drei bis vier Jahren, als ich in der Umgebung höherer Intellektueller war, wie Doktoren und Magister, habe ich in mir eine separate Intelligenz gebildet. Mein Bruder hat mir dann gesagt, dass ich sehr intelligent sei und ich mich mit einer NGO registrieren soll, die sich mit der Romafrage befassen würde und die Kultur, Tradition, Ethnos, Ethnologie und die Roma unterstützen sollte. Und ich habe meinen Bruder Trajko dann gefragt, woher er denn diese Idee habe. Und er hat gesagt: ›Ich sage dir das nicht als ein Bruder! Das wurde mir über dich gesagt, von meinen Kollegen am Institut, die dich gesehen haben und mir gesagt haben, dass du ein ›big man‹ werden kannst.‹ Es war sehr schön das zu hören. Aber ich habe mir dabei gedacht: ›Ja, natürlich, er ist ja auch mein Bruder!‹ Aber als ich dann wirklich dorthin gegangen bin, also zu diesen Institutionen, da haben sie mir auch gesagt, dass ich mal Jemand werden würde. Wir haben unsere NGO 1997 registrieren lassen. Offiziell hat sie dann am 15. Januar 1998 begonnen zu funktionieren.« 2 | Solcherlei Sprachaufnahmen sind beispielsweise in die vom Theater »Romano Ilo« herausgegebene Darstellung »Gypsy St. George’s Day – Coming of summer, 1967– 1997« (Ivančič Dunin 1998) mit eingef lossen. Für diese Veröffentlichung hat Trajko Petrovski als Übersetzer ins Romanes mitgewirkt, sein Bruder Branislav hat über das Theater die Herausgeberschaft des nur ca. 80 Seiten umfassenden A4-Booklets übernommen. Elsie Ivančič Dunin, als Autorin und Ethnographin, stellt in dieser dreisprachigen Ausgabe (Englisch, Mazedonisch, Romanes), den Wandel des »Ederlezi-Fests« in Skopje und Umgebung über dreißig Jahre hinweg überblicksartig dar.

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Als Empfänger staatlicher Transferleistungen bemühte sich Branislav Petrovski mit dem Theater »Romano Ilo«, dem er vorsteht, um voluntäre Projekte. Doch daraus Profite zu schlagen oder ein für seine Familie ständig fließendes Einkommen zu generieren – um einer Kategorie der »reichen« Džambasi in Shutka entsprechen zu können – ist ihm noch nicht zuteil geworden. Dennoch empfindet er keine Scham darüber, dass er seinem Sockengeschäft auf dem Bit-Bazar nachgeht, um ein Einkommen zu generieren, sondern nur Scham gegenüber seinem Land Mazedonien: »[D]ie Familie meiner Schwägerin hat mit Socken gehandelt. Als ich und mein Bruder gesehen haben, dass es ein gutes Handelsgeschäft sein könnte, mit den Socken, zum Beispiel auf Märkten oder eben Festivals, habe ich eine kleine Menge Geld investiert, um das Material zu kaufen und am Ende haben wir das Zehnfache herausbekommen. […] Ich bin daher ein wenig auf den Markt gegangen, um zu verkaufen und bin auch ein wenig in meinem Job arbeiten gegangen, und so hatte ich einen besseren wirtschaftlichen Status. […] So um die 24 Jahre handle ich nun schon mit Socken, also seit [dem Beginn] meiner Armeezeit, als ich 18 war. Obwohl ich als Manager in einer Organisation für Roma-Kultur arbeite, habe ich meinen Sockenhandel nicht aufgegeben. Es passiert sehr häufig, dass ich meine Krawatte ablege, meine Socken nehme und sie auf den Markt trage, um sie zu verkaufen. So kann ich meinen Kindern auch damit etwas zu essen bringen. Und da empfinde ich keine Schande oder Scham für mich, eher Scham für mein Land.«

7.1.2 Von Er wartungen und Entsprechungen: Zum Beispiel Reichtum und Familie Ein in Shutka unbekannter Akteur dieser Studie drückte mir gegenüber mit folgenden Worten aus, was seiner Meinung nach die Bewohner einer kleinen dunklen Gasse in Shutka von mir und ihm denken würden, wenn er sie in meiner Begleitung unvermittelt aufsuchen würde: »Ich würde da nicht unbedingt hineingehen! Nicht weil wir dann Ärger bekommen, sondern weil sie dann denken, dass wir – also du und ich – (zeigt auf meine Kleidung und meine blonden Haare, seinen Anzug und Krawatte) wichtige Leute sind, die humanitäre Hilfe verteilen wollen.«

Würden wir, also dieser Akteur und ich, demnach Spenden mit uns tragen, würde uns nicht nur ihre (wahrscheinliche) Dankbarkeit, sondern auch (wenngleich kleiner) Zuspruch und zumindest der Schutz unserer Person durch die Bewohner dieser kleinen Gasse zuteil werden. Die Episode im Vorwort, die sich in Rumänien abspielte, zeigte Ähnliches. Aus ihr wurde ebenso deutlich, wie es einem ergeht, der in eine Siedlung kommt und dort ausdrücklich nicht erwünscht ist. Die Erwartung (m)einer Distribution an sie, die Bewohner dieser Siedlung, könnte infolge meiner Argumentation als einer der zu verwirklichenden Werte ver-

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standen werden, der mir zumindest kurzzeitig Akzeptanz, Ansehenssteigerung, aber auch Neider und Missgunst verschafft hat. Auch Nikolaj Kirilov erwähnte die Distributionserwartungshaltung vieler Bewohner der Mahallas in Lom im Zusammenhang mit der Dekade: »Wenn man zum Beispiel in die lokalen Gemeinschaften geht und fragt, was ist die ›Roma-Decade‹? Dann denken viele, dass George Soros kommen und 100 Millionen verteilen wird.« Doch dass nicht alle Bewohner einer solch ärmlich anmutenden Gasse wie der in Shutka auch tatsächlich arm sind, wird die Sequenz Duduš Kurtos zeigen, die ich in den Abschnitt »Reichtum« (Abschn. 7.2.2) eingeflochten habe. Dort stellt sich die Armut eines Bewohners dieser Gasse als »gezeigte« Armut dar, die offenbar den verborgenen finanziellen Reichtum hütet und das Prestige dieses Bewohners (wenngleich ein Ausnahmefall) daher nicht mehren kann – zumindest aus »Kuzos« Perspektive heraus, wie ich zeigen werde. Wertvorgaben, so sei hier wiederholt festgehalten, sind Erwartungen eines Idealbildes, das auf seine Verwirklichung, seine »Erfüller« wartet, um diese dann mit Prestige, Ansehen, einem »Namen«, dem Zuspruch zu versehen, die ihnen wiederum kraft »des Wissens von deren Vorbildlichkeit« (Erdheim 1973) durch ihre Anhängergruppe beigebracht wird. In diesem Wissen, so Erdheim, sei auch enthalten, »welchen Wert er«, dieser Mensch selbst, innerhalb der Gemeinschaft hat. Die »Rangordnung der Vorbilder in dieser Gesellschaft« entscheide dabei über diesen Wert (ebd.: 32). Der Anreiz, die Erwartungen zu erfüllen, bemisst sich danach, ob diese Werte in den Augen des Akteurs »es wert sind« verwirklicht zu werden – bei den triftigen Gründen für diese Erfüllung ließe sich natürlich ein ganzes Spektrum zwischen Erfüllungslust und Erfüllungszwang aufmachen: Beispielsweise sind da Verpflichtungen einzuhalten (Schuldrückzahlungen oder andere Reziprozitätsversprechen), an der Gruppe (weiterhin) partizipieren zu wollen oder sie (evtl. später) als potentielle Wähler zu mobilisieren, etc. Die »Einverleibung« von »kulturellen Werten«, Vorstellungen und Symbolen ist das »Ziel der Sozialisation« (Bourdieu 1978: 199). In dieser Lebensphase überträgt eine Generation ihre Werte (die Vorstellungen der Welt, mitsamt ihren Ideal- und Wunschbildern) auf die nächste Kind- bzw. Enkelkindgeneration. Wie aus einigen der Gesprächssequenzen hervorgegangen ist, stellten die Akteure – wie sollte es auch anders sein – ihre Familien als wichtigsten Bezugspunkt, nicht nur ihrer Sozialisationsphasen, klar heraus. Auch der Blick in die Literatur über andere Roma- / Zigeunergruppen könnte hinzugezogen werden, um zu zeigen, dass die Familie der meisten Roma / Zigeuner als »the vault and the matrix« (Jakoubek 2004: 10) ihres sozialen Systems gelten kann.3 Der Akteursfamilie kommt (in der Sozialisationsphase) eine potenzierte Bedeutung zu, nicht nur weil der traditionelle Fokus vieler 3 | Vgl. u. a. Acton 1974: 14 f f.; Bancroft 2005: 44; Fraser 1995: 306; Gheorghe /  M irga 1997, Gmelch 1986: 314; Jacobs 2008; Marushiakova / Popov 1997: 55 f f.; 2001: 7 f f. und 2004a: 11.

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Roma- / Zigeunergruppen auf der Familie liegt, sondern auch und gerade weil für die Akteure die Anerziehung der (kulturellen) Werte der Gemeinschaft eine bedeutende Rolle spielt. Doch konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass auch die Gadže (Mazedonen, Bulgaren, Albaner etc.) die Ihrigen ebenso oft und stark wie Roma / Zigeuner hervorhoben, wenn mir Kollegen (im Institut in Sofia; im Balkan-Institut in Skopje, oder NGO-Mitarbeiter, beispielsweise in Kumanovo) über Personen ihrer Verwandtschaft berichteten, deren Pendants aus meinem familiären Umkreis ich mittlerweile fremd geworden bin (Kreuz-Cousins und -Cousinen, Nichten und Neffen zweiten und dritten Grades, oder Großtanten und -onkel etc.). So wird diese Familienbezogenheit hier (auch auf Anraten eben jener Gadže-Kollegen 4) wohl eher als ein pan-balkanisches Konzept zu gelten haben, anstatt es »nur« auf Roma- / Zigeunergruppen projizieren zu können.

7.1.3 »Im Unterschied zu den Gadže sind wir nicht anders!«, oder doch? Welche Unterschiede sind es, so fragte ich eingangs, die zwischen den Prestigeskalen der Roma / Zigeuner und der Gadže bestehen? Geht man grundsätzlich von einer solchen Differenz aus, müssten zunächst einmal prinzipielle Unterschiede zwischen beiden Seiten dargelegt werden. Doch auf diese Frage haben die Akteure auf unterschiedlichste Art und Weise geantwortet. Mit den nächsten drei Gesprächssequenzen von drei der jungen Akteure in Skopje werde ich in den nachfolgenden Ausführungen versuchen, diese herrschende Meinungsvielfalt über allgemeine Wertunterschiede aufzuzeigen. Damit soll klar werden, dass »die« Unterschiede als solche nicht zu finden, sondern immer von der Akteursperspektive abhängig sind. Somit will ich schlussfolgernd in den nächsten Abschnitt hineintragen, dass nicht nur Unterschiede zwischen ihren Sichtweisen auf diese Differenzen bestehen, sondern folglich auch in den Ansichten darüber, wie sich gruppeninternes Prestige auf bauen bzw. potenzieren ließe. Davon soll im nächsten Abschnitt die Rede sein. Hier nun bedient sich Elvis Fazlioski (als junger NGO-Projektkoordinator) des Wohn- und Sozialisationsumfelds, um den Unterschied darzulegen und Daniel Petrovski (der junge Ethnologieabsolvent) eines von mir zu entkräftenden Stereotyps über zeiträumliches Denken und Handeln. Schließlich stellt Azdrijan Memedov das äußere Erscheinungsbild der Hautfarbe in seinen Fokus, um auf die Anspielung der Unterschiede zwischen Roma / Zigeunern und Gadže zu reagieren: 4 | Den Blick in die ›Wertewelt‹ der Gadže (besonders auf jene, von denen ich annahm, es seien »typische Roma- / Z igeunerwerte«) verdanke ich besonders meinen KollegInnen Magdalena Slavkova, Sophiya Zahova, Yelis Erolova, Mila Maeva, Margarita Karamihova und Petko Hristov vom Ethnographischen Institut und Museum in Sofia, sowie auch Rubin Zemon vom Euro-Balkan-Institut Skopje und Vesna Delić (Roma Scholarship Foundation Podgorica, Montenegro).

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Sozialisations- und Wohnumfeld: In der Mahalla oder unter Gadže Rom-Gemeinschaften wie Shutka – wir konzentrieren uns ja darauf – leben wie in einem Ghetto. Somit existiert hier auf jeden Fall ein Unterschied [zu den Gadže]. Aber es wäre besser, Unterschiede zwischen Roma, die in Shutka und außerhalb von Shutka leben, zu suchen. Roma, die außerhalb von Shutka und auch außerhalb von Skopje leben, sind irgendwie mit den anderen sozialisiert, und daher haben sie nicht so einen großen Wertunterschied zu den Gadže. Ich sage, wie ich es sehe. Es gibt ein großes Problem in Shutka, da die Werte immer noch die traditionellen sind, wie sie es vor 50, 60 Jahren waren. Ich würde z. B. diese Unterscheidung und Charakteristik nehmen: Das patriarchale System existiert unter den Roma. Zum Beispiel, wenn du heiraten willst, muss die Frau noch jungfräulich sein. Das ist in anderen Gemeinschaften nicht der Fall. Sogar die Albaner sind nicht mehr in der Situation, wie sie es waren. Ich denke, dass sich die Dinge ändern, aber dann haben sie keine anderen [Roma mehr], mit denen sie sozialisiert werden.  Elvis Fazlioski Black or White?: Die individuelle Hautfarbe Ich kann nicht sagen, dass es da sehr große Unterschiede zwischen ethnischen Gruppen gibt. Es gibt viel größere Unterschiede zwischen Individuen in den ethnischen Gruppen. Und nicht eben nur Gadže. Weil das größte Stereotyp gegenüber den Roma ist die Hautfarbe, die Farbe der Roma. Zum Beispiel ich und Ajet [Osmanovski], Elvis [Fazlioski] und viele andere Roma haben diese Farbe nicht. Also wenn du ins Zentrum gehst und mit den Gadže sprichst, dann bekommen sie den Unterschied gar nicht mit. Sie beginnen aber eben mit der Hautfarbe. Wir gehen in jedes Café, in jeden Club etc. Die Farbe ist der wirklich einzige Unterschied. Aber ich könnte keinen einzigen oder ›den‹ Unterschied benennen. Ich kann da eher über Individuen sprechen und nicht über Gruppen.  Azdrijan Memedov Gadže denken an morgen und Roma nur für heute? Für die Gadže gilt immer, dass sie in einer größeren Zeitperiode denken. Die Roma denken für heute und nicht weiter. Die Roma sind eher verheiratet und unter den Gadže kann man Leute finden, die 40 Jahre alt sind und nicht verheiratet.  Daniel Petrovski Hier wiederholte Daniel das (auch von mir häufig gehörte) Stereotyp, dass Roma / Zigeuner über Roma / Zigeuner allgemein denken, dass sie »nur für den Moment« leben oder planen würden (wobei allein schon der Gedanke ans Hei-

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raten dem widerspricht). Zwar sind auch in wissenschaftlichen Betrachtungen ernstgemeinte Erwähnungen zu finden, die das Denken und Handeln vieler Mitglieder der untersuchten Roma- / Zigeunergruppen als ein Leben im »zeitlosen Jetzt« bezeichnen (vgl. u. a. Stewart 1997: 246), doch genügt bereits der Blick einige Seiten zurück, um einen evtl. »Realgehalt« dieses Stereotyps aufzuheben: Zum einen unterstrich Daniel Petrovskis Vater, Branislav, dass er glücklich sei über das Opfer, das er für seine Kinder erbracht habe, die jetzt »selbst Intellektuelle« sein können, was ohne einen vorausschauenden Blick nicht der Fall wäre, zum anderen stellt die allgemein bekannte Tatsache, dass nicht nur Roma / Zigeuner auf die Aussteuer ihrer Kinder bereits in deren frühen Kindesjahren zu sparen beginnen, keine wissenschaftliche Neuigkeit (Georgiev 2006: 43), sondern (wohl eher) eine globale Wahrheit dar.

7.2 P restige II: Z ugänge Da also selbst innerhalb einer Generation (hier der »jungen«) und innerhalb eines Wirkungskreises (hier der Stadt Skopje / Shutka und der NGO Romaversitas) ein heterogenes Wertverständnis besteht, kann die Verwendung der in die hiesige Diskussion einzubeziehenden Begrifflichkeiten nur ebenso mehrschichtig, vieldeutig sein. Denn auch die Zugänge zu Prestige sind, wie gezeigt, von den verschiedenen Akteuren unterschiedlich bewertet worden. Die Reihenfolge, in der ich im Folgenden einzelne Zugänge bespreche, ist an jene angelehnt, nach der die meisten Akteure und Mitglieder anderer Roma- / Zigeunergruppen ihre Bedeutsamkeit ordneten: 1.) die gezeigte Familiarität und Prosperität, 2.) die Kontakte zu nächsthöheren Hierarchieebenen (möglichst Gadže-Insti­ tutionen), 3.) die Stellung der Familie innerhalb der von Ort zu Ort unterschiedlichen Hierarchieverhältnisse und 4.) den Bildungshintergrund (der wiederum vom erstgenannten Zugang – wenngleich nur indirekt – abhängt und gleichzeitig darauf zurückwirkt). Das implizit im letzten Punkt enthaltene »kulturelle Kapital« (Bourdieu 1983) ist und bleibt in seinem Ursprung, wie bereits erwähnt, in der Familie, dem primären identitäts- und werteprägenden Ort. Dabei spielt nicht nur eine Rolle, wie nahe sich die Mitglieder der Familie selbst sind (geographisch), sondern auch wie oft und wie lange sie gemeinsam Zeit verbringen, um dieses »Kapital« übertragen, also Werte kommunizieren und anerziehen zu können. So folgert Bourdieu, dass eben jenes »kulturelle Kapital vielmehr auch davon [abhängt], wie viel nutzbare Zeit in der Familie zur Verfügung steht, um die Weitergabe […] zu ermöglichen und einen verzögerten Eintritt in den Arbeitsmarkt zu gestatten.« (Ebd.: 197)

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7.2.1 Der Name der Familie Wie mir viele Nachbarn in Shutka vermittelten, wäre der Familienname als solcher kaum Bestandteil oder Inhalt von Gesprächen über Mitglieder anderer Familien, sondern deren Vornamen. Sollte beispielsweise jemand im Gesprächskreis nicht wissen, um wen es sich gerade handelt, den Vornamen also nicht kennen, einigte man sich eher auf die Orientierung über soziale Beziehungen und Assoziationen, um beispielsweise zu prüfen, ob von »ein und derselben« Person gesprochen wird oder ob der Kontaktradius bis zu ihm / ihr hinreicht. Auch würden weder Wohnort noch Straße, geschweige denn Hausnummer der Person genannt, sondern man bemühte sich einen Weg zu finden, der bei dem Erzähler selbst beginnt und über viele gemeinsame Bekannte schließlich dorthin gelangt, wo sich die Person, über die gesprochen wird, seiner Meinung nach befindet. (Z. B.: »Ich habe gestern mit A. gesprochen! Du wolltest doch etwas über B. wissen, wie er war. Weißt du noch? A.?« »Nein! Wer soll das sein?« »Also, du kennst doch C., den kleinen Bruder von D., den wir gestern auf dem Markt begrüßt haben! D. ist mit E. verheiratet, die im Laden arbeitet und mir immer etwas mehr einpackt. E.s Vertretung hinter dem Ladentisch – die übrigens die Stieftochter von G. ist, dem Obstverkäufer auf dem Markt –, ist mit A. in die Schule gegangen und wird heute auch im Laden sein. Vielleicht ist A. auch dort. Da wirst du dich erinnern, wenn wir jetzt kurz vorbeigehen! A. übermittelte mir, dass du nächste Woche gern zu seiner Großtante kommen darfst, denn sie kennt B. gut und kann dir mehr erzählen als ich!« usw.) Doch wenn der Familienname als solcher keine bedeutende Rolle zu spielen scheint, was ist dann gemeint mit »einen Namen haben«? Hierzu will ich einige Quellen aus der anthropologischen Elitenforschung hinzuziehen. Der Anthropologe George E. Marcus (2000) benennt beispielsweise in seinem Beitrag »The Deep Legacies of Dynastic Subjectivity« zum Sammelwerk »Elites«, was vom »dynastic impulse and potential for the longer term« beim Zusammenbruch der (Eliten-)Familie übrig bleiben würde: »the ironic power of the family name and identity, circulation both in private and public circles, to be renewed under various opportunistic circumstances«. Und er führt aus, dass dies häufig der Fall wäre für »places where temporally deep lineage organizations of elites once reigned over politics, business, and culture« (ebd.: 11). Hier sei auf die Anspielungen verwiesen, die viele der mazedonischen Akteure im Falle Abdi Faiks machten (u. a. Milazim Sakipov, Azdrijan Memedov, Daniel Petrovski, Amdi Bajram etc.). Elvis Bajram: »Meiner Meinung nach gab es, bevor mein Vater [Amdi Bajram] und Neždet Mustafa RomaLeader wurden, einen einzigen anderen. Ich habe wirklich Respekt vor meiner Generation in der Partei, aber wir müssen über Abdi Faik sprechen, der damals der wirkliche König war. Und so nennen sie ihn heute noch: ›König‹. Er war wirklich der erste der großen Führer. […] Er

7  Prestige und Zugänge war der Erste und Einzige damals, nicht weil er reich ist! Damals in der jugoslawischen Zeit war er der Erste, der die Courage hatte, für die Rechte der Roma zu kämpfen. Jedes Recht, das wir heute haben, ist auf seinen Schultern gelagert. Seine Autorität und sein Name waren damals viel schwerer zu erarbeiten als zu heutiger, demokratischer Zeit.«

Dass der »Name« als ein Zugang gesehen wird, eint die Akteure und ihre Familien mit vielen weiteren eher elitären Familien, die bisher ethnologisch betrachtet worden sind. De Lima (2000) zeigt am Beispiel eines portugiesischen Familienunternehmens, dass das alltäglich Familiäre letztendlich ein Grund ist für das »intense feeling, which is crystallized in the sense of sharing something in common: a family name, a history, ancestors, family houses, titles of nobility, enterprises and a common aim« (ebd.: 34). Dieser Name sei, so argumentiert de Lima weiter, »as much an important commodity as the family house or enterprise shares« (ebd.: 38). Dass die teure Ware »Name« im wahrsten Sinne ein Zugang sein kann, geht auch aus der Arbeit Pina-Cabrals (2000b) hervor. Dort erklärte ein Familienmitglied (Journalist) einer Elitefamilie, zu der er nach Macao, in seine Heimat und zum Familiensitz, nach vielen Jahren aus Übersee zurückkehrt, der Autorin, dass »his ‹respectable family name has frequently helped to open a number of doors’« (ebd.: 217). Auch Acton (1974) verwendete den Namensbegriff und den des Prestige in seiner Darstellung von Roma- / Zigeunergruppen in Großbritannien und dort in Bezug auf die »local leaders«, während er gleichzeitig auf deren beschränkte Legitimation, nur im Namen ihrer Herkunftsfamilie oder -gruppe sprechen zu können, verweist: »[t]he ›local leaders‹, […] were often well-known names in the Gypsy world. Some were of much greater personal standing and prestige than any of the Gypsy Council’s ‹national leaders’. But in delegations and meetings they would only be prepared to speak […] for the small socially and ethnically homogeneous groups of which they themselves were members.« (Ebd.: 223)

7.2.2 Reichtum Dass in der Distribution von Reichtum von den Begünstigten (oder den zu Begünstigenden) eine Art »Vorbildlichkeit« gesehen wird, ist wohl ebenso kaum als »typisches Roma- / Zigeunermerkmal« zu betrachten. Selbst dann nicht, würde man den Argumenten einiger Akteure und Siedlungsbewohner, beispielsweise in Shutka, folgen: Ein Gavutno-Rom in Shutka: »[W]ir können sagen: Shutka ist keine multiethnische, aber eine multi-Roma-Gemeinde, wo es nicht so sehr wichtig ist, aus welcher Roma-Gruppe oder welchem Roma-Dialekt sie kommen. Es ist viel wichtiger, wer du bist, wer deine Familie ist, wie reich deine Familie ist

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Zigeunerkulturen im Wandel oder die Mitglieder der Familie sind. […] Geld ist das Wichtigste! Es ist immer zuerst das Geld! Sogar wenn du nicht weißt, wie du deinen Namen schreiben sollst. Wenn du ein gutes Auto hast, ein sehr großes Haus, dann bist du sehr respektiert in der Gemeinde.«

»Wealth is probably the overriding source of status«, notiert auch Acton (1974: 19), und laut der ethnologischen Studie von Sobral (2000) zu Eliten im zen­tralen Portugal, wo Kapitalleihen an die Ärmeren das Vorbild der christlichen Nächstenliebe der Elite hervorheben soll, um ihr Prestige zu mehren, steht fest: »prestige was bestowed by the mere fact of owning property« (ebd.: 160). Doch, so sei mit Toni Tashev hinzugefügt, »Reichtum allein genügt nicht«, denn, und damit komme ich auf Duduš Kurto zurück, wenn viel Geld als rein numerischer Reichtum hinter einer Armutstür verborgen bleibt, kann es nicht prestigeträchtig wirken: Duduš Kurto: »Aber ich kenne sehr viele Leute; weil ich mit Geld arbeite, weiß ich wer Geld hat und wer nicht, weil sie es immer bei mir wechseln: Da gibt es zum Beispiel einen – sein Sohn ist blind auf allen beiden Augen – und der bettelt jeden Tag in diesen Moscheen hier und hat jeden Tag 100–150 Euro. Jeden Tag! Und er lebt in diesen Häusern da oben (zeigt auf einen stark heruntergekommenen Teil Shutkas, in dem sich vornehmlich aus Blech und Holz bestehende Wohnhäuschen zwischen Müllbergen aneinanderreihen). Wenn man hier zu Fuß hochgeht, zu diesen komischen kaputten Häusern, da an der alten Schule. Er lebt dort und er hat jeden Tag 100–150 Euro. Wenn er ein bisschen überlegt, kann er sich in der Stadt eine Wohnung mieten für 500 Euro, eingerichtet und alles und gut leben, mit seiner Frau und seinem Kind, obwohl er bettelt. Aber nein, er lebt dort. Dreckig! Was soll ich noch sagen? Warum, das weiß ich nicht. Bestimmt liegt es in seinen Genen. Es kann nicht anders sein, es liegt in seinen Genen. Deswegen sage ich ja, dass man es nicht ganz rausholen kann. Shutka kann man nicht ... Ich habe so einen Film im Kopf gehabt, dass man Shutka sehr modern machen kann und so. Aber vielleicht bin ich der Einzige, der so überlegt.«

»Wenn du kein Geld hast, bist du nicht clever genug es zu verdienen!« Deine Position in der Gemeinschaft hängt oft von dem Status und vom Image des Großvaters, deiner Verwandten ab. Aber in meinem Fall kann ich sagen, dass ich Glück habe. Mein Großvater und Ur-Großvater waren in der Gemeinschaft sehr stark respektiert. Sie waren Händler. Sie haben mit Tieren gehandelt. Mit Pferden, mit Kälbern. […]. Ich war noch nicht geboren, als sie starben. Aber das ist ihr Image. Das ist immer so: es ist ein guter Hintergrund und eine gute Basis. Natürlich, wenn du etwas tust, was in der Gemeinschaft beschämend ist – speziell wenn es für die Gemeinschaft beschämend ist, dann zerstörst du dein Image, das deine Großeltern aufgebaut haben. Mein Vater hatte ebenso genug Respekt und sein Respekt kam nicht, weil er etwas für die Gemeinschaft getan hat. Er

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hat sich den Respekt durch das Verdienen von genug Geld während der sozialistischen Zeit in Russland erarbeitet. Das ist ein anderer Teil unserer Tradition, dass diejenigen mit viel Geld den Respekt verdienen. Weil sie clever sind. Wenn du kein Geld hast, bist du nicht clever genug, es zu verdienen! Und es spielt im weitesten Sinne keine Rolle, welche Methode du dabei hast. Natürlich kann es in der Praxis sein, dass du Geld hast, aber ... Du bist zwar respektiert, weil du reich bist, aber die Leute mögen dich trotzdem nicht. Es ist halt nicht genug, nur Geld zu haben. […] Viele sprechen über die Reichen mit Neid. Die machen Geld, aber das heißt nicht, dass sie clever sind. Das ist einfach nicht genug. Das ist eines der Elemente, aber nicht das einzige. […] Rom-Baro? Wir hatten einen solchen Mann. Er wurde dazu, weil er sehr reich war. Sehr mächtig, nicht nur in der Gemeinschaft, sondern auch im bulgarischen Gebiet, also unter Bulgaren. Er war einer der reichsten und mächtigsten Männer der ganzen Region!  Toni Tashev Wahrscheinlich ist er nicht der Einzige, der »so überlegt«, doch ist sein Blick auf die nächstgelegene Prestigeebene, wie oben gezeigt, ein anderer als der jenes Vaters, der sich laut Duduš Kurto ein tägliches Vermögen erbettelt. Dem Vorhaben, ein Einkommen für die Familie zu generieren und zumindest die Kindergeneration mit Hilfe der finanziell unterfütterten Bildungsprojekte in die Schule zu schicken, stünde den meisten Roma- / Zigeunerfamilien nach bisheriger Argumentationslage scheinbar nichts im Wege. Denn unzählige NGOs, ebenso viele Projekte und Gelder sowie die Abgriffsmöglichkeiten dieser Gelder sind vorhanden. Viele Familien profitieren davon, bekommen beispielsweise für Schulmaterialien jährlich eine Zuwendung. Das zumindest bestätigte der Interimsdirektor Alvin Salimovski: »Denn es gibt die Stipendien von REF, von der Soros-Stiftung und vom Land, und es gibt freie Bücher, es gibt freien Transport zur Schule, und wozu brauchst du 800 Euro im Jahr? Du kannst Stifte und Schreibhefte kaufen, und dafür brauchst du vielleicht 400 Euro. Da bleiben 400 Euro übrig. Und der Fakt, dass die Roma-Gemeinden sagen, dass sie kein Geld haben, ihre Kinder zur Schule zu schicken ... Aber wir haben eine andere Situation! Als die Stipendien von der Soros-Stiftung kamen, da war das Stipendium glaube ich etwa 900 Euro [p. a.], und ihre Eltern – weil das Geld auf einmal gezahlt wurde – sind damit nach Bulgarien gefahren, um dort Textilien zu kaufen, oder auf den Markt in Istanbul. Und dann hatten die Kinder kein Geld, um in die Schule zu gehen.«

Als ich Alvin ein weiteres Mal traf, hatte er den Interimssitz im Direktorenbüro der Schule bereits an seinen Nachfolger abtreten müssen. Darüber wenig erfreut, tief enttäuscht und verbittert – und daher ähnlich redefreudig wie der Verlierer der Bürgermeisterwahlen in Shutka, Duduš Kurto – offenbarte Alvin mir, was vorgefallen war, und machte die Geldgier des Bürgermeisters Elvis Bajram für die Neubesetzung des Direktorenpostens verantwortlich:

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Zigeunerkulturen im Wandel »Hier bei uns in Mazedonien dreht sich alles um Geld! Alles! […] Wenn wir Wahlen haben, dann versprechen sie [die Roma-Politiker] immer alles. Und wenn sie eine Position haben, dann vergessen sie alles. [...] Aber, wenn ein Roma auch eine gute Position hat und wenn er auch etwas für die Roma machen will, dann kommt auch wieder die Politik [die sagt]: ›Du kannst nicht arbeiten wie du willst, du musst arbeiten, wie ich es dir sage!‹ […] Also das Beispiel, was mit mir war: Wenn du etwas Gutes für die Schule tun willst, musst du immer den Bürgermeister fragen. Und der Bürgermeister muss das unterschreiben. Aber ich hatte eine Donation für ungefähr eine Mio. Euro, um hier noch eine Schule zu bauen (s. Abb. 7, S. 253). Als sie [im Bürgermeisteramt] das gehört haben, haben sie mich rausgeschmissen. Und weißt du, warum? Weil er von mir vorher mindestens zehn Mal Geld [haben] wollte. Er hat mich zum Beispiel gelehrt, wie ich stehlen soll! Ich sagte: ›Nein, ich arbeite hier für die Kinder! Ich habe mein Gehalt und es ist genug für mich und mehr will ich gar nicht!‹ Und er sagte mir: ›Aber ich will!‹ (lacht laut) Weißt du, er hat mich gelehrt, was ich machen soll. Also zum Beispiel die Fenster wechseln und die Bänke wechseln und so etwas, und dann kommt eine Donation und die muß er unterschreiben. Und dann macht er einen Deal mit der Firma: Ich bezahle der Firma 100 Euro, die Firma nimmt 50 Euro und die anderen 50 Euro nimmt der Bürgermeister. Und es ist alles so!«

Und weil Roma- / Zigeunerpolitiker die Politik oft einzig als »Business« begreifen würden, schließt beispielsweise Branislav Petrovski sogar völlig aus, dass sie überhaupt über ihre Leute nachdenken könnten: »Wir kennen die Politik von Amdi [Bajram] und seiner Partei und wir kennen auch die Politik Shaban Salius. Und wir wissen, dass sie sehr schmutzige Spieler sind. Sie spielen schmutzig, weil sie eben Politiker sind und nicht über die Verbesserungen ihrer Leute nachdenken. Sie sehen Politik als Business an. Sie kämpfen nicht dafür, den Status ihrer Leute auf ein höheres Niveau zu bringen. Sie kämpfen für ihre eigene Autorität und für ihren Namen!«

7.2.3 Kontakte Wie bereits angedeutet, ist Prestige im Verständnis vieler Akteure dieser Arbeit häufig auch mit der Nutzung der Kontakte verbunden, die zum überwiegenden Teil in der Gadže-Welt verankert sind. Sogar innerhalb der Familien werden diejenigen mit großen Geschichten versehen, die ihre Kontakte zu Gadže gewinnbringend einzusetzen wussten, ohne diese Beziehungen jedoch zu überspannen. Man könnte sogar meinen, dass es sich dabei um eine Art balancierter Reziprozität handelt, denn die entsprechenden Kontaktpersonen (Gadže zumeist) verbuchen ihrerseits Zugewinne an Wählern, günstigen Arbeitskräften oder Zugang zu günstigen, zu Dumpingpreisen verkauften Waren und evtl. zu (günstigen) Musikern, die auf Feierlichkeiten gern gesehen sind (siehe zu Nikolaj Kirilov Abschn. 5.4.1 oder zu Nadir Redzepi Abschn. 6.8.1). Ein Rom aus Stadiona-Mahalla in Lom drückte es, nachdem ich ihm den Begriff »Prestige« nach meinem Verständnis erklärt hatte, so aus:

7  Prestige und Zugänge » … und je mehr wichtige Kontakte zu Gadžes und je besser sie in den Gesprächen und Handlungen betont und wiederholt werden, umso größer ist das, was du ›Prestige‹ nennst!«

Um mit Bourdieu (1983) zu sprechen, »lohnt es sich diejenigen zu kennen«, die »Träger eines berühmten Familiennamens« sind. Aus diesem Grund könnten sie »alle ihre Gelegenheitsbekanntschaften in dauernde Beziehungen umwandeln« (ebd.: 193) und ihr »soziales Kapital« damit mehren. Im Unterschied zu Bourdieus Verständnis, bei dessen »sozialen Kapital« es sich um »Ressourcen [handelt], die auf Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen« (ebd.: 190), muss hier erwähnt werden, dass es im Falle meiner Interviewpartner nicht mehr nur darum geht, Mitglieder in der (Herkunfts-)Gruppe zu kennen, sondern es gilt vielmehr, die Bezugsgruppe(n) mit den außerhalb generierten Kontakten zu versorgen und diese gewinnbringend mit einzubinden. So hängt auch hier der »Umfang des Sozialkapitals« des Einzelnen »von der Ausdehnung des Netzes von Beziehungen ab, die er tatsächlich mobilisieren kann.« (Ebd.: 191) Ramadan Berat trägt zur Argumentation insofern bei, als er zeigen konnte, wie seinerseits der Einflussreichtum seines Namens sogar auf eine gewisse Abwehrreaktion stieß (s. Abschn. 6.1.3). Doch auch seine Abwehrreaktion setzt zumindest Wissen auf der Seite derer voraus, die sich aufgrund seines »Namens« ein Wählerpublikum generieren wollten. Und dieses wissende Publikum wiederum benötigt (s)ein Netzwerk von sozialen Beziehungen. Graeber (2001) bestätigt dies und bringt den Prestigebegriff zurück in die Diskussion: »[I]n fact prestige is not an object that one can dispose of as one will, or even, really, consume; it is rather an attitude that exists in minds of other people. It can exist only within a web of social relations.« (Ebd.: 8).

Kontakte zu bedeutenden Personen sind von außerhalb der Familie nach innen getragen und spielen nur unter der Voraussetzung ihrer guten Präsentation eine prestigepotenzierende Rolle. Jedoch ist die Vorbildwirkung beispielsweise in der Mahalla nur dann möglich, wenn der / die Rom(ni) aus der Mahalla selbst kommt, in der er / sie durch Bildung und Kontakte seinen / ihren eigenen Status, mittels des ständigen Kontakts zur Geburtsumgebung und Familie, nach der Abwesenheit erhöht hat. Auf welche Weise der Wiederauf bau der eigenen gruppeninternen Exklusivität bewerkstelligt wird, formulierte Lilyana Kovatcheva für ihren Fall wie folgt: »Danach (nach dem Studium) habe ich begonnen, in meiner alten Schule zu arbeiten. Ich bin also als Lehrerin in die Mahalla zurückgekommen und habe in der Segregationsschule gearbeitet. Das war eine sehr schwere Zeit für mich, weil die Roma-Leute, also meine Leute (hebt den Zeigefinger bedeutungsvoll an) mich nicht ernst genommen haben. Ich war keine von ihnen! Sie sagten, dass ich wie eine Gadži bin. Weil ich in der Gadže-Welt gebildet war, und ich habe mich unter sie gemischt, mich mit den Gadže gemischt und so bin ich keine

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Zigeunerkulturen im Wandel mehr von ihnen. Sie haben sich mir gegenüber dann so benommen, haben Witze gemacht: ›Sie ist eine Gadži!‹, und haben mich geärgert. Das war eine Zeit, die ein wenig schwer war. Aber als später der Veränderungsprozess begann, 1989, die Demokratisierung der Gesellschaft, die zivilgesellschaftliche Stärkung, kamen die Stiftungen und Organisationen ›Roma für Roma‹ usw.«

Und, so sei fortgeführt, in dieser Zeit konnte Lilyana Kovatcheva ihre Kenntnisse gruppenintern einbringen, wie wir von ihr noch erfahren werden. Welche Formen die enttäuschenden Erfahrungen annehmen können, wenn der Akteur in einer Mahalla arbeitet, aus der er nicht stammt, davon wussten beispielsweise Emil Metodiev (s. Abschn. 5.1.2) oder Ramadan Berat (s. Abschn. 6.1.3) zu berichten. Wenn aber diese Siedlungen in derselben Herkunftsstadt gelagert sind, die Mitglieder also wissen, wer »er« (der Aktivist oder Vertreter) ist, so lässt sich mit strategisch wohl ausgefeilten Strukturen ein anderes Ergebnis erzielen, wie eben von Lilyana Kovatcheva oder auch von Nikolaj Kirilov (s. Abschn. 5.1.4) und Rumyan Russinov (s. Abschn. 5.2.1) bestätigt wurde. Toma Nikolaeff soll hier abschließend den Aspekt der Kontakte mit dem des Geldes zusammenführen. Dabei lässt er verlauten, warum viele der NGOs seiner Meinung nach nicht funktionieren würden: »In Bulgarien ist das Ministerium, das mit ›Gypsy‹-Problemen arbeitet, eine kommunistische Einrichtung! Aber jetzt arbeiten die Leute dort nur für ihre befreundeten Organisationen. Diese Organisationen verstehen die Probleme und Prozesse nicht sehr gut. Aber sie sagen: ›Wir machen Programme, dieses und jenes; gute Arbeit!‹ Und der Premierminister sagt: ›Ja, das ist sehr gut. Okay!‹ Aber das alles hat die Situation der Zigeuner nicht verändert (lacht). Bulgarien, mein Freund, ist ein Ort in der Welt, wo alles möglich ist, aber keine richtigen Sachen gemacht werden. Du kannst alles machen, wenn du Freunde in der Politik hast. Wenn dir deine Freunde sagen: ›Okay, ich bin verantwortlich für dich, du kannst gehen und das und das machen.‹ Das ist dasselbe, wenn du ein Projekt für Zigeuner hast. Da wird zum Beispiel eine Schule für 20 Leute gebaut, dann gehst du und denkst: ›Hm, 20 Leute? Das ist möglich.‹ Du machst einen Schulplan, die Leute können zu dir kommen, du nimmst einfach ihre Namen, bringst sie zum Ministerium und schon hast du Geld. Die Leute waren aber nicht in der Schule! Nur das Geld ist von Interesse! [...] Viele Zigeuner haben etwas wie ein Programm gemacht, haben eine Stiftung, haben Geld von humanitären Dingen genommen und haben etwas abgegeben – beispielsweise Essen für arme Zigeuner. Aber viele Rom-Baro nehmen das Geld, vielleicht ein falsches Dokument und sagen: ›Ich habe das Geld den Leuten gegeben.‹ Aber sie haben es nicht erhalten. So ist es heute. Aber wissen Sie, nicht jeder ist so. Auch bei den Kalderaš. Diese Leute sind vielleicht 50 Leute, die einen Freund in der Politik haben, solche Jobs mit Politik machen und daher das Geld haben.«

7  Prestige und Zugänge

7.2.4 Die Erfahrungen kommen mit dem Alter: Wissen um Traditionen, Verhalten und Respekt Kommen wir kurz auf jene Kalderaš-Roma- / Zigeunergruppe(n) zurück, die nicht nur Rumyan Russinovs ausführlicher Erklärung (s. Abschn. 5.1.2) oder Ludmila Zhivkova nach anteilsmäßig die meisten der bulgarischen Roma-Parteien gegründet haben. Wie bereits im Kapitel 3 dargelegt, ist in diesen Gruppen die gruppeninterne Rechtsinstanz »meshare« bekannt (s. Ausführungen von Toma Nikolaeff Abschn. 3.1.2). Wie u. a. Marushiakova und Popov (1997) zeigen, kann diese als ein Zusammenschluss der prestigeträchtigsten Personen angesehen werden. Wobei jener, der in ihrem Kontext ein hohes Prestige zu haben meint »demonstrated wisdom, judiciousness, moderation, impartiality and good knowledge of the traditional norms and rules of the group« besitzt (ebd.: 156). Und anderenorts fügen sie hinzu, dass »[t]he court« oft in Konfliktfällen oder -situationen einberufen wird, in denen »someone’s prestige or name has suffered, as the Gypsies of these groups consider prestige and name as exceptionally important.« (Marushiakova / Popov 2007: 95) Die Beisitzer in der meshare sind zumeist ältere Gruppenmitglieder. Doch daraus eine gerontokratische Herrschaftsform abzuleiten, schließe ich hier aus. Mit den Worten Marushiakovas und Popovs kommt »knowledge and prestige with age« (1997: 156). Dass ältere Mitglieder in eher traditionellen Gruppen oft die politische Verantwortung und damit einen Status haben, hebt beispielsweise auch Marzi (1990) nach Cowgill und Holmes (1972) hervor: »die besondere Qualifikation der Alten liege dabei im Gedächtnis und in der Informationsspeicherung« von (traditionellen) Werten (Rosenmayr 1978: 126, so zit. in Marzi 1990: 65). Die notwendigen Erfahrungen der Beisitzer der meshare mit der Mehrheitsgesellschaft sowie die Kenntnisse der gruppeninternen Werte und die über die eigene (Groß-)Familie (durch viele Verwandte), stellen sich häufig erst mit dem Alter ein. Es handelt sich aber dadurch um keine »Herrschaft der Alten« generell, die adäquat mit »Gerontokratie« bezeichnet werden könnte und sich durch das bloße Vorhandensein einer meshare erklären ließe. Zwar sind es zumeist ältere Gruppenmitglieder, die als Ratgeber fungieren, weil sie Erfahrungen auf Grund ihres Alters haben; sie bekommen aber dadurch nicht pauschal von anderen Gruppenmitgliedern Macht oder Prestige im Allgemeinen zugesprochen. Diejenigen mit Prestige und Macht lassen sich wohl meistens unter den älteren Gruppenmitgliedern finden, doch verfügen ältere Gruppenmitglieder dadurch nicht pauschal über Prestige oder Macht nur aufgrund der Tatsache ihres Alters. Der Anteil der jüngeren und Prestige tragenden Mitglieder wächst beständig, schaut man beispielsweise auf die jungen Akteure dieser Arbeit. Dazu ein Gesprächsausschnitt aus einem der Treffen mit Ramadan Berat, in dem er ausdrücklich darauf hinweist, dass sein Großvater die Aufgabe hatte, die »Informationen über die Familie zu transferieren«. Ramadan zeigt hier, wie weit er in seiner Erzählung imstande ist, seine Familie mit einzubeziehen und er den Fakt zu begründen sucht, seine Familie trage einen bedeutenden »Namen«.

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Familienimage: Der Vater meiner Großmutter Was uns am Leben erhält, ist die Sprache und der Erhalt der Erinnerung an Familienbeziehungen. Wir als Kinder … also mein Großvater hat uns mindestens einmal im Monat eingeladen und hat mit uns über verschiedene Sachen geredet: Bildung usw. Er war wirklich ein sehr tougher Mann! Und wenn wir mal nicht so gut in der Schule waren oder wir haben es abgelehnt etwas anderes zu lernen, um weitere Fähigkeiten zu bekommen, dann, oh mein Gott! Mein Großvater war der erste [Rom], der auf dem Bau die Bewährungsstähle in den Beton eingebracht hat. […] Und er war der erste [Rom] im Unternehmen ›Granit‹. Damals hatte ›Granit‹ eine Bedeutung: ›Granit‹ war der Hauptlieferant [Jugoslawiens] ins Ausland für [Stahlbeton-]Bewährungen. Also haben wir auch etwas bedeutet! Und ich trage heute seinen Namen. Er hieß auch Ramadan, der Vater meines Vaters. Weil er ohne seine Eltern aufgewachsen ist und all seine Schwestern verloren hat, während der Kriege usw., hatte er die Aufgabe, all diese Informationen über seine Familie zu transferieren. Und es ist klar, dass es für ihn sehr wichtig war, dass wir wissen, wer wir sind, und dass wir eine Adresse haben und nicht Niemand sind, sondern Jemand! Und ich denke, dass er uns als starke Individuen sehen wollte mit starken Verbindungen zur Familie. Und für mich ist es sehr wichtig zu wissen, dass ich nicht in der Masse der Roma untergehe und auch in ihr gesehen werde. Für mich ist es immer wichtig, dass ich meine Identität als Ramadan Berat habe und dann all die anderen Qualitäten und Werte: also Roma und dies und das. Aber eben nicht: Ich bin Roma! Nein! Ich bin Ramadan! Das ist sehr viel wichtiger für mich, als es in eine ethnische Matrix zu binden, die heutzutage dumm ist. Das ist es! [...] Letztendlich ist unsere Familie seit der Generation meiner Eltern aus Skopje [...] und der Vater meiner Mutter war ein sehr bekannter Kaltschmied, Kovači. Er hat für den öffentlichen Nahverkehr gearbeitet und mit seinen Händen hat er die Federn und Stoßdämpfer der Busse repariert. Diesen Beruf hat er nicht an seinen Sohn weitergegeben, denn sein Sohn hat ein Business begonnen. Es ist kein leichter Job, als Kaltschmied. Damals im jugoslawischen Regime waren sie die Ersten, die einen privaten Supermarkt eröffnet haben. Sie haben Früchte aus Griechenland verkauft. Kannst du dir das vorstellen, wie das damals war, zu dieser Zeit? Die Früchte aus Griechenland importieren, also tropische Früchte, die man heute im ›Ramstore‹ [Supermarktkette] kaufen kann? Und natürlich waren sie dadurch fähig, ein großes Einkommen zu erzielen. Es war schon ein bisschen kapitalistischer. Okay: Also, ich habe hier mehr Geld; also warum sollte ich weiterhin schmutzig sein usw.? Eher das. Und danach hatten wir diese ›public private partnerships‹ mit Staatsinstitutionen. Der Bruder meiner Mutter hat begonnen, Busse zu kaufen für ein privates Transportunternehmen. […] Eigentlich begann es bereits bei meinem Großvater, wie ich mich erinnere, also von der Seite meines Vaters. Zu dieser Zeit hatten sie ein sehr, sehr schönes Haus in Shuto Orizari. Heute sieht es einfach

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nur schlimm aus. Ja, es hat mit meinem Großvater begonnen, denn er war ein sehr bekannter unter den Gläubigen. Nicht als eine religiöse Person, aber er hat immer eingehalten, was er versprochen hat. Die Roma haben damals alles und nichts gefeiert. Aber mein Großvater war ein Muslim. Also er wusste, was der muslimische kulturelle Code ist und was nicht. Und was sie getan haben, so ca. vor 30 Jahren, er hatte zwar keine Eltern mehr, denn mein Urgroßvater, also der Vater meiner Großmutter und die Mutter meines Vaters, also diese Familie meiner Großmutter ist extrem reich, denn sie waren sehr berühmte Schmiede. Heute sind sie eigentlich eher wirtschaftlich schwach, damals waren sie extrem reich, [auch] wegen des Landes. Sie haben immer sehr viel Land besessen, vor dem Erdbeben, und sie haben das Land auch bebaut. Sogar in der Zeit des Zweiten Weltkrieges, also als die Bulgaren und das Naziregime auch hier waren usw. Mein Urgroßvater war extrem gut bekannt, Mutshe. Das ist der Vater meiner Großmutter.  Ramadan Berat

7.2.5 Vorbildlichkeit, Höflichkeit und Eloquenz Um den Aspekt »Vorbildlichkeit« (der eine bedeutende Rolle in der Diskussion um Prestige besitzt, wie ich zeigen konnte) anschaulich werden zu lassen, stelle ich hier beispielhaft ein Streitgespräch dar, das sich zwischen meinem Gastbruder Sabir Agush (Madžuri-Rom aus Shutka) und Alvin Salimovski über den Höflichkeitsausdruck »Tumen«5 (Romanes: ›Sie‹) entsponnen hatte. Alvin begann seine Auffassung darzulegen, in der er die Alltagskultur zwischen Roma / Zigeunern verglich, die zum einen, wie auch er, mit Gadže und zum anderen, wie die meisten Bewohner Shutkas, nur unter Roma / Zigeunern aufgewachsen sind und kommt dabei auf den ersichtlichen Unterschied im »Benehmen und Verhalten« zu sprechen. Um stellvertretend für viele andere Gespräche einen Eindruck vom Sprachgebrauch zu vermitteln, sind die benutzten Sprachen hier mit genannt. Alvin Salimovski: (deutsch; zu mir gewandt) »Die Roma, die hier in Shutka leben und die Roma, die in der Stadt leben: es ist einfach eine verschiedene Kultur! Eine verschiedene Kultur, obwohl das auch Roma sind! […] Diese Unterschiede sind … also [es ist] das Benehmen. Es gibt nicht komplett unterschiedliche Werte. Aber ich rede mehr über das Benehmen und Verhalten. […] Ich sehe es so, wenn man zum Beispiel mit jemandem redet. [...] Denn (zögert), viele Kinder von hier, aus Shutka, können sich einfach nicht gut verhalten. Wenn ich als Lehrer mit den Kindern spreche, dann sprechen sie mich mit ›tu‹ (Romanes: ›Du‹) an. […] Wir, die wir in der Stadt leben, haben einfach diese Kultur, also ich rede über 5 | Das Wort »tumen« im Romanes ist das Personalpronomen der zweiten Person Plural, also wörtlich »ihr« und wird, wie auch in anderen Sprachen, mit großen Anfangsbuchstaben »Tumen« zur Höf lichkeitsanrede »Sie«.

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Zigeunerkulturen im Wandel diese Kultur, Verhalten (zögert, überlegt) Alltagskultur. Und die in der Mahalla, bei denen gibt es das nicht. Vielleicht sehen die Leute von hier und bei uns in der Mahalla das nicht so. Vielleicht ist es für die normal, aber für mich ist es das nicht.« Sabir Agush: (englisch; zu mir gewandt) »Meine Meinung über das, also über das Wort in der Mehrzahl ist, das es eine höfliche Form ist, das ist eine Form ... Okay, er [Alvin S.] sagt, dass sie [die in der Stadt leben] diese [Höflichkeitsform] haben. Er ist ein Lehrer für RomaSprache!« Alvin Salimovski: (englisch) »Nein, ich bin Lehrer für Deutsch!« Sabir Agush: (englisch) »Aber du musst es wissen, denn du bist ein Repräsentant der Roma. Das ist meine Meinung. Für mich klingt es irgendwie nicht logisch, dass ich zu jemandem, der Roma ist und älter als ich, ›Sie‹ sagen soll.« Alvin Salimovski: (englisch) »Das ist nicht die Plural-Form! Das ist die höfliche Form!« Sabir Agush: (englisch) »Auf Englisch aber! Im Englischen ist es doch dasselbe. Und im Mazedonischen ist es ›ti‹ und ›vije‹.« Alvin Salimovski: (deutsch, zu mir gewandt) »Und im Romanes ›Tumen‹. Ja, ›tumen‹ als Pluralform mit einem kleinen ›t‹ und ›Tumen‹ als höfliche Form mit einem großen ›T‹. Wie das ›sie‹ und ›Sie‹.« (romanes, zu Sabir gewandt) »Ich denke, wir haben uns nicht verstanden. Wenn ich zu Hause bin, ist es normal, dass ich es nicht benutze.« Sabir Agush: romanes) »Nein, nein! ...« Alvin Salimovski: (romanes) »Normal ist es, wenn ich mit jemandem rede, den ich nicht kenne. Zum Beispiel, der älter ist als ich, dann benutze ich normalerweise ›Tumen‹. Was nicht heißt, dass ich Plural benutze.« Sabir Agush: (romanes) »Ja, ja. Das heißt es nicht! Ich habe dich schon richtig verstanden. Ich denke, dass ein großer Teil eine Rolle spielt, wo du aufgewachsen bist. Zum Beispiel hast du gesagt, dass du nicht in einer Roma-Umgebung aufgewachsen bist ...« Alvin Salimovski: (romanes) »...ja, ja. Das ist, was ich sage!« Sabir Agush: (romanes) »... Und jemand, der in einer Roma-Umgebung aufgewachsen ist ... Ich bin in einer Roma-Umgebung aufgewachsen, und in einer bestimmten Periode meines Lebens hatte ich auch keinen Kontakt zu Roma. Aber ich kann sagen, in der zweiten Hälfte meiner Pubertät stand ich in Kontakt zu Roma und ich war unter Roma. Es macht keinen

7  Prestige und Zugänge Sinn für mich, zum Beispiel, wenn ich mit dir rede, als ein Lehrer und zum Beispiel mit einer Person, die älter ist als ich, zu sagen: ›Tumen‹!« Alvin Salimovski: romanes) »Warum?« Sabir Agush: (romanes) »Das ist nicht logisch in der Roma-Sprache und es ist nicht logisch in der Roma-Logik. Weil dann ...« Alvin Salimovski: (romanes) »... Okay! Also denkst du, dass das der Grund ist dafür, dass die Kinder die Anrede ›Sie‹ nicht benutzen und stattdessen ›Du‹ benutzen? Und zum Beispiel, ich sagte, dass die Kinder in unserer Schule zu allen Lehrern die Anrede ›Sie‹ nicht benutzen, aber eben ›Du‹ benutzen. Weil es nicht normal ist.« Sabir Agush: (romanes) »Es ist nicht normal. Ja, du hast recht! Ich bin total mit dir einverstanden. Und das, weil ... in der Schule benutzen sie nicht ihre eigene Sprache, sondern sie benutzen die offizielle Staats- oder Landessprache ...« Alvin Salimovski: (romanes) »Genau! ... Ja, aber auch in unserer Sprache: Zum Beispiel ich, ich kann nicht gegenüber einer Person, die ich nicht kenne und die älter ist als ich, das ›tu‹ benutzen.« Sabir Agush: (englisch) »Ja, aber ... (lacht)« Alvin Salimovski: (englisch) »Aber für mich ist das logisch!« Sabir Agush: (englisch) »Und ich sage, dass das die Nicht-Roma-Art ist. Verstehst du mich?« Alvin Salimovski: (englisch) »Aber wir können nicht sagen, dass das eine Roma- oder NichtRoma-Art ist. Es gibt Regeln. Roma und ... (lacht, dann weiter auf Deutsch, zu mir gewandt): »Hast du das verstanden?« Ich: (deutsch) »Ja, etwas. Für ihn klingt es nicht logisch, aber für dich spielt es eine Rolle, weil du keinen Unterschied zwischen Roma und Nicht-Roma machst und du sagst, es gibt die Form ›Sie‹, und egal in welcher Sprache wir sprechen, wir sollten sie benutzen.« Alvin Salimovski: (romanes) »Genau! So ist es!«

Es besteht wohl kein Zweifel, dass Vorbildlichkeit mit Verhalten als solchem ausgedrückt und dementsprechend auch nach Verhaltensfaktoren bewertet wird. Der Reisegefährte Gilliat-Smiths, Macfie (1913 / 1914), zu seiner Zeit eine der führenden Autoritäten im Forschungsbereich Sprachen und Dialekte der Roma / Zigeuner, notierte über den »tšeribaši« der »Varna Gypsies« Osman Osmanoff, er besitze ein Café, das »the townhall of the Gypsy mahalla« sei (ebd.: 49). Wichtig ist hier die

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Einschätzung Macfies, unter welchen Umständen Osmanoff zum tšeribaši ernannt wurde, und der Vergleich Osmanoffs mit anderen Mitgliedern seiner Gruppe: »Belonging to a different tribe, and speaking a slightly different dialect, […] not even rich, it could only have been intellectual superiority that raised him to the dignity of tšeribaši of a mahala […], a position officially recognized by the government. […] He is eloquent and persuasive, delights in oriental platitudes, and often expresses what he has to say in the form of a parable. […] [B]ut the very qualities that make him great make him a little disappointing as a Gypsy – he has none of the bewitching levity of his race.« (Ebd.: 48 f f.)

Macfies Einschätzung nach kann es einzig die »intellectual superiority« sein, aus der sich eine Erklärung für Osmanoffs Position als »tšeribaši of a mahala« ableiten würde. Auch Michael Georgiev behauptete, man könne es »an ihrem Verhalten sehen«, als er die beiden Typen von Roma-Führern, wie er sie unterteilt, vorstellte und ihre Unterschiede verdeutlichen wollte. »Die reich Geborenen«, so Georgiev, »nehmen sich und ihre Arbeit nicht so wichtig«. Diejenigen, die sich die Mehrzahl ihrer Zugänge ohne elterliche Voraussetzungen erarbeiten mussten, würden sich selbst »oft zu wichtig nehmen«. Hier sei abschließend kommentiert, dass Letztere selbstverständlich an dem, was sie aus ihrer eigenen Kraft heraus selbst erschaffen haben, mit stärkerem Griff festhalten als jene, die sich auch bei Verlust des einen oder anderen Zugangs letztlich doch an das anlehnen können, was ihnen in die Wiege gelegt wurde: ihr familiärer Hintergrund, der ihnen vergleichsweise mehr oder potentere Zugänge darbot. Im Sinne der Kapitalaspekte Bourdieus wäre demzufolge ihr materielles und soziales Kapital höher anzusiedeln als das der Eltern- und Großeltern, die ihren Nachfolgegenerationen eine solch reiche Palette an Zugängen nicht zu bieten vermochten. Deren Lebensweg wiederum richtete sich viel eher auf die (Mit-)Versorgung ihrer Familie als auf eine (weitergehende) Geschäftsübernahme oder Bildung. Letzter Aspekt wird im Zentrum des folgenden Abschnitts stehen.

7.3 E in voller B auch studiert nicht gern , ein hungriger erst recht nicht ! Z um Thema B ildung 7.3.1 Bildung: (K)ein Wert bei Roma / Zigeunern? Von Hristo Kyuchukov bekam ich bei unserem ersten Treffen eine seiner vielen Veröffentlichungen zum Thema Bildung ausgehändigt.6 »New Aspects of Roma 6 | Unter den zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen Kyuchukovs seien außer den in dieser Arbeit bereits benannten noch die 2010 in Uppsala erschienene Essaysammlung »Essays on the Language, Culture, and Education of Roma« und

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Children Education« (Kyuchukov 2002), so der Titel des Sammelbandes, der als Ergebnis zweier Konferenzen in Varna (Bulgarien) im November 1997 und Mai 1999 gelten kann, enthält unter dem Teilaspekt der »Intercultural Education« einen Aufsatz der drei Co-Autorinnen Hübschmannová, Syslová und Aličová (2003). Im Zusammenhang mit Roma- / Zigeunergruppen in der Slowakei referieren auch sie über den Aspekt der Bildung und fragen im resümierenden Teil, warum die Verbindung zwischen »Romipen« und »Romistics«7 fehlen würde (ebd.: 154), und stellen schließlich fest, »education was one of the highest values« (ebd.: 155), wobei die Autorinnen auch darauf hinweisen, dass der Begriff jene zwei Seiten beinhaltet, die bereits durch Okely (1983) anhand der Bildungsproblematik bei Irish Traveller Gypsies als »formal schooling« und »alternative education« (ebd.: 33) bezeichnet wurden. So führen die Co-Autorinnen also aus: »it was family education though – totally different from what is today understood under the word education, implying the institution of school« (Hübschmannová 2003: 155). »In traditional Roma communities, a strata of intellectuals was nonexistent, since formal education was not an essential value«, notiert in diesem Zusammenhang Valeriu Novoselsky (2007: 146 f.) und stimmt so mit Mihail Georgiev überein: »Wissen Sie, die Roma hatten vor 100 Jahren keine Schule. Und sie hatten alles, was für ihr Leben wichtig war. Und ich glaube und denke nicht, dass einer dieser Werte die Bildung war. Ich denke nicht, dass es der wirkliche Wunsch der Roma war, gebildet zu sein. Sie haben ihre festen Wurzeln in der Roma-Gemeinschaft.«

die umfassende Bibliographie »Publications in Romani, useful for Romani language education« (Bakker /  Kyuchukov 2003, online: http://fc.hum.au.dk/~peter_ bakker/00d44ee2-0075824e.-1/romedu-, vom 14.01.2012) erwähnt. 7 | Den Begriff »Romipen« zitieren die Autoren nach Andrzej Mirga als »the basic value-orientation, standarts of ethnics and special concepts of perfection according to which daily activities and experience is being evaluated«. Und weiter unten führen die Autorinnen aus: »Romipen is life itself, synthesy of a specific way of life, romistics is observation and analysis of that specific way of life in its spatial and temporal dimensions.« Dabei könne »Romipen« aber nur von Roma selbst gelebt werden. Doch die Studien seien bis dahin eine »domain of non-Roma’s observation and research« gewesen (ebd.: 149, H. i. O.). Diesem Trend allerdings wirkt mittlerweile eine Vielzahl von Publikationen entgegen, die sich dem Motto »Romani studies through Romani eyes« (vgl. Acton und La Bas 2010; Hancock 2002, 2010) verschrieben haben. Darunter sollen auch die Titel Kyuchukovs und die Veröffentlichung J. Nounevs (2003) zählen.

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»Mein Vater ist nicht zur Schule gegangen. Ich wollte also auch nicht gehen!« Und die jüngeren wollten auch nicht in die Schule gehen. Ein Beispiel: Ich weiß noch, mein Vater ist nicht zur Schule gegangen. Ich wollte also auch nicht gehen. [...] Traditionell ist die Zigeuner-Psyche eher auf ein Nicht-in-die-Schule-Gehen eingestellt. Die Psyche sagt da eher: Gehe fort! Einfach nur wandern und das zu arbeiten, was man findet. [...] Aber [Bildung] ist nicht das Prinzip der [Kalderaš]-Zigeuner. Das Prinzip der Kalderaš ist Geld zu machen, Geschäfte zu machen, aber nicht zur Schule zu gehen. Aber ich habe mich mit meinem Vater so verständigt. Vielleicht wollte ich danach auch arbeiten. Aber ich habe darüber damals noch nicht nachgedacht. [...] Wissen Sie, ich kenne Leute, die in ›separierte‹ Schulen gegangen sind und andere, die in gemischte Schulen gegangen sind. Und der Unterschied ist sehr groß. Die, die in separate Schulen gegangen sind, wissen nichts oder verstehen nur wenig. Aber die anderen wissen alles. Und diese Mischschulen sind sehr gut. Die anderen Schulen haben schlechte Lehrer. Die Lehrer dort denken: ›Was mache ich hier eigentlich mit den Zigeunern? Die verstehen nichts.‹ […] Die Lehrer sind vielleicht auch keine richtigen Lehrer. Die Leute glauben von sich, Lehrer zu sein, aber sind es gar nicht. In den Mischschulen sind die Lehrer einfach besser. Diese Schulen [Segregationsschulen] sind keine richtigen Schulen. Die Mischschulen haben ihren [berechtigten] Platz. Ich bin in eine Mischschule gegangen und daher habe ich, was ich habe, und verstehe, was ich verstehe. Ich glaube, wenn ich in eine separierte Schule gegangen wäre, würde ich nichts verstehen oder wissen. Und das ist vielleicht auch das Problem der Zigeuner, die nicht zur Schule gehen wollen, weil sie dort immer ihre Brüder und Cousins sehen. Aber nichts Neues! Sie haben keine neuen Informationen! Als ich in die Schule gegangen bin, waren da auch andere [Zigeuner und Gadže] ... Da wird man einfach zu einer anderen Person. Ich bin nicht derselbe geblieben. Ich habe die anderen [Gadže] gesehen und wollte sein wie sie! […] Und dann … Vor ca. 26–27 Jahren … Ich bin nicht wirklich zur Uni gegangen. Ich habe begonnen dorthin zu gehen und habe ›Geschäftsökonomie‹ studiert. Aber das habe ich nur begonnen und bin dann nicht mehr hingegangen. Ich hatte keine Zeit, wegen des Business’. Ich habe ca. 2000 Leva bezahlt, habe ein Dokument, aber hatte keine Zeit dorthin zu gehen. Habe meine Tests gemacht, sehr gut sogar, aber bin nicht mehr hingegangen. Das war vor sechs oder sieben [sic!] Jahren, im Jahr 2000. Jetzt bin ich Student, aber ich gehe nicht zur Uni. Das ist frei in Bulgarien.  Toma Nikolaeff Hungrige sollen über Hungerlosigkeit nachdenken? Bildung sei kein Wert der Roma? Die Roma wollen es nicht in ihrer Kultur haben? Dann muss ich einfach nur sagen: ›Fuck you!‹ Weißt du was: Der, der so etwas sagt, sollte hierher kommen und einen Monat unter diesen Umstän-

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den leben, wie du, und danach versuchen zu sagen: ›Ja, ich brauche Bildung!‹ [...] Im Kopf meiner Mutter gab es da die Vision, dass die Kinder in die Schule gehen können und eine hohe Bildung bekommen. Meine Mutter hat damals in einem Gebiet gewohnt, in dem Mazedonen gewohnt haben. Also nicht in einer Mahalla, [auch nicht] als sie meinen Vater geheiratet hat. Und das war ein positiver Einfluss darauf. Meine Mutter hatte eine gute Kommunikation und ein gutes Verhältnis zu den Frauen aus Bosnien, aus Slowenien, aus Kroatien usw. Denn in dieser Periode gab es viele Mischehen hier in Kumanovo. Weil es damals aus ganz Jugoslawien viele Offiziere hier gab. Und Kumanovo war daher eine sehr multikulturelle Stadt. […] Und damals hatte meine Mutter sehr positive Beziehungen mit diesen Frauen, verstehst du? Mein Vater wollte hier im Zentrum ein Haus kaufen, [und] in dem [lebe] ich bis heute. Und ich habe mit all diesen Kindern gelebt, den Slowenen, den Kroaten damals. Und auch in den letzten Jahren habe ich einigen Kontakt mit denen, verstehst du? […] Damals, als ich 12–14 Jahre alt war […], gab es ein viel höheres Interesse unter den Roma, die Elementary-School zu absolvieren. Und im Unterschied zu heute, ich spreche ja über die wirklichen Anfänge, war es damals normal, dass die Eltern selbst mit ihren Kindern in die Schule gegangen sind, um das Kind dort anzumelden. Und heute ist es sehr schwer, die armen Leute zu motivieren, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Du würdest die Hungrigen zum Nachdenken über Hungerlosigkeit bringen müssen. Das ist eine Utopie! Oder wenn du zu einem Blinden sagst: ›Schau, dort!‹ Man muss über die Dinge sprechen, wie sie wirklich sind, in der Realität!  Ashmet Elesovski Wie hingegen jene unter den älteren Akteuren zu ihrer Bildung kamen bzw. Bildung wahrnehmen, ist in den letzten beiden Kapiteln dargestellt worden. Novoselsky (2007) argumentiert mit Gheorghe und Mirga (1997) dazu, »Romani intellectuals presently active in Europe« seien ein Resultat der »coercive educational measures«, wie sie seit den 1950er Jahren »primarily in the former communist states« durchgeführt wurden. Und die »emergence of a second generation of young Roma intellectuals« begründet er hauptsächlich mit der »activity of the Soros Foundations Network in the countries of Central Europe and Southeast Europe.« (Ebd.: 146) Können diese Ausbildungsprogramme, vor dem Hintergrund der bisherigen Argumentation, als ein eventuelles Substitut einer Sozialisation zum Vertreter (Führer, Mediator, Diplomaten, Repräsentanten) von Roma- / Zigeunergruppen gesehen werden und damit »effektive« Führer hervorbringen? Ali Berat, der Imam von Shutka, meinte dazu grundsätzlich: »Diese Jugendgeneration mit ihren Aktivitäten hat einen besseren Weitblick über die Roma-Traditionen hinaus. Und wir dürfen nicht vergessen, dass die alten Führer die Dinge durch die kommunistische Linse sehen und alles, was heute geschieht. Auch heute machen

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Zigeunerkulturen im Wandel sie noch alles nach kommunistischem Gesetz. Aber die Jugend sieht es eben nicht so. Sie haben Demokratie gelernt und nicht Kommunismus und sie wollen Demokratie festigen. Sie [die junge und die alte Generation] können somit keine gemeinsame Sprache finden.«

Samka Ibraimoski, als ein Vertreter der älteren Generation, kritisierte hingegen die junge Generation von Roma- / Zigeunerführern und stellte fest, dass diese »heute schneller zu Titeln« kommen würden, doch: »[...] sie sollten sich den Parteien anschließen und dort arbeiten und dann langsam zu Antworten finden. Die alten Leader kennen die Probleme und die jungen nicht! Es ist wichtig zu wissen, wie man die Probleme anfassen und angehen soll. Du musst auch wissen, wie du dich einbringen musst.«

Razim Alija, ein Mitglied in der Partei Miljazim Sakipovs, bestätigte Samka Ibraimoski: »Es kommt aus der Generation ‹52, ‹54, ‹56 bis ‹62: Das begann mit Hr. Abdi Faik und es endet bei Shaban Saliu. Der Unterschied [zu der jüngeren Generation] ist, dass das Generationen sind, die die postkommunistische Periode erlebt hatten, und im Unterschied zu den Jüngeren sind diese [Alten] nicht an denen interessiert und sind zudem den demokratischen Einflüssen ausgesetzt bzw. der Zeit der Transition.«

Wenn es sich dabei noch auf den ersten Blick um einen typischen Generationskonflikt zu handeln scheint, eröffnet sich aus dem Blickwinkel vieler Kinder und Jugendlicher der verschiedenen Mahallas ein ganz anderes Feld, das sich außerhalb von essentialistischen und Traditionen fokussierenden Diskursen befindet. Denn vor dem Hintergrund der derzeitigen gesellschaftlichen Transitionsprozesse8 musste ich mich für viele Kinder fragen: Inwieweit lasse ich es generell zu, dass sich durch formale Bildung – nach Standards einer Gesellschaft, in der ich und meine Eltern nicht aufgewachsen sind und die uns im Alltag ausschließt / diskrimi8 | Damit gemeint sind etwa folgende makrosoziale Rahmenbedingungen, die sich nicht nur für die Akteure während der Transition gewandelt haben: freie Marktwirtschaft und Arbeitnehmerkonkurrenz, statt Planwirtschaft mit zugesicherter Arbeitsstelle; Demokratie und Meinungsfreiheit statt staatlicher Kontrolle der Medien oder gar sanktionierten Gebrauchs der romani chib (oder einer Sanktionierung der Beforschung der Roma / Z igeuner, wie im Fall Bulgariens zur Zeit der Schivkov-Ära [vgl. Kap. 3]); propagierte politische Transparenz und (politischer & medialer) Pluralismus statt Einheitspartei und staatlicher Kontrolle der politischen Aktivitäten und Medien; internationaler Abgriff von Hilfsgeldern und die Möglichkeit der Berufung auf Menschenrechte bzw. das Sanktionieren der Diskriminierung statt staatlicher Zuweisungen und Abwesenheit institutioneller Wahrnehmung ethnischer Befindlichkeiten, um nur einige Beispiele zu nennen.

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niert – meine Beziehungen zur Familie derart verändern, dass sie weder meinen noch ihren Erwartungen entsprechen oder sich gar in ihr Gegenteil umkehren? Um diese Problematik zumindest für den kleinen Personenkreis meiner Akteure zu umreißen, will ich sie unter dem Fokus beleuchten, der die »Orte der Bildung« in einer Biographie mit einbezieht.

7.3.2 Familie: Quell allen Wissens? In ihrem Beitrag zur Elitenforschung geht Hilke Rebenstorf (1991) auf verschiedene Sozialisationsinstanzen ein, die in ihrem Fall politisches Interesse wecken und sozialisieren. Dabei stellt sich für Rebenstorf die bereits von Okely (1983) in »alternative education« und »formal schooling« (ebd.: 33) geteilte »Dualität« dar und sie unterscheidet zwischen den zwei hauptsächlich sozialisierenden Instanzen: Auf der einen Seite, so Rebenstorf, stünden die »Familie«, die »peer groups« und »Sozialgruppen«, die »affektive Mechanismen und ein allgemeines Wertesystem vermitteln« (Rebenstorf 1991: 222). Die »kognitiven Aspekte« würden auf der anderen Seite durch »Bildungseinrichtungen wie Schule, Hochschule, Massenmedien« (ebd.) vermittelt werden. Ebenso wie Okely entscheidet sich auch Rebenstorf für »das Elternhaus« als den Ort, an dem »grundlegende Wertorientierungen vermittelt« werden (ebd.: 224). Genau dort findet, mit Bourdieu (1983) gesprochen, die »am besten verborgene und sozial wirksamste Erziehungsinvestition statt« (ebd.: 186). Und, so resümiert Bourdieu, Verinnerlichung dieses »Kulturkapitals« brauche Zeit, die dem Menschen zur Verfügung gestellt werden muß (vgl. ebd.: 186) – Zeit, für die beispielsweise im Fall Toni Tashevs seine Mutter und seine Großmutter aufkamen, wie weiter unten zu erfahren ist. Da die meisten meiner Gesprächspartner auf die Frage nach ihrer Kindheit und Jugend begonnen haben, über viele Vorgenerationen hinweg eine oft sehr lange Geschichte zu erzählen, die schließlich mit ihrer Geburt und dem Aufwachsen in ihrer Familie endete, will ich ganz in diesem Sinne und nicht zuletzt auch aufgrund dessen, dass die Familie im Betrachtungsvordergrund der meisten Akteure stand, einige Sequenzen über diesen primären Sozialisationsraum bzw. den Raum »der Transmission kulturellen Kapitals« (vgl. Bourdieu 1983:186) stark gekürzt darlegen. Anschließend werden uns einige Akteure ihre Meinung über Schulbesuch und Freundeskreis eröffnen. Meine Bildung kommt aus der Familie Meine Mutter […] hat einen High-School-Abschluß. Das ist in meiner Gemeinschaft zu viel! Und das war auch zu hoch für Roma, denn die meisten in meiner Gemeinschaft schließen ihre vierte Klasse ab. Oder vielleicht die achte Klasse. Meine Mutter kommt aber aus einer Familie, in der alle einen High-School-Abschluß haben. […] Vielleicht weil mein Großvater mütterlicherseits ein Gadžo war. [...] Ich besuche meine Gemeinschaft und sehe sie

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[die Leute dort]. Aber Sie sehen mich weit über ihnen stehend. Sie sprechen bulgarisch und Romanes. Sie können auch lesen und schreiben. Sie sind sehr einfache Leute. Sie haben den High-School-Abschluß eben nicht. Und auch keine Universitätsstudenten. Ich studiere zurzeit. Ich bin im dritten Jahr für Geschäftsadministration. […] Wenn ich in meiner Gemeinschaft bin, arbeiten die meisten Kinder schon, um das Familienbudget aufzufüllen. Sie fehlen im Unterricht und haben sehr schlechte Noten in der Schule.  Emil Metodiev »Wir sind eine normale Familie, wie die anderen.« »Und der Status meiner Eltern war nicht so wie der der anderen [Roma], dass sie auf der Straße leben, dass sie arm sind, dass sie betteln usw. Wir waren und sind eine normale Familie, wie die anderen. […] Meine Mutter hat auch gearbeitet. Meine Mutter war Lehrerin an einer Primary-School, aber jetzt ist sie Rentnerin. Sie war Lehrerin für die erste bis vierte Klasse. Also Lehrerin für alle [Fächer]. Mein Vater hat seine Secondary-Bildung abgeschlossen und er hat sein eigenes Business. […] Er arbeitet mit (zögert) Export / Import von Textilien.«  (Ajet Osmanovski) »Also hat meine Mutter auf meine Bildung geachtet.« Ich verbrachte meine Kindheit, also den ersten Teil meiner Kindheit, in meiner Gemeinschaft in Vidin. Und dann bin ich nach Tschetschenien gezogen, als ich vier Jahre alt war. Meine Eltern haben da gearbeitet. Weißt du, während der sozialistischen Zeit konnte man zumeist im sozialistischen Block arbeiten. Die Länder mit dem besten Verdienst waren Russland und Libyen. Aber nach Libyen konnte man nicht mit der gesamten Familie gehen. Daher wählten meine Eltern Russland. Wir sind nach Grosny in Tschetschenien gekommen und mein Russisch ist daher so gut wie mein Bulgarisch. […] Dort haben wir in einem Wohnhaus gelebt. Da waren auch Bulgaren und Russen. Natürlich gab es dort auch einige Roma-Familien aus Bulgarien, mit denen wir sehr gute Freunde waren. Dasselbe aber auch mit einigen russischen Roma-Familien. Ich war dort [als ich] vier bis sieben Jahre alt [war]. Und dann, als ich in die Schule gehen sollte, bin ich in Vidin (Bulgarien) zur Schule gegangen. Da war ich in einer Segregations-Schule. In der, von der aus der Desegregationsprozess* startete. Dort war ich dann vier Jahre, und dann bin ich nach Russland zurückgegangen, weil meine Eltern wieder dahingegangen sind. Also erst bulgarische Segregationsschule und dann in der fünften Klasse in eine russische Schule. Es war recht schwer für mich. Ich konnte zwar schon mit fünf Jahren lesen und schreiben – dank meiner Mutter. Meinen ersten Brief habe ich meiner Mutter mit sechs oder sieben Jahren geschrieben, als sie in Tschetschenien war und ich

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[in Bulgarien] bei meiner Großmutter. In den vier Jahren in der Romani-Schule habe ich nicht viel gelernt. Es gab nicht viel Neues zu erfahren. Alles was meine Mutter mir beigebracht hatte, wusste ich ja schon. So war ich der beste Schüler. Also hat meine Mutter auf meine Bildung geachtet. […] Sie hat nur ein Jahr gearbeitet. Und dann war sie zu Hause mit mir und hat mit mir ›gearbeitet‹. Sie kaufte mir Bücher usw. [...] Als meine Eltern wieder nach Russland gegangen sind, war ich mit meiner Großmutter allein.  Toni Tashev * | Zum Thema Desegregation der Schulen als politische Agenda siehe besonders Abschn. 5.2.1.

»Romanes war meine erste Sprache.« Am Anfang habe ich nur Romanes gesprochen. Das ist meine erste Sprache. Und so bin ich auch nach Russland gegangen, nur mit Romanes. Und dann habe ich zur gleichen Zeit russisch und bulgarisch gelernt: von meinen Eltern und von den bulgarischen Spielkameraden, den Kindern. Und dann russisch. Das war schon vorm Schulalter. Später in Bulgarien habe ich mein Bulgarisch und mein Romanes verbessert. […] Dann sind wir von Tschetschenien nach Kalinin gezogen. Das ist eine Stadt zwischen Moskau und Petersburg. So ungefähr drei Stunden von St. Petersburg entfernt. Dort habe ich dann meinen High-School-Abschluss gemacht, auf Russisch. […] Und dann habe ich mich auch auf einer Uni in Bulgarien beworben. In Jura. Ich habe dadurch meinen M. A. in Jura von der Sofioter Uni. Am Ende meiner Studien, als ich fast schon mein Diplom in der Hand hatte, bin ich durch ein Menschenrechtsprojekt mit den Leuten von einer Roma-Right-NGO in Kontakt gekommen.  Toni Tashev »In unserer Familie sind drei Personen Lehrer. Der Einzige, der keiner ist, das bin ich.« Natürlich kann ich sagen, dass die Gemeinschaft meiner Mutter auch Einfluss auf meine Entwicklung hat. […] Mein Vater und meine Mutter sind relativ gut gebildete Leute. Sie waren Lehrer, jetzt sind sie natürlich Pensionäre. Sie haben auf der Ebene der Secondary-Bildung gearbeitet. Also, natürlich bin ich in dieser Umgebung aufgewachsen. Die Bildung nahm einen hohen Rang ein unter den Werten. Mein Vater gehörte zu den ersten Leuten, und nicht nur Zigeuner, mit universitärer Bildung, 1965! Sie können es sich ja vielleicht vorstellen: 1965 haben die Bulgaren erst begonnen, gebildet zu sein, und massiv ab Anfang der 1970er Jahre! Vorher waren nur einige wenige Leute hoch gebildet, also auf universitärem Niveau. [...] Mein Vater war eine respektierte Person, auch unter Gadže. Als ein Intellektueller, wie ich bereits gesagt habe: er war der Intellektu-

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elle der Stadt. [...] Also jemand, der 1965 bereits gebildet war auf universitärem Niveau und dazu noch Rom war ...! Er war eben Lehrer. Da kann man sich ja vorstellen, dass er Tausende gebildet hat. Fast jeder Zweite oder Dritte in der Stadt war sein Schüler. Und sie wussten, dass er ein guter Geschichtslehrer ist. Und nicht weil er mein Vater ist! Sondern weil er in erster Linie kompetent war, ein guter Pädagoge. Die Kinder haben ihn geliebt. Er hat in einer anderen Schule gearbeitet als der, in die ich gegangen bin. Eine Schule, die für die Klassenstufe vier bis acht da ist. Und in einer anderen Schule auch als Geschichtslehrer, für die Klassenstufen neun bis zwölf. […] Ich habe noch eine Schwester. Sie ist zwei Jahre älter als ich und Lehrerin, sie lehrt Chemie in der Sekundarstufe. […] Also eine witzige Sache in unserer Familie ist eigentlich, dass drei Personen Lehrer sind, und der Einzige, der keiner ist, das bin ich. Aber ich mache viel in Sachen Bildung. Ich bin der Einzige, der nicht im System der Bildung ist, aber die letzten zehn Jahre meines Lebens habe ich mit ernsthaften Reformen im Bildungssystem verbracht.  Rumyan Russinov

7.3.3 Roma-Mahallas und Gadže-Schulen? Anhand der Schwierigkeiten, denen sich die Tochter einer pakistanischen Migrantenfamilie im norwegischen Schulsystem – und dort speziell im Sportunterricht – gegenübersieht, stellt Barth (2000) fest, dass die Sozialisation in der Familie schon lange nicht mehr als ein »fount of all knowledge, skills and values« bezeichnet werden kann (ebd.: 15). Sie sei daher ebensowenig die »only experiential base from which identity is forged« und er stellt implizit heraus, dass schulische Bildung am Prozess der »Akkumulation von Kultur« (vgl. ebd.) beteiligt ist. Für die Tochter der von ihm betrachteten aus Pakistan stammenden Familie birgt es die Konsequenz in sich, »einen Fundus von Kultur« zu akkumulieren, der »sehr unterschiedlich dem elterlichen gegenüber ist«. Denn der Kleidungswechsel vor und nach besagtem Unterricht geht mit dem Unbekleidetsein der Kinder einher (vgl. ebd.), was in Norwegen nicht für Aufsehen sorgt. Ihre muslimisch geprägten Eltern hingegen sind in Pakistan sozialisiert und dort mit einer anderen Einstellung zur menschlichen Nacktheit erwachsen geworden, als sie von ihrem Kind nun in Norwegen erfahren wird. Barth (2000) hebt hierzu hervor, dass dabei die »familiären Einheiten« als ein »Schlüsselknoten ethnischer Rekrutierung« zum Zentrum einer »Feuerprobe des kulturellen Unterschieds und der Behauptung« werden (vgl. ebd.: 15, m. Ü.). Die Schlussfolgerung liegt somit auf der Hand: schulisch-institutionelle Bildung separiert, sowohl die Tochter der Migrantenfamilie im Beispiel von Barth als auch viele Akteure dieser Arbeit von ihrer Familie bzw. Gruppe. Die folgenden Sequenzen sollen diesen Aspekt bestätigen, wobei die Akteure auch hier ihre ganz unterschiedlichen Gründe ansprechen, deren Endkonsequenzen allerdings vergleichbar sind.

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»Ich wollte raus aus der Routine.« Ich wollte aus meiner Gemeinschaft herausgehen, weil ich das alltägliche Leben dort sehr routiniert sehe. Die jungen Leute schauen eher nach Parties, nach Klamotten. Und das ist dann das Wichtigste. Sie kümmern sich nicht um Schule oder so. Und dann heiraten sie. Da passiert dann mal etwas während dieser Routine. Wenn ich da wohnen würde, wäre ich ihnen sehr nahe. Man kann sich aber nicht entwickeln, studieren oder so. […] Wenn man da jeden Tag lebt, steht man früh auf, trinkt Kaffee und dann der Klatsch und Tratsch. Und dann war es das schon. Alles ist so langsam. Man denkt auch nicht ans Studieren. Wenn du daran denkst, kann man aber nichts finden, weil es keine Informationen gibt. Es gibt da zwar eine Reihe von Infos, weil es jetzt auch mehr Möglichkeiten gibt. Aber früher gab es in meiner Gemeinschaft nicht so viele Möglichkeiten wie jetzt. […] In meinem Fall war es deswegen [dass ich rausgehen wollte], weil es da keine starke Organisation gab, die solche Art von Service angeboten hat. Es muß vielleicht nicht gleich eine Organisation oder eine Gadže-Institution sein. Es hängt nicht von der Roma-Organisation oder der Struktur ab. Aber vielleicht in der Schule – zum Beispiel. Aber dort können sie solche Infos [auch] nicht bekommen. Aber sie gehen ja auch kaum zur Schule. Auch wenn da vielleicht Infos zu bekommen wären, sie würden es nicht wissen. Es muss also eine NGO sein, die sich direkt mit den Kindern beschäftigt. Und die auch in die Gemeinschaft geht und den Leuten von den verschiedenen Sachen erzählt.  Emil Metodiev »Ich war traurig und unter den Gadže nicht akzeptiert.« Wert und Preis von Bildung Ich erinnere mich an meine Kindheit: sie war sehr gut! Der interessanteste Moment in meinem Leben war, als ich meine achte Klasse abgeschlossen habe, in der Segregationsschule in der Mahalla. Ich wollte auf das Gymnasium gehen. Es war schwer, da ich das einzige Mädchen war, das auf das Gymnasium außerhalb der Siedlung gehen wollte. Da fühlte ich mich oft traurig, weil ich die Zeit nicht mehr mit meinen Leuten verbringen konnte, und ich war unter den Gadže nicht akzeptiert. Die Gadže haben auf mich herabgesehen. Sie wollten nicht neben mir sitzen, ich war die ganze Zeit allein in der letzten Reihe. Wenn wir auf Exkursion gegangen sind – in eine andere Stadt –, haben sie immer zusammen gesessen und ich war allein. Das war eine schwere Zeit für mich. Ich konnte die offizielle Sprache nicht richtig. Manchmal habe ich die Worte nicht richtig ausgesprochen und da haben sie über mich gelacht und haben Witze gemacht. […] Aber viele Leute wollen nicht raus [aus der Mahalla], wollen nicht mit anderen in Kontakt kommen. […] Viele Roma-Eltern motivieren ihre Kinder wirklich nicht, in die Schule zu gehen. Weil sie selbst Analphabeten sind. Sogar

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wenn sie ihnen helfen wollen, sie sind nicht fähig es zu tun. Da war auch ein anderes Problem, dass einige der Leute versuchen, ihre Kinder vor einer realen Assimilation zu beschützen. […] Oder ein anderes Problem, dass die Schulbücher sich nur an die Mehrheitsgesellschaft gerichtet haben. In diesen Büchern gab es nichts für die Minderheiten. Nicht nur für Roma, auch für Türken, für Armenier oder die jüdische Minderheit – nichts!  Lilyana Kovatcheva » … die meisten von uns wissen, ohne Bildung geht es nicht!« Praktisch ist mein Freundeskreis eigentlich derselbe geblieben. Sogar heute noch ist es derselbe. [...] Als ich jünger war, bestand mein Freundeskreis eigentlich aus Roma und Roma-Muslimen. Es kann sein, dass es da einen gab, der wie ich, also Roma-Christ war. Aber die meisten waren Muslime. Danach, als ich in die High-School gegangen bin, hat sich die Zahl meiner Freunde erhöht. Und dann bestand mein Freundeskreis aus Roma, Mazedonen, Albanern und Türken. Aber in dieser High-School in der ich war, war das Fundament immer, dass ich Roma-Freunde hatte. Jeder hatte Nicht-Roma-Freunde, aber wir haben uns irgendwie besser gefühlt, wenn wir Roma zusammen waren. […] [Meine] Freunde heute? Wenn wir sie uns anschauen, die meisten sind verheiratet und nicht gebildet, und wenn wir uns das dann im Vergleich mit den Mazedonen anschauen, die sich später verheiraten, ihre Bildung beenden bevor sie heiraten usw. Ich kann daher sagen, dass ich in einer sehr guten Position bin. Wie ich gesagt habe, die Mazedonen heiraten nicht, bevor sie ihre Ausbildung nicht beendet haben, und wir haben geheiratet, bevor wir die Bildung beendet haben. Vielleicht sind die Resultate, die ich habe, nicht die besten, also nicht immer die Bestnote Zehn. Aber ich versuche alles auszubalancieren: meiner Familie zu essen zu bringen und auch in der Fakultät gut zu sein. […] Wenn wir darüber sprechen, dass die Roma nicht gebildet sind: Die Roma müssen gebildet sein, wenn sie ihr Image ändern wollen! Aber dann kommen sie mit dem Problem der Finanzen in Kontakt. Aber vielleicht ist das Problem gar nicht so groß. Weil es Stipendien gibt und wir sagen können, dass die Roma es nicht gewohnt sind zu studieren. Schauen wir uns die Pyramide von unten an. Physische Notwendigkeiten: Die Roma können nicht über die Karriere nachdenken oder darüber zu studieren, weil man hungrig nicht studieren kann. Wenn die physischen Bedingungen nicht erfüllt sind, dann können sie nicht lernen. Die Gadže haben alle physischen Notwendigkeiten erfüllt, daher können sie über andere Dinge nachdenken. Bildung und so weiter. Also wenn wir es generell sehen, die Gadže sind es gewohnt zu lernen und die Roma nicht. Wenn wir uns aber die letzten Jahre anschauen, dann verändert sich dieses Bild. Ja! Sie haben eine Motivation, zur Schule zu gehen: die Möglichkeit, Arbeit zu finden ... und die meisten von uns wissen, ohne Bil-

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dung geht es nicht! Wir haben 300 [Roma-]Studenten, 70 Diplomanden. Also ist der Status der Roma garantiert, durch die Verfassung von Mazedonien und das Wichtigste ist die Dekade der Roma.  Daniel Petrovski

7.3.4 Bildung heißt »Nein« sagen lernen und seine Vergangenheit sterben zu lassen Der französische Erziehungswissenschaftler René Barbier hält in seinem Beitrag »Veränderung und Durchdringung der Wertsysteme« (1999) drei Dimensionen für erkennbar, die sich in »Eigenständigkeit« eines Menschen durch Bildung widerspiegeln würden. Darunter sind hier die ersten beiden von Relevanz: Sich zu bilden heißt zum einen »seine Vergangenheit [sterben zu lassen]« und zum anderen »Teile von sich für seine Zukunft sterben zu lassen«. Dies bedeute, »sich auf die Suche nach den erzieherischen und familialen Werten zu machen«, um diese »in Beziehung zueinander zu setzen und ihre Ergebnisse zu relativieren.« Zugunsten der damit (neu) gebildeten »autoreferentiellen Werte, werde ich unter bestimmten Umständen ›Nein‹ sagen und mich damit meiner eigenen Gruppe und selbst meinen Freunden gegenüber zum Dissidenten machen müssen.« (Ebd.: 158) Penelope Harveys (2002) anthropologischer Beitrag zur Elitenforschung (s. Abschn. 1.2.3) setzt sich ebenfalls mit dem Thema Bildung auseinander. Sie erweitert sogar das Blickfeld der Trennung von der Gruppe und redet nicht vom äußerlichen Druck, der auf denen lasten würde, die sich selbst durch Bildung auf Abstand zu ihrer Gruppe begeben. Harvey argumentiert mit de la Cadena (1998), dass Bildung vielmehr auch eine »redemptive power« (de la Cadena 1998: 160, so zit. in Harvey 2002: 79) in sich trage, die in ihrem Falle dem »educated peasant« – der nun für die Mitglieder seiner Herkunftsgruppe ein »cholo or mestizo« sei – seinen zukünftigen Platz in der Stadt zuweisen würde, sodass er nicht mehr auf dem Land (seiner Herkunftsumgebung) zu finden sei (vgl. ebd.). Wie diese Phänomene auch in der Praxis meiner Interviewpartner Gestalt annehmen, erklären im Folgenden Lilyana Kovatcheva und Emil Metodiev. »Ich wollte studieren und mich außerhalb der Gemeinschaft entwickeln.« Wenn du deine Gemeinschaft verlässt, dann verlässt du auch deine Mitgliedschaft in der Gemeinschaft. Also sagen sie dann über dich: ›Ach, der ist draußen in der Gadže-Welt und er ist weg! Aber wenn er zurückkommt, können wir seine Quellen nutzen. Vielleicht weiß er, wo wir ein bisschen Geld herbekommen oder Unterstützung ...‹, eigentlich ist es so. Aber in meiner Gemeinschaft sehen sie mich nicht als Outsider, mehr als eine respektable Quelle. Vielleicht als ein Vorbild für ihre Kinder. Also sie sagen: ›So musst du es machen und dann wirst du so wie er!‹ So wird man mit Respekt behandelt. Also eher eine Vorbildfunktion. […]

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Nach der Highschool war ich bei der Armee, für ein Jahr. Dann habe ich eine Bewerbung meines Freundes für einen Langzeittrainingskurs ausgefüllt. Damals habe ich nichts über NGOs gewusst, oder was das heißt: ›NGO‹. Ich habe mich einfach beworben, weil ich etwas studieren und außerhalb meiner Gemeinschaft sein wollte. Auch um mich zu entwickeln. Und da habe ich mich einfach beworben und wurde angenommen. Es war die Organisation ›Pakiv – Roma-Fund‹.  Emil Metodiev Ein traditionsbewusster Vater in der sozialistischen Moderne Bulgariens Lilyana Kovatcheva: »Aber mein Vater ist ein sehr aktiver Mann gewesen. Er ist ein informeller Leader in der Gemeinschaft gewesen. Er fing in seiner Kindheit an, ... wissen Sie, in der Vergangenheit, unter dem kommunistischen Regime gab es für die jungen Leute Organisationen: den Komsomol. Und mein Vater war eben der Sekretär dieser Komsomol-Organisation. Und später wurde er ein Sekretär der kommunistischen Partei in unserer Siedlung. Und er hat viel mit Bulgaren zusammengearbeitet. Er hat dabei einige gute Dinge gelernt. […] Auf eine Art war er ein wenig assimiliert in die Gadže-Welt, aber auf der anderen Seite war es nützlich für ihn und hauptsächlich für uns, die Kinder. Weil er begonnen hat, auf unsere Schulbildung zu achten. Also zur Schule zu gehen, lesen zu lernen, und unsere Lebensgewohnheiten zu ändern, auf positive Art. Persönlich denke ich, dass es da aber auch negative Seiten gab.« Ich: »Welche sind denn diese negativen Seiten?« Lilyana Kovatcheva: »Die sind, dass wir nicht unsere Kultur lernen konnten, unsere Sprache. Aber mein Vater war da nicht so streng. Er ist wirklich ein cleverer Mann. Er hat einen Sprung gemacht und die positiven Dinge der Gadže übernommen. Aber in der Familie war er auch ein sehr traditioneller Rom. Er hat diese Mentalität herauszufinden, was gut ist und was nicht. Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen. Ich fühle das so. Unsere Familie war keine reiche, aber auch kein arme.«

7.3.5 »Ich bin das, was ich dort gelernt habe, wo und mit wem ich auf wuchs«: Bildung und Identität »Und dann sind wir ins Stadtzentrum gezogen ...« Mein Vater hat also entschieden, in das Zentrum der Stadt zu ziehen. Weil er eine bessere Umgebung haben wollte für seine Kinder. Das hat er mir so erzählt. Er wollte eine bessere Umgebung, er wollte Kommunikation mit der MakroGesellschaft und so sind wir in das Stadtzentrum gezogen.  Rumyan Russinov

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Rebenstorf (1991) wurde bereits oben damit zitiert, dass »peer groups« als sozialisierende Instanz nicht außer Acht zu lassen sind (vgl. ebd.: 222 ff.). In dieser Argumentationsfolge sei hier abermals auf Bourdieu (1983) verwiesen, der bekanntlich schulische Bildung als ein »kulturelles Kapital« ausmacht und dabei u. a. zwischen »inkorporiertem« und »institutionalisiertem Kulturkapital« unterscheidet (ebd.: 185). Unter Ersterem versteht Bourdieu das, was sich bereits á praxi anhand der Gesprächssequenz zwischen Alvin Salimovski und Sabir Agush, meinem Gastbruder, gezeigt hat: Alvin als universitär gebildeter Sprach-Pädagoge begründete seine Wahl, die »Sie-Form« auch im Romanes zu benutzen, nicht mit den Sprachgewohnheiten, die er in seiner Heimatstadt Kriva Palanka anerzogen bekam. Er bekräftigte sogar: »Wenn ich zu Hause bin, ist es normal, dass ich sie [die Höflichkeitsform Tumen] nicht benutze«. Erst gegenüber einer »unbekannten Person im höheren Alter« würde er diese Form benutzen. Diese fremden Personen sind, und das geht ebenso deutlich hervor, für Sabir Agush die Mazedonen (Gadže), in deren Umgebung er diese Form gebraucht. Sonst sei es seiner Meinung nach nicht »Roma-Art«: »Das ist nicht logisch in der Roma-Sprache und es ist nicht logisch in der Roma-Logik. [...] ich sage, dass das die Gadže-Art ist. Verstehst du mich?« »Inkorporiertes Kulturkapital« sei als »Besitztum« zu einem »festen Bestandteil der Person« geworden, folgt man Bourdieu (1983): »aus ›Haben‹ ist ›Sein‹ geworden« (ebd.: 187). Vor diesem Hintergrund folgen also beide Akteure dieses kurzen Gesprächs exemplarisch jeweils dem, was sie aus dem »geworden« sind, was sie dort gelernt haben, wo und mit wem sie aufwuchsen. Sabir Agush nannte Alvin einen »Roma-Repräsentanten«, wogegen sich Alvin nicht verwahrte, denn er ist aufgrund der Besetzung des Direktorenstuhls in den Augen der Eltern und auch der ihm anvertrauten Schulkinder von Shutka ein Streitschlichter, ein Mediator. Seine »kulturelle Kompetenz« (Bourdieu 1983) als Lehrer, also als Pädagoge, wird dort schlicht und einfach als »Kompetenz in der Vermittlung« begriffen. Zwar führt Bourdieu aus, dass es möglich wäre, die Besitzer derartiger Titel miteinander zu vergleichen und sogar auszutauschen. Der Relevanzrahmen der Wertigkeit des reinen Lehrertitels ist hier jedoch auf die Institutionen der Gadže beschränkt. Denn die Annahme, in Streitfällen zu vermitteln, zeigt eine der Erwartungsebenen der Roma / Zigeuner vor Ort, die beispielsweise Alvins Titel als Direktor und sein Amt als Lehrer betreffen. Andere solcher »Titel« wären beispielsweise der eines Bürgermeisters und auch der aller (gleich ihm) in Mazedonien lehrenden Deutschlehrer, irrelevant mit welchem ethnischen Hintergrund. Abermals sei auf Bourdieus Kapitalbegrifflichkeit zurückverwiesen, denn wie sich bei den Akteuren dieser Arbeit zeigte, »hat die Bildungsinvestition nur Sinn«, wenn ein »Wechselkurs« existiert, »der die Konvertibilität zwischen kulturellem und ökonomischem Kapital garantiert« (ebd.: 190). So steht die schulisch-institutionelle Bildung, den hier diskutierten Akteursmeinungen nach zu urteilen, in engem Zusammenhang mit dem Kontakt zu ihren »Nicht-Roma«-Freunden und

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der damit alltäglichen Vergleichbarkeit (beispielsweise mit ihren Bildungsplänen oder Schulergebnissen etc.). Diese Kombination an Zugängen ermöglichte ihnen schließlich ihr Kapital, das sie gruppenintern zu konvertieren wussten. Sieben der Akteure (Peter Goranov, Ludmila Zhivkova, Nikolaj Kirilov, Hristo Kyuchukov, Bajram Berat, Samka Ibraimoski und Alvin Salimovski) werden uns im Folgenden von ihren jeweiligen Erfahrungen in der Vergangenheit erzählen. »Je höher die Bildung der Eltern ist, umso höher die Bildung der Kinder.« Einige Faktoren, warum so viele Kinder in Lom in die Schule gehen: Je höher die Bildung der Eltern, umso höher die Bildung der Kinder. In der Nähe der Viertel gibt es Schulen und die waren immer voll. Das war bis zu einem bestimmten Punkt gut. Aber dann haben nur noch Roma dort gelernt. Das Niveau ist runtergegangen. Und deswegen wollte man dann die Schulen auflösen und die Schüler in bulgarische Schulen integrieren, damit sie in eine konkurrenzfähige Umgebung kommen. In diese Richtung müssen wir arbeiten, auch um Qualität in der Bildung zu erreichen. […] Es gibt viele Roma-Studenten, und zwar deswegen, weil sie an gemischten Schulen waren. Und das hat den anderen Kindern gezeigt, dass es geht. Die Barriere, dass man denkt ›es wird nichts aus dir‹ existiert nicht mehr. Jetzt gibt es gute Vorbilder und Modelle. Deswegen hat man den Effekt, dass in der Schule bessere Ergebnisse erzielt werden. »Wir leben einfach schon so lange zusammen.« – Der Freundeskreis Wenn Sie in unser Viertel kommen, sehen Sie bulgarische Häuser und Zigeuner-Häuser, nebeneinander. Es gibt auch Viertel mit nur Roma oder nur Bulgaren. Aber es gibt keine klare Abgrenzung zwischen Roma und Bulgaren. Wir leben einfach schon so lange zusammen. […] Und mit der Zeit sind Freundschaften und Bekanntschaften entstanden, die dazu führen, dass es eine positive Haltung gibt, von beiden Seiten. Das ist einer der Gründe. Ein anderer Grund ist die große Anzahl an gebildeten Roma, die das Image der Roma-Gemeinschaft steigern. […] Und wenn man einen gebildeten Menschen hat, der ruhig und normal mit einem sprechen kann, dann ist es viel einfacher ihn anzunehmen, als wenn man einem ungebildeten, stinkenden Menschen gegenübersteht.  Peter Goranov Bildung kommt mit Gadže-Kontakt Wir [in unserer NGO] haben nicht sehr viele Studenten, die aus Mahallas kommen. Wir haben sehr viele Studenten aus großen Städten, aus Sofia, Plovdiv. Die haben eine andere Art zu arbeiten. Es ist nicht so, dass Bildung nicht so

7  Prestige und Zugänge

wichtig ist für Roma aus großen Nachbarschaften. Aber sie haben keine Bildung. Sie gehen bis zur achten Klasse und das ist normal. Die Roma-Jugend, die in kleinen Städten wohnt und unter Gadže, die ist gebildeter und Bildung ist für sie wichtiger, […] die Leute in den Gemeinschaften gehen nur bis zur achten Klasse, und sie leben weiterhin in den Gemeinschaften. Sie hören auf ihre Eltern, heiraten usw.  Ludmila Zhivkova »Als Rom war ich immer allein in meiner Klasse.« Damals war ich einer der wenigen Roma, die ein Gymnasium beendet hatten. Es waren so um die zehn Roma in der Geschichte dieses Gymnasiums, die bis zu dem Zeitpunkt einen Abschluss gemacht haben. Dieses Gymnasium war sehr bekannt. Es war das beste Gymnasium, mit sehr hohem Niveau. Und jetzt haben wir ja eine total andere Situation. Da gibt es hunderte Roma, die zur selben Zeit lernen. […] Meine Klasse war total gemischt. In der Primary school war ich in meinem Viertel [in meiner Nachbarschaft] zur Schule gegangen. Die Schule, die eben für meine Nachbarschaft da war. Und ich habe da gelernt und eigentlich hatte ich kein einziges Problem mit den Lehrern. Und ich habe mich auch niemals geschämt zu sagen, dass ich Rom bin. […] Als Rom war ich immer alleine in meiner Klasse. Die ganze Zeit, von der ersten bis zur Gymnasialklasse.  Nikolaj Kirilov »Ich habe mich immerzu mit der Mehrheitsgesellschaft verglichen« Ich bin in Champara Mahalla in Provadija unter Roma aufgewachsen. Aber ich hatte auch gute Kontakte zu den Gadže und zu den Türken in Provadija. Wir hatten wirklich sehr gute Beziehungen zu den Bulgaren und zu den Türken. […] Ich habe mich immerzu mit der Mehrheitsgesellschaft verglichen: mit den Bulgaren und mit den Türken. In der Schule hatten wir immer so eine Art Wettbewerb unter uns Schülern der verschiedenen ethnischen Gruppen, und ich war ein exzellenter Schüler. Doch meine Lehrer haben mir trotzdem immer schlechtere Noten als den anderen gegeben. Das war mein Schlüsselmoment: ich habe mich entschieden, weil ich böse auf viele meiner Lehrer war, dass ich ihnen zeigen werde, dass ich etwas in meinem Leben erreichen werde. Das war auch meine Hauptmotivation: meinen Schullehrern zu zeigen, dass ich es schaffen kann.  Hristo Kyuchukov

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»Der Wunsch, zu sein wie die anderen« Mein Vorbild war die Umgebung, in der ich aufgewachsen bin. Der clevere Typ vergleicht und sieht, wie die Roma leben und wie die Gadže leben. Da gab es aber keine speziellen Inspirationen. Die größte Inspiration ist der Wunsch, zu sein wie die anderen (Gadže) und gleich mit den anderen (Gadže) zu sein. […] Daher gibt es keine Idole im Leben. Das einzige Idol ist der Glaube an dich, der Wunsch nach Erfolg und die Fähigkeit mitzuteilen, welchen Weg man gegangen ist, um den anderen die Möglichkeit zu geben, denselben Weg zu gehen. Ich habe mich niemals geschämt zu sagen, dass ich Rom bin. Sogar als ich mein Diplom bekommen habe! Es gab auch schon [Roma-]Leute vor mir mit dem Diplom, aber die haben gesagt, dass sie Türken oder Albaner oder Mazedonen seien. Das Falscheste ist die Flucht vor dir selbst, wenn du die Augen vor dir selbst verschließt, wenn du dein Kind anlügst und ihm sagst, es sei kein Rom, aber in Wirklichkeit ist es Rom.  Bajram Berat »Meine Freunde waren mehr Mazedonen« Ich komme aus einer Mittelklassefamilie. Meine Grund- und Mittelschule habe ich in Tetovo absolviert. Mein Gymnasium auch. Mein Studium habe ich in Novy Sad gemacht und dort meine Magisterarbeit geschrieben. Ich bin Magister für ›Management für operative Fragen‹. Ich bin verheiratet und habe drei Kinder, zwei Jungs und eine Tochter. [...] Meine Eltern, [beides] KovačiRoma, waren nicht sehr reich. Wir haben kein so reiches Leben geführt, aber auch kein armes. […] Ich bin in einer Roma-Mahalla aufgewachsen. Und fünf Kindern Bildung zu geben, ist nicht leicht. Meine Mutter hat gearbeitet und mein Vater hat Rente bezogen. Das war unsere Finanzierung. Ich habe die Hochschule besucht, mein Bruder hat das Gymnasium besucht und in meiner Familie sind drei mit Hochschulabschluss. Ein Bruder ist in Deutschland. Er ist seit 40 Jahren in Berlin. Mein [anderer] Bruder hat als Chef einer Süßwarenfabrik gearbeitet. Er hat viel mit italienischen Firmen gearbeitet, die hier alte Kupferwaren aufgekauft haben. [...] Mein Sohn ist jetzt auch auf der Hochschule in Tetovo. Ein anderer ist in Belgrad, als Produktionsmanager. Meine Tochter ist auf der Highschool, seit einem Jahr. Ein Vorbild für mich waren meine Eltern und, es war ein sehr großer Einfluss, dass wir zwar ein Haus in einer Roma-Mahalla hatten, aber in einem anderen Haus in der Nähe des Stadtzentrums in Tetovo gelebt haben. Die Freunde, die ich hatte, waren mehr Mazedonen. Das ist auch der Grund für meine hohe Bildung.  Samka Ibraimoski

7  Prestige und Zugänge

»Ich lebte nie mit Roma zusammen« Es ist einfach normal für mich, mit Gadže zu leben und, wie ich schon gesagt habe, hatte ich nie so viel Kontakt zu Roma, bevor ich hierher gekommen bin. Also in Kriva Palanka waren alle meine Freunde Gadže, wir waren nur zwei oder drei Roma. Als ich hierher nach Skopje zum Studium kam, hatte ich ein bisschen mehr Kontakt zu Roma-Studenten. Aber als ich hierher nach Shutka gekommen bin, um als Lehrer zu arbeiten, hatte ich erst richtigen Kontakt zu Roma. Und es gibt einen sehr großen Unterschied zwischen den Roma in Kriva Palanka und den Roma hier. Die Tradition ist anders und ich bin einfach nicht ... Ich habe nie mit Roma zusammengelebt. [...] Und es war alles neu für mich, was ich hier [in Shutka] gefunden habe. [...] Vorher bin ich zwei oder drei Mal in Shutka gewesen: nur zum Markt und dann wieder zurück. [...] Wie ich auch gesagt habe, dass es in Kriva Palanka Roma gibt, die in der Mahalla leben und auch Roma, die in der Stadt leben: die in der Stadt leben, mit Gadže, haben meistens die höchste Stufe der Bildung, also Secondary. Und zehn oder zwölf [Roma] von meiner Generation haben auch ein Studium abgeschlossen. Aber aus der Mahalla gibt es keinen, der ein Studium begonnen hat. Der Kontakt zu den Gadže fördert die Bildung. […] Nicht nur die Bildung, sondern auch die Kultur, aber die Bildung ist für mich das Wichtigste.  Alvin Salimovski

7.4 R esümee Institutionelle Schulung kann – so will ich postulieren – am Sozialisierungsprozess dann teilhaben, wenn nicht nur die »alternative schooling«, sondern auch die »formal education« (vgl. Okely 1983) im sozialisierenden Umfeld eine Priorität oder zumindest eine Wertigkeit besitzt. Oder anders formuliert: Wenn der Schulungsprozess an einer sich außerhalb des Elternhauses befindenden Institution stattfindet und den Anspruch erhebt, wertevermittelnd am Leben des Schülers teilzunehmen, kann dies nur der Fall sein, wenn die Schule und deren Prozesse – neben der Erziehungsleistung der Eltern (»alternative schooling«) – eine positive oder zumindest wertfreie Rolle einnimmt und entsprechend generationsübergreifend reflektiert wird. Das heißt, wenn der Institution Schule und dem mit ihr einhergehenden System der Bildung kein ›Einlass‹ in den sozialisierenden und damit wertevermittelnden Raum der Familie genehmigt wird oder genehmigt werden kann, steht sie losgelöst in der Biographie des Einzelnen da. Die Bürde, in einer solchen Biographie Raum zu schaffen, in dem »formal schooling« eine begleitende oder gar tragende Rolle übernehmen könnte, muss unter diesen Umständen vom Einzelnen selbst und alleinverantwortlich – weil, wie wir erfahren haben, nicht immer konform zum sozialisierenden Umfeld – getragen werden. Die Konsequenzen einer solchen zumeist gegen den Mainstream des sozialisie-

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renden Umfeldes gerichteten Entscheidung gehen unter anderem mit Erfahrungen einer wenngleich nur temporären Ausbettung aus der sozialisierenden und wertevermittelnden Gemeinschaft einher, so es sich um eine Roma- / Zigeunermahalla handelt. So haben sich viele der Akteure, durch ihre Entscheidung für eine weiterführende (akademische) Bildung, ihre Diskonnektion zur eigenen Herkunftsgruppe selbst anerzogen. All dies sind jedoch keine spezifischen Merkmale ›der‹ Roma- / Zigeunergruppen, wie Nikolaj Kirilov anmerkte. Doch wird die Trennung und die sich scheinbar selbst aufrechterhaltende Grenze zur Gadže-Welt (weil häufig beidseitig durch Stereotype betont) als Legitimation zur anfänglichen Verweigerung der von dort stammenden Werte herangezogen. Und so stehen jene Roma- / Zigeunergruppen im Vergleich zu anderen (ethnischen) Minderheiten nicht als Einzelfälle da. Durch die jahrelange Diskriminierung der Roma / Zigeuner werden jedoch Neuerungen aus der Gadže-Welt zunächst häufig als Pressur erfahren. Eine Gruppe distanziert sich in diesem Fall solange von der Wertimplementation durch die Mehrheitsgesellschaft, bis die »Wertneuerung« nicht auch als eine eigene Idee erfahren wird bzw. bis nicht daraus auch ein klarer Vorteil für die Gruppe entsteht – ein (neuer) eigener Wert. »Mit meiner Bildung habe ich den Status meiner Familie verändert.« Ich als Shaban Saliu habe als junger Mensch gesehen und verstanden, dass Bildung wichtig ist, und [dass] ich eine Universität abschließen sollte. Ich komme aus einer Arbeiterfamilie und meine Eltern waren nicht reich. Mit meiner Bildung habe ich den Status meiner Familie verändert. Und Gott sei Dank bin ich jetzt sehr zufrieden mit meinem finanziellen Status. […] Ich war der erste Intellektuelle in der Mahalla! Ich bin das Vorbild für alle, die Bildung haben wollen. Der Sport hat mir sehr geholfen und ich war meistens mit Intellektuellen zusammen, die Gadže waren und studiert hatten. Ich habe erfahren, wie sie geplant haben, auf eine Hochschule zu gehen, und ich habe mich gefragt, warum sie es machen können und ich nicht. Ich habe meine Hochschule absolviert, ganz normal. [...] Um mich von meinen Kindheitsfreunden zu separieren, musste ich sehr stark sein mit meinem Wunsch nach Bildung. Der normale Weg der Roma ist eigentlich der, dass sehr zeitig geheiratet wird. Als ich auf die Hochschule ging, war der Blick auf mein Leben besser. Und ich wusste, dass ich nur, wenn ich mein Studium beende, mit der Gadže-Welt gleich sein kann. »Ich habe mich gefühlt wie ein Bär, der aus den Bergen kommt!« Als Kind hatte ich bereits meine Vorstellungen. Ich erinnere mich an eine Situation. Als würde es jetzt passieren, kann ich es dir erzählen: Wir haben oft Domino gespielt und als sie die Steine verteilt haben, haben wir sie gezählt. Ich

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habe immer am schnellsten gezählt. Einer der Spieler war Mazedone. Er hat gefragt: ›Wie kann ein Zigeuner so schnell zählen, als würde er ein Direktor sein?‹ Ich war damals erst sieben Jahre alt und immer wenn ich es erzähle, kommt mir die Situation vor Augen. Ich habe mir selbst gesagt, dass jeder Rom mit seinem Leben Erfolg haben kann, und ich wollte es mir auch selber und der Gadže-Welt beweisen. Heute gibt es viele Roma-Studenten, aber damals konnte man sie an einer Hand abzählen. Es gab auch eine interessante Situation, als ich mein Diplom in die Hand bekam, in dem Büro für Arbeitsstellen. Da gab es drei Büros: Eines für Grundschule, eines für Sekundärstufe und eines für hohe Bildung. Die Person, die aus dem Büro herauskam, vor dem ich wartete, sagte zu mir: ›Warum warten Sie hier? Sie sollten dort drüben warten!‹ Als ich sagte, dass ich gerade mein Studium beendet habe, hat sie ihren Boss gerufen um ihm zu zeigen, wer der erste Roma ist, der das Hochschulstudium absolviert hat. In diesem Moment habe ich mich gefühlt wie ein Bär, der aus den Bergen kommt. Als Anwalt hatte ich auch so ein Problem. Ich habe einen Fall in Tetovo verteidigt. Und als der Richter den Raum betreten hat, sah er mich in dem Sitz, wo der Verteidiger sitzt. Er hat gesagt, dass ich aufstehen sollte und auf einen Platz gehen sollte, wo das Publikum sitzt. Aber ich habe ihm gesagt, dass das hier mein Platz ist, der Platz des Verteidigers. Und ich habe ihn gefragt, ob er sich nicht vorstellen könne, dass ein Schwarzer einen Verteidigerposten hat. Er wollte aus der Situation herauskommen und hat gesagt, dass es nicht deswegen sei, sondern dass ich sehr jung aussehen würde und er es daher nicht glauben konnte. Aber ich wusste, dass es nicht der Fall war. Ich war ein guter Anwalt. Alles was ich in meinem Leben gemacht habe, habe ich gemacht wie ein Anwalt. Und nun als ein Politiker mache ich alles für meine Leute und gebe mehr als ich nehme.  Shaban Saliu

7.5 P restige : W ertpr ämissen und W erthier archien Die Äußerungen vieler Akteure zeigten, dass letztendlich kein besonderes Prestige entstehen kann, wenn man es nicht auch gleichzeitig versteht, die Kontakte, Beziehungen und Objekte etc. in der relevanten Gruppe bzw. Gemeinschaft (im Idealfall der Herkunftsgruppe) zu rekontextualisieren. Sie machten andererseits deutlich, dass Prestige häufig aus verschiedenen Werten zusammengesetzt sein kann und mehr ist als die Summe seiner einzelnen Bestandteile. Daraus möchte ich schlussfolgern: Ein sogenanntes »Roma- / Zigeunerprestige« wird nur dann als »typisch« geltend gemacht werden können, wenn es konstruiert ist. Doch in der sozialen Wirklichkeit wird es keinen Bestand haben. Die Frage sollte daher vielmehr lauten: Was scheint hinter der Fassade des von außen scheinbar existenten Roma- / Zigeunerprestiges zu stecken?

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Eine mögliche Antwort kann an dieser Stelle wie folgt lauten: Es ist das Wechselspiel zwischen der situativen Deutung der Werte und deren personen- bzw. gruppenabhängigen Widerspiegelungen. Dabei spielt die Seite eine Rolle – also ob man sich auf Seiten von Gadže befindet oder auf Seiten von Roma- / Zigeunergruppen – und welche Sozialisationsumgebung die Akteure jeweils erfahren haben. Denn der dort stattfindende Transfer von Informationen und Werten allgemein und der Vorbildlichkeit im Besonderen setzt, wie ich dargelegt habe, die Grundsteine, auf denen sich das je unterschiedliche Prestigeprofil auf baut. Und damit bleibt Prestige eine Frage der Werthierarchien und nicht eine von unterschiedlichen Wertesystemen! Denn es verhält sich in Roma- / Zigeunerfamilien genauso wie es auch in Familien der Gadže der Fall ist: Je höher die sozial / politisch relevante Stellung eines Elternteiles (in kommunistischer Zeit) war (vorzugsweise die Stellung des Vaters), umso wahrscheinlicher ist es, dass Sohn oder Tochter auch eine Position in dieser (Gadže-)Welt innehat. Bereits in ihrem Aufsatz »The Elite and the Elites« postulierte die amerikanische Soziologin M. Beth (1942), dass die »weighting standards« verschiedener Prestigearten sich nicht nur in Zeit und Ort unterscheiden, sondern »they differ geographically [and] within the same society« (ebd.: 753). Insofern bekräftigt meine Datenlage Beths Darlegung. Doch ihr weiteres Postulat, dass der makrogesellschaftliche Übergang in eine industrielle Gesellschaft durch »the diminishing weight of family membership and the increased weight of vocational prestige« gekennzeichnet sei (ebd.), kann ich mit den mir vorliegenden Daten nicht bestätigen. Denn schlussfolgernd können wir hier feststellen, dass sich die meisten Roma- / Zigeunergruppen sowohl den Wert der Familienmitgliedschaft erhalten, als auch den der (institutionellen) Bildung in ihr Wertgefüge integriert bzw. ihn als Fähigkeit anderer Personen insofern erkannt haben, als dass sie jenen Personen, wie den Akteuren, nun entweder nacheifern oder deren neu eröffnete Zugänge fortan ihrerseits nutzen. Das letzte Wort sollen Elvis Fazlioski und Peter Goranov dazu haben. »Ich kenne eine andere kulturelle Tür« Ja, aus meinem alten Freundeskreis bin ich etwas ausgeschlossen. Ich bin jetzt hier [in Skopje] und hier baue ich meine Karriere aus. […] Wenn ich nach Orchid [zu meiner Familie und Herkunftsgemeinschaft] fahre, ob du es glaubst oder nicht, sind sie sehr stolz auf mich und respektieren mich. Wenn ich zum Beispiel im Fernsehen bin, rufen sie mich an. Viele meiner Freunde sind sehr stolz darauf, was ich mache. Ich denke, dass sie stolz sind, weil wir in Orchid keine Person haben, die in der [Gadže-]Gesellschaft erfolgreich ist. Sie sind stolz darauf, dass sie jemanden aus ihrer Gemeinschaft haben, der erfolgreich ist. Sie sehen mich als einen Freund, als einen Artgenossen, einen Gefährten. [...] Ich bin mit all den anderen Leuten, die in Mazedonien leben, sozialisiert worden: mit Albanern, mit Mazedonen und Türken usw., weil ich in Orchid

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gelebt habe. Dasselbe Bild würdest du bei allen anderen Roma sehen, die außerhalb von Skopje aufgewachsen sind. Das Problem mit der neuen Generation, die aus Shutka kommt, ist, dass sie in Shutka nichts Neues lernen können. Dort ist es normal, alles so zu machen wie immer, ohne Veränderungen. Alles ist konstant. Da können sehr kleine Veränderungen sein, aber wenn man das ganze Bild sieht, dann weiß man, dass sich nicht viele Dinge geändert haben und die Art, wie die Roma da leben. […] Es ist wichtig, dass ich unter anderen Leuten aufgewachsen bin und dadurch so etwas wie eine andere kulturelle Tür, einen anderen kulturellen Zugang kenne, der mich von den anderen unterscheidet.  Elvis Fazlioski »Ihr seid nicht wegen Diskriminierung entlassen worden! Wenn du meine Bildung hättest, dann wärst du geblieben, wie ich!« Hier in Lom gibt es die größte Zahl der Gemeinderäte, die Zigeuner sind: Sechs Zigeuner! […], 50 Prozent der Leute [hier in Lom] sind Roma / Zigeuner. Als man anfing (nach dem Kommunismus, zu Beginn der 1990er Jahre) Leute zu entlassen, konnten sie nicht alle Roma entlassen. Einige sind übrig geblieben. Es war nicht so, dass Bulgaren arbeiteten und Roma nicht. Das hat gezeigt, dass es keine Spaltung gab, zwischen den Arbeitenden und den Arbeitslosen. Das half, um den sozialen Frieden zu sichern. […] Es gab keine Massenunzufriedenheit und es ist nicht zu irgendwelchen Exzessen gekommen zwischen Roma und Bulgaren. Weil die aus den Roma-Gemeinschaften, die ihre Arbeit behalten haben, haben gesagt: ›Ihr seid nicht wegen Diskriminierung entlassen worden! Wenn du meine Bildung hättest, dann wärest du geblieben wie ich!‹ Die Roma haben die anderen gestoppt und sie überzeugt, dass es wichtig ist, Qualifikationen zu haben. ›Du bist Rom, ich bin Rom, dich haben sie entlassen, mich nicht!‹ […] Die ersten Entlassungen wendeten sich nicht gegen Roma, sondern gegen die mit niedriger Bildung. Aber es war eben so, dass die Roma hauptsächlich in die Gruppe gefallen sind mit niedriger Bildung.  Peter Goranov

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8 »Am Anfang war Erziehung« 1 oder: Geworden durch Bildung?

Im vorherigen Kapitel habe ich dargelegt, dass der Zugang zur und der Wert der schulischen Bildung ein konfliktreiches Verfremdungspotential für die Akteure beinhaltete. Diese Verfremdung bzw. Abkopplung von ihrer Herkunft ist jedoch dabei nicht total. Ihre Studienfachwahl (der Wirtschaftswissenschaften, des Management, der Pädagogik, der Sprachen, der Medizin etc.) ist in den meisten Fällen derart gelagert, dass die meisten Akteure damit durchaus imstande sind, ihre neu (und z. T. gruppenextern) errungenen Fähigkeiten für ihre Herkunftsgruppe einzusetzen. Und mehr noch: Mit den entsprechenden Studienrichtungen ergänzen einige unter ihnen ihr eigenes Potential an gruppenrelevanten Werten und Zugängen zu Prestige und Ansehen – was darauf hinausläuft, dass sie diesen Zugängen oder Werten einen gewissen Modernitätsabgleich verschaffen, ob nun als evangelikaler Priester, erfahrener Rechtsanwalt, Lehrer für Sprachen und Geschichte, Wirtschaftswissenschaftler oder Manager, oder einfach als erfolgreiche Geschäftsführer. Naturwissenschaftliche Studienbereiche wie Mathematik, Informatik, Biologie, Physik etc. sind laut meinen Daten seltener gewählte Fachrichtungen. Auch die sozialwissenschaftlichen Richtungen wurden von den Akteuren weniger frequentiert. Ihnen fehlt es scheinbar am spezifischen Translationspotential, welches in den vorrangig gewählten Studiengängen vorhanden ist. Und vor diesem Hintergrund ist interessant, dass gerade die Zahl derjenigen unter den Roma / Zigeunern schwindet, welche sich öffentlich zu ihrer ethnischen Herkunft bekennen und sich für das Studium einer Natur- oder Sozialwissenschaft entschlossen haben.

1 | Hier spiele ich auf den Titel des 1983 erschienen Buches von Alice Miller an. Mit ihrem Buch hat Alice Miller Aspekte dargelegt, ohne die ich vieles nicht verstanden hätte, was sich mir während meiner Arbeit in rumänischen Kinderheimen offenbarte. Wenngleich auf drastischem Weg, bringt Miller in ihrer psychoanalytischen Argumentation deutlich das zum Ausdruck, was der Buchtitel enthält: Dass am Anfang die Erziehung war.

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»Mein Großvater war reich genug, um seinen Sohn in die Universität zu schicken.« »Mein Vater hat sich in seiner Jugend für ein Studium entschieden. Und er ist die erste und einzige intellektuelle Person in der Familie, die den Weg der Bildung gegangen ist. […] In der Zeit, als er jung war, gab es einige RomaOrganisationen, in der kommunistischen Zeit. […] Es gab da einige Organisationen, die ihn beeinflusst haben, und das hat zu einem großen Teil das Leben verändert. Also war es eher ein Einfluss der Umgebung als ein Einfluss der Familie. […] Danach ist mein Vater in dieser Schule hier, der ›75. Schule‹, Lehrer geworden. Und das hat natürlich auch das Schicksal seiner Kinder bestimmt, inklusive mein Leben. […] Er ist aus der Gemeinschaft herausgegangen, um zu studieren. Sie sehen ihn ein wenig als einen Fremden an. Aber sein Vater [mein Großvater] war reich genug, seinen Sohn in die Universität zu schicken. Sie waren reich genug, denn mein Großvater Sefko kam aus Kyustendil. Er hatte eine Werkstatt in der Stadt bis in die letzten Jahre des Kommunismus hinein. Sie haben Messer produziert usw. Er hat in dieser Werkstatt gearbeitet und seine Kinder haben ihm geholfen. Und er hat gearbeitet, bis er gestorben ist, und dadurch einen guten Lebensstandard für seine Familie erreicht. Ich denke, dass er dadurch auch seinen Sohn beeinflusst hat, für die Gemeinschaft zu arbeiten.«  Mihail Georgiev An dieser Stelle sei jedoch darauf hingewiesen, dass einige der (wichtigen) Akteure – interessanterweise nicht nur Vertreter der älteren Generation – keinen Universitätsabschluss vorweisen können (beispielsweise Duduš Kurto, Mihail Georgiev, Amdi Bajram, Elvis Bajram oder Stefan Kolev). Dennoch waren sie zur Untersuchungszeit mehr oder minder Inhaber eines Amtes bzw. Kandidaten für ein Amt, zu dem sie keinesfalls aufgrund ihres Bildungsabschlusses auserkoren wurden. Ziehen wir an dieser Stelle die Erinnerungen von Toma Nikolaeff (Kapitel 7) in Betracht, wie er über Bildung als »Wert der Roma / Zigeuner« in der Vergangenheit denkt, oder auch die Ausführungen Mihail Georgievs oder Ashmet Elesovskis über den Bildungsstand und dessen Zusammenhänge in vielen Roma- / Zigeunergruppen, so muss ich mit Berger et  al. (1998) schlussfolgern, dass die »Abwesenheit von Bildung« im Wertgefüge von Prestige und Macht auch in meinem Fall für ein »anderes Legitimationsmuster« sorgt (ebd.: 396, m. Ü.). In ihrer Studie zur Legitimation von »leadern« in informellen Macht- und Prestigeordnungen, wie sie in handlungs- und kollektivorientierten »face-to-face«Gruppen zu finden sind, führt das Autorenkollegium aus, dass das Verhältnis zwischen »externem Status und gruppeninterner Macht und Prestigeordnung darüber entscheidet, ob der externe Status des ›leaders‹ von gruppeninterner Relevanz« ist (ebd.: 381, m. Ü.). Dabei unterschieden die Autoren zwischen »spezifischen« und »diffusen Statuscharakteristika«, wobei unter die letzteren das Alter,

8  »Am Anfang war Erziehung« oder: Geworden durch Bildung?

die Bildung, das Geschlecht, der Beruf, die ethnische Herkunft etc. fallen. Sie zeigen mit ihrer Studie, dass Gruppen, deren »leader« einen größeren Vorteil gegenüber ihren Mitgliedern in den beiden Aspekten Bildung und Alter (diffuse Statuscharakteristika) haben, diesen »Führern« mit höherer Wahrscheinlichkeit Legitimation zuerkennen als jenen Führern, die (nur) eine Expertise und ein höheres Wertpotential in anderen »diffusen Statuscharakteristika« mitbringen. Doch wenn ihre Bildungsabschlüsse hinter denen anderer Mitglieder zurückstehen, ist ihre Macht und Prestigeordnung »predicted to have a low likelihood of legitimation« (ebd.: 398). Eine Expertise Ich hatte keine besonderen Barrieren für meine Bildung, da ich meine Schule in Mazedonisch hatte. Ich habe mich auf deutsche Sprache und Kultur spezialisiert. Das habe ich dann auch in der philologischen Fakultät in der deutschen Abteilung studiert. Danach wollte ich in eine andere Bildungsrichtung gehen: in die Erwachsenenbildung. Das habe ich dann am Goethe-Institut für Kulturkontakt absolviert, in Belgrad, Wien und München. Danach habe ich in anderen Institutionen gearbeitet, habe deutsche Sprache und Literatur studiert und für die IIZ-DVV, also für das ›Institut für internationale Zusammenarbeit des deutschen Volkshochschul-Verbandes‹ in Bonn gearbeitet. Sie hatten ein Projektbüro hier [in Skopje]. Dann habe ich mich für das Projekt im Kosovo beworben im Jahr 2000. Ich habe dort das Niveau der Bildung usw. untersucht. Ich habe von 1998 bis 2000 in der deutschen Institution gearbeitet und bin in viele internationale Organisationen gegangen. Ich wollte ein bisschen mehr über Roma auch in anderen Ländern lernen, und als ich aus dem Kosovo zurückkam, habe ich meine E-Mails geöffnet und ein Angebot gehabt, in der OSZE im Kosovo zu arbeiten. Das habe ich angenommen. Daher habe ich von 2000 bis 2003 im Kosovo gearbeitet, für die OSZE-Mission, speziell für Roma, Ashkali und Ägypter. […] Das war das erste Mal, dass ich als ethnischer Rom in Sachen Roma usw. offiziell zu tun hatte.  Ramadan Berat So folgere ich hier, dass die Unterschiede in den Legitimationsmustern entscheidend sind für die unterschiedlich großen Gefolgschaften der Akteure sowie deren Prestige unter ihnen. Konsequenterweise stehen – bei relativer Abwesenheit der »diffusen Statuscharakteristika« in einer Macht- und Prestigeordnung – die »spezifischen Statuscharakteristika« (Lesefähigkeiten, Sprachfähigkeiten, Distribution von Reichtum, Mediationserfolge) als die ausschlaggebenden Aspekte im Vordergrund der gruppeninternen Legitimation.

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»Als ich gelernt habe, haben sie geheiratet und Kinder bekommen.« Ich bin in einer Mahalla, in der Balindolsko-Mahalla in Gostivar aufgewachsen, unter Roma. Damals als ich studiert habe, war ich nicht dort. Ich habe früher zwar Zeit gefunden, mit ihnen Fußball zu spielen, aber in der Nacht und am Abend habe ich gelesen. Als ich gelernt [i. e. studiert] habe, haben sie geheiratet, Kinder bekommen und sind arbeiten gegangen. Ich bin damals von Gostivar nach Skopje gereist. Und als ich meine Studien beendet hatte, habe ich alles doppelt bekommen, was sie damals bereits hatten. Als Kind war ich ein sehr guter Sportler. Ich war ein Karate-Kämpfer. Als Student hatte ich zwei Karate-Clubs in Skopje. Ich hatte eine sehr schwere Kindheit, mit Hunger usw. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es ist, mit Hamburgern und neuen Jeans. Aber heute kann ich mir alles leisten, was ich will: Ein Haus, einen Mercedes, alles! Als Kind hatte ich eine sehr schlechte Zeit. […] heute bin ich Anwalt!  Shaban Saliu Das durch die Bildung akkumulierte Kapital steht den betreffenden Akteuren zwar als diffuse Formalität eines Diploms oder des Doktorgrades institutionell (also gruppenextern) zur Verfügung, ihre gemeinschaftsinterne Legitimität allerdings können sie damit nur dann steigern, wenn sie »Diffuses« in »Spezifisches« umzuwandeln verstehen, ihre akademische Bildung gewinnbringend für andere Gruppenmitglieder einbringen können, wie wir im Laufe der Arbeit von Lilyana Kovatcheva, Nikolaj Kirilov, Jossif Nounev oder Ramadan Berat erfuhren. Der Bildungsraum ließe sich demnach tatsächlich als derjenige definieren, in dem eine bewusst gelenkte, gezielt eingesetzte und spezielle Bildungsförderung einen »Führer machen« könnte. Das Argument Shaban Salius, dass »Roma- / Zigeunerführer geboren« und »nicht gemacht werden« (s. Abschn. 6.6.2), würde damit einerseits entkräftet. Doch würde diese Entkräftung andererseits suggerieren, dass die verschiedenen Ausbildungsprogramme, -projekte und -strategien fähig seien, solcherlei Führer oder Vertreter hervorzubringen bzw. imstande wären, deren Qualitäten und Fertigkeiten erfolgreich zu generieren. Diese schablonenhafte, pragmatische, normative Erwartungshaltung schließt jedoch u. a. einen wichtigen Aspekt aus: den der Familiengebundenheit, wie ich ihn auf den letzten Seiten bereits als einen Zugang zu gruppeninternem Prestige und Einfluss beschrieben habe. Aus diesem Grunde will ich weitere Überlegungen über einige biographische Komponenten der Akteure, wie den Freundeskreis, ihre Kontakte oder auch die Unterschiede zwischen der neuen und der alten Akteursgeneration ausführen, um vor deren Sozialisationshintergründen weiteren Fragen näher zu kommen, die ich mit dieser Studie gestellt habe: • Wo spielte sich die Sozialisation bzw. Individuation der Akteure mit welchem Ergebnis für deren Lebenslauf ab?

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• Worin besteht der Unterschied zu den Lebensläufen anderer Mitglieder der Gemeinschaften, mit denen sie aufgewachsen sind? • Ist bereits in den Umgebungsvariablen der Sozialisation zu erkennen, warum sie es sind, die zu Vertretern oder Führern gemacht worden sind bzw. sich selbst in diese Positionen begeben haben? »Ich musste mehr lernen über Roma. Auch, um zu sehen, wie deren Blick auf die Welt ist.« Aufgewachsen bin ich in einer gemischten Umgebung. Ich habe in einer Nachbarschaft gewohnt, in der Roma, Albaner und Mazedonen lebten: in Topaansko-Pole. Ich habe eine Schwester, die im Roma-Centre in Skopje arbeitet. Sie ist die Direktorin dort. Meine Mutter arbeitet in der Roma-Organisation EZMA, sie ist auch die Geschäftsführende Direktorin dort. Mein Vater ist gestorben, als ich noch ein kleines Baby war. Er war ein Roma-Sänger und hat in der nationalen mazedonischen Fernsehagentur gearbeitet. […] Meine Muttersprache ist mazedonisch, aber ich habe Romanes in den letzten eineinhalb Jahren gelernt. Ich habe also begonnen, auf Romanes zu reden. [...] Meine Kindheit war in Topaansko-Pole und mein Freundeskreis [war] mehr oder weniger albanisch, kann ich sagen. Deshalb spreche ich auch albanisch, weil ich oft mit der albanischen Gruppe zusammen war, in meiner Nachbarschaft, denn da gab es nur zwei Roma-Familien. Und die anderen waren Albaner und Mazedonen. […] Wenn ich mich zurückerinnere an die Kindheit und die Jugendjahre in Topaansko-Pole: Meine Verwandten und ich waren ja in der gleichen Schule. [...] Der Punkt, ab wann ich mich mit Roma beschäftigt habe, das war in der Secondary-School. [...] Denn in der Secondary-School habe ich begonnen, in Shuto Orizari herumzuhängen. Denn alle meine Verwandten meiner Mutter leben dort. Und von meinem Vater lebt sie [die Verwandtschaft] in Dracevo, das liegt so um die 30 km von hier entfernt. […] Es gab da ein paar Gründe, mit Roma zusammen zu sein: Weil, in meiner frühen Kindheit haben die albanischen und mazedonischen Kinder über die Roma generell mit sehr vielen Klischeevorstellungen geredet. Und während sie über Roma gesprochen haben, habe ich mich immer bedroht gefühlt und verängstigt, weil ich ja ein Rom war, und ich wusste ja auch, dass ich einer bin. Ich wusste über meine Vergangenheit etc. Bescheid. Und ich musste einfach mehr lernen über Roma, und hab mich deswegen mit den Roma in Shutka getroffen. Auch um zu sehen, was deren Blick auf die Welt ist. […] Und ich habe begonnen, unsere Kultur, unsere Sprache etc. zu lernen. […] Da war ich ungefähr 13, 14 Jahre alt. Das war Ende der 80er Jahre. Ja, und es war auch interessant für mich, als ich begann, mit den Roma-Jugendlichen herumzuhängen, dass auch ich Vorurteile hatte, dass ich beeinflusst war von den anderen Kindern in meiner Nachbarschaft. Und es war sehr verwirrend für mich, denn ich als Rom hatte klischeehafte Vorstellungen über Roma, wegen meiner frühen Kindheit. Und nach ca. drei

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Jahren habe ich begonnen, die Kultur und die Sprache, die Gebräuche und Traditionen etc., etc. zu begreifen. Und danach habe ich gewusst, dass ich keine Klischeevorstellungen mehr habe.«  Azdrijan Memedov

8.1 B iogr aphischer A spek t Es wäre auch wichtig und hilfreich, sich bei der Lektüre stets vor Augen zu halten, daß mit Eltern und Kindern nicht bestimmte Personen gemeint sind, sondern bestimmte Zustände, Situationen oder Rechtslagen, die uns alle betreffen, weil alle Eltern einst Kinder gewesen sind und die meisten Kinder von heute einmal Eltern sein werden. M iller 1983: 12

Ein wesentlicher Unterschied zu den Lebensläufen anderer Gemeinschaftsmitglieder, mit denen die Akteure aufgewachsen sind, besteht in ihrer Entscheidung, aus der Gemeinschaft herauszugehen, um sich institutionell zu bilden. Ihr Leben wäre sicher in anderen Bahnen verlaufen, wenn sie es innerhalb der Gemeinschaft entworfen und verbracht hätten. Zumindest gilt das vorrangig für die Akteure, welche ihre Herkunft mit einer Roma- / Zigeunergemeinschaft verbinden, also in einer Siedlung aufgewachsen sind, in der Roma / Zigeuner die Nachbarn sind. Die Lebensgeschichten derjenigen Akteure, denen diese Lebenserfahrung fremd geblieben ist, sind unter anderen Gesichtspunkten zu betrachten. Ein Vergleich mit anderen Biographien zeigt, dass sie größtenteils als »Gadže-Biographien« bezeichnet werden müssten. Im Verlauf dieser Arbeit ließen viele Akteure Worte wie: »Sie nannten mich den Gadžo / die Gadži« verlauten. Und beim Erinnern an ihre Eltern oder Großeltern fielen ähnliche Kommentare: »für sie war er / sie wie ein / e Gadžo / Gadži«. Um unterschiedliche Werte transformieren zu können, bedarf es schließlich einer gelebten Distanz, auf die ich weiter unten ausführlicher zu sprechen komme. Diese Distanz, so sei hier vorweggenommen, hat allerdings zwei Seiten: Den (gruppenexternen) Kenntniszuwachs über Wertvergleichbarkeiten bei gleichzeitiger (gruppeninterner) Personifizierung dieser Wertvergleichbarkeiten. Die Akteure werden in den Augen der anderen Gruppenmitglieder untrennbar mit dieser Kenntniserweiterung verbunden: »Aus Haben ist Sein geworden«, zitierte ich bereits Bourdieu (1983) im vorherigen Kapitel. So nimmt es nicht Wunder, dass solche Akteure es als ihren Vorsprung ansahen, außerhalb einer Roma- / Zigeunersiedlung aufgewachsen zu sein, da sich so die Möglichkeiten und Vergleichbarkeiten alltäglich »vor den Türen« ihrer frühen Biographie ausbreitete – ganz im Gegenteil zu denen, die in einer Siedlung oder einer Mahalla aufgewachsen sind und sich im Nachhinein diese Kenntnisse erst erworben haben. Interessan-

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terweise haben die Letztgenannten allerdings einen entscheidenden Vorteil bei der Nutzung ihrer Zugänge: Für sie gibt es eine konkrete Herkunft, die nicht nur mit ihrer Arbeit in den Institutionen, sondern auch mit ihrer Biographie zusammenhängt. Zwar sind sie für ihre »Arbeit« primär »Rom oder Romni«, wie es auch für die gilt, die in einer »gemischten Umgebung« aufgewachsen sind. Doch für diejenigen, die in einer Siedlung oder einer Mahalla aufgewachsen sind, existiert darüber hinaus bereits durch ihre Heimat ein Ziel: Den Unterstützungserwartungen der Herkunftsgruppe zu entsprechen, um ihre eigentliche Heimat auch zum »zweiten Male als Heimat begreifen« (Welsch 2005: 340) zu dürfen, die den anderen Akteuren in dieser Form weder gegeben ist, noch dass sie imstande wären, sich eine solche zu generieren. »Die neuen Roma-Studenten leben in einer anderen Situation.« Wir haben nicht sehr viele Studenten, die aus Mahallas kommen. Wir haben sehr viele Studenten aus großen Städten, aus Sofia, Plovdiv. Die haben eine andere Art zu arbeiten. Es ist zwar nicht so, dass Bildung nicht so wichtig für Roma aus großen Nachbarschaften wäre, dennoch haben sie keine Bildung. Sie gehen bis zur achten Klasse und das ist normal. Die Roma-Jugend, die in kleinen Städten wohnt und unter Gadže ist gebildeter und Bildung ist für sie wichtiger. […] Die Leute in den Gemeinschaften leben auch weiterhin dort. Sie hören auf ihre Eltern, heiraten usw. […] Dieser Tradition folgen? Ich? Nein. Ich bin das schwarze Schaf in der Familie (lacht). Weil ich nicht verheiratet bin, alleine lebe, und das ist ein Problem für meine Familie. […] In meiner Familie lernen die Roma-Frauen nach ihrer Hochzeit Romanes. Also nachdem sie geheiratet haben. […] Ich kann kein Romanes sprechen. Die neuen RomaStudenten, in der neuen Dekade, können kein Romanes! Sie leben in einer anderen Situation. Sie leben nicht in einer Nachbarschaft, sie lernen nicht in Roma-Schulen. Sie lernen in Desegregationsschulen. Und das ist so etwas wie ein Resultat davon!  Ludmila Zhivkova Welchen Lebenslauf man jedoch nun auch hernehmen mag: Den Daten zufolge liegt es mir fern, alle der mir vorliegenden Biographien prinzipiell als »elitär« zu bezeichnen. Wenn man das herrschende und situationsspezifische Hierarchieverhältnis unter den Gruppen mit einbezieht, so lässt sich mit Vorsicht sagen, dass diejenigen Akteure eine vergleichsweise elitärere Biographie vorweisen können, welche in einer Mahalla aufgewachsen sind und dort als Modell angesehen werden. Denn deren Vergleichsmaß richtet sich nach dem, das zwischen den (verschiedenen) Roma- / Zigeunergruppen in der unmittelbaren Nachbarschaft existiert, obwohl der Kontakt zwischen den verschiedenen Gruppen vor Ort kaum gegeben ist, wie z. B. anhand von Alvin Salimovski, Lilyana Kovatcheva, Iosiff Nounev oder Daniel Petrovski zu erfahren war.

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Und ebenso verhält es sich bei den Akteursbetrachtungen und -meinungen über die gruppeninternen Konstellationen von Macht und Prestige, von Reichtum und Status, von Ansehen und dem Besitz eines »Namens«, denn auch diese Betrachtungen scheinen sehr ähnlichen Mustern zu folgen. Eines der Muster ist, wie ich gezeigt habe, dass die »Werte« der Gadže als diejenigen angesehen werden, die sich oberhalb in der Wertskala der Akteure befinden und daher als die anzustrebenden Werte gelten können. Dass sich die Gruppen mit je unterschiedlichen Argumenten voneinander abgrenzen und ihr eigenes Wertgefüge an eine höhere, wenn nicht gar die höchste Position stellen, habe ich andererseits auf der Ebene der Namensgebungen und der historischen Verläufe (Kapitel 3 und 4) zu zeigen versucht. Daher ist es hier vonnöten, weitere diskursive Trennungen und Differenzierungen vorzunehmen, um Schlussfolgerungen darlegen zu können. Dass bei den Akteuren aus sozial und materiell besser situierten Familien der Blick in Richtung der Gadže sehnsuchtsvoll und der in Richtung der Roma- / Zigeunergruppen dann konsequenterweise abwertend und zum Teil überheblich ist, habe ich wiederholt angemerkt. Im Falle eines sozial und materiell schlechter konstituierten Herkunftsmilieus richtet sich der Blick zwar auch auf jene anderen prosperierenden Roma / Zigeuner, welche sich ihrerseits den Gadže nähern wollen, doch wird gruppenintern jeder dieser Blicke mit Missgunst und Argwohn betrachtet, da jene Personen (mit den Worten Ramadan Berats oder Rumyan Russinovs) keine »wahren Zigeuner« mehr sind. Zudem ist zu sagen, dass die Akteure aus letztgenannten Milieukonstellationen nach absolviertem Bildungsweg häufiger gruppenextern bleiben als jene, die vergleichsweise potentere Zugänge (materiell, ideell und edukativ) durch ihre Eltern und Großeltern zur Verfügung gestellt bekamen. Sowohl die Sozialisation der materiell besser situierten als auch die der ärmeren Roma / Zigeuner hat sie ein Leben in einer Siedlung oder einer Mahalla erfahren lassen. Wenn sie ihre Fähigkeiten nicht nur für »die« Roma allgemein einsetzen, sondern sie vor Ort, also in ihrer Heimat und Herkunftsgemeinschaft gewinnbringend nutzen wollen, entscheidet letztendlich nicht ihre Bildung, nicht ihre Sprachkenntnis, ihr Doktortitel oder ihr Herkunftsmilieu darüber, wie sie dort empfangen oder angesehen werden. Vielmehr ist es die Art, wie sie ihren Kontakt zur Herkunft auch und gerade während ihrer Abwesenheit gestalten und gestaltet haben, wie es beispielsweise Lilyana Kovatcheva, Michail Georgiev oder auch Rumyan Russinov und Toni Tashev zum Ausdruck brachten (Kapitel 7). Ramadan Berat: »In einem ethnisch nicht homogenen Ghetto zu leben und aufzuwachsen, hat mir bei der Bildung meiner eigenen Identität sehr geholfen. Heute, als ein erwachsener Mann, kann ich sagen, dass ich damals eben die Chancen hatte, meine Freunde zu beobachten, was sie innerhalb und außerhalb der Schule machen und wie sie sich verhalten. Das hat mir die

8  »Am Anfang war Erziehung« oder: Geworden durch Bildung? Gelegenheit gegeben, mich mit ihnen zu messen. Natürlich – ich meine nicht generell – aber meine Generation war so, dass die Gadže glauben und denken, dass ein ›Gypu‹ (Diminutiv für ›Gypsy‹) stinken und schmutzig sein muss, nicht lesen kann usw. Ich hatte in meiner Kindheit mit solchen Sachen sehr oft zu tun. […] Ich erinnere mich aber auch daran, dass meine Eltern immer tough zu uns allen Kindern waren. Wenn da Flecken auf dem Hemd waren oder unsere Haare nicht ordentlich gekämmt waren oder, oder, oder. Um es kurz zu machen: wir hatten das hygienische Minimum. Nicht, weil in der Gegend Nicht-Roma gelebt haben, es war eine sehr multiethnische Gegend zu dieser Zeit. [...] Hauptsächlich ethnische Mazedonen, die eben schon immer in ihrem Siedlungsteil gewohnt haben. Aber für uns, an das, woran ich mich erinnere, meine Kindheit ... Meine Eltern wussten, und es war mir auch sehr schnell klar, dass die [Nicht-Roma]-Eltern immer zu ihren Kindern gesagt haben: ›Benimm dich nicht wie ein Gypo (Zigeuner)!‹ oder ›Er ist ein Zigeuner!‹ und so weiter. Wir waren gekennzeichnet, wir hatten unsere Marke, obwohl die Lehrer manchmal Schwierigkeiten hatten mitzubekommen, dass ich ein Zigeuner bin, ein Rom. Vielleicht auch wegen der Hautfarbe, aber ich bin nicht so dunkel (lacht). Aber die Lehrer hatten ihre Schwierigkeiten damit. Ich bekam dann immer zu hören: ›Bist du sicher, dass du Rom bist?‹ […] Shuto Orizari ist für mich eine Art Ghetto. Viele junge Leute hängen da rum und kommen kaum raus, um die Schönheiten des Landes zu sehen. Diese Freunde hatten eben andere Ziele in ihrem Leben, die ich eben nicht hatte. Ich bin nicht dagegen und respektiere sie, aber ich akzeptiere sie eben nicht unbedingt! Ich hatte einfach andere Ziele und wurde deswegen einfach als ›Gadžo‹ bezeichnet. Und manchmal war ich auch sozial ausgeschlossen.«

8.2 D istanz zur G ruppe : E in universelles P hänomen Eine überwältigende Mehrheit der verwendeten Literatur zu Roma- / Zigeunergruppen zeigt beinahe unisono, dass deren »Gruppenführer« (leader) keinerlei oder nur äußerst begrenzte Möglichkeiten hatten und haben, in das jeweilige Leben anderer einzelner Familien »ihrer« Gruppe oder Gemeinschaft einzugreifen:2 Zum einen, weil ihnen dort, wie auch im Verlauf dieser Arbeit gezeigt, die nötige Legitimität zur Machtausübung fehle. Zum anderen, weil sich ihre Aktionen und Positionen zu weit entfernt von der Gruppe befänden. Gründe für dieses Unvermögen sind zwar auch in ihren regional spezifischen historischen Entwicklungen (z. B. die Reglements der mehrheitsgesellschaftlichen Institutionen oder sprachlich und ethnisch unterschiedlich konstituierte Nachbarschaften) zu suchen, doch im Verlauf dieser Arbeit konnte ich auch zeigen, dass die Gründe u. a. in den sozioökonomischen Voraussetzungen zu finden sind, die die jeweiligen 2 | Zum Aspekt der Distanz zwischen Gruppenvertretern oder -führern und den von ihnen auf institutioneller Ebene vertretenen Gruppen und Gemeinschaften vgl. u. a. Acton 1974: 223; Barany 2002: 291 f f.; Engebrigsten 2007: 117; Grevemeyer 1998: 217; Kaminski 1987: 336; Klimova 2002: 129 f f.; 2005: 5; Marushiakova /  Popov 1997: 49; Pinnock 2002: 245; Stewart 1997: 58.

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familiären Gegebenheiten den unterschiedlichen Akteuren auf den Lebensweg mitgegeben haben. Sie leben wie in »zwei Welten« und sind doch in keiner so recht »zuhause«. Die Akteure stellen zudem keine gemeinschaftlich agierende Gruppe dar, sondern sie sind jeweils Verhandlungsträger zwischen den vielen Publikumsseiten und deren Erwartungen, jeder auf seine ganz besondere Art und Weise, je nach seinen Zugängen. Ob demzufolge nur eine Person mit der entsprechenden Biographie dafür geschaffen ist, diesen Spannungsbogen aufrechtzuerhalten und das Spiel um die Gunst der Publikumsseiten immer wieder für sich zu entscheiden, kann insofern bejaht werden, als ihre Zugänge sich zumeist aus ihren Herkunftsgegebenheiten (re-)generieren lassen. Um aber als »idealer« Roma-Vertreter oder -Führer einer imaginären Gesamtheit »der Roma« Anerkennung zu finden, wie sie es ausdrückten, fehlt es den Akteuren zumeist an einigen Komponenten oder Zugängen. Wenngleich einige mit materiellem Reichtum ausgestattet sind, fehlt es oft an Bildung oder politischer Erfahrung, zwischen Gadže-Instanzen und Roma- / Zigeunergruppe oder -gemeinschaft dauerhaft und von allen Seiten legitimiert zu agieren. In dem Falle, dass beide Zugänge (politische Erfahrung und Reichtum) vorhanden sind, fehlt diesen Akteuren entweder eine Bindung an »ihre« Gemeinschaft oder ihnen fehlt es generell an einer Gruppe, die einem fremden »leader« ihre Stimme schenken würde. Der Zuspruch hängt dabei »nur« von monetärer Distribution ab. Das Erlebnis in Rumänien, das ich einführend im Vorwort erzählt habe, und Nikolaj Kirilovs umfassende Erzählungen bestätigten diese Tatsache. Doch zurück zur hiesigen Diskussion um verschiedene Zugänge. Denn es verhält sich mit jenen Akteuren, die in ihrer Herkunftsregion leben und arbeiten, so, dass sie zwar oft eine große Anhängerschar hinter sich wissen, doch gelten ihre Sichtweisen unter den Nachfolgegenerationen oft als veraltet und als zu traditionsbehaftet – gerade weil die junge Generation in einer stark veränderten Umgebung aufgewachsen ist, in deren Wertesystem sich die ältere Generation nur schwer zurechtfindet. Und genau gegen dieses Verhaftetsein in den Traditionen opponieren dann diejenigen, für die die neuen Werte und Zugänge als etwas Selbstverständliches gelten: die junge gebildete Akteursgeneration mit ihrer eher adaptiven und flexiblen Reaktion auf die kulturellen Werte der Moderne, mit all ihren Herausforderungen. Denn einer dieser Werte – die (gruppenexterne) akademische Bildung – ist für ihr ganz persönliches Zugangsgefüge schließlich der, den sie als den Wichtigsten ansehen. Meinen Daten war eindeutig zu entnehmen, dass die Mehrzahl der hier vorgestellten Akteure in einer Umgebung sozialisiert wurde, in der ihre Nachbarn und Freunde nicht nur Roma / Zigeuner waren. Abzulesen war auch, dass der Verlauf aller Akteursbiographien vielmehr von vorgegebenen und elterlich geprägten Zugängen abhängig ist, als von einer ohnehin zumeist unsteten Sozialisationsumgebung der Akteure, gleich ob sie in oder außerhalb einer Mahalla geboren und aufgewachsen sind.

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»Karriere haben und trotzdem Rom sein. Da gibt es nichts zu bedauern.« Es war nicht normal für jemanden, aus der Gemeinschaft herauszugehen, um bessere Bildung zu haben, auf die Universität zu gehen. Es war auch für die Jungs nicht leicht, aber als Mädchen? Das war wie eine Revolution! Daher bin ich meinen Eltern sehr dankbar. Und meinen Erfolg habe ich ihrer Unterstützung zu verdanken. […] Selbst wenn ich es nicht gewusst habe, ich habe es [auf die Universität zu gehen] getan. Ich habe die traditionelle Kultur behalten, die Beziehungen mit dem Ghetto, mit meinen Verwandten. Aber wir gebildeten Roma haben auch gezeigt, dass wir uns in der Mehrheitsgesellschaft sozialisieren können. Und wenn wir gut und kreativ sind, dann nehmen sie uns auch ernst. Wir haben eine starke Disziplin, wir können eine Karriere haben und trotzdem Rom sein. Da gibt es nichts zu bedauern! Ich kenne Leute, die gebildet sind und jetzt sagen, dass sie keine Roma mehr sind. Das ist nicht gut!  Lilyana Kovatcheva Neben ihrem Verfremdungspotential trägt Bildung als Wert demnach auch ein fast diametral entgegengesetztes Potential in sich, aufgrund dessen schrittweiser Adaption sich das Gefüge der »kulturell fremden« und der »kulturell eigenen« Werte vieler Roma / Zigeuner im Allgemeinen bereits gewandelt hat. Damit wird scheinbar auch eine weitere Isolation von der Mehrheitsgesellschaft verhindert. Erdheim (1992) schlägt vor, für solche Phänomene, die kulturelle Grenzen überschreiten, »den Begriff der Kultur einmal vom Fremden aus zu durchdenken«. Dafür trennt Erdheim die »Orte der Kultur« und die der »Familie« voneinander, wobei Letzterer der Ort »des Aufwachsens, der Tradition, der Intimität im Guten und im Bösen, der Pietät und der Verfemung« sei, wohingegen »Kultur« den Ort der »Innovation, der Revolution, der Öffentlichkeit und der Vernunft« darstelle (ebd.: 185). Gruppenisoliert und der Moderne ausgeliefert, »verkümmert« die »ethnische Identität gleichsam zu einer familiären Identität«, so Erdheim (1992). Ein »Ablösungsprozess von der Familie« wird damit nicht nur »außerordentlich erschwert«, sondern sich von der Familie zu lösen bedeute dann »gleichzeitig, sich von seiner Ethnie abzuwenden, also eine Art Kulturverrat zu begehen.« (Ebd.) »Nein, ich bin wie die anderen Zigeuner!« Natürlich habe ich oft gehört: ›Oh, du bist nicht wie die anderen Zigeuner!‹, oder so etwas. Aber ich habe dann immer gesagt: ›Nein, ich bin wie die anderen Zigeuner!‹ Natürlich war es nicht normal, ein Rom zu sein und unter den Gadže zu wohnen. Es gab nur einige wenige Familien, die so gelebt haben. Okay. Meiner Meinung nach bin ich aber normal und keine Ausnahme. Für mich ist es keine Ausnahme, wenn jemand gebildet ist. Und nebenbei, ich bin nicht der Einzige, der einen Universitätsabschluss hat. In meiner Stadt gibt es vielleicht 50 Leute von 1000 Leuten damals. Als ich ein Kind war, lebten dort

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ca. 1000 Roma. Unter denen haben 50 eine Universitätsausbildung. Ich kann dagegen ein anderes Beispiel geben von Vidin: Vidin ist die Distrikthauptstadt. Unter den 13.000 bis 15.000 Roma in den Mahallas dort sind zwei bis drei Leute mit Universitätsausbildung. Aber dort finden Sie diese Integration nicht. Es ist eher eine Segregation dort: Da gibt es die Mahalla hier und die Segregationsschule und die Stadt hier. Und es gibt dazwischen, wie soll man das sagen, so etwas wie eine Grenze. Und da gibt es 15.000 Roma mit drei Leuten, die einen Uni-Abschluss haben und hier haben wir 50 gebildete Roma. Aber das sind 15.000 hier! Deshalb sage ich, dass ich viele Freunde auch hier habe, die Ingenieure oder Lehrer sind oder eben die Wirtschafts-Uni hier in Sofia besucht haben, welche ich auch abgeschlossen habe. Dunavtsi [mein Herkunftsort] ist ein gutes Beispiel, welches gezeigt hat, dass die universitäre Ausbildung absolut möglich ist. Wenn man eine normale Beziehung zwischen Roma und Nicht-Roma hat und eine normale Integration. Wenn man respektiert ist, nicht weil man die Identität als Zigeuner versteckt, sondern weil die Leute wussten, dass man Zigeuner ist. Das war sehr wichtig. Weil zum Beispiel, wenn man in einer großen Stadt wohnt und hierher zieht (zeigt auf einen entlegenen Punkt außerhalb des Kreises, der die Stadt symbolisiert) und hier kann man seine Identität verstecken. Man kann hier sehr schnell bulgarisiert werden. Aber hier (zeigt wieder auf den Kreis, der Dunavtsi versinnbildlicht) kann man seine Identität nicht verstecken, denn die Leute kennen dich. Die Gesellschaft kennt dich und man kann einfach Zigeuner sein.  Rumyan Russinov Aufgrund der unzählige Ländergrenzen überschreitenden Migrationen vieler Gruppenmitglieder und aufgrund der sich vielfältig abgrenzenden und voneinander segmentierenden Gruppen scheint es also, als ob hier vielen Akteuren »die eigene Kultur zur Familie verkümmert«, wie es Erdheim (1992) ausdrückte. Und infolgedessen würden diese Personen »die fremde Kultur als den bedrohenden Gegensatz« erleben (ebd.: 190). Doch die meisten der hier vorgestellten Akteure empfinden die verschiedenen sie umgebenden Kulturen weder als das absolut Eigene noch als das absolut Fremde. Wie sollten sie auch? Ihre Intention ist nicht mehr nur allein auf ein alltägliches Leben in den Kulturen aus, sondern darauf, zwischen ihnen vermitteln, mediieren zu können. Ihre Distanz ist daher nicht mehr nur in der einfachen Differenz »Roma – Gadže« begründet, sondern muss darüber hinausgehend herausgearbeitet werden. Denn die Beständigkeit dieser Distanz nährt sich aus vielen weiteren, von ihnen zu lebenden und zu vermittelnden Dualismen: alte und junge Generationen und deren Ansichten, sozialistische und demokratische Regimeeinflüsse auf die Biographie, christliche und muslimische Religion, sprachliche und materielle Differenzen, Traditionen und Moderne, familiäre und institutionelle Erwartungen, makrosoziale »Roma-Schablonen« und mikrosoziale Macht- und Prestigekonstellationen.

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8.3 M ediation und Tr anskultur alität : D a z wischen mittendrin 8.3.1 Vermittlung: Interpretation und Er wartungen Zur »political leadership« von »British Gypsies« notierte Acton (1974) seinerzeit, dass sie die Beziehungen mit der »host-community« regulieren würden. Und Acton spekulierte weiter, dass ihre Macht und ihr Einfluss sich aus dem Vermitteln der beiden Seiten »the Gypsy and the host society« herleiten würden (ebd.: 98). Gruppenintern »interpretieren [sie] die Forderungen und Methoden der Gadže«, während sie gruppenextern die Roma / Zigeuner und »ihre Forderungen repräsentieren« (ebd., m. Ü.). Und so bezeichnete sie Acton auch als eine »mediatorial leadership«. Zwar kann ich seine Beobachtung, infolge derer es sich dabei auch um einen »Gadže« handeln könnte, mit meinen Daten nicht bestätigen, doch ist ihm zuzustimmen, dass dazu nur solche Personen imstande sind, die bereit wären, »in beiden Welten zu leben« (ebd., m. Ü.). Vor diesem Hintergrund, den auch die Akteure dieser Arbeit ausdrückten, möchte ich hier rückbesinnend auf die Erwartungshaltungen verweisen, die viele Gadže-Institutionen an eine »Roma-Elite« haben. Sie sollen als »communicators and mediators of the positions of their community to their non-Roma audience« agieren (Novoselsky 2007: 155). Dabei ist Novoselsky als ukrainischer Rom und Mitglied der IRU in seinem Artikel gleichzeitig davon überzeugt, dass die »nonRoma« die »jungen und gebildeten Roma-Aktivisten als offizielles diplomatisches Korps anerkennen, die ihre Gemeinschaft repräsentieren« würden (ebd.: 155, m. Ü.). Zu deren Aufgaben gehören für ihn die »Schaffung und Vertiefung von Beziehungen [...], das Verstehen anderer nationaler und kommunaler Notwendigkeiten [und] die Identifizierung von Räumen gemeinsamer Werte und Interessen« (ebd.: 153, m. Ü.). Wie im historischen Abschnitt zu erfahren war, wurden die »Sherudne« oder die »Tsari Bashi« usw. der verschiedenen Roma- / Zigeunersiedlungen erst aus dem Anspruch der Gadže-Institutionen heraus ernannt bzw. erst durch den Anspruch einer Mediation (der Abgaben) an die entsprechenden Gadže-Herren erforderlich. Auch Nirenberg (2009) bestätigt diesen Fakt und gibt an, dass »for relations with outsiders, in many cases a go-between figure emerged« (ebd.: 95). Um mit der jeweiligen Machtstruktur der Mehrheitsgesellschaften verhandeln zu können (früher eher militärisch, heute vorrangig politisch orientierte Strukturen), sind solche Akteure als benötigte und praktische Notwendigkeit entstanden (vgl. ebd.). Dabei ist aber auch die Trennung zwischen gruppeninterner Führerschaft und institutioneller Vertreterschaft, zumindest was die historischen Betrachtungen betrifft, erhalten geblieben. Wenn man so will, handelt es sich bei den heutigen Tendenzen um eine Revitalisierung der Aufgabenbereiche, beispielsweise des früheren Siedlungschefs von Roma- / Zigeunersiedlungen zu vorsozialistischen Zeiten, die

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bis zum heutigen Tag in verschieden mutierten Formen zu finden sind: ob im Verschuldungsnetz verschiedener Personen in der Mahalla (siehe z. B. Toni Tashev, Abschn. 5.1.3 sowie Abschn. 4.1 und Feldtagebuch Shutka III »Shutka-Taxis«), bei der Übernahme der Stimmenabgabe bei Wahlen (siehe Anmerkungen über Wahlvorgänge in Shutka oder Lom) oder auch bei den unterschiedlichsten Vermittlungen (Alvin Salimovski, Ramadan Berat etc.). Und damit kann an dieser Stelle hervorgehoben werden, dass sich jeweilige Position (oder Stellung) und Aufgaben dieser »Roma-Führer« nur unter bestimmten Gesichtspunkten gewandelt haben, ganz im Sinne der makrosozialen Umgebungen und Settings. Doch ihre sozial-kulturelle Immanenz hat kein Quäntchen an gruppeninterner Bedeutung verloren. Ebensowenig trifft das für die »junge gebildete Elite« zu. Denn sie ist eine von der Weltbank und dem OSI geschaffene Bildungselite, die als »Romani-Zivilgesellschaft« funktionieren soll, um für den Input der Roma Dekade zu sorgen (vgl. Nirenberg 2009: 102). Wie im Verlauf der Arbeit aufgezeigt und belegt wurde, muss hier Nirenberg zugestimmt werden, dass gleichzeitig andere Geldgeber »ever-more-grassroots Romani leaders« geschaffen haben, die ebenso auf entsprechenden Bühnen agieren und Erwartungshaltungen zu interpretieren versuchen (ebd.). So verweist Nirenberg in seinem Artikel auch auf die Erwartungshaltung vieler (Gadže-)Institutionen, dass jede der verschiedenen Roma- / Zigeunergruppen einen Führer auf Seiten der europäischen Machtstrukturen vorweisen können muss (ebd.: 95). Die hier vorgestellten Akteure bestätigten auch diesen Punkt. Ergo: In themenspezifischen Konzeptionalisierungen und Betrachtungen des Verhältnisses von Roma- / Zigeunergruppen mit deren Umgebungsgesellschaften ist der Dualismus »Roma / Zigeuner – Gadže« erhalten geblieben. Die Quellen geben daher nicht nur mehrheitlich kund, dass Roma- / Zigeunergruppen in sehr verschiedenen Konstellationen mit- und nebeneinander lebten und leben, sondern auch ironischerweise die beständige institutionelle Erwartung, dass jede Roma- / Zigeunergruppe einen legitimierten Führer habe, der die vermittelnde Instanz der Gruppe sei. Damit ist Acton (1974) zum wiederholten Male zuzustimmen: »The ›local leaders‹ were diverse in character. Some were older men with established positions; some were younger men […]. Some were idealistic; others were more materialistic and instrumental in their approach. Some were rich, some relatively poor; some were for schools and sites, while others were against them, and merely sought an end to harassment.« (Ebd.: 223)

Folglich existieren verschiedene »leader« zu verschiedenen Anlässen und Kontexten. Alle eint mehr oder weniger die Hoffnung, ihr Prestige heben zu können: durch die Vermittlung nicht nur von wichtigen Kontakten, u. a. in die Mehrheitsgesellschaft, sondern auch durch verschiedene weitere Zugänge. Dass nicht nur die Nähe zur Gruppe, sondern auch die materiellen und sozialen Voraussetzungen (der Familie und der Umgebung) dabei eine wichtige Rolle spielen, ist klar

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geworden. Prestige endet jedoch für die Akteure dort, wo ihr jeweiliger Referenzrahmen endet: an der Grenze ihres Vermittlungsraumes – ob bei der Verteilung der Ressourcen innerhalb der Familie oder Gruppe, beim Bereich ihrer Unterstützer, ihrer Klientel, die aus den Personen besteht, die in Distribution und im Diskurs involviert sind, oder aber dort, wo ihr angestrebter Wert gruppenintern nicht mehr als »zu verwirklichender Wert« erfahren wird. Fasst man diese verschiedenen Personen nun zusammen und bringt sie unter eine »Roma-Schablone«, wie auf gruppenexterner Seite durch die Zeit­ epochen hindurch geschehen, genügt der einfache Dualismus »Roma / Zigeuner – Gadže« nicht mehr; auch nicht, um die Positionen und Meinungen der Akteure zu erfassen, denen ich begegnet bin. Doch nicht nur die älteren Quellen, sondern auch die jüngere Literatur zu Roma- / Zigeunervertretern oder -eliten bleibt wider besseres Wissen beim Thema der Mediation diesem simplen Dualismus verhaftet. In einer jüngst erschienenen sozialpolitischen Argumentation von Bernhard (»Konstruktion von Inklusion« 2010) ist entsprechend zu erfahren, dass derartige Akteure, »die nach wie vor dem Solidaritätsprinzip verhaftet sind«, zwei »Hindernissen« gegenübertreten müssten: »nämlich in erster Linie den Akteuren im Feld der Inklusionspolitik« – in meinem Beispiel wären das die Mitglieder der Roma- / Zigeunergemeinschaft –, und auf Seiten der jeweiligen GadžeInstitutionen wiederum sehen sie sich dann der »Kompartimentierung der lokalen, nationalen oder internationalen, sozialpolitischen Instanzen gegenüber« (ebd.: 270 ff.). Aber wenn dieser einfache Dualismus über eine so lange Zeitspanne hinweg bekannt, erforscht und immerzu perpetuiert ist, dann muss man sich doch fragen, wie es möglich sein kann, dass bis zum heutigen Tage wiederholt die Frage nach dem scheinbar fortwährenden »Misslingen« vieler Integrationsprogramme gestellt wird. Die gruppenexterne Rezeption und damit die Erwartungshaltungen durch die verschiedenen Gadže-Instanzen gegenüber den Roma- / Zigeunervertretern sind den historischen Bedingungen zwar ebenso ausgesetzt wie es auch die Roma- / Zigeunergruppen waren und sind. Doch alterierte der Handlungsrahmen dieser Institutionen im Kern ebenso wenig wie es auch vom scheinbar bipolaren Verhältnis vieler Roma- / Zigeunergruppen zu den jeweiligen Mehrheitsgesellschaften behauptet werden kann: alltagsweltliche Vorurteile, Diskriminierung und Verachtung (Exklusion) stehen eng mit den eher institutionell geprägten Begriffen wie Integration, Bildung und Anhebung des Lebensstandards (Inklusion) im Zusammenhang, wenn über Roma- / Zigeunergruppen und ihre Zukunft auf institutioneller Ebene verhandelt wird. Nach all dem hier Erkenntlichen und wiederholt Gesagten möchte ich schlussfolgernd dazu aufzufordern, beim Betrachten von Akteurshandlungen wie den hier vorgestellten die von den Akteuren gelebten Differenzen zu berücksichtigen. Im Kontext der hier betrachteten Roma- / Zigeunergruppen sind sie daher nicht mehr einfach nur mit einem einzigen Dualismus »Gadže–Roma / Zigeuner«,

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sondern jeweilig mit ihren Umgebungsgesellschaften und -gemeinschaften sowie den von ihnen individuell zu vermittelnden Erwartungshaltungen und ihren entsprechenden familiären Hintergründen zu betrachten. »Die meisten besitzen mehrere kulturelle Herkünfte und Verbindungen«, argumentiert Welsch in seinem Beitrag »Auf dem Weg zu transkulturellen Gesellschaften« (2005: 326, H. i. O.). Welsch sprach bereits im Jahr 1994 davon, dass »für jede Kultur [...] heute tendenziell alle anderen Kulturen zu Binnengehalten oder Trabanten geworden« seien, und begründet so sein Postulat einer »Hybridisierung der Einzelkulturen« im Konzept der »Transkulturalität« (vgl. Welsch 1994). »Wir alle sind kulturelle Mischlinge«, zitierte ich bereits eingangs aus seinem jüngeren Beitrag von 2005. Im selben Band stellt Klaus Lösch »Transdifferenz« als das analytische Konzept vor, das uns »ermöglicht, Phänomene zu untersuchen und zu beschreiben, die mit Modellen binärer Differenz nicht erfasst werden können« (Lösch 2005: 26). Und mit diesem Konzept der »Transdifferenz« ließen sich meine Daten – die Ausführungen meiner Akteure – überraschend klar erfassen, was mir bis dato die einfache Dualisierung nicht bieten konnte. Und mehr noch: Das Konzept der »Transdifferenz« bot mir schließlich die Möglichkeit, über die Identität, den Begriff des »Januskopfes« und den Begriff der »Heimat« vor dem Hintergrund der hier diskutierten Akteure erschöpfender reflektieren zu können, wie ich im Folgenden zeigen werde.

8.3.2 Mehr als nur ein »Januskopf« Ein »idealer Roma-Repräsentant« würde demnach auch als ein »idealer« Januskopf gelten können, der beide Gesichter auf die jeweiligen Publika richten kann und ihre Erwartungen erfüllt. In seinem Konzept sprach Wolf (1956: 1075) von den »janusköpfigen Brokern«, die zwischen Gemeinschaften und Gesellschaften bzw. deren nationalen Institutionen vermitteln würden, ohne jedoch den Konflikt voll lösen zu wollen, denn »by doing so they would abolish their own usefulness to others« (ebd.: 1076). Infolge der hier geführten Argumentation muss dem hinzugefügt werden, dass weitere und für die Akteure tatsächlich unlösbare Dualismen auf dem Plan stehen, zwischen denen es zu vermitteln gilt, wie beispielsweise die stark traditionellen Erwartungen in den verschiedenen Gruppen, die aus der Makroperspektive heraus eher monolithisch zu sein scheinen, doch sich beim näheren Betrachten ganz verschiedenartig darstellen. Die Existenz eines »idealen Führers« bzw. die Möglichkeit, durch Aktionen allen Erwartungen entsprechen zu können, wurde von allen meinen Gesprächspartnern verworfen. Und so dürfte hier nun klar geworden sein, dass der Grund dafür in der Verschiedenartigkeit der entsprechenden Personen und ihrer Umgebungen zu finden ist und sich nicht mehr nur mit einem einzigen Dualismus begründen lassen kann. Daher laufen die Akteure meiner Arbeit nicht generell Gefahr, durch ihre Arbeit ihre eigene Position zu schwächen oder gänzlich aufzulösen, wie Wolf es oben für die Akteure seiner Studie darstellte. Denn die hier

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vorgestellten Akteure vermitteln nicht ausschließlich nur zwischen »den Gemeinschaften und der Gesellschaft«. Die traditionelle Sichtweise einer Zweiseitigkeit ihrer Aktionen ist damit hinfällig. Sie sind von vornherein mehr als einfache »Janusköpfe«, wie sie Wolf anhand seiner Daten aus dem post-kolumbianischen Mexiko herausgearbeitet hat: Die hier vorgestellten Akteure sind »über Dualismen hinaus«3, denn die Zahl der Bühnen, auf denen sie agieren, ist größer als zwei, ihre Perspektiven komplexer, als dass sie nur mit »gruppenintern« und »gruppenextern« bezeichnet werden könnten. Denn verschiedene Roma- / Zigeunergruppen haben verschiedene Idealbilder und Prestigeskalen, verschiedene Akteursgenerationen haben unterschiedliche Sozialisationen und Beziehungen, und in den verschiedenen Gruppen existieren mehr als nur der eine Führer bzw. Vertreter, auf denen die (gruppenexternen) institutionellen Erwartungen ruhen. Nadir Redzepi: »In der Zeit Jugoslawiens war die Führerschaft innerhalb der Mahallas hauptsächlich oder immer in den Händen der älteren Leute. […] Das war der traditionelle Weg des Respekts. Vielleicht weil sie weiser sind usw., und die leaders waren auch sehr religiös. Also oft muslimisch. Sie sind oft in die Moschee gegangen und waren auch von den Albanern und von den Türken respektiert. Sie haben auch an Entscheidungsprozessen teilgenommen, die die muslimischen Aktivitäten in der Stadt betreffen. Es war eigentlich so. Aber es gab keine offiziellen Delegationsprozesse. Und es gab auch nicht immer nur einen einzigen leader. Jede Mahalla hatte immer drei oder vier solche leader.«

8.3.3 »Moderne Zigeuner«: Identität weiterhin im Wandel Die Akteursdarstellungen haben hinlänglich gezeigt, dass ihre jeweiligen »Identitätsnarrationen« mit »mindestens einer anderen Identitätsnarration einer anderen Gruppe verschränkt« sind (Lösch 2005: 35) und nur im Zusammenhang mit ihr einen Sinn ergeben.

3 | Siehe Konferenz »Über Dualismen hinaus. Regionen – Menschen – Institutionen in hybridologischer Perspektive« (Schleife / Slepo 27.–30. Oktober 2011), die mir die konzeptionelle Überschreitung des einfachen und meine Argumentation einengenden Dualismus möglich machte. So bestätigte auch Siegfried J. Schmidt mit seinem Konferenzbeitrag »Dichotomisierung – ein fatales Instrument der Komplexitätsreduktion«, welche Gefahren es in sich birgt, wenn auf realitätsnahe Jetztzeit-Darstellungen mit längst veralteten Dualismen geantwortet wird, was mir meine Daten unmissverständlich widerspiegelten.

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»Die Moderne soll die ›Zigeuner-Identität‹ auswaschen?« Wir können nicht sagen, dass die Bildung unsere Identität wegwäscht. [...] Wir haben keine Bulgaren, die in Häusern leben, die mehr als tausend Jahre alt sind oder so alte Kleidung tragen. Sie haben die Moderne akzeptiert. Die Moderne hat die ›Bulgarität‹ nicht ausgewaschen, aber die Moderne soll die ›Zigeuner-Identität‹ auswaschen? Das können wir einfach nicht sagen! Wir sind da genauso wie andere. Wir als eine Nation, wir die Zigeuner, wenn wir in der Moderne leben, werden wir eben zu modernen Zigeunern!  Rumyan Russinov Diese Identität benennt Lösch (2005) nach Hall (2000) als eine »diasporische Identität«, welche »das dichotome Schema ›Selbst / A nderer‹ überwindet« (ebd.: 37 ff.), und er führt aus, dass sich in ihr »die kulturellen Semantiken der Herkunftskultur und der Aufnahmekultur partiell überlagern und in ein spannungsreiches und teilweise widersprüchliches Verhältnis gesetzt werden.« (Ebd.) Doch dieses Verhältnis »von Eigenem und Anderem, entfremdeten Eigenem und angeeignetem Anderem im Selbst« muß von der Person selbst getragen und ausgehalten werden, um es »nach Möglichkeit auch kreativ zu nutzen« (ebd.: 38). Und mit Lösch schließt sich, wenn man so will, der Argumentationskreis, der mit meiner Frage begann, ob Roma- / Zigeunervertreter in den Positionen der GadžeInstitutionen die legitimen Vertreter und Repräsentanten der Roma-Gruppen oder Gemeinschaften seien: »Die Möglichkeit einer exklusiven Selbstrepräsentation, die gerade auch von Minoritäten – genauer von Vertretern ethnonationalistischer Positionen innerhalb von Minoritäten – immer wieder postuliert worden ist, wird durch die Einsicht in die dialogische Qualität von kollektiven Identitätsnarrationen als illusionär ausgewiesen.« (Ebd.: 35)

8.3.4 Der transkulturelle Heimatbegriff und Heterotopien Traditionen und Weltoffenheit Am Anfang hatten sie [unsere Eltern] nicht genug Zeit für uns. Aber dann, als wir so ungefähr in der Pubertät waren, so um die 14 Jahre alt, dann hat er [unser Vater] uns ein paar sehr wichtige Stationen des Lebens nähergebracht. Wie zum Beispiel, dass es gut ist, in Skopje zu sein und auch, wie du deinen sexuellen Appetit kontrollierst und wie du damit umgehst, etc. Er hat eigentlich sehr auf seine Söhne geachtet und meine Mutter auf das Mädchen. Aber auch ... ich meine, wir hatten eigentlich kein Tabu. Mein Vater hat immer gesagt, sogar zu meiner Schwester, als sie 19 Jahre war, hatte sie ihren ersten Freund und wir waren alle glücklich damit und wir alle kannten ihn. Wir sind gemeinsam ausgegangen, mit ihr. Und dann sagte mein Vater: ›Suse, vergiss nicht, dass du ein

8  »Am Anfang war Erziehung« oder: Geworden durch Bildung?

›Romani-chai‹ (ein ›Roma-Mädchen‹) bist! Er wird dich fragen, ob er dich küssen darf, dich anfassen darf und was weiß ich alles! Du kannst ihm alles geben, bis hierher (zeigt mit der Handfläche auf seinen Unterbauch, kurz über der Hüfte). Und von hier nach unten nicht! Du weißt, was ich sagen will, oder? Du kannst ihm erlauben, dich bis hierher zu berühren. Und von deinem Unterbauch bis nach unten nicht! Denn du bist ein Romani-chai!‹ Ich denke, das hat uns allen sehr geholfen. Wir haben weltoffene Eltern, und sie wissen, wie sie es anstellen müssen, einen Rat zu geben und uns großzuziehen, ins Leben.  Ramadan Berat Inwieweit die Herkunftsgemeinschaft eine Heimat für die Akteure darstellt, fragte ich u. a. zu Beginn der Arbeit. Die materiell oft schlechter gestellten Mitglieder der verschiedenen Roma- / Zigeunergruppen, welche zeitlebens in ihrer Mahalla gewohnt und einen eher traditionellen Lebensweg (im Sinne des Traditionsverständnisses der jeweiligen Familie) beschritten haben, erleben ihre Heimat als eine »naturwüchsige« Kategorie, um mit Welsch (2005: 340) zu sprechen. Doch um sie als eine »kulturelle und humane Kategorie« begreifen zu können, müsse diese Heimat zur »wirklichen Heimat« werden, indem sich der Mensch »bewusst zu ihr entscheidet«, weil er sie »nachträglich eigens gewählt oder bejaht« hat (ebd.). Vor diesem Hintergrund sei dann »Heimat das Entronnensein« (Adorno und Horkheimer 1994, so zit. in Welsch 2005: ebd.). Doch nur die wenigsten Akteure, die in ihre Herkunftsnachbarschaft zurückgegangen sind, erlebten diese als eine sie empfangende Heimat, im Unterschied zu jenen, die nur ihre Familie und ihre Sozialisation in einer ethnisch heterogenen Umgebung als Heimat betrachteten. In der Perspektive der Mitglieder von Roma- / Zigeunergruppen, die in den zahlreichen Mahallas wohnen und kaum Kontakt zu solchen Familien wie denen von beispielsweise Ajet Osmanovski, Rumyan Russinov oder Ramadan Berat haben, steht außer Frage, dass diese in ihren Augen gruppenisolierten Personen mit ihrer »herkömmlichen Zeit brechen«, dass sie längst keine Roma / Zigeuner mehr seien. Ihre Herkunft als Roma / Zigeuner wird folglich angezweifelt und nicht selten als »utopisch« gesehen. Bei Foucault (1990) ist zu lesen, dass Orte, die als »tatsächlich realisierte Utopien« gelten können, »in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind«, als »Heterotopien« zu bezeichnen sind (ebd.: 39). Sie sind, so Foucault, »wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager«, die ihr »volles Funktionieren erreichen, wenn die Menschen mit ihrer herkömmlichen Zeit brechen.« (Ebd.: 43)

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Tradition der Roma und Moderne der Gadže? Früher war die Folklore der Roma viel mehr respektiert als heute. Das bringt dann viele Fragen mit sich. Zum Beispiel: Sind wir die Roma, die wir waren oder haben wir begonnen, uns in unsere Umgebungen zu integrieren oder zu assimilieren? Und was meine Sicht ist, als ein Anthropologe oder Ethnologe, dass viele junge Roma sich integrieren wollen oder gar dasselbe wie die Gadže sein wollen. Und wenn wir fragen: ›Warum?‹, dann denke ich, dass sie wie die Gadže sprechen wollen, die Kleidung wie sie tragen wollen. Also total darin aufgehen, was der Weg und die Art der Gadže ist. Und das eben nur, weil sie einfach nicht mehr diskriminiert werden wollen. Wenn wir sagen, dass das vor ca. fünf Jahren war, wenn das der einzige Grund war, einfach nicht mehr diskriminiert zu sein, sehen wir heute, dass es wie ein Automatismus geworden ist. Roma benutzen mittlerweile untereinander nicht mehr ihre Sprache, sondern sie sprechen mazedonisch mit- und untereinander. Und wenn du sie fragst: ›Warum?‹, dann sagen sie, dass es einfach aus einem Automatismus heraus kommt.  Daniel Petrovski »Wir haben keine Hierarchie zu Hause!« Meine Eltern sind sehr moderne Leute. Meine Eltern sind nicht so wie die anderen Leute. Sie haben einen sehr modernen Blick auf das Leben. […] Ich habe das Glück, nicht in Shutka geboren zu sein und unter Mazedonen zu leben und nicht unter Roma. Wenn du in einem Ghetto lebst wie in Shutka, ist es hart / schwer gebildet zu sein. Sie haben eine große Angst herauszugehen, Angst nicht akzeptiert zu sein unter den Nicht-Roma. […] Dort zum Beispiel ist es so, wenn du mit deinem Vater über Aids reden willst, dann ist es einfach verrückt. Es ist unmöglich, über Probleme zu sprechen oder etwas zu fragen. Als ich 15 Jahre alt war, haben meine Eltern mir überall hin Kondome gesteckt und meine Mutter sagte, dass sie nicht will, dass ich eines Tages mit einem Mädchen komme, das schwanger ist. Sie hat sich sehr gut informiert, Dokumentationen darüber gelesen und sie ist wie verrückt, wenn sie über solche Probleme etwas hört. Und wir sind in erster Linie Freunde mit meinen Eltern. Natürlich respektiere ich sie, sie sind meine Eltern. Sie haben mir in meinem Leben geholfen, sie haben mich finanziert, aber wir sprechen auf einer Ebene miteinander. [...] Nein, wir haben keine Hierarchie zu Hause. Zum Beispiel, als wir ein Auto kaufen wollten, haben wir uns zusammengesetzt und alle fünf haben mit entschieden. Mein Vater trifft nicht allein alle Entscheidungen.  Ajet Osmanovski

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Im fünften Grundsatz der Heterotopien schreibt Foucault (1990), dass »Heterotopien immer ein System von Öffnungen und Schließungen voraussetzt, das sie gleichzeitig isoliert und durchdringlich macht« (ebd.: 44). Und mit der Begrifflichkeit der Transkulturalität, wie sie bei Welsch (2005) zu finden ist, kann hier in Verbindung damit das Phänomen der »Unterscheidung zwischen kultureller und nationaler Identität« begründet werden, wie es in vielen Akteursnarrationen zu finden ist. Denn diese Entkoppelung »wird elementar wichtig« für diejenigen, deren Identität »diasporische« Merkmale trägt (ebd.: 328). Die »moderne Roma- / Zigeunerfamilie«, die in einer gemischten Umgebung lebt und deren Mitglieder in Positionen tätig sind, in denen sie repräsentative Aufgaben erfüllen, hat dieser Argumentation nach heterotopischen Charakter. Diese Akteure brechen, wenn man so will, mit herkömmlichen Roma- / Zigeunertraditionen, sprechen in ihrem eigenen »Zuhause« oft die Sprache der Mehrheit und wollen dennoch mit Integrationsprojekten dafür sorgen, einige der Traditionen in der Moderne aufgehen zu lassen. »Wir sollten die alten schlechten Sachen loslassen und einen Schritt vorwärts gehen.« Wenn wir wirklich sehen wollen, wie die Dinge sind, müssen wir uns 20 Jahre zurückbewegen. Für Shutka kann ich sagen, dass wir zwei Schritte gegangen sind. Wir wollen leben, wie es auch andere (Gadže) tun. Es ist Fakt, dass wir unseren Eltern und Alten zuhören sollten, und wir wissen, dass sie Recht haben. Aber es gibt [auch andere] Dinge: Wenn wir über unsere Zukunft entscheiden wollen, dann müssen wir uns auch nach uns richten und nicht nur ihren Meinungen folgen. Ich kann für mich selbst sagen, dass ich mich nicht von der Meinung meiner Eltern eingrenzen lasse. Ich habe meine eigene! Jeder will auf die nächsthöhere Stufe steigen, von wo aus er startet oder wo er selber ist. Das ist normal. Für mich kann ich sagen, dass es genug der alten Traditionen der Roma ist. Lasst uns ein anderes Blatt aufschlagen! Ich habe viele Informationen über das Leben anderer Roma in der Welt, die den Gadže zeigen, wie die Roma leben. Aber ich will zeigen, dass nicht alle Roma in diesen Konditionen leben wollen oder sollten. Es gibt sehr viele Roma in der EU, aber sie können ihren Traditionen nicht folgen oder ihnen wird von den Gadže nicht gestattet, ihren Traditionen zu folgen, also dem Weg ihrer Eltern. Sie bringen sich in das Leben der Länder ein, wo sie leben, auch wenn es Italien oder Deutschland ist. Wenn sie das Leben hier lieben würden, würden sie nicht in diese Länder gehen, um dort zu leben. Ich will es sagen, wie ich die Dinge sehe: Meiner Meinung nach sollten wir unsere Traditionen respektieren, aber auch einige Dinge in der Tradition gehen lassen. Wir haben die frühen Heiraten und andere Sachen. Wir sollten die alten schlechten Sachen loslassen und einen Schritt vorwärts gehen.  Elvis Bajram

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Wird zu Betrachtungs- und Analysezwecken derart multiplexer Dynamiken von Identifizierung, »ethnischer« oder »kultureller« Zuschreibung, Herkunft und Selbstverortung, wie sie durch die Akteure dieser Arbeit zur Sprache kamen, nur ein einziger Dualismus hergenommen, hält man, um mit Schmidt (2011) zu sprechen, ein »fatales Instrument der Komplexitätsreduktion« in den Händen. Legt man jedoch diese Differenzierung allen weiteren Differenzen zugrunde und argumentiert mit einer »Transdifferenz« (Lösch 2005) und »Transkulturalität« (Welsch 2005), trägt diese Argumentation andere Früchte. Und so möchte ich mit dem, was Welsch über das Konzept der »Transkulturalität« rät, diesen Abschnitt schließen: »Man möge dieses Konzept einmal wie eine Brille erproben. Vielleicht vermag man dann neue Dinge zu sehen und vertraute Dinge anders zu sehen. Mancher mag diese Brille dann auch aufbehalten, weil er merkt, dass er die Welt jetzt besser versteht.« (Ebd.: 341)

8.4  »E litengürtel« – Z wischen M acht und M ahall a Im Betrachtungszentrum jener Quellen und Perspektiven, die ich auf der »Ma­ kroebene« (s. Kapitel 3) verortet habe, stehen solche Roma- / Zigeunergruppen, deren Lebensstandard, Bildung und Zugang zur Infrastruktur allgemein sich auf einem prekären Minimum befinden, das auch ich, nach meinen vielen Besuchen und Aufenthalten in solchen Siedlungen, als menschenunwürdig empfand. Doch bleiben diese materiell unterprivilegierten und unter den anderen Roma- / Zigeunergruppen als prestigearm geltenden Familien weitestgehend vom Prozess der Elitenbildung unangetastet. »Keine Elektrik, kein Wasser, wie in Slums.« Da gibt es hier zum Beispiel eine illegale Mahalla in der Nähe des Flusses. Dort gibt es keine Elektrik, kein Wasser usw., wie in Slums. Wir haben versucht zu helfen und sind oft dorthin gegangen mit wichtigen Leuten mit Senatoren, vielen Botschaftern, aber das Problem wurde nicht gelöst. Das Problem ist einfach zu groß! Das Land gehört nicht ihnen, sie sind seit 40 Jahren hier, die sind aus Kosovo gekommen, arbeiten in einigen schwarzen Jobs hier in der Stadt, aber haben niemals angefangen, sich zu registrieren.  Nadir Redzepi Zudem besaßen diese Gruppen nur äußerst selten ein Mitglied, das eventuell schon zu kommunistischer Zeit ein Amt, eine Stellung oder eine leitende Position in den Institutionen der Mehrheitsgesellschaften innehatte. Damit bleiben sie auf ihre Art und Weise auf solche lokalen Akteure angewiesen, wie sie hier vorgestellt wurden. Wenn man so will, umschließt ein aus unterschiedlichen Personen bestehender Gürtel diese Gruppen, hält sie, wenngleich nur teilweise,

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virtuell zusammen und passt sich den Gegebenheiten sowohl innerhalb als auch außerhalb des ›zwischen Macht und Mahalla‹ vermittelnden Eliten-Gürtels an. Zwar sind die Unterschiede zwischen den Personen, die den »Gürtel« ausmachen, im Einzelnen derart gravierend, dass die Substanz des Gürtels sehr brüchig und fragmentarisch erscheint. Doch ist dies nicht das Ergebnis der jüngeren oder jüngsten Geschichte. Die Heterogenität im Geflecht der unterschiedlichen Roma- / Zigeunergruppen in Verbindung mit den institutionellen Erwartungshaltungen der Mehrheitsgesellschaften spiegelt sich seit jeher im Elitenbildungsprozess dieser Gruppen wider: ob im byzantinischen oder Osmanischen Reich, in Jugoslawien, im heutigen Mazedonien oder Bulgarien. Der Roma- / Zigeuneraktivismus und die damit in Gang gesetzte Debatte um eine ethnisch definierte, politische Partizipation dieser Minderheit(en) können somit als Resultat jener Perspektiven auf diese Gruppen gelten, die vorrangig in den Institutionen der Mehrheitsgesellschaften wenngleich nicht immer generiert, so aber zumindest praktiziert worden sind. Diese Perspektiven haben damit die Formen und die daraus hervorgegangenen Dynamiken durch ihre Selbstbeschränkung mitbestimmend geprägt. Branislav Petrovski: »Als wir hier noch in Topaana gewohnt haben oder als die Roma hierher nach Shutka gekommen sind, haben die nichts mehr über Religion gewusst. Und ich sage Ihnen, dass Gott sich heute viel weiter von uns entfernt hat als in der Zeit des Sozialismus oder Kommunismus. Da haben wir alle zusammengelebt, manchmal sogar alle zusammen in einem Raum, und die jüngere Generation hat die alte respektiert. Die Gesichter der Leute haben öfter gelacht und sie waren einfach in einer besseren Stimmung untereinander. Da kannten die Roma noch ihre Traditionen, ihre Kultur, ihre Zivilisation, es gab einfach alles. Und heute haben wir unsere eigene Politik, unsere eigene Religion, wie wir sagen. Aber das ist alles assimiliert oder wurde uns implementiert. Und ein Rom ist kein islamisierter. Er ist mehr oder weniger albanisiert oder arabisiert. Wir können auch sagen, dass wir versuchen Europa zu imitieren mit den Dingen, die wir in unsere Religion integriert haben: den Evangelikalismus und die Religion der Zeugen Jehovas. Nach alldem bin ich zu einem Schluss gekommen, [dass] [d]ie Roma jetzt zu einem religiösen Volk geworden sind, zunächst einmal. Aber an erster Stelle ist auch die Politik. Ein Rom ist dort an erster Stelle arm und krank. Aber Rom als Rom existiert dort nicht!«

8.5 S chlussbemerkungen , W ünsche und A usblicke Mehr als zehn Jahre zurück und damit zur Anfangsgeschichte dieser Arbeit: Wie wäre wohl aus meiner heutigen Perspektive heraus ein eventuelles Gespräch mit dem »Chef der Organisation« verlaufen, der so vehement aus der rumänischen Roma- / Zigeunersiedlung herausgetrieben wurde, während ich mich für die u. a.

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von mir betreuten Heim-Kinder fragen musste, was sie tatsächlich mit ihm verbindet oder von ihm trennt? Viele Antworten sind auf den letzten Seiten implizit oder explizit auf unterschiedliche Fragen gegeben worden, wenngleich die anfänglichen Fragestellungen zunächst eher neue aufwarfen als klar beantwortet werden konnten. Wen z. B. Roma / Zigeuner am liebsten als ›ihren Führer‹ oder ›Vertreter‹ sehen würden, kann nicht mit nur einer Antwort bedacht werden. Auch die Streitfrage, ob eine Organisation wie die einer ›Schaltstelle‹ dieser Führer oder Vertreter (NGO, Partei u. a.) bei einem Scheitern von NGO-Programmen zur Verantwortung zu ziehen sei, kann nicht allgemeingültig beantwortet werden, sondern sie wirft vor dem Hintergrund dieser Arbeit weitere Fragen auf. Wer die Akteure sind, die sich als Roma- / Zigeunervertreter, -repräsentanten oder -führer auf den verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen Sphären in Geschichte und Gegenwart den Erwartungen der Institutionen der Mehrheitsgesellschaft stellen, habe ich an einigen Beispielen verdeutlicht. Auch ihre Zugänge zu Prestige und Macht habe ich versucht zu strukturieren. Die Antwort darauf, worüber und wem gegenüber sie wirklich Macht haben, bleibt situations- und personenspezifisch, wie es an dieser Stelle auch von ihren Zugängen zu behaupten ist: Jeweils vor ihrem eigenen Hintergrund. Die Gemeinsamkeit zwischen den Idealbildern, denen sie folgen, liegt zwar in ihrer Beschaffenheit, aus prinzipiell gleichen Bausteinen zusammengefügt zu sein, und man könnte daher die Akteure durchaus als »eine Roma-Elite« begreifen. Doch mit dieser einengenden Schablone und durch den anachronistisch gewordenen Blick hindurch, konnte ich die unterschiedlichen Gewichtungen und Bedeutungen der Bausteine im Geflecht ihrer Biographie (Herkunft, Sozialisationsvoraussetzungen und -umgebungen etc.) und der entsprechend makrosozialen Settings nicht ausmachen. Erst als ich vor dem Hintergrund der jeweils unterschiedlichen Roma- / Zigeunergruppen und -gemeinschaften über ihre Modellhaftigkeit in der Gruppe oder Familie zu reflektieren begann, über die sie mir trotz ihrer Abwesenheit von dort berichteten, standen sich die beiden Begriffe im Titel dieser Arbeit wie selbsterklärend gegenüber. Der Spannungsbogen, den sie enthalten, verbindet und trennt sie demzufolge genauso mit- bzw. voneinander, wie es sich auch im Falle der Heimkinder und des Chefs der rumänischen NGO verhielt. Jedem Gespräch, jedem Aufenthalt und jeder Zusammenkunft mit den einzelnen Akteuren versuchte ich eine gewisse Struktur zu geben, wie aus der Arbeit hervorgeht. Die ersten Fragen oder Kommentare meinerseits bei den jeweils ersten Treffen mit ihnen bezogen sich auf ihre Herkunft, auf ihre Familie und darauf, wie sie sich selber sehen. Die letzte offene Frage die ich stellte, war immer die nach ihren persönlichen Wünschen: Nicht primär für sich selbst, sondern allgemein, was sie sich für die Zukunft wünschten oder von ihr erwarteten, wollte ich dabei wissen. Wie so oft, und im Verlauf der Arbeit gezeigt, waren auch hier ihre Antworten unterschiedlichster Natur. Die Bandbreite ihrer Kommentare reich-

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te dabei von ganz persönlichen und privaten Wünschen bis hin zu solchen, die im engen Zusammenhang mit ihren Erfahrungen und bisherigen Expertisen als Vertreter, Repräsentanten oder Aktivisten standen. Sechs der Antworten sollen diesen Text schließen, so, wie sie auch meine Gespräche mit den Protagonisten dieser Arbeit abgeschlossen haben. Eine größere Roma-Intelligentia Wünsche? Vielleicht klingt mein Wunsch sehr banal, aber mein wichtigster Wunsch ist, dass die Roma-Intelligentia viel größer wird. Viel mehr RomaStudenten. Zurzeit haben wir sehr viele Roma-Studenten. Aber ich möchte, dass es noch mehr werden. Weil die gebildete Person, egal ob Rom oder nicht, viel offener und nicht so stark diskriminiert ist, und der Effekt würde sich duplizieren: Für die Mehrheitsgesellschaft und für einen selbst. Wenn wir in so einer Welt leben, sind wir auch verantwortlich: Nicht nur wie die Leute sich uns gegenüber verhalten, aber auch, was wir getan haben, um akzeptiert zu werden. Ich mag es nicht, wenn einige Roma immer nur provozieren und sich immer auch auf ihre Rechte berufen. Wenn man so etwas im Fernsehen sieht, dass sie ihre Rechte fordern ... Okay, wir haben Rechte, aber wir haben auch Pflichten! Das muss noch ausbalancierter sein. Um akzeptiert zu sein, braucht es nicht nur Leute, die dich akzeptieren. Manchmal musst du auch etwas dafür tun, akzeptiert zu werden.  Lilyana Kovatcheva »Respekt vor sich selbst und einen Platz für die Kultur der Roma.« Zunächst einmal hätte ich gern, dass die Sprache der Roma zu den Roma zurückfindet. Ich wünsche mir ein Kulturhaus für die Roma, wo die Kultur der Roma ihren Platz hat. Ich wünsche mir mehr Respekt der Roma vor sich selbst. Ich wünsche mir, dass wir ein qualifiziertes Team haben, das die Politiker lehren kann, dass sie zu den Leuten kommen müssen und nicht die Leute zu den Politikern. Ich wünsche mir, dass die Roma lernen, den anderen auch etwas anzubieten, das Qualität besitzt, und dann können sie etwas zurückbekommen. Wenn man etwas will, muss man auch etwas anbieten. Wir sollten lernen, unsere Feinde zu lieben, und ihnen beibringen, dass sie mit uns umgehen können und wir mit ihnen.  Branislav Petrovski »Wir sollten etwas aufbauen, womit wir Leute anstellen können!« Ich wünsche den Leuten, dass sie ihre Augen offenhalten und dort gute Ideen finden, um für die Roma zu arbeiten. Ich hoffe, dass ich in der Zukunft gute Ideen haben werde, um meinen Leuten Arbeit zu beschaffen. Die Entwicklung

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Mazedoniens ist die Entwicklung seiner Wirtschaft. Wir sollten etwas auf bauen, womit wir Leute anstellen können. Wenn ich die Leute kritisiere, dann habe ich immer ... Ich gebe Ihnen ein Beispiel: In Mazedonien wurden zwölf Millionen Euro für Skulpturen ausgegeben.* Mit diesem Geld könnte ich 1200 Leute anstellen und ihnen Brot geben. Dieses Geld müsste für Arbeit ausgegeben werden, dann hat man Profit und das Geld geht seine Runde. Aber keine dieser Skulpturen wird ihnen einen oder zwei Euro geben, um auf dem Markt einzukaufen. Es ist nicht so, dass, wenn es regnet, du deine Hände ausstreckst und es regnet Geld!  Amdi Bajram * | Damit spielt Amdi Bajram auf das umfängliche Bau- und Modernisierungsprojekt »Skopje 2014« an. Dabei sollen mit staatlichen Geldern in der Innenstadt Skopjes nicht nur alte Gebäude erneuert (Nationale Oper, Zentraltheater, Philharmonie, Museen etc.), sondern auch neue Skulpturen, Denkmäler und Springbrunnen errichtet werden, deren zum Teil pompöse Architektur sowohl aus futuristischen Elementen als auch archaisch wirkenden Monumenten besteht. Darunter ein 21 Meter hohes Gebilde, das Alexander den Großen darstellt, der auf einem Pferd triumphierend in Richtung Nordwest blickt. Das Reitermonument selbst steht auf einem reichhaltig ornamentierten Springbrunnen. Oder ein klassizistisches Gebäude, das stark an die Architektur des Triumphbogens von Paris erinnert, den Namen »Tor Mazedoniens« (Porta Makedonija) trägt und bereits vom Präsidenten Mazedoniens feierlich eröffnet wurde. Die weiteren Baumaßnahmen waren im Jahr der Fertigstellung meiner Arbeit bereits in vollem Gange. Dem Internetnutzer empfehle ich tatsächlich, sich das dazugehörige ca. siebenminütige Oeuvre mit der bedeutungsschweren Begleitmusik anzuschauen, vor dem Hintergrundgedanken einer »Nationwerdung Mazedoniens«, den Lebensbedingungen vieler Bewohner Shutkas und dem Kommentar Amdi Bajrams. (http://www. youtube.com/watch?v=iybmt-iLysU, vom 30.05.2012).

Mein Wunsch ist, meine Master-Studien zu beenden. Also Management of Human Resources. [...] Und ich würde gern in der Roma-Politik involviert sein, um etwas zu verändern, weil ich sehr aktiv bin in Roma-Fragen. Ich reise viel zu Konferenzen, wenn über Roma gesprochen wird und über die Situation der Roma im Balkan oder außerhalb. Und ich denke, dass ich noch drei Jahre arbeiten muss, um mich zu entwickeln und die Fähigkeiten zu bekommen, die ich haben möchte. Und ich denke, darin werde ich Erfolg haben.  Ajet Osmanovski

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Und in der Zeit, als die Türken und Serben und die Bulgaren das Land (Mazedonien) regiert haben, haben sie die Roma gezwungen, ihre Religion und ihre Identität zu ändern. Heute haben wir eine schleichende und schweigende Assimilation. Diese unterteilt sich in Ost und West. Im Westen werden sie (die Roma) dazu bewegt, zu sagen, dass sie Albaner und Ägypter seien, und im Osten ist es anders, dass sie Christen und Mazedonen seien. Sie ändern ihre Namen und Religionen, aber die Physiognomie und die Farbe bleibt und auch ihre Gewohnheiten. Während sie sich für deren (Gadže) Ziele einsetzen und sich gebrauchen lassen, geht es ihnen gut und sie werden gebraucht. Aber wenn sie etwas anderes machen, etwas machen, was außerhalb des Gesetzes liegt, ist der erste Kommentar ihnen gegenüber, dass sie Gypsies seien.  Bajram Berat »Zum Beispiel eine neue Perspektive für die Roma eröffnen! Was ist die neue Welt denn sonst?« Wir sollen in die USA reisen und dort die indischen Tänze vorführen oder was? Wir sollten diese ›Kultur‹ vergessen! Ich werde immer nervös, wenn jemand mir sagt, dass wir kulturelle Events zu organisieren haben, Tanzkurse oder soetwas machen sollen, damit sie dann alle traditionellen Stile aufnehmen können usw. [...] Warum organisieren sie nicht einen IT- oder Technologie-Kurs für die jungen Roma-Kids, um zum Beispiel ihre Mobilität (auf dem Arbeitsmarkt) zu bewahren, und TV-Sessions mit Medien …? Warum nicht in diese Richtung denken? Wir sollten diese Sachen einfach herausnehmen aus den Debatten, dass die Roma immer die traditionellen Sachen machen. Dass wir sie in ein Ressort stecken könnten und dann einen Zaun drumherum bauen und eine Eisenbahn hinlegen und es an einem Fluss ansiedeln und dann diese alten Zigeuner dort sitzen ... (winkt ab). [...] Sorry, dass ich das sagen muß, aber darüber solltest du auf andere Art und Weise nachdenken! Zum Beispiel eine neue Perspektive für die Roma eröffnen. Was ist die neue Welt denn sonst? Die wollen, dass die Roma zurückgehen in ihrer Geschichte. Es ist gut, die Geschichte zu kennen. Ich bin nicht dagegen! [...] Man sollte dahin gehen und die neuen Technologien vorstellen. Einfach sagen: ›IT for the Roma!‹ Wir benutzen Computer! Nehmt euch ein paar Roma-Kids, schickt sie dorthin, wo Bill Gates seinen Sitz hat, er hat eine große Stiftung, hunderte Millionen oder Milliarden. Verhandelt mit Bill Gates und sagt einfach, dass ihr 100 Roma sehr gut ausbilden werdet, die später Millionen Dollar verdienen werden, und danach können sie fragen nach deren Solidarität oder nach einer Jobgelegenheit. Denn wenn morgen George Soros stirbt, wer wird dann die Roma unterstützen? Und der gehört zu den Einzigen, die das mit wirklichem Geld unterstützen. [...] Du kannst einfach ins Internet gehen und sehen, dass er viel Geld gibt. Und wir sollten ihn ehren. Wir sollten ihm danken!  Nikolaj Kirilov

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Epilog Nach den Sichtungen meiner ersten Textrohfassungen wurde mit geraten, meine Stimme mehr in den Vordergrund und die der Akteure weiter in den Hintergrund rücken zu lassen. Seit meinem ersten »Akteursgespräch« jedoch, war ich – und bin es noch heute – fest davon überzeugt, dass meine Datendarlegung nur auf die hier vorliegende Weise den Erwartungen entsprechen kann, die ich eingangs u. a. mit Geertz (2009) an diese Arbeit stellte: eine »dichte Beschreibung« und keine dichte Theoriediskussion zu liefern und mich zugunsten der Akteure und ihrer Stimmen kommentierend in den Hintergrund zu stellen. Auswahl und Anordnung des Materials sollen für sich sprechen und das wiedergeben, was ich als wichtig empfand und als »meine« Lesart verstehe. Ich gab der Datenmenge den Vorrang, z. B. vor einer umfassenden Diskussion im Rahmen der bisherigen (ethnologischen) Forschung zu Eliten – die seit Pareto ([1968] 1991) und Mocsa (1950) mittlerweile über sechs Dekaden in der Geistes- und Sozialwissenschaft geführt wird – oder auch vor der politikethnologischen Analyse im Licht der Hintergrunddiskussionen über »Führerschaften« oder »Repräsentanz«. Denn erst mit der hier vorliegenden Datenpräsentation wird es meiner Meinung nach dem Leser ermöglicht, (s)eine ganz eigene autonome Lesart zu erproben und die Daten anders zu verstehen. Mit dem Versuch, die Arbeit auf der »Mesoebene« (›medial level‹, Barth 2000) entstehen zu lassen, befindet sie sich folglich, ähnlich der Stellung ihrer Akteure, »mittendrin dazwischen«, weist Brüche auf und stellt teilweise hohe Anforderungen an den Leser, wenn es darum geht, der multiplexen Realität des Alltags und der Meinungen (Sequenzen) der Akteure zu folgen. Der Spagat zwischen meinen Ansprüchen einerseits, Akteure und ihre Umgebungsvariablen jeweils speziell und kontextabhängig zu betrachten und andererseits genügend relevante Daten zu vielen Akteuren darzulegen, um eine Settinganalyse dicht bestücken zu können, ist mir nur bedingt gelungen. Ihre jeweils recht komplexen und ganz eigenen Lebens- und Alltagskontexte brachten die Protagonisten dazu, ganz unterschiedlich über gleiche Themen zu reflektieren. Mich hingegen veranlasste diese Datenlage dazu, nicht nur die mir eindeutig und kohärent erscheinenden Meinungen abzubilden, sondern auch und gerade die, die in sich widersprüchlich sind – doch nicht, um den Leser zu verwirren, sondern ihm immerfort die auch mir z. T. un-

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lösbar scheinenden Spannungsbögen mitzuteilen und ihn auf diese Weise für die Akteure zu emphatisieren. Aus manchen Textpassagen ließen sich wohl mehr als nur meine Schlussfolgerungen ziehen. Diese allerdings festzuschreiben lag mir, vor dem sich gerade heute stark im Wandel befindenden Feld, fern. Denn hier sei nun hinzugefügt, dass sich selbst seit meinem letzten Besuch in Bulgarien, der mittlerweile einige Monate zurückliegt, das Bild derart gewandelt hat, dass diese Arbeit hätte neu geschrieben werden müssen: Viele der Protagonisten haben entweder das Land verlassen, sind mittlerweile verheiratet und wieder in ihre Herkunftsgemeinschaft zurückgekehrt, oder haben sich ganz vom RomaAktivismus abgewandt. Ein Grund für die Veränderungen ist wohl auch, ganz im Sinne dieser Arbeit, in den Erwartungen der staatlichen Institutionen zu finden, die sich der im Land existierenden Korruption widmen und diese zu unterbinden suchen. Wie mir im Nachhinein berichtet wurde, kontrollieren mittlerweile in vielen bulgarischen Roma-NGOs staatliche Akteure die dortigen Vorgänge, um deren (projektbezogene) Ausgaben und Einnahmen auf Legalität hin zu prüfen. Im Übrigen wurde auch das Kinderheim in Rumänien bereits geschlossen, lange bevor diese Arbeit entstand. Die Erwartungen an die Länder sind auf europäischer Ebene aufgrund ihrer Beitrittsabsichten bzw. bereits erfolgter Beitritte in die EU gewachsen. Diese Anforderungen, auch an die Akteure, sorgten (nicht nur während der Zeit der Erstellung dieser Arbeit) dafür, dass neue Institutionen entstanden und Köpfe in Politik und Öffentlichkeit ausgetauscht wurden, sowie dafür, dass sich viele Roma / Zigeuner des Untersuchungsgebiets wegen der weiterhin bestehenden Armut mit ihrer Familie auf den Weg ins westliche Europa gemacht haben, um dort ein besseres Auskommen zu finden. Die Lesart meiner Daten ist durch meinen Blickwinkel bestimmt, dessen Justierung ich den Protagonisten dieser Arbeit und den Geschehnissen vor Ort verdanke. Daher sei hier abschließend wiederholt, dass die Daten in ihre jeweiligen Kontexte gehören, nur vor den einzelnen Hintergründen zu verstehen sind, und, wenn sie denn neu interpretiert werden, mit Respekt vor den Akteuren, mit Empathie und im Einklang damit, was diese Akteure als »ihre« Realität ansehen, behandelt werden sollten. Denn nur auf diesem Wege sind deren Meinungen über soziale und politische Dynamiken zu begründen und zu verstehen: unter Einbezug des jeweiligen emisch zu verstehenden ›Akteurssettings‹, seiner Erfahrungen, der beteiligten Institutionen und wiederum deren Erwartungen an die handelnden Akteure usw., was im Umkehrschluss nicht nur bedeutet, differierende Perspektiven einzunehmen, sondern grundlegend dazu herausfordert, seine eigene zu wechseln.

Anhang

1981

M = Romni

(F) = Vater (FM) = Mutter von Ego-Vaters (FF) = Vater von Ego-Vaters

Geburtsort (Stadtviertel od. Mahalla, Land)

Sofia (BG)

Dupnica F = Kalajdži-Rom (Gorna Ma(Großfamilie: halla, BG) Memešti, Beruf: Hausbau) FM = KalajdžiRomni (Herkunftsort: Dupnica, BG)

F = Rom (Gruppe: Muzikanti, Beruf: Musiker)

Sofia – Stadt: Die junge Generation

(M)* = Mutter (MM) = Mutter von Ego-Mutter (MF) = Vater von Ego-Mutter

♂ = Dassikane- M = Dassikani Rom Romni (Großfamilie: Favljašti; ehem. Beruf: Bekleidungsdesig­ nerin, heut. Beruf: Schulmediatorin) MF = Gadžo

ca. ♀ = Romni 1980

(♀; ♂) = Ego

Sofia (BG)

Sofia (BG)

Leitender Mitarbeiter der NGO CEGA (Sofia, BG)

Vorsitzende der Roma-Student-Organisation (SSDID) (Sofia) (BG)

Amt / Position(en) Lebensort (Stadtviertel, zum Untersuchungszeitpunkt Land)

Ethnische und geographische Herkunft, Arbeitsstellung bzw. Beruf

Person als sozialisierendes und nicht biologisches Eltern- bzw. Großelternteil kennzeichnen.

Mutter des eigenen Vaters) oder »FMB« »fathers mother brother« (der Bruder der Mutter des eigenen Vaters). Die Abkürzung »[soz.]« soll die

thers mother father father« (der Vater des Vaters der Mutter des eigenen Vaters), für »FMF« schließlich »fathers mother father« (der Vater der

»fathers father« (der Vater des eigenen Vaters). Bei Trippelung oder vier Buchstaben ergeben sich in dieser Logik bspw. für »FMFF« dann »fa-

als »brother« (Bruder). Die Doppelbuchstaben »MM« stehen folglich für »mothers mother« (die Mutter der eigenen Mutter) und »FF« bedeutet

* | Einteilung nach Kroeber, A. L. 1952. Dabei sind die Abkürzungen wie folgt zu lesen: »M« als »mother« (Mutter), »F« als »father« (Vater), »B«

Емил Методиев

Emil Metodiev

Лудмила Живкова

Ludmila Zhivkova

Name

Geburtsjahr

Tabelle 2: Akteurstabelle Bulgarien (BG)

Zigeunerkulturen im Wandel Akteurstabelle Bulgarien (BG)

Akteurstabelle Bulgarien (BG)

337

Тони Ташев

Toni Tashev

Наско Борисов

Nasko Borisov

Name

(♀; ♂) = Ego

1972 ♂ = KalajdžiRom

ca. ♂ = Rom 1980

Geburtsjahr

M = Romni (Beruf: Bibliothekarin, Herkunftsort: Montana, BG)

M = Romni

(M)* = Mutter (MM) = Mutter von Ego-Mutter (MF) = Vater von Ego-Mutter Knezha (BG)

Geburtsort (Stadtviertel od. Mahalla, Land) Sofia (BG)

Reportbeauftragter am REF

Anwalt

Leiter des Regional Policy Development Center Sofia

NGO-Mitarbeiter und Koordinator des Programms »Kandidat – StudentenVorbereitung” bei SSDID (Sofia, BG)

Amt / Position(en) Lebensort (Stadtviertel, zum Untersuchungszeitpunkt Land)

Vidin (Pačava- Sofia (BG) F = Kalajdži-Rom Mahalla, BG) (Beruf: Kraftfahrer, Herkunftsort: Vidin, BG) FF = Kalajdži-Rom (Beruf: Tierhändler) FFF = Kalajdži-Rom (Beruf: Tierhändler)

F = Rom (in der Landwirtschaft tätig)

(F) = Vater (FM) = Mutter von Ego-Vaters (FF) = Vater von Ego-Vaters

Ethnische und geographische Herkunft, Arbeitsstellung bzw. Beruf

338 Zigeunerkulturen im Wandel

Тома Николаеф

Toma Nikolaeff

Румян Руссинов

Rumyan Russinov

Name Geburtsort (Stadtviertel od. Mahalla, Land)

F = Kalajdži-Rom (Herkunftsort: Pleven, BG) FF = Kalajdži-Rom (Herkunftsort: Galabovtsi, BG; urspr. SRB)

M = Kalajdži-Romni (Herkunftsort: Plovdiv, BG) MF = Kalderaš

1966 ♂ = KalderašKalajdži-Rom

Sofia (BG) Spasovo (20 km NW v. Dobric, BG)

Journalist

Geschäftsinhaber einer Gebäude­ sanierungsfirma

Direktor der Roma Informations Agentur »Defacto (RIA Defacto)« (BG)

vorher 10 Jahre OSI (RPR & REF) Budapest

Parlamentskandidat für die Sozialistische Partei Bulgariens in Sofia (BG)

Amt / Position(en) Lebensort (Stadtviertel, zum Untersuchungszeitpunkt Land)

Sofia (BG) Dunavtsi (südl. Teil ehem. Vibol, Dolna Mahalla) (BG)

Sofia – Stadt: Die ältere Generation

(F) = Vater (FM) = Mutter von Ego-Vaters (FF) = Vater von Ego-Vaters

Ethnische und geographische Herkunft, Arbeitsstellung bzw. Beruf

(M)* = Mutter (MM) = Mutter von Ego-Mutter (MF) = Vater von Ego-Mutter

F = Kalajdži (Beruf: M = CucumaniRomni (Beruf: Lehre- Gymnasiallehrer rin, Herkunftsregion: für Geschichte) Vidin-Distrikt, BG)

Geburtsjahr

1967 ♂ = KalajdžiRom

(♀; ♂) = Ego

Akteurstabelle Bulgarien (BG)

339

Йосиф Нунев

Jossif Nounev

Лиляна Ковачева

Хисто Кючуков

1960 ♂ = Rom

F = Kovači-Rom (Beruf: Schmied) FF = Kovači-Rom (Beruf: Schmied) FFF = Kovači-Rom (Beruf: Schmied)

F = Rom M = Romni (Beruf: Forst­ (in der Landwirtschaft tätig – Blumen- arbeiter) u. Gemüsefarm)

M = Romni (Beruf: Arbeiterin in Schuhfabrik)

1960 ♀ = ErlijaKovači-Romni

(F) = Vater (FM) = Mutter von Ego-Vaters (FF) = Vater von Ego-Vaters

Lilyana Kovatcheva

(M)* = Mutter (MM) = Mutter von Ego-Mutter (MF) = Vater von Ego-Mutter

1963 ♂ = Džambazi- M = Džambasi-Romni F = Kalburdži-Rom Kalburdži-Rom (Gruppe: Zagundži)

(♀; ♂) = Ego

Professur für Liguistik an der Univerzität »Konštantín Filozof« Nitra (SK)

Exp. f. Bildungsintegr. f. Schüler versch. ethn. Hintergründe am Ministerium f. Bildung u. Wissenschaften Sofia (BG)

Bankja (BG) Exp. f. Bildung und Erziehung f. Kinder ethn. Minderheiten am Ministerium f. Bildung und Wissenschaft Sofia (BG)

Nitra (SK)

Amt / Position(en) Lebensort (Stadtviertel, zum Untersuchungszeitpunkt Land)

Rakitovo (BG) Sofia (BG)

Kjustendil (BG)

Provadija (Champara Mahalla, BG)

Geburtsort (Stadtviertel od. Mahalla, Land)

Ethnische und geographische Herkunft, Arbeitsstellung bzw. Beruf

Hristo Kyuchukov

Name

Geburtsjahr

340 Zigeunerkulturen im Wandel

Михаил Георгиев

Mihail Georgiev

Стефан Колев

Stefan Kolev

Name

Geburtsjahr

1966 ♂ = ErlijaKovači-Rom

1967 ♂ = Vlax Rom

(♀; ♂) = Ego

M = Romni MF = Rom (Beruf: Forstarbeiter)

F = Kovači-Rom (Beruf: Lehrer, Herkunftsort: Sofia, BG) FF = Kovači-Rom (Beruf: Schmied, Herkunftsort: Kystendil, BG)

F = Vlax Rom M = Romni (Beruf: (vor 1989 – SteinReinigungskraft in Fabrik und Hausfrau) brecher)

Sofia – Fakultäta – Mahalla

(F) = Vater (FM) = Mutter von Ego-Vaters (FF) = Vater von Ego-Vaters

Sofia (Fakultäta, BG)

Sofia (Fakultäta) (BG)

Geburtsort (Stadtviertel od. Mahalla, Land)

Bankja (BG) NGO-Leiter »RomaBaht-Foundation Sofia« (Fakultäta, BG)

Priester der französischen evangelikalen Bewegung »Leben und Licht« in Fakultäta (Sofia, BG)

Vizepräsident der Assoziation der Roma-Priester in Bulgarien

Amt / Position(en) Lebensort (Stadtviertel, zum Untersuchungszeitpunkt Land)

Ethnische und geographische Herkunft, Arbeitsstellung bzw. Beruf

(M)* = Mutter (MM) = Mutter von Ego-Mutter (MF) = Vater von Ego-Mutter

Akteurstabelle Bulgarien (BG)

341

Николай Кирилов

Nikolay Kirilov

Петер Горанов

Peter Goranov

Name

(♀; ♂) = Ego

1969 ♂ = KalajdžiRom

o. A. ♂ = RešetariRom

Geburtsjahr

F = Rešetari-Rom

Lom

(F) = Vater (FM) = Mutter von Ego-Vaters (FF) = Vater von Ego-Vaters

M = türkische Romni F = Kalajdži-Rom (Herkunftsort: Vidin, BG) MF = türkischer Rom (Herkunftsort: Nish, SRB)

M = Romni

(M)* = Mutter (MM) = Mutter von Ego-Mutter (MF) = Vater von Ego-Mutter

Stadtratsabgeord­ neter in Lom (BG)

NGO-Leiter »RomaLom-Foundation«

Betreiber eines kl. Imbiss-Cafés in Lom (Mladenovo, BG)

Leiter der Abteilung für Religion, Kultur und ethnische Angelegenheiten

Abgeordneter im Stadtrat Lom

Gehilfe in der Lom (Mladenovo, evangelikalen Kirche in Lom BG)

Amt / Position(en) Lebensort (Stadtviertel, zum Untersuchungszeitpunkt Land)

Lom Lom (Stadiona, BG) (Stadiona, BG)

Lom (Mladenovo, BG)

Geburtsort (Stadtviertel od. Mahalla, Land)

Ethnische und geographische Herkunft, Arbeitsstellung bzw. Beruf

342 Zigeunerkulturen im Wandel

Ајет Османовски

Ajet Osmanovski

Елвис Фазлиоски

Elvis Fazlioski

Name (F) = Vater (FM) = Mutter von Ego-Vaters (FF) = Vater von Ego-Vaters

M = Romni (Beruf: Reinigungskraft in Schule und Schulerzieherin, Herkunft: Serbien)

1984 ♂ = KovačiRom F = Kovači (Beruf: Textilhändler, Herkunftsort: Skopje)

F = Rom (Beruf: Musiker, Herkunftsort: Ochrid) Skopje (Centar, MZD)

Ochrid (Drvara, MZD)

Skopje (Centar, MZD)

Ochrid (MZD)

Projekt-Chef-Koordinator der NGO »Romaversitas« (FOSIM) Skopje (MZD)

Assistent von Amdi Bajram

Assistent im Hauptbüro des NDI in Skopje (MZD)

Amt / Position(en) Geburtsort Lebensort (Stadtviertel (Stadtviertel, zum Untersuchungszeitpunkt od. Mahalla, Land) Land)

Skopje – Stadt: Die jüngere Generation

(M) = Mutter (MM) = Mutter von Ego-Mutter (MF) = Vater von Ego-Mutter

M = Romni (Beruf: Hausfrau, Herkunft: Dorf bei Orchrid)

(♀; ♂) = Ego

Ethnische und geographische Herkunft, Arbeitsstellung bzw. Beruf

1987 ♂ = Rom

Geburtsjahr

Tabelle 3: Akteurstabelle Mazedonien (MZD)

Zigeunerkulturen im Wandel Akteurstabelle Mazedonien (MZD)

Akteurstabelle Mazedonien (MZD)

343

Рамадан Берат

Ramadan Berat

Аздријан Мемедов

Azdrijan Memedov

Name

M = Kovači (Herkunftsort: Skopje) MF = Kovači (Beruf: Schmied im Dienst des öffentl. Nahverkehrs, Herkunftsort: Skopje) MM = Kovači

1972 ♂ = BurgudžiKovači Rom

(M) = Mutter (MM) = Mutter von Ego-Mutter (MF) = Vater von Ego-Mutter

M = Giljanli-Romni (Beruf: NGO Direktorin »EZMA« Skopje) MF = Giljanli (Herkunft: Kosovo)

(♀; ♂) = Ego

F = Džambazi (Beruf: Maschinentechniker i. Stahlfabrik) FF = Džambazi (Beruf: Bauklempner i. Stahlbau, Herkunft: Kosovo) FM = Kovači (Herkunft: Skopje)

Skopje (Topaansko Pole-Chair, MZD)

Skopje (MZD)

Skopje (MZD)

Senior-Assistent an OSZE-Mission Skopje für RomaFragen (MZD)

Projektassistent der NGO »Romaver­sitas« (FOSIM) Skopje (MZD)

Amt / Position(en) Geburtsort Lebensort (Stadtviertel (Stadtviertel, zum Untersuchungszeitpunkt od. Mahalla, Land) Land)

Skopje F = Džambazi (Beruf: Roma-Sän- (MZD) ger und Mitarbeiter einer nat. Fernsehagentur) FM = Romni (Herkunft: Türkei) FF = Džambazi (Herkunft: Ost-MZD)

(F) = Vater (FM) = Mutter von Ego-Vaters (FF) = Vater von Ego-Vaters

Ethnische und geographische Herkunft, Arbeitsstellung bzw. Beruf

1976 ♂ = Rom

Geburtsjahr

344 Zigeunerkulturen im Wandel

Милазим Сакипов

Miljazim Sakipov

Самка Ибраимоски

Samka Ibraimoski

Name

Geburtsjahr

1960 ♂ = Gavutno Rom

1954 ♂ = Kovači Rom

(♀; ♂) = Ego

F = Kovači

F = GavutneRomni (Berufung: Generalsekretärs d. Roten Kreuzes MZD)

Skopje-Topaana

M = Gavutne-Romni (Beruf: Hausfrau)

M = Kovači

Arachinovo (MZD)

Tetovo (MZD)

Skopje (TopaanaMahala, MZD)

Skopje (MZD)

Präsident der RomaPartei »Demokratzki Sili na Romite ot Makedonia« (Skopje, MZD)

Leitendes Mitglied der PCER

Chef des Asylbewerberzentrums Skopje (MZD)

Amt / Position(en) Geburtsort Lebensort (Stadtviertel (Stadtviertel, zum Untersuchungszeitpunkt od. Mahalla, Land) Land)

Skopje – Stadt: Die ältere Generation

(F) = Vater (FM) = Mutter von Ego-Vaters (FF) = Vater von Ego-Vaters

Ethnische und geographische Herkunft, Arbeitsstellung bzw. Beruf

(M) = Mutter (MM) = Mutter von Ego-Mutter (MF) = Vater von Ego-Mutter

Akteurstabelle Mazedonien (MZD)

345

Алвин Салимовски

Alvin Salimovski

Даниел Петровски

Daniel Petrovski

Name

(♀; ♂) = Ego

1981

(F) = Vater (FM) = Mutter von Ego-Vaters (FF) = Vater von Ego-Vaters F = Gadžikane-Rom (Tätigkeit: Leiter der NGO »Romano Ilo«, s. Branislav Petrovski) F = Arlije (Beruf: Maler) FF = Arlije FM = Kovači (Herkunftsort: Kriva Palanka) FMF = Kovači (Beruf: Schmied, Herkunft: Serbien) FMFF = Kovači (Beruf: Schmied, Herkunft: Serbien)

♂ = Arlije-Rom M = Gurbet (Beruf: Hausfrau, Herkunftsort: Kumanovo)

Kriva Palanka (MZD)

Skopje (Shuto Orizari) (MZD)

Skopje (MZD)

Skopje (Shuto Orizari) (MZD)

Deutschlehrer

Direktor (interim) der Schule »Brakjata Hamis I Hamid« in Shuto Orizari (Skopje, MZD)

Student d. Ethnologie

Roma-Journalist im Mazedonischen Fernsehen in der Redaktion für Roma (Skopje, MZD)

Amt / Position(en) Geburtsort Lebensort (Stadtviertel (Stadtviertel, zum Untersuchungszeitpunkt od. Mahalla, Land) Land)

Skopje – Shuto Orizari: Die jüngere Generation

(M) = Mutter (MM) = Mutter von Ego-Mutter (MF) = Vater von Ego-Mutter

Ethnische und geographische Herkunft, Arbeitsstellung bzw. Beruf

M = Gavutne-Romni (Beruf: Hausfrau)

1986 ♂ = GadžikaneRom

Geburtsjahr

346 Zigeunerkulturen im Wandel

Дудуш Курто

Duduš Kurto

Али Берат

Ali Berat

Елвис Бајрам

Elvis Bajram

Name

Geburtsjahr

1974 ♂ = Barutdži -Rom

1976 ♂ = Rom

1978 ♂ = Rom

(♀; ♂) = Ego

M = Barutdžija (Betreiber eines Lebensmittelladens, Herkunftsort: Vlae, MZD)

M = Kovači MF = Kovači MM = Kovači

M = Barutdžije (Herkunftsort: Skopje)

F = Barutdži (Betreiber eines Lebensmittellandens und Gänsezüchter) FF = Barutdži (Herkunftsort: Topaana, Skopje)

F = Džambazi FM = Kovači FF = Džambazi

F = Kovači FF = Kovači (Herkunftsort: Mitroviza, Kosovo)

(F) = Vater (FM) = Mutter von Ego-Vaters (FF) = Vater von Ego-Vaters

Skopje (Shuto Orizari, MZD)

Skopje (Topaansko Pole, Chair, MZD)

Skopje (Shuto Orizari, MZD)

Skopje (Shuto Orizari, MZD)

Skopje (Shuto Orizari, MZD)

Skopje (Shuto Orizari, MZD)

Bürgermeisterkandidat der Koalition DSR – OPE für Shuto Orizari (Skopje, MZD)

Betreiber einer Wechselstube Shuto Orizari

Stadtratsabgeordneter in Skopje – Experte für rel. Fragen) (Skopje, MZD)

Hauptimam Moschee »Amdi-Džamija«

Bürgermeister des Regierungsbezirks Shuto Orizari (Skopje, MZD)

Amt / Position(en) Geburtsort Lebensort (Stadtviertel (Stadtviertel, zum Untersuchungszeitpunkt od. Mahalla, Land) Land)

Ethnische und geographische Herkunft, Arbeitsstellung bzw. Beruf

(M) = Mutter (MM) = Mutter von Ego-Mutter (MF) = Vater von Ego-Mutter

Akteurstabelle Mazedonien (MZD)

347

Шабан Салиу

Shaban Saliu

Бранислав Петровски

Branislav Petrovski

Name

(♀; ♂) = Ego

1961

♂ = Rom

(F) = Vater (FM) = Mutter von Ego-Vaters (FF) = Vater von Ego-Vaters

M = Romni (Beruf: Hausfrau)

F = o. A.

Gostivar (Balindolsko-Mahala) (MZD)

Skopje F = Džambazi (Topaana, (Beruf: Secondhand-Händler, Her- MZD) kunftsort: Topaana) Skopje (MZD)

Skopje (Shuto Orizari, MZD)

Präsident der politischen Partei »Demokratische Kräfte der Roma in Mazedonien« (DSR) (MZD)

Direktor der »Abteilung für Schutz und Rettung in Mazedonien«

Präsident und Leiter der Roma-Theatergruppe »Romano Ilo« in Skopje (MZD)

Amt / Position(en) Geburtsort Lebensort (Stadtviertel (Stadtviertel, zum Untersuchungszeitpunkt od. Mahalla, Land) Land)

Skopje – Shuto Orizari: Die ältere Generation

(M) = Mutter (MM) = Mutter von Ego-Mutter (MF) = Vater von Ego-Mutter

Ethnische und geographische Herkunft, Arbeitsstellung bzw. Beruf

1962 ♂ = Džambazi- M = Džambazi Rom MM = Džambazi (Herkunftsort: Uroshevats, KOS)

Geburtsjahr

348 Zigeunerkulturen im Wandel

Амди Бајрам

Amdi Bajram

Бајрам Берат

Bajram Berat

Name

Geburtsjahr

1956 ♂ = Rom

1957 ♂ = Rom

(♀; ♂) = Ego

M = Romni (Beruf: Musikerin) MF = Türke (Beruf: Musiker) MM [soz.] = Gadži (MZD)

M = Romni

Skopje (Kale, Centar, MZD) Skopje (Buthel, MZD)

Skopje (Shuto Orizari, MZD)

Parteivorsitzender

Parlamentsabgeordneter im Nationalen Parlament Mazedoniens

Arzt und Staatsberater (Skopje, MZD)

Parteipräsident der Partei für die Inte­ gration der Roma PIR

Amt / Position(en) Geburtsort Lebensort (Stadtviertel (Stadtviertel, zum Untersuchungszeitpunkt od. Mahalla, Land) Land)

F = (Name: Shaban) Skopje (Bhuthel, FM = Romni MZD) (Herkunftsort: Kosovska Mitrovitza, Beruf: Bedienstete reicher Sandžak) FF = Gadžo (Herkunft: Sandžak, SRB) FF [soz.] = FMB

F = Rom

(F) = Vater (FM) = Mutter von Ego-Vaters (FF) = Vater von Ego-Vaters

Ethnische und geographische Herkunft, Arbeitsstellung bzw. Beruf

(M) = Mutter (MM) = Mutter von Ego-Mutter (MF) = Vater von Ego-Mutter

Akteurstabelle Mazedonien (MZD)

349

Надир Реџепи

Nadir Redzepi

Ашмет Елезовски

Ashmet Elezovski

Name

(♀; ♂) = Ego

(M) = Mutter (MM) = Mutter von Ego-Mutter (MF) = Vater von Ego-Mutter

1963 ♂ = Arabadži  /  M = Romni Kovači Rom (Beruf: Reinigungskraft im Krankenhaus) F = ArabadžiKovači (Beruf: Schuhmacher) FF = Kovači (Beruf: Schmied) FM = Kovači

Tetovo

F = Arlije (Beruf: Landwirtschaft) FMF = Arlije (Beruf: Offizier in türkischer Armee)

Kumanovo

(F) = Vater (FM) = Mutter von Ego-Vaters (FF) = Vater von Ego-Vaters

Tetovo (Dolna Mahalla, MZD)

Kumanovo (MZD)

Tetovo (MZD)

Kumanovo (MZD)

NGO-Leiter »Sonce« (Tetovo. MZD)

Leitender Manager und Chefkoordinator der NGO »National Roma Centrum NRC« Kumanovo (MZD)

Amt / Position(en) Geburtsort Lebensort (Stadtviertel (Stadtviertel, zum Untersuchungszeitpunkt od. Mahalla, Land) Land)

Ethnische und geographische Herkunft, Arbeitsstellung bzw. Beruf

1967 ♂ = Arlije-Rom M = Arlije (Beruf: Hausfrau)

Geburtsjahr

350 Zigeunerkulturen im Wandel

Zigeunerkulturen im Wandel

Narratives Glossar Die hier aufgeführten Bezeichnungen sind in deutscher Schreibweise abgedruckt und umfassen nur solche Begriffe, die die Akteure für ihre eigene oder andere Roma- / Zigeunergruppen benutzen. Zwar besitzen die meisten der Gruppennamen eindeutige Wortübersetzungen, etymologisch ist ihre Essenz daher durchaus greif bar, jedoch werden sie von verschiedenen Gruppen unterschiedlich verwendet. Das bedeutet, dass Gruppen – mit demselben Namen in demselben Land – nicht unbedingt in einem verwandtschaftlichen Verhältnis zueinander stehen, oder sich auch nur kennen müssen. Denn oft sind die Gruppenbezeichnungen Entlehnungen von Fremdbegrifflichkeiten einer anderen Gruppe gegenüber der eigenen, die zwar gruppenintern ihre Eigenbezeichnung behält, sich aber in einer sich wandelnden Umgebungsgesellschaft (durch Migration, wirtschaftlichen, religiösen, oder sprachlichen Wandel etc.) mit der Übernahme der Fremdbezeichnung sozial besser orientieren und verorten kann. Im Gespräch ist daher häufig Folgendes zu hören: »Wir sind die X, aber hier sind wir die Y und für alle anderen dort sind wir die Z. Denn wenn wir denen hier sagen, dass wir die X sind, glauben die das nicht, weil es hier auch eine Gruppe X gibt. Die sind aber ganz anders als wir. Wir sprechen den Dialekt X, aber hier sagt man dazu Dialekt A. Die Gruppe hier lebt auch eine andere Religion als wir, und sie üben ein anderes Handwerk / Gewerbe aus.« Dieses Phänomen, das bereits mehrfach analysiert und dokumentiert worden ist, geht z. B. aus den Sequenzen von Alvin Salimovski oder Ajet Osmanovski deutlich hervor. Zunächst sind im Folgenden nur solche Begrifflichkeiten kurz erklärt bzw. in Beziehung zueinander gesetzt, die ausschließlich für die bulgarischen 1 Akteure relevant sind. Die Begrifflichkeiten, die für beide Länder Geltung haben, werden im anschließenden Abschnitt erörtert, bevor diejenigen zur Sprache kommen, die ausschließlich für Mazedonien gelten. Bei den Begriffserläuterungen zu Bulgarien richte ich mich vorrangig nach dem im Jahr 1997 erschienenen Band »Gypsies (Roma) in Bulgaria« von Marushiakova und Popov, während ich bei der 1 | Zum Vergleich siehe Marushiakova / Popov (1997: 197–202), die über 150 verschiedene Namen bzw. Benennungen aufzeigen, die für bulgarische Roma- / Z igeunergruppen relevant sind.

352

Zigeunerkulturen im Wandel

Erläuterung zu Mazedonien mehrere Quellen hinzuziehe. Da meine Felddaten zu Mazedonien dichter als die zu Bulgarien sind, werden für die mazedonischen Akteure auch mehr Bezeichnungen erörtert als im nun folgenden Abschnitt, der zunächst den bulgarischen Akteuren vorbehalten bleibt. Die Reihenfolge der erläuterten Begrifflichkeiten und Bezeichnungen ist zum einen bestimmt durch die etymologischen Zusammenhänge der Gruppennamen mit- und untereinander, und zum anderen dadurch, wie die Akteure sie mir gegenüber erklärten. Dabei benutzten die Akteure häufig weitere Gruppennamen, um mit den gegenseitigen Bezüglichkeiten zu erklären, was für sie ein bestimmter Gruppenname oder eine bestimmte Bezeichnung kontextuell bedeutet.

B egrifflichkeiten der bulgarischen A k teure Zuzumani: »Die Anderen« Wenn du ,Zuzumani‹ bist, bist du nicht ›asıl‹ Rom! Wissen Sie, was die Gemeinschaft der Zuzumani ist? Diese bevorzugen eher die Kommunikation mit den Bulgaren, also mit der Makrogesellschaft. Sie sind mehr in die bulgarische Gesellschaft integriert, sie sprechen die bulgarische Sprache besser. […] Mittlerweile gibt es in einigen Fällen sogar Intermarriages (Mischehen) [zwischen den Kalajdži und den Zuzumani]. Ich kann sagen, dass ich ein Produkt von beiden bin. Zwischen den Kalajdži und den Zuzumani gibt es so eine Art von Wettbewerb. Die Kalajdži sehen sich selber als ›mehr zigeunerisch‹ an. Wenn man sagt: ›Tu asıl Rom san!‹… also ›asıl‹ heißt ›wirklich‹ (real), dann heißt das, du bist Kalajdži. Das heißt auch, wenn du Zuzumani bist, dann bist du nicht ›asıl Rom‹. Also mit uns ist das so, dass wir uns als die wirklichen Zigeuner ansehen. Wir denken, dass wir einhundertprozentige Zigeuner sind und die anderen weniger als das. Es ist ein Kennzeichen für unsere Gemeinschaft, dass wir uns selbst als ›wahre Zigeuner‹ sehen.  Rumyan Russinov Vielen Gruppen dient der Begriff Zuzumani als Sammelname für »alle anderen« Gruppen, um diesen eine niedrigere Position zuzuschreiben, die ihrerseits diese Begrifflichkeit auch übernehmen, wenn das eigene Endonym nicht (mehr) bekannt ist (vgl. Marushiakova & Popov 1997: 90, 96). Nicht nur Rumyan Russinov benutzte die Bezeichnung, sondern u. a. auch Nikolaj Kirilov und Toma Nikolaeff (s. u.).

Narratives Glossar

Kalajdži: Blechschmiede Wenn mich Leute fragen, was für ein Zigeuner ich bin, sage ich Kalajdži. Ich wurde in der kleinen Stadt Dunavtzi im Nordwesten Bulgariens in einer Gemeinschaft geboren, die sich Kalajdži nennt. Das ist der Name der Gemeinschaft meines Vaters. Die Gemeinschaft meiner Mutter ist Zuzumani. Aber ich habe eher die Identität der Gemeinschaft meines Vaters angenommen. Also mein Dialekt ist Kalajdži und nicht Zuzumani. Wenn mich Leute fragen, was für ein Zigeuner ich bin, sage ich Kalajdži. […] Meine Verwandten hier sind alle Kalajdži, alle! Das ist wovor sich die Zuzumani fürchten! Und in der anderen [Nachbar-]Mahalla sind auch alle Kalajdži. Es gibt in dieser Region (so) etwas wie eine Dominanz der Kalajdži. Wir waren sogar die, die ein wenig ironisch über die Zuzumani gesprochen und über ihren Dialekt Witze gemacht haben. Aber das ist etwas, was man auch in anderen Regionen feststellen kann.  Rumyan Russinov Für den Begriff Kalajdži ist die Faktenlage recht eindeutig: Als Blechschmiede lebten zumeist die Großeltern (hier der Akteure) als wandernde Handwerker auf dem Gebiet des heutigen Bulgariens. Marushiakova und Popov (1997: 62) differenzieren unter diesem Namen vier verschiedene Gruppen. Damit eine Unterscheidung möglich wird, raten sie dazu, weitere Bestimmungen vorzunehmen, die sich aus der Religionszugehörigkeit (christlich oder muslimisch), Toponymen (Herkunftsgebiet der Vorfahren, beispielsweise der Walachei etc.) oder Lokalonymen (eigene Wohn- oder Herkunftsregion oder -ort) zusammensetzen können. Mein Vater ist Kalajdži, meine Mutter Dasikani-Romni Ich bin ... also meine Großmutter ist Kalajdžijka und mein Vater ist Kalajdži. Sie haben dieses Handwerk auch ausgeübt, aber damit nicht weitergemacht. Es hat nicht zu uns gepasst. Mein Vater ist ein Hausbauer, ein Konstrukteur. Er macht die Dächer und die Isolation. [...] Wir wohnen in einer gemischten Gemeinschaft in Dupnica [im Südwesten Bulgariens]. In Dupnica gibt es fünf Gemeinschaften mit Romabevölkerung. In zwei von denen leben nur Roma (Gizdova Mahalla und Turska Mahalla). Die anderen drei sind gemischte Gemeinschaften. Ich lebe in einer von denen, in Gorna Mahalla. […] ›Gorna‹ heißt ›oben‹. Die anderen beiden segregierten Gemeinschaften, welche sehr weit draußen vor der Stadt liegen, heißen Ceveni und Podina. Da kannst du auch mehr Armut sehen als in meiner Gemeinschaft. [...] All die anderen [Roma] nennen uns Dasikane und wir nennen einige von ihnen Xoraxane, die in Ceveni und in Turska Mahalla. [...] Meine Mutter ist Dasikani-Romni.  Emil Metodiev

353

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Zigeunerkulturen im Wandel

Xoraxane: »Türkische Roma« Unter dieser Gruppenbezeichnung sind zwei verschiedene Konstellationen zu finden, die die Religionszugehörigkeit (muslimisch) und die sprachliche Komponente (Romanes und / oder Türkisch) miteinander kombinieren, wie es auch bei der Bezeichnung »Dasikane« (s. u.) der Fall ist. Xoraxane sind muslimischer Religionszugehörigkeit und sprechen entweder Türkisch oder Romanes. Xoraxane ist aber auch, wie bereits gezeigt, neben der Bezeichnung »Dasikane«, als zweiter Teil der größeren Gemeinschaft der (bulgarischen) »Jerlii« einzuordnen (s. »Dasikane«). Dasikane: »Bulgarische Roma« Die anderen nennen uns Dasikane, weil wir viele bulgarische Wörter im Dialekt haben. Ich gehöre der Gruppe der Dasikane-Roma an, also die anderen Roma nennen uns Dasikane, weil wir viele bulgarische Wörter in unserem Roma-Dialekt haben. Aber wie du weißt, jede Roma-Familie hat einen eigenen Namen unter den anderen Roma. Also nennen sie uns von meiner Vaterseite Memešti. Das sind alle Verwandten auf der Seite meines Vaters. Von meiner Mutterseite her nennen sie uns Favljašti.  Emil Metodiev Im Vergleich zu anderen Gruppennamen wird in diese Gruppenbenennung die (linguistische und religiöse) Nähe zur jeweiligen Umgebungsgesellschaft eingetragen, wie sie von anderen Roma / Zigeunern wahrgenommen wird: »Bulgarian Gypsies« nennen sie Marushiakova und Popov (1997) und erklären, dass Dasikane-Roma christlicher Religion seien, im Unterschied zu Xoraxane-Roma, die zumeist dem muslimischen Glauben folgen bzw. von anderen Gruppen eher mit der türkischen und damit muslimischen Herkunft assoziiert werden (s. »Xoraxane«), als mit einer bulgarischen und christlichen Herkunft. Emil Metodiev stellte oben zusätzlich geradezu exemplarisch heraus, wie Exonyme zu Endonymen gerinnen können. Denn mit dem wiederholten »nennen sie uns« spricht er ausschließlich von solchen Bezeichnungen, die außerhalb der Gruppe und sogar außerhalb der jeweiligen Familien seiner Eltern geprägt worden sind. Wobei hier Memešti und Favljašti, um mit Marushiakova und Popov (1997) zu sprechen, als »Patronym bzw. Matronym« (ebd.: 63) gelten können, da sie sich auf den Namen der Großfamilien der jeweiligen elterlichen Seiten beziehen.

Narratives Glossar

Vlach-Roma: »Der walachische Dialekt« Ein muslimischer Džambasi-Kalburdži-Vlach-Rom spricht zuhause türkisch Ich komme aus einer Vlach-Gruppe. Wir sprechen türkisch und Romanes. Zuhause sprechen wir türkisch. Meine Gruppe heißt Džambasi oder Kalburdži. Wir nennen uns selbst Džambasi-Kalburdži, aber die anderen Gruppen nennen uns Laho (oder Laxo). Die zwei Berufe meiner Familie sind von der Seite meiner Mutter Džambasi, also Pferdehändler, und auf der Seite meines Vaters Kalburdži, Siebmacher. Wir sind Muslime.  Hristo Kyuchukov Zunächst beziehen sich »Laxo« und »Vlach« auf ein und dieselbe Bezeichnung des Vlach-Dialekts des Romanes: »Laxo« ist dabei einzig im östlichen Teil Bulgariens, und »Vlach« vorrangig im westlichen Teil des Landes und in Sofia gebräuchlich (vgl. Marushiakova / Popov 1997: 73). Beide beziehen sich (Laxo indirekt und Vlach direkt) auf eine walachische Herkunft der Gruppen und müssten konsequenterweise sowohl als Toponyme wie auch als Dialektonyme gelten, da der walachische Einfluss auf den Dialekt dieser Gruppen hier zur Namensgebung dient (vgl. Matras 2002: 7, vgl. auch »Gadžikane«). Um der in der Walachei herrschenden Sklaverei zu entfliehen, kamen viele dieser Gruppen wahrscheinlich ab dem 17. bis 18. Jahrhundert ins heutige Bulgarien, das damals zum Osmanischen Reich zählte (s. Abschn. 4.2). Kalburdži, Rešetari: Siebmacher Beide Begriffe bezeichnen zwei Gruppen, die den »Vlach-Gruppen« (s. o.) zugeordnet werden können. Im Sinne vorliegender Arbeit muss auch hier eine Differenzierung vorgenommen werden. Denn die beiden Akteure Hristo Kyuchukov und Peter Goranov unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich ihrer Herkunftsregionen (H. Kyuchukov: Provadia, Nordostbulgarien und P. Goranov: Lom, Nordwestbulgarien) voneinander. Ihre religiöse Zugehörigkeit ist ebenso verschieden: beim ersten muslimisch und beim anderen christlich. Doch hat auch hier vorrangig die Profession der Vorgenerationen als Siebhersteller zur Gruppenbenennung geführt, obgleich dieses Professionym als Gruppenethnonym auch viele andere und unterschiedliche Gruppen bezeichnet. Kalderaš: Kesselschmiede ... aber weißt du, Kalajdži und Kalderaš ist dasselbe. Ich wurde 1966 in Dobrič geboren, einer Region im Osten Bulgariens. Mein Vater und meine Mutter sind Wanderzigeuner. Mein Großvater väterlicherseits

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ist Kalajdži und hat in ganz Bulgarien gearbeitet, durch Ziehen von Dorf zu Dorf. Mein Großvater lebte im Wald, wo es viele – fünf, vielleicht zehn – Familien gab. In der Moderne leben die Kalajdži eher auf den Straßen, in Caravans. Aber früher, vor der Technik, lebten die Leute eher so. Mein Vater wurde in Pleven geboren, meine Mutter in Plovdiv. Siehst du, jedes Familienmitglied meiner Familie wurde an einem anderen Platz geboren. Sie sind alle Wanderzigeuner. Ich sag Wanderzigeuner, da es noch andere Zigeuner gibt, die keine Wanderzigeuner sind. [...] Meine Mutter ist auch Kalajdžijka. Ich sage immer, dass ich ein Kalderaš bin, aber weißt du, Kalajdži und Kalderaš ist dasselbe. Der Vater meiner Mutter war Kalajdži-Kalderaš. Ich habe vier Kinder und bin mit einer Romni-Zuzumanka verheiratet. Ich bin Kalderaš und habe eine Frau aus einer anderen Gruppe. Das ist oft ein Problem.  Toma Nikolaeff Kalderaš ist einer der wohl am häufigsten beschriebenen unter den zu findenden Gruppennamen. Vom Rumänischen »căldare« (Kessel) abstammend, trägt er im eigentlichen Sinne ein Professionym in sich. Die Sonderstellung dieser Gruppen, sowohl im heutigen Bulgarien als auch in der Geschichte beider Untersuchungsregionen, wird im Verlauf der Arbeit noch mehrfach verdeutlicht und diskutiert. Der Akteur Toma Nikolaeff verwendete ihn allerdings, um die wandernde Lebensweise seiner Vorfahren zu unterstreichen, wobei wiederum ihre spezielle Profession (als Blechschmiede) zur primären Eigenbezeichnung herangezogen wurde (s. »Kalajdži«; s. Kapitel 4). Muzikanti: Musikanten Hierzu, so scheint es beim oberflächlichen Betrachten, bedarf es keiner weiteren Erklärung. Schließlich sind Musikanten auch Musiker etc. Doch nicht ohne Grund habe ich mich für »Musikanten« und nicht »Musiker« als Begriffsdeutung entschieden. Denn in der Tat ist »Muzikanti-Roma« als Gruppenname u. a. auch in Bulgarien gebräuchlich, doch gibt es auch Familien, aus denen berühmte Musiker hervorgegangen sind, ohne sich jedoch als »Muzikanti-Roma« zu verstehen. Sie sind dann, wie Nikolaj Kirilov oder Nadir Redzepi, Musiker, aber aus anderen Gruppen als aus denen, die sich selbst als »Muzikanti-Roma« bezeichnen. Demgegenüber sind viele Mitglieder der »Muzikanti-Roma«-Gruppen keine Musiker geworden. Marushiakova und Popov (1997) verorten jene »Muzikanti-Roma«Gruppen zu den Xoraxane (ebd.: 72, s. o.).

Narratives Glossar

B egrifflichkeiten für beide L änder Kovači: Huf- und Grobschmiede [Unser Dialekt] ist Kovači. Wir sprechen Romanes zu Hause, aber eben Arliski-Dialekt. Das ist [aber auch] eine andere Gruppe! Meine Mutter ist keine Romni. Meine Mutter kommt aus Serbien. Und mein Vater ist Rom. Aber sie [meine Mutter] akzeptiert alles, was mit Roma zu tun hat. Sie spricht Romanes, sie feiert die Roma-Feiertage usw. [Unser Dialekt] ist Kovači-Kovači. Das ist der Dialekt meines Vaters, aber meine Brüder können diesen Dialekt nicht sprechen. […] Wir sprechen Romanes zu Hause, aber eben Arliski-Dialekt. Das ist [aber auch] eine andere Gruppe. Denn sie [meine Brüder] mögen den Kovači-Dialekt nicht. Es klingt sehr lustig, wenn jemand Kovači-Dialekt spricht. Und ich spreche Kovači mit meinen Eltern.  Ajet Osmanovski Obwohl einige der mazedonischen Akteure »Kovači« als einen Dialekt verstehen, besteht wohl kein Zweifel an seiner etymologischen Bedeutung als Professionym für »Schmied« (vgl. Dunin 1998: 4; Marushiakova / Popov 1997: 99). Und in diesem Bedeutungszusammenhang verwendet ihn auch beispielsweise Alvin Salimovski, als er mir über seine Familie, Herkunft und Perspektive auf einige Gruppen in Shutka Auskunft gab (s. u.). Darüber hinaus wird »Kovač« in vielen slawischen Sprachen mit »Schmied« übersetzt (u. a. im Bulgarischen, Mazedonischen, Serbischen und ebenso auf Ungarisch etc.). Džambasi: Viehzüchter und -händler Ich bin ein Džambasi-Rom und Roma-Christ. Ich bin ein Džambasi-Rom mit christlichem Glauben. […] Die meisten Džambasi sind Muslime, ich bin Christ, Roma-Christ. Ich bin in ›Mahalla‹, also in Topaana geboren. [...] Mein Vater ist in Topaana geboren und meine Mutter auch. [I]ch weiß über meine Großmutter, also meine Mutter mütterlicherseits, dass sie aus Uroševats, aus Kosovo kommt. Und ihre Schwester auch. [...] Und mein Onkel hat uns erzählt, dass unsere Familie eigentlich aus Serbien kommt. Aus dem Süden Serbiens und nicht aus Kosovo, weil wir auch Verwandte in Belgrad [haben], in Kralevo und in Tshatshak usw. […] Meine Eltern haben zu Hause Džambasi-Dialekt gesprochen.  Branislav Petrovski Für diesen Begriff stimmen die Daten in den verschiedenen Quellen mit denen der Akteure überein: Džambasi bedeutet, dass Händler, Pfleger oder Züchter –

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zumeist von Pferden – in der Familie lebten oder leben. Auf diesen Begriff habe ich auch im historischen Teil verwiesen (Kapitel 4). Laut einer Quelle von Evliya Efendi, eines der bekanntesten Reisenden und Diplomaten aus der Amtszeit des Sultan Murad IV (Amtszeit 1623–1640), in der die im Osmanischen Reich existierenden 57 Gilden aufgeführt werden, verweisen Marushiakova und Popov (2001) und Grevemeyer (1998) auf die 15. der von Efendi aufgezählten Gilden: der »Džambasi«. Diese Gilde würde aus »reichen Kaufleuten« bestehen, unter denen »die meisten Zigeuner« seien (vgl. Efendi 1834–1850: 170, so zit. in Grevemeyer 1998: 60 und in Marushiakova / Popov 2001: 44). Zudem wurde mir mehrfach in Bezug auf Shutka bestätigt, dass sich die beiden Begrifflichkeiten »Džambasi« und »Arli« (Erli) zueinander ähnlich verhalten, wie es sich auch bei den beiden Begriffen »Zuzumani« und »Kalderaš« für die bulgarischen Akteure dargestellt hat: Für die »Džambasi« seien alle anderen Roma »Arlije«. Wie wir noch von Alvin Salimovski erfahren werden, trifft das auch für alle »Arlije« in Shutka zu. Doch verwenden diese dann entsprechend den Begriff »Erlije«.

B egrifflichkeiten der ma zedonischen A k teure Der Interimsdirektor Alvin Salimovski ist seiner Herkunft nach aus Kriva Palanka (einem Ort ca. 100 km östlich von Skopje) und reflektiert seine Beobachtungen in Shutka im Zusammenhang mit seiner eigenen Herkunft und (Gruppen-) Zugehörigkeit. Für das Verständnis seiner Erzählung werden im Anschluss die Begrifflichkeiten Erli / Džambasi, Barudži und Čergari erläutert. Über Džambasi, Erlije, Kovači und Čergari Shutka und Kriva Palanka im Vergleich Ich bin ein Arli aus Kriva Palanka […] Unsere Familie ist eigentlich nach meinem Großvater benannt, die waren Kovači. Mein Vater und meine Mutter kommen nicht [direkt] aus einer Kovači-Gruppe, sondern meine Großmutter (Fetie). Ihr Vater war aus Serbien nach Kriva Palanka gezogen und meine Großmutter ist in Kriva Palanka geboren. Der Großvater von meiner Großmutter war ein Schmied und sein Sohn, der Vater von meiner Großmutter war der Letzte von unserer Familie, der als Schmied gearbeitet hat. Mein Großvater, mein Urgroßvater, der Vater meines Opas väterlicherseits und der Vater meiner Großmutter, alle haben diese Arbeit gemacht! Mein Großvater arbeitete aber nicht als Siedler. [...] Mein Vater hat seinem Großvater ein bisschen geholfen, doch dann hat unsere Familie diese Arbeit nicht mehr gemacht. Nicht nur unsere Familie, auch andere! Deswegen gibt es in Kriva Palanka keine Kovači mehr. […] Aber mein Großvater war ein Arli. Deshalb sind wir auch Arlije. Meine Großmutter und ih-

Narratives Glossar

ren Bruder habe ich niemals Kovači sprechen gehört. Sie sprechen auch wie wir, Arli. [...] Meine Familie in Kriva Palanka spricht zwar auf Erli Dialekt, aber in Skopje sagen sie nicht Erli, sondern Arli. Das ist auch der Gruppenname: Erlije. Es ist auch interessant, dass es in Shutka eine Gruppe von Roma gibt, die es in Kriva Palanka nicht gibt, und sie sprechen sehr ähnlich wie wir, aber sind nicht Arlije, sondern Barudži. [...] Und bei uns in Kriva Palanka ist es so: Die meisten, die nicht in der Mahalla wohnen, sind die Arlije. […] Und die in der anderen Mahalla sind ... als ich noch klein war, sag(t)en wir über die Roma, die in der Mahalla wohnen, ›Čergari‹. […] Das ist eine Gruppe! Die Čerga ist eine handgemachte Matte, ca. einen Meter lang, kein Teppich. Ich glaube, dass das Wort daher kommt. […] Also, es sind Handwerker. […] Und es gibt über diese Menschen auch – wenn man sagt ›tu Čergari sian‹ (Romanes: du bist ein Čergari) – eine negative Bedeutung. Und die Situation vor etwa zehn Jahren in der Mahalla in Kriva Palanka war, [dass] sie keine Ausbildung hatten. Meistens hatten sie nur Grundschule oder gar keine Schule. […] Es gab keine separate Schule für die Mahalla, sondern eine mazedonische Schule. […] Über den Begriff ›Čergari‹: Es ist nur ein Pejorativum und nur das Stereotyp zwischen diesen zwei Gruppen in Kriva Palanka. […] Es ist so: die Roma in der Mahalla haben über uns Arlije die Meinung, dass wir den Roma in uns verloren haben und dass wir mehr wie Gadže sind und leben als wie Roma. Also Tradition, Benehmen, Gewohnheit usw. Und wir, die Arlije, benutzen den Begriff ›Čergari’, weil sie keine Bildung haben, das resultiert dann in Arbeitslosigkeit, Betteln usw. […] Aber in den letzten zehn Jahren haben viele Roma aus der Mahalla ihre Religion verändert. Also alle waren früher Muslime. Jetzt gibt es bei uns die Zeugen Jehova und viele sagen, es sei eine Sekte. Als sie [die Čergari] angefangen haben, die neue Religion zu übernehmen, haben sie angefangen, jeden Tag zu lesen, zu schreiben und jetzt haben sie auch angefangen ... fast jedes Kind geht in die Schule. Und die Situation ist jetzt viel besser als früher.  Alvin Salimovski Arli / Erli: »Sesshafte« Vom Türkischen yerli abstammend, trägt der Begriff (in den unterschiedlichen Schreibweisen Arlije, Arlii, Erli, Erlije, Erlii usw.) die eigentliche Bedeutung einer Lebensweise in sich (Matras 2002: 6), die jedoch vorrangig für Muslime galt. Im Zusammenhang mit den Akteuren und den verwendeten Quellen aber gilt der Begriff als dialektale Zuordnung für alle Gruppen, die »Nicht-Vlach-Dialekte« (vgl. »Jerlii« in Marushiakova / Popov 1997: 72) bzw. Dasikani-Dialekte des Romanes sprechen (vgl. Matras 2002: 6). Koinova (2000) notiert, dass Arlija der am weitesten verbreitete Dialekt in Mazedonien sei und vorrangig in Skopje, Stip, Kochani und Kumanovo gesprochen wird (ebd.: 31ff.) und auch Dunin (1998) bezeichnet sie als »Arlija language group«, welche die ältestangesiedelte Gruppe in Skopje sei, zu der beispielsweise auch die »Topaanli, Barutčii und die Gađikane«

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zählen würden (ebd.: 4). Auf die drei letztgenannten Begriffe gehe ich weiter unten gesondert ein. Čergari: »Nomaden« Der Historiker Jan-Heeren Grevemeyer (1998) bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die Quelle des Reisenden Ami Boué (1889). Wenngleich Grevemeyer Boués Daten als Mischwerk von Informationen und Einschätzungen bewertet (ebd.: 77), ist Boués Bezug zum Begriff Čergari auch für meine Erklärung dienlich: Er beschreibt Čerga als eine »graue oder schwärzliche, mit einer öligen Masse getränkte[n] Leinwand«, die die »Wanderzigeuner« als Material für ihre »elenden Zelte« benutzen würden (Boué 1889, so zit. in Grevemeyer 1998: 81). Wenngleich es die Baumaterialien waren, die Boué so beeindruckt haben, ist sich doch die Literatur heute darüber einig, dass Čergari im Zusammenhang mit Roma / Zigeunern »Nomaden« bedeutet: »the Čergari, the nomads, who [...] do not interact with settled and established Roma citizens«, schreibt Dunin (1998: 4). Zwar ist ihre Studie auf die Stadt Skopje begrenzt, doch kann sich mit Alvin Salimovskis vorangestellter Erklärung eben Aufgeführtes auch für andere Gebiete in Mazedonien bestätigen lassen wie ebenso, dass der Begriff im Alltagsgebrauch häufig degradierend verstanden wird, wie es mir in vielen Gesprächsrunden unter einigen Bewohnern in Topaana und Shutka bestätigt wurde: Die »Čergari« seien »die Müllsammler, die Bettler, die früher mit nicht mehr als nur ihrer Matte durchs Land gezogen seien und gebettelt« hätten. Ihre Kinder spielen auf der Straße, wohin sie auch ihren Müll werfen! Die Čergari sind unsere Nachbarn! Schau sie dir an! Sie kümmern sich einen Scheiß darum, ob ihre Kinder auf der Straße spielen oder wohin sie ihren Müll werfen! Sie wechseln einfach vor ihrem Haus das Öl ihres Autos, das keins ist! Keinen Tag später erwähnte er, wie clever der Nachbar, der Čergari, sein altes Auto auf allzu schmale Kanthölzer gestellt hätte, um unter dem Motor dieses alten Zastavas herumschrauben zu können.  ein Rom in Skopje über seine ›Čergari‹-Nachbarn Heute gelte der Begriff Čergari laut einiger Bewohner Shutkas für die, »die Müll sammeln« und diesen später »vielleicht auch noch verkaufen« würden. Das heißt, sie seien »einfach in der untersten Zigeuner-Hierarchie« usw. Mir gegenüber wurde auch häufig bestätigt, dass Čergari zumeist den Džambasi-Dialekt sprechen würden. In den vier Sprachen türkisch, bulgarisch, mazedonisch und auf Romanes bedeutet »Čerga« (черга) »Matte« und im Mazedonischen sogar »kleines Zigeunerzelt«. »Čergari« (чергари) wird u. a. im Mazedonischen mit »umherziehen« und »Čergar« (чергар) sogar mit »Wanderzigeuner« übersetzt.

Narratives Glossar

Arabadži: »Fuhrmann« Wir sind Kovači, die anderen nennen unseren Dialekt Arabadži und wir nennen die anderen Erlije. Unsere Familie ist Kovači. Wir sprechen den Dialekt der Kovači. Aber sie [die anderen Roma / Zigeuner in Tetovo] nennen unseren Dialekt Arabadži. […] Meine Großeltern sind Kovači. Während der Generationen haben wir uns verändert. Mein Vater war Schuhmacher, ich bin zuerst Musiker gewesen und nun im NGO-Sektor ein Manager, und mein Sohn ist zurzeit in Budapest am RomaAccess-Programm. […] Ich bin in Dolna-Mahalla (in Tetovo) aufgewachsen. Das Gebiet (der Mahalla) befand sich vor 40 Jahren noch am Ende der Stadt. Die Türken haben diese Mahalla damals schon gebaut und die Leute in der marginalisierten Zone der Stadt angesiedelt. Die Leute, die hier leben, waren früher die Bediensteten der Türken, also damals. Sie haben türkisch gesprochen, obwohl sie Roma sind. Diese Mahalla ist also eine türkischsprachige Mahalla, aber sie haben niemals ihre Roma-Identität verleugnet. Zu Hause sprechen wir immer Romanes. […] aber, wie Sie sehen, dieselbe Mahalla befindet sich heute mittlerweile inmitten der Stadt. Ich bin daher auch mit vielen Gadže als Freunden aufgewachsen. [...] Die Mahalla hat ein paar Intellektuelle hervorgebracht. Wir hatten damals schon einen, der Deputy-Bürgermeister von Tetovo war. Er war von dort und lebt da noch heute. Er ist einer der türkisch sprechenden Roma, kein Kovači. […] Und die nennen wir Erlije.  Nadir Redzepi Ginio (2004) argumentiert, dass die Roma / Zigeuner nur für »modest auxiliary tasks« (ebd.: 135) in die osmanische Armee rekrutiert wurden, wie es auch für die Schießpulverherstellung in den Salpetergruben der Fall war (s. Kapitel 4). Im Zusammenhang mit dem Begriff »arabaci« (türkisch: Fuhrmann, vgl. Boretzky 2000: 106) bezieht sich Ginio auf ein Edikt aus dem Jahr 1696, in dem die Qualitäten der Führer der Ochsenkarren, der »arabaci«, kritisiert und die vielen fahnenflüchtigen Roma / Zigeuner moniert werden (ebd.: 136). Arabadži sei einer von den drei Dialekten (i. e. Gruppen), die nach Boretzky (2000) zu der »Südbalkan II«Dialektgruppe gehören. Dazu zählen für ihn primär die Gruppen der »Bugurdži [sic!], der Drindari und der Kalajdži«, wobei einige der »Bugurdži [sic!]-Gruppen« sich selbst als »Rabadžides« bezeichnen würden (ebd.: 106).

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Wir sind Gadžikane-Roma und sprechen Džambasi-Dialekt. Ich wurde in Shutka geboren. Wir sind Gadžikane-Roma: also Roma, aber christliche Roma. Viele Roma sind Muslime, aber wir sind eine kleine Gruppe von orthodoxen Roma. Die meisten Roma-Namen sind [daher] muslimisch, aber unsere sind christlich. Meine Mutter ist Muslimin. Als sie mit meinem Vater verheiratet wurde, wurde sie orthodox. Sie ist in Shutka geboren und mein Vater auch. Er ist Džambasi. [...] Mein Vater ist ein Gadžikane-Rom. Ich kann nicht sagen, dass es eine Gruppe ist, es ist ein Roma-Dialekt. Denn ich denke, dass Gadžikane-Roma eine Gruppe ist, wie zum Beispiel die Albaner Katholiken und auch Muslime haben, so trennen wir uns auch als Roma-Christen von den Roma-Muslimen. […] Ich kann für meine Mutter, bevor sie verheiratet war, sagen, dass sie zwar nicht aus der Gruppe kommt, aber zu Hause haben sie Gavutno-Roma-Dialekt gesprochen. Und was wir heute zu Hause sprechen, ist der Džambasi-Dialekt.  Daniel Petrovski Gadžikane-Roma: Orthodoxe Christen Mit »non-Gypsy Gypsies« übersetzen Marushiakova und Popov (1997: 69, 78) den Begriff »Gadžikane-Roma«. Der wiederum sei das Exonym von anderen Roma / Zigeunern für »walachische Roma / Zigeuner« (ebd.), und nicht zu verwechseln mit der linguistisch designierten Gruppe der »Vlach-Roma« (s. o.). So stellt sich jedenfalls die Datenlage für Bulgarien dar. Für Mazedonien jedoch verwendet Koinova (2000) beide Begrifflichkeiten synonym, wenn sie notiert: »Vlach Roma – also known as the Gazhikane Roma – who are migrants from the Danubian (Romanian) Principalities of Wallachia and Moldavia« (ebd.: 6, H. i. O.). Daniel Petrovski gebrauchte den Begriff aber, um den religiösen Unterschied zu den Muslimen darzustellen und gleichzeitig, nicht zuletzt durch seine ethnologische Ausbildung, auf den Dialekt hinzuweisen, den er jedoch zu Hause nicht spricht, sondern den väterlichen Džambasi-Dialekt (s. o.). Gavutno: »vom Dorf« Der Begriff »Gav« bedeutet in den meisten Dialekten des Romanes einfach »Dorf« und »gavutno« folglich Dorf bewohner. Im Kontext dessen, wie sich Daniel Petrovski selbst verortet, gilt es hier lediglich zu beachten, dass wie die Mutter, die »zu Hause Gavutno-Dialekt« gesprochen hat, in diesem Fall von den Roma / Zigeunern in der Stadt, die schon länger dort ansässig sind, die zugewanderten Gruppen vom Land als »Dorf bewohner« deklariert wurden. Daher ist nicht klar bestimmbar, welchen Dialekt seine Mutter nun genau gesprochen hat, nur eben, dass sie und ihre Familie nicht aus der Stadt sind.

Narratives Glossar

Barudži: Schießpulverhersteller Für einige der Gruppen (u. a. in der Mahalla Topaana in Skopje) gilt dieser Begriff, wie auch für viele andere, als Professionym: die, die ihren Dienst als Schießpulverhersteller im osmanischen Militär erbracht haben.2 Wenn heute allerdings unter vielen Roma / Zigeunern in Shutka und Topaana Shutka von Barudži die Rede ist, assoziiert man sie mit Gänse- oder Taubenzüchtern, wie z. B. Duduš Kurtos Vater »sich um seine Tauben kümmert«, weil das »typisch für Barudži« sei. Wann diese inhaltliche Bedeutungsverschiebung nun genau stattgefunden hat, lässt sich nicht beantworten. Den Gesprächskontexten, denen ich beigewohnt habe, war nur jene Bedeutung geläufig und der Bezug zu den Schießpulverherstellern wenigen bekannt. Burgudži: (Hand-)Bohrerfertiger (Werkzeugschmiede)3 Mein Großvater väterlicherseits ist Džambasi und meine Großmutter Kovači. Ich komme aus einer Burgudži-Gruppe. Ich komme aus der Gruppe der Burgudži, was ein anderer Begriff für Kovači, der Schmiede, ist. Dass ich Burgudži bin, sagt der Dialekt, in den sich Roma unterteilen. Mein Vater ist ... also von seiner Mutterseite ist er Kovači und von seiner Vaterseite ist er Džambasi. Und meine Mutter ist hundertprozentig Kovači. Alle meine Familienmitglieder sind also meist Kovači. Ich habe leider kaum jemanden getroffen, der älter war als meine Großmutter. Vor ca. 50 Jahren haben meine Großeltern und deren Familienmitglieder noch kleine Geschäfte gehabt mit diesen Schmiedereien. Also der Dialekt sagt zuerst, woher du kommst, und dann, welchen Beruf man ausübt oder welchen die Vorfahren hatten.  Ramadan Berat Auf dem Balkan gibt es drei unterschiedliche Gruppen, die diesen Begriff als Gruppenbezeichnung tragen, der eigentlich als Professionym zu verstehen ist. Zum einen ist diejenige zu nennen, die auf den Gebieten des heutigen Kosovo 2 | Vgl. u. a. Puxon 1976: 128; Marushiakova / Popov 1997: 118; Dunin 1998: 4; Crowe [1994] 2007: 218, 364. 3 | Bei der Quellensichtung war nicht zu übersehen, dass scheinbar Uneinigkeit darin besteht, ob »Bugurdzi« [sic!] (Matras 2002, Boretzky 2000, Dunin 1998, Koinova 2000) oder »Burgudži« (Marushiakova / Popov 1997, Gilliat-Smith 1915–1916) benutzt wird. Ich richte mich bei meiner Entscheidung zum einen nach dem türkischen Begriff »burgucu« (und nicht »bugurcu«[sic!]). Zum anderen und im Sinne des narrativen Charakters der Arbeit bezeichnete Ramadan Berat sich als »Burgudži-Kovači« (s. Akteurstabelle).

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und Mazedoniens lebt und von Boretzky ausführlich beschrieben wurde. Dort zählen »Bugurdži« [sic!], neben den Kalajdži und den Drindari, zu der Dialektgruppe der »Süd-Balkan II«-Dialekte. Der Name stamme vom Türkischen »burgucu« ab und wird mit Bohrer- bzw. »Handbohrerfertiger« übersetzt (2000: 106, s. Marushiakova / Popov 1997: 72). Boretzky fügt hinzu und bestätigt Ramadan Berats Worte, dass sie in Mazedonien auch als »Kovatci« bekannt seien (ebd.). Koinova (2000) zufolge sind »Bugurdži« [sic!]-Gruppen im frühen 20. Jahrhundert aus dem Flachland nördlich von Kumanovo ins mazedonische Gebiet migriert (ebd.: 7) und seien dort auch als Pferdehüter bekannt gewesen (vgl. Dunin 1998: 4). Koinova zufolge sei der Dialekt vorrangig im nördlichen Mazedonien gebräuchlich (2000: 31ff.). Des Weiteren ist die Bezeichnung in älteren Quellen zu finden, wie bspw. bei Gilliat-Smith, der in seinem unter dem Pseudonym »Petulengro« veröffentlichten Artikel (1915–16) auf »Burgudjis« in Bulgarien hinweist, die nicht sesshaft und christlich orthodox waren (ebd.: 45). Im Gegensatz dazu sind diejenigen Gruppen mit demselben Namen, die bei Marushiakova und Popov beschrieben und ebenso in Bulgarien zu finden sind, eher muslimisch geprägt, denn, so notieren die Autoren, diese Gruppe gehört zu den Xoraxane-Roma (1997: 5ff.). So ist das einzig verbindende Merkmal die Gruppenbezeichnung. Allerdings besteht unter diesen drei Gruppen weder eine weitere Verbindung, noch haben sie Kenntnis voneinander. Giljanli: »aus Gniljiane« Gniljiane befindet sich ca. 40 km südöstlich von Pristina (Kosovo) und dient für die Bezeichnung »Giljanli« als Orts- und Herkunftsname, um in Mazedonien diese von anderen Gruppen zu unterscheiden (vgl. Dunin 1998: 4), die zum beginnenden 20. Jahrhundert nach Mazedonien migrierten (s. Gurbet) und laut Koinova (2000) heute bekannt dafür seien, als Verkäufer auf dem Markt zu arbeiten (ebd.: 7). Gurbet: »Gastarbeiter« Mit »Gastarbeiter« wird das aus dem Türkischen stammende »gurbet« wohl am besten übersetzt, wenngleich Lapov auf das arabische »gurbä« verweist, was »living abroad alone« oder »loneliness, solitude« bedeute (Lapov 2008: 157). Im mazedonischen Kontext werden bspw. Džambasi als Gurbet bezeichnet (Dunin 1998: 4, vgl. Koinova 2000: 7). So wird aus dem Hinweis: »Mach keine Geschäfte mit einem Džambasi!« unter Topaansko, Barudži, Gavutno, Giliansko und Madžuri-Roma in Skopje daraus der Satz: »Ma te ovel tut buti e gurbencar!« (vgl. Lapov 2008: 162ff.) Laut Lapov handelt es sich im Zusammenhang mit Mazedonien um den Süd-Gurbet-Dialekt (ebd.: 155), der wiederum von Gruppen benutzt wird, deren eigentliches

Narratives Glossar

Ethnonym im neuen sozialen Kontext mit dieser Fremdbezeichnung überdeckt wurde. Die Süd-Gurbet-Gruppen standen auf dem Gebiet Mazedoniens in engem (Sprach-)Kontakt mit Arli-Gruppen, sodass der Einfluss des Arli-Dialekts auf den Gurbet-Dialekt bis heute deutlich erkennbar ist (ebd.: 155). Sandžak Im Allgemeinen ist unter dieser Bezeichnung das historische Gebiet Sandžak (Sandžak Novi Pazar) gemeint, das das heutige Südwestserbien und Nordostmontenegro umschließt (s. Karte 3, S. 129). Jedoch diente er auch zur Bezeichnung von Roma- / Zigeunergruppen, die in der osmanischen Armee kleinere Dienste verrichteten. Marushiakova und Popov berichten von einem Gesetz um die Mitte des 16. Jahrhunderts, das die Führer von »Gypsy-Sanjaks« betraf und weisen eindrücklich darauf hin, dass der Terminus in der Zeit des 16. Jahrhunderts nicht im geographischen Sinne zu verstehen gewesen sei (2001: 34). Im Zusammenhang mit dem 21. Jahrhundert und dem Akteur Amdi Bajram jedoch trifft eher jene territoriale Einordnung zu. Denn seine Großmutter mütterlicherseits hat »bei reichen ›Sandžak‹« gearbeitet, wo sie dann auch auf ihren späteren Ehemann, »einen Gadžo aus dem Sandžak« traf. Topaanli: Kanoniere Die älteste Roma- / Zigeunermahalla in Skopje stellt wahrscheinlich Topaana-Mahalla dar, die unter den Bewohnern seit der Errichtung Shutkas einfach als »Mahalla« bezeichnet wird. Während der osmanischen Herrschaft auf dem Gebiet galt Üsküp (Skopje) als Garnisonsstadt (vgl. Crowe 1994), in der laut Puxon (1976) die Roma / Zigeuner, die Schießpulver herstellen, unter dem Namen »Top-hane« bekannt wurden. Dabei bedeutet »top« im Türkischen »das Geschütz«, bzw. »die Kanone« und »hane« soviel wie »Ort« oder »Stellung«. Puxon beschreibt Topaana-Mahalla als eine »ramshackle collection of bluewashed cottages and shacks«, in der die meisten »Arlija Gypsies« (s. o.) seien, zu denen u. a. Barudži (Schießpulverhersteller), Topanca (in Topaana Geborene), Džambasi und Kovači (s. o.) gehörten (ebd.: 128). »Sie wollen unter den Gadže mehr Gadžo als Roma sein!«: Yarim Agalari und Maljoko Diese zwei abschließend zu erläuternden Bezeichnungen zählen zu den sogenannten Pejorativonymen, die mir insbesondere von Roma / Zigeunern in Skopje genannt und teilweise erklärt worden sind. Sie stehen hier stellvertretend für viele weitere Gruppenbenennungen, die ausschließlich abwertend verwendet und verstanden wurden.

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Maljoko: »aus den Bergen« Die aus dem Kosovo nach Mazedonien migrierten, albanisch sprechenden Roma- / Zigeunergruppen benennt Koinova (2000) als »Maljoci Roma« (ebd.: 7, H. i. O.). Im Albanischen bedeutet der Begriff »aus den Bergen« und wird im Kontext der Roma / Zigeuner beispielsweise in Shutka für diejenigen Roma / Zigeuner gebraucht, die sich besonders unter Mitgliedern der Mehrheitsbevölkerung vorrangig als Albaner und nicht primär als Roma / Zigeuner ausgeben. Einer der hier vorgestellten Akteure, Shaban Saliu, wurde z. B. als »Maljoko« bezeichnet, als ich mich mit Roma / Zigeunern in Shutka über ihn unterhielt. Yarim agalari: »Halbe Herren« Roma / Zigeuner, die sich hingegen vornehmlich als Türken identifizieren, wenn sie sich innerhalb der Mehrheitsgesellschaft bewegen, werden von anderen Roma / Zigeunern oft als »Yarim agalari« bezeichnet. Dieser Begriff deutet an, dass die so Bezeichneten ihre Identität als Rom / Zigeuner nach außen verbergen. Zwar sprechen sie z. T. Romanes, doch mit dem Voranstellen der türkischen Identität rückt Türkisch auch als Sprache in den Vordergrund. Koinova (2000) begründet dieses Phänomen mit der Entwicklung Mazedoniens nach der Gründung der Föderalen Republik Ende des 20. Jahrhunderts (ebd.: 180), infolge derer bei einigen Roma / Zigeunern ein »Prozess des Identitätswechsels« einsetzte, durch den einige unter ihnen »gradually chose to redefine their identity as Turkish« (ebd.). Davon migrierten, so Koinova weiter, zwar wenige in die Türkei, doch verbleiben die meisten in West-Mazedonien, wo sie »verstreut in der mehrheitsgesellschaftlichen Umgebung« leben (ebd.: 181). Dieser Identitätswechsel sei Koinova zufolge auch mit dem Erscheinen der NGOs in Mazedonien zu begründen, die vorrangig Roma-Themen in Angriff nahmen und einigen Roma / Zigeunern somit die Möglichkeit gaben, ihre Roma-Identität wieder zu betonen (ebd.).

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Leitfragenübersicht Die Hauptleitfragen sind mit Vollpunkten gekennzeichnet. Die Fragen, welche mit »ggf.« (gegebenenfalls) kenntlich gemacht sind, haben die Akteure bereits in einem anderen Kontext beantwortet, sodass ich diese Fragen nur in Ausnahmefällen explizit stellte. • Zunächst bin ich an Ihrer / deiner Biographie interessiert und daran, wie Sie / du in diese Position hier in der Organisation / Partei / Parlament etc. gekommen sind / bist. Können Sie / kannst du darüber etwas erzählen? • Wo sind Sie / bist du geboren? Wie sind die gesellschaftlichen / ethnischen / religiösen Strukturen Ihres / deines Geburts- / Wohnortes beschaffen? • Wer sind Ihre / deine Eltern, Großeltern, Geschwister? • Wo sind Sie / bist du aufgewachsen, zur Schule gegangen, wer waren Ihre / deine Freunde? –– Ggf. Wussten Ihre / deine Freunde, dass du Rom(ni) bist? –– Ggf. Wo haben Sie / hast du studiert? • Aus welcher Familie kommen Ihre / deine Eltern? –– Ggf. In welchem Bezirk / welcher Mahalla sind Sie / bist du geboren, haben Sie / hast du geheiratet etc.? • Wer hat auf Ihre / deine Bildung geachtet? –– Ggf. Woher kam die Idee, zu studieren? –– Ggf. Welchem Modell sind Sie / bis du nach Ihrer / deiner Bildung gefolgt? • Welches Ansehen hat jemand in Ihrer / deiner Gruppe, der studieren geht und lange wegbleibt oder gar nicht wiederkommt? –– Ggf. Wie verhalten sich die Gruppenmitglieder gegenüber einer solchen Person und wie wird über sie geredet? • Was verstehen Sie / verstehst du unter dem Begriff »Roma- / Zigeunerleader«? –– Ggf. Welcher dieser Leader hat innerhalb der Gemeinschaft den prestigeträchtigeren Status und Macht?

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• Was ist in Ihren / deinen Augen ein guter / idealer Führer und / oder ein guter / idealer Repräsentant einer Roma- / Zigeunergemeinschaft? –– Ggf. Wie ist Ihrer / deiner Meinung nach ein Weg gestaltet, auf dem die Gemeinschaft oder die Gesellschaft gute Führer und Repräsentanten auf bauen / entwickeln könnte? • Wo sehen Sie / siehst du die zu bewältigenden Hauptprobleme bei einer Integration der Roma- / Zigeunergruppen? • Gibt es Unterschiede zwischen den Werten im Leben der Roma / Zigeuner und denen der der Nicht-Roma / -Zigeuner? Wenn ja, welche? –– Ggf. Was meinen Sie / meinst du, wenn Sie sagen / du sagst, Roma- / Zigeunergruppen haben ihr Wertsystem zu ändern. Um welche Werte handelt es sich dabei? • Arbeitet Ihre / deine Organisation / NGO / Partei etc. mit anderen Organisationen / NGOs / Parteien oder anderen Nachbarschaften zusammen? • Gibt es ein eigenes Konzept zu Roma- / Zigeunerleader, das ohne den Einfluss der Gaje-Gesellschaft existiert? • Was sind Ihre / deine Wünsche für die Zukunft?

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1 | Diese Literatur- und Quellenliste enthält alle Artikel (inklusive der elektronisch veröffentlichten Artikel), Bücher, Buchkapitel, Reports, unveröffentlichte Papers, offizielle Dokumente und Filme. Alle weiteren Quellen und Interviews sind separat aufgelistet.

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2 | Hier sind alle »offiziellen« Interviews und Gespräche aufgeführt, zu denen mir nachhörbares sowie transkribiertes Audiomaterial vorliegt. Zu näheren Informationen über weitere Gespräche und Treffen mit den Akteuren siehe jeweils Kapitel 5 und 6.

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