Zeitenwende bei der Energieversorgung: Neujustierung des rechtlichen Rahmens 3161632281, 9783161632280

Trotz des fortschreitenden Klimawandels ist die Neugestaltung der Energieressourcen über lange Jahre vernachlässigt word

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German Pages 169 [171] Year 2024

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Table of contents :
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Titel
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Norbert Schürmann — Transformation der Energiewirtschaft – Status quo und Herausforderungen
Wilhelm Söfker — Forcierter Ausbau der Windenergie: Windenergieflächenbedarfsgesetz, Windenergiegebiete und Zulassung von Windenergieanlagen nach geändertem BauGB
Monika Agatz — Windenergie und Artenschutz: Neue Regelungen auf Genehmigungs-und Planungsebene
Ines Zenke — (Zu) Hohe Energiepreise aus rechtlicher Sicht – Zwischen Krise und Industriepolitik
Thomas Mann — Neues vom Netzausbau in Deutschland
Roda Verheyen und Marie Bohlmann — Beschleunigter Ausbau der Nutzung verflüssigten Erdgases – Umweltprüfungen und die Beteiligungs- und Klagerechte
Matthias Lang — Grüner Wasserstoff als Baustein der Energiewende –Zum delegierten Rechtsakt der EU
Autorenverzeichnis
Sachregister
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Zeitenwende bei der Energieversorgung: Neujustierung des rechtlichen Rahmens
 3161632281, 9783161632280

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Schriften zum Infrastrukturrecht herausgegeben von

Wolfgang Durner und Martin Kment

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Zeitenwende bei der Energieversorgung Neujustierung des rechtlichen Rahmens Herausgegeben von

Martin Kment und Matthias Rossi

Mohr Siebeck

Martin Kment, ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Europarecht, ­Umweltrecht und Planungsrecht der Universität Augsburg und Geschäftsführender ­Direktor des Instituts für Umweltrecht. Matthias Rossi, ist Inhaber des Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht, Europarecht sowie Gesetzgebungslehre an der Universität Augsburg.

ISBN  978-3-16-163228-0 / eISBN  978-3-16-163229-7 DOI 10.1628/978-3-16-163229-7 ISSN  2195-5689 / eISSN  2569-4456 (Schriften zum Infrastrukturrecht) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über https://dnb.de abrufbar. © 2024  Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck aus der Garamond gesetzt, in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und gebunden. Printed in Germany.

Vorwort Der Klimawandel verlangt von der Welt, von Europa und von Deutschland ­einen Wandel gerade auch in der Energiewirtschaft. Energiegewinnung, Energietransport und Energieverbrauch bedürfen einer Transformation zur Klimaneutralität. Der russische Angriff auf die Ukraine hat die Unausweichlichkeit einer umfassenden Energiewende um eine zusätzliche Dimension erweitert: Seitdem steht auch die Unabhängigkeit der Energieversorgung im Fokus der Energiepolitik, seitdem steht uns die Notwendigkeit einer Zeitenwende bei der Energieversorgung unmittelbar vor Augen. Doch wie lässt sich das überkommene Regelungssystem des Umwelt-, Energie- und Infrastrukturrechts an die neuen Bedürfnisse und Zielsetzungen anpassen? Sind systemnahe Anpassungen des geltenden Rechts ausreichend oder sind Paradigmen- und Prinzipienwechsel unumgänglich? Mit diesen Fragen hat sich am 27. Januar 2023 der 7. Deutsche Umwelt- und Infrastrukturrechtstag des Instituts für Umweltrecht an der Juristischen Fakultät der Universität Augsburg befasst, dessen wissenschaftliche Beiträge in diesem Tagungsband dokumentiert sind. Er nimmt die rechtlichen Pfeiler in den Blick, mit denen aktuell in einer ersten – sicherlich nicht der letzten – Phase die Zeitenwende bei der Energieversorgung eingeleitet werden soll. Vor welchen tatsächlichen und ökonomischen Herausforderungen die politisch gewollte und mit Blick auf den Klimawandel unausweichliche Transformation der Energiewirtschaft steht, legt zunächst Norbert Schürmann, Senior Advisor bei Horváth, eindrucksvoll dar. Die beiden folgenden Beiträge befassen sich sodann mit dem Ausbau der Windenergie: Zunächst widmet sich Prof. Dr. Wilhelm Söfker, Ministerialdirigent a. D., dem forcierten Ausbau der Wind­ energie nach dem Windenergieflächenbedarfsgesetz, und Monika Agatz geht den Auswirkungen der verstärkten Windenergienutzung auf den Artenschutz nach. Mit der Preisgestaltung im Energierecht, dem Beitrag von Prof. Dr. Ines Zenke, wird die klassische öffentlich-rechtliche Perspektive verlassen und ein auch ökonomisch geprägter Blickwinkel eingenommen. Weil für die Transformation der Energiewende nicht nur die Energiegewinnung, sondern vor allem auch der Energietransport von zentraler Bedeutung ist, befasst sich Prof. Dr. Thomas Mann von der Juristischen Fakultät der Universität Göttingen mit den rechtlichen Problemen des Netzausbaus in Deutschland. Ob, mit welchem Erfolg und mit welchen Nebenwirkungen eine Verfahrensbeschleunigung durch die Beschränkung von Umweltprüfungen und Beteiligungs- und Klagerechten erreicht werden kann, stellen Dr. Roda Verheyen von der Rechtsanwaltskanzlei

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Vorwort

Günther, Hamburg, und Marie Bohlmann, Referentin bei Green Legal Impact Germany e.V., am Beispiel des Ausbaus der LNG-Terminals vor. Der abschließende Beitrag von Dr. Matthias Lang, Bird&Bird, informiert über den delegierten Rechtsakt zur Richtlinie der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen, der grünen Wasserstoff als einen Baustein der Energiewende konturieren will. Die Durchführung der Tagung und die Publikation des Tagungsbandes wären ohne vielfältige Unterstützung nicht möglich gewesen. Unser Dank gilt dem Bayerischen Landesamt für Umwelt, in dessen Räumlichkeiten die Tagung statt­ finden konnte. Für finanzielle Unterstützung danken wir den Rechtsanwaltskanzleien Andrea Versteyl Rechtsanwälte sowie Arnecke Sibeth Dabelstein, dem Augsburg Center for Global Economic Law and Regulation (ACELR), der Kurt-Bösch-Stiftung Augsburg sowie den Verlagen Mohr Siebeck, C. H. Beck und Lexxion. Für organisatorische Hilfe sowie für die Vorbereitung dieses ­Tagungsbandes danken wir sehr herzlich den Mitarbeiterinnen und Mitar­bei­ tern unserer Lehrstühle, insbesondere Frau Franziska Maurer und Frau M ­ anuela Herrnböck vom Lehrstuhl Kment. Augsburg, Dezember 2023

Martin Kment Matthias Rossi

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Norbert Schürmann Transformation der Energiewirtschaft – Status quo und Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Wilhelm Söfker Forcierter Ausbau der Windenergie: Windenergieflächenbedarfsgesetz, Windenergiegebiete und Zulassung von Windenergieanlagen nach geändertem BauGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Monika Agatz Windenergie und Artenschutz: Neue Regelungen auf Genehmigungsund Planungsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Ines Zenke (Zu) Hohe Energiepreise aus rechtlicher Sicht – Zwischen Krise und Industriepolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Thomas Mann Neues vom Netzausbau in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Roda Verheyen und Marie Bohlmann Beschleunigter Ausbau der Nutzung verflüssigten Erdgases – ­Umweltprüfungen und die Beteiligungs- und Klagerechte . . . . . . . . 117 Matthias Lang Grüner Wasserstoff als Baustein der Energiewende – Zum delegierten Rechtsakt der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

Transformation der Energiewirtschaft Status quo und Herausforderungen Norbert Schürmann

I. Rückblick Die Entwicklung der Energiewirtschaft wird immer von gesamtgesellschaft­ lichen Entwicklungen geprägt. Politische Entscheidungen, Konsumentschei­ dungen, Rohstoff- und Produktionsbedingungen, soziale Werte und technolo­ gische Entwicklungen sind einige der wesentlichen Faktoren, die besonders die Energiewirtschaft in Deutschland seit 1950 beeinflusst haben. Einige Entwicklungen und Meilensteine aus den vergangenen 70 Jahren wer­ den nachfolgend skizziert: – 1950/60 Ausbau der Energiewirtschaft mit Kohlekraftwerken und Atom­ kraft – 1973 erste Ölpreiskrise durch den Jom Kippur Krieg – 1986 Kraftwerksunfall in Tschernobyl mit ersten Interessen an erneuerbaren Energien – 1987 der erste Windpark in Schleswig-Holstein geht in Betrieb – 1997 Kyoto-Protokoll verabschiedet die Senkung der Treibhausgasemissio­ nen um mindestens 5  % gegenüber 1990 – 2000 das Erneuerbare-Energien-Gesetz tritt in Kraft – 2011 Nuklearkatastrophe von Fukushima mit Ausstieg aus der Kernenergie in Deutschland – 2015 Weltklimakonferenz mit der Begrenzung der Erderwärmung auf unter 2 Grad – 2018 Kohleverstromung soll bis 2038 schrittweise beendet werden Der Begriff der Energiewende existiert bereits seit über 40 Jahren, noch stehen 28  Jahre zur Verfügung, um die definierten Ziele der Energiewende und die damit verbundenen Klimaschutzziele zu erreichen. Denn: Die Faktenlage zum Klimawandel und zum Einfluss des Menschen ist eindeutig. Sie zeigt sich in dem Anstieg der Konzentration von Treibhausgasen, der Erwärmung der Atmosphäre und Ozeane, der Abnahme der Schnee- und Eismengen, dem Anstieg des globalen Meeresspiegels sowie der Zunahme eini­

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Norbert Schürmann

ger Wetter- und Klimaextreme. Viele der beobachteten Veränderungen sind in den zurückliegenden Jahrzehnten in einem Tempo aufgetreten, die in den nach­ gewiesenen natürlichen Klimaveränderungen in den letzten Jahrhunderttausen­ den in diesem Ausmaß bei Weitem nicht auftraten. Fakt ist, dass die anthropogenen Treibhausgasemissionen Haupttreiber des Klimawandels und der globalen Erwärmung sind. Deshalb steht die Verringe­ rung von Treibhausgasemissionen im Zentrum von Klimaschutzmaßnahmen. Gegenwärtig liegt der Anteil Deutschlands an den weltweiten Treibhausgas­ emissionen unter 2  %. Damit sind die Möglichkeiten Deutschlands, den Klima­ wandel durch Reduktion der eigenen Treibhausgasemissionen direkt zu beein­ flussen, gering. Es besteht jedoch die Möglichkeit für Deutschland zu zeigen, dass eine Transformation erfolgreich gelingen kann. Damit könnte Deutschland für den Klimaschutz relevante Felder besetzen und sich neue Schlüsselkompetenzen erschließen, die bei fortschreitendem Kli­ mawandel neue Export- und Wachstumsmöglichkeiten eröffnen. All dies macht deutlich, dass der Weg der Transformation der Energiewirt­ schaft in der heutigen Zeit ein radikaler Umbruch sein wird, der mit früheren Zeiten nicht zu vergleichen ist. Diese Transformation der Energiewirtschaft hat in der öffentlichen Diskus­ sion einen hohen Stellenwert; zahlreiche Studien und Ausarbeitungen von der Deutschen Energieagentur (dena), agora, dem Bundesverband der deutschen Industrie, Prognos, Fraunhofer, Bundesministerien, Universitäten, Organisa­ tionen und Verbänden sowie Beratungsunternehmen bestätigen die hohe Rele­ vanz der zukünftigen Ausrichtung einer nachhaltigen Energieversorgung in den drei Sektoren Strom, Wärme und Mobilität.

II. Weltweite Herausforderungen und Verpflichtungen für den Klimaschutz In der UN-Klimakonferenz in Glasgow 2021, international bekannt als COP 26, war es das Ziel der Klimakonferenz, Maßnahmen für einen effektiven Klimaschutz zu definieren – speziell, um das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Abkom­ mens in Reichweite zu halten. Im Rahmen dieser Glasgow-Konferenz hat sich die Mehrzahl der Staaten zu eindeutigen Zielen im Sinne des Umweltschutzes verpflichtet. Ein klares Be­ kenntnis ist, den Ausstoß klimaschädlicher Treibhausgase weltweit in diesem Jahrzehnt um 45  % zu senken. Im Hinblick auf die Zielerreichung sind die ver­ schiedensten Maßnahmen verpflichtend definiert worden.

Transformation der Energiewirtschaft

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Abbildung 1: Verpflichtungen der Glasgow Konferenz (COP 26, November 2021)

Die politischen Entscheidungen, die weltweit registriert werden können, spre­ chen für eine signifikante Transformation in der Energiewelt direkt vor unseren Augen. Laut neuer IEA-Prognose werden die klimaschädlichen Energieträger Kohle, Öl und Gas zwar nicht innerhalb weniger Jahre bedeutungslos. Dennoch zeich­ net sich erstmals ein historischer Wendepunkt ab: Der seit Beginn der industri­ ellen Revolution im 18.  Jahrhundert unaufhaltsam wachsende Verbrauch fossi­ ler Energie wird in diesem Jahrzehnt in die Stagnation übergehen und dann langsam sinken. Zum ersten Mal zeigen die Prognosen für jeden einzelnen fossilen Brennstoff in allen Szenarien des World Energy Outlook eine Verbrauchsspitze oder ein Plateau. Werden die Beschlüsse wie geplant umgesetzt, werde der Kohlever­ brauch weltweit schon in den nächsten Jahren seinen Höchstwert überschreiten und der globale Gasverbrauch Ende der Dekade ein Plateau erreichen. Für die globale Ölnachfrage rechnen die IEA-Statistiker mit einem Höchststand Mitte der 2030er Jahre. Das bedeutet, dass die Nachfrage nach fossilen Brennstoffen ab 2025 Jahr für Jahr um eine Menge zurückgeht, die der Produktion eines gro­ ßen Ölfeldes entspricht. Zusätzlich hat Russland mit seinem Angriffskrieg als weltweit größter Ex­ porteur fossiler Rohstoffe eine weltweite Rückbesinnung auf heimische Energi­ en ausgelöst; daher wird Wind, Solar- und Wasserkraft weltweit extrem stark im Fokus sein. Auf der COP 27, die im November 2022 in Sharm El Sheikh stattfand, erfolg­ te erneut ein Bekenntnis zum 1,5-Grad-Ziel und die rund 200 Staaten bekräf­ tigten ihren früheren Beschluss, die Verbrennung von klimaschädlicher Kohle herunterzufahren. Ein Abschied von Öl und Gas wurde jedoch nicht erwähnt.

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Norbert Schürmann

Gleichzeitig wurde festgehalten, einen gemeinsamen Fond zum Ausgleich von Klimaschäden in ärmeren Ländern auszubauen.

III. Politische Leitplanken für die deutsche Energiewirtschaft Die Bundesregierung beabsichtigt eine stärkere nachhaltige Ausrichtung in al­ len Sektoren; entsprechende Festlegungen sind im Koalitionsvertrag der Ampel­ regierung erfolgt. Grundsätzlich wird in Deutschland der Bruttostrombedarf in 2030 auf 680– 750 TWh geschätzt; davon sollen 80  % erneuerbar sein. Wesentliche Ziele und Vorgaben lauten wie folgt: – Unter Nutzung aller geeigneten Frei- und Dachflächen für die Solarenergie wird das PV-Ausbauziel bis 2030 auf 200 GW festgelegt. – Für die Onshore-Windenergie erfolgt eine Ausweisung von 2  % der Landes­ fläche, so dass eine Steigerung auf 115 GW erzielt wird. – Für die Offshore-Windenergie wird eine Steigerung von 8  GW (2021) auf 30 GW (2030) sowie 70 GW (2045) vorgesehen. – Als Ziel für die Elektromobilität werden 15  Mio. vollelektrische Pkw bis 2030 genannt; dies bedingt den Anspruch 1  Mio. öffentlich zugänglicher Lade­ punkte zu realisieren. – Nachhaltiger Ausbau der Wärmenetze und 50  % klimaneutrale Wärmeerzeu­ gung. – Betrieb neu eingebauter Heizungen auf Basis von 65  % erneuerbarer Energi­ en ab 2025. – Errichtung moderner Gaskraftwerke, um den steigenden Strom- und Ener­ giebedarf zu wettbewerbsfähigen Preisen zu decken. – Entwicklung eines Leitmarktes für Wasserstofftechnologie bis 2030 mit der Verdoppelung der Elektrolyseleistung auf 10 GW. – Kohleausstieg bis spätestens 2038, idealerweise bis 2030.

IV. Prognose zu Energiebedarf und -erzeugung sowie zu Treibhausgasemissionen In dem im Jahr 2021 novellierten Klimaschutzgesetz wurde festgelegt, dass Deutschland seine Treibhausgasemissionen bis 2030 um 65  % senkt und bis 2045 Klimaneutralität erreicht. Diese Ziele können auf Basis einer dena-Leitstudie durch eine erhöhte Ener­ gieeffizienz, die umfassende Nutzung von erneuerbaren Energien, den breiten

Transformation der Energiewirtschaft

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Einsatz von Powerfuels und die Erschließung von natürlichen und technischen CO2-Senken erreicht werden. Dies bedeutet im Einzelnen: – Erhöhung der Energieeffizienz durch die Erhöhung der durchschnittlichen Sanierungsrate auf 1,73  %. – Der Endenergieverbrauch sinkt in einem Hauptszenario von 2489 Terawatt­ stunden (TWh) um 41  % auf 1477 TWh im Jahr 2045, bedingt durch hohe Effizienzgewinne und eine verstärkte Elektrifizierung. Somit kommt es beim Endenergieverbrauch zu einer Verlagerung von konventionellen Energieträ­ gern zu Strom und Wasserstoff. – Im Jahr 2045 werden nahezu alle Öl- und Gasbedarfe klimaneutral gedeckt. Ab 2030 wird Wasserstoff zu einem wichtigen Energieträger. Im Jahr 2045 werden 226 TWh (d. h. circa 15  % des Energiebedarfs) mit Wasserstoff ge­ deckt. – Ausbau von erneuerbaren Energien, da der Anteil von Strom am Endenergie­ bedarf von 513 TWh auf bis zu 724 TWh im Jahr 2045 wachsen wird. Gründe sind der Ausbau der Elektromobilität, die Erhöhung von strombasierten Pro­ zessen in der Industrie sowie die erhöhte Nutzung von Wärmepumpen im Gebäudesektor. – Im Jahr 2018 verbrauchte die Industrie etwa 38  % des deutschen Endenergie­ bedarfs; bis 2045 wird dieser auf 580 TWh sinken. – Der Kohleverbrauch wird bis 2030 etwa halbiert; der Endenergieverbrauch sinkt schon in dieser Dekade um ein Drittel; Wasserstoff macht erst 2  % des Endenergieverbrauchs aus. Die ambitionierten Klimaschutzziele können jedoch nur durch den Einsatz neuerer Technologien erreicht werden, die nicht auf die direkte Vermeidung von Treibhausgasen abzielen, sondern darauf, emittiertes beziehungsweise vorhan­ denes CO2 der Atmosphäre zu entziehen und zu speichern oder zu verwerten. Diese Technologien können in drei Gruppen eingeteilt werden: – CO2-Abscheidung und -Speicherung: Bei der CO2-Abscheidung und -Spei­ cherung (CCS) wird CO2 an Punktquellen, beispielsweise Industrieprozes­ sen oder Müllverbrennungsanlagen, technisch entzogen, transportiert und im Untergrund gespeichert. – CO2-Abscheidung und -Nutzung: Bei der CO2-Abscheidung und -Nutzung (CCU) wird CO2 an Punktquellen technisch entzogen, transportiert und als Rohstoff genutzt. –  Negative Emissionstechnologien: Bei negativen Emissionstechnologien (NET) wird CO2 mittels natürlicher oder technischer Optionen aus der Atmosphäre entzogen und in Kohlenstoffsenken gespeichert. Auf Basis dieser Ansätze und Technologien wird das Gesamtsystem im Jahr 2045 die Treibhausgasneutralität erreichen.

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Norbert Schürmann

Insgesamt werden durch die Veränderungen in den Verbrauchssektoren so­ wie durch emissionsneutrale Bereitstellung von Energieträgern und Grundstof­ fe die Treibhausgasemissionen von 2018 bis 2030 um rund 420  Mio. Tonnen CO2 (- 49  %) sinken und zwischen 2030 und 2045 um weitere 396  Mio. Tonnen CO2 (- 91  %). Für die Umsetzung dieser Maßnahmen im Klimaschutz sind bis 2030 in Deutschland Investitionen in den Bereichen Energiewirtschaft, Gebäude, Ver­ kehr und Industrie in Höhe von 860  Mrd.  € zu tätigen.

Abbildung 2: Mehrinvestitionen für Klimaschutz bis 2030 (Angaben in  Mrd.  €) (Vgl. Boston Consulting Group [BCG]), Gutachten für den BDI, Klima­pfade 2.0, Ein Wirtschaftsprogramm für Klima und Zukunft, Oktober 2021, S.  45)

Die größte Herausforderung besteht darin, diese Investitionen so zu planen und auszugeben, dass diese Ausgaben zielführend sind und sich positiv auf das Kli­ ma und die deutsche Wirtschaft auswirken. Nationale Vorgaben müssen vor diesem Hintergrund einerseits zielorientiert und widerspruchsfrei in interna­ tionale europäische Kontexte passen und andererseits durch internationale und europäische Rahmenbedingungen flankiert werden.1

V. Herausforderungen im Überblick Der Rahmen für den zukünftigen Energiemarkt wird durch regulatorische und gesetzliche Anforderungen sowie durch ESG-Kriterien gesetzt. Daher werden auf der EU-Ebene sowohl neue Regulationen wie die EU-Taxonomie einge­ 1 Vgl. Boston Consulting Group, Gutachten für den Bundesverband der Deutschen Indus­ trie (BDI), Klimapfade 2.0 Ein Wirtschaftsprogramm für Klima und Zukunft, Oktober 2021.

Transformation der Energiewirtschaft

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führt als auch bestehende Regulationen verschärft, wie das Renewable Energy Directive.

Abbildung 3: Regulatorische und gesetzliche Anforderungen an den Energiemarkt

Auch wenn die Umsetzung den Mitgliedstaaten unterliegt, setzen die EU-Richt­ linien den strategischen Rahmen, so dass sich komplexe Verflechtungen an Vor­ gaben ergeben, die die langfristige Planung und kontinuierliche Beobachtung der Rahmenbedingungen erforderlich machen. Verschiedene Studien geben einen Überblick mit einheitlichen politischen und regulatorischen Handlungsempfehlungen für die einzelnen Bereiche: Energie-Netze: – Erhöhung des CO2-Preises und Entlastung des Strompreises – Genehmigungsprozesse für den Aufbau erneuerbarer Energiequellen und zum Ausbau der Netze beschleunigen – Übergreifende System-, Energie- oder Infrastrukturleitplanung auf nationa­ ler und regionaler Ebene – Aufbau eines Wasserstoff-Startnetzes Industrie: – Mechanismen entwickeln, um Wettbewerbsnachteile mit Nicht-ETS-Län­ dern abzufedern – Reform von EEG und anderen Verordnungen für grüne Investitionen – Investitionsförderung für klimaneutrale Produktionsprozesse, die auch Zu­ schüsse zu Betriebskosten umfasst – Leitmärkte für grüne chemische Grundstoffe schaffen, die Nachfrage und Angebot zusammenbringen

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Mobilität: – Förderung öffentlicher Ladeinfrastruktur für Elektrofahrzeuge – Treibhausgas-Minderungsquote für Kraftstoffe – CO2-basierte bzw. nachhaltigkeitsorientierte Lkw-Maut Gebäude: – Sanierungsfahrpläne für den Gebäudebestand – Förderlandschaft mit der Ausrichtung auf Klimaeffizienz und Bündelung von Maßnahmen – Beratungsoffensiven und Maßnahmen zur Fachkräfteförderung Verschiedenste Instrumente stehen grundsätzlich für eine entsprechende Regu­ lierung zur Verfügung (s. Abbildung 4 auf Folgeseite).

VI. Status quo der Zielerreichung Von der Bundesregierung ist eine Expertenkommission zum Monitoringpro­ zess ,Energie der Zukunft‘ etabliert worden, die regelmäßig einen Fortschritts­ bericht über die Energiewende vorlegt, zuletzt im Mai 2019.2 Gemäß diesem Fortschrittsbericht sind weitere Maßnahmen zu treffen, um bis zum Jahr 2030 die Zielmarke vom 65  %-Anteil an erneuerbaren Energien zu erreichen. Schon jetzt seien die Genehmigungen für Windenergieanlagen rück­ läufig, passende Freiflächen würden fehlen oder seien durch Interessenskon­ flikte blockiert. Im Verkehrssektor werde nicht nur die 2020er Zielmarke ver­ fehlt, es zeichne sich jetzt schon ab, dass auch bis 2030 nicht die vorgesehene Senkung des Endenergieverbrauchs um 10  % erfolgt sein werde. Selbst bei der Umsetzung aller zuletzt beschlossenen Maßnahmen sei die Zielerreichung nicht sichergestellt. 2017 erhöhte sich der Energieverbrauch im Verkehrsbereich laut Vorlage um 2,4  %, im Vergleich zu dem Referenzwert 2005 erhöhte sich der Verbrauch sogar um 6,5  %. Die Bundesregierung betont in ihrem Fortschrittsbericht auch die Bedeutung der Wärmeerzeugung, die für mehr als die Hälfte des deutschen Energiever­ brauchs verantwortlich sei. Besondere Bedeutung hätten daher Dämmungs­ maßnahmen und moderne Wärmenetze. Momentan reichten die Maßnahmen allerdings nicht, um die Ziele zu erreichen; der Energieverbrauch in Gebäuden ist sogar angestiegen. Die Energiewende bleibe momentan vor allem eine Stromwende, heißt es in dem Bericht. In fast allen Sektoren müssen erhebliche Anstrengungen unter­ nommen werden, um die für 2030 gesteckten Ziele noch erreichen zu können. 2 Vgl. Henning, Hans-Martin, Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme, Status quo der Energiewende Freiburger Diskurs 01.12.2020.

Abbildung 4: Instrumente zur Regulierung in den unterschiedlichen Sektoren (Angelehnt an Abbildung 22 in: Boston Consulting Group [BCG], Gutachten für den BDI, Klimapfade 2.0, Ein Wirtschaftsprogramm für Klima und Zukunft, Oktober 2021, S.  56)

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Diese Aussagen sind jüngst von dem Expertenrat für Klimafragen (ERK), gemäß dem Auftrag des Bundes-Klimaschutzgesetzes, bestätigt worden, der im November 2022 für Deutschland ein Gutachten zu den bisherigen Entwicklun­ gen der Treibhausgasemissionen, den Trends der Jahresemissionsmengen und der Wirksamkeit von Maßnahmen veröffentlicht hat. Demnach sind für die zukünftige Ausrichtung der deutschen Klimapolitik drei Kernergebnisse entscheidend: a) es hat im Zeitraum von 2000–2021 substantielle Emissionsminderungen ge­ geben, aber die realisierten klimapolitischen Wirkungen waren vielfach ge­ ringer als die avisierten und durch politische Instrumente adressierten Ziele b) ein nahezu kontinuierlicher Zuwachs der Aktivitäten in allen Sektoren ein­ schließlich Rebound-Effekte wirkte einer möglichen stärkeren Absenkung der Treibhausgasemissionen entgegen c) die in der Vergangenheit beobachtete Entwicklung der Treibhausgasemissio­ nen wie auch die Fortschreibung der Trends der letzten Jahre vor der Covid19-­Pandemie weisen für alle Sektoren und insgesamt auf eine erhebliche Er­ füllungslücke mit Blick auf die Ziele des Jahres 2030 hin. Vergleichbare Aussagen im November dieses Jahres zeigt der Klimaschutzindex 2023, der von den Umweltorganisationen Germanwatch und Climate Action Network sowie dem NewClimateInstitute ermittelt wurde. Ergebnis ist, dass laut einer neuen Rangliste Deutschland bei den Maßnahmen zum Klimaschutz im Vergleich zu anderen Ländern der Welt zurückgefallen ist. Deutschland er­ hält zwar im Klimaschutzindex ein gutes Rating bei den Treibhausgasemissio­ nen. Doch im Hinblick auf Erneuerbare Energie, Energienutzung und Klima­ politik reicht es nur für eine mäßige Beurteilung. Hauptgründe für die insge­ samt schlechte Bewertung sind der verlangsamte Ausbau von erneuerbaren Energien bis 2020 und der hohe Anstieg der Emissionen im Verkehrssektor im Jahr 2021.

VII. Ausbau erneuerbarer Energien Der im Mai 2022 vorgelegte Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Novel­lie­ rung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) konkretisiert die Ausbauziele für erneuerbare Energien. So werden für das Jahr 2030 in Deutschland etwa 115 GW Windkraftanlagen an Land, 30 GW Windkraft auf See und 215 GW Photo­ voltaik angestrebt; der Gesetzentwurf unterstellt einen Bruttostrom­verbrauch von 750 TWh. Die erneuerbare Stromerzeugung steigt damit im Vergleich zu heute auf mehr als das Doppelte, von 243 TWh auf 595 TWh im Jahr 2030. Zwischenzeitlich sind verschiedenste Szenarien von Instituten und Organisa­ tionen erarbeitet worden. Die Agora-Studie Klimaneutrales Deutschland geht

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davon aus, dass für die vollständig klimaneutrale Erzeugung die installierte Leistung bis 2050 von Onshore-Windenergie auf 130 GW, die von Offshore-­ Windenergie auf 70 GW und die Photovoltaik-Leistung auf 350 GW gesteigert werden muss. Inklusive Wasserkraft und Biomasse werden Erneuerbare Ener­ gien im Jahr 2050 88  % des Stromverbrauchs direkt abdecken, 7  % entfallen auf Gaskraftwerke, die den aus erneuerbarer Energie erzeugten Wasserstoff als Brennstoff nutzen. Die restlichen 4  % werden durch zwischengespeicherten oder importierten Strom gedeckt. Das Stromsystem wird deutlich flexibler: durch mehr Batterie­ speicher, durch den flexiblen Einsatz von Wärmepumpen, Elektrolyseure und Elektromobilität sowie durch einen intensiveren Stromhandel mit dem Aus­ land.3

Abbildung 5: Wachstum der installierten Leistung für erneuerbare Energien in GW sowie der Nettostromerzeugung in TWh bis 2050 (Angelehnt an Abbildung 9 in: Agora Energiewende, Agora Verkehrswende, Stiftung Klima­neutralität, Klimaneutrales Deutschland, In drei Schritten zu null Treibhausgasen bis 2050 über ein Zwischenziel von - 65  % im Jahr 2030 als Teil des EU-Green-Deals, Juni 2021, S.  26)

Zur Steigerung der installierten erneuerbaren Leistung bis zum Jahr 2035 muss der jährliche Ausbau erneuerbarer Energien deutlich an Dynamik gewinnen. Bei der Windenergie an Land ist ab dem Jahr 2025 ein mittlerer jährlicher Brutto-Zubau von 9 bis 10 GW notwendig. Bei der Photovoltaik sind es mittel­ fristig 20 bis 22 GW. Für Windkraft auf See sind ab dem Jahr 2029 im Mittel 6 GW notwendig. Dabei ist zu beachten, dass die Beschleunigung des Ausbaus 3 Vgl. Agora Energiewende, Agora Verkehrswende, Stiftung Klimaneutralität, Klimaneu­ trales Deutschland, In drei Schritten zu null Treibhausgasen bis 2050 über ein Zwischenziel von – 65  % im Jahr 2030 als Teil des EU-Green-Deals, Juni 2021.

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der Photovoltaik und der Windenergie nicht schlagartig passiert, sondern ab etwa 2025 greift, da neue Genehmigungen, Planungen und auch der Bau der Anlagen ihre Zeit brauchen. Bei der Offshore-Windenergie ist aufgrund langer Planungsund Bauzeiten inklusive der Netzanbindung erst gegen Ende der 2020er Jahre mit der Inbetriebnahme bedeutender zusätzlicher Leistung zu rechnen. Ende November dieses Jahres hat die Bundesnetzagentur ihre Kraftwerks­ liste aktualisiert; demnach waren in Deutschland Stromerzeugungskapazitäten mit einer Nettoleistung von 239 GW zur Jahresmitte 2022 installiert. Davon entfielen gut 63 GW auf Photovoltaikanlagen. Die Windparks an Land sum­ mierten sich auf knapp 57 GW und die Offshore-Windparks auf 8 GW. Die Photovoltaik ist damit die Erzeugungsquelle mit der größten installierten Leis­ tung  – im Vergleich dazu summiert sich die Netto-Leistung der Steinkohle­ kraftwerke auf 18 GW und die der Braunkohlekraftwerke auf fast 19 GW. Die Leistung der Gaskraftwerke ist mit insgesamt 34 GW in der aktualisierten Kraftwerksliste verzeichnet. Die vorgelegten Zahlen der Bundesnetzagentur geben auch Auskunft über die Zubauleistung der Photovoltaikanlagen über die drei Quartale 2022. So sind bis Ende September 2022 Photovoltaikanlagen mit einer Nettoleistung von rund 5400 MW netto zugebaut worden. Allerdings hat die Bundesnetzagentur auch prognostiziert, dass es einen monatlichen Nettozubau bei der Photo­voltaik von 1518 MW geben müsste, um das Ziel von 215 GW installierter Photovoltaik Leistung bis 2030 zu erreichen. Trotz hoher Volatilität bei der Stromerzeugung können die erneuerbaren Energien durch den möglichen räumlichen und zeitlichen Ausgleich auch bei hohen fluktuierenden Anteilen effizient genutzt werden. Gerade der Großteil der in den nächsten Jahren dazukommenden Stromver­ braucher wie zum Beispiel Elektrofahrzeuge, Wärmepumpen, Elektrokessel und Elektrolyseanlagen können, gemäß Studie von agora, flexibel betrieben werden. Je besser es gelingt, durch geeignete Preissignale die vorhandene tech­ nische Flexibilität zu nutzen, desto mehr erneuerbarer Strom kann direkt ge­ nutzt werden. Gleichzeitig verringern sich damit der Zubaubedarf an Gaskraft­ werken und der notwendige Brennstoffeinsatz. Dabei werden Batterien eine wesentliche Rolle übernehmen, die die Funktion der Stromspeicherung wahrnehmen. Mittlerweile sind eine Vielzahl von Fir­ men in diesem Bereich tätig, zumal umfangreiche Förderprogramme in Europa, den USA und in Asien den Aufbau dieser Technologie unterstützen. Bis Ende des Jahrzehntes müssen laut Daten der Internationalen Energieagentur (IA) weltweit allein in Batteriespeicher rund 50  Mrd. $ investiert werden, bis 2040 nochmal gut 130  Mrd. und bis 2050 knapp 150  Mrd. Die Speicherleistung muss von heutigen 18 GW auf 590 GW im Jahr 2030 anwachsen.4 4 Vgl.

International Energy Association, Key World Energy Statistics 2021.

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Den Zahlen des Datenanbieters Pitchbook zufolge haben Risikokapitalgeber in den ersten neun Monaten des Jahres 2021 bereits 4,9  Mrd. $ allein in Batterie­ unternehmen investiert; im Jahr zuvor waren es insgesamt nur 1,6  Mrd. $. In­ zwischen gibt es mehrere Klimafonds von privaten Kapitalgebern, die in immer neuen Runden das Geld in hoffnungsfrohe Startups stecken. Das Problem der Energiespeicher sind weniger die Ideen für die verschiede­ nen Speicherverfahren, sondern die Frage, ob wir bei einer Energieversorgung mit bis zu 100  % erneuerbaren Energien wirklich so viele Speicher errichten können. Diese werden auf der ganzen Welt verstreut sein und nicht alle mitein­ ander kommunizieren können. Die Vorstellung, man könne Energiespeicher wie ein neuronales Netz über die Erde spannen, ist illusorisch. Es wird Systeme geben, die vernetzt arbeiten, aber eben auch ganz viele lokale und regionale Lö­ sungen.

VIII. Netzausbauplanung Zur Behebung von zukünftigen Netzüberlastungen besteht ein erheblicher Be­ darf von Netzausbau und Verstärkungsmaßnahmen im deutschen Übertra­ gungsnetz.

Abbildung 6: Netzmengengerüste des deutschen Übertragungsnetzes ­(Angaben in Stromkreiskilometer) (Angelehnt an Abbildung D in: Agora Energiewende, Prognos, Consentec, Klimaneutrales Stromsystem 2035, Juni 2022, S.  12)

Wie die Abbildung 6 zeigt, wird die gesamte Stromkreislänge des deutschen Übertragungsnetzes von heutigen circa 36.000 Kilometern auf circa 50.000 Ki­ lometer im Jahr 2035 steigen. Neben dem Ausbau von AC- und DC-Leitungen

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ist zu berücksichtigen, dass zusätzlich ein Ausbau und Verstärkungsbedarf von bis zu 32.000 Kilometern zu verzeichnen ist. Mit dem steigenden Stromver­ brauch auf dem Weg zur Klimaneutralität bleibt ein weiterer Netzausbau auch nach 2035 notwendig. Mit steigendem Ausbau der erneuerbaren Energien steigt europaweit auch das Bedürfnis nach einem höheren grenzüberschreitenden Stromaustausch. Denn die Potentiale für erneuerbare Energien sind in Europa nicht gleich ver­ teilt und einzelne Länder werden auf Importe von erneuerbar produziertem Strom angewiesen sein. Zusätzlich ist ein weiträumiger, grenzüberschreitender Stromaustausch eine wesentliche Maßnahme, um mit der Volatilität der Ein­ speisungen aus erneuerbaren Energien umzugehen. Beide Entwicklungen, der weitere Anstieg der Stromnachfrage nach 2035 und der dafür notwendige weitere Ausbau erneuerbarer Energien, wie auch der Be­ darf für zusätzlichen grenzüberschreitenden Stromaustausch innerhalb Euro­ pas werden den Transportbedarf im deutschen Übertragungsnetz nach 2035 weiter deutlich erhöhen. Gerade im Bereich des grenzüberschreitenden Netz­ ausbaus hat Deutschland aufgrund seiner Lage im Zentrum Europas eine Schlüsselrolle und Enabler-Funktion für die europäische Energiewende. Der Ausbaubedarf im deutschen Übertragungsnetz wird auch mit einem An­ stieg der Netzkosten einhergehen. Die Netzkosten werden nach Berechnungen von agora auf das 2,7- bis 3-fache des Wertes für das heutige Übertragungsnetz steigen.5

IX. Wärmesektor: Fernwärme, Biogas, Wasserstoff Grundsätzlich ist der Anteil der erneuerbaren Energie am B ­ ruttostromverbrauch in Deutschland im Jahr 2022 deutlich gestiegen. Berechnungen des Fraunhofer Institut zeigen, dass sich der Anteil der erneuerbaren Energien um sieben Pro­ zentpunkte auf 49,6  % im Vergleich zum Vorjahreszeitraum erhöht hat. Die deutschen Photovoltaik-Anlagen erzeugten in 2022 circa 58 TWh. Der Zubau von EEGAnlagen mit 6,1 GW erhöhte die installierte Leistung auf rund 66 GW. Dies war der höchste Photovoltaik-Zubau seit 2013. Dank des Zubaus und des sonnigen Wetters stieg die Solarstromerzeugung um 19  % gegenüber 2021. Für Wind onshore war 2022 ein durchschnittliches Jahr, Wind offshore war eher unterdurchschnittlich. Wind on- und offshore produzierten zusammen rund 123 TWh nach 112 TWh in 2021. Insgesamt war im Jahr 2022 eine Stromlast von 484 TWh zu verzeichnen; das sind etwa 20 TWh weniger als 2021. Die Last beinhaltet den Stromverbrauch 5 Vgl. Agora Energiewende, Prognos, Consentec, Klimaneutrales Stromsystem 2035 (2022).

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und die Netzverluste, aber nicht den Pumpstromverbrauch und den Eigenver­ brauch der konventionellen Kraftwerke. Allerdings verursacht der Endenergieverbrauch für Wärme und Kälte gut die Hälfte des gesamten Endenergieverbrauchs, wobei Wärme und Kälte für unter­ schiedliche Anwendungsbereiche benötigt werden. Allein die Raumwärme und die Prozesswärme haben sektorübergreifend Anteile von knapp 30  % bezie­ hungsweise gut 20  % am Endenergieverbrauch; mit großem Abstand folgen die Anwendungsbereiche Warmwasser und Kälteerzeugung. Wärme wird größtenteils in den drei Endverbrauchssektoren private Haus­ halte, Industrie sowie Gewerbe, Handel und Dienstleistungen direkt erzeugt und verbraucht. Darüber hinaus wird knapp ein Zehntel des Wärmebedarfs durch Fernwärme aus dem Umwandlungssektor der allgemeinen Versorgung gedeckt. Die Anteile der unterschiedlichen Energieträger an der Wärmebereit­ stellung haben sich in den letzten Jahren kaum verändert. Die Aufschlüsselung des Wärmeverbrauchs nach Anwendungsbereichen wird in Abbildung 7 ­ge­zeigt.

Abbildung 7: Wärmeverbrauch nach Anwendungsbereichen (Angaben in TWh)

Die Aufschlüsselung des Wärmebereiches in die drei Sektoren Haushalte, Ge­ werbe und Industrie ist teils sehr unterschiedlich: – In den privaten Haushalten werden über 90  % der Energie für Wärmeanwen­ dungen verbraucht. Hierbei entfallen allein rund zwei Drittel auf den raum­ wärmebedingten Endenergieverbrauch, der stark von der Witterung abhängt und daher größeren Schwankungen unterworfen ist. Für Raumwärme setzen die privaten Haushalte überwiegend Erdgas als Energieträger ein.

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– Auch im Sektor Gewerbe, Handel, Dienstleistungen dominieren Wärmean­ wendungen mit über 60  % den Endenergieverbrauch. Hierbei ist die Raum­ wärme für rund die Hälfte des Endenergieverbrauchs verantwortlich, wobei ebenfalls überwiegend Erdgas für die Wärmebereitstellung eingesetzt wird. – In der Industrie hat Prozesswärme mit über 60  % den größten Anteil am En­ denergieverbrauch. Der hohe Anteil an Kohle ist Resultat der umfassenden Verwendung bei der Stahlerzeugung. Der Anteil erneuerbarer Energien zur Deckung des Wärmebedarfs in Deutsch­ land steigt seit den 1990er Jahren fast kontinuierlich an. Dabei spielt die feste Biomasse die mit Abstand größte Rolle. Sie stellt insgesamt fast drei Viertel der Wärme aus erneuerbaren Energien bereit. Besonders groß ist der Verbrauch in den privaten Haushalten. Solarthermie, Geothermie und Umweltwärme stellen derzeit 14  % der erneu­ erbaren Wärme zur Verfügung. Im Jahr 2021 stieg vor allem witterungs- und temperaturbedingt der Verbrauch erneuerbarer Wärmeträger deutlich um fast 10  % an. Den größten Anteil an diesem Anstieg hatten die biogenen Festbrenn­ stoffe (+ 12,7  %) und die Geothermie und Umweltwärme (+ 11,1  %). Zusammenfassend erzeugten Solarthermie, Geothermie und Umweltwärme einen neuen Spitzenwert erneuerbarer Wärme. Durch den noch stärkeren An­ stieg der Nutzung von Festbrennstoffen ging ihr Anteil am Energieverbrauch für erneuerbare Wärme gegenüber dem Vorjahr jedoch etwas zurück. Aktuell ist die Wärmeversorgung gemäß Abbildung 8 sehr gas- und kohle­ lastig und deswegen ein großer Verursacher von CO2-Emissionen. Daher ist der Wärmemarkt für fast 40  % aller CO2-Emissionen in Deutschland verantwort­ lich.

Abbildung 8: CO2-Ausstoß nach Verursachern (Wärmeverbrauch)

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Als Konsequenz hat der Wärmesektor einen entscheidenden Beitrag zum Kli­ maschutz in Deutschland zu leisten. Zahlreiche Studien und Szenarien bis 2050 zeigen, dass der Anteil klimaneutraler Wärmequellen im Vergleich zu 2020 deutlich ansteigen wird. Vor allem die Wärmebereitstellung in urbanen Bal­ lungsräumen wird durch Fernwärme erfolgen. Hierbei wird ein Großteil der klimaneutralen Wärme durch Großwärmepumpen bereitgestellt. Weitere rele­ vante Wärmequellen sind Solarthermie, Geothermie und Abwärme. 6 Biogas gilt als weiterer wichtiger Baustein zur Dekarbonisierung. Im Jahr 2018 wurden etwa 270 TWh biogene Energieträger genutzt. Erwartung ist, dass das heimische Bioenergiepotential auf bis zu 331 TWh im Jahr 2045 ansteigen wird. Nachhaltige Biomasse ist eine nur begrenzt verfügbare Ressource. Deutschland braucht daher eine Biomassestrategie zur nachhaltigen Erzeugung und zum gezielten und priorisierten Einsatz. Dies ist vor allem in industriellen Wärmeprozessen und in der Fernwärme der Fall. Zur Reduktion der CO2-Emissionen wird zukünftig der Einsatz von Wasser­ stoff einen signifikanten Beitrag leisten, sofern dieser mithilfe von regenerativ erzeugtem Strom klimaneutral erzeugt wird. Im Zuge dessen hat Deutschland im Juni 2020 die nationale Wasserstoffstrategie veröffentlicht, die den Weg für eine rasche Nutzung des Wasserstoffs in verschiedenen Anwendungsbereichen entheben soll. Mit dem Aufbau einer Wasserstoffindustrie steht und fällt das Regierungsziel einer vollständigen Dekarbonisierung des Landes bis 2045. Wasserstoff kann sowohl direkt verwendet werden, etwa als Treibstoff für Brennstoffzellenautos oder als Grundstoff in der Industrie, als auch indirekt als Energiespeicher zur Stromerzeugung dienen. Typischerweise wird Wasserstoff in einem thermischen Verfahren durch Erdgas, Kohle oder Biomethan herge­ stellt. Soll Wasserstoff seinen Beitrag zur Erreichung der Klimaziele leisten, kommt die Elektrolyse mittels erneuerbarer Energien in Frage. Schon heute ist Wasserstoff in der Chemieindustrie als Grundstoff und in Raffinerien zur Veredelung von fossilen Brennstoffen weit verbreitet. Zuneh­ mende Akzeptanz finden Anwendungen im Bereich der Brennstoffzellen für Mobilität und Gebäude. Da der heute verwendete Wasserstoff zu 95  % aus fos­ silen Grundstoffen gewonnen wird, muss der Wasserstoff der Zukunft durch Elektrolyse mit Strom aus erneuerbaren Energien erfolgen. Dieser sogenannte grüne Wasserstoff wird jedoch nur seinen Weg in die Industrie und Gesellschaft finden, wenn er das Kostenniveau der fossilen Brennstoffe Erdgas, Kohle und Öl erreicht. Sowohl Wirtschaft als auch Politik sehen in Wasserstoff einen zukünftigen nachhaltigen Energieträger mit großen Chancen. Ziel ist, dass Wasserstoff in Zukunft rund 20  % des gesamten Energiebedarfs bis 2050 abdeckt und insbe­ 6 Vgl. HIC Hamburg Institut Consulting GmbH, Forschungsgesellschaft für Energie­ wirtschaft, Grüne Fernwärme für Deutschland-Potenziale, Kosten und Umsetzung (2021).

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sondere in den betroffenen Industrien Stahl, Chemie und Öl eingesetzt wird. Neue Geschäftsmodelle lassen bereits heute einen Jahresumsatz von 55  Mrd.  € mit wasserstoffverbundener Industrie bis 2030 erwarten. Da die technischen Voraussetzungen großindustriell vorhanden sind, sowohl die Direktreduktion als die Elektrolichtbogenöfen, als auch die Elektrolyse als Einzelkomponenten erprobt sind, wird eine deutliche Reduzierung der Kosten und des damit und verbundenen Preises pro Kilowattstunde erwartet. Auch beim Ausbau der deutschen Wasserstoffstoffindustrie ist jedoch bereits heute eine Zielverfehlung festzustellen. Werden heute erst knapp 5.000 Tonnen Wasserstoff in Deutschland produ­ ziert, soll es in acht Jahren die knapp hundertfache Menge von 464.000 Tonnen sein. Die Deutsche Energieagentur hatte für 2030 einen Wasserstoffbedarf von 66 TWh festgestellt. Nach dem Koalitionsvertrag sollten davon 27,6 TWh im eigenen Land hergestellt und 38,4 TWh importiert werden. Doch die tatsächlich geplante Elektrolysekapazität von 5,6 GW kann nur 15,5 TWh Wasserstoff her­ stellen. Folge ist, dass die Importlücke auf 50,5 TWh wächst, also auf rund 75  % des Bedarfs. Zusätzlich zum Wasserstoff werden zukünftig auch weitere synthetische Energieträger eingesetzt werden. Im nationalen und internationalen Schiffsund Flugverkehr werden CO2neutrale PtL-Kraftstoffe verwendet, in geringem Umfang auch noch im Straßenverkehr für die im Bestand verbleibenden Fahr­ zeuge mit Verbrennungsmotoren. Zudem wird in der Industrie für die stoffliche Nutzung, die nicht durch die verstärkte Kreislaufwirtschaft abgedeckt werden kann, grünes Naphtha impor­ tiert. Strombasierte Brennstoffe und grünes Naphtha werden nicht in Deutsch­ land hergestellt, sondern importiert, in Summe etwa 120 TWh. Insgesamt ergibt sich für 2050 ein Bedarf an Wasserstoff und sonstigen syn­ thetischen Brennstoffen in Höhe von mehr als 350 TWh, von denen circa 90  % importiert werden.7

X. Ausblick Die vielen Studien, Strategieplanungen und Bewertungen zeigen, dass für die Erreichung des Zielbildes eines klimaneutralen Deutschlands ein hoher Grad der Übereinstimmung an der Umsetzung der erforderlichen Maßnahmen ge­ geben ist. Dennoch: Wissen führt hier noch nicht zu einem direkten Handeln.

7 Vgl. Fraunhofer Institut für System und Innovationsforschung, Metastudie Wasserstoff-­ Auswertung von Energiesystemstudien, Studie im Auftrag des nationalen Wasserstoffrates (2021).

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Denn noch ist Deutschland von der Zielerreichung deutlich entfernt, da – eine zu geringe Steigerung der Energieeffizienz zu verzeichnen ist, – das Ausbautempo für Photovoltaik- und Windkraftanlagen, für Elektro­ mobilität und Wasserstoffindustrie zu langsam erfolgt, – grundsätzlich eine Änderung des Konsumverhaltens erforderlich ist. Dies belegt auch der Anstieg der Emissionszahlen für 2022, trotz eines redu­ zierten Energieverbrauches um fast 5  %, da verstärkt Kohlekraftwerke als Gas­ ersatz zum Einsatz kamen. Auch der Verkehrs- und Gebäudesektor konnte sei­ ne Vorgaben im vergangenen Jahr nicht erfüllen. Deutschland produzierte so aufgrund vorläufiger Zahlen mit 761  Mio. Tonnen Treibhausgas fast genauso viel wie 2021. Die selbst gesetzte Obergrenze für 2022 wurde um rund fünf Mio. Tonnen verfehlt. Daher gilt es kurzfristig Maßnahmen, neben der Empfehlung eines stärker zeitnahen Monitorings seitens der Bundesregierung, zu verabschieden, die eine Beschleunigung durch rasche Anpassung der gesetzlichen/regulatorischen Rah­ menbedingungen möglich machen oder auch ergänzend eine harte Begrenzung der Emissionsmengen vornehmen. Positiv sind daher beispielsweise die folgenden Gesetzesanpassungen zu se­ hen, die ab 2023 gelten: Die Errichtung und der Betrieb von Anlagen zur Erzeugung von erneuerba­ ren Energien sowie den dazugehörigen Nebenanlagen liegen im überragenden öffentlichen Interesse und dienen der öffentlichen Sicherheit. So steht es unter anderem im neuen Klimaschutzgesetz, das ab 01.01.2023 gilt. Dieser Umstand muss nun seinen Niederschlag in den Planungs- und Genehmigungsverfahren für die Errichtung von Anlagen zur Gewinnung, Speicherung und Verteilung aus erneuerbaren Energien finden. Um den Ausbau der erneuerbaren Energien zu beschleunigen hat die Bundes­ regierung im Sommer 2022 weitere neue Gesetze verabschiedet: vor allem das Erneuerbare-Energien-Gesetz 2023 und das Windenergie-auf-See-Gesetz 2023; die Europäische Kommission hat diese zum Jahresende 2022 genehmigt. Die Gesetze sollen erreichen, dass sich in Deutschland bis 2030 der Anteil der er­ neuerbaren Energien am Stromverbrauch auf mindestens 80  % erhöht. Bereits im September hatte die EU-Kommission unter anderem die im EEG 2023 fest­ geschriebene höhere Einspeisevergütung für Photovoltaik Dachanlagen beihil­ ferechtlich genehmigt. Das EEG 2023 enthält zudem Regelungen, die die Rahmenbedingungen für den Ausbau der erneuerbaren Energien in der Breite verbessern sollen, wie zum Beispiel für Bürgerenergie, die Beteiligung von Kommunen an der Energie­ wende, den Netzanschluss von Photovoltaikanlagen, mehr Flächen für Photo­ voltaik-­Freiflächenanlagen oder die Integration von Agri-Photovoltaik oder Floating-­Photovoltaik in die reguläre Förderung.

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Des Weiteren sieht das WindSeeG 2023, neben einem neuen Wind-an-LandGesetz, eine Beschleunigung der Planungs- und Genehmigungsverfahren vor und soll eine schnellere Beauftragung der Netzanbindung erreichen sowie die Größe der auszuschreibenden Flächen erhöhen. Als eine weitere Option für eine verstärkte Steuerung der Klimaschutz­ziele hat sich die EU Mitte Dezember 2022 auf schärfere Regeln für den Kli­ maschutz verständigt; diese decken künftig 75  % der Emissionen ab. Die EU richtete e­ inen zweiten Emissionshandel ein mit folgenden Inhalten: Ab 2027 soll in der ganzen EU auch für Kraftstoffe im Straßenverkehr und für Brenn­ stoffe für den Gebäudebereich eine CO2-Abgabe eingeführt werden. Erneuer­ bare Energien sollen so gegenüber fossilen Brennstoffen einen Kostenvorteil bekommen. Die Einführung dieses zweiten Emissionshandels in der EU kann auf 2028 verschoben werden, falls die Energiepreise zuvor außergewöhnlich hoch sind. Zudem ist eine Kostenbremse eingebaut: Steigt der CO2-Preis auf über 45  € je Tonne – im Fall von Diesel wäre das eine Zusatzbelastung von etwa 0,10  € pro Liter – gibt die EU 20  Mio. Emissionsgutscheine in den Markt, um den Kosten­ anstieg zu dämpfen. Zusätzlich wird ein Social Climate Fonds eingerichtet, mit dem die Mitglied­ staaten die besonders belasteten Haushalt und Gewerbebetriebe entlasten kön­ nen. Finanziert wird der Fonds mit einem Volumen in Höhe von 65  Mrd.  € aus den Einnahmen, die beim Verkauf der CO2-Berechtigungen anfallen. Ebenso wurden energieintensiven Branchen CO2-Berechtigungen bislang oft gratis zugeteilt, um sie im internationalen Wettbewerb nicht zu benachteiligen. Jetzt soll die kostenlose Zuteilung schrittweise verringert werden. Ab 2026 wird die Menge der Gratis-Zertifikate um 2,5  % gekürzt, 2028 werden es 10  % weni­ ger. Im Jahr 2034 wird es gar keine kostenlose CO2-Zuteilung an die Industrie mehr geben. Und mit der Umsetzung des US-Klimapakets, des sogenannten Inflation Re­ duction Act (IRA), ist ein steiler Anstieg der Wasserstoffproduktion zu erwar­ ten. Mit diesen IRA-Subventionen wird schon sehr kurzfristig der in den USA produzierte Wasserstoff billiger als Gas werden. Zugleich ist die Bundesregie­ rung derzeit bereit, neben grünem Wasserstoff vorübergehend auch blauen Wasserstoff zu fördern, bei dessen Produktion CO2 entsteht, das unterirdisch gelagert wird. Allgemein wird die Diskussion über den weltweiten Klimaschutz derzeit stark geprägt durch den Krieg in der Ukraine, den Preissteigerungen sowie der Bewertung möglicher Energieengpässe; zusätzlich spüren wir immer noch die Folgen der Corona-Pandemie. All dies ist nicht förderlich für die Klimapolitik und die weitere Bedeutung von Klimagerechtigkeit, die sehr eng verknüpft ist mit weiteren Themen wie z. B. soziale Gerechtigkeit.

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Die dargestellte Transformation der Energiewirtschaft lässt sich im Kern mit folgenden Aussagen zusammenfassen: – Klimaschutz und Energiewirtschaft: Diese Top Megathemen weltweit, in der EU und in Deutschland werden stark durch öffentliche und politische Dis­ kussionen geprägt. – Über den geeigneten technologischen Weg zu einer mehr CO2-neutralen Welt gibt es einen breiten Korridor an Konsens und gemeinsamen Sichtweisen. – Die mehr nachhaltige Ausrichtung unserer Energiewirtschaft wird zukünfti­ ge Investitionen, unsere persönlichen Rahmenbedingungen des Lebens und unseren Wohlstand stark beeinflussen. – In Deutschland sind sich die Beteiligten bewusst, dass der derzeitige Ziel­ erreichungsgrad im Vergleich zu den Sollvorgaben Defizite aufweist bezie­ hungsweise deutlicher Handlungsbedarf besteht; eine Beschleunigung der Energiewende ist dringend erforderlich. – Die Transformation der Energiewirtschaft stellt einen radikalen Umbruch dar, der mit früheren Jahrzehnten nicht zu vergleichen ist. Abschließend ist festzuhalten, dass der Erfolg der Energiewende und damit eine Ausrichtung auf mehr Nachhaltigkeit nur dann gelingen wird, wenn von uns allen eine Änderung des Mindsets erfolgt.

Forcierter Ausbau der Windenergie: Windenergieflächenbedarfsgesetz, Windenergiegebiete und Zulassung von Windenergieanlagen nach geändertem BauGB Wilhelm Söfker

I. Einleitung Im Jahr 2022 und Anfang 2023 haben drei Gesetze zum Zweck des beschleunig­ ten Ausbaus der Windenergie weitreichende Änderungen im Baugesetzbuch (BauGB) vorgenommen, deren Inkrafttreten im Wesentlichen der 01.02.2023 ist. Dies sind: Gesetz zur Erhöhung und Beschleunigung des Ausbaus von Wind­energieanlagen an Land vom 20.07.2022 (BGBl.  I S.  1353), in Art.  1 mit dem Gesetz zur Festlegung von Flächenbedarfen für Windenergieanlagen an Land (Windenergieflächenbedarfsgesetz – WindBG), in Art.  2 flankiert mit Son­ derregelungen und Überleitungsvorschriften im BauGB (insbesondere §§  249 und 245e BauGB). Diese Vorschriften wurden ergänzt durch Art.  11 des Geset­ zes zur Änderung von energiewirtschaftlichen Vorschriften vom 08.10.­2022 (BGBl. I S.  1726) und durch das Gesetz zur sofortigen Verbesserung der Rahmen­ bedingungen für die erneuerbaren Energien im Städtebaurecht vom 04.01.­2023 (BGBl. I S.  1). Diese Gesetze liegen dem hier behandelten Vortragsthema zugrunde.

II. Das WindBG als Ausganglage für die Änderungen des BauGB 1. Allgemeines, Umfang der Verpflichtungen Die Änderungen des BauGB knüpfen an das WindBG an. Zur Umsetzung sei­ ner Ziele und Zwecke auf der Ebene des Bauplanungsrechts bedurfte es der An­ passungen im BauGB. Dies ist insbesondere mit den im BauGB eingeführten Sonderregelungen des §   249 BauGB und den Überleitungsvorschriften des §  246e BauGB geschehen. Damit sind teils erhebliche Veränderungen der bau­ planungsrechtlichen Grundlagen für die Zulassung von Windenergieanlagen vor allem in den Außenbereichen (§  35 BauGB) vorgenommen worden.

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Das WindBG verpflichtet die Länder, in bestimmtem Umfang und nach bestimmten Regeln Flächen für die Windenergie auszuweisen. Rechtsgrundlagen hierfür sind mit dem WindBG eingeführt worden. Damit soll dem Flächen­ bedarf für Windenergieanlagen Rechnung getragen werden. Maßgeblich sind die im WindBG und in der Anlage zum WindBG festgelegten sog. Flächenbei­ tragswerte, die in jedem Land auch als Teilflächenziele aufgeteilt sein können. Auf diese Weise ist der zu erzielende Umfang gesetzlich bindend für die Planun­ gen für die Windenergie nach dem WindBG festgelegt. Darin liegt ein wesent­ licher Unterschied zum BauGB, das den für die Bauleitplanung zuständigen Gemeinden den Umfang der Ausweisung von Flächen für die verschiedenen baulichen Nutzungen nicht gesetzlich vorgibt, wenn hierfür Bauleitpläne auf­ gestellt werden. Wie sich aus den §§  2 und 3 WindBG und den beiden Anlagen zum WindGB und daran anknüpfend aus den Sonderregelungen des §  249 BauGB ergibt, er­ folgt die Ausweisung von Flächen für die Windenergie durch Ausweisung von Windenergiegebieten, und zwar in differenziert geregelten und miteinander in unterschiedlicher Weise zusammenhängenden Vorschriften und Regelungs­ bereichen einschließlich der Planverfahren und der Planungszuständigkeiten. Dies bedarf der Darlegung, bevor auf einzelne Themen vertiefend eingegangen wird. Im Vordergrund stehen hier die Grundlagen des Regelungskonzeptes von WindBG und §  249 BauGB. Weitergehende Differenzierungen unter Berück­ sichtigung z. B. des Überleitungsrechts können hier aus Platzgründen nicht be­ handelt werden.1 Maßgeblich sind zunächst die Begriffsbestimmungen des §  2 WindBG über Windenergiegebiete. Nach §  2 Nr.  1 Buchst. a WindBG sind Windenergiegebie­ te Ausweisungen von Flächen für die Windenergie in Raumordnungs- oder Bauleitplänen; dies sind Vorranggebiete und mit diesen vergleichbare Gebiete in Raumordnungsplänen sowie Sonderbauflächen und Sondergebiete in Flächen­ nutzungsplänen und Bebauungsplänen. Übergangsweise kommen auch raum­ ordnungsrechtliche Eignungs- und Vorbehaltsgebiete in Betracht (§  2 Nr.  1b WindBG). Ausführlich definiert sind auch die sog. Rotor-innerhalb-Flächen (Lage der Rotorblätter von Windenergieanlagen innerhalb der für die Wind­ energie ausgewiesenen Flächen) und deren Anrechenbarkeit auf die Flächen für die Windenergie (§  2 Nr.  2 WindBG). Diese Begriffsbestimmungen hinsichtlich der möglichen Planinhalte von Windenergiegebieten sind zu unterscheiden von den weiteren Regelungsberei­ chen von WindBG und §  249 BauGB, nach denen die Länder ihre Verpflichtun­ gen durch bestimmte Planungsträger und in bestimmten Planverfahren erfüllen. Dies richtet sich nach §  3 Abs.  2 WindBG, insbesondere hinsichtlich des Um­ fangs der für die Windenergie auszuweisenden Flächen und Vorgaben für die 1 

Näher dazu neuerdings Meurers, UPR 2023, 41.

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Erfüllung dieser Pflichten. Nach §  3 Abs.  1 WindBG ist von jedem Land ein prozentualer Anteil der jeweiligen Landesfläche für die Windenergieanlagen an Land auszuweisen, die sog. Flächenbeitragswerte. Diese sind in Anlage 1 des WindBG differenziert nach den einzelnen Ländern festgelegt. Der maßgebliche Flächenbeitragswert ist in zwei Stufen, also zeitlich gestaffelt, zu erreichen: im ersten Schritt als Zwischenziel bis Ende 2027 und im zweiten Schritt bis Ende 2032. Zu unterscheiden sind nach §  3 Abs.  2 WindBG zwei Gruppen von Planungs­ trägern. Die Länder haben zwei Möglichkeiten der organisatorischen Zuord­ nung der Flächenausweisung für Windenergiegebiete durch Bestimmung der Planungsträgerschaft: 1. Die Länder können als Planungsträger selbst die Windenergiegebiete in lan­ desweiten oder regionalen Raumordnungsplänen ausweisen. Dabei kann das Land durch Landesgesetz oder als Ziele der Raumordnung regionale Teilflä­ chenziele für ihre Pläne festlegen, die in der Summe die jeweils für ein Land maßgebenden Flächenbeitragswerte erreichen. 2. Oder die Länder stellen eine Ausweisung durch von ihnen abweichende re­ gio­nale oder kommunale Planungsträger sicher. Dabei legt das Land regio­ nale oder kommunale Teilflächenziele fest, die in Summe den jeweiligen Flä­ chenbeitragswert des Landes erreichen, und macht diese durch ein Landes­ gesetz oder als Ziele der Raumordnung verbindlich. In diesen Fällen sind die Vorschriften des Raumordnungs- und Landesplanungsrechts bzw. des BauGB zugrunde zu legen. Die Länder entscheiden grundsätzlich frei, ob sie selbst die Planungszuständig­ keit haben sollen oder davon abweichend regionale oder kommunale Planungs­ träger.2 Dabei hat auch Bedeutung, wie im Fall 2. die Länder die Ausweisung der zur Erreichung der Flächenbeitragswerte notwendigen Flächen durch von ihnen abweichende regionale oder kommunale Planungsträger sicherstellen. Diese Fragen der Sicherstellung stellen sich von vornherein nicht, wenn die durch das WindBG bundesrechtlich verpflichteten Länder selbst die Auswei­ sung der Windenergiegebiete vornehmen, die Länder also selbst die Planungs­ verantwortung tragen und nicht Träger der Regionalplanung (wenn dies bisher im jeweiligen Land als eigenverantwortlich wahrnehmbare Aufgabe geregelt ist) oder den Gemeinden, die die Bauleitplanung eigenverantwortlich wahrnehmen (§  2 Abs.  1 S.  1 BauGB), überlassen. Als ergänzende Regelungen sind hervorzuheben: §  3 Abs.  3 WindBG mit den Nachweispflichten der Länder; Feststellung des Erreichens des jeweiligen Flä­ chenbeitragswertes nach §  5 WindBG; Definition des §  4 WindBG über die an­ rechenbaren Flächen – grundsätzlich alle Flächen in Windenergiegebieten, u.a. 2 

Vgl. Begründung des Gesetzentwurfs, BT-Drs. 20/2355, S.  25 und S.  34

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differenziert anrechenbare Flächen um vorhandene Windenergieanlagen,3 Nut­ zung vorhandener Ausweisungen.

2. Überblick über die Änderungen im BauGB, die ab 01.02.2023 gelten Schwerpunkt ist §  249 BauGB mit seinen „Sonderregelungen für Windenergie­ anlagen an Land“. Seine zehn Absätze setzen verschiedene Vorschriften des WindBG um und sie betreffen verschiedene Rechtsbereiche des Bauplanungs­ rechts. Im Überblick sind dies folgende Vorschriften: Zu §  249 BauGB:4 §  249 Abs.  1 bis 3 BauGB regeln die Anwendbarkeit oder Nichtanwendbarkeit der Vorschriften über die privilegierte Zulässigkeit von Windenergieanlagen nach §  35 Abs.  1 Nr.  5 BauGB im Außenbereich, innerhalb bzw. außerhalb aus­ gewiesener Windenergiegebiete. §  249 Abs.  4 BauGB enthält eine Sonderregelung im Fall zusätzlicher Flä­ chenausweisungen, wenn der Flächenbeitragswert festgestellt worden ist. §  249 Abs.  5 BauGB regelt die Nichtbindung des Planungsträgers bei Auswei­ sung von Windenergiegebieten an Ziele der Raumordnung und Darstellungen in Flächennutzungsplänen, wenn dies erforderlich ist, um den betreffenden Flä­ chenbeitragswert zu erreichen. §  249 Abs.  6 BauGB bestimmt, dass die Ausweisung von Windenergiegebie­ ten in Fällen des §  2 Nr.  1 WindBG (Ausweisung von Flächen für die Windener­ gie in Raumordnungs- oder Bauleitplänen) nach den für die jeweiligen Pla­ nungsebenen geltenden Vorschriften für Gebietsausweisungen erfolgt. Dies hat auch Bedeutung für Anforderungen an die Planung für Windenergiegebiete hinsichtlich Alternativenprüfungen und besonders für die – zu verneinende – Frage, ob für jede Fläche im Planungsraum bezüglich Ausweisung von Wind­ energiegebieten geprüft werden muss, ob sie für eine Ausweisung für die Wind­ energie geeignet ist.5 §  249 Abs.  7 BauGB regelt die Folgen bei nicht fristgerechtem Erreichen der Flächenbeitragswerte (Konsequenzen der sog. Zielverfehlung). §  249 Abs.  8 BauGB enthält die Rechtsgrundlagen über die Möglichkeit von Bestimmungen zum Rückbau von Altanlagen im Rahmen von Repowering-Vor­ haben, aus §  249 Abs.  2 BauGB a.F. mit Anpassungen an das WindBG übernom­ men. 3 

Zu Fragen der Anrechenbarkeit vgl. auch Benz/Wegner, ZNER 2022, 367. dazu Söfker/Meurers, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger (Hrsg.), BauGB, §  249 Rn.  30 ff., 38 ff., 98 ff., 103 ff., 109 ff., 128 ff., 135 ff., 147 ff., 161 ff., 201 ff. 5  Wie hier Begründung, BT-Drs. 20/2355, zustimmend Raschke/Roscher, ZfBR 2022, 531; andererseits Kment. NVwZ 2022, 1153. 4 Näher

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§  249 Abs.  9 BauGB ermöglicht den Ländern, Windenergie im Abstand von Wohnnutzungen vorzusehen, aus §  249 Abs.  3 BauGB a.F. mit Anpassungen an den Flächenausbau nach dem WindBG übernommen. §  249 Abs.  10 BauGB enthält eine Regelung des öffentlichen Belangs „optisch bedrängende Wirkung“, der bei Zulassung von Windenergieanlagen im Außen­ bereich und Anwendung des §  35 Abs.  3 S.  1 BauGB beachtlich ist. Diese Sonderregelungen sind ergänzt um §  245e BauGB (Überleitungsvor­ schriften aus Anlass des Gesetzes zur Erhöhung und Beschleunigung des Aus­ baus von Windenergieanlagen an Land). Nach Absatz  1 wird die Ausschlusswirkung im Sinne des §  35 Abs.  3 S.  3 BauGB in vorhandenen, spätestens bis zum 01.02.2024 aufgestellten Plänen übergangsweise und in bestimmter Weise aufrechterhalten, differenziert gere­ gelt auch die Fortgeltung von Positivausweisungen. Planungen können nach Absatz  2 im Sinne des §  15 Abs.  3 BauGB gesichert werden. Zugunsten des Re­ powerings gelten nach Absatz  3 Sonderregelungen. Absatz  4 ermöglicht eine Zulassung von Windenergieanlagen aufgrund von Planentwürfen. 6

III. Ausgewählte Fragen zu den Folgen für das Bauplanungsrecht 1. Die Bedeutung des Windenergieflächenbedarfsgesetzes (WindBG) als Ausgangslage Die nach dem WindBG vorgesehene Ausweisung von Windenergiegebieten hat den primären Zweck, in dem vom Gesetz für erforderlich gehaltenen Umfang Flächen für die Windenergie auszuweisen. Darin sieht das Gesetz die Grund­ voraussetzung für den angestrebten Ausbau der Windenergie. Die weiteren Rechtsfolgen dieser Ausweisungen, nämlich die Schaffung der planungsrecht­ lichen Grundlagen für die Zulassung von Windenergieanlagen, erschließt sich jedoch (nur) aus weiteren Zusammenhängen. Das WindBG mit seinen Verpflichtungen zur Ausweisung von Flächen für die Windenergie in bestimmtem Umfang (Anteil der jeweiligen Landesfläche) verwendet den Begriff „Windenergiegebiet“. Die diesbezüglichen Begriffsbe­ stimmungen des §  2 Nr.  1 WindBG (Vorranggebiete und mit diesen vergleichba­ re Gebiete in Raumordnungsplänen sowie Sonderbauflächen und Sondergebiete in Flächennutzungs- und Bebauungsplänen, unter bestimmten Voraussetzun­ gen übergangsweise auch Eignungs- und Vorbehaltsgebiete in Raumordnungs­ plänen) verwenden bekannte raumordnungs- und städtebaurechtliche Begriffe. Dies trägt zweifellos zur sicheren Handhabbarkeit bei Erfüllung der Verpflich­ tungen des WindBG in der Praxis bei Ausweisung der verlangten Flächen für 6 

Näher zu §  264e BauGB Meurers (Fn.  1), und Meurers (Fn.  4), §  246a.

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die Windenergie bei. Hierin eingeordnet werden können auch die weiteren Be­ griffsbestimmungen sowie die Anrechnungsregeln, z.B. bezüglich der Rotor-­ innerhalb-Flächen. §  6 WindBG enthält Vorschriften über Berichtspflichten und zur Evaluie­ rung. Diese umfassen neben Berichtspflichten der Bundesregierung zum Stand der Umsetzung des Gesetzes auch Verpflichtungen zur Darlegung von für er­ forderlich gehaltener weiterer gesetzgeberischer Maßnahmen, um die Flächen­ beitragswerte oder die Anpassung der Flächenbeitragswerte an die Ausbauziele des EEG zu erreichen, verbunden mit der Vorlage von Gesetzentwürfen zur Anpassung des WindBG.7 Das Abstellen auf die Flächen, die durch die Ausweisung von Windenergie­ gebieten für die Windenergie erfasst werden, ist auch ein grundsätzlich geeigne­ ter Maßstab, um die Ziele des WindBG zu erreichen, nämlich das für den be­ schleunigten Ausbau der Windenergie durch die Ausweisung von Flächen er­ reichbare notwendige Vorhandensein von Flächen für die Windenergie. Dem dient auch die Feststellung und Bekanntmachung des Erreichens der Flächen­ beitragswerte nach §  5 WindBG anhand der tatsächlich von der Ausweisung erfassten Flächen, mit dem die Verpflichtungen des WindBG erfüllt werden. 8

2. Neuordnung der bauplanungsrechtlichen Zulässigkeit von Windenergieanlagen Im WindBG nicht ausdrücklich geregelt ist, dass als Voraussetzung für die An­ rechnung der ausgewiesenen Flächen auf die verlangten Flächenbeitragswerte auch die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit von Windenergieanlagen in den Windenergiegebieten gehört. Dies erschließt sich aber aus weiteren Zusammen­ hängen: Die Ausweisung von Flächen für die Windenergie allein, also ohne baupla­ nungsrechtliche Zulässigkeit von Windenergieanlagen, ergäbe keinen Sinn in Bezug auf die vom WindBG angestrebte Flächenverfügbarkeit. Diese Frage stellt sich, weil das WindBG nicht ausdrücklich regelt, dass die bauplanungs­ rechtliche Zulässigkeit von Windenergieanlagen hier nicht durch Aufstellung von Bebauungsplänen erreicht werden muss. Veranlassung dafür hätte deswe­ gen bestanden, weil es an sich den Aufgaben der Bauleitplanung (vgl. §  1 Abs.  1 und 2, §  8 Abs.  1 S.  1 BauGB) entspricht, die bodenrechtlich verbindliche Festle­ gung der Bebaubarkeit durch Aufstellung von Bebauungsplänen zu erreichen.9 Das WindBG benennt zwar die Ausweisung von Windenergiegebieten durch 7  Zu diesen sehr prägnanten Vorgaben des §  6 WindBG vgl. Begründung des Gesetzent­ wurfs BT-Drs. 20/2355 zu §  6 Abs.  3. 8  Meurers, (Fn.  1). 9  Runkel, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, §  8 Rn.  8 ff.

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Bebauungspläne als Möglichkeit (vgl. §  2 Nr.  1 Buchst. a BauGB). Das Konzept des WindBG lässt aber einen Verzicht auf Bebauungspläne nicht nur zu, son­ dern stellt ihn in den Vordergrund: Die Ausweisung von Windenergiegebieten auch durch Pläne der Länder so­ wie durch Raumordnungspläne und Flächennutzungspläne führt zur Anwen­ dung des Privilegierungstatbestands für Windenergieanlagen im Sinne des §  35 Abs.  1 Nr.  5 BauGB und damit zur bauplanungsrechtlichen Absicherung von Windenergieanlagen im Außenbereich.10 Durch Bebauungspläne würde zwar die bauplanungsrechtliche Absicherung von Windenergieanlagen im Sinne des §  30 BauGB erreicht. Indem das WindBG neben dem Bebauungsplan auch die Möglichkeiten ausdrücklich benennt, durch Darstellungen in den Flächennutzungsplänen oder Festlegungen von Zielen in den Raumordnungsplänen für die Zwecke des WindBG Windenergiegebiete auszuweisen, soll es nach dem WindBG auch ausreichend sein, wenn solche Ausweisungen ohne Festsetzung von Bebauungsplänen vorgenommen werden. Dies geschieht dadurch, dass in den ausgewiesenen Windenergiegebieten Wind­ energieanlagen als nach §  35 Abs.  1 Nr.  5 BauGB im Außenbereich privilegiert zulässige Vorhaben zu beurteilen sind (vgl. §  249 Abs.  2 BauGB).11 Das Zusam­ mentreffen von ausgewiesenen Windenergiegebieten und daraus folgend die Anwendbarkeit des Privilegierungstatbestands des §  35 Abs.  1 Nr.  5 BauGB bil­ den die bauplanungsrechtliche Grundlage. Es bleibt daher festzuhalten, dass die Ausweisung von Windenergiegebieten für die Zwecke des WindBG durch die Aufstellung von Bebauungsplänen erfol­ gen kann. Dies ist aber nicht die einzige Möglichkeit. Möglich und ausreichend ist die Festlegung von Windenergiegebieten in Raumordnungsplänen als Ziele der Raumordnung oder durch Darstellungen in Flächennutzungsplänen, ohne dass den Zielen der Raumordnung oder den Darstellungen in Flächennutzungs­ plänen Bebauungspläne nachfolgen. Es ist auch eher naheliegend, anzunehmen, dass in der Praxis die vom WindBG geforderte Ausweisung von Windenergie­ gebieten in landesweiten oder regionalen Raumordnungsplänen (§  3 Abs.  2 S.  1 Nr.  1 WindBG) mit ihren Folgen für die Erfüllung der Flächenbeitragsziele aus­ reichend ist für die planungsrechtliche Absicherung. Dies hat weitreichende Folgen. Der Verzicht auf die Aufstellung von Bebauungsplänen macht die Nutzung dieses Planungsinstruments für den Ausbau der Windenergie entbehrlich, d.h. dieser Planungsschritt wird nicht verlangt. Dem Gesetzgeber reicht, dass Wind­ energiegebiete planerisch ausgewiesen werden. Eine Komplettierung durch Be­ bauungspläne wird nicht verlangt. Es bedurfte daher auch nicht zusätzlicher Rechtsgrundlagen, durch die sichergestellt wird, dass die Aufstellung von Be­ 10 Näher 11 Näher

Meurers, (Fn.  4), §  249 Abs.  2 Rn.  38 ff. Söfker/Meurers, (Fn.  4), §  249 Rn.  39 ff.

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bauungsplänen als Komplettierung der planungsrechtlichen Grundlagen auch vorgenommen wird. Z.B. bedurfte es keiner Konkretisierung der Anpassungs­ pflicht des §  1 Abs.  4 BauGB bezüglich der Aufstellung von Bebauungsplänen im Sinne aktiver Planungspflicht. Folge ist allerdings auch, dass die bauplanungsrechtliche Absicherung von Windenergieanlagen nicht so weitreichend ist wie die Absicherung von Wind­ energieanlagen durch Bebauungspläne, und zwar in verschiedenen Beziehun­ gen: Anwendbar ist die privilegierte Zulässigkeit von Windenergieanlagen nur im Außenbereich (§  35 BauGB). Auf die anderen Gebietskategorien (Gebiete mit Bebauungsplänen nach §  30 BauGB und die im Zusammenhang bebauten Orts­ teile nach §  34 BauGB) kann dieses Konzept nicht herangezogen werden. Und §  35 Abs.  1 Nr.  5 BauGB als bauplanungsrechtliche Grundlage ist nicht so weit­ reichend wie die des §  30 BauGB. Denn es können den im Außenbereich privi­ legiert zulässigen Vorhaben öffentliche Belange oder andere öffentlich-rechtli­ che Vorschriften entgegenstehen (vgl. §  35 Abs.  1 a.E. sowie §  29 Abs.  2 BauGB). Die Grundstücke im Außenbereich, auf denen Windenergieanlagen als Vorha­ ben im Sinne des §  35 Abs.  1 Nr.  5 BauGB zulässig sein können, haben daher auch keine Baulandqualität wie Grundstücke in den Gebieten mit Bebauungs­ plänen oder auch den im Zusammenhang bebauten Ortsteilen.12 Für die Zwecke des WindBG (bloße Ausweisung ausreichender Flächen für die Windenergie) reicht nach dem Willen des Gesetzgebers das dargestellte Konzept der Ausweisung von Windenergiegebieten auch ohne Aufstellung von Bebauungsplänen in Verbindung mit der Anwendung des Privilegierungstatbe­ stands des §  35 Abs.  1 Nr.  5 BauGB und des §  29 Abs.  2 BauGB. Damit dieses Konzept auch für die Zwecke des WindBG eingesetzt werden kann, dürfte aber zu verlangen sein, dass bei Ausweisung der jeweiligen Wind­ energiegebiete die Zulassung von Windenergieanlagen nicht an überwiegenden öffentlichen Belangen oder anderen öffentlich-rechtlichen Vorschiften scheitern könnte.13 Es muss angenommen werden können, dass in den ausgewiesenen Windenergiegebieten die Zulässigkeit von Windenergieanlagen mindestens nicht von vorherein ausgeschlossen ist. „Die ausgewiesenen Flächen für die Er­ richtung und den Betrieb von Windenergieanlagen dürfen nach dem Gebot der Planerforderlichkeit im Sinne des §  1 Abs.  3 BauGB jedenfalls nicht schlechthin ungeeignet sein.“14 Andernfalls könnten sonst grundlegende Voraussetzungen für die sich aus diesem Konzept ergebende und zu verlangende städtebauliche Rechtfertigung im Sinne einer sozialbindenden Norm fehlen. Zu verlangen sind aber keineswegs diesbezügliche Anforderungen, wie sie teils von der Rechtspre­ 12 

Söfker (Fn.  4), §  35 Rn.  13 f. Meurers, (Fn.  1). 14 Zutreffend Meurers, (Fn.  1). 13 

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chung zur Konzentrationsflächenplanung im Sinne des nach §  249 Abs.  1 BauGB grundsätzlich nicht mehr anwendbaren §  35 Abs.  3 S.  3 BauGB verlangt wurden. Da Ziele der Raumordnung ebenso wie Darstellungen eines Flächennutzungs­ plans nicht allein schon die planungsrechtliche Zulässigkeit von Wind­ener­gie­ anlagen begründen können, sondern nur aufgrund der kombinierten Anwend­ barkeit des für den Außenbereich (§  35 BauGB) geltenden Privilegierungstatbe­ stands des §  35 Abs.  1 Nr.  5 BauGB, ist davon auszugehen, dass dieses Konzept keine Anwendung finden kann in den nach §§  30 und 34 BauGB zu beurteilen­ den Gebieten. Für diese Gebiete kommt insofern die Ausweisung von Wind­ energiegebieten im Sinne des WindBG (§  2 Nr.  1 WindBG) nicht in Betracht.

3. Zur Stellung der Gemeinden Bei Anwendung dieses Konzepts sind auch die Gemeinden als für die Bauleit­ planung zuständigen Stellen (§  2 Abs.  1 S.  1 BauGB) zu beteiligen. Diese Betei­ ligung hat wesentliche Bezüge zur sog. Planungshoheit der Gemeinden, die in wesentlichen Beziehungen in der Selbstverwaltungsgarantie im Sinne des Art.  28 Abs.  2 GG begründet ist.15 Formal ist §  36 BauGB (erforderliches Einvernehmen der Gemeinden bei Er­ teilung von Genehmigungen außerhalb von Gebieten mit Bebauungsplänen) einschlägig. Eine Einschränkung dieser grundsätzlichen Rechtsposition der Gemeinden zur Beteiligung ergibt sich nicht aus den hier behandelten baupla­ nungsrechtlichen Vorschriften. §  36 BauGB kommt daher als Beteiligungsrege­ lung uneingeschränkt zur Anwendung. In diesem Rahmen kann daher im kon­ kreten Fall auch die inzidente Prüfung der Wirksamkeit ausgewiesener Wind­ energiegebiete von Bedeutung sein. Denn außerhalb dieser Gebiete ist eine Zulässigkeit von Windenergieanlagen im Außenbereich und damit eine An­ wendbarkeit des §  35 Abs.  1 Nr.  5 BauGB grundsätzlich nicht gegeben. Dies ist letztlich auch eine Folge davon, dass die Aufstellung von Bebauungs­ plänen nicht verlangt wird, durch die aber das Einvernehmenserfordernis im Sinne des §  36 BauGB vermieden werden könnte. Denn das Einvernehmen nach §  36 BauGB ist erforderlich, wenn sich das Vorhaben nicht auf Festsetzungen eines Bebauungsplans stützen kann, also nicht auf eine planerische Entscheidung der Gemeinde, durch die das Vorhaben bauplanungsrechtlich abgesichert ist.16 Von der Beteiligungsvorschrift des §  36 BauGB zu unterscheiden ist die Frage, ob und inwieweit bestimmte materiell-rechtliche Belange von den Gemeinden bei Ausweisung von Windenergiegebieten und der Zulassung von Wind­energie­ anlagen nicht geltend gemacht werden können, s. §  249 Abs.  5 BauGB (unten). 15  16 

Söfker (Fn.  4), §  36 Rn.  9 ff. mit Hinweisen zur Rechtsprechung. Söfker a.a.O. (Fn.  15).

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4. Ausweisung von Windenergiegebieten nach den allgemeinen Vorschriften über Flächenausweisungen (§  249 Abs.  6 BauGB) §  249 Abs.  6 BauGB bestimmt, dass die Ausweisung von Windenergiegebieten gem. §  2 Nr.  1 WindBG nach den für die jeweiligen Planungsebenen geltenden Vorschriften für Gebietsausweisungen erfolgt. Welche Vorschriften dies sind, erschließt sich aus den „Planungsebenen“ im Sinne des BauGB und des Raum­ ordnungsrechts sowie den Zusammenhängen mit dem WindBG, das ebenfalls Begriffe des Raumordnungs- und Bauplanungsrechts verwendet. Daraus lassen sich Folgerungen ziehen: Anzuwenden sind die bei Gebietsausweisungen anzuwendenden Vorschrif­ ten des Raumordnungsrechts in Verbindung mit dem jeweiligen Landesrecht über die Raumordnung und Landesplanung sowie aus den Vorschriften des BauGB über die Aufstellung der Bauleitpläne. Dabei beantwortet sich die Zu­ ordnung der Planungsebenen, also Raumordnungsrecht oder BauGB, aus der jeweils vorgesehenen Planung und den Vorschriften über den zuständigen Pla­ nungsträger.17 Die Anwendung dieser Vorschriften ist insgesamt anspruchsvoll, wie bei den Planungen nach dem Raumordnungsrecht (ROG und Landespla­ nungsrecht) und dem BauGB selbst. Mit der Anwendung dieser Vorschriften kann als sichergestellt beurteilt wer­ den, dass damit den rechtsstaatlichen Anforderungen etwa in Bezug auf den Ablauf des Verfahrens und der Inkraftsetzung und des Abwägungsgebots so­ wie des Europarechts etwa in Bezug auf förmliche Umweltprüfungen Rech­ nung getragen wird.

5. Zuständiger Planungsträger Wer zuständiger Planungsträger für die Ausweisung von Windenergiegebieten ist, bedarf der Entscheidung des jeweiligen Landes. Aus dem WindBG und dem §  249 BauGB lassen sich Vorgaben entnehmen. Dies gilt vor allem im Hinblick auf die Vorgaben des §  3 WindBG über die Art und Weise, wie die Länder ihre Verpflichtung zum Erreichen der Flächenbeitragswerte und Teilflächenziele er­ füllen können. Dabei ist nach §  3 Abs.  2 WindBG zu unterscheiden: Es können die Länder die notwendigen Flächen selbst ausweisen (S.  1 Nr.  1), und zwar in landesweiten oder regionalen Raumordnungsplänen. In diesem Fall erfüllt das Land seine Verpflichtungen aus dem WindBG. Abweichend davon können die Länder die Ausweisung von Flächen für die Windenergiegebiete auch durch von ihnen abweichende regionale oder kommu­ nale Planungsträger einschließlich der Gemeinden als zuständige Planungsträ­ ger im Sinne des §  2 Abs.  1 S.  1 BauGB vorsehen, wenn die Erreichung der Aus­ 17 

Söfker (Fn.  4), §  249 Rn.  128 ff.; Meurers, (Fn.  1); Scheidler, BauR 2022, 1419.

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bauziele sichergestellt ist (Nr.  2). Werden diese Planungsträger „im eigenen Wir­ kungskreis“ tätig, kann es ggf. besonderer Rechtsvorschriften bedürfen, die sicherstellen, dass die sich aus dem WindBG ergebenden Verpflichtungen be­ achtet werden; ggf. können sich auch Grenzen in der Handhabbarkeit ergeben. Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass bei der Ausweisung der Flächen für die Windenergie die verlangten Flächenbeitragswerte erreicht werden. Zu­ sätzliche Regelungen, etwa zur Konkretisierung der Anpassungspflicht nach §  1 Abs.  4 BauGB, sind nicht getroffen. Wegen dieser Situation hat die Vorgehens­ weise, dass das jeweilige Land die erforderlichen Flächen selbst ausweist, erheb­ liches Gewicht.

6. Nichtbindung an entgegenstehende Ziele der Raumordnung und Darstellungen des Flächennutzungsplans Fragen der Handhabbarkeit der Ausweisung von Windenergiegebieten können in den Fällen deutlich werden, in denen die vorgesehenen Flächenausweisungen für die Windenergie mit gegenläufigen Planungen in Konflikt geraten. Dies kann namentlich in solchen Fallgestaltungen relevant werden, die dem §  249 Abs.  5 BauGB zugrunde liegen. Diese Vorschrift erfasst Fälle, in denen die vorgesehene Ausweisung von Windenergiegebieten in Widerspruch gerät mit vorhandenen Zielen der Raum­ ordnung oder Darstellungen in vorhandenen Flächennutzungsplänen mit der Folge, dass diese der Ausweisung von Windenergiegebieten entgegenstehen. Für solche Fälle regelt §  249 Abs.  5 BauGB, dass der zuständige Planungsträger an die entgegenstehenden Ziele der Raumordnung und Darstellungen eines Flä­ chennutzungsplans nicht gebunden ist, soweit dies erforderlich ist, damit der Flächenbeitragswert oder das Teilflächenziel erreicht werden kann. Da die Be­ achtung des §  249 Abs.  5 BauGB ein darauf abstellendes Verwaltungsverfahren und Beteiligungsverfahren nicht voraussetzt, sondern kraft Gesetzes gilt, erge­ ben sich die Rechtsfolgen unmittelbar in dem betreffenden Verfahren, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen des §  249 Abs.  5 BauGB vorliegen. Die Vorausset­ zungen (Erforderlichkeit, um den Flächenbeitragswert zu erreichen) sind im jeweiligen Fall von dem Planungsträger zu prüfen. Sind hinsichtlich der Erfor­ derlichkeit auch Prognoseentscheidungen erforderlich, bedarf es der Berück­ sichtigung anerkannter Regeln von Prognoseentscheidungen.18 Die Auswirkungen auf die Raumordnung und Landesplanung sowie die städtebauliche Entwicklung können je nach Situation weitreichend sein, so wenn sich die Auswirkungen nicht auf die betroffenen Flächen beschränken, sondern auch andere, im räumlich-funktionalen Zusammenhang stehende Flä­ 18 

Näher zu §  249 Abs.  5 BauGB Söfker (Fn.  4), §  249 Rn.  109.

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chen und die dafür vorgesehenen Nutzungen betroffen sind. Letzteres dürfte oftmals der Fall sein.19 Mit vorhandenen Zielen der Raumordnung und Darstellungen des Flächen­ nutzungsplans sind auch vielfach öffentliche Belange berücksichtigt worden, wie z.B. Flächenansprüche von Wohnen, Gewerbe, Verkehr sowie öffentlichen Einrichtungen, die nicht zuletzt auch im Rahmen des bei solchen Flächenaus­ weisungen in Plänen anzuwendenden Abwägungsgebots (vgl. zu §  249 Abs.  6 BauGB) zu berücksichtigen wären.20 Ob und inwieweit die Nichtbindung an Ziele der Raumordnung und Darstel­ lungen des Flächennutzungsplans nach §  249 Abs.  6 BauGB relevant wird, hängt naturgemäß von der Entscheidung des jeweiligen Planungsträgers über den für Windenergieanlagen in Anspruch zu nehmenden Standort ab. Unabhängig von der Frage rechtlicher Verpflichtungen oder Freiheiten hat der Planungsträger immer auch die Möglichkeit, situationsgemäß vorzugehen und geeignete Stand­ orte auszuwählen und dadurch eine Fallgestaltung zu vermeiden, die zur An­ wendung des §  249 Abs.  5 BauGB führen würde. Dazu gehören: Ausweichen der Windenergie auf unproblematische Standorte oder Nutzung oder Sicherung von Ersatzstandorten für weichende Nutzungen.21

IV. Schlussbetrachtung Das hier behandelte WindBG mit den daran anknüpfenden Änderungen des BauGB sind zu den vom Gesetzgeber verfolgten Zwecken der Erhöhung und Beschleunigung des Ausbaus der Windenergie vorgenommen worden. Dement­ sprechend können auch positive Wirkungen im Sinne der gesetzgeberischen Zielsetzungen erwartet werden. Die neuen Vorschriften sind umfangreich so­ wie differenziert und komplex, gerade auch im Verhältnis zu den unverändert weitergeltenden bauplanungsrechtlichen Vorschriften des BauGB im Übrigen. Die Umsetzung der neuen Vorschriften in der Praxis mit ihrer teils weitreichen­ den Abkehr vom weiterhin geltenden Bauplanungsrecht des BauGB bedarf der Begleitung und Beobachtung. Dazu gehört auch, sich immer wieder die den neuen Vorschriften zugrunde liegenden Konzeptionen zu vergegenwärtigen, um auch neu auftretende Fragen sachgerecht beantworten zu können.

19  Eingehend zu in Betracht kommenden Fällen der Abweichung von Zielen der Raumord­ nung und insofern auch weitgehend übertragbar auf Abweichungen von Darstellungen vom Flächennutzungsplan Spannowsky, ZfBR 2023,18. 20  Zur Anwendung des Abwägungsgebots in diesen Fällen ausdrücklich Meurers, (Fn.  1). 21  Näher dazu Söfker (Fn.  4), §  249 Rn.  122.

Windenergie und Artenschutz: Neue Regelungen auf Genehmigungs- und Planungsebene Monika Agatz

I. Einleitung und Problemlage Aus der gesellschaftspolitischen Entscheidung für eine Vollversorgung mit er­ neuerbaren Energien, die noch dazu in einem sehr kurzen Zeitraum erreicht werden soll, ergibt sich die Anforderung an das Planungs- und Genehmigungs­ recht, den Bedarf zu sichern und eine möglichst schnelle Durchführung von verwaltungsrechtlichen Verfahren zu bieten unter gleichzeitiger Gewährleis­ tung von hohen materiellen Umweltstandards. Sowohl die planerische Auswei­ sung von Flächen für die Windenergie als auch die Genehmigung konkreter Windenergieprojekte dauern derzeit allerdings mehrere Jahre. Bei der Analyse der zeitlichen Abläufe fällt unter anderem der Artenschutz ins Blickfeld, dessen Prüfung in der derzeitigen Verwaltungspraxis einen hohen zeitlichen, personel­ len und finanziellen Aufwand erfordert. Dabei ist nicht der Artenschutz als solcher mit seinem materiellen Ziel des Erhalts der Populationen geschützter Arten Ursache des Problems, sondern die rechtliche Umsetzung der materiellen Artenschutzziele und der verwaltungspraktische Umgang damit.1 Die rechtliche Fehlkonstruktion des Artenschutzes2 drückt sich in einer Viel­ zahl an Widersprüchlichkeiten und Unzulänglichkeiten aus. Die artenschutzrechtlichen Anforderungen sind als äußerst repressive Verbo­ te nahezu ohne Verhältnismäßigkeitsprüfung ausgestaltet. Bei wortlautgetreuer Umsetzung wäre keine menschliche Aktivität mehr möglich. Das BVerwG hat angenommen, dass dies nicht gewollt sein kann, und hat daher eine Abschich­ tung der für eine vertiefte verwaltungsrechtliche Prüfung relevanten Arten in Form von Listen sog. „planungsrelevanter“ bzw. speziell bei Windenergie­­an­lagen „windenergiesensibler“ Arten anerkannt und für das Tötungsverbot den sog. „Signifikanzansatz“ entwickelt.3 Diese Ansätze sowie weitere in der Rechts­literatur diskutierte, in der Verwaltungspraxis angewendete oder nun in 1  Siehe hierzu ausführlich: Agatz, Rechtliche Probleme bei der Nutzung von Windenergie, Dokumentation 19. Deutscher Verwaltungsgerichtstag, 2020, 93 ff. 2  Gatz, Windenergieanlagen in der Verwaltungs- und Gerichtspraxis, 2019, Rn.  278. 3  BVerwG, Urt. v. 09.07.2008 – 9 A 14.07; BVerwG, Urt. v. 09.07.2009 – 4 C 12.07; BVerwG, Beschl. v. 08.03.2018 – 9 B 25.27.

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der bundesrechtlichen Gesetzgebung umgesetzten Versuche, die repressiven ar­ tenschutzrechtlichen Verbote realitätsnah auszugestalten, unterliegen stets der Kritik einer Absenkung materieller Umweltstandards sowie der Europarechts­ widrigkeit.4 Die Kehrseite der Wahl des Verbots als verwaltungsrechtliches In­ strument besteht allerdings darin, dass stets ein konkreter Schädlichkeitsnach­ weis zu führen ist, um verwaltungsrechtlich eingreifen zu können. Der Eintritt einer Tötung lässt sich jedoch in Genehmigungsverfahren für Windenergie­ anlagen weder sicher vorhersagen noch verneinen. Ebenso decken die arten­ schutzrechtlichen Verbotstatbestände nicht die Anwendung des ansonsten im Umweltrecht verbreiteten Vorsorgegrundsatzes ab, der typischerweise durch die Einhaltung eines definierten Standes der Technik umgesetzt wird,5 welcher auch unabhängig von einem konkreten Schädlichkeitsnachweis stets einzuhal­ ten ist. Des Weiteren steht die rechtliche Ausformung des Artenschutzes als über­ wiegend individuenbezogene Verbote in Widerspruch zum fachlichen Ziel der Sicherung eines guten Erhaltungszustandes der Populationen in ihrem natür­ lichen Verbreitungsgebiet. Rechtlich gesehen ist daher jedes zusätzliche Indivi­ duum einer windenergiesensiblen Vogelart ein Problem, da es einen weiteren rechtlichen Konflikt mit Windenergieanlagen auslöst. Fachlich gesehen ist je­ doch jedes zusätzliche Individuum einer windenergiesensiblen Vogelart ein Ge­ winn, da es zu einem guten Erhaltungszustand der Population beiträgt. Der Populationsbezug ist aber rechtlich erst und nur im Rahmen einer Ausnahme­ prüfung von Bedeutung. Der Individuenbezug verunmöglicht zudem die Be­ rücksichtigung der Seltenheit oder Bedrohtheit einer Art und der Bedeutung, die ein bestimmtes ökologisch wertvolles Gebiet funktional für den Erhalt einer Population hat. Obwohl eine Berücksichtigung dieser Aspekte rechtlich nicht möglich ist, wird sie in der Verwaltungspraxis oft vorgenommen,6 was sowohl zur Rechts- als auch Investitionsunsicherheit beiträgt. In der konkreten verwaltungspraktischen Umsetzung erfolgt in jedem Ein­ zelfall eine aufwändige und hochkomplexe Prüfung, bei der Aufwand und Nut­ zen in keinem angemessenen Verhältnis zueinander stehen. Der hohe Zeitauf­ wand einer einjährigen Kartierung windenergiesensibler Arten stellt auch bei qualifizierter Durchführung nur eine Momentaufnahme der genauen räumli­ chen Verteilung der Brut- und Rastplätze sowie Fortpflanzungs- und Ruhe­ stätten dar, die sich auf Grund der natürlichen Dynamik oder Änderung der 4  z. B. Gellermann, NuR 2022, 589–599; Nebelsiek/Schnelle, Rechtsgutachterliche Stel­ lungnahme zum Entwurf eines ROGÄndG vom 28.09.2022 im Hinblick auf die geplanten go-to-areas, https://www.nabu.de/imperia/md/content/221206-nabu-stellungnahme-gesetz entwurf-zur-aenderung-des-raumordnungsgesetzes.pdf, zuletzt abgerufen am 25.02.2023. 5  z. B. §  5 Abs.  1 Nr.  2 BImSchG, §  60 Abs.  1 WHG, §  62 Abs.  2 WHG. 6  Siehe z. B. Einbeziehung dieser Aspekte in die Artenschutzleitfäden verschiedener Bun­ desländer, das sog. „Helgoländer Papier“ der Länderarbeitsgemeinschaft der Vogelschutzwar­ ten sowie den Mortalitäts-Gefährdungs-Index nach Bernotat & Dierschke.

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ackerbaulichen Nutzung schon im nächsten Jahr (kleinräumig) wieder anders darstellen. Das strikt abstandsbasierte Bewertungssystem der artenschutz­ rechtlichen Verbotstatbestände ist daher für ein hochdynamisches Schutzgut kaum geeignet. Es führt dazu, dass auf Grund der (zufälligen) Momentaufnah­ me eines ­Jahres ein Windenergiebetreiber sehr umfangreiche artenschutzrecht­ liche Maßnahmen durchführen muss, während ein anderer keinerlei Maßnah­ men durchführen muss, obwohl beide Projekte in Räumen mit vergleichbarem Arten­inventar oder sogar im selben Raum durchgeführt werden. Individuen­ bezogene artenschutzrechtliche Maßnahmen sind aufwändig in der Planung und Umsetzung und werden zugleich doch vielfach in ihrer Wirksamkeit hin­ terfragt. Die nachträgliche Ansiedelung von Individuen im Zeitraum zwischen der planerischen Ausweisung und dem Genehmigungsverfahren kann dazu führen, dass die ausgewiesenen Flächen nicht nutzbar sind; die Ansiedelung von Individuen während des Genehmigungsverfahrens verzögert den Verfahrens­ ablauf erheblich; und die nachträgliche Ansiedelung von Individuen nach Ge­ nehmi­g ungs­erteilung kann dazu führen, dass Windenergieanlagen langzeitlich abgeschaltet werden und somit ihr Stromertrag für die Versorgung ausfällt. Bei einem gegebenen Bedarf an Windstrom für eine sichere Vollversorgung mit er­ neuerbarer Energie führt die Notwendigkeit der Einkalkulation eines nicht nutzbaren Flächenanteils oder regelmäßiger Abschaltungen von Anlagen zum Erfordernis zusätzlicher Standortausweisungen und eines Überbaus an instal­ lierter Leistung, was naturschutzfachlich kontraproduktiv ist. Bei den wenigen konventionellen Großkraftwerken des bisherigen Energie­ versorgungssystems konnte der hohe Untersuchungs- und Maßnahmenauf­ wand, aufwändige und lang andauernde behördliche Prüfungen und verwal­ tungsrechtliche Verfahren einschließlich darauf folgender Klageverfahren be­ wältigt werden. Für derartige Großkraftwerke war schlussendlich auch die Erteilung von artenschutzrechtlichen Ausnahmen zur Beendigung der Verfah­ ren und rechtlichen Sicherung der Projekte akzeptiert. Nach der aktuellen Ge­ setzeslage müssen für die große Vielzahl an Kleinanlagen der erneuerbaren Energie dieselben verfahrensrechtlichen Anforderungen und derselbe Untersu­ chungs- und Prüfaufwand geleistet werden, wobei eine artenschutzrechtliche Ausnahmeerteilung zudem nicht akzeptiert ist. Zusammenfassend stellt sich die bisherige Gesetzeslage und Verwaltungs­ praxis sowohl in Hinsicht auf das Erreichen der materiellen Ziele des Arten­ schutzes als auch des zügigen Umbaus der Energieversorgung als unbefriedi­ gend dar. Gesucht wird also ein effektives und effizientes Regelungssystem, das beide Ziele in eine optimierte Verwaltungspraxis umsetzt.

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II. BNatSchG-Änderung 2022 Mit der BNatSchG-Änderung im Jahr 2022 im Zuge des sog. „Osterpakets“ hat die Bundesregierung allerdings nur einen äußerst lückenhaften und in Teilen kaum vollziehbaren Regelungsversuch unternommen. Man verbleibt im oben beschriebenen, individuen- und einzelfallbezogenen, in sich widersprüchlichen und unbefriedigenden System und bringt lediglich unsystematisch punktuelle Regelungen an. §  45b Abs.  1–6 BNatSchG i. V. m. Anlagen 1 und 2 des B ­ NatSchG enthalten eine Standardisierung für einen Teilbereich der Prüfung des Tötungs­ verbots bei Windenergieanlagen sowie die Einführung einer Zumutbarkeits­ schwelle, die den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz abbilden soll. §  45b Abs.  9 BNatSchG führt im Zusammenhang mit der Erteilung von Ausnahmen einen neuartigen „Basisschutz“ ein. §  45b Abs.  8 BNatSchG enthält ­einige Ausführun­ gen zur Anwendung der Ausnahmeregelung des §  45 Abs.  7 BNatSchG auf Wind­ energieanlagen. §  45c BNatSchG sieht eine Sonderregelung für Re­powering vor. Schließlich etabliert §  45d BNatSchG rechtsverbindlich die Umsetzung von Ar­ tenhilfsprogrammen mit finanzieller Beteiligung der Betreiber von Windener­ gieanlagen.

1. §  45b Abs.  1–6 Regelung des Tötungsverbots bei Windenergieanlagen Die Gerichte gestehen den Behörden bisher eine naturschutzfachliche Einschät­ zungsprärogative zu, die ihnen die fachliche Ausfüllung eines rechtlich be­ stimmten Rahmens erlaubt, indem sie sich für eine von mehreren fachlich ver­ tretbaren Meinungen entscheiden.7 Die naturschutzrechtliche Einschätzungs­ prärogative endet dort, wo sich entweder fachlich eine bestimmte Meinung als allgemein anerkannt durchgesetzt hat oder aber der Gesetzgeber durch Gesetz oder untergesetzliches Regelwerk eine bestimmte Bewertung bzw. ein be­ stimmtes Vorgehen vorgibt. Mit §  45b BNatSchG hat der Gesetzgeber nun der­ artige, die Behörden bindende Regelungen für einen eng umgrenzten Bereich des Artenschutzrechts in Kraft gesetzt. Für den abschließend geregelten Be­ reich besteht daher keine naturschutzfachliche Einschätzungsprärogative mehr.8 Diese verbleibt nur noch im nicht durch die Regelungen erfassten Be­ reich. Sind im erfassten Bereich einige Punkte nicht detailliert ausgearbeitet, besteht für die Behörden noch die Möglichkeit der Konkretisierung. Für die Länderleitfäden, die verwaltungsinterne Vorgaben zur Ausübung der Einschät­ zungsprärogative sowie zur Konkretisierung unbestimmter rechtlicher Rah­ 7  8 

BVerwG, Urt. v. 21.11.2013 – 7 C 40.11. OVG Münster, Urt. v. 29.11.2022 – 22 A 1184/18.

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mensetzungen darstellen, verbleibt also (nur) noch Raum außerhalb des in §  45b Abs.  1–6 BNatSchG geregelten Bereichs sowie zur Konkretisierung von dort nur allgemein getroffenen Rahmenfestlegungen, wie z. B. den Kartierungsme­ thoden oder der Gestaltung von Ablenkhabitaten. Die Länderleitfäden können also seit Inkrafttreten der Gesetzesnovelle (vorbehaltlich der Übergangsrege­ lung des §  74 Abs.  4 und 5 BNatSchG) insofern nicht mehr angewendet werden, als sie im hier geregelten Bereich den Regelungen widersprechen.9 Sie können weiter angewendet werden, wo sie als Konkretisierung einer in §  45b Abs.  1–6 BNatSchG einschließlich der zugehörigen Anlage 1 nur allgemein gefassten Re­ gelung dienen, sowie außerhalb des erfassten Regelungsbereichs. Ein Abwarten auf eine Anpassung des jeweiligen Länderleitfadens ist hierzu auf Grund der behördlichen Bindung an das Gesetz weder erforderlich noch zulässig. §  45b Abs.  1–6 BNatSchG umfasst dem Wortlaut nach „das Tötungs- und Verletzungsrisiko für Exemplare kollisionsgefährdeter Brutvogelarten im Umfeld ihrer Brutplätze durch den Betrieb von Windenergieanlagen“. Demnach umfasst die gesetzliche Regelung nicht das Störungs- und Beschädigungsverbot in Bezug auf alle Tierarten bei Errichtung und Betrieb von Windenergieanla­ gen, das Tötungsverbot in Bezug auf andere Tiere als Brutvögel bei Errichtung und Betrieb von Windenergieanlagen (d. h. insbesondere Fledermäuse) und das Tötungsverbot bei der Errichtung von Windenergieanlagen in Bezug auf Brutvögel, so dass es hier bei der naturschutzfachlichen Einschätzungspräroga­ tive und der Anwendbarkeit der Länderleitfäden bleibt. Ebenso nicht erfasst ist das Tötungsverbot in Bezug auf Vögel, das nicht auf ihren Brutplatz bezogen ist; dies können laut Gesetzesbegründung z. B. Vogelzug oder „Ansammlun­ gen“ sein, wobei mit „Ansammlungen“ Schlafplätze und Rastplätze gemeint sein können, nicht jedoch Brutkolonien oder bedeutende Brutgebiete, da das Umfeld von Brutplätzen (unabhängig von der Zahl oder Bedeutung der Brut­ plätze) eindeutig vom Wortlaut des Gesetzestextes erfasst ist und man aus Gründen der Rechtsklarheit dem Gesetzeswortlaut gegenüber einer hierzu wi­ dersprüchlichen Aussage in der Begründung den Vorzug geben muss. §  45b Abs.  1–5 BNatSchG definieren i. V. m. Anlage 1 Abschnitt  1 die ver­ schiedenen artspezifischen Prüfradien vom Nahbereich über den zentralen bis zum erweiterten Prüfbereich sowie den Bereich außerhalb der artspezifischen Radien und treffen jeweils zugehörige Aussagen zur Verletzung des Tötungs­ verbots sowie zu den ggf. erforderlichen Maßnahmen. Für den Nahbereich wird generell eine signifikante Erhöhung des Tötungsrisikos festgestellt, für den Be­ reich außerhalb des erweiterten Prüfbereichs wird generell eine signifikante ­Erhöhung des Tötungsrisikos verneint. Da hier keine Beschränkung auf den Regelfall erfolgt, ist in diesen Bereichen keine andere Bewertung durch die Be­ hörde möglich. Für den zentralen und den erweiterten Prüfbereich werden Re­ 9 

VG Sigmaringen, Urt. v. 30.09.2022 – 14 K 1208/20.

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gelvermutungen gesetzt, nach denen dort Anhaltspunkte für eine signifikante Risikoerhöhung vorliegen bzw. das Tötungsrisiko nicht signifikant erhöht ist. Für den zentralen Prüfbereich wird dem Antragsteller die Option eröffnet, durch Habitatpotenzial- oder Raumnutzungsanalysen sowie weitere Untersu­ chungen die Annahme eines signifikant erhöhten Tötungsrisikos zu widerle­ gen; er kann jedoch auch unmittelbar die vorgesehenen Maßnahmen umsetzen, um so finanziellen und zeitlichen Aufwand für weitere Untersuchungen mit ungewissen Erfolgsaussichten zu sparen. Die Liste der kollisionsgefährdeten Arten in Anlage 1 Abschnitt  1 BNatSchG ist laut expliziter Aussage in der Begründung und erkennbarer Regelungs­ absicht abschließend, d. h. die Behörde darf keine weiteren Brutvogelarten als durch den Betrieb von Windenergieanlagen kollisionsgefährdet einstufen. Dass es einzelne, ggf. auch namhafte Fachpublikationen oder Länderleitfäden gibt, in denen weitere Arten als kollisionsgefährdet eingestuft werden, ist kein Argu­ ment gegen den abschließenden Charakter der Liste der Anlage 1, denn der Ge­ setzgeber hat sich angesichts der Breite und Varianz des fachwissenschaftlichen Meinungsspektrums für diese Bewertung entschieden. Da bisher hinsichtlich der Einstufung von Vogelarten als kollisionsgefährdet (wegen der v.g. Varianz des wissenschaftlichen Meinungsbildes) eine behördliche naturschutzfachliche Einschätzungsprärogative bestand und von der höchstrichterlichen Rechtspre­ chung als europarechtskonform angesehen wurde, ist nicht ersichtlich, warum gerade dem Gesetzgeber die Vornahme einer entsprechenden Wertung nicht zustehen sollte. Die Ablehnung einer solchen Wertungskompetenz mit Bin­ dung für die Vollzugsbehörden würde dazu führen, dass der Gesetzgeber sei­ nem Auftrag, wie er durch das BVerfG explizit angemahnt wurde,10 nicht ge­ recht werden könnte.11 Für alle nicht in der Liste genannten Brutvogelarten stellt der Gesetzgeber implizit fest, dass bei diesen Arten auf Grund allgemeiner naturschutzfachlicher Kriterien ohne nähere Prüfung des Einzelfalls davon ausgegangen werden kann, dass das Tötungsverbot nicht verletzt ist,12 d. h. er nimmt diese Arten nicht generell aus dem Geltungsbereich des Verbots aus, sondern trifft lediglich eine Regelung zum Prüferfordernis im Einzelfall. Die Liste der „kollisionsgefährdeten“ Arten ist also eine ausführungstechnisch und 10 

BVerfG, Beschl. v. 23.10.2018 – 1  BvR 2523/13 und 1  BvR 595/14. abschließenden Charakter der Anlage 1 des BNatSchG sowie der Regelungskom­ petenz des Gesetzgebers siehe umfassend OVG Münster, Urt. v. 29.11.2022 – 22 A 1184/18; im Ergebnis ebenso: Frank/Rolshoven, ZNER 2022, 535–546. 12  Bick/Wulfert, – NVwZ 2017, 346; Verwaltungsvorschrift zur Anwendung der nationa­ len Vorschriften zur Umsetzung der Richtlinien 92/43/EWG (FFH-RL) und 2009/147/EG (V-RL) zum Artenschutz bei Planungs- oder Zulassungsverfahren (VV-Artenschutz), Rd. Erl. d. Ministeriums für Umwelt und Naturschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz vom 06.06.2016, – III 4 – 616.06.01.17; Bernotat/Dierschke, Übergeordnete Kriterien zur Be­ wertung der Mortalität wildlebender Tiere im Rahmen von Projekten und Eingriffen – 3. Fas­ sung, Stand: 20.09.2016. 11  zum

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sprachlich verkürzte Fassung, eigentlich müsste es (deutlich umständlicher) eine inverse „Liste der Arten, für die ohne nähere Prüfung eine Verletzung des Tötungsverbots ausgeschlossen werden kann“ geben. Das BVerwG hat die Re­ gelungskompetenz und die Europarechtkonformität derartiger Listen in expli­ ziter Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des EuGH anerkannt.13 Das vom BVerwG in Bezug auf die Listen der Länderleitfäden geäußerte Erforder­ nis, dass die Behörde (nur) berücksichtigen müsse, ob neue wissenschaftliche Erkenntnisse eine abweichende Beurteilung erfordern, reduziert sich nun durch die Bindung der Behörden an gesetzliche Normen weiter auf die sehr eng be­ grenzten Fälle einer behördlichen Normnichtanwendungskompetenz, d. h. dem Vorliegen eines gesicherten neuen Erkenntnisstandes der Wissenschaft, der der gesetzlichen Regelung die Grundlage entzieht und sie als völlig unzureichend erkennen lässt, so dass sie selbst unter Berücksichtigung des Wertungsspiel­ raums des Gesetzgebers den Anforderungen des Tötungsverbots nicht mehr gerecht werden kann und der Zeitraum bis zur Anpassung des Gesetzes nicht mehr abgewartet werden kann.14 Eine kontroverse wissenschaftliche Diskus­ sion sowie eine reine Gefährdungsbesorgnis oder Verbesserungswürdigkeit reicht nicht aus, um die hohe Schwelle der behördlichen Nichtanwendung zu überwinden. Das OVG Münster hat hierzu bereits festgestellt, dass die Wer­ tung, die der Gesetzgeber mit der Liste der Anlage 1 getroffen hat, im Rahmen des fachlich Vertretbaren liegt.15 Analoges gilt für die definierten artspezifi­ schen Radien und die zugehörigen Bewertungen des Tötungsrisikos in den je­ weiligen Bereichen, d. h. es dürfen von der Behörde keine größeren oder kleine­ ren Radien angesetzt werden und die Bewertung muss sich im Rahmen der Vorgaben der Abs.  2–5 halten.16 In Bezug auf die Artenliste und Radien sowie das (Nicht-)Vorliegen eines signifikant erhöhten Tötungsrisikos hat der Gesetz­ geber auch keine Abweichungsmöglichkeit auf Grund von Besonderheiten des Einzelfalls eröffnet, lediglich für die Feststellung des Tötungsrisikos im zentra­ len und erweiterten Prüfbereich darf die Behörde in atypischen Fällen von der gesetzlichen Wertung abweichen. In §  45b Abs.  3 und 4 i. V. m. Abs.  6 BNatSchG wird für den zentralen und erweiterten Prüfbereich festgelegt, dass ein dort vorliegendes signifikant erhöh­ tes Tötungsrisiko durch „fachlich anerkannte Maßnahmen“ in Form von Ab­ schaltung bei landwirtschaftlicher Bewirtschaftung, Vogeldetektionssystemen, Ablenkhabitaten und phänologiebedingter Abschaltung unter die Signifikanz­ 13 

BVerwG, Beschl. v. 15.07.2020 – 9 B 5.20; BVerwG, Beschl. v. 08.03.2018 – 9 B 25.17. hierzu die Rechtsprechung zu Abweichungen von der TA Luft/TA Lärm und den Verordnungen zum BImSchG: BVerfG, Beschl. v. 28.02.2002  – 1 BVR 1676/01; BVerwG, ­Beschl. v. 21.03.1996 – 7 B 164.95; OVG Münster, Beschl. v. 17.06.2016 – 8 B 1015/15; OVG Schleswig, Urt. v. 31.07.2015 – 1 MB 14/15; sowie Hansmann, in Landmann/Rohmer, Um­ weltrecht, 99. EL September 2022, Vorbemerkungen zur TA Lärm Rn.  6. 15  OVG Münster, Urt. v. 29.11.2022 – 22 A 1184/18. 16  VG Sigmaringen, Urt. v. 30.09.2022 – 14 K 1208/20. 14  vgl.

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schwelle abgesenkt werden kann. §   45b Abs.   6 und Anlage 1 Abschnitt   2 ­BNatSchG attestieren diesen Maßnahmen also die fachliche Wirksamkeit in Bezug auf bestimmte Vogelarten, die ihnen demzufolge von der Behörde nicht abgesprochen werden darf. Die Maßnahmenliste der Anlage 1 Abschnitt  2 ist auf Grund der Formulierung „insbesondere“ in §  45b Abs.  6 S.  1 BNatSchG und Anlage 1 Abschnitt  2 insofern nicht abschließend, als dass weitere Maßnahmen durch die Länderleitfäden oder die Behörde als wirksam anerkannt werden können, ebenso können die in Anlage 1 Abschnitt  2 nur bestimmten Arten zu­ geordneten Maßnahmen für weitere Arten akzeptiert werden.17 Zu der Frage, ob überhaupt und wenn ja in welchem Umfang Vermeidungsmaßnahmen gefor­ dert werden können, trifft §  45b Abs.  2–5 BNatSchG allerdings abschließende Vorgaben, d. h. die Behörde und die Länderleitfäden dürfen über die dort ge­ setzten Grenzen hinaus keine weiteren Maßnahmen fordern.18 Da jedem der vier genannten Maßnahmentypen allein eine ausreichende Wirksamkeit zuge­ ordnet wird, dürfen vor allem nicht mehrere oder weitere Maßnahmen gefor­ dert werden. Für die Maßnahmen in Anlage 1 Abschnitt  2, die nur allgemein definiert sind, muss allerdings die detaillierte Ausgestaltung durch die Behörde oder die Länderleitfäden vorgenommen werden. Weitergehende Untersuchun­ gen zur Raumnutzung o. ä. für die Ausgestaltung der Maßnahmen schließt der Gesetzgeber allerdings aus. Für den Nahbereich stellt §  45b Abs.  2 BNatSchG fest, dass in jedem Fall ein signifikant erhöhtes Tötungsrisiko vorliegt, trifft allerdings keine Aussagen über die Wirksamkeit von Maßnahmen, so dass es hier in der Entscheidung der Behörde liegt, ob und welche Maßnahmen sie in diesem Bereich als wirksam akzeptiert. Jedenfalls mit der saisonalen Langzeitabschaltung steht stets auch im Nahbereich von Brutplätzen eine wirksame Maßnahme zur Verfügung,19 die jedoch auf Grund der Zumutbarkeitsregelung nach §  45b Abs.  6 BNatSchG ebenso wie das Verneinen wirksamer Maßnahmen in die Ausnahme führen würde. Der Nahbereich stellt also keinen absoluten Verbotsbereich dar. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass §  45b Abs.  1–6 BNatSchG für den beschränkten Anwendungsbereich eine praktikable und hilfreiche Standar­ disierung des Umgangs mit dem Tötungsverbot erreicht, dies allerdings um den Preis eines noch strikteren Einsatzes des Abstandes als maßgebliches Entschei­ dungskriterium und dem verbleibenden Erfordernis einer aktuellen Arten­ schutzkartierung in jedem Genehmigungsverfahren. Für alle Vogelarten stehen wirksame Maßnahmen bereit, für den Nahbereich können Maßnahmen durch die Behörden und die Länderleitfäden anerkannt werden oder es kann der Weg in die Ausnahme gewählt werden. Aufwändige und umstrittene Untersuchun­ 17 

OVG Münster, Urt. v. 29.11.2022 – 22 A 1184/18. OVG Münster, Urt. v. 29.11.2022 – 22 A 1184/18. 19  OVG Greifswald, Beschl. v. 05.10.2021 – 1 M 245/21; OVG Münster, Urt. v. 01.03.2021 – 8 A 1183/18; VGH Mannheim, Beschl. v. 19.12.2022 – 10 S 2295/22. 18 

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gen zum Beleg oder zur Widerlegung eines signifikant erhöhten Tötungsrisikos sowie zur Bestimmung von Maßnahmen sind nicht mehr zwingend erforder­ lich, sondern nur noch optional eröffnet. §  45b Abs.  1–6 BNatSchG ist also ge­ tragen von dem Gedanken „Maßnahmen statt Untersuchungen“. Für die Anwendung von §  45b Abs.  1–6 BNatSchG legen §  74 Abs.  4 und 5 BNatSchG fest, dass der Antragsteller ein Wahlrecht hat, ob das alte oder das neue Recht angewendet werden soll. Dieses Wahlrecht gilt für Anträge, die vor dem 01.02.2024 bei der Behörde beantragt wurden oder bei Vorhaben, für die vor diesem Datum eine Unterrichtung über den Untersuchungsrahmen nach §  2a der 9. BImSchV (d. h. ein UVP-Scoping) stattgefunden hat. Da das neue Recht allerdings oftmals für die Antragsteller günstiger sein wird, ist davon auszugehen, dass die Betreiber ihr Wahlrecht häufig zu Gunsten des neuen Rechts ausüben werden. Dementsprechend ist §  45b Abs.  1–6 BNatSchG auch in Verpflichtungsklagen sowie in Drittanfechtungsklagen einschließlich behörd­ licher Heilungen zu bereits vor Inkrafttreten der §  45b Abs.  1–6 ­BNatSchG er­ gangenen Versagungen bzw. Genehmigungen anzuwenden, wenn der Antrag­ steller dies beantragt.20 Darüber hinaus dürfte §  45b Abs.  1–6 BNatSchG (nach dem 01.02.2024 oder auf Antrag des Anlagenbetreibers bereits zuvor) auch im Rahmen von Änderungsgenehmigungen nach §  16 BImSchG anzuwenden sein, so dass Änderungsanträge zur Aufhebung von Langzeitabschaltungen zulässig sind.21 Die Nicht-Anwendungsregelung des §  74 Abs.  4 BNatSchG für bereits genehmigte Windenergieanlagen zielt darauf ab, dass die Behörde anlässlich der Gesetzesänderung keine systematischen nachträglichen Anordnungen von Amts wegen vornehmen soll. Es ist nicht ersichtlich, dass für Änderungen an Windenergieanlagen (was nach neuer Rechtslage auch das Repowering umfasst) zeitlich unbegrenzt die alte Rechtslage gelten soll. In Bezug auf die Aufhebung von Langzeitabschaltungen ergibt sich die Anwendbarkeit des neuen Rechts so­ wohl aus dem Wortlaut, da der Windenergieanlagen-Betrieb in diesen Zeitinter­ vallen noch gar nicht genehmigt ist, als auch aus dem Ziel des §  45b BNatSchG, Langzeitabschaltungen zu unterbinden, da sie dem öffentlichen Interesse an Windstrom zuwiderlaufen. Eine Verpflichtung der Behörde zur aktiven Aufhe­ bung von Langzeitabschaltungen von Amts wegen besteht allerdings nicht.

2. §  45c BNatSchG Repowering Mit §  45c BNatSchG wird der bisherige §  16b Abs.  4 BImSchG (a. F.) in das BNatSchG überführt, um die materielle artenschutzrechtliche Regelung kor­ rekt im BNatSchG und nicht systemwidrig im BImSchG zu verankern. In die­ 20  OVG Münster, Urt. v. 29.11.2022 – 22 A 1184/18; VGH Mannheim, Beschl. v. 19.12.2022 – 10 S 2295/22; VG Sigmaringen, Urt. v. 30.09.2022 – 14 K 1208/20. 21  Frank/Rolshoven, ZNER 2022, 535–546.

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sem Zuge erhält „Repowering“ nun eine eigenständige Begriffsdefinition im BNatSchG, die im Kern auf §  16b Abs.  1 und 2 BImSchG Bezug nimmt, aber dann den räumlichen und zeitlichen Zusammenhang erweitert. Somit erfasst der Anwendungsbereich des §  45c BNatSchG auch Fallkonstellationen, die im­ missionsschutzrechtlich als Neugenehmigungen einzustufen sind. Der alleinige Bezug auf das Änderungsgenehmigungsverfahren nach §  16b BImSchG in §  45c Abs.  2 und 4 BNatSchG ist daher nicht korrekt, sondern ein durch die spätere Einfügung des Abs.  1 im Rahmen des parlamentarischen Prozesses entstan­de­ ner offensichtlich redaktioneller Fehler. Die Entkoppelung der materiellen Re­ ­ gelung zur artenschutzrechtlichen Prüfung von der Verfahrensart nach ­BImSchG hat zudem zur Konsequenz, dass §  45c BNatSchG – im Gegensatz zu §  16b Abs.  1 und §  16b Abs.  4 (a. F.) BImSchG – stets von Amts wegen anzuwen­ den ist und nicht nur auf Antrag des Antragstellers, was bedeutet, dass die mit der Regelung verbundenen Probleme nun unweigerlich in die Genehmigungs­ praxis gelangen. Die problematische Formulierung, dass die neue Windenergieanlage inner­ halb eines bestimmten (hier gegenüber §  16b Abs.  2 BImSchG verdoppelten) Zeitraums nach dem Rückbau der Bestandsanlage errichtet sein muss, wurde trotz der zum Zeitpunkt der Übernahme bereits bekannten Probleme, dass es unverschuldet oder verschuldet zu einer Verzögerung der Errichtung der neuen Windenergieanlage kommen kann, bewusst erneut verwendet. Die Annahme der LAI-LANA-Vollzugshinweise zu §  16b BImSchG, 22 dass das Fehlen einer Fristverlängerungsmöglichkeit eine planwidrige Regelungslücke darstellt, kann also nun in Bezug auf §  45c Abs.  1 BNatSchG nicht mehr gelten. Da es sich bei §  45c BNatSchG (nur) um materielles Artenschutzrecht handelt, bedeutet ein eventueller Fristverstoß nur einen nachträglich eingetretenen Verstoß gegen materielles Artenschutzrecht, dem mit Anordnungen der Naturschutzbehörde nach §  3 Abs.  2 BNatSchG zu begegnen ist, vergleichbar mit dem Fall nachträg­ licher Ansiedelung von Arten. Analoges gilt für den Fall, dass sich innerhalb des Zeitraums von 48 Monaten zwischen Rückbau und Neuerrichtung die Lage der betroffenen Brutplätze so verändert hat, dass die Auswirkungen der Neuanla­ gen nicht mehr „geringer“ sind als die der Altanlagen. In §  45c Abs.  2 BNatSchG werden im Wesentlichen unverändert der Wortlaut des §  16b Abs.  4 BImSchG (a. F.) sowie einige Punkte aus der seinerzeitigen Ge­ setzesbegründung ins BNatSchG überführt. Die Berücksichtigung als „Vor­ belastung“ meint hier anders als normalerweise im Umweltrecht nicht die un­ abhängig vom geplanten Vorhaben bestehenden und unverändert bleibenden Anlagen, sondern die Heranziehung der bestehenden Situation mit den Alt-­ Windenergieanlagen als Vergleichsmaßstab für die Situation nach dem Re­ 22  LAI/LANA: Vollzugshinweise zu §  10 Abs.  5 S.  2 und S.  3, §  16b und §  23b Abs.  3a Nr.  4 BImSchG, Stand: 20. April 2022.

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powering (Plan-Ist-Vergleich). Da der Prüfumfang explizit unberührt bleibt, führt §  45c BNatSchG jedenfalls nicht zu einer Aufwandsreduzierung oder Beschleunigung des Genehmigungsverfahrens, weil auch im Falle des Re­ ­ powerings eine vollumfängliche Kartierung über ein Jahr mit anschließender gutachterlicher Bewertung erforderlich ist. Nimmt man allerdings den Prüf­ maßstab ernst, dass es allein darauf ankommt, ob die Auswirkungen der neuen Windenergieanlage höchstens gleich hoch wie die der Bestands-Windenergie­ anlage sein dürfen, dann müsste es Fallkonstellationen geben, in denen man diese Frage auch ohne die Durchführung einer Kartierung bejahen kann, z. B. bei einem (nahezu) standortgleichen Repowering von Alt-Windenergieanlagen, die ohne jegliche artenschutzrechtliche Maßnahmen für Vögel und Fleder­mäuse betrieben werden, wenn sich auch aus der summarischen Bewertung des veränderten Rotordurchmessers und Freiraums zwischen Boden und unterem Rotorblattdurchgang keine Risikoerhöhung ergibt. Es geht also bei §  45c BNatSchG primär nicht um eine Beschleunigung, son­ dern lediglich um die Reduzierung von Maßnahmen, indem auf Basis eines an­ deren Bewertungsansatzes entweder gar kein Verbotsverstoß festgestellt wird oder aber ein geringerer Maßnahmenumfang gefordert wird. Nach §  45c Abs.  2 S.  4 BNatSchG soll dann keine Verletzung des Tötungsverbots gegeben sein, wenn „unter Berücksichtigung der gebotenen fachlichen Maßnahmen“ die Aus­ wirkungen der Neuanlagen höchstens gleich hoch sind wie die der Altanlagen. Es fehlt hierbei zunächst an Maßgaben dafür, welche Maßnahmen „geboten“ sind. Da es sich um die identische Formulierung wie in §  44 Abs.  5 Nr.  1 ­BNatSchG, also der regulären Prüfung, handelt, könnte die Regelung so inter­ pretiert werden, dass auch im Rahmen des Repowerings derselbe Maßnahmen­ umfang anzuwenden wäre. Damit wären die neuen Windenergieanlagen im Rahmen eines Repowerings bereits für sich selbst genommen nach den Krite­ rien für eine Neugenehmigung genehmigungsfähig  – dann erübrigt sich aber ein Vergleich mit den Auswirkungen der Bestandsanlagen. Legt man die For­ mulierung in §  45c Abs.  2 S.  4 BNatSchG hingegen zirkelschlussartig derart aus, dass die Maßnahmen „geboten“ sind, die erforderlich sind, um die Auswirkun­ gen der Neuanlagen auf das Niveau der Bestandsanlagen zu senken, dann dürf­ te allerdings die Frage, inwieweit bereits bei der Genehmigung der Bestands­ anlagen artenschutzrechtliche Aspekte berücksichtigt und entsprechende Ver­ meidungsmaßnahmen durchgeführt wurden, keine Rolle spielen. Denn wenn die Auswirkungen der Bestandsanlagen nur dann das maßgebliche Bezugs­ niveau sein sollen, wenn bereits bei ihnen das Tötungsrisiko durch entsprechen­ de Vermeidungsmaßnahmen unter der regulären Signifikanzschwelle liegt, dann wäre somit auch für die neuen Windenergieanlagen wiederum die regulä­ re Signifikanzschwelle maßgeblich und eine Vergleichsbetrachtung unerheb­ lich. Die beiden Kriterien in §  45c Abs.  2 Nr.  3 und 4 BNatSchG sprechen also wiederum dafür, dass es nicht allein und ohne Weiteres auf die Frage, ob die

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Auswirkungen der Neuanlagen geringer sind als die der Altanlagen, ankommen soll, sondern dass im Zuge des Repowerings zumindest eine Annäherung, wenn nicht gar ein vollständiger Anschluss an das reguläre, aktuelle Schutzniveau er­ folgen soll, wenn die Bestandsanlagen nach heutigen Maßstäben (stark) defizitär sind. Unabhängig von dieser Unklarheit des Prüfkriteriums als solchem man­ gelt es an fachlichen Methoden und rechtlichen Maßstäben zu einer für eine Vergleichsbetrachtung notwendigen Quantifizierung der Höhe des Tötungs­ risikos, da bisher nach regulärer Prüfung nur eine ja/nein-Entscheidung über das Bestehen eines signifikant erhöhten Tötungsrisikos erforderlich war und ist. Hinsichtlich der weiteren Bewertungskriterien ist anzumerken, dass sich fachlich nicht erschließt, welche Bedeutung die planerische Ausweisung eines Standortes sowie das Vorkommen störungsempfindlicher Arten (sei es in einem Natura2000-Gebiet oder außerhalb) für die Höhe des individuellen Tötungs­ risikos haben sollte. Unabhängig von der Frage des „gebotenen“ Maßnahmenumfangs verbleibt bei einer reinen Vergleichsbetrachtung die Problematik, dass ein durch die Neu­ anlagen verursachtes Tötungsrisiko, das zwar geringer ist als das der Bestands­ anlagen, aber trotzdem noch über der nach regulären Maßstäben definierten Signifikanzschwelle liegt, einen unzulässigen Verbotsverstoß darstellt, der nach klassischer Auffassung europarechtswidrig ist, da im gesamten nationalen und europarechtlichen Naturschutzrecht bisher ungeklärt ist, ob eine Handlung (hier das Repowering von Windenergieanlagen), die zu einer Verringerung von Belastungen führt, einen Verbotsverstoß darstellen kann oder nicht. Mit §  45c Abs.  2 S.  4 BNatSchG hat der Gesetzgeber versucht, diese Problematik durch die Anhebung der Signifikanzschwelle auf das bestehende Risiko der Alt-Wind­ energieanlage zu beheben.23 Diese Erhöhung der Signifikanzschwelle müsste dann aber entgegen dem Wortlaut des §  45c Abs.  2 S.  2 und 4 BNatSchG konse­ quenterweise auch das durch die ggf. unverändert am Standort verbleibenden weiteren Windenergieanlagen verursachte Risiko umfassen. Außerdem müsste dieser Ansatz dann in gleicher Weise nicht nur für das Repowering, sondern auch für den Zubau von Windenergieanlagen zu bestehenden Windparks gelten, die ebenfalls bereits ein erhöhtes Grundrisiko verursachen.

23  vgl. auch Hessisches Ministerium für Umwelt, Klimaschutz, Landwirtschaft und Ver­ braucherschutz, Verwaltungsvorschrift Naturschutz/Windenergie, 17.12.2020; Sächsisches Staatsministerium für Energie, Klimaschutz, Umwelt und Landwirtschaft, Leitfaden Vogel­ schutz an Windenergieanlagen im Freistaat Sachsen, Stand: 01.12.2021; Hinweise für die Be­ urteilung der Zulässigkeit der Errichtung von Windenergieanlagen in Rheinland-Pfalz, Ge­ meinsames Rundschreiben des Ministeriums für Wirtschaft, Klimaschutz, Energie und Lan­ desplanung, des Ministeriums der Finanzen, des Ministeriums für Umwelt, Landwirtschaft, Ernährung, Weinbau und Forsten und des Ministeriums des Innern, für Sport und Infra­ struktur Rheinland-Pfalz vom 28.05.2013, Kapitel F „Naturschutzrecht“, neu gefasst durch Erlass vom 12.08.2020.

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Dieser Ansatz des vor Ort durch bereits bestehende technische Anlagen bzw. durch zu repowernde Windenergieanlagen gegebenen erhöhten „Vorbelas­ tungsrisikos“ als Bezugspunkt für die Signifikanzprüfung steht allerdings im Widerspruch zur Definition des Signifikanzmodells des BVerwG. Denn das BVerwG hat mehrfach klargestellt, dass das als Bezugspunkt für die Signifi­ kanzprüfung heranzuziehende Grundrisiko das allgemeine, überall und stets mit einem Vorhabentyp verbundene Risiko ist und nicht das im Umfeld eines konkreten Vorhabens bereits anderweitig gesteigerte Tötungsrisiko. Demnach bedeutet der Signifikanzansatz im Sinne des BVerwG gerade nicht, dass dort, wo bereits ein örtlich erhöhtes Risiko besteht, umso mehr hinzukommen darf.24 Der Bezug auf das allgemeine Risiko, das sich aus artspezifischem Verhalten sowie dem natürlichen und dem stets, also unabhängig von Ortswahl oder Aus­ führungsvariante, mit dem anthropogenen Vorhaben verbundenem Risiko zu­ sammensetzt, bildet vielmehr ab, ob das konkrete Vorhaben an einem besonders kritischen Ort oder in einer besonders ungünstigen Ausführungsvariante reali­ siert werden soll, also über das stets und überall zu erwartende Maß hinaus außergewöhnlich hohe Risiken erzeugt. Der Ansatz des örtlich bestehenden Risikos als Bezugspunkt würde hingegen am konkreten Ort für jedes nachein­ ander folgende Vorhaben ein jeweils größeres, schrittweise ansteigendes Risiko erlauben. Der Gesetzgeber erlaubt in §  45c Abs.  2 BNatSchG nun zwar nicht eine weitere Steigerung über das bestehende „Vorbelastungsrisiko“ hinaus, son­ dern nur eine Fortsetzung dieses vorhanden Risikoniveaus. Es bleibt abzuwar­ ten, ob die Gerichte diese Modifikation des Signifikanzmodells als europa­ rechtskonform akzeptieren werden (zu den Entwicklungen auf EU-Ebene in Form der RED IV siehe unten). Der Anwendungsbereich des §  45c BNatSchG ist nicht auf die Beurteilung des Tötungsverbots beschränkt. Auch wenn sich Abs.  2 offensichtlich primär mit dem Tötungsverbot befasst, schließt dies formal nicht aus, dass man zur Auslegung des unklaren Begriffs der Berücksichtigung der Bestands-Wind­ energieanlage als „Vorbelastung“ in §  45c Abs.  2 S.  2 BNatSchG auch für das Störungs- und Beschädigungsverbot den Maßstab anwendet, dass sich die Aus­ wirkungen lediglich nicht erhöhen dürfen. Es wäre materiell kaum zu begrün­ den, warum in Bezug auf das Tötungsverbot eine Fortsetzung des bestehenden Auswirkungsniveaus zugelassen wird, aber dies nicht für die anderen beiden Verbotstatbestände ebenso gelten sollte. Beim Repowering ergibt sich ein grundlegendes Kausalitätsproblem und Begründungsdefizit für eine Verlet­ zung des Störungs- oder Beschädigungsverbots, wenn sich Arten mit postulier­ tem Meideverhalten, das die Aufgabe einer Fortpflanzungsstätte nach sich zie­ 24  BVerwG, Urt. v. 10.11.2016 – 9 A 18.15 – Rn.  84; BVerwG, Beschl. v. 08.03.2018 – 9 B 25.17 – Rn.  11; OVG Münster, Beschl. v. 01.04.2019 – 8 B 1013/18; VG Minden, Urt. v. 19.02.­ 2020 – 11 K 1015/19.

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hen würde, oder anderer postulierter Störempfindlichkeit auch nach vielen Jah­ ren, in denen auch ein Generationenwechsel unterstellt werden muss, immer noch im bestehenden Windpark aufhalten und dies ggf. sogar in kürzeren Ab­ ständen zu Bestands-Windenergieanlagen als zu den neu geplanten Windener­ gieanlagen. Denn zumindest in dem konkreten Einzelfall haben die betroffenen Individuen widerlegt, dass sie durch Windenergieanlagen gestört oder von ihrer Fortpflanzungsstätte vertrieben werden.25 Die zahlreichen Datensätze über Vorkommen von störungsempfindlichen Vogelarten in bestehenden ­Windparks, die in der Verwaltungspraxis für Zubau- und Repowering-Projekte erhoben wurden, könnten zur Überprüfung der Einstufung der Windenergiesensibilität bestimmter Vogelarten in Bezug auf das Störungs- und Beschädigungsverbot herangezogen werden. §  45c BNatSchG wird auf Grund der weiterhin unklaren Regelung und der verbleibenden Rechtsunsicherheiten voraussichtlich nicht zu einer Vereinfa­ chung der Genehmigung des Repowerings führen. Da für die Prüfung des Tö­ tungsverbots bei Neuanlagen mit §  45b Abs.  2–5 BNatSchG Konkretisierun­ gen, Standardisierungen und deutliche Erleichterungen geschaffen wurden, besteht allerdings kaum noch ein Bedarf an einer Sonderregelung für Re­ powering, da i. d. R. eine Verbotsverletzung auch nach den Maßgaben für Neu­ genehmigungen mit (begrenztem) Maßnahmenaufwand vermieden werden kann. Daher dürfte es in der Praxis vielfach leichtgängiger und rechtssicherer sein, weiterhin auf die Maßstäbe des §  45b Abs.  2–5 BNatSchG zurückzugrei­ fen. §  45b Abs.  2–5 BNatSchG kommt zwar auf Grund des Vorrangs der Spe­ zialregelung des §  45c BNatSchG formal nicht zur Anwendung. Eine Absen­ kung der Wirkung der Repowering-Windenergieanlage auf das Niveau der re­ gulären Signifikanzschwelle erfüllt aber jedenfalls (auch) in ausreichendem Maß die Anforderung des §  45c Abs.  2 S.  4 BNatSchG. Dies ist offensichtlich, wenn die Auswirkungen der Alt-Windenergieanlage über der regulären Signifikanz­ schwelle liegen. Es muss aber auch dann gelten, wenn sich zwar das Tötungs­ risiko der Neu-Windenergieanlagen gegenüber den Bestands-Windenergieanla­ gen erhöht, aber unter der regulären Signifikanzschwelle für Neuanlagen bleibt (dies ist insbesondere dann gegeben, wenn die Alt-Windenergieanlage außer­ halb des zentralen oder gar des erweiterten Prüfbereichs liegt, die Neu-Wind­ energieanlage aber innerhalb) – ansonsten würde man das Repowering strenger behandeln als die Neuerrichtung. Im Stil des §  45c Abs.  2 S.  4 BNatSchG formu­ liert ließe sich sagen, dass in dieser Konstellation sowohl die Wirkungen der Alt- als auch die der Neu-Windenergieanlage unterhalb der (regulären) Signifi­ kanzschwelle und somit gleich hoch bzw. niedrig liegen. Analoges muss auch für die Anwendung des regulären Bewertungssystems für Neuanlagen nach 25  VG Minden, Urt. v. 19.02.2020 – 11 K 1015/19; vgl. auch den Hinweis auf „Gewöhnungs­ effekte“ in der Gesetzesbegründung zu §  16b Abs.  4 BImSchG (a. F.).

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§  44 Abs.  1 Nr.  2 und 3 BNatSchG (Störungs- und Beschädigungsverbot) i. V. m. mit den Länderleitfäden auf Repoweringanlagen gelten. Auch hier wird das An­ forderungsniveau für Neuanlagen das zwar nicht genau spezifizierte, aber je­ denfalls nicht höhere Anforderungsniveau des §  45c BNatSchG (über-)erfüllen. Steht nach all dem noch die Prüfung einer Ausnahmeerteilung im Raum, rechtfertigt allein die Tatsache, dass es sich um ein Repowering handelt, aller­ dings nicht die Erteilung einer Ausnahme; hierfür sind stets alle Voraussetzun­ gen des §  45 Abs.  7 BNatSchG zu prüfen. Die Tatsache, dass es sich bei dem Vor­ haben um ein Repowering handelt, spielt bei den meisten der zu prüfenden Vor­ aussetzungen keine Rolle. Lediglich bei der Standortalternativenprüfung in Gebieten ohne planerische Ausweisung von Flächen für die Windenergie kann der Aspekt des Repowerings einbezogen werden, wie dies nun auch explizit in §  45c Abs.  4 BNatSchG verankert ist. Zu der Rückausnahme von Natura2000-­ Gebieten ist dabei klarzustellen, dass selbstverständlich das Vorhandensein kol­ lisionsgefährdeter oder störungsempfindlicher Vogelarten sowie Fledermäusen nur in Bezug auf die Beurteilung des jeweils entsprechenden Verbots für die je­ weils betroffene Art relevant sein kann, denn beispielsweise ist das Vorhanden­ sein von Fledermäusen für die Entscheidung über die Erteilung einer Ausnahme für den Rotmilan oder den Großen Brachvogel offensichtlich bedeutungslos. Die Regelung des §  45c BNatSchG zum Repowering bleibt also insgesamt weiterhin rätselhaft. In der Gesetzesbegründung wird ein Bundes-Leitfaden zur Konkretisierung der Prüfung angekündigt. Da es wie oben aufgezeigt bei der Anwendung des §  45c BNatSchG primär um die Reduzierung von arten­ schutzrechtlichen Maßnahmen geht, sollten sich Anlagenbetreiber bei Inan­ spruchnahme des §  45c BNatSchG darauf einstellen, im Falle einer gerichtlichen Überprüfung der Rechtmäßigkeit ggf. Maßnahmen im Umfang der Beurteilung von Neuanlagen nachzuschieben, um die Genehmigung ihres Projektes abzu­ sichern. Die Genehmigungsbehörde kann darüber hinaus im Verlauf eines Kla­ geverfahrens ggf. auch die Prüfung auf das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Ausnahme ergänzen.

3. §  45b Abs.  8 BNatSchG Konkretisierung der Ausnahmeprüfung §  45 Abs.  7 BNatSchG ermöglicht die Erteilung einer Ausnahme von den arten­ schutzrechtlichen Verboten. Die obergerichtliche Rechtsprechung zur Auswei­ sung von Windenergiekonzentrationszonen geht schon lange Zeit davon aus, dass eine Planverwirklichung, d. h. die Genehmigung von Windenergieanlagen, ggf. auch auf Basis einer Ausnahme nach §  45 Abs.  7 Nr.  5 BNatSchG möglich ist.26 Hinzu kommen zahlreiche neuere obergerichtliche Entscheidungen, in de­ 26  OVG Münster, Urt. v. 04.07.2012 – 10 D 47/10.NE; OVG Münster, Urt. v. 01.07.­2013 – 2 D 46/12.NE; OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 10.11.2015 – 10 A 7/13.

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nen die Ausnahmeerteilung für Windenergieanlagen im Rahmen von BImSchG-­ Genehmigungen bestätigt wurde.27 Dass die Ausnahmevoraussetzungen des §  45 Abs.  7 BNatSchG auch für Windenergieanlagen erfüllt sein können, bestä­ tigt inzwischen auch die überwiegende Zahl an Ländern explizit in ihren Erlas­ sen und Leitfäden. Allerdings fehlen ganz überwiegend noch konkrete Hilfe­ stellungen für die Verwaltungspraxis zur Prüfung der Ausnahmevoraussetzun­ gen. §  45 Abs.  7 BNatSchG enthält drei Voraussetzungen für die Erteilung von Ausnahmen: Es muss ein Ausnahmegrund vorliegen, es darf keine andere zu­ mutbare Alternative bestehen und der Erhaltungszustand der betroffenen Art darf sich nicht verschlechtern. Mit §  45b Abs.  8 BNatSchG hat der Gesetzgeber versucht, diese allgemeinen Voraussetzungen speziell für Wind­energieanlagen zu konkretisieren. Diese Regelungen stellen überwiegend lediglich die bereits bestehende Rechtslage und den zugehörigen allgemeinen Stand der Rechtsaus­ legung klar und sind im Übrigen als misslungen zu bezeichnen. Für Windenergieanlagen kann grundsätzlich an das in §  45 Abs.  7 Nr.  5 ­BNatSchG benannte öffentliche Interesse oder die öffentliche (Energieversor­ gungs-)Sicherheit als Ausnahmegrund angeknüpft werden.28 Dies gilt nach herrschender Meinung auch in Bezug auf Vögel, da in Art.  9 der Vogelschutz­ richtlinie 2009/147/EG das öffentliche Interesse als ungeschriebener Ausnah­ megrund hineinzulesen ist oder aber jedenfalls der Aspekt der öffentlichen ­Sicherheit greift.29 Der Bundesgesetzgeber hat nun darüber hinaus in §  2 EEG gesetzlich festgestellt, dass Windenergieanlagen im überragenden öffentlichen Interesse liegen und der öffentlichen Sicherheit dienen, und hat dies fachgesetz­ lich nochmals in §  45b Abs.  8 Nr.  1 BNatSchG explizit in Bezug auf die Ertei­ 27  VGH Kassel, Beschl. v. 06.11.2018 – 9 B 765/18; OVG Lüneburg, Beschl. v. 19.12.2016 – 12 ME 85/16; OVG Münster, Urt. v. 29.11.2022 – 22 A 1184/18; OVG Münster, Urt. v. 10.02.­ 2022 – 7 B 8/21.AK; OVG Münster, Besch. v. 20.02.2018 – 8 B 838/17 bzw. VG Münster, Urt. v. 12.07.2018 – 10 K 4940/16; OVG Greifswald, Urt. v. 24.08.2021 – 1 LB 21/16. 28  Hinsch, ZUR 2001, 191; Gatz, Windenergieanlagen in der Verwaltungs- und Gerichts­ praxis, 2019, Schlacke/Schnittker, Abstandsempfehlungen für Windenergieanlagen zu be­ deutsamen Vogellebensräumen sowie Brutplätzen ausgewählter Vogelarten – Gutachterliche Stellungnahme zur rechtlichen Bedeutung des Helgoländer Papiers der Länderarbeitsgemein­ schaft der Staatlichen Vogelschutzwarten (LAG VSW 2015), 2015; Ruß/Sailer, Anwendung der artenschutzrechtlichen Ausnahme bei Windenergievorhaben, Würzburger Berichte zum Umweltenergierecht, 2016; Bick/Wulfert– NVwZ 2017, 346. 29  OVG Münster, Urt. v. 29.11.2022 – 22 A 1184/18; OVG Münster, Urt. v. 10.02.2022 – 7 B 8/21.AK; VGH Kassel, Beschl. v. 06.11.2018 – 9 B 765/18; Bundesverband WindEnergie, Hinweise zu den rechtlichen und fachlichen Ausnahmevoraussetzungen nach §  45 Abs.  7 BNatSchG bei der Zulassung von Windenergievorhaben, 2020; Sailer, Gesetzgeberische Handlungsmöglichkeiten zur Weiterentwicklung der artenschutzrechtlichen Ausnahmerege­ lung“,– Würzburger Berichte zum Umweltenergierecht Nr.  49, 2020; Umweltministerkonfe­ renz, Hinweise zu den rechtlichen und fachlichen Ausnahmevoraussetzungen nach §  45 Abs.  7 BNatSchG bei der Zulassung von Windenergievorhaben,– Beschl. der UMK am 15.05.­ 2020; vgl. Europäische Kommission, Leitfaden zu Windkraftprojekten und den Naturschutz­ vorschriften der EU, 2020, 28.

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lung einer artenschutzrechtlichen Ausnahme für Windenergieanlagen bestätigt. Zu den trotzdem immer noch weitergehenden Diskussionen um die Europa­ rechts­konformität dieser Regelungen beabsichtigt die EU im Zuge der an­ stehenden Novellierung der Erneuerbare-Energien-Richtlinie (2018/2001/EU, RED IV) ebenfalls europarechtlich klarzustellen, dass der Ausbau der erneuer­ baren Energien im überragenden öffentlichen Interesse liegt und der öffentli­ chen S­ icherheit dient und darauf gestützt sowohl Ausnahmen nach Art.  16 der FFH-­R ichtlinie (92/43/EWG) als auch nach Art.  9 der Vogelschutzrichtlinie (2009/­147/­EG) für Windenergieanlagen möglich sind. Bereits vorab hat die EU nun in der EU-NotfallVO die Möglichkeit der Erteilung von artenschutzrecht­ lichen Ausnahmen – sowohl hinsichtlich der durch die FFH-Richtlinie als auch der durch die Vogelschutzrichtlinie geschützten Arten – im überwiegenden öf­ fentlichen Interesse und im Interesse der öffentlichen Sicherheit explizit fest­ gestellt (Art.  3 Abs.  1 der VO 2022/2577/EU). Des Weiteren muss nachgewiesen werden, dass keine zumutbaren Alternati­ ven bzw. in der europarechtlichen Formulierung keine andere „zufriedenstel­ lende Lösung“ besteht. Die deutsche Formulierung spiegelt eher die Interessen des Anlagenbetreibers wider, während die europarechtliche Formulierung ver­ deutlicht, dass auch aus Sicht des öffentlichen Interesses bestimmte Varianten unbefriedigend sein können. In der neueren Diskussion dieser Ausnahmevor­ aussetzung wird zwischen Standortalternativen und Ausführungsalternativen differenziert, wobei letztere als Hilfskonstrukt dienen, um den auch bei arten­ schutzrechtlichen Maßnahmen zu beachtenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz einbeziehen zu können, so dass geprüft werden kann, ob die Umsetzung des Projektes mit Maßnahmen gegenüber der Ausnahmeerteilung eine „zufrieden­ stellende“ bzw. „zumutbare Alternative“ ist. Die Regelungen des §  45b Abs.  8 Nr.  2 und 3 BNatSchG zur Standortalter­ nativenprüfung sind als handwerklich misslungen einzustufen. Die Gesetzes­ begründung lässt eine Unkenntnis über das Planungsregime und die planungs­ rechtlichen Grundlagen erkennen und steht in teilweisem Widerspruch zum Gesetzestext. Zunächst ist klarzustellen, dass artenschutzrechtliche Aspekte selbstverständlich stets sowohl bei Regionalplänen als auch bei der Aufstellung von Bauleitplänen entsprechend dem Abstraktionsgrad der Planebene zu be­ rücksichtigen sind, weil dies gesetzlich in §  1 Abs.  3, 5, 6 und 7, §  2 Abs.  4 BauGB festgeschrieben ist. Der diesbezügliche Vorbehalt in §  45b Abs.  8 Nr.  2 lit. b) ­BNatSchG ist also stets erfüllt und damit obsolet. Die Regelung des §  45b Abs.  8 Nr.  2 BNatSchG ist für eine Planung mit wirksamer Ausschlusswirkung – so­ wohl nach altem Recht (§  35 Abs.  3 S.  3 BauGB) als auch nach neuem Recht (§  249 Abs.  2 BauGB) – darüber hinaus insofern obsolet, als dass Standortalter­ nativen außerhalb der für die Windenergie ausgewiesenen Gebiete bereits des­ halb nicht zur Verfügung stehen, weil dort die Errichtung von Windenergie­ anlagen planungsrechtlich unzulässig ist. Da der Wortlaut Standortalternativen

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außerhalb „dieses ausgewiesenen Gebietes“ verneint und „das für Windenergie ausgewiesene Gebiet“ die jeweilige, einzelne, in einem Planungsraum für Wind­ energieanlagen ausgewiesene Zone ist, ist auch ein Verweis des Vorhabens auf ein anderes für die Windenergie ausgewiesenes Gebiet im selben oder einem anderen Planungsraum unzulässig. Dies gilt unabhängig davon, ob der Plan eine wirk­same Ausschlusswirkung entfaltet oder nicht, da der Gesetzeswortlaut nicht danach differenziert. Dies entspricht der Zielsetzung des WindBG, nach dem die ausgewiesenen Windenergiegebiete in Summe (und nicht nur einzelne von ihnen) nutzbar sein müssen, um die Ausbauziele und somit das öffentliche Interesse zu erfüllen. In §  45b Abs.  8 Nr.  3 BNatSchG setzt sich das Missverständnis über die pla­ nungsrechtlichen Gegebenheiten fort. Die Regelung greift in tatsächlicher Hinsicht nur für Planungsräume ohne wirksame Ausschlusswirkung. Denn ein Standort im Ausschlussbereich einer Planung mit wirksamer Ausschluss­ wirkung (also ein Standort außerhalb eines für die Windenergie ausgewiesenen Gebietes) ist bereits planungsrechtlich unzulässig, so dass sich eine Prüfung der artenschutzrechtlichen Verbote und somit auch eine Ausnahmeprüfung erübrigt. Befindet sich der Standort in einem Planungsraum ganz ohne plane­ rische Ausweisungen oder außerhalb von ausgewiesenen Flächen, die keine Ausschlusswirkung erzeugen, ist der Standort und alle anderen Standorte im Planungsraum planungsrechtlich zulässig, so dass ggf. eine Standortalternati­ venprüfung erforderlich werden kann. In diesem Fall soll nun nach §  45b Abs.  8 Nr.  3 BNatSchG ein Suchraum mit 20  k m Radius maßgeblich sein (bzw. bei ­einem Standort in einem Natura2000-Gebiet sogar ein räumlich unbegrenzter Bereich). Ein Radius von 20  k m entspricht der Größe eines mittleren Land­ kreises in Deutschland. In einem Suchraum derartiger Größe gibt es tausende potenzielle Standorte für Windenergieanlagen. Die Regelung führt also bereits deshalb nicht zur Begrenzung des Prüfaufwandes auf ein praktikables Maß. Zur Beurteilung des artenschutzfachlichen Konfliktpotenzials von Alterna­­tiv­standorten müssten auf Grund der strikt an Abstände zu aktuellen Brutplät­ zen gebundenen Bewertungsmethodik für den gesamten Suchraum flächen­ deckend aktuelle Kartierungsdaten vorhanden sein, was ebenfalls die Un­ möglichkeit e­ iner derartigen Prüfung indiziert. Auch die Prüfung sämtlicher anderer Genehmigungsvoraussetzungen an tausenden potenziellen Standorten ist schlicht unmöglich. Unabhängig davon kann bei einem Suchraum derarti­ ger Größe sowieso offensichtlich ohne nähere Prüfung unterstellt werden, dass es jedenfalls für eine Einzel-Windenergieanlage, aber auch für Windprojekte mit mehreren Windenergieanlagen, Standorte mit geringerem artenschutz­ fachlichen Konfliktpotenzial im Sinne eines größeren Abstandes zu Brutplät­ zen der betroffenen Vogelart gibt. Es dürfte daher mit der vorliegenden Rege­ lung unmöglich sein, den Nachweis einer Standortalternativlosigkeit zu füh­ ren.

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Die Problematik der Standortalternativenprüfung liegt in tatsächlicher Hin­ sicht darin, dass im Gegensatz zu großen Infrastrukturprojekten, für die bei linienhaften Strukturen (Leitungen, Straßen) nur wenige Trassenalternativen zur Verbindung zweier Punkte gegeben sind und für die bei industriellen Großprojekten schon wegen der Großflächigkeit und Anbindungsnotwendig­ keiten an leistungsfähige Infrastruktur nur wenige, konkrete Standortalternati­ ven gegeben sind, bei Windenergieanlagen eine extrem große und unbestimmte Zahl an potenziell geeigneten Standorten zu prüfen wäre, selbst wenn man den Suchraum auf die kleinstmögliche Verwaltungseinheit, also ein Gemeinde­ gebiet, beschränken würde. In rechtlicher Hinsicht ist eine Standortalternati­ venprüfung im Rahmen von BImSchG-Genehmigungen als gebundene Ent­ scheidung gar nicht vorgesehen und möglich (und daher nur indirekt durch die Vorentscheidung auf Planungsebene nachvollziehbar). Diese beiden sehr grund­ legenden rechtlichen und tatsächlichen Probleme der Prüfung von Standort­ alternativen in BImSchG-Genehmigungsverfahren für räumlich flexible Klein­ projekte wie Windenergieanlagen sind im vorliegenden Gesetzestext des §  45b Abs.  8 Nr.  3 BNatSchG weder erkannt noch gelöst worden. Da die Problematik der Inkompatibilität von gebundener Entscheidung und Alternativenprüfung nicht nur in Bezug auf artenschutzrechtliche Ausnahmeprüfungen, sondern auch in Bezug auf andere Regelungen (z. B. der Alternativenprüfung im Rah­ men einer UVP, der Beanspruchung von Wald oder verschiedener weiterer Aus­ nahme- und Befreiungsregelungen) gegeben ist, bedarf dieser Regelungskon­ flikt einer grundsätzlichen Auflösung des Gesetzgebers. Die Anwendung des §  45b Abs.  8 Nr.  3 BNatSchG würde also dazu führen, dass der Nachweis einer Standortalternativlosigkeit in einem Planungsraum ohne planerische Ausweisungen für die Windenergie bzw. für Standorte außer­ halb von nur als Positivausweisung ausgewiesenen Flächen generell nicht ge­ führt und somit keine Ausnahmeerteilung möglich wäre. Dies wäre gegenüber §  45 Abs.  7 BNatSchG eine Verstrengerung nur für Windenergieanlagen, die sich weder fachlich noch rechtlich begründen lässt und wahrscheinlich in dieser Konsequenz nicht vom Gesetzgeber gewollt ist. In der Verwaltungspraxis sollte daher die Prüfung in derartigen Fällen weiterhin unmittelbar auf §  45 Abs.  7 BNatSchG gestützt und hilfsweise auf die in einigen Länderleitfäden angeführ­ te umgekehrte Betrachtung30 zurückgegriffen werden: Liegt das beantragte Vorhaben in einem artenschutzfachlich außergewöhnlich hochwertigen Bereich 30  z. B. Bayerisches Landesamt für Umweltschutz, Arbeitshilfe Vogelschutz und Wind­ energienutzung, 2021; Ministerium für ländlichen Raum und Verbraucherschutz Baden-­ Würt­temberg, Hinweise zu artenschutzrechtlichen Ausnahmen vom Tötungsverbot bei wind­ energieempfindlichen Vogelarten bei der Bauleitplanung und Genehmigung von Windener­ gieanlagen, Az.: 62-8850.68 v. 01.07.2015; Ministerium für Umwelt, Landwirtschaft und Energie Sachsen-Anhalt, Leitfaden Artenschutz an Windenergieanlagen in Sachsen-Anhalt, Stand: 17.09.2018; Thüringer Landesanstalt für Umwelt und Geologie, Avifaunistischer Fach­ beitrag zur Genehmigung von Windenergieanlagen (WEA) in Thüringen, Stand: 30.08.2017.

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wie z. B. einem hochrangigen Schutzgebiet, einem Dichtezentrum oder Quell­ populationsgebiet, kann man annehmen, dass weniger konfliktreiche Standorte verfügbar sind. Liegt das Vorhaben hingegen in einem Bereich ohne besondere Wertigkeit, also nur mit durchschnittlichem, üblichem Artvorkommen (wozu auch die Lage im Nahbereich eines einzelnen Brutplatzes einer nicht extrem seltenen Art gehört), ist davon auszugehen, dass alternative Standorte im Durchschnitt eine vergleichbare Wertigkeit haben und somit keine besseren ­Alternativen darstellen. In Hinsicht auf kleinräumige Standortverschiebungen müsste auf andere genehmigungsrechtliche Restriktionen geprüft werden. In einer ersten Befassung mit dem Suchradius für eine Standortalternativen­ prüfung nach §  45b Abs.  8 Nr.  3 BNatSchG geht das OVG Münster31 zwar nicht auf die grundsätzliche Frage der Standortalternativenprüfung in Verfahren mit gebundener Entscheidung ein, erkennt aber die praktischen Schwierigkeiten ­einer Standortalternativenprüfung an und lässt daher eine sehr pauschale Be­ trachtung an Hand von Potenzialstudien und die allgemeine, nicht spezifisch für den Einzelfall belegte Argumentation, dass im betroffenen Raum bereits viele für Windenergie geeignete Flächen bebaut, beplant oder (postuliert) bei konkurrierenden Projektierern unter Vertrag sind, ausreichen. Dabei ist nicht auf alternative Standorte für einzelne Windenergieanlagen abzuheben, sondern auf einen zusammenhängenden Alternativstandort für die beantragte Zahl an Windenergieanlagen. Dieser Ansatz erscheint zwar auf den ersten Blick prag­ matisch, führt jedoch neben dem Effekt, dass große Projekte gegenüber kleinen begünstigt werden, vor allem dazu, dass in Planungsräumen, die bisher nur we­ nig ihres Potenzials genutzt haben, noch Alternativen bestehen, gerade deshalb dort die beantragten Windenergieanlagen nicht genehmigt werden können und damit weiterhin der Windenergieausbau in diesen Planungsräumen nicht unter­ stützt wird, während in Planungsräumen, die bereits große Teile ihres Poten­ zials ausgebaut haben, auch die letzten Flächen noch als alternativlos über Aus­ nahmeerteilungen freizugeben sind. Für die Prüfung von Ausführungsalternativen in dem Sinne einer Verhältnis­ mäßigkeits- bzw. Zumutbarkeitsprüfung der wirksamen Artenschutzmaß­nah­ men enthält §  45b Abs.  8 BNatSchG keine Konkretisierung. Der Regelungs­ komplex des §   45b Abs.   6 S.   2–5 BNatSchG i. V. m. Anlage 2 bezieht sich ­ausschließlich auf die Präzisierung der Zumutbarkeitsprüfung von Abschalt­ maßnahmen für kollisionsgefährdete Brutvogelarten und nur auf Fälle, in ­denen einzig Abschaltmaßnahmen als wirksame Vermeidungsmaßnahme zur Verfü­ gung stehen (siehe hierzu ausführlich Abschnitt II, 4.). Die Zumutbarkeit aller anderen artenschutzrechtlichen Maßnahmen als Abschaltmaßnahmen für Brutvögel, d. h. aller Maßnahmen zum Störungs- und Beschädigungsverbot so­ wie Maßnahmen zum Tötungsverbot, die keine Abschaltungen für Brutvögel 31 

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sind (z. B. Ablenkflächen für Vögel oder Fledermausabschaltungen), und die Prüfung von Ablenkflächen, Umsiedlungen o. ä. als Ausführungsalternative zu Abschaltmaßnahmen für Brutvögel verbleibt in der nicht näher geregelten, ­unmittelbaren Anwendung des §  45 Abs.  7 BNatSchG und ist somit an Hand eigener Maßstabsbildung der Behörde oder Regelungen der Länderleitfäden zu beurteilen. Hierbei können insbesondere die aus der klassischen Verhältnismä­ ßigkeitsprüfung bekannten Aspekte des finanziellen, arbeitstechnischen und organisatorischen Aufwandes im Verhältnis zu der mit der Maßnahme erziel­ baren Wirkung herangezogen werden, aber auch die im öffentlichen Interesse liegenden Aspekte der Funk­tions­sicherung der für die Windenergie ausgewie­ senen Flächen und der Verlust an Windstrom­erzeugung. Schließlich darf sich der Erhaltungszustand einer Art durch die Zulassung einer Ausnahme nicht verschlechtern. Dabei ist zu beachten, dass hier nicht die lokale Population, sondern die Population im gesamten natürlichen Verbrei­ tungsgebiet gemeint ist und dass auch ein bereits schlechter Erhaltungszustand die Erteilung einer Ausnahme nicht hindert, so dass hier nur ein generalisierter (und kein individualisierter oder lokaler) Artenschutz maßgeblich ist.32 §  45b Abs.  8 Nr.  4 und 5 BNatSchG erlauben alternative Prüfmöglichkeiten des Er­ haltungszustandes auf der Ebene der lokalen, landes- oder bundesweiten Popu­ la­tion. Dahinter steht der Gedanke, dass wenn auf der niedrigen Betrachtungs­ ebene keine negativen Auswirkungen gegeben sind, das konkrete Projekt na­ türlich auch in Bezug auf die höhere Betrachtungsebene erst recht keine Aus­wirkungen haben kann, sprich, wenn die lokale Population nicht negativ betroffen ist, kann die landesweite bzw. bundesweite Population, von der die lokale Population ein Teil ist, nicht negativ betroffen sein. In der Verwaltungs­ praxis kann daher die Prüfung des Erhaltungszustandes auf der Populations­ ebene erfolgen, für die die Prüfung im jeweiligen Einzelfall am einfachsten ist – dies ist eine hilfreiche Klarstellung. Eigene, stets aktuelle Erhebungen eines einzelnen Antragstellers oder einer einzelnen Behörde zum Erhaltungszustand einer Art im überörtlichen Bezugs­ raum sind vom Aufwand her kaum zu leisten, auf Grund der mehrfachen Erhe­ bung bekannter Sachverhalte übermäßig und zudem weder sachgerecht noch zielführend, denn es könnte zu widersprüchlichen Ergebnissen der verschiede­ nen Behörden über ein und denselben Sachverhalt und somit nicht nur zur Un­ gleichbehandlung, sondern auch zu sachlichen Verwerfungen bei benachbarten 32  Schlacke/Schnittker, Abstandsempfehlungen für Windenergieanlagen zu bedeutsamen Vogellebensräumen sowie Brutplätzen ausgewählter Vogelarten  – Gutachterliche Stellung­ nahme zur rechtlichen Bedeutung des Helgoländer Papiers der Länderarbeitsgemeinschaft der Staatlichen Vogelschutzwarten (LAG VSW 2015), 2015; Bick/Wulfert, NVwZ 2017, 346; Brandt/Willmann, Zur Ausnahmeregelung des §  45 Abs.  7 BNatSchG. Rechtsgutachten. För­ derverein der Koordinierungsstelle Windenergierecht (k:wer) e.V., 2016; VGH Kassel, Beschl. v. 06.11.2018 – 9 B 765/18; BVerwG, Urt. v. 18.03.2013 – 9 A 22.11.

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Projekten kommen. Dies ist nicht nur rechtlich bedenklich, sondern auch fach­ lich nicht wünschenswert. Eine Bestimmung und Beobachtung des Erhaltungs­ zustandes ist daher sehr viel sachgerechter auf zentraler, übergeordneter Ebene angesiedelt. Das Heranziehen von Erkenntnissen aus den naturschutzrechtlich vorgesehenen Überwachungen des Zustandes von Natur- und Landschaft oder aus den unmittelbaren Monitoringverpflichtungen des EU-Arten- und Habit­ schutzrechts (die ihrerseits auf Daten basieren, die von einer Vielzahl von Ak­ teuren des behördlichen, professionellen und ehrenamtlichen Naturschutzes erhoben wurden) – wie es in §  45b Abs.  5 BNatSchG angesprochen wird – liegt daher als fachlich fundierte Grundlage auch ohne gesetzliche Regelung auf der Hand. Die Bundesländer geben dementsprechend in ihren Artenschutzleitfäden vermehrt Informationen über den Erhaltungszustand der windenergiesensiblen Arten als Entscheidungsgrundlage für die Genehmigungsbehörden.33 §  45b Abs.  8 BNatSchG gibt selbst keine weiterführenden Hinweise für die Bewer­ tung der Nicht-Verschlechterung des Erhaltungszustandes. Nur in der Geset­ zesbegründung werden weitergehende Aussagen und konkrete Bewertungen der kollisionsgefährdeten Arten der Anlage 1 getroffen, die auch auf der Inter­ netseite des BfN veröffentlicht und dort fortlaufend aktualisiert werden sollen (was bisher allerdings nicht geschehen ist). Diese Aussagen und Bewertungen haben allerdings keinen Gesetzesrang, d. h. sie können wie die v.g. Aussagen der Länderleitfäden (nur) als (gewichtige) Erkenntnisquelle genutzt werden. Zu be­ tonen ist in diesem Zusammenhang, dass es ausschließlich auf die Nicht-Ver­ schlechterung des Erhaltungszustandes ankommt, nicht jedoch auf den Erhal­ tungszustand an sich. Eine Ausnahmeerteilung ist also auch dann möglich (und auf Grund des Genehmigungsanspruchs bei einer gebundenen Entscheidung zwingend zu erteilen), wenn zwar der Erhaltungszustand der betroffenen Art schlecht ist, er sich aber durch das konkrete Projekt nicht weiter verschlech­ tert.34 Die in der Gesetzesbegründung enthaltene Tabelle scheint jedoch genau dem verbreiteten Irrtum zu unterliegen, dass auch allein ein schlechter Erhal­ tungszustand die Ausnahmeerteilung sperrt, da dort für Baumfalken, Fisch-, Schrei- und Steinadler sowie Wiesenweihen trotz eines aufsteigenden oder gleichbleibenden Entwicklungstrends für die Ausnahmeprüfung von einer Ver­ schlechterung ausgegangen wird, was anscheinend allein aus dem Gefährdungs­ status abgeleitet wird. Es ist allerdings nicht ohne nähere Begründung zu erken­ 33  Bayerisches Landesamt für Umweltschutz, Arbeitshilfe Vogelschutz und Windenergie­ nutzung, 2021; Hessisches Ministerium für Umwelt, Klimaschutz, Landwirtschaft und Ver­ braucherschutz, Verwaltungsvorschrift Naturschutz/Windenergie, 17.12.2020; Ministerium für Energiewende, Landwirtschaft Umwelt, Natur und Digitalisierung/Landesamt für Land­ wirtschaft, Umwelt und ländliche Räume Schleswig-Holstein, Standardisierung des Vollzugs artenschutzrechtlicher Vorschriften bei der Zulassung von Windenergieanlagen für ausge­ wählte Brutvogelarten, Stand: Juni 2021. 34  Dies in expliziter Auseinandersetzung mit der Tabelle des BfN in der Gesetzesbegrün­ dung klarstellend: OVG Münster, Urt. v. 29.11.2022 – 22 A 1184/18.

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nen, warum ein einzelnes Windenergieprojekt geeignet sein sollte, bei diesen Arten den bundesweit positiven Entwicklungstrend in eine Verschlechterung des Erhaltungszustandes umzukehren. Die vorgenommene negative Bewertung des BfN in Bezug auf Arten mit positivem Entwicklungstrend muss daher vor einer Übernahme in konkrete Genehmigungsentscheidungen hinterfragt wer­ den. Schließlich stellt §  45b Abs.  8 Nr.  6 BNatSchG nochmals die bereits bestehen­ de Rechtslage klar, dass im Rahmen der gebundenen Entscheidung auf Grund des Genehmigungsanspruchs des §  6 Abs.  1 BImSchG eine artenschutzrecht­ liche Ausnahme (wie generell jegliche Art von Ausnahme und Befreiung) zu erteilen ist, wenn auf der Tatbestandsseite die Voraussetzungen dafür erfüllt sind (also der Erhaltungszustand nicht verschlechtert wird, Alternativlosigkeit gegeben ist und das öffentliche Interesse überwiegt), während auf der Rechts­ folgenseite kein weitergehendes Ermessen für die Behörde besteht,35 also das fachrechtliche freie Ermessen der „kann-Vorschrift“ durch die gebundene Ent­ scheidung des §  6 Abs.  1 BImSchG („ist/muss-Vorschrift“) verdrängt wird. Die Interessensabwägung auf der Tatbestandsseite nach §  45b Abs.  8 Nr.  1 B ­ NatSchG ist also nach wie vor  – nun unter Berücksichtigung der Gewichtung des §  2 EEG – vorzunehmen, aber eben darüber hinaus kein Entschließungsermessen auf der Rechtsfolgenseite auszuüben, ob bei Erfüllung der Tatbestandsvoraus­ setzungen eine Ausnahme erteilt wird. Die in einigen Leitfäden thematisierten Abwägungserfordernisse und -kriterien gehen somit ins Leere, ebenso ist das rechtliche Konstrukt eines „intendierten Ermessens“ nicht erforderlich. §  45 Abs.  8 Nr.  6 BNatSchG hat daher lediglich klarstellenden Charakter und ist kei­ nesfalls als „Sonderregelung“ für Windenergieanlagen zu verstehen.

4. §  45b Abs.  6 BNatSchG Zumutbarkeitsregelung und §  45b Abs.  9 BNatSchG Belastungsgrenze Für die Prüfung von Ausführungsalternativen in dem Sinne, ob die erforderli­ chen artenschutzrechtlichen Maßnahmen für den Betreiber zumutbar sind, hat der Gesetzgeber in §  45b Abs.  6 S.  2–5, Abs.  9 BNatSchG und der zugehörigen Anlage 2 eine Spezialregelung für eine eng begrenzte Fallkonstellation getrof­ fen. Die Regelung bezieht sich ausschließlich auf Abschaltmaßnahmen für Brutvögel als Vermeidungsmaßnahme und Fälle, in denen ausschließlich Ab­ schaltmaßnahmen als geeignete Maßnahme zur Verfügung stehen – denn wenn auch Ablenkflächen im konkreten Fall wirksam sowie räumlich und vom Flä­ chenzugriff her tatsächlich verfügbar sind, kämen sie ggf. als zu prüfende zu­ mutbare Ausführungsalternative im Rahmen der Ausnahmeprüfung in Be­ 35  Frank/Rolshoven, ZNER 2022, 535–546; so auch schon zuvor: OVG Münster, Urt. v. 10.02.­2022 – 7 B 8/21.AK.

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tracht, was durch §  45b Abs.  6 Satz  2–5 i. V. m. Anlage 2 BNatSchG aber nicht erfasst ist. Da für die meisten Vogelarten nach §  45b Abs.  3 i. V. m. Anlage 1 Abschnitt  2 BNatSchG Ablenkflächen oder kurzzeitige Abschaltungen im zen­ tralen Prüfbereich als ausreichend wirksame Maßnahmen eingestuft werden, dürfte das Erfordernis einer Ausnahmeprüfung insgesamt und speziell nach §  45b Abs.  6 S.  2–5 BNatSchG gering sein und sich im Wesentlichen auf Projek­ te im Nahbereich sowie Arten, für die nur eine phänologiebedingte Abschal­ tung als wirksam angesehen wird, beschränken. Die Bedeutung der Zumut­ barkeitsregelung des §  45b Abs.  6 S.  2–5 i. V. m. Anlage 2 BNatSchG wird also in der Praxis von geringer Bedeutung sein. Eine intensive Beschäftigung mit der als nicht vollziehbar einzustufenden Zumutbarkeitsbewertung des §  45b Abs.  6 S.  2–5 BNatSchG und Anlage 2 erscheint daher kaum erforderlich und wenig sinnvoll. Allerdings wird im Zuge der angestrebten Umsetzung der EU-­ NotfallVO durch §  6 WindBG-E auf die Zumutbarkeitsschwelle des §  45b Abs.  6 BNatSchG Bezug genommen und ihr Anwendungsbereich damit umfas­ send auf alle Verbote und alle Maßnahmen ausgeweitet (siehe hierzu Abschnitt D. IV. Art.  6 der EU-NotfallVO und seine Umsetzung durch §  6 WindBG-E), so dass die problematische Regelung darüber hohe Relevanz für die Verwal­ tungspraxis erhält. Als Ergebnis einer Analyse der Regelungen der Anlage 236 lässt sich festhalten, dass die Bestimmung der Zumutbarkeitsschwelle sowie ih­ rer Überschreitung auf Grund unzureichender Begriffsdefinitionen in §  45b Abs.  6 S.  2–5 und Anlage 2 BNatSchG nicht sicher möglich ist. Wird die Zumut­ barkeitsschwelle oder ihre Überschreitung fehlerhaft bestimmt, ist die Alterna­ tivlosigkeit nicht korrekt beurteilt worden und somit die Ausnahmeerteilung ggf. insgesamt rechtswidrig. Diese Unsicherheit der Bestimmung bezieht sich allerdings ausschließlich auf die sog. monetäre Zumutbarkeit, während die auf den Stromertrag bezogene Zumutbarkeitsschwelle schlicht und unzweifelhaft durch den Zeitumfang der Abschaltung von 6 bzw. 8  % der Jahresstunden defi­ niert ist. Die Größe der monetären Zumutbarkeit wird nur zu dem Zweck benö­ tigt, dass die Kosten für andere Schutzmaßnahmen für andere Arten in die Zu­ mutbarkeitsbewertung der konkret zu prüfenden Abschaltung für eine Brutvo­ gelart einbezogen werden sollen. Die Entscheidung über die Ausnahmeerteilung für eine kollisionsgefährdete Vogelart vom Maßnahmenumfang für andere ­Vogelarten und Fledermäuse abhängig zu machen, ist bereits materiell kaum zu begründen und geht über die Art-für-Art-Prüfung des deutschen und europäi­ schen Rechtsrahmens hinaus und ist daher in hohem Maße rechtlich fragwür­ dig. Daher kann als praktikable und zugleich rechtssichere Praxislösung auf die Anrechnung anderer artenschutzrechtlicher Maßnahmen verzichtet werden, 36 Eine detaillierte Auseinandersetzung und Darstellung der unzureichenden Begriffs­ definitionen und Fehler in den Formelsätzen der Anlage 2 BNatSchG findet sich in Agatz, Arbeitshilfe BNatSchG-Änderung 2022, Stand: Februar 2023, veröffentlicht auf www.wind energie-handbuch.de.

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wodurch sich die Prüfung darauf reduziert, ob die Abschaltzeit für die zu prü­ fende Art allein 6 bzw. 8  % der Jahresstunden übersteigt. Diese Vorgehensweise ist konform (wenn auch in verstrengerter Form) mit Anlage 2 und schließt eine rechtliche Angreifbarkeit der Genehmigung auf Grund einer fehlerhaften Be­ stimmung der monetären Zumutbarkeit oder einer fehlenden Europarechtskon­ formität der Regelung aus. Die Bezugnahme auf den Umfang der Abschalt­ zeiten und damit unmittelbar und allein auf den Stromertragsverlust anstatt des monetären Verlustes des Anlagenbetreibers trägt zudem dem Ausnahmegrund des öffentlichen Interesses an der Erzeugung von Windstrom deutlich besser Rechnung. §  45b Abs.  9 BNatSchG i. V. m. mit Anlage 2 Nr.  3.2 und 3.3 definiert zudem eine Belastungsgrenze, die durch die Summe aller artenschutzrechtlichen Schutzmaßnahmen nicht überschritten werden soll, so dass neben dem Absehen von den Maßnahmen für das Brutvorkommen, für das die Ausnahme erteilt wird, auch andere Maßnahmen reduziert werden müssen, um die Belastungs­ grenze einzuhalten. Da Maßnahmen stets nur in dem Umfang gefordert werden dürfen, wie sie erforderlich sind, um den Verbotseintritt zu vermeiden, bedeutet eine Maßnahmenreduzierung eine nicht ausreichende oder sogar komplett weg­ fallende Wirksamkeit und somit eine Verbotsverletzung. Die Reduzierung von Maßnahmen für andere Arten ohne auch für diese Arten eine Ausnahme zu erteilen, überschreitet den Rahmen der Art-für-Art-Prüfung und wirft damit nicht nur einen BNatSchG-internen Widerspruch zu den Verbotstatbeständen des §  44 Abs.  1 BNatSchG auf, sondern ist auch europarechtswidrig. Diese Re­ gelung ist also in der vorgesehenen Form nicht vollzugsfähig – auf die ebenfalls unzureichenden Begriffsdefinitionen der Anlage 2 zur zweifelsfreien Bestim­ mung der Belastungsgrenze kommt es daher nur sekundär an. Auch hier ergibt sich ein einfacher und rechtssicherer Lösungsansatz für die Praxis aus dem Ver­ zicht auf die Reduzierung der Maßnahmen für andere als die in der Ausnahme­ prüfung zu prüfende Art.

5. §  45b Abs.  9 BNatSchG Basisschutz im Falle einer Ausnahme §  45b Abs.  9 BNatSchG erlaubt die „Anordnung“ von Maßnahmen für das be­ troffene Brutvorkommen „neben“ der Ausnahmeerteilung. Hierbei sind sowohl die rechtliche und fachliche Herleitung als auch Ziel, Zweck, Entscheidungsund Bemessungsparameter dieser in der Gesetzesbegründung als „Basisschutz“ bezeichneten Maßnahmen unklar. Aus der in Anlage 2 berechneten Zahlungs­ pflicht einer Artenschutzabgabe nach §  45d BNatSchG ergibt sich, dass es sich beim Basisschutz nicht um eine FCS-Maßnahme (also eine projektbezogene Maßnahme zur Stützung des Erhaltungszustandes zur Erfüllung der Ausnah­ mevoraussetzungen) handeln kann, denn dann wäre eine Zahlungspflicht aus­ geschlossen. Die Forderung der Durchführung von Vermeidungsmaßnahmen

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zur Senkung des Tötungsrisikos trotz Erteilung einer Ausnahme ließe sich nur im Fall einer überschießenden Ausnahme rechtfertigen, da nur dann unterstellt werden kann, dass der Vogel überhaupt noch überlebt und ihm (begrenzte) Maßnahmen zu Gute kommen können. Sollte mit dem „Basisschutz“ eine Art „Stand der Technik“, also ein im Artenschutzrecht bisher nicht angewendetes umweltrechtliches Instrument, gemeint sein, der unabhängig vom konkreten Nachweis einer schädlichen Wirkung gefordert werden kann, so fehlt es hierzu ebenfalls an einer materiellen Definition und dem damit verfolgten Ziel. Nach Anlage 2 und der Gesetzesbegründung erscheint der „Basisschutz“ als reine Zahlenspielerei, die allein dazu dienen soll, die Ausnahme wirtschaftlich weni­ ger attraktiv zu machen. Auch wenn dem Wortlaut nach der Behörde anscheinend die Forderung und die freie Gestaltung von „Basisschutzmaßnahmen“ (auch) bei Ausnahmeertei­ lung für die betroffene Art zugestanden wird, ohne diese Forderung an Voraus­ setzungen zu binden oder Ziele oder Maßstäbe für die Maßnahmengestaltung vorzugeben, würde ein willkürliches Handeln der Behörde jedoch gegen das Rechtsstaatprinzip verstoßen und kann daher nicht gemeint sein. Die Behörde muss von der Regelung keinen Gebrauch machen; tut sie dies, sollte sie jeden­ falls das Erfordernis und die fachliche Wahl und Gestaltung der Maßnahmen des Basisschutzes begründen, um den allgemeinen Grundsätzen eines rechtmä­ ßigen Verwaltungshandelns gerecht zu werden und den Vorwurf von Willkür zu vermeiden.

6. §  45d BNatSchG Artenhilfsprogramme Mit der Einrichtung von staatlich finanzierten Artenhilfsprogrammen kommt Deutschland seinen grundsätzlichen Pflichten aus der FFH- und der Vogel­ schutzrichtlinie nach. §  45d Abs.  1 BNatSchG hebt hier lediglich „insbesonde­ re“ die von erneuerbaren Energien betroffenen Arten hervor. Die Windbranche soll einen Teilbeitrag zur Finanzierung der Artenhilfsprogramme leisten. Dazu wird in §  45d Abs.  2 BNatSchG die Zahlung einer Artenschutzabgabe veran­ kert. Die Verpflichtung gilt grundsätzlich für Ausnahmen in Bezug auf alle Ar­ ten und alle Verbotstatbestände. Sie greift allerdings nur, wenn die Ausnahme nach Maßgabe des §  45b Abs.  8 Nr.  5 BNatSchG erteilt wird, also die Behörde die Feststellung der Nicht-Verschlechterung des Erhaltungszustandes auf die Populationsebene des Landes oder Bundes bezieht und dies aus den Daten der staatlichen Beobachtung von Natur- und Landschaft ableitet. Da es rechtsstaat­ lich bedenklich ist, eine Zahlungspflicht an die von der Behörde gewählte Ent­ scheidungsbegründung zu binden, dürfte die Zahlungspflicht nur dann greifen, wenn die Begründung nach §  45b Abs.  8 Nr.  5 BNatSchG die einzig mögliche fachliche Begründung in Bezug auf das Kriterium des Erhaltungszustandes ist.

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Die Artenschutzabgabe dient (im Gegensatz zur Zumutbarkeitsschwelle) nicht zum Nachweis der Erfüllung der Ausnahmevoraussetzungen nach §  45 Abs.  7 BNatSchG. Dieser Charakter wird durch die Formulierung bestätigt, dass die Zahlung bei Ausnahmeerteilung „ohne Durchführung von Maßnah­ men zur Sicherung des Erhaltungszustandes“ zu leisten ist. Demnach über­ nimmt die Artenschutzabgabe auch nicht die Funktion von FCS-Maßnahmen (dann hätte die Formulierung lauten müssen „anstelle von ggf. erforderlichen projektbezogenen FCS-Maßnahmen kann eine Artenschutzabgabe geleistet werden“), sondern ist (nur) in den Fällen zu leisten, wenn kein Erfordernis von projektbezogenen FCS-Maßnahmen besteht. Die Artenschutzabgabe ist also nicht Voraussetzung für, sondern Folge von einer Ausnahmeerteilung nach §  45 Abs.  7 BNatSchG.37 Sie stellt keine Genehmigungsvoraussetzung dar. Ähnlich wie die Berechnung der Zumutbarkeits- und der Belastungsschwelle nach Anlage 2 Nr.  2 und 3 BNatSchG ist auch die Berechnung der Artenschutz­ abgabe nach Anlage 2 Nr.  4 zu unklar definiert, als dass sie sicher korrekt be­ stimmt werden könnte.38 Zudem enthält die Berechnung der Artenschutzabga­ be zumindest mit dem realen Energieertrag eine jährlich variierende Größe. Die Forderung des §  45d Abs.  2 BNatSchG, dass die Zahlung als jährlich zu leisten­ der Betrag im Genehmigungsbescheid festzusetzen ist, kann sich also nicht auf die zahlenmäßige Festsetzung eines Geldbetrags beziehen, sondern nur als Festsetzung der generellen Zahlungspflicht verstanden werden – als solche ist sie aber obsolet, da die generelle Zahlungspflicht bereits gesetzlich durch §  45d Abs.  2 BNatSchG selbst festgelegt ist und daher eine entsprechende Formulie­ rung im Genehmigungsbescheid lediglich Hinweischarakter hätte. Eine ab­ schließende Prüfung und Bemessung der Artenschutzabgabe ist im Rahmen des BImSchG-Genehmigungsverfahrens also weder möglich noch erforderlich. Demzufolge besteht in Hinsicht auf die Artenschutzabgabe auch kein Angriffs­ punkt des Anlagenbetreibers oder Dritter gegen den Genehmigungsbescheid. Im Ergebnis hat die Artenschutzabgabe für die Prüfung im BImSchG-Ge­ nehmigungsverfahren und für die Rechtssicherheit der erteilten Genehmigung keine Relevanz.

III. Ausblick RED IV-Novelle Die EU strebt an, im Zuge der Überarbeitung der Erneuerbare-Energien-Richt­ linie (2018/2001/EU, RED IV) das Zusammenspiel von Planungs- und Geneh­ migungsebene zu optimieren. So sollen die Mitgliedstaaten die Gebiete identifi­ 37 

so auch Frank/Rolshoven, ZNER 2022, 535–546. siehe hierzu ausführlich Agatz, Arbeitshilfe BNatSchG-Änderung 2022, Stand: Februar 2023, veröffentlicht auf www.windenergie-handbuch.de, zuletzt abgerufen am 19.07.2023. 38 

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zieren, die sich besonders gut für den Ausbau der erneuerbaren Energien eignen und konfliktarm sind und diese dann planerisch in einem Verfahren mit um­ fassender Öffentlichkeits- und Behördenbeteiligung als sog. „go-to-Gebiete“ (oder synonym „Beschleunigungsgebiete“, welcher Begriff sich am Ende durch­ setzen wird, ist noch offen) ausweisen. Bei der Ermittlung der geeigneten Ge­ biete sollen Natura2000-Gebiete und andere hochrangig naturschutzrechtlich geschützte Gebiete ausgeschlossen sowie alle Erkenntnisse über besonders sen­ sible Gebiete aus der staatlichen und behördlichen Überwachung und ehren­ amtlichen Beobachtung von Natur, Arten und ihren Lebensräumen einbezogen werden, um auch andere ökologisch sensible, aber nicht formal geschützte Le­ bensräume nach Möglichkeit freizuhalten. In den Plänen sollen Vorschriften und Maßnahmen zur Vermeidung oder, wenn dies nicht möglich ist, Verminde­ rung von nachteiligen Auswirkungen in Form von artenschutzrechtlich rele­ vanten Tötungen, Störungen und Beschädigungen festgelegt werden (Art.  15c des Entwurfs der RED IV). Dies bedeutet nicht, dass die Artenschutzprüfung in der Prüftiefe des Genehmigungsverfahrens einschließlich der derzeit in Deutschland üblichen Brut- und Rastvogelkartierungen auf die Planebene hochgezogen werden soll, denn dies würde nicht zu einer Beschleunigung und Vereinfachung führen. Vielmehr soll die Entscheidung auf verfügbare Daten, z. B. den Daten aus der Ausweisung von Natura2000-Gebieten, aus der staat­ lichen Überwachung von Natur- und Landschaft, aus Fachdatenbanken, ehren­ amtlichem und professionellem Naturschutz o. ä. gestützt und eine abstrahierte Prüfung durchgeführt werden. In den auf diese Weise planerisch für die Windenergie ausgewiesenen Gebie­ ten gelten dann für das BImSchG-Genehmigungsverfahren formelle und mate­ rielle Erleichterungen, indem für plankonforme Projekte bei Umsetzung der im Plan vorgesehenen Maßnahmen keine Verletzung der artenschutzrechtlichen Verbote gegeben ist und somit keine spezifische Artenschutzprüfung und keine artenschutzrechtliche Ausnahmeprüfung sowie keine UVP und keine FFH-­ Verträglichkeitsprüfung erforderlich ist (Art.  16a des Entwurfs der RED IV). Das Konzept der go-to-Gebiete bietet also die Chance, die aktuellen Prob­ lemlagen bei der verwaltungspraktischen Umsetzung des Artenschutzes zu überwinden. Durch die planerische Steuerung der Windenergie auf natur- und artenschutzfachlich konfliktarme Bereiche wird das Manko behoben, dass das individuenbezogene Artenschutzrecht keinen Schutz für sensible, für den Po­ pulationserhalt wichtige Gebiete ermöglicht. Die Nutzung der umfassenden, langjährigen Datengrundlagen aller Akteure vermittelt einen zutreffenderen Eindruck des im Gebiet vorhandenen Arteninventars als die Momentaufnahme einer einjährigen, projektbezogenen Kartierung. Die Bemessung der Maßnah­ men erfolgt ebenfalls anhand dieses grundlegenden Arteninventars und ent­ bindet die Behörde vom konkreten Schädlichkeitsnachweis im Einzelfall. Die gleichmäßige Heranziehung aller im Gebiet agierenden Anlagebetreiber zu

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a­ rtenschutzrechtlichen Maßnahmen bietet eine deutlich verbesserte Gerechtig­ keit. Hierbei kann dann ein projektbezogener „Basisschutz“ oder „Stand der Technik“ optimal mit projektunabhängigen, zentral konzipierten und umge­ setzten Artenschutzprogrammen kombiniert werden, die dauerhaft Bestand haben und variabel, rein fachorientiert an Populationsentwicklungen und neue Erkenntnislagen angepasst werden können ohne verwaltungsrechtlichen Erfor­ dernissen zu unterliegen. Die Genehmigungsverfahren werden von Zeit-, Kos­ ten- und Prüfaufwand entlastet und die Ressourcen unmittelbar in fachliche und programmatische Maßnahmen umgelenkt. Im Ergebnis kann so  – eine sachgerechte Umsetzung vorausgesetzt – ein effektiverer und zugleich effizien­ terer Artenschutz realisiert werden. Derzeit (Stand Ende Dezember 2022) liegen zwei Entwurfsfassungen der RED  IV vom EU-Parlament 39 und vom Rat der EU40 vor, die im weiteren Rechts­setzungsprozess noch zu einer abschließenden Fassung geeint werden und danach in deutsches Recht umgesetzt werden müssen. Beide Entwürfe sind im Wesentlichen identisch und enthalten das oben dargestellte Konzept. Im De­ tail gibt es jedoch Abweichungen zwischen beiden Fassungen, die gerade für die Verwaltungspraxis sehr relevant sein können. So sehen beide Entwurfsfassungen vor, dass auch bereits existierende planeri­ sche Ausweisungen als go-to-Gebiete (bzw. Beschleunigungsgebiete) einge­ stuft werden können. Das Parlament fordert hierzu, dass die Pläne die o. g. An­ forderungen vollumfänglich erfüllen müssen, während der Rat die Durchfüh­ rung einer strategischen Umweltprüfung auf Planebene und den Ausschluss der o. g. geschützten bzw. sensiblen Gebiete ausreichen lässt und mit einer Maßnah­ menfestlegung auf Genehmigungsebene oder Zahlung eines finanziellen Bei­ trags in ein Artenhilfsprogramm verbindet. In Deutschland erfüllen (derzeit) die bestehenden planerischen Ausweisungen die Anforderungen des Rates, aber nicht die des Parlaments, da das deutsche Recht bisher keine Festlegung von Artenschutzmaßnahmen in Bauleit- oder Regionalplänen vorsieht. Bestehende Pläne können also nur dann zu go-to-Gebieten erklärt werden, wenn sich die Regelungsvariante des Rates durchsetzt oder im Zuge der nun bundesweit an­ laufenden Planverfahren zur Erfüllung der Flächenziele des WindBG bereits jetzt im Vorgriff auf die kommende RED IV entsprechende Prüfungen und Re­ gelungen zum Artenschutz auf Planebene durchgeführt werden. Auf der Genehmigungsebene sehen beide Entwurfsfassungen eine Kontroll­ prüfung vor, ob auf Grund der ökologischen Empfindlichkeit des Gebiets ­(unvorhergesehene) nachteilige Auswirkungen gegeben sind, die im Plan nicht 39 Europäisches Parlament, angenommener Text Stand 14.12.2022, Dokument P9_ TA(2022)0441, https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2022-0441_DE.pdf, zuletzt abgerufen am 19.02.2023. 40  Rat der Europäischen Union, Dokument 16240/22, Stand 21.12.2022, https://data.consi lium.europa.eu/doc/document/ST-16240-2022-INIT/de/pdf, zuletzt abgerufen am 19.02.­2023.

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ermittelt wurden und die nicht durch die im Plan definierten oder vom Antrag­ steller vorgesehenen Maßnahmen gemindert werden. Prüfumfang und -tiefe sowie Entscheidungsmaßstäbe sind allerdings viel zu unpräzise, um den Ge­ nehmigungsbehörden eine klare Prüfanleitung zu geben: Soll es um die im re­ gulären Recht übliche tiefere, konkretere Prüfung auf Genehmigungsebene, um eine Richtigkeitsüberprüfung des Plans oder um eine Aktualitätsprüfung auf veränderte Umstände wie z. B. veränderte Artvorkommen gehen? Reicht eine Prüfung auf Basis vorhandener Daten aus oder müssen Daten erhoben und Un­ tersuchungen durchgeführt werden? In dieser allgemeinen Formulierung hat die Kontrollprüfung also das Potenzial zur umfassenden Konterkarierung der Grundannahme der Art.  15c, Art.  16a Abs.  3 des RED IV-Entwurfs, dass plan­ konforme Projekte keinen Verbotsverstoß darstellen und die Maßnahmen des Plans ausreichen, und der damit beabsichtigten Verfahrenserleichterung. Eine Präzisierung des Gewollten auf EU-Ebene oder zumindest bei der Umsetzung in deutsches Recht ist daher zwingend erforderlich, um die angestrebte Be­ schleunigung von Genehmigungsverfahren bei gleichzeitiger Rechtssicherheit tatsächlich zu erreichen. Hinzu kommt, dass bei der Erklärung von bestehen­ den Plänen ohne Maßnahmenfestlegung zu go-to-Gebieten, wie es der Rat vor­ sieht, eine Kontrollprüfung keinen Sinn macht, da sowieso (erst) auf Genehmi­ gungsebene über die durchzuführenden Maßnahmen entschieden wird. Infolge einer etwaigen Feststellung unvorhergesehener negativer Auswirkun­ gen soll eine UVP und ggf. eine FFH-Verträglichkeitsprüfung durchgeführt werden; unklar ist hingegen, ob auch eine vertiefte Artenschutzprüfung im Sin­ ne des deutschen Rechts erforderlich wird, da diese in den Entwurfsdokumen­ ten der EU nicht explizit genannt wird und offen ist, ob damit eine Arten­ schutzprüfung stets unterbleiben soll oder nur keine Nennung erfolgt, da das Europarecht den Begriff einer Artenschutzprüfung nicht kennt oder eine ­entsprechende Prüfung als inhaltlich von der UVP umfasst ansieht. Jedenfalls könnte bei der Durchführung einer vertieften Artenschutzprüfung kein stren­ geres Anforderungsniveau als bei der Prüfung auf der Planebene gelten, um ­innere Wertungs- und Regelungswidersprüche zu vermeiden. Da auf Plan­ebene in den Fällen, in denen sich nachteilige Auswirkungen nicht vollum­ fänglich vermeiden lassen, eine Verminderung ausreicht, müsste dies also auch bei Durchführung einer ggf. im Einzelfall durchzuführenden Artenschutz­ prüfung auf Genehmigungsebene gelten, so dass jedenfalls auch hier keine ­artenschutzrechtliche Ausnahmeprüfung erforderlich wird und keine Versa­ gung des Projektes zulässig ist. Die Entwurfsfassung des Rates enthält eine Freistellungsklausel von dieser auf Grund der Kontrollprüfung ggf. im Einzel­ fall erfor­­der­lichen UVP, FFH-Verträglichkeits- und Artenschutzprüfung und sieht statt­­dessen wiederum die Festlegung von (zusätzlichen) Minderungsmaß­ nahmen oder aber die Zahlung eines finanziellen Ausgleichs in Artenhilfspro­ gramme vor.

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Da das Anforderungsniveau aus Gründen der Gleichbehandlung nicht davon abhängig sein kann, ob die Maßnahmen auf Planebene oder bei bestehenden Plänen auf Genehmigungsebene oder auf Grund einer anlässlich einer Kon­ trollprüfung durchgeführten Nachprüfung bestimmt werden, muss die RED IV im weiteren Verlauf des Rechtsetzungsverfahrens also hierzu noch einmal zu einem klaren und schlüssigen Konzept präzisiert werden. Gleiches gilt hinsicht­ lich des anzuwendenden Maßstabes der Verhältnismäßigkeit: Während in der Entwurfsfassung des Parlaments nur (selbstverständlich) von „geeigneten“ Maßnahmen gesprochen wird, gibt es in der Entwurfsvariante des Rates den Zusatz von „angemessen und zeitgerecht“ sowie im Falle der Maßnahmenfest­ legung auf Genehmigungsebene „angemessen und verhältnismäßig“ und bei der Freistellung von der Kontrollprüfung „verhältnismäßig“. Auch hier ist also noch die Klarstellung des Gewollten und die Gewährleistung eines konsisten­ ten Regelungsgefüges erforderlich. Der Entwurf der RED IV-Novelle enthält in Art.  16b darüber hinaus auch eine Regelung der Artenschutzprüfung außerhalb von go-to-Gebieten (bzw. Beschleunigungsgebieten). Außerhalb dieser Gebiete gelten eventuelle Tötun­ gen und Störungen nicht als absichtlich, wenn erforderliche (Fassung EU-Par­ lament) bzw. geeignete (Fassung Rat der EU) Minderungsmaßnahmen durch­ geführt werden. Diese Regelung entspricht im Ergebnis dem deutschen Signi­ fikanzansatz bzw. der in Bezug auf alle Verbotsarten eröffneten Möglichkeit, einen Verbotseintritt durch artenschutzfachliche Maßnahmen zu vermeiden. Die Umsetzung dieser Regelung erfordert allerdings die formale Wiedereinfüh­ rung der Absichtlichkeit in §  44 Abs.  1 Nr.  1 und 2 BNatSchG (das Beschädi­ gungsverbot wird nicht von Art.  16c der RED IV erfasst und verbleibt somit unverändert). Problematisch ist die zirkelschlussartige Formulierung, nach der eine absichtliche Verbotsverletzung nicht vorliegt, wenn die „erforderlichen“ Maßnahmen ergriffen werden, aber für die Bestimmung der „erforderlichen“ Maßnahmen nur der Maßstab besteht, dass keine Verbotsverletzung eintreten darf. Hier besteht also Präzisierungsbedarf auf EU-, Bundes- oder Länder­ ebene. Da nur eine „Minderung“, nicht aber eine „Vermeidung“ gefordert ist, dürfte keine Ausnahmeprüfung erforderlich sein, sofern zumindest gewisse Minderungen möglich sind und diese auch umgesetzt werden. In Bezug auf ­Re­powering findet sich die Aussage, dass bei der „Umweltprüfung“ nur Aus­ wir­kungen der Änderungen betrachtet und gemindert werden müssen, wobei auf Grund einer fehlenden Begriffsdefinition und uneinheitlichen Verwendung des Wortes unklar bleibt, ob hiermit lediglich die Umweltverträglichkeits­ prüfung oder aber auch die spezifische, materielle Prüfung der artenschutz­ rechtlichen Verbotstatbestände gemeint ist und wenn ja, ob sich dies nur auf das Tötungs- und Störungsverbot (auf das sich Art.  16b ansonsten beschränkt) oder auch auf das Beschädigungsverbot bezieht. Auch hier besteht also noch Präzi­ sierungsbedarf.

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Der Rechtssetzungsprozess der RED IV wird noch eine gewisse Zeit in An­ spruch nehmen und die letztendliche Fassung ist derzeit im Detail noch nicht genau absehbar. Ein Inkrafttreten wird im Laufe des Jahres 2024 erwartet.

IV. Art.  6 der EU-NotfallVO und seine Umsetzung durch §  6 WindBG-E Zur Überbrückung des Zeitraums bis zur RED IV-Novelle und zur sofortigen, besonderen Beschleunigung von Genehmigungsverfahren für Windenergie­ anlagen (und andere Erneuerbare-Energie-Anlagen) hat die EU eine Notfallver­ ordnung (auch Dringlichkeitsverordnung genannt) erlassen, die zum 30.12.2022 in Kraft getreten ist und 18 Monate gelten soll (Verordnung 2022/2577/EU). Art.  6 dieser Verordnung enthält eine weitergehend simplifizierte Version des oben dargestellten Konzeptes der „go-to-Gebiete“. Zur Umsetzung von Art.  6 der VO 2022/2577/EU in deutsches Recht liegt bereits ein Formulierungsent­ wurf in Form eines §  6 WindBG-E vor,41 der in das laufende Gesetzgebungsver­ fahren zur ROG-Änderung eingebracht werden und voraussichtlich Anfang April in Kraft treten soll. Die Sonderregelung des §  6 WindBG-E ist ab dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens (also voraussichtlich Anfang April) anzuwen­ den. Sie greift dann verpflichtend für alle Anträge in planerisch ausgewiesenen Windenergiegebieten, die seit dem Inkrafttreten der EU-NotfallVO (d. h. dem 30.12.2022) gestellt wurden und bis zum 29.06.2024 gestellt werden. Bereits vor dem 30.12.2022 gestellte Anträge sind nur auf Verlangen des Antragstellers §  6 WindBG-E zu unterwerfen. Für den Ablaufstichtag 29.06.­2024 wird nicht auf die Vollständigkeit des Antrags abgehoben, sondern auf den Nachweis der Ver­ fügbarkeit des Antragsgrundstücks, so dass der zeitliche Geltungsspielraum der EU-NotfallVO maximal ausgedehnt (ggf. sogar überdehnt) wird. Da allerdings geplant ist, dass die EU-NotfallVO nahtlos durch die RED IV-Novelle abgelöst wird oder auch eine Verlängerung der EU-NotfallVO in Erwägung gezogen wird, wird voraussichtlich keine (wesentliche) zeit­liche Lücke entstehen. Aller­ dings ist wie oben dargestellt noch nicht sicher absehbar, inwieweit die RED IV-Regelung von der EU-NotfallVO abweichen wird und welche Auswirkun­ gen dies auf Genehmigungsverfahren haben wird, die nicht mehr in den Gel­ tungszeitraum der EU-NotfallVO fallen. Nach der Sonderreglung des Art.  6 der EU-NotfallVO i. V. m. §  6 WindBG-E entfällt in allen Windenergiegebieten nach §  2 WindBG (also alle planerischen 41  von der Bundesregierung als Kabinettsbeschluss gefasste Formulierungshilfe, https:// www.bmwk.de/Redaktion/DE/Publikationen/Energie/kabinett-beschliesst-beschleuniger-­ fur-wind-und-netzausbau-formulierungshilfe.pdf?__blob=publicationFile&v=8, zuletzt ab­ gerufen am 25.02.2023.

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Ausweisungen für die Windenergie auf Bauleit- und Regional­planungsebene, ob mit Ausschlusswirkung oder ohne), für die im Planverfahren eine SUP durchgeführt wurde (also in Deutschland Pläne ab etwa dem Jahr 2004 als der Umsetzungsfrist der SUP-Richtlinie 2001/42/EG) und die nicht in National­ parks, Natura2000- oder Naturschutzgebieten liegen, das Erfordernis zur Durchführung einer UVP und Artenschutzprüfung. Stattdessen hat die Behör­ de geeignete und verhältnismäßige Maßnahmen anzuordnen, sofern ausrei­ chend räumlich präzise und aktuelle Daten über Vogelvorkommen vorhanden sind. Liegen keine ausreichend räumlich genauen und aktuellen Kartierungs­ daten vor oder sind keine geeigneten und verhältnismäßigen Maßnahmen ver­ fügbar, ist eine Zahlung in Artenhilfsprogramme zu leisten. Klargestellt wird zudem explizit, dass jedenfalls keine Kartierungen und  – auch bei Beschrän­ kung der Maßnahmen auf das zumutbare Maß und bei Übergang von konkre­ ten Maßnahmen zur Artenschutzabgabe  – keine Ausnahmeprüfungen erfor­ derlich sind, so dass auch keine Prüfung auf Alternativlosigkeit und Nicht-­ Verschlechterung des Erhaltungszustandes erforderlich ist. Eine Versagung von Wind­energieanlagen auf Grund des Artenschutzes ist daher im räumlichen und zeitlichen Geltungsbereich der EU-NotfallVO/§  6 WindBG-E nicht möglich, da auch wenn ein Verbotsverstoß feststeht, der nicht mit Maßnahmen vermie­ den werden kann bzw. nicht vermieden wird und für den nach regulärem Recht ggf. keine Ausnahme erteilt werden könnte, nach der europa- und bundesrecht­ lich übereinstimmenden Sonderregelung die Zahlung in ein Artenhilfspro­ gramm ausreicht. Die Zahlungspflicht und die Höhe der Abgabe sind in der BImSchG-­Genehmigung festzusetzen und an den Bund zu leisten. Der Bund besitzt eine Verordnungsermächtigung zur detaillierten Regelung der Arten­ schutzabgabe; bis zum Erlass einer solchen Verordnung bleibt Raum für die Präzisierung durch Länderleitfäden innerhalb des gesetzlich gesteckten Rah­ mens. Eine eventuell fehlerhaft bemessene Artenschutzabgabe dürfte wenig Auswirkungen auf die Rechtssicherheit der erteilten Genehmigung haben, da bereits zweifelhaft ist, ob sie Genehmigungsvoraussetzung oder lediglich Folge der Genehmigungserteilung ist, aber jedenfalls bei einer abweichenden Betrags­ bemessung durch die Gerichte im Klageverfahren jederzeit korrigiert werden kann. Mit dieser Regelung löst der Gesetzgeber den einjährigen Vorlauf für Vogel­ kartierungen sowie ggf. zusätzlicher Wartezeiten auf Grund fehlender Gutach­ terkapazitäten auf. Die materiellen Artenschutzanforderungen entfallen nicht, sondern sie werden auf andere Art und Weise, vergleichbar dem System bei der Eingriffskompensation nach §§  15 ff. BNatSchG als Kombination von projekt­ gebundenen und über Abgabezahlungen unterstützte übergeordnet konzipierte programmatische Maßnahmen erfüllt. Dies wird zu einer kurzfristigen Erhö­ hung des Antragsaufkommens führen und zudem durch die vereinfachten Ent­ scheidungsprozesse die Genehmigungsverfahren beschleunigen. Allerdings ist

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die Prüfung nach §  6 WindBG-E keine eingespielte Verwaltungspraxis, so dass im Folgenden einige erste Hinweise zur Umsetzung in der Praxis skizziert wer­ den. Die Behörde hat geeignete und verhältnismäßige Maßnahmen anzuordnen, sofern ausreichend räumlich präzise und aktuelle Daten vorhanden sind, die eine Bestimmung der erforderlichen Artenschutzmaßnahmen nach dem regulären Beurteilungssystem erlauben. Für betriebsbedingte Auswirkungen ist dazu in Bezug auf das betriebsbedingte Tötungsverbot bei Brutvögeln §  45b Abs.  2–5 BNatSchG anzuwenden, in Bezug auf die anderen betriebsbedingten Verbots­ tatbestände und anderen Tiere auf die einschlägigen Länderleitfäden oder den allgemeinen fachlichen Erkenntnisstand zurückzugreifen. Für diese reguläre abstandsbasierte Bewertung von Vögeln ist daher eine genaue Verortung von Brut- oder Rastplätzen bzw. Fortpflanzungs- und Ruhestätte erforderlich. Eine derartige präzise Datenlage wird für die Projekte gegeben sein, für die bereits eine Kartierung nach regulärem Recht durchgeführt wurde, oder wenn entspre­ chende Daten aus vorlaufenden Projekten oder Planverfahren vorliegen, die noch ausreichend aktuell sind. Der Gesetzgeber erkennt darüber hinaus grund­ sätzlich auch Daten der einschlägigen Fachdatenbanken bei den Naturschutz­ behörden und den Landesumweltämtern, Biologischen Stationen u. ä. qualitäts­ gesicherten Daten als nutzbare Datengrundlagen an. Diese Daten sind allerdings über einen längeren Zeitraum zusammengetragen worden und indizieren meist nur räumlich unpräzise Vorkommen einer bestimmen Art in einem größeren Gebiet wie z. B. einem Messtischblattquadranten. Mit derartig abstrakteren Da­ ten kann also der Abstand zwischen Brut- oder Rastplatz bzw. Fortpflanzungsund Ruhestätte und der geplanten Windenergieanlage nicht genau bestimmt und somit im abstandsbasierten System keine eindeutige Entscheidung über das Er­ fordernis von Maßnahmen getroffen werden, so dass stattdessen unmittelbar zur Entscheidung und Bemessung einer Artenschutzabgabe überzugehen ist – die Gesetzesbegründung stellt explizit klar, dass keine (Nach-)Kartierungen erforderlich sind. Sofern die v.g. Datenquellen im Einzelfall ausreichend präzise und aktuell sind, was insbesondere bei sehr seltenen Arten oder Arten mit hoher regionaler Bedeutung der Fall ist, die behördlich oder durch den ehrenamtlichen Naturschutz systematisch beobachtet und erfasst werden,42 können konkrete Maßnahmenforderungen auf sie gestützt werden. 42  siehe z. B. Ministerium für Energiewende, Landwirtschaft, Umwelt, Natur und Digita­ lisierung/Landesamt für Landwirtschaft, Umwelt und ländliche Räume Schleswig-Holstein, Standardisierung des Vollzugs artenschutzrechtlicher Vorschriften bei der Zulassung von Wind­energieanlagen für ausgewählte Brutvogelarten, Stand: Juni 2021; Landesamt für Um­ welt, Naturschutz und Geologie Mecklenburg-Vorpommern, Artenschutzrechtliche Arbeitsund Beurteilungshilfe für die Errichtung und den Betrieb von Windenergieanlagen  – Teil Vögel, Stand: 01.08.2016; Ministerium für Umwelt, Klima und Energiewirtschaft Baden-­ Württemberg/Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg, Hinweise zur Erfassung und

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In Bezug auf Fledermäuse ist es bereits heute im regulären Bewertungsregime vielfach geübte Praxis, im Rahmen des Genehmigungsverfahrens als worst ­case-Ansatz vom Vorhandensein relevanter Fledermausaktivitäten auszugehen und ohne Vornahme von Kartierungen und Gutachten unmittelbar Abschalt­ zeiten vorzusehen, die dann in den ersten Betriebsjahren durch ein Gondel­ monitoring an das reale Aktivitätsgeschehen angepasst werden. §  6 WindBG-E lehnt sich an dieses Vorgehen an, indem die Behörde unter Heranziehung der vorhandenen Daten darüber entscheidet, ob derartige Abschaltungen indiziert sind. Eine Zwischenstellung nimmt die Prüfung von möglichen baubedingten Ver­ botsverstößen wie z. B. das Abräumen von Nestern von Bodenbrütern oder das Fällen von Horst- oder Quartierbäumen ein, wovon neben Vögeln und Fleder­ mäusen ggf. auch weitere planungsrelevante Arten betroffen sein können. Diese werden einerseits durch die Projektplanung vermieden, indem kleinräumige, wertvolle Habitate nicht überbaut und nach Möglichkeit Gehölzeingriffe ver­ mieden werden. Weitere nicht genau zu verortende und zu prognostizierende Beeinträchtigungen werden auch im regulären Beurteilungssystem zumeist nur an Hand der allgemein auf Basis der einschlägigen Fachdatenbanken erwarteten Artvorkommen abgeschätzt und üblicherweise durch eine ökologische Baube­ gleitung oder Bauzeitbeschränkungen abgedeckt, so dass über diese Maßnah­ men auch im Anwendungsbereich von §  6 WindBG-E in der Regel ausreichend entschieden werden kann – wenn nicht, so ist auch in dieser Hinsicht unmittel­ bar zur Artenschutzabgabe überzugehen. Können also nach den v.g. Maßstäben auf Basis der vorhandenen Daten erfor­ derliche Maßnahmen bestimmt werden, so sind diese in einem zweiten Schritt auf ihre Eignung und Verfügbarkeit zu prüfen. Hierbei gilt wiederum, dass wenn es sich um ein Projekt handelt, dessen Planungsstand nach dem regulären Recht entsprechend fortgeschritten ist, auch bereits nach dem regulären Recht ausgeplante Maßnahmen vorliegen, d. h. geeignet und verfügbar sind. Liegen aus der Projektplanung oder den der Behörde vorliegenden Daten exakte, aktu­ elle Kartierungsdaten vor, aber wurde durch das Windenergieprojekt noch kei­ ne Maßnahmenplanung vorgenommen, können zwar geeignete Maßnahmen bestimmt werden, sofern es sich dabei um Flächenmaßnahmen handelt (also Ablenkflächen, Ersatzhabitate u. ä.), fehlt es aber an der Verfügbarkeit der Flä­ chen und damit der Maßnahmen. Mit Blick auf die Beschleunigung als zentrales Ziel der Regelung ist hier sicherlich nicht die Forderung einer Flächenbeschaf­ fung und Ausplanung von Maßnahmen (die üblicherweise einen mehrmonati­ gen Zeitraum mit anschließenden Abstimmungsprozessen mit ungewissen Er­ folgsaussichten beanspruchen) beabsichtigt. Abschaltungen, ökologische Bau­ Bewertung von Vogelvorkommen bei der Genehmigung von Windenergieanlagen, Stand: 15.02.­­2021.

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begleitung, unattraktive Turmfußgestaltung o. ä. sind hingegen stets verfügbar. Maßnahmen, deren Konzipierung an die exakte räumliche Lage von Brutplät­ zen im Verhältnis zu den Windenergieanlagen gebunden sind – also insbesonde­ re die Anlage von Ablenkflächen in der von den Anlagen abgewandten Rich­ tung – scheiden als „geeignete“ Maßnahme aus, wenn keine ausreichend räum­ lich präzisen Daten vorliegen, was umgekehrt wiederum die o. g. Aussagen zur Eignung verschiedener Datensätze zur Maßnahmenbestimmung bestätigt. Im Ergebnis wird sich also die Maßnahmenfestsetzung nach §  6 WindBG-E weni­ ger auf Flächenmaßnahmen, sondern primär auf betriebliche und organisatori­ sche Maßnahmen fokussieren. Darüber hinaus wird die Anordnung von Maßnahmen unter den Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit gestellt. Für die Frage der Verhältnismäßigkeit etwaiger Maßnahmen kann unmittel­ bar aus dem Gesetzestext heraus der finanzielle Rahmen der ersatzweise zu zahlenden Artenschutzabgabe als Orientierung herangezogen werden, denn unterstellt, die Datenlage ließe keinerlei Maßnahmenanordnung zu, stellt der Rahmen der Artenschutzabgabe das Maß an finanzieller Belastung dar, das der Gesetzgeber als angemessen zur Abdeckung sämtlicher artenschutzrechtlicher Belange ansieht. Die Artenschutzabgabe bemisst sich nach Art, Ausmaß und Schwere der Beeinträchtigungen, insbesondere der Zahl und der Schutzwürdig­ keit der betroffenen Arten, in einem Rahmen von 300–7.000  €/MW∙a. Zur Ab­ schätzung des Ausmaßes der Beeinträchtigung kann auf Daten der o. g. ein­ schlägigen Fachdatenbanken u. ä. qualitätsgesicherte Daten zurückgegriffen werden. Diese Daten sind zwar im Allgemeinen nicht ausreichend räumlich genau und aktuell, um eine Maßnahmenentscheidung und -planung nach dem üblichen abstandsbasiertem System vornehmen zu können (s. o.), sie bieten aber, wie im Entwurf der Gesetzesbegründung angesprochen, ausreichende Hinwei­ se auf das im Gebiet vorhandene Arteninventar und somit eine geeignete Be­ messungsgrundlage für die Artenschutzabgabe. Nach dem Entwurf der Geset­ zesbegründung ist bei nicht vorhandenen Daten – hiermit muss dann folgerich­ tig das Fehlen jeglicher Daten, also sowohl konkreter Kartierungsdaten als auch qualitätsgesicherter Daten in Fachdatenbanken o. ä. gemeint sein – ein Sockel­ betrag im unteren Bereich des v.g. Rahmens anzusetzen. Mit diesem Ansatz regelt der Gesetzgeber die rein rechtliche Frage, zu wessen Lasten ein Informa­ tionsdefizit gehen soll; hier soll demnach der Fall fehlender Daten nicht zu Las­ ten des Betreibers gehen und damit kein worst-case-Ansatz, d. h. keine Arten­ schutzabgabe im oberen Bereich gewählt werden. Der Fall komplett fehlender Daten dürfte auf Grund der flächendeckend vorhandenen o. g. Fachdatenban­ ken in aller Regel nicht auftreten und daher wenig praxisrelevant sein. Für einen Standort mit durchschnittlichem Artvorkommen und durchschnittlichen Aus­ wirkungen ist nach den allgemeinen Regeln für Kostenrahmen ein Wert im mittleren Bereich, d. h. im Bereich 2.533 –4.766  €/MW∙a, zu wählen.

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Die Gesetzesbegründung verweist darüber hinaus auf die Zumutbarkeits­ regelung des §  45b Abs.  6 S.  2 BNatSchG. Somit kommen (im Gegensatz zum sehr engen originären Anwendungsbereich des §  45b Abs.  6 S.  2 BNatSchG) nun ­einerseits die Zweifelsfragen der Zumutbarkeitsregelung (siehe Abschnitt II. 4.) in die relevante, alltägliche Verwaltungspraxis. Andererseits entsteht ein Wer­ tungskonflikt, da die Zumutbarkeitsschwelle erheblich höher liegt als die Ar­ tenschutzabgabe: Für einen nach heutigen Maßstäben unterdurchschnittlich ertragsstarken Windenergieanlagentyp (2500 Volllaststunden am 100  %-Refe­ renzstandort) an einem windschwachen Standort der Güteklasse 50  %, beträgt die – von den Artvorkommen unabhängige, also auch bei unkritischen, ­geringen Artvorkommen anzusetzende – Zumutbarkeitsschwelle von 6  % des jähr­lichen Ertrags beim derzeitigen mengengewichteten Zuschlagswert von 5,88 ct/kWh bereits 6.835  €/MW∙a und entspricht somit der oberen Grenze des Bemessungs­ rahmens der Artenschutzabgabe, die nur bei außergewöhnlich kritischen Art­ vorkommen und besonders umfangreichen und schwerwiegenden Auswirkun­ gen anzusetzen ist. Für ein typisches durchschnittliches Projekt (Wind­energie­ anlagentyp mit 2800 Volllaststunden am 100  %-Referenzstandort, das an einem Standort der Güteklasse 80  % errichtet wird) liegt die Zumutbarkeitsgrenze be­ reits bei 9.167  €/MW∙a und steigt für einen ertragsstarken Windenergieanla­gen­ typ mit 3000 Volllaststunden, der an einem windreichen 100  %-Standort errich­ tet wird, so dass eine Zumutbarkeitsschwelle von 8  % gilt, auf 14.112  €/MW∙a an.43 Nach dem Entwurf der Gesetzesbegründung sind Kosten und Ertragsaus­ fälle, die durch angeordnete Maßnahmen entstehen, auf die Zahlung der Arten­ schutzabgabe anzurechnen. Im Gegensatz zur regulären Anwendung der An­ lage 2 i. V. m. §  45b Abs.  6 BNatSchG, bei der fraglich ist, welche Maßnahmen auf die Zumutbarkeitsschwelle und die Artenschutzabgabe angerechnet werden dürfen, gilt also im Anwendungsbereich der Sonderregelung des §  6 WindBG-E, der ja die gesamte Artenschutzprüfung und somit alle Verbotsarten in Bezug auf alle Tiere sowohl in der Bau- als auch der Betriebsphase umfasst, nun un­ zweifelhaft, dass die Summe aller Artenschutzmaßnahmen auf ihre Verhältnis­ mäßigkeit zu prüfen und ggf. auf die Artenschutzabgabe anzurechnen ist. An­ hand der o. g. beispielhaft berechneten Zahlen wird deutlich, dass jedenfalls bei Ausschöpfen der Zumutbarkeitsgrenze keinerlei Zahlung in das Artenhilfs­ programm mehr erfolgt. Aus dem Regelansatz der Anlage 2 des BNatSchG von 2,5  % Energieertragsverlust für die in §  6 WindBG-E konkret genannte Fleder­ mausabschaltung ergeben sich für die drei o. g. Fallbeispiele Ertragsverluste von 2.848  €/MW∙a, 3.820  €/MW∙a bzw. 4.410  €/MW∙a. D. h. in üblichen Fallgestal­ 43  zu den Zahlen und Berechnungen siehe Agatz, Arbeitshilfe BNatSchG-Änderung 2022, Stand: Februar 2023, veröffentlicht auf www.windenergie-handbuch.de, zuletzt abgerufen am 19.07.2023.

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tungen an Standorten mit durchschnittlichem Arteninventar und somit Bemes­ sung der Artenschutzabgabe im mittleren Bereich des Rahmens wird bereits die Anordnung der Fledermausabschaltung dazu führen, dass keine Zahlung in das Artenhilfsprogramm gefordert werden kann. Standorten mit besonders kriti­ schem Arteninventar kann aber noch durch zusätzliche Zahlungen in die Ar­ tenschutzabgabe Rechnung getragen werden; ebenso liegt es in der Entschei­ dung der Behörde, ob und inwieweit sie eine Fledermausabschaltung am kon­ kreten Standort als prioritär einstuft oder diese gegenüber einem (höheren) Beitrag in die Artenhilfsprogramme zu Gunsten von anderen Arten zurück­ stellt. An den v.g. Beispielzahlen zeigt sich ebenfalls die Inkompatibilität der als Prozentsatz des Ertrags bemessenen Zumutbarkeitsschwelle und des als Geld­ betrag in Bezug auf die installierte Leistung festgelegten Bemessungssatzes der Artenschutzabgabe, denn von dem ertragsarmen Standort könnte nach Abzug der Fledermausabschaltung noch eine höhere Artenschutzabgabe gefordert werden als von dem ertragsstarken Standort. In der Gesetzesbegründung wird hierzu als Korrektiv die Berücksichtigung der Windhöffigkeit des Standortes eingesetzt. Werden eine Fledermausabschaltung und darüber hinaus weitere Maßnah­ men oder aber andere Maßnahmenkombinationen gefordert, müssen diese je­ denfalls unabhängig von der Frage der Artenschutzabgabe am Maßstab der Zu­ mutbarkeitsregelung des §  45b Abs.  6 i. V. m. Anlage 2 des BNatSchG gemessen werden. Die Belastung durch Abschaltung bei landwirtschaftlichen Ereignissen sowie eine phänologiebedingte Abschaltung können nach der in Anlage 2 des BNatSchG vorgesehenen vereinfachten Prüfung, die nach Formel Nr.  2.2 allein auf dem Prozentanteil der Abschaltungsstunden an den Stunden eines Jahres basiert und somit keine Ertragsprognose benötigt, berechnet und ggf. zu dem Verlust von 2,5  % der Fledermausabschaltung addiert werden. Hierbei dürften sich landwirtschaftliche Abschaltungen in der Ackerflur in üblichen Konstel­ lationen auch in Addition zur Fledermausabschaltung als zumutbar erweisen; landwirtschaftliche Abschaltungen im Bereich von Grünland oder mit 28-stün­ diger Abschaltung oder phänologiebedingte Abschaltungen müssen ggf. be­ schränkt werden, um die Grenze von 6  % allein oder in Summe mit einer Fle­ dermausabschaltung einzuhalten. Die erforderliche zeitliche Beschränkung lässt sich leicht mit der Formel der Nr.  2.2 der Anlage 2 des BNatSchG ausrech­ nen. Für Maßnahmen, die sich nicht als Ertragsverlust, sondern als zu erbringende Aufwendung darstellen, sollte (wie üblich bei Verhältnismäßigkeitsprüfungen) zur Vereinfachung und Gleichbehandlung auf standardisierte Beträge zurück­ gegriffen werden, so dass Kostenaufstellungen oder Nachweise des Anlagen­ betreibers entbehrlich sind und es nicht zu verzerrten Entscheidungen durch starke Preisspannen kommt. Für die ökologische Baubegleitung können übliche Stundensätze i. V. m. einer Einschätzung des Stundenaufwandes je nach dem

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geforderten Aufgabenumfang herangezogen werden. Da die Kosten der öko­ logischen Baubegleitung auf den Betriebszeitraum von 20 Jahren umgelegt wer­ den, dürften die Kosten in der Regel (deutlich) unterhalb von 1  % des finan­ ziellen Ertrags liegen, so dass sie ohne nähere Prüfung auch in Ergänzung zu Fledermaus- und (begrenzten, verhältnismäßigen) Vogelabschaltungen als zu­ mutbar eingestuft werden kann. Bei Flächenmaßnahmen kann zur Kosten­ schätzung auf die von der jeweiligen Naturschutzbehörde üblicherweise an­ gesetzten Sätze (€/m²) für Ersatzgeldzahlungen nach §  15 Abs.  6 BNatSchG zurückgegriffen werden. Die nach den Vorgaben der Länderleitfäden oder der Naturschutzbehörden geforderten Flächengrößen und darauf durchzuführen­ den Maßnahmen sowie die Flächenbeschaffungspreise variieren regional sehr stark. Hinzu kommt die Frage, wie viele Anlagen eines Windprojektes das Er­ fordernis einer Flächenmaßnahme auslösen und somit auf wie viele Anlagen die Kosten rechnerisch verteilt werden, denn im abstandsbasierten System unterlie­ gen nur die Anlagen eines Projekts der Maßnahmenpflicht, die die Abstände zu einem konkreten Vogelvorkommen unterschreiten. Wie oben dargestellt, wer­ den Flächenmaßnahmen auf Grund der Kriterien der Geeignetheit und der Ver­ fügbarkeit im Anwendungsbereich des §  6 WindBG-E eher seltener zum Ein­ satz kommen. Nach Abzug der Belastung durch die Fledermausabschaltung verbleibt noch eine zulässige Belastung von 3,5  % des Ertrags, die bei Anord­ nung von Abschaltungen für Vögel sowie ökologischer Baubegleitung in vielen Fällen bereits aufgezehrt sein wird, so dass auch deshalb wenig Raum für Flä­ chenmaßnahmen verbleiben wird – es sein denn, sie werden von der Behörde gegenüber den dann entfallenden Abschaltmaßnahmen priorisiert. Steht in Ein­ zelfällen trotz all dem die Prüfung der Verhältnismäßigkeit von Flächenmaß­ nahmen an, so sollten zunächst die Kosten der Maßnahme bestimmt werden. Können diese Kosten anhand der o. g. typischen Fallbeispiele für ertragsarme bzw. ertragsstarke Projekte schon als eindeutig verhältnismäßig oder aber un­ verhältnismäßig eingestuft werden, erübrigt sich die Forderung einer genauen Ertragsprognose für das konkrete Windenergieprojekt. Mit einem derartig ge­ stuften Vorgehen kann der Aufwand für die Erstellung einer Ertragsprognose und die detaillierte Prüfung nach Anlage 2 auf wenige Fälle beschränkt werden. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass auf Grund der nicht durch­ gehend schlüssig aufeinander abgestimmten rechnerischen Bestimmungen der Zumutbarkeitsgrenze des §  45b Abs.  6 i. V. m. mit Anlage 2 BNatSchG und der Artenschutzabgabe des §  6 WindBG-E sowie der grundsätzlich mit Ertragsund Ertragsausfallprognosen und Kostenschätzungen verbundenen Unsicher­ heiten die zahlenmäßigen Kriterien wie in der klassischen Verhältnismäßigkeits­ prüfung als Orientierung, aber nicht als exakte Berechnung für die geforderte Verhältnismäßigkeitsprüfung angewendet werden sollten. Ein derartiges Vor­ gehen entspricht auch dem Ziel der Sonderregelung des §  6 WindBG-E, die eine vereinfachte, abstrahierte Prüfung ausreichen lässt, um einen Beschleunigungs­

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effekt zu erzielen und sicherlich nicht Aufwand und Diskussionen um Arten­ schutzprüfungen durch Aufwand und Diskussionen um exakte Ertrags­prog­nosen und Kostenrechnungen ersetzen wollte. Ein Maßnahmenpaket aus ­Fledermausabschaltung, ereignis- oder begrenzter phänologiebedingter Ab­ schaltung für Vögel und ökologischer Baubegleitung kann nach den dargestell­ ten Überlegungen in der Regel für einen breiten Bereich der Projekte auch ohne Vorlage einer projektspezifischen Ertragsprognose als verhältnismäßig einge­ stuft werden und deckt wesentliche Aspekte des projektbezogenen Artenschut­ zes ab. An Standorten mit durchschnittlichen Artvorkommen verbleibt dann folgerichtig keine Artenschutzabgabe mehr, während an besonders kritischen Standorten ggf. noch ergänzende Zahlungen möglich sind. Die Behörden haben die Möglichkeit, sowohl bei der summarischen Verhältnismäßigkeitsprüfung verschiedene Maßnahmen untereinander zu gewichten und die wichtigsten und wirksamsten Maßnahmen zu priorisieren als auch zu entscheiden, ob eher pro­ jektbezogene oder programmatische Maßnahmen über die Artenhilfsprogram­ me für die konkret betroffenen Arten effektiver sind. Für die kurzfristige Anwendung kann also aus der Gesetzeslage eine prakti­ kable Vorgehensweise für die Verwaltungspraxis abgeleitet werden. Langfristig wären weitergehend und solide ausgearbeitete Vorschriften durch untergesetz­ liches Regelwerk, für das sowohl in Bezug auf die Zumutbarkeitsregelung als auch die Artenschutzabgabe Verordnungsermächtigungen bestehen, wün­ schenswert und hilfreich, die optimalerweise mit Umsetzung der RED IV als dauerhaftes, konsistentes Regelungsregime fertiggestellt sein sollten.

(Zu) Hohe Energiepreise aus rechtlicher Sicht Zwischen Krise und Industriepolitik Ines Zenke1

I. Einleitung Ende August 2022 erreichte der Großhandelspreis für Erdgas am Terminmarkt mit 337,24  €/MWh seinen vorläufigen Höhepunkt. Obwohl kein Privathaushalt an diesem Tag seine Heizung anmachen musste, sorgten die knappe Versor­ gungslage, der seit dem 24.02.20222 anhaltende Ukraine-Krieg und die wach­ sende Unsicherheit mit Blick auf den kommenden Winter für diesen Höchst­ preis. Weil die Großhandelspreise für Erdgas und Strom miteinander verknüpft sind, trieb der hohe Erdgaspreis auch den Strompreis in die Höhe.3 Der durch­ schnittliche Börsenstrompreis am EPEX-Spotmarkt für Deutschland/Luxem­ burg lag im August 2022 bei 465,18  €/MWh und hatte sich damit gegenüber dem Vorjahr fast verfünffacht. Die Auswirkungen dieser Entwicklung auf die Verbraucherinnen und Ver­ braucher, auf die Wirtschaft mit ihren kleinen, mittleren und großen Unter­ nehmen lagen und liegen auf der Hand. Nach den fast vergessenen Ölpreiskri­ sen der 1970er Jahre sah sich Deutschland wieder in einer Energie(preis)krise, die bis heute fortwirkt. Für die Industrie und damit für die Stabilität der Liefer­ ketten  – hierum soll es in diesem Beitrag gehen  – waren die Entwicklungen höchst herausfordernd. Der Strompreis der Industrie4 lag im Jahr 2012 bei 14,33  ct/kWh und wurde schon damals regelmäßig als nicht wettbewerbsfähig im internationalen Vergleich beklagt. 2023 hatte er sich auf 28,37  ct/kWh nahe­ zu verdoppelt, nachdem er in der Hochphase der Krise (2. Halbjahr 2022) bei dramatischen 53,38  ct/kWh lag.5 1  Ein besonderer Dank für die Unterstützung beim Verfassen dieses Beitrages gilt Frau Hanna Bäuerle, juristische Mitarbeiterin bei BBH. 2  Nunmehr: „Ukraine-Krieg“. 3  Das letzte zur Deckung des Strombedarfs benötigte Kraftwerk bestimmt den Strompreis für alle. Dies war und ist häufig eben ein Gaskraftwerk. 4  Gemeint ist hier der Preis inkl. Abgaben, Umlagen und Netzentgelte für mittelgroße industrielle Verbraucher mit einem Jahresverbrauch zwischen 160.000 und 20  M io. kWh. 5  BDEW, Strompreisanalyse April 2023, v. 25.04.2023, Strompreis in der Industrie, https:// www.bdew.de/service/daten-und-grafiken/bdew-strompreisanalyse/, zuletzt abgerufen am 14.06.2023.

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Die im europäischen und globalen Vergleich seit Jahren sehr hohen deutschen Strompreise6 belasten die energieintensive Industrie, die globale Güter herstellt und sich daher auf dem Weltmarkt messen lassen muss, in besonderem Maße. Für diese wird zunehmend zum Verhängnis, dass es in Deutschland – anders als beispielsweise in Frankreich und Polen7 – keinen speziellen Industriestrompreis gibt. Entlastungen für Industriekunden können nur dezentral über Netzent­ geltreduzierungen, 8 Steuererleichterungen9 und besondere Ausgleichsmecha­ nismen10 realisiert werden. Bereits im Bundestagswahlkampf 2021 erklärte der heutige Bundeskanzler Olaf Scholz einen Industriestrompreis von (damals noch denkbaren) 4  ct/kWh zum Ziel. Angesichts der Tatsache, dass nicht nur die „klassische“ energieintensive Industrie (z.B. Chemie-, Stahl-, Metall-, Glasoder Papierindustrie), sondern auch die sog. „Zukunftsindustrien“ (u.a. Batte­ riefabriken, PV-Produktion, Werke zur Halbleiterfertigung) sehr viel Energie benötigen, gewinnt die Diskussion aktuell an Fahrt.11 Um die Diskussion und die mögliche Wirkweise eines etwaigen Industrie­ strompreises zu verstehen und besser beurteilen zu können, wird im Folgenden zunächst die Zusammensetzung des Strompreises für Industriekunden aufge­ zeigt, wobei auch die bereits vorhandenen Entlastungsmöglichkeiten enthalten sind (Punkt II.). Danach wird ein Vergleich zu einer anderen Energie(preis)­ krise, der sog. ersten Ölpreiskrise 1973/1974 gezogen, um die Reaktionsmög­ lichkeiten in der aktuellen Krise einordnen und kalkulieren zu können. Dabei werden auch die heutigen europarechtlichen Grenzen für verschiedene staat­ liche Reaktionen herausgearbeitet (Punkt III.). Abschließend wird der Stand der Debatte um einen deutschen Industriestrompreis angesprochen und diese in den Kontext des diskutierten neuen europäischen Strommarktdesigns gestellt (Punkt IV.).

6 So lag der Strompreis für deutsche Industriekunden mit einem jährlichen Stromver­ brauch zwischen 500 MWh und 2.000 MWh im Jahr 2021 bei 18,13  ct/kWh. Bei einer Jahres­ verbrauchsmenge zwischen 20.000 MWh und 70.000 MWh betrug er 12,67  ct/kWh. In Frank­ reich dagegen lag er bei Industriekunden mit der gleichen Verbrauchsmenge bei 10,42 bzw. 7,47  ct/kWh. Statista, Wichtigste Länder Europas nach Höhe des Strompreises für die Indus­ trie im Jahr 2021 v. 12.05.2022, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/7086/umfrage/ strompreise-pro-100-kwh-in-europa-in-2007/, zuletzt abgerufen am 14.06.2023. 7  Frankreich z.B. hat den auf 4,2  ct/kWh fixierten (ARENH-) Stromtarif für bestimmte große Abnehmer. Insgesamt Husmann/Schröter, Für die Unternehmer fangen die Probleme jetzt erst an, WiWo v. 28.09.2022, https://www.wiwo.de/my/unternehmen/energie/forderung-­ nach-industriestrompreis-wird-lauter-fuer-die-unternehmer-fangen-die-probleme-jetzt-­ erst-­an/28709110.html, zuletzt abgerufen am 14.06.2023. 8  Näher unter II.2. 9  Näher unter II.3. 10  Näher unter II.3. 11  Näher unter IV.

(Zu) Hohe Energiepreise aus rechtlicher Sicht

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II. Warum liegen die deutschen Strompreise für die Industrie im internationalen Vergleich so hoch? Wie bei dem Strompreis für Haushalte,12 lassen sich auch die Bestandteile des Strompreises für die Industrie in drei Kategorien zusammenfassen, die sich in der Momentaufnahme Juni 202113 wie folgt gewichteten: Beschaffung und Ver­ trieb (24,2  %), Netzentgelte und Messstellenbetrieb (24,4  %) und staatliche Komponente (51,4  %).

1. Beschaffung und Vertrieb Die erste Komponente betrifft den Teil, den der Stromlieferant unter der Über­ schrift „Beschaffung und Vertrieb“ abbildet. Hier schlägt das Strommarkt­ design durch, das in seiner jetzigen Ausgestaltung dramatisch die im letzten Jahr überhitzten Großhandelspreise („Commoditypreise“) für Erdgas und da­ mit die Abhängigkeit der deutschen Energieversorgung von billigen russischen Erd­gasimporten14 nebst der Drosselung/Einstellung15 russischer Erdgasliefe­ rungen in Folge des Ukraine-Kriegs abbildete.16 Nach dem heutigen Strommarktdesign wirken sich steigende Commodity­ preise für Erdgas unmittelbar auf die Bildung des Commoditypreises für Strom am Spotmarkt aus:17 Jede erzeugte Kilowattstunde (kWh) wird unabhängig von 12 Dazu

Zenke, EurUP 2023, 208. E.ON, Wie setzt sich der Strompreis für Unternehmen zusammen, https://www.eon.de/ de/gk/energiewissen/strompreiszusammensetzung.html, zuletzt abgerufen am 12.05.2023. 14  Deutschland importierte 2020 insgesamt allein rd. 56,3  M rd. m 3 Erdgas aus Russland, also mehr als die Hälfte seines Bedarfes i.H.v. rd. 87  Mrd. m 3 (2020), vgl. Statista, Umfang der russischen Erdgaslieferungen nach Europa im Jahr 2020, v. 02.03.2023, https://de.statista. com/statistik/daten/studie/297612/umfrage/umfang-der-russischen-erdgaslieferungen-­nach-­ europa/, zuletzt abgerufen am 14.06.2023; Statista, Erdgasverbrauch in Deutschland in den Jahren 1980 bis 2021, v. 02.03.2023, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/41033/umfra ge/deutschland-erdgasverbrauch-in-milliarden-kubikmeter/, zuletzt abgerufen am 14.06.­2023. 15  Die Drosselung der Leistung an der Gas-Pipeline Nord Stream 1 im Juni, ihre Wartung im Juli und die Stilllegung im August sowie die Explosionen an den Nord Stream Pipelines 1 und 2 wirkten sich 2022 direkt auf den Gasgroßhandelspreis aus. Der THE Day Ahead ­k letterte von 89,6  €/MWh (23.02.2022) auf 126,67  €/MWh (24.02.2022) und kurz darauf (07.03.­2022) auf 219,47  €/MWh, vgl. Koberstein, Waffe Gas: Wie Moskaus Angriff 2021 be­ gann, ZDF heute v. 6.03.2023, https://www.zdf.de/nachrichten/wirtschaft/gas-waffe-russ land-­ukraine-krieg-100.html, zuletzt abgerufen am 14.06.2023; BNetzA, Gasversorgung  – Aktuelle Lage Gasversorgung, v. 13.12.2022, https://www.bundesnetzagentur.de/DE/Gas versorgung/aktuelle_gasversorgung/start.html, zuletzt abgerufen am 14.06.2023. 16  BNetzA/BKartA, Monitoringbericht 2022, v. 30.11.2022, 12. 17  Auch wenn mittlerweile aus Erneuerbaren Energien günstig erzeugter Strom rund 40  % (2021) ausmacht. BDEW, Die Energieversorgung 2022 – Jahresbericht, v. 20.12.2022, 21. Der Rest verteilt sich z.B. auf Kohlestrom oder auf Strom aus Gaskraftwerken. 13 

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ihrer Erzeugungsbasis und der Art ihres Verkaufes am Preis des Marktplatzes gemessen. Dieser ergibt sich nach Eingang aller Angebote und Nachfragen an der Schnittstelle von Angebots- und Nachfragekurve.18 Nach diesem sog. Me­ rit-Order-Prinzip mit Markträumungspreis (Market-Clearing-Preis) bestimmt das letzte, noch zur Bedarfsdeckung benötigte Kraftwerk (Grenzkraftwerk) den für alle berücksichtigten Bieter und Nachfragen einheitlichen Marktpreis (uniform pricing).19 Dieses ist  – nachdem die Kraftwerke mit preisgünstiger Stromproduktion nach der Einsatzreihenfolge des Merit-Order-Systems20 als erstes zugeschaltet werden 21 – heute i.d.R. ein Gaskraftwerk. Steigende Erdgas­ preise gehen daher mit steigenden Commoditypreisen an den Börsen einher und somit (wenn auch verzögert) mit wachsenden Beschaffungskosten der Lie­ feranten und dann Endverbraucherpreisen.22 Hinzu kommt zudem Folgendes: Solange ein fossiles Kraftwerk den Market-­ Clearing-Price vorgibt, sind in diesem auch die Kosten der für die Stromerzeu­ gung in diesem Kraftwerk notwendigen CO2-Zertifikate enthalten. Schon lange vor den seit 2021 deutlich gestiegenen CO2-Preisen wurde in Deutschland poli­ tisch 23 und rechtlich 24 über das Einpreisen von CO2-Zertifikaten durch Energie­ versorgungsunternehmen gestritten. Gerade zu Beginn des Zertifikatehandels – als für Stromerzeugung noch kostenlose CO2-Zertifikate zugeteilt wurden  – wurde dies von einigen für falsch gehalten und als Treiber der damals schon steigenden Energiepreise gesehen.25 Während sich das Problem des Einpreisens kostenloser Zertifikate dadurch gelöst hat, dass es für die Stromerzeuger keine kostenlose Zuteilung mehr gibt, bleibt die Hebelwirkung, die die CO2-Preise für den Strompreis haben, so lange noch bestehen, wie fossile Kraftwerke in einer relevanten Anzahl von Stunden das preissetzende Kraftwerk sind.

18 

Puffe, in: Zenke/Wollschläger/Eder (Hrsg.), Energiepreise, 2021, Kap.  2, Rn.  38. Puffe, (Fn.  18), Kap.  2 Rn.  39; Glattfeld, EnK-Aktuell 2022, 01050. 20  Schröder, Der deutsche Strommarkt in schweren Zeiten: Ist die Merit-Order Fluch oder Segen, pv magazine Deutschland v. 02.09.2022, https://www.pv-magazine.de/2022/09/02/derdeutsche-strommarkt-in-schweren-zeiten-ist-die-merit-order-fluch-oder-segen/, zuletzt ab­ gerufen am 14.06.2023. 21  Glattfeld, EnK-Aktuell 2022, 01050. 22  Zum Zusammenhang von Großhandelspreis und Beschaffungskosten im Detail Zenke, EurUP 2023, 208. 23 Näher Zenke/Vollmer, in: Theobald/Kühling (Hrsg.), Energierecht, 2022, Emissions­ handel, Rn.  148. 24  Ein gegen die Einpreisung gerichtetes Verfahren vor dem BKartA endete mit einem Ver­ gleich, BKartA, Beschl. v. 26.09.2007 – B8-88/05-2. Näher dazu Frondel/Schmidt, CO2-Emis­ sionshandel: Auswirkungen auf Strompreise und energieintensive Industrien, RWI Positio­ nen v. 05.09.2008, https://www.econstor.eu/bitstream/10419/52546/1/666558469.pdf, zuletzt abgerufen am 14.06.2023. 25 Näher Zenke/Vollmer, in: Theobald/Kühling (Hrsg.), Energierecht, 2022, Emissions­ handel, Rn.  131. 19 

(Zu) Hohe Energiepreise aus rechtlicher Sicht

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2. Netzentgelte Einen weiteren Bestandteil des Strompreises machen die Netzentgelte aus. Sie sind im vergangenen Jahr für Industriekunden im arithmetischen Mittel gegen­ über dem Vorjahr um rund 11  % auf 2,96  ct/kWh gestiegen.26 Die Netzentgelte werden wie beim Strompreis für die Haushalte vom Ener­ gielieferanten und Energiekunden nicht beeinflussbar durch den zuständigen Netzbetreiber in einem regulierten Verfahren bestimmt 27 und sind grundsätz­ lich „fix“. Es gibt dabei die Möglichkeit des Netzbetreibers, die Art der Netz­ nutzung zu berücksichtigen, was sich stark entlastend für ein Industrieunter­ nehmen auswirken kann: Zunächst gibt es den Fall einer singulären Netznut­ zung,28 indem der Netznutzer Netzteile exklusiv nutzt und daher „nur“ die Kosten dieser Assets anstelle eines „Durchschnittspreises“ für die ganze Netz­ ebene zahlt. Daneben gibt es die Möglichkeit der Festlegung von individuellen Netzentgelten gemäß §  19 Abs.  2 StromNEV, die abhängig sind von Faktoren wie Jahreshöchstleistung, Benutzungsstundenzahl und Stromverbrauch. Für die energieintensive Industrie ist häufig die Variante §  19 Abs.  2 S.  2 StromNEV relevant, die eine gleichmäßige Abnahme des Kunden verlangt. In diesen Fällen kann das Netzentgelt bis zu 10  %–20  % (je nach Nutzungsverhalten) gesenkt werden, wobei die konkrete Berechnung des Entgelts sich danach richtet, wie weit das nächste Kraftwerk entfernt ist, welches das Band gesichert liefern könnte. Allerdings geht die Nutzung dieses Aspektes mit der Einbuße von ­Flexibilität einher, gerade wenn die Abschaltung einer Anlage „on demand“ genutzt werden könnte.

3. Staatliche Abgaben und Umlagen Zum dritten Kostenblock gehören die staatlichen Abgaben (Stromsteuer, Kon­ zessionsabgabe,29 Umsatzsteuer30) und Umlagen (KWKG-Umlage, §  19-­Strom­­NEV-Umlage, Offshore-Netzumlage, AbLaV-Umlage, EEG-Umlagen). Die absoluten Kosten für diesen Preisbestandteil sind hoch, aber dennoch von 2012 26 

BNetzA/BKartA, Monitoringbericht 2022, v. 30.11.2022, 10. Es wird daher grundsätzlich (insbesondere zur Festsetzung der Höhe der Netzentgelte entsprechend des Systems der sog. Anreizregulierung) auf die Ausführungen in Zenke, ­EurUP 2023, 208 verwiesen. 28 Näher dazu BNetzA/BKartA, Monitoringbericht 2022, v. 30.11.2022, 186  ff., 205 ff. ­sowie beispielweise Hartmann/Voß, in: Theobald/Kühling (Hrsg.), Energierecht, 2022, StromNEV, §  19, Rn.  1 ff. 29 Vertieft Theobald/Templin, in: Theobald/Kühling (Hrsg.), Energierecht, 2022, KAV, §  1, Rn.  9 0–100. 30  Zur temporären Senkung der Umsatzsteuer (auch Mehrwertsteuer) auf Gas und Fern­ wärme unter III.3.c). 27 

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(3,81  ct/kWh) bis heute (1,32  ct/kWh) gesunken,31 was vor allem auf den Wegfall der EEG-Umlage32 zurückzuführen ist. Auch für die staatlichen Umlagen, die Preisbestandteil des Stroms sind, gibt es Entlastungen für die energieintensiven Industrieunternehmen. Bis zum letzten Jahr war die sog. Besondere Ausgleichsregelung (BesAR) die finanziell bedeut­ samste Entlastungskomponente. Sie wirkte auf die EEG-Umlage,33 welche bis zum letzten Jahr die festgelegte Vergütung der Übertragungsnetzbetreiber an die Betreiber von Erneuerbare-Energien-Anlagen finanzierte.34 Über die BesAR konnte für die energieintensive Industrie die Umlage reduziert werden, um sie international wettbewerbsfähig zu halten und damit Abwanderung ins Ausland zu verhindern. Bis Ende letzten Jahres fanden sich die Ausgleichsregelungen zur Begrenzung der EEG-Umlage in den §§   63 ff. Erneuerbare-Energien-­ Gesetz (EEG).35 Über Normverweise (z.B. §  27 KWKG a.F.) fanden sie teilweise auch auf andere Umlagen entsprechend Anwendung. Mit Abschaffung der EEG-Umlage sind die §§  63 ff. EEG a.F. zum 01.01.2023 entfallen. Die Folgeregelung findet sich jetzt im Energiefinanzierungsgesetz (EnFG),36 der Verweis in §  27 KWKG erfolgt seit dem 01.01.2023 dorthin. Das EnFG überführt nicht nur den Regelungsgehalt der §§  63 ff. EEG a.F., sondern passt ihn auch an die neuen Klima-, Umwelt- und Energiebeihilfeleitlinien der Europäischen Kommission37 an.38 In den §§  28 ff. EnFG finden sich nun die wesentlichen Ausgleichsregelungen, die u.a. auch signi­ fikante Anstrengungen in Bezug auf Energieeffizienz und Klimatransformation 31  BDEW, Strompreisanalyse April 2023, v. 25.04.2023, Strompreis in der Industrie, https://­w ww.bdew.de/service/daten-und-grafiken/bdew-strompreisanalyse/, zuletzt abgeru­ fen am 14.06.2023. 32  Letztere machte in der Vergangenheit den größten Anteil dieses Preisbestandteils aus. Zur Absenkung der EEG-Umlage auf null  ct/kWh zum 01.07.2022 unter III.3.c). 33  Zur Absenkung der EEG-Umlage auf null  ct/kWh zum 01.07.2022 unter III.3.c). §  18 ABLaV (VO zu abschaltbaren Lasten v. 16.08.2016 (BGBl. I, 1984), zuletzt geändert durch BGBl. I, 1237), der bislang die ABLaV-Umlage für Vergütungszahlungen der Übertragungs­ netzbetreiber an die Anbieter sog. „Abschaltleistung“ regelt, tritt mit Entfall der ABLaV-Um­ lage zum 01.07.2023 ebenfalls außer Kraft. 34  Die EEG-Finanzierung erfolgt nun aus dem Klima- und Transformationsfonds, BAFA, Besondere Ausgleichsregelungen – Überblick, https://www.bafa.de/DE/Energie/Besondere_ Ausgleichsregelung/Ueberblick/ueberblick.html, zuletzt abgerufen am 14.06.2023. 35  Gesetz für den Ausbau erneuerbarer Energien (Erneuerbare-Energien-Gesetz  – EEG 2023) v. 21.06.2014 (BGBl. I, 1066), zuletzt geändert durch Art.  6 G zur sofortigen Verbes­ serung der Rahmenbedingungen für die erneuerbaren Energien im Städtebaurecht vom 04.01.­2023 (BGBl. I Nr.  6). 36  Gesetz zur Finanzierung der Energiewende im Stromsektor durch Zahlungen des Bun­ des und Erhebung von Umlagen (Energiefinanzierungsgesetz – EnFG) v. 20.07.2022, zuletzt geändert durch BGBl. I S.  2512. Im Regierungsentwurf wurde dieses Gesetz noch als Gesetz zur Finanzierung der Energiewende im Stromsektor durch Bundeszuschuss und Umlagen (Energie-Umlagen-Gesetz – EnUG) bezeichnet, BR-Drs. 162/22, S.  58. 37  Dazu im Detail unter III.4. 38  BAFA, Besondere Ausgleichsregelungen – Überblick, https://www.bafa.de/DE/Energie/­ Besondere_Ausgleichsregelung/Ueberblick/ueberblick.html, zuletzt abgerufen am 14.06.­2023.

(Zu) Hohe Energiepreise aus rechtlicher Sicht

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auf der Seite der Unternehmen vorsehen. Und auch der neue Vorschlag in Sachen Industriestrompreis (unter IV.) referenziert auf die BesAR-Unternehmen. Ein weiteres Entlastungsbeispiel betrifft die 1999 eingeführte Stromsteuer,39 die in eng begrenzten Fällen Steuer­befreiungen, -ermäßigungen sowie -entlastungen gem. §§  9 ff. StromStG40 vorsieht.41 Auch diese sind im Regelfall mit Anforderungen an einen effizienten und kontrollierten Umgang mit der Energie gebunden.

4. Zwischenfazit Stromkunden und insbesondere energieintensive Unternehmen sind durch die hohen Strompreise bereits relativ stark belastet. Schon vor der Energiekrise in­ folge des Ukraine-Krieges wurde zwar versucht, Industriekunden u.a. mittels BesAR und reduzierten Netzentgelten zu entlasten. Diese Entlastungsmaßnah­ men wirken allerdings nicht auf die Preiskomponente „Handel und Beschaf­ fung“. Als durch die Krise im Jahr 2022 diese Komponente stark anstieg, stießen die dezentralen Entlastungslösungen an ihre Grenzen.

III. Reaktionsmöglichkeiten auf außerordentliche Krisen Das vergangene Jahr hat eindrücklich vor Augen geführt, dass der Stromgroß­ handelspreis – und damit ein wesentlicher Bestandteil des Strompreises – schnell aus dem Gleichgewicht geraten kann.42 Da hierfür kein Schutzmechanismus regulär existiert, kann jede Störung bei besonders preissensitiven (energieinten­ siven) Unternehmen sofort zu einer Schwächung der internationalen Wettbe­ werbsfähigkeit führen. Es soll daher nachstehend auf die staatlichen (außer­ ordentlichen) Krisenmaßnahmen zur Stabilisierung bzw. Senkung der Energie­ preise für die Industrie eingegangen werden.

1. Ukraine-Krieg im Kontext anderer Krisen Ölpreiskrisen, Finanzkrise, Klimakrise, Coronakrise, Ukraine-Krieg – sie ha­ ben Auswirkungen auf die Energiemärkte gehabt. Während die einen Krisen das Angebot verknappen, entlasten andere die Nachfrage. Der Ukraine-Krieg und die damit einhergehende Energiekrise haben einmal mehr gezeigt, dass eine dau­ erhafte, preisgünstige und möglichst krisenfeste Sicherung des Energie­angebots 39 Näher Liebheit, in: Theobald/Kühling (Hrsg.), Energierecht, 2022, Stromsteuergesetz/ Energiesteuergesetz sowie Große, Fn.  20, Kap.  10, Rn.  38–80. 40  Stromsteuergesetz (StromStG) v. 24.03.1999, zuletzt geändert durch BGBl. I S.  2483. 41 Hierzu und insbesondere auch zum sog. Spitzenausgleich nach §§   9b, 10 StromStGB näher de Wyl/Mühe, in: Schneider/Theobald, Recht der Energiewirtschaft, §  24, Rn.  88 ff. 42  Unter II.1.

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von entscheidender Bedeutung ist. Die Geschichte lehrt, dass hierfür auf Diver­ sität sowohl bei Energielieferanten als auch bei Energieträgern zu setzen ist.

2. Erste Ölpreiskrise von 1973/1974 als Vorläufer der heutigen Krise a) Kurze Geschichte Anfang der 1970er Jahre war die deutsche (Energie-)Politik mit der sog. ersten Ölpreiskrise von 1973/1974 konfrontiert. Der Ausbruch des Jom-Kippur-Kriegs zwischen Israel und der Allianz von Ägypten und Syrien im Oktober 197343 löste, wie im vergangenen Jahr auch ein Krieg außerhalb Deutschlands und der EU, eine Energiekrise aus. Wie auch vor dem Ukraine-Krieg44 bestand eine ge­ sicherte und preisgünstige Energieversorgung in Deutschland, welche auf be­ quemen und billigen Energieimporten beruhte. So hatte sich in den 60er Jahren der Mineralölbedarf vervielfacht.45 Der Anteil an (ausländischem) Mi­neralöl am Primärenergieverbrauch lag 1971 bei 54,7  %.46 Diese Importabhängigkeit wur­ de damals wie heute strategisch genutzt, indem Energielieferstopps als Waffe eingesetzt wurden, sodass es zum Anstieg der Energiepreise47 und zu Engpäs­ sen in der Versorgung kam. Auch wenn die Importabhängigkeit in der aktuellen Krise allein schon wegen des gestiegenen Energiebedarfs48 noch stärker war49 und nach wie vor ist, weni­ 43  Die Westmächte unterstützten Israel. Die OAPEC (Organisation der arabischen Erdöl exportierenden Staaten) reagierte hierauf mit starker Drosselung, was zu einem rapiden An­ stieg der Ölpreise und Engpässen in der Versorgung führte. Gerber, 1973/1979: Die Ölpreis­ krisen – Ende der billigen Verfügbarkeit von Energie, in: Lexikon des Hauses der Geschichte Österreichs, https://hdgoe.at/oelpreiskrisen, zuletzt abgerufen am 14.06.2023. 44  Unter II.1. 45  Bundesregierung, Die Energiepolitik der Bundesregierung, Unterrichtung v. 03.10.1973, BT-Drs. 7/1057, S.  20. 46  Bundesregierung, Die Energiepolitik der Bundesregierung, Unterrichtung v. 03.10.1973, BT-Drs. 7/1057, S.  21. Näher hierzu und zur Ölpreiskrise 1973/1974 generell Sinder/Wiertz, NVwZ 2023, 552 (553 ff.). 47  Lag der Preis für Importrohöl in Deutschland je Tonne Steinkohleeinheit (SKE) 1972 noch bei umgerechnet 26  € betrug er 1974 bereits 79  €: Statista, Entwicklung des Preises für importiertes Rohöl in Deutschland in den Jahren 1970 bis 2021, v. 03.03.2023, https://de.­ statista.com/statistik/daten/studie/163032/umfrage/entwicklung-des-preises-fuer-import rohoel-seit-1970/, zuletzt abgerufen am 14.06.2023. 48  Lag die Stromabsatzmenge an Letztverbraucher in Deutschland im Jahr 1976 noch bei 244 TWh, hatte sie sich bis zum Jahr 2021 mit 419 TWh fast verdoppelt: Statista, Stromabsatz­ menge an Letztverbraucher in Deutschland in den Jahren 1976 bis 2021, v. 14.04.2023, https:// de.statista.com/statistik/daten/studie/7024/umfrage/entwicklung-der-stromabsatzmenge-­ seit-1972/, zuletzt abgerufen am 14.06.2023. Der Erdgasverbrauch in Deutschland ist von 61,1  Mrd. m 3 im Jahr 1980 auf 90,5  Mrd. m 3 im Jahr 2021 angestiegen: Statista, Erdgasver­ brauch in Deutschland in den Jahren von 1980 bis 2021, v. 02.03.2023, https://de.statista.com/ statistik/daten/studie/41033/umfrage/deutschland-erdgasverbrauch-in-milliarden-kubik meter/, zuletzt abgerufen am 14.06.2023. 49  Anfang der 1970er Jahre wurden rund 55  % des Energiebedarfs mit importiertem Mine­

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ger Potenzial bei der bereits verbesserten Energieeffizienz50 besteht und der Ukraine-Krieg auf bereits angespannte Energiemärkte traf (u.a. aufgrund der vorzeitigen Stilllegung konventioneller Stromerzeugungskapazitäten51 und ­eines sprunghaften Nachfrageanstiegs nach Lockerung der coronabedingten Einschränkungen 52), lohnt sich trotz dieser Unterschiede ein Vergleich. Denn viele der damals aufgeworfenen Fragen sind mit dem Ukraine-Krieg erneut auf­ gekommen, sodass ein Blick auf die Ölpreiskrise von 1973/1974 dabei helfen kann, gegenwärtige Entscheidungen besser zu kalkulieren. b) Damalige Maßnahmen Im Rahmen der Ölkrise von 1973/1974 wurden sowohl auf europäischer Ebene als auch auf nationaler Ebene unterschiedliche Maßnahmen erlassen. So enthielt die Verlautbarung der Konferenz der Staats- und Regierungschefs der EG in Kopenhagen vom 14. und 15.12.1973 ein entsprechendes Gesamtprogramm.53 Auch wenn dieses bei Weitem nicht so umfassend wie der aktuelle REPowerEU-­ Plan 54 war, ermächtigte es dennoch umfassend die Kommission.55 Auf nationaler Ebene wurden kurzfristige, mittelfristige sowie langfristige Maßnahmen ergriffen. Kurzfristig sollte durch verschiedene Maßnahmen die Energieversorgung gesichert und Energie eingespart werden. So wurde inner­ halb von nur zwei Tagen das erste Energiesicherungsgesetz (EnSiG 1973)56 ver­ ralöl gedeckt (BT-Drs. 7/1057, S.  21). Im Jahr 2021 stammten zeitweise knapp 45  % der deut­ schen Erdgasimporte allein aus Russland (Statista, Russischer Anteil an deutschen Erdgasim­ porten bis August 2022, v. 25.04.2023, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1341472/ umfrage/russischer-anteil-an-deutschen-erdgasimporten/, zuletzt abgerufen am 15.06.2023). Dazu kommen weitere deutsche Energieimporte aus Russland (insbesondere gut 50  % der deutschen Steinkohleimporte im Jahr 2021, Statista, Steinkohleimportmenge Deutschlands nach Herkunftsländern 2021, v. 19.05.2023, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/134 2435/umfrage/steinkohleimportmenge-von-deutschland-nach-laendern/, zuletzt abgerufen am 15.06.2023). 50  Statista, Energieeffizienz – Energieintensität der Haushalte in Deutschland bis 2021, v. 14.04.2023, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/454402/umfrage/energieeffizienzder-­haushalte-in-deutschland/, zuletzt aberufen am 14.06.2023. 51  BNetzA/BKartA, Monitoringbericht 2022, v. 30.11.2022, S.  4. 52  Martin, EnK-Aktuell 2022, 01053. 53  Köhler, Europa im Bann der Ölpreiskrise 1973/74 Energie-, Sicherheits- und Einigungs­ politik im Spannungsfeld, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2016, https://www.eu ropa.clio-online.de/essay/id/fdae-1675, zuletzt abgerufen am 14.06.2023. 54  Beim REPowerEU handelt es sich um einen umfassenden Plan zur raschen Verringe­ rung der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen aus Russland (z.B. durch Energieeinsparun­ gen und einen beschleunigten Ausbau der Erneuerbaren Energien). Näher unter https:// www.consilium.europa.eu/de/policies/eu-recovery-plan/repowereu/, zuletzt abgerufen am 19.05.2023. 55  Köhler, Europa im Bann der Ölpreiskrise 1973/74 Energie-, Sicherheits- und Einigungs­ politik im Spannungsfeld, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2016, https://www.eu­ ropa.clio-online.de/essay/id/fdae-1675, zuletzt abgerufen am 14.06.2023. 56  Gesetz zur Sicherung der Energieversorgung bei Gefährdung oder Störung der Einfuh­ ren von Mineralöl oder Erdgas (EnSiG) v. 09.01.1973, BGBl. I, 1585.

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abschiedet, welches die Verteilung von Ölmengen, eine Verordnungsermächti­ gung der Bundesregierung zur Preisregulierung von fossilen Brennstoffen und Strom sowie Mechanismen für Härtefälle erstmals regelte.57 In der aktuellen Krise wurde das EnSiG zum ersten Mal seit Langem wieder umfassend novel­ liert und auch mehrfach angewandt.58 Im Oktober 1974 wurde darüber hinaus ein erstes Energieprogramm festgelegt.59 Die wohl bekannteste Maßnahme zur Energieeinsparung dürften die sonntäglichen Fahrverbote und Geschwindig­ keitsbegrenzungen gewesen sein. 60 Darüber hinaus wurden die Bürger aufge­ fordert, Heizöl durch Temperaturdrosselung61 sowie generell Energie einzuspa­ ren. 62 Es wurden Energieeffizienzstandards festgelegt63 und Investitio­nen in öffentliche Verkehrsmittel getätigt. 64 Mittel- bis langfristig wurden Maßnahmen ergriffen, welche auf die Nutzung alternativer Energiequellen abzielten. So wurde die Nordseeöl-Förderung aus­ gebaut,65 Forschungsprogramme zur Nutzung erneuerbarer Energien ins Le­ ben gerufen,66 Erdgas67 und Braunkohle68 intensiver genutzt, der deutsche

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Sinder/Wiertz, NVwZ 2023, 552 (553). Dazu unter III.3.b. 59  Bundesregierung, Erste Fortschreibung des Energieprogramms der Bundesregierung, Unterrichtung v. 30.10.1974, BT-Drs. 7/2713. 60  Die entsprechende Verordnungsermächtigung fand sich in §  1 Abs.  3 EnSiG 1973. Von ihr machte die Bundesregierung bereits am im November 1973 mit der VO über Fahrverbote und Geschwindigkeitsbegrenzungen für Motorfahrzeuge v. 19.11.1973 Gebrauch (BGBl. 1973 I, 1676). Näher Sinder/Wiertz, NVwZ 2023, 552 (553 f.). 61  Bundesregierung, Erste Fortschreibung des Energieprogramms der Bundesregierung, Unterrichtung v. 30.10.1997, BT-Drs. 7/2713, 3. 62 Dazu Pehnt, Energieeinsparung und Effizienz  – Die wichtigsten Pfeiler der Energie­ wende, bpb v. 01.03.2013, https://www.bpb.de/themen/wirtschaft/energiepolitik/152893/ energieeinsparung-und-effizienz/, zuletzt abgerufen am 14.06.2023. 63 Ein Meilenstein hierbei war das Gesetz zur Einsparung von Energie in Gebäuden (Energieeinsparungsgesetz – EnEG) v. 22.07.1976 (BGBl. I, 1873), das im Rahmen der zweiten Ölpreiskrise erlassen wurde und erstmals Standards für den Wärmeschutz von Gebäuden festlegte. 64  So wurde mit dem Bundesverkehrswegeplan 1973 der Schienenausbau vorangetrieben, BT-Drs. 7/1045. 65  Röhrlich/Krauter, Ölförderung in der Nordsee – Streit über die Zukunft der Bohrinseln, Dlf v. 09.09.2019, https://www.deutschlandfunk.de/oelfoerderung-in-der-nordsee-streitueber-­die-zukunft-der-100.html, zuletzt abgerufen am 14.06.2023. 66  BMWE, Energieforschungsprogramme der Bundesregierung 1977–2017, Programm v. April 2017, S.  166 f. 67  Seit 1973 importiert Deutschland über Pipelines Erdgas aus Russland. Dazu Pleines, Analyse: Der deutsch-russische Erdgashandel – Die Ursachen der aktuellen Spannungen, bpb v. 30.11.2021, https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-410/344151/analyse-­ der-deutsch-russische-erdgashandel-die-ursachen-der-aktuellen-spannungen/, zuletzt abge­ rufen am 14.06.2023. 68  Lagen die Abraumbewegungen 1970 noch bei 1.047  M io. m 3, betrugen sie 1980 bereits 1.532  M io. m 3 und 1985 sogar 1.860  M io. m 3. Die Kohleförderung hat sich damit trotz schlech­ ter werdendem Abraum-zu-Kohle-Verhältnis von 369  M io. t im Jahr 1973 auf 433  M io. t im 58 

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Steinkohlebergbau erhalten69 sowie die Nutzung der – neuerdings wieder dis­ kutierten – Kernenergie beschleunigt.70 Langfristig kam es als Reaktion auf die Ölpreiskrise zu einer Diversifikation bei der Energieversorgung 71 und der Internationalisierung der Energiepolitik durch Kooperation (z.B. Initiierung des Europäisch-arabischen Dialogs [EAD]72 sowie Gründung der Internationalen Energie-Agentur [IEA]73).

3. Ableitungen für das allgemeine Instrumentarium Es stellt sich die Frage, welche Lehren aus der Ölpreiskrise von 1973/1974 und der jüngsten Energiekrise zu ziehen sind, um künftige Energiekrisen zu verhin­ dern, dauerhaft die Energieversorgung zu sichern und somit bezahlbare sowie wettbewerbsfähige Energiepreise für die deutsche Wirtschaft zu gewährleisten. a) Nachfrage verknappen Sowohl in der aktuellen Energiekrise als auch in der der 1970er Jahre74 wurde und wird nach wie vor versucht, die Nachfrage zu reduzieren. Wurde in den 1970ern geworben – „Müssen Sie eigentlich so lange duschen? Das ist ja Ener­ gieverschwenden“75 –, appellierte der baden-württembergische Ministerpräsi­ dent Winfried Kretschmann im August 2022 für Waschlappen, welche auch eine brauchbare Erfindung seien.76 Neben Waschlappen-Appellen wurden aber auch konkrete gesetzgeberische Maßnahmen getroffen. Als ein Beispiel sei hier auf die auf Grundlage des §  30

Jahr 1985 erhöht: Agora Energiewende, Die deutsche Braunkohlewirtschaft  – Historische Entwicklung, Ressourcen, Technik, wirtschaftliche Strukturen und Umweltauswirkungen, Studie v. Mai 2017, 150). 69 Näher Sinder/Wiertz, NVwZ 2023, 552 (554). 70  Meyer, Kleine Geschichte der Atomkraft-Kontroverse in Deutschland, APuZ v. 20.05.­2021, https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/333362/kleine-geschichte-der-­atom kraft-­kontroverse-in-deutschland/, zuletzt abgerufen am 14.06.2023. 71 Näher Sinder/Wiertz, NVwZ 2023, 552 (554). 72  Grebing/Schöllgen/Winkler, Willy Brandt – Berliner Ausgabe Band 6, Ein Volk der gu­ ten Nachbarn. Außen- und Deutschlandpolitik 1966–1974, 2005, 612. 73  IEA, History – From oil security to steering the world toward secure and sustainable energy transitions, zuletzt aktualisiert am 14.04.2023, https://www.iea.org/about/history, zuletzt abgerufen am 14.06.2023. 74  Unter III.2.b. 75  Rehse-Knauf, Als das Öl knapp wurde – Energiekrise der 70er-Jahre, Dlf v. 07.04.2022, https://www.deutschlandfunk.de/energiekrise-70er-jahre-oelkrise-opec-100.html, zuletzt abgerufen am 14.06.2023. 76  SWR-Redaktion, „Auch der Waschlappen ist eine brauchbare Erfindung“ – Kritik an Kretschmanns Spartipp, Stand vom 28.08.2022, https://www.swr.de/swraktuell/baden-­ wuerttemberg/kretschmann-waschlappen-100.html, zuletzt abgerufen am 14.06.2023.

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EnSiG77 erlassene Verordnung78 mit kurzfristigen Energiesparmaßnahmen (u.a. mit Regelungen zur Senkung der Raumtemperatur) verwiesen. Zur mittel­ fristigen Energieeinsparung wurde eine auf Ende September 2024 befristete weitere Verordnung 79 erlassen. Darüber hinaus verpflichten die Art.  3 ff. EU-­ Notfallmaßnahmenverordnung80 zur Senkung des B ­ ruttostromverbrauchs.81 b) Angebot sichern und ausweiten Das gleiche Ergebnis wie über das Verknappen der Nachfrage kann man auch über das Ausweiten des Angebots erreichen. Auch wenn es angesichts des aktuellen Strommarktdesigns sehr viel Strom aus erneuerbaren Energien bräuchte, damit beispielsweise ein günstiges Wind­ kraftwerk als Grenzkraftwerk den Preis setzt, ist ein gesichertes und ausgewei­ tetes Angebot unerlässlich zur Gewährleistung der Energieversorgung. Bei der Wahl der Energieträger und Energieimporteure ist dabei – wie uns die bishe­ rigen Energiekrisen schmerzhaft lehrten – auf eine Diversifizierung anstatt auf Bequemlichkeit zu setzen und durch einen massiven Ausbau der erneuerbaren Energien zumindest teilweise die Abhängigkeiten von Energieimporten zu re­ duzieren.82 Entsprechend wurde seit Februar 2022 nicht nur ein LNG-Beschleunigungs­ gesetz (LNGG),83 sondern auch zahlreiche Gesetzesnovellen zum beschleunig­ ten Ausbau der Erneuerbaren Energien sowie der miteinhergehenden Netz­ 77 

Unter III.2.b. VO zur Sicherung der Energieversorgung über kurzfristig wirksame Maßnahmen (Kurz­ fristenergieversorgungssicherungsmaßnahmen-VO  – EnSikuMaV) v. 26.08.2022 (BGBl.  I, 1446). Näher Neumann/Lißek, N&R 2022, 258 (267 f.). Geändert durch VO zur Änderung der Kurzfristenergieversorgungssicherungsmaßnahmen-VO (Kurzfristenergieversorgungs­ sicherungsmaßnahmenänderungsverordnung – EnSikuMaÄV) v. 29.09.2022 (Banz AT 30.09.­ 2022 V2). Näher Neumann/Lißek, N&R 2022, 258 (269). Zuletzt geänd. durch BGBl. 2023 I, Nr.  37. 79  VO zur Sicherung der Energieversorgung über mittelfristig wirksame Maßnahmen (Mit­ telfristenergieversorgungssicherungsmaßnahmen-VO – EnSimiMaV) v. 23.09.2022 (BGBl. I, 1530). Näher Neumann/Lißek, N&R 2022, 258 (269 f.). 80  VO (EU) 2022/1854 des Rates v. 6.10.2022 über Notfallmaßnahmen als Reaktion auf die hohen Energiepreise v. 6.10.2022 (ABl.  L 261 I, 07.10.2022, 1–21). Näher Neumann/Lißek, N&R 2022, 258 (273 f.). 81  Dazu im Detail Zenke, EurUP 2023, 208. 82  So auch Graf (Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung), Energiekrise der 70er-­ Jahre – Als das Öl knapp wurde, Dlf v. 07.04.2022, https://www.deutschlandfunk.de/energie krise-70er-jahre-oelkrise-opec-100.html, zuletzt abgerufen am 14.06.2023. 83 Gesetz zur Beschleunigung des Einsatzes verflüssigten Erdgases (LNG-Beschleuni­ gungsG – LNGG) v. 24.05.2022 (BGBl. I, S.  802), zuletzt geänd. durch BGBl. I S.  1726. Näher Kment/Fimpel, NuR 2022, 599 (599 ff.); Neumann/Lißek, N&R 2022, 258 (262 f.). Zugang, Kapazitätsvergabe, Kapazitätsmanagement, Entgelte und Kosten sind in der VO zu regulato­ rischen Rahmenbedingungen für LNG-Anlagen (LNG-VO – LNGV) v. 16.11.2022 (BAnz AT 17.11.2022 V1) geregelt. Hierzu Neumann/Lißek, N&R 2023, 17 (19 ff.). 78 

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infrastruktur verabschiedet.84 Es wurde die Laufzeitverlängerung dreier Atom­ kraftwerke bis Mitte April 2023 beschlossen85 sowie die jedenfalls zunächst befristete Bereithaltung von Kohlekraftwerken aus der Netzreserve (§§  50a ff. EnWG86 i.V.m. StaatV/87StaaÄV88) und Braunkohlekraftwerken in der Versor­ gungsreserve (§  50d EnWG89 i.V.m. VersResAbV90) bis April 2024. Darüber ­hinaus wurde aus Sorge um die Versorgungssicherheit das EnSiG um zahlreiche Maßnahmen erweitert,91 welche teilweise auch bereits Anwendung fanden.92 84  U.a. Gesetz zu Sofortmaßnahmen für einen beschleunigten Ausbau der Erneuerbaren Energien und weiteren Maßnahmen im Stromsektor v. 20.07.2022 (BGBl.  I S.  1237), näher Neumann/Lißek, N&R 2022, 258 (265); Zenke, EnWZ 2022, 147 (147, 149 ff.); Gesetz zur Än­ derung des EnergiesicherungsG und anderer energiewirtschaftlicher Vorschriften v. 08.10.­ 2022 (BGBl. I S.  1726), näher Neumann/Lißek, N&R 2022, 258 (270 f.); Gesetz zur Erhöhung und Beschleunigung des Ausbaus von Windenergieanlagen an Land v. 20.07.2022 (BGBI. I S.  1353), näher Kment, NVwZ 2022, 1153 (1153 ff.); Gesetz zur Beschleunigung von verwal­ tungsgerichtlichen Verfahren im Infrastrukturbereich v. 14.03.2023 (BGBl. I S.  71). Im Detail Zenke, EurUP 2023, 208. 85  19. Gesetz zur Änderung des AtomG v. 04.12.2022 (BGBI. I, 2153). Näher Neumann/ Lißek, N&R 2022, 258 (272); dieselben, N&R 2023, 17 (22 f.). 86  Gesetz zur Bereithaltung von Ersatzkraftwerken zur Reduzierung des Gasverbrauchs im Stromsektor im Fall einer drohenden Gasmangellage durch Änderungen des Energiewirt­ schaftsG und weiterer energiewirtschaftlicher Vorschriften v. 08.07.2022 (BGBI. I S.  1054). Näher zum sog. ErsatzkraftwerkebereithaltungsG (EKBG) Ludwigs, NVwZ 2022, 1086 (1091); Neumann/Lißek, N&R 2022, 258 (263 f.). 87  VO zur befristeten Ausweitung des Stromerzeugungsangebots durch Anlagen aus der Netzreserve (Stromangebotsausweitungs-VO  – StaaV) v. 13.07.2022 (BAnz AT 13.07.2022 V1). Näher Neumann/Lißek, N&R 2022, 258 (264 f.). 88 VO zur Änderung der Stromangebotsausweitungs-VO v. 29.09.2022 (BAnz AT 30.09.­2022 V1). Näher Neumann/Lißek, N&R 2022, 258 (269). 89  Gesetz zur Bereithaltung von Ersatzkraftwerken zur Reduzierung des Gasverbrauchs im Stromsektor im Fall einer drohenden Gasmangellage durch Änderungen des Energiewirt­ schaftsG und weiterer energiewirtschaftlicher Vorschriften v. 08.07.2022 (BGBI. I S.  1054). Speziell zum Weiterbetrieb von Braunkohlekraftwerken im Rheinischen Revier: Gesetz zur Beschleunigung des Braunkohleausstiegs im Rheinischen Revier v. 19.12.2022 (BGBl.  I S.  2479). Näher Neumann/Lißek, N&R 2023, 17 (23 f.). 90  VO zur befristeten Ausweitung des Stromerzeugungsangebots durch Anlagen aus der Versorgungsreserve (Versorgungsreserveabruf-VO – VersResAbV) v. 30.09.2022 (BAnz AT 30.09.2022 V3). Näher Neumann/Lißek, N&R 2022, 258 (269 f.). 91  Mit der sog. ersten EnSiG-Novelle vom Mai 2022 (BGBl. I S.  730) wurden insbesondere die Vorschriften zur Treuhandverwaltung und Enteignung in den §§  17 ff. EnSiG eingeführt (näher Kment, NJW 2022, 2302 [2302 ff.]). Mit der sog. zweiten EnSiG-Novelle vom Juli 2022 wurde das EnSiG u.a. um Vorschriften zu Kapitalmaßnahmen (§  17a EnSiG) und zu Stabili­ sierungsmaßnahmen (§  29 EnSiG)  – sog. Verstaatlichung  – erweitert (näher Kment, NJW 2022, 2880 [2880 ff.]). 92  Bei der Gazprom Germania wurde bereits vor den EnSiG-Novellierungen eine Treu­ handverwaltung auf Grundlage von §  6 AWG durch das BMWK am 04.04.2022 angeordnet (näher Kment, NJW 2022, 2302). Im Juni 2022 wurde die Treuhandverwaltung auf §  17 EnSiG gestützt verlängert (BAnz AT 17.06.2022 B15). Im November 2022 wurden dann Kapitalmaß­ nahmen nach §  17a EnSiG gegenüber der SEFE GmbH – der umfirmierten Gazprom Germa­ nia GmbH – angeordnet, sodass die ins Eigentum des Bundes überführt wurde (BAnz AT 14.11.­2022 B9). Am 14.09.2022 wurden außerdem die beiden deutschen Rosneft-Tochterun­

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c) Direkte Einwirkung auf den Preis Doch bringt das Senken der Nachfrage bei gleichzeitigem Ausweiten des An­ gebots93 wirklich die angestrebte Sicherung des Energiebedarfs und die ge­ wünschten sinkenden Energiepreise? Ersteres bestimmt. Jedoch kommt dieser naheliegende Ansatz nicht nur bei den Gaspreisen, sondern auch bei den Strom­ preisen nach dem aktuell geltenden Merit-Order-Prinzip94 an seine Grenzen, wenn trotz aller Bemühungen als letztes  – den Einheitspreis bestimmendes Kraftwerk – ein teures Gaskraftwerk benötigt wird. Es wurde daher im letzten Jahr erbittert um einen europäischen Gaspreisdeckel gerungen und aktuell über ein neues Strommarktdesign diskutiert.95 Es scheint verführerisch einfach, sowohl die hohen Gaspreise als auch die davon abgeleiteten hohen Strompreise dadurch zu bekämpfen, dass der Preis des Gases gedeckelt wird. Entsprechende Vorschläge sind daher schon kurz nach Beginn der Krise geäußert worden. Spanien und Portugal haben ein Modell für einen Gaspreisdeckel für verstromtes Gas bereits im Juni 2022 eingeführt. Trotzdem dauerte es noch rund ein halbes Jahr, bis ein europäisches Konzept für einen Gaspreisdeckel verabschiedet wurde.96 Dessen Aktivierung – die seit dem 15.02.2023 möglich ist97 – soll verhindern, dass der europäische Gaspreis (TTF-Index) deutlich höher wird als der internationale Preis für LNG. Mo­ mentan wirkt es aber so, dass der Deckel aufgrund seiner Voraussetzungen vor­ erst kaum praktische Anwendung finden wird. Darüber hinaus zeigen der stetige Ausbau der erneuerbaren Energien – wel­ cher jedenfalls ursprünglich primär wegen der Klimakrise vorangetrieben wur­ de  – sowie die Gasmangellage infolge des Ukraine-Kriegs, dass das Energie­ marktdesign grundlegend zu reformieren ist.98 Ziel muss es dabei sein, den Strompreis vom Gaspreis zu entkoppeln sowie generell ein Strommarktdesign zu schaffen, das darauf ausgelegt ist, wirtschaftlich und sozial verträgliche

ternehmen Rosneft Deutschland GmbH (RDG) und RN Refining & Marketing GmbH (RNRM) gem. §  17 EnSiG unter Treuhandverwaltung gestellt (Banz AT 16.09.2022 B1), was am 14.03.2023 vom BVerwG bestätigt wurde (näher Malmendier, UKuR 2023, 151). Am 20.12.2022 wurden durch die EU-Kommission die Stabilisierungsmaßnahmen für Uniper nach §  29 EnSiG, entsprechend derer der Bund nun 99  % der Unternehmensanteile innehat, beihilfenrechtlich genehmigt (näher Holtmann, in: BeckOK-EnSiG, §  29 Rn.  54 ff.). 93  Dazu unter III.3.b. 94  Unter II.1. 95  Dazu unter IV.2.b. 96  Verordnung (EU) 2022/2578 des Rates vom 22.12.2022 zur Einführung eines Markt­ korrekturmechanismus zum Schutz der Bürgerinnen und Bürger der Union und der Wirt­ schaft vor überhöhten Preisen, ABl. L 335 v. 29.12.2022. 97  N.N., EU-Gaspreisdeckel tritt in Kraft, Tagesschau v. 15.02.2023, https://www.tages schau.de/wirtschaft/gaspreisdeckel-eu-105.html, zuletzt abgerufen am 14.06.2023. 98  Näher IV.2.b.

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Energiepreise bei langfristig 80  % Strom aus erneuerbaren Energien99 zu bil­ den.100 d) Direkte Unterstützung der Verbraucherinnen und Verbraucher Die Krisen lehren, dass auch wenn mittels verschiedenster staatlicher Maß­ nahmen versucht wird, den Großhandelspreis und damit über den Faktor der Beschaffungskosten101 die Verbraucherpreise sowohl für die Haushalte als auch für die Industrie zu senken, es nicht garantiert ist, dass sich dies (zeitnah) bei den Verbraucherpreisen bemerkbar macht. Direkte finanzielle Unterstützungen sind daher sowohl für Haushaltskunden102 als auch für Industriekunden regel­ mäßig erforderlich, um schwere wirtschaftliche Schäden sowie soziale Verwer­ fungen abzuwenden und akute „Brände zu löschen“ – auch wenn dies gleich­ wohl nicht die angeführten strukturellen Maßnahmen103 ersetzt. So können die Verbraucherinnen und Verbraucher durch das Senken/Ab­ schaffen staatlicher Abgaben und Umlagen unmittelbar entlastet werden – wie es mit der Absenkung der EEG-Umlage zum Juli 2022 auf null104 sowie einer Reduzierung der Umsatzsteuer auf Erdgaslieferungen über das Erdgasnetz von 19  % auf 7  % zum 1.10.2022 (befristet bis Ende März 2024)105 geschah.106 Neben den öffentlich breit diskutierten Energiepreisbremsen107 wurde außerdem u.a. ein 5  Mrd.  €-Hilfsprogramm für die energieintensive Industrie im Mai 2022 er­ lassen, welches im Juli 2022 auch von der EU-Kommission genehmigt wurde.108

99  Ziel der aktuellen Bundesregierung ist es, dass im Jahr 2030 80  % des Stromverbrauchs aus erneuerbaren Energien stammen. Näher SPD/Die Grünen/FDP, Mehr Fortschritt wa­ gen, Koalitionsvertrag v. 7.12.2021, S.  4 4 sowie §  1 Abs.  1 EEG 2023. 100  Im Detail Zenke, EurUP 2023, 208. 101  Unter II.1. 102 Zu den Maßnahmen zur Senkung für Haushaltskunden ausführlich Zenke, EurUP 2/2023, 208. 103  Unter II. 104  Gesetz zur Absenkung der Kostenbelastung durch die EEG-Umlage und zur Weiter­ gabe dieser Absenkung an die Letztverbraucher v. 23.05.2022 (BGBI. I S.  747). Näher zur EEG-Umlage Große, Fn.  20, Kap.  10, Rn.  6 –37. 105  Gesetz zur temporären Senkung des Umsatzsteuersatzes auf Gaslieferungen über das Erdgasnetz v. 25.10.2022 (BGBl. I S.  1743). Näher Neumann/Lißek, Fn.  110, S.  270. 106  Im Detail Zenke, EurUP 2023, 208. 107 Zu den Energiepreisbremsen und zu den finanziellen Entlastungspaketen generell ­Zenke, EurUP 2023, 208. 108  BMF, 5  M rd. EUR-Hilfsprogramm für energieintensive Industrie startet, Pressemittei­ lung v. 14.07.2022, https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Pressemitteilun gen/Finanzpolitik/2022/07/2022-07-14-hilfsprogramm-energieintensive-industrie-startet. html, zuletzt abgerufen am 14.06.2023. Zum EU-Beihilfenrecht im Detail unter III.4.

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4. Grenzen der Reaktionsmöglichkeiten heute Es lassen sich viele staatliche Reaktionen auf Energiekrisen denken, jedoch gibt es hierfür sowohl national- als auch europarechtlich verschiedene Grenzen. a) Beihilfenrecht Damit nationalstaatliche Maßnahmen nicht den Wettbewerb innerhalb des eu­ ropäischen Binnenmarktes (zu sehr) verzerren, sondern ein unverfälschter Wettbewerb sichergestellt ist, gibt es das europäische Beihilfenrecht (Art.  107– 109 AEUV109). Zwar gilt gem. Art.  107 Abs.  1 AEUV grundsätzlich ein Bei­ hilfeverbot, jedoch sehen die Art.  107 Abs.  2 und 3 AEUV Legal- und Ermes­ sensausnahmen vor. Verfahrensrechtlich besteht eine Anmeldepflicht („Notifi­ zierung“) gegenüber der EU-Kommission sowie ein unmittelbar anwendbares Durchführungsverbot (Art.  108 Abs.  3 S.  1, 3 AEUV), d.h. eine (noch) nicht genehmigte Beihilfe darf nicht ausgezahlt werden.110 Die rechtlichen Einzelhei­ ten des Beihilfeverfahrens finden sich in der Beihilfeverfahrensverordnung111 und der zugehörigen Durchführungsverordnung112 geregelt.113 Als Leitplanken für die Ermessensausübung nach Art.  107 Abs.  3 AEUV gibt es sog. beihilferechtliche Leitlinien. Es handelt sich bei solchen Leitlinien um Verwaltungsvorschriften, d.h. selbstbindendes Innenrecht der EU-Kommis­ sion, die das an sich weite Ermessen der EU-Kommission konkretisieren und damit Rechtssicherheit schaffen.114 Bei energierechtlichen Beihilfen (vor allem den Besonderen Ausgleichsrege­ lungen zur Reduzierung der KWKG-Umlage und der Offshore-Netzum­lage115) sind hierbei regelmäßig die Leitlinien für staatliche Klima-, Umweltschutz- und

109  Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union v. 09.05.2008 (ABl. C 115, S.  47), zuletzt geändert durch Art.  2 Änderungsbeschluss. 2012/419/EU v. 11.07.2012 (ABl. L 204, 131). KOM, Bekanntmachung zum Begriff der staatlichen Beihilfe, EU-ABl.  Nr. C 262 v. 19.07.2016, S.  1. 110 Näher Ludwigs, BK-Energierecht, Bd.  3, Teil  1, A.III.3.c) Rn.  57. 111  VO (EU) 2015/1589 des Rates v. 13.07.2015 über besondere Vorschriften für die An­ wendung von Artikel  108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (kodi­ fizierter Text), ABl. EU 2015 L 248/9. 112  VO (EG) Nr.  794/2004 der Kommission vom 21.04.2004 zur Durchführung der VO (EG) Nr.  659/1999 des Rates über besondere Vorschriften für die Anwendung von Art.  93 des EG-Vertrags, ABl. EU 2004 L 140/1. 113  Ludwigs, BK-Energierecht, Bd.  3, Teil  1, A.III.3.c) Rn.  57. 114  Stiftung Umweltenergierecht, Green Deal erklärt Spezial  – Die neuen Leitlinien für Klima-, Umweltschutz- und Energiebeihilfen 2022 (KUEBLL), Online-Webinar v. 09.02.­ 2022, Folie 8, https://stiftung-umweltenergierecht.de/wp-content/uploads/2022/02/Stiftung-­ Umweltenergierecht_Green-Deal-erklaert-SPEZIAL_2022-02-09.pdf, zuletzt abgerufen am 14.06.2023. 115  Unter II.2.

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Energiebeihilfen 2022 (KUEBLL) zu beachten.116 Die neuesten KUEBLL gel­ ten seit ihrer förmlichen Annahme durch die Europäische Kommission am 27.01.2022.117 Sie sind an den Green Deal118 und das Legislativpaket „Fit für 55“119 angepasst120 und tragen der zunehmenden Bedeutung des Klimaschutzes Rechnung (beispielsweise durch das Ausweiten der förderbaren Kategorien von Investitionen und Technologien121 sowie generelle grundsätzliche Technologie­ neutralität gegenüber allen Technologien, welche zur Verringerung oder zum Abbau von Treibhausgasen beitragen können122). Auch wenn so zwar ein klarer Vorrang der Förderung von erneuerbaren Energien besteht,123 besteht nach wie vor die Möglichkeit fossiler Subventionen, solange die Mitgliedstaaten bei ihnen darlegen können, dass es zu keinem Lock-in-Effekt kommt (z.B. mittels natio­ nalem Dekarbonisierungs- oder Stilllegungsplan).124 Der ursprüngliche Kon­ sultationsentwurf vom Sommer 2021125 hatte Kritik126 auf sich gezogen, da er viele energieintensive Unternehmen von Ermäßigungen bei Stromabgaben aus­ geschlossen hätte. Dies wurde durch die EU-Kommission nachjustiert.

116  EU-Kommission, Leitlinien für staatliche Klima-, Umweltschutz- und Energiebeihil­ fen 2022 (KUEBLL), Mitteilungen und Bekanntmachungen v. 18.02.2022, ABl. EU 2022 C 80, 1. Englisch: Communication from the Commission – Guidelines on State aid for climate, environmental protection and energy 2022 (CEEAG). 117  Klotz/Hofmann, N&R 2023, 2. 118  EU-Kommission, Mitteilung der Kommission  – Der europäische Grüne Deal v. 11.12.­2019, COM (2019) 640 final. 119  EU-Kommission, Mitteilung der Kommission – „Fit für 55“: Auf dem Weg zur Klima­ neutralität – Umsetzung des EU-Klimaziels für 2030 v. 14.07.2021, COM (2021) 550 final. 120  EU-Kommission, Kommission billigt neue Leitlinien für staatliche Klima-, Umwelt­ schutz- und Energiebeihilfen, Presseartikel v. 21.12.2021, https://germany.representation.ec. europa.eu/news/kommission-billigt-neue-leitlinien-fur-staatliche-klima-umweltschutz-­ und-energiebeihilfen-2021-12-21_de, zuletzt abgerufen am 14.06.2023. 121  EU-Kommission, Leitlinien für staatliche Klima-, Umweltschutz- und Energiebeihil­ fen 2022, Fragen und Antworten v. 27.01.2022, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/ detail/de/qanda_22_566, zuletzt abgerufen am 14.06.2023. 122  EU-Kommission, Kommission billigt neue Leitlinien für staatliche Klima-, Umwelt­ schutz- und Energiebeihilfen, Presseartikel v. 21.12.2021, https://germany.representation.ec. europa.eu/news/kommission-billigt-neue-leitlinien-fur-staatliche-klima-umweltschutz-­ und-energiebeihilfen-2021-12-21_de, zuletzt abgerufen am 14.06.2023. 123  EU-Kommission, Leitlinien für staatliche Klima-, Umweltschutz- und Energiebeihil­ fen 2022, Mitteilungen und Bekanntmachungen v. 18.02.2022, ABl. EU 2022 C 80, 1 Rn.  126. 124  EU-Kommission, Leitlinien für staatliche Klima-, Umweltschutz- und Energiebeihil­ fen 2022, Mitteilungen und Bekanntmachungen v. 18.02.2022, ABl. EU 2022 C 80, 1 Rn.  129. 125  EU-Kommission, Konsultationsentwurf zu den Leitlinien für staatliche Klima-, Um­ weltschutz- und Energiebeihilfen (KUEBLL) v. 02.08.2021, https://competition-policy.ec.eu ropa.eu/public-consultations/2021-ceeag_de, zuletzt abgerufen am 14.06.2023. 126 Beispielsweise BEE, BEE sieht Vorschlag der EU-Kommission für neue Beihilfeleit­ linien kritisch, Pressemitteilung v. 02.08.2021, https://www.bee-ev.de/service/pressemittei lungen/beitrag/bee-sieht-vorschlag-der-eu-kommission-fuer-neue-beihilfeleitlinien-­kritisch, zuletzt abgerufen am 14.06.2023.

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Neben den KUEBLL-Leitlinien ist auch die Allgemeine Gruppenfreistel­ lungsverordnung (AGVO)127 zu beachten, welche vor dem Hintergrund des Green Deals128 aktuell ebenso novelliert wurde129 und den ökologischen und digitalen Wandel in der EU beschleunigen soll.130 Die AGVO enthält dabei ex-ante-Vereinbarkeitskriterien, auf deren Grundlage staatliche Beihilfemaß­ nahmen ohne vorherige Anmeldung bei der und Genehmigung durch die Kom­ mission durchgeführt werden können und erst im Nachhinein mitgeteilt wer­ den müssen.131 Dies gibt den Mitgliedsstaaten ein Mehr an Flexibilität.132 Zusätzlich zu diesem (energierechtlichen) Beihilferahmen wurde – ­angestoßen durch den Ukraine-Krieg und die einhergehende Energiekrise – der Temporary Crisis and Transition Framework (TCTF) erlassen.133 Ursprünglich sollte die­ ser die infolge des Ukraine-Kriegs erschütterte Wirtschaft stützen, indem den Mitgliedsstaaten ein flexiblerer Handlungsspielraum zur Bewältigung der Energiekrise gegeben wurde. Seit seiner förmlichen Annahme am 23.03.2022 wurde er jedoch bereits mehrfach geändert134 und (teils) verlängert und im Hin­

127  VO (EU) Nr.  651/2014 der Kommission v. 17.06.2014 zur Feststellung der Vereinbarkeit bestimmter Gruppen von Beihilfen mit dem Binnenmarkt in Anwendung der Artikel  107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, Text von Bedeutung für den EWR, Abl. 2014 L 187/1. Näher dazu Ludwigs, BK-Energierecht, Bd.  3, Teil  1, A.III.3.c) Rn.  58. 128  EU-Kommission, Kommission billigt neue Leitlinien für staatliche Klima-, Umwelt­ schutz- und Energiebeihilfen, Presseartikel v. 21.12.2021, https://germany.representation.ec. europa.eu/news/kommission-billigt-neue-leitlinien-fur-staatliche-klima-umweltschutz-­ und-energiebeihilfen-2021-12-21_de, zuletzt abgerufen am 15.06.2023. 129 Pressemitteilung v. 09.03.2023, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/ de/ip_23_1563, zuletzt abgerufen am 15.06.2023. 130  EU-Kommission, Staatliche Beihilfen: Kommission ändert Allgemeine Gruppenfrei­ stellungsverordnung, um den ökologischen und den digitalen Wandel zu erleichtern und zu beschleunigen, Pressemitteilung v. 09.03.2023, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/ detail/de/ip_23_1523, zuletzt abgerufen am 15.06.2023. 131  EU-Kommission, Kommission billigt neue Leitlinien für staatliche Klima-, Umwelt­ schutz- und Energiebeihilfen, Presseartikel v. 21.12.2021, https://germany.representation.ec. europa.eu/news/kommission-billigt-neue-leitlinien-fur-staatliche-klima-umweltschutz-­ und-energiebeihilfen-2021-12-21_de, zuletzt abgerufen am 15.06.2023. 132  EU-Kommission, Staatliche Beihilfen: befristeter Rahmen zur Krisenbewältigung an­ genommen, Pressemitteilung v. 10.03.2023, https://germany.representation.ec.europa.eu/ news/staatliche-beihilfen-befristeter-rahmen-zur-krisenbewaltigung-angenommen-­ 2023-­03-10-0_de, zuletzt abgerufen am 15.06.2023. 133  EU-Kommission, Mitteilung der Kommission – Befristeter Rahmen für staatliche Bei­ hilfen zur Stützung der Wirtschaft infolge des Angriffs Russlands auf die Ukraine – Krisen­ bewältigung und Gestaltung des Wandels, Abl. 2023 C 101/3. 134  Am 20.07.2022 wurde der TCTF im Einklang mit den Zielen des REPowerEU-Plans um ein Paket zur Vorsorge für den Winter („Save Gas for a Safe Winter“) erweitert (EU-Kommission, Pressemitteilung v. 20.07.2022, https://germany.representation.ec.europa.eu/news/ notfallplan-gas-eu-staaten-sollen-gasverbrauch-um-15-prozent-senken-2022-07-20_de, zu­ letzt abgerufen am 15.06.2023). Am 28.10.2022 wurde er in Übereinstimmung mit der EU-­ Notfallmaßnahmenverordnung angesichts der hohen Energiepreise geändert (EU-Kommis­

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blick auf die „Gestaltung des Wandels“ erweitert.135 Der TCTF bezweckt nun auch die Ausweitung der Fördermöglichkeiten für den Übergang zu einer kli­ maneutralen Wirtschaft.136 Es sind damit nun hohe Beihilfen für Investitionen in einigen für die Energiewende relevanten Schlüsselsektoren (u.a. Herstellung von Bat­ terien, Windkraftanlagen, Wärmepumpen, Elektrolyseure) rechtlich möglich, was insbesondere vor dem Hintergrund des US Inflation Reduction Acts vom August 2022137 wichtig und richtig ist. b) Sonstiges europäisches Recht Neben dem Beihilferecht gibt es weiteres EU-Recht, welches bei energierechtli­ chen Maßnahmen zu beachten ist. Dazu gehören insbesondere die Richtlinien und Verordnungen für Strom und Gas, die die Basis für den liberalisierten Energiebinnenmarkt und die Netzregulierung bieten. Ein wesentlicher Gedan­ ke dieser Regeln ist z. B. das Unbundling, also die grundsätzliche Entflechtung zwischen dem Netzbetrieb und dem wettbewerblichen Bereich der Energiever­ sorgung. In diesem Kontext sind aktuell die Kommissionsvorschläge vom 15.12.2021138 zu den Novellierungen der Erdgasbinnenmarkt-Richtlinie139 und Gasbinnenmarkt-Verordnung140 stark umstritten. Im Fokus der Debatte steht dabei die Frage nach einer Entflechtung (Unbundling) von Wasserstoff- und sion, Befristeter Krisenrahmen für staatliche Beihilfen zur Stützung der Wirtschaft infolge der Aggression Russlands gegen die Ukraine, Mitteilung v. 28.10.2022, C[2022] 7945 final). 135  EU-Kommission, Staatliche Beihilfen: Kommission nimmt befristeten Rahmen zur Krisenbewältigung und zur Gestaltung des Wandels an, um Übergang zu einer klimaneutra­ len Wirtschaft weiter zu fördern, Pressemitteilung v. 09.03.2023, https://ec.europa.eu/com mission/presscorner/detail/de/ip_23_1563, zuletzt abgerufen am 15.06.2023. 136  EU-Kommission, Staatliche Beihilfen: Kommission nimmt befristeten Rahmen zur Krisenbewältigung und zur Gestaltung des Wandels an, um Übergang zu einer klimaneutra­ len Wirtschaft weiter zu fördern, Pressemitteilung v. 09.03.2023, https://ec.europa.eu/com mission/presscorner/detail/de/ip_23_1563, zuletzt abgerufen am 15.06.2023. 137 H.R.5376, Inflation Reduction Act of 2022, 117th Congress, Public Law 117–169, Aug.  16, 2022, https://www.congress.gov/bill/117th-congress/house-bill/5376/text, zuletzt abgerufen am 15.06.2023. 138  EU-Kommission, Dekarbonisierung der Gasmärkte, Förderung von Wasserstoff und Verringerung der Methanemissionen: Kommission schlägt neuen EU-Rahmen vor, Presse­ mitteilung v. 15.12.2021, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_21_6682, zuletzt abgerufen am 15.06.2023. 139  RL 2009/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13.07.2009 über gemein­ same Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der RL 2003/55/EG (ABl. L 211 S.  94), zuletzt geändert durch Art.  28 VO (EU) 2022/869 vom 30.05.2022 (ABl. L 152 S.  45). 140  VO (EU) 2017/1938 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.10.2017 über Maß­ nahmen zur Gewährleistung der sicheren Gasversorgung und zur Aufhebung der VO (EU) Nr.  994/2010 VO (EU) 2017/1938 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.10.­2017 über Maßnahmen zur Gewährleistung der sicheren Gasversorgung und zur Aufhebung der VO (EU) Nr.  994/2010, zuletzt geändert durch Art.  1 VO (EU) 2022/1032 v. 29.06.2022 (ABl. L 173 S.  17, ber. L 245 S.  70).

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Gasnetz. Das Maß der Entflechtungsvorgaben hat unabhängig von dieser De­ batte immer unmittelbare Auswirkung auf die Optionsvielfalt nationaler Lö­ sungen.

IV. Die Debatte um einen Industriestrompreis in Deutschland Nachdem gezeigt wurde, dass der Strompreis für die Industrie in Deutschland viele Kostentreiber hat, wobei kein reguläres Reduzierungselement auf den ­eigentlichen Großhandelspreis einwirkt (Teil  II.), wurde auf verschiedene Re­ aktionsmöglichkeiten eingegangen, die auf das krisenbedingte Ansteigen des Energiepreises eingesetzt wurden (Teil  III.). Eine wichtige, aber schon länger geführte Debatte betrifft die Einführung eines Industriestrompreises. Dieser soll eine dauerhafte Perspektive für plan- und bezahlbare Kosten für Energie­ verbraucherinnen und -verbraucher eröffnen und reiht sich damit in die allge­ meine Diskussion um das künftige Strommarktdesign ein: Die Strompreise für die deutsche Industrie waren und sind im europäischen sowie im globalen Vergleich hoch, sodass seit Langem und von vielen Seiten für die Einführung eines speziellen Industriestrompreises geworben wird.

Abb.: Strompreise für Industriekunden in ausgewählten europäischen Ländern nach Verbrauchsmenge im Jahr 2021 in  ct/kWh.141

141  Statista, Wichtigste Länder Europas nach Höhe des Strompreises für die Industrie im Jahr 2021 v. 12.05.2022 (www.statista.com).

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Angesichts des US-amerikanischen Inflation Reduction Act (IRA)142 hat die Debatte an Brisanz gewonnen und wird in den größeren Kontext der Attrak­ tivität des Wirtschaftsstandortes Europa gestellt. Verschiedene prominente Standortentscheidungen gegen Europa und z.B. für Texas, aber auch für China verstärken die Dringlichkeit der Debatte. Am 05.05.2023 veröffentlichte das BMWK ein Arbeitspapier, das Antworten für die Attraktivität Europas und insbesondere auf den IRA liefern soll:143 Mittels eines Transformationsstrompreises144 soll Strom aus erneuerbaren Energien für die Industrie preisgünstig  – jedoch ohne eine direkte staatliche Unterstützung – bereitgestellt werden. Grundlage hierfür ist einerseits ein be­ schleunigter Ausbau der EE-Anlagen sowie der entsprechenden Netze sowie andererseits die Reduzierung der Stromgestehungskosten für Windenergieanla­ gen und PV-Anlagen, sodass mehr günstiger Strom aus EE-Anlagen zur Verfü­ gung steht. Sobald dies gewährleistet ist, soll ein aus zwei Säulen bestehender erneuerbarer Industriestrompreis eingeführt werden. Die erste Säule bilden sog. Differenzverträge („Contracts for Difference“ [CfDs]) für die Industrie, wobei Strom aus neuen EE-Anlagen zu Preisen nahe an den Gestehungskosten an die Industrie weitergereicht werden soll. Die zweite Säule bilden sog. Direktverträ­ ge („Power Purchase Agreements“ [PPAs]) zwischen Betreibern von EE-Anla­ gen und nahegelegenen Gewerbe- und Industriegebieten als kostengünstige Stromlieferverträge. Weder CfDs noch PPAs sind neu; aber das Grundver­ ständnis und Bekenntnis zur Erweiterung sind zu begrüßen. Da dieser Transformationsstrompreis mangels hinreichenden Ausbaus der EE-­­ Anlage sowie Netze erst langfristig realisierbar ist, soll bis 2030 ein Brücken­strompreis145  – bei welchem es sich anders als bei dem Transforma­ tionsstrompreis um eine direkte staatliche Unterstützung handelt146 – die deut­ sche Wettbewerbsfähigkeit sichern. An ausgewählte Gruppen von besonders abwanderungsbedrohten energieintensiven Unternehmen soll dieser subventio­ 142 H.R.5376, Inflation Reduction Act of 2022, 117th Congress, Public Law 117–169, Aug.  16, 2022, https://www.congress.gov/bill/117th-congress/house-bill/5376/text, zuletzt abgerufen am 14.06.2023. 143  BMWK, Wettbewerbsfähige Strompreise für die energieintensiven Unternehmen in Deutschland und Europa sicherstellen – Arbeitspapier des BMWK zum Industriestrompreis für das Treffen Bündnis Zukunft der Industrie v. 05.05.2023, https://www.bmwk.de/Redak tion/DE/Downloads/W/wettbewerbsfaehige-strompreise-fuer-die-energieintensiven-unter nehmen-in-deutschland-und-europa-sicherstellen.pdf?__blob=publicationFile&v=6., zu­ letzt abgerufen am 15.06.2023. 144  Eine indirekte Unterstützung soll dadurch erfolgen, dass durch Bürgschaftsprogram­ me und Zinsverbilligungen der KfW die Kapitalkosten für Wind- und Solarenergieerzeugung reduziert werden. Zudem sollen der Abschluss von PPAs von EE-Erzeugern mit Industrie­ partnern durch Bürgschaften abgesichert werden. BMWK (Fn.  143), S.  2–4. 145  BMWK, (Fn.  143), S.  2–5. 146  Damit gehen angesichts des europäischen Beihilferechts hohe Begründungspflichten einher (s. III.4.), welchen sich das BMWK bewusst ist. BMWK, (Fn.  143), S.  4.

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nierte Strompreis in Höhe von 6  ct/kWh ausgezahlt werden. Dabei sollen Spar­ anreize erhalten bleiben sowie Transformationsverpflichtung, Tariftreue und Standortgarantie festgeschrieben werden. Das Konzept orientiert sich an der bereits angesprochenen147 BesAR, sowohl was den Empfängerzuschnitt betrifft (abwanderungsbedrohte energieintensive Unternehmen) als auch bezüglich der verpflichtenden Gegenleistung. Gerade letztere geht aber deutlich über das bis­ lang Verlangte hinaus, schlägt einen Bogen zu den Vorgaben des IRA und wird eine wichtige Rolle bei der beihilfenrechtlichen Freigabefähigkeit der Idee spie­ len müssen. Der Brückenstrompreis soll durch den Wirtschaftsstabilisierungs­ fonds finanziert werden.148 Das BMWK regt zudem an, die Diskussion um einen Industriestrompreis langfristig in die Debatte um ein europäisches Strommarktdesign aufgehen zu lassen, um eine gemeinsame europäische Strategie zur Stärkung der energiein­ tensiven Industrien in Europa aufzustellen.149 Dieses Bestreben wird schon da­ durch sichtbar, dass das Konzept für den langfristigen Transformationsstrom­ preis auf die gleichen Elemente wie der Entwurf der Kommission für ein neues Strommarktdesign150 setzt, nämlich CfDs und PPAs. Der Brückenstrompreis hingegen hat kein vergleichbares Element. Die Einführung eines Industriestrompreises muss sich an den dargestellten151 Grenzen des Rechts messen lassen; die beihilfekonforme Ausgestaltung des in diesem Zusammenhang oft diskutierten Brückenstrompreises dürfte aber je­ denfalls unter Art.  107 Abs.  3 lit.  c AEUV möglich sein, der „Beihilfen zur För­ derung der Entwicklung gewisser Wirtschaftszweige oder Wirtschaftsgebiete [zulässt], soweit sie die Handelsbedingungen nicht in einer Weise verändern, die dem gemeinsamen Interesse zuwiderläuft“. Die weitere, regelmäßig zu hörende Kritik betrifft die Frage der fehlenden Effizienzanreize auf dem Weg zur Treibhausgasneutralität und die Gleichbe­ handlung des Mittelstandes. Ersteres ist eine Frage der Ausgestaltung (der Brücken­strompreis z.B. soll schon nicht auf 100  % der benötigten Strommenge wirken); zweiteres ist eine Frage des politischen Umganges mit der Materie. Grüne bezahlbare Energie für die vielen Unternehmen außerhalb der BesAR bleibt eine dringliche Aufgabe, die innerhalb der europäischen Rechtsregeln ge­ löst werden muss.

147 

Unter II.3. BMWK, (Fn.  143), S.  6 . 149  BMWK, (Fn.  143), S.  4. 150  Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Ände­ rung der Verordnungen (EU) 2019/943 und (EU) 2019/942 sowie der Richtlinien (EU) 2018/2001 und (EU) 2019/944 zur Verbesserung der Gestaltung der Elektrizitätsmärkte in der EU vom 14.03.2023. 151 S.o. 148 

Neues vom Netzausbau in Deutschland Thomas Mann1

I. Einleitung In keinem Jahr zuvor sind so viele Beschleunigungsgesetze auf den Weg ge­ bracht worden wie in 2022. Die umfangreichen Frühjahrs-, Sommer- und Herbstpakete der Bundesregierung haben den bereits seit Jahren in Wellen­ bewegungen immer wieder anbrandenden Beschleunigungsnovellen weitere Schaumkronen hinzugefügt. Ausdruck der „Zeitenwende“ im Energiesektor scheint also nicht die Notwendigkeit der Beschleunigung von Infrastruktur­ maßnahmen zu sein, sondern eher der beschleunigte Erlass der Beschleuni­ gungsgesetze selbst. Wenn nachfolgend der Frage „Was gibt es Neues zum Net­ zausbau?“ nachgegangen werden soll, wird das die drei Emanationen der Staats­ gewalt  – Verwaltung, Gesetzgebung und Rechtsprechung  – dergestalt in den Blick nehmen, dass zunächst der aktuelle Stand der Netzausbauplanung und des Netzausbaus zum Jahreswechsel 2022/23 bilanziert wird, bevor ein inten­ siverer Blick auf die legislativen Neuregelungen des letzten Jahres fällt und ab­ schließend drei Schlaglichter der neuen Rechtsprechung zum Netzausbau vor­ gestellt werden. Zum Einstieg und zur Grundlegung soll darüber hinaus ein kurzer Blick auf den allgemeinen Rahmen des Netzausbaus geworfen werden.

II. Allgemeiner Rechtsrahmen des Netzausbaus Die Herausforderungen, die der Netzausbau bewältigen muss, dürfen als be­ kannt vorausgesetzt werden: Gemessen an der Zunahme der erneuerbaren Energien ist unser Stromnetz nicht hinreichend dezentral strukturiert und wir benötigen die großen Stromautobahnen, um die erneuerbare Energie vom Nor­ den in den Süden zu bringen. Das für diesen Netzausbau relevante Rechts­ regime macht aber zunächst einen recht unzugänglichen Eindruck, denn auf die steigende Bedeutung des Netzausbaus hat der Gesetzgeber leider mit einigen Sondergesetzen reagiert. 1  Für wertvolle Vorarbeiten danke ich meinem Wissenschaftlichen Mitarbeiter Dipl.-Jur. Lorenz Lang.

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Vom planerischen Rahmen her ist es beim Netzausbau im Grundsatz wie bei allen Infrastrukturvorhaben, deren Realisierung sich idealiter2 in einem sach­ lich dreigestuften „Planungsverbund“3 mit zunehmender Konkretisierung vollzieht. Auf einer ersten Stufe ist im Wege der Planung der grundsätzliche Bedarf für das Vorhaben zu klären. In einem zweiten Schritt ist dann die Grob­ trassierung zu bewältigen, was bei Großvorhaben regelmäßig in einem Raum­ ordnungsverfahren erfolgt, bevor dann auf der dritten Stufe in einem Planfest­ stellungsverfahren die verbindliche Linienführung vorgenommen wird. Beim Netzausbau findet die erste Stufe in einer engen Verzahnung zwischen privater und exeku­tiver Verantwortung statt.4 Nach der anfänglichen Festlegung5 vor­ dringlicher Vorhaben im EnLAG von 2009,6 vollzieht sich die Ermittlung des Netzausbaubedarfs bei Höchstspannungsleitungen nun7 im Wege der bundes­ weiten Bedarfsplanung (§§  12a ff. EnWG). Endziel der Bedarfsermittlung beim Netzausbau ist die Festlegung eines Bedarfsplans. Sie nimmt ihren Ausgangs­ punkt aber in dem von den Übertragungsnetzbetreibern (ÜNB) gemeinsam zu erarbeitenden Szenariorahmen (§  12a EnWG), der anhand der Berücksichtigung verschiedener Entwicklungspfade die energiepolitischen Ziele der Bundesregie­ rung abbilden soll. 8 Nach dessen Genehmigung durch die Bundesnetzagentur (BNetzA) bildet er die Grundlage für die Erstellung des nationalen Netz­ entwicklungs­planes (NEP), der ebenfalls durch die ÜNB zu entwickeln (§  12b EnWG) 9 und durch die BNetzA zu bestätigen ist (§  12c Abs.  4 EnWG). Dieser 2  Optimal verwirklicht ist die Planungskaskade neben dem Bau von Höchstspannungs­ leitungen bei der Fernstraßenplanung (mit der verwaltungsinternen Linienbestimmung durch das Bundesverkehrsministerium gem. §  16 FStrG, die gem. §§  2 Abs.  3 Nr.  2, 15 der UVPPflicht unterfällt, sogar vierstufig), vgl. Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung, 1998, S.  199: „Leitbildfunktion“ der Bundesfernstraßenplanung; Köck/Salzborn, ZUR 2012, 203 (204). 3  So die Bezeichnung durch das BVerwG, vgl. BVerwGE 104, 236 (251). 4  Zu den umfassenden Möglichkeiten der Öffentlichkeitsbeteiligung Mann, ­Großvorhaben als Herausforderung für den demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 72 (2012), 544 (572 ff.). 5  Kment, in: ders. (Hrsg.), EnWG, 2.  Aufl., 2019, §  43 Rn.  4. 6  Ursprünglich 24 Vorhaben, vgl. die Anlage zu §  1 Abs.  1 des Gesetzes zum Ausbau von Energieleitungen (EnLAG) vom 21.08.2009 (BGBl. I S.  2870), die heute nur noch 22 vordring­ liche Vorhaben auflistet. 7 Gesetz zur Neuregelung energiewirtschaftsrechtlicher Vorschriften vom 26.07.2011 (BGBl. I S.  1554), das insbes. in Art.  1 umfangreiche Änderungen des EnWG enthielt, sowie das Gesetz über Maßnahmen zur Beschleunigung des Netzausbaus Elektrizitätsnetze vom 28.07.2011 (BGBl.  I S.  1690 ff.), das insbes. in Art.  1 das Netzausbaubeschleunigungsgesetz Übertragungsnetz (NABEG) vom 28.07.2011 (BGBl. I S.  1690) enthielt. Vgl. hierzu ausführ­ lich Weyer/Mann/Schneider, BMU-Studie „Ökologische Auswirkungen von 380-kV-Erd­ leitungen und HGÜ-Erdleitungen“, Band 4.4., Bericht der Arbeitsgruppe Recht, 2012, 28 ff., 163 f., 187 ff.; Calliess/Dross, JZ 2012, 1002 (1005 ff.); zu den vorhergehenden Verfahrensände­ rungen durch das EnLAG s. Schirmer, DVBl. 2010, 1349 (1350 ff.). 8  Pries, in: Assmann/Peiffer (Hrsg.), BeckOK EnWG, Stand: 09/2022, §  12a Rn.  7 f. 9  Der erste Netzentwicklungsplan war zum 03.06.2012 aufzustellen, vgl. §  12b Abs.  1 S.  1 EnWG.

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Netzentwicklungsplan mündet dann schließlich in den Bundesbedarfsplan ein, der vom Bundestag als Bundesgesetz erlassen wird (§  12e EnWG). Damit wer­ den, wie beim EnLAG (s. o.), die energiewirtschaftliche Notwendigkeit und der vordringliche Bedarf für die in den Plan aufgenommenen Projekte verbindlich10 festgestellt.11 Sie können im Rahmen der Planrechtfertigung also nicht mehr in Frage gestellt werden (§  12e Abs.  4 EnWG, §  1 Abs.  2 S.  2 EnLAG bzw. §  1 Abs.  1 S.  1 BBPlG). Die zweite Stufe, auf der die geeigneten Trassenkorridore12 bestimmt werden, wird in der Regel durch Raumordnungsverfahren13 in den Ländern bewältigt,14 doch unterliegen solche Vorhaben des Bundesbedarfsplans, die nach Maßgabe des §  2 Abs.  1 S.  1 NABEG15 als länderübergreifende oder grenzüberschreitende Leitungen gekennzeichnet sind, der nicht unumstrittenen16 Bundesfachplanung nach §§ 4 ff. NABEG,17 bei der die BNetzA die Aufgaben der Planungsbehörde übernimmt.18 Innerhalb dieser Trassenkorridore ist dann grundsätzlich von der Raumverträglichkeit des Vorhabens auszugehen. Geprüfte Alternativen,19 wel­ che als deutlich ungünstiger beurteilt worden sind, kommen auch später als Diskussionsvarianten grundsätzlich nicht mehr in Betracht. In einem letzten 10  Vgl. BVerwGE 100, 388 (390); 120, 87, (99 f.); 128, 1 (14, 63 in Tz.  24 und 134), jeweils auch zu der Möglichkeit, dass der kraft gesetzgeberischer Entscheidung festgestellte Bedarf als in ein die Abwägung einzustellender Posten von anderen gewichtigeren Belangen überwunden werden kann. 11  Steinbach/Franke, in: dies. (Hrsg.), Kommentar zum Netzausbau, 3.  Aufl., 2022, Einlei­ tung Rn.  22; De Witt, in: Theobald/Kühling (Hrsg.), Energierecht, Stand: 05/2022, EnLAG, Rn.  6. 12  Die erforderliche Prüfung unter „überörtlichen Gesichtspunkten“ (vgl. §  15 Abs.  1 S.  2 ROG) impliziert, dass in der Regel noch kein konkreter Trassenverlauf festgelegt wird, son­ dern lediglich ein geeigneter Trassenkorridor. Soweit ersichtlich, wird die Breite eines Tras­ senkorridors nicht einheitlich gehandhabt. Üblich scheinen vielfach Korridorbreiten von 400–1000 Metern zu sein, in Niedersachsen aber auch geringere Korridorbreiten. 13 Im Raumordnungsverfahren werden (gem. §   15 Abs.  1 ROG) die raumbedeutsamen Auswirkungen einer Planung oder Maßnahme unter überörtlichen Gesichtspunkten geprüft, insbes. auf Übereinstimmung mit anderen raumbedeutsamen Planungen und Maßnahmen. Zu aktuellen Änderungen s. Kment, UPR 2022, 329 (331). 14 Solche Leitungsbauvorhaben sind wegen ihrer raumbedeutsamen Auswirkungen als raumbedeutsame Planungen i. S. d. Raumordnungsverordnung anzusehen, vgl. §  1 S.  3 Nr.  14 Raumordnungsverordnung (RoV) vom 13.12.1990 (BGBl. I S.  2766), zuletzt geänd. d. Gesetz v. 24.02.2012 (BGBl. I S.  212). 15  Netzausbaubeschleunigungsgesetz Übertragungsnetz (NABEG) vom 28.07.2011 (BGBl. I S.  1690), zul. geänd. d.G.v. 14.03.2023 (BGBl. 2023 I Nr.  71). 16  Zur kompetenziellen Kritik s. etwa Durner, DVBl. 2011, 853 (855 f.); Deutsch, NVwZ 2010, 1520 f.; Erbguth, NVwZ 2012, 325 (329 f.). Anders demgegenüber Calliess/Dross, JZ 2012, 1002 (1008). 17  Die jüngsten Festlegungen von Trassenkorridoren im Rahmen der Bundesfachplanung lassen sich dem am 16.12.2022 im Bundesanzeiger veröffentlichten Bundesnetzplan der BNetzA entnehmen, BAnz AT 16.12.2022 B7, 1 ff. 18  Einzelheiten bei Weyer/Mann/Schneider, Erdleitungen (Fn.  6), S.  104 ff. 19  Zur zwingenden Alternativenprüfung vgl. §  15 Abs.  1 S.  3 ROG.

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Schritt wird im Rahmen des Planfeststellungsverfahrens nach §  43 ff. EnWG durch die zuständigen Landesbehörden – bzw. bei bestimmten NABEG-Vorha­ ben 20 durch die BNetzA – der konkrete Leitungsverlauf verbindlich gemacht.21 Hierbei sind die von dem Vorhaben berührten öffentlichen und privaten Belan­ ge im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen (§  43 S.  3 EnWG, §  18 Abs.  3 NABEG).

III. Netzausbau in Verwaltungs- und Privatverantwortung im Jahr 2022 Soweit der Überblick. Wo stehen wir aber jetzt nach 10 Jahren Bundesbedarfs­ planung beim Netzausbau?

1. Statistischer Stand des Netzausbaus Konkret ablesen lässt sich der Fortschritt des Netzausbaus aus den Monitoring­ berichten gem. der BNetzA. Aus dessen aktuellen Zahlen mit dem Erhebungs­ stand vom 14. Dezember 202222 lässt sich u. a. ablesen, dass im Vergleich zum Stand 2021 im letzten Jahr weitere 160  km EnLAG-Leitungen und rund 200  km Leitungen nach BBPlG fertiggestellt worden sind. Rechtlich war das Jahr 2022 davon geprägt, dass ÜNB und BNetzA in ihrer Netzausbauplanung mehrfach auf aktuelle höchstrichterliche Urteile oder Gesetzesnovellen reagieren muss­ ten.

2. NEP 2021–2035: Kein Eingang des BVerfG-Klimabeschlusses Bereits Anfang des Jahres 2022 hat die BNetzA den Netzentwicklungsplan für das Zieljahr 2035 nach §  12c Abs.  4 S.  1 und Abs.  1 Satz  1 i. V. m. §  12b Abs.  1, 2 und 4 EnWG bestätigt. Von einigen mit Verwunderung aufgenommen wurde, dass darin die in der KSG-Novelle mit Wirkung zum 31.08.2021 vorgesehene deutliche Verschärfung des Emissionsminderungspfades ab September 2021 noch nicht abgebildet ist. Hintergrund ist, dass der sog. „Klima-Beschluss“ des

20 

Vgl. §§  18 ff. NABEG. Überblick über die unterschiedlichen Zulassungsregime bei: Steinbach/Franke, in: dies. (Hrsg.), Kommentar zum Netzausbau, 3.  Aufl., 2022, Einleitung Rn.  9 ff.; die BnetzA ist auch im Anwendungsbereich des NABEG nur insoweit für die Planfeststellung zuständig, wie sie nach §  2 Abs.  2 NABEG hierzu von der Bundesregierung ermächtigt ist. 22  Bundesnetzagentur/Bundeskartellamt, Monitoringbericht 2022 gem. §  63 Abs.  3 i. V. m. §  35 EnWG und §  48 Abs.  3 i. V. m. §  53 Abs.  3 GWB, Stand: 14.12.2022, 31. 21 

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BVerfG23 erst kurz vor dem Zeitpunkt ergangen war, zu dem die ÜNB einen überarbeiteten Entwurf des NEP vorgelegt hatten.24 Die BNetzA führte aus, dass zur adäquaten Erfassung der relevanten Faktoren für das Ziel einer Treib­ hausgasneutralität die Entwicklung eines völlig neuen Szenariorahmens und eines darauf fußenden NEP erforderlich gewesen wäre. Die damit verbundene Verzögerung und zeitliche Überschneidung mit dem Planungsprozess des nachfolgenden NEP (2023–2037/2045) sei nicht verantwortbar gewesen.25 Ich halte diese Begründung für einleuchtend, vor allem, wenn man sich den ein­ gangs geschilderten schwerfälligen Entstehungsprozess des Netzentwicklungs­ plans vor Augen führt.26

3. Szenariorahmen bis 2022–2037/2045 Die Klimaneutralität 2045, ein zentrales Projekt der Ampel-Koalition, wird auf der Ebene der Bedarfsermittlung aber nun im Szenariorahmen der ÜNB mit den Zieljahren 2037/2045 berücksichtigt.27 Er wurde im Januar 2022 vorgelegt und unterscheidet entsprechend §  12a Abs.  1 S.  2 EnWG zwischen verschiede­ nen Szenarien,28 um mögliche Ausgestaltungen eines klimaneutralen Ener­ giesystems abzubilden. Damit haben die ÜNB bereits Anfang 2022 die erst Ende Juli 2022 in Kraft getretene Erweiterung antizipiert, nach der die Szena­ rio­pflicht des §  12a Abs.  1 EnWG nun auch die klimapolitischen Ziele der Bun­ desregierung für 2045 abdecken muss. Die BNetzA hat in ihrer Anfang Juli 2022 vorgelegten Genehmigung des Szenariorahmens allerdings die gemeinsa­ me Betrachtung der Szenarien B und C für den Zeitraum bis 2045 wieder von­ einander gelöst und es für sachgerecht erachtet, drei (statt nur zwei) qualitativ unterschiedliche Entwicklungspfade bis 2045 abzubilden.29

23  BverfGE 157, 30; zu den verfassungsrechtlichen Implikationen des Beschlusses s. Lang, NuR 2022, 230 ff. 24  Das geschah am 26. April 2021. 25 Siehe Bundesnetzagentur, Bestätigung des Netzentwicklungsplans Strom für das Ziel­ jahr 2035, 2022, 21 ff. 26  Zumindest teilweise trägt der NEP 2021–2035 aber bereits der sich abzeichnenden Ent­ wicklung hin zu einem „Klimaneutralitätsnetz“ Rechnung, indem bei einigen Vorhaben Leerrohre vorgehalten werden müssen, um auf zukünftige weitere Systeme reagieren zu kön­ nen. 27  Zum aktuellen Szenariorahmen siehe auch: Pries, in: Assmann/Peiffer (Hrsg.), BeckOK EnWG, Stand: 09/2022, §  12a Rn.  9. 28 Szenariorahmen zum Netzentwicklungsplan Strom 2037 mit Ausblick 2045, Version 2023 – Entwurf der ÜNB 21, S.  21 ff. 29  Zu Details siehe Bundesnetzagentur, Genehmigung des Szenariorahmens 2023–2037/­ 2045, 2022, S.  17 ff.

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4. Scoping-Untersuchungsrahmen Seit Juli 2022 befindet sich der hieran anknüpfende NEP 2037/45 in der Erstel­ lung. Hier sind, wie eben gezeigt, erst wieder die ÜNB am Zug, aber die BNetzA hat während des Verfahrens bereits einen Umweltbericht zu erstellen (§  12c Abs.  2 S.  1 EnWG). Hierzu hat sie im November 2022 den Entwurf eines Unter­ suchungsrahmens30 vorgelegt (§  12c Abs.  2 EnWG i. V. m. §  39 UVPG). Dieses sog. Scoping legt als ersten Verfahrensschritt fest, welchen Umfang und Detail­ lierungsgrad die Strategische Umweltprüfung (SUP) aufweisen muss, in der die voraussichtlichen Umweltauswirkungen möglicher Netzausbau-Maßnahmen ermittelt und bewertet werden. Bei dieser SUP wiederum werden von der BNetzA erstmalig die seit August 2022 in §  12c Abs.  2a S.  1 EnWG neu gefor­ derten Präferenzräume (für Neubaumaßnahmen zur Höchstspannungs-Gleichstrom-Übertragung) zu ermitteln sein.31 Hierbei handelt es sich um Gebiets­ streifen, die für die Herleitung von Trassen im Sinne des §  18 Abs.  3c NABEG besonders geeignete Räume ausweisen (vgl. §  3 Nr.  10 NABEG).

IV. Legislative Entwicklung im Kontext des Netzausbaus Das Stichwort „Präferenzraum“ signalisiert aber bereits ein Kernelement der legislativen Entwicklung im Jahr 2022. Im Fokus stand hier das Änderungs­ gesetz im Kontext des Klimaschutz-Sofortprogramms,32 das als eines von vier allein im Juli 2022 ergangenen Änderungsgesetzen zum EnWG  – bis Januar 2023 sind noch fünf weitere erfolgt – auch andere zentrale gesetzliche Grundla­ gen des Netzausbaus (NABEG, BBPlG) betroffen hat. Relevant für den Netz­ ausbau waren aber auch weitere Teile des „Osterpakets“33 und Hoffnungen auf Beschleunigungsimpulse sind auch mit dem Artikelgesetz von Oktober 2022 verknüpft.34 Angesichts dieser zahlreichen „Baustellen“ muss sich der nachfol­ 30  Zu diesem Instrument s. etwa Posser, in: Kment (Hrsg.), EnwG, 2.   Aufl., 2019, §  12c Rn.  24; sog. „scoping“, Peters/Balla/Hesselbarth, Gesetz über die Umweltverträglichkeits­ prüfung 4.  Auflage 2019, §  39 UVPG Rn.  1; Kment, in: Beckmann/Kment (Hrsg.), UVPG, 6.  Aufl. 2023, §  39 Rn.  6 f. 31 Vgl. Bundesnetzagentur, Entwurf der Festlegung des Untersuchungsrahmens für die Strategische Umweltprüfung, 2022, S.  7, ausführlich zur Ermittlung der Präferenzräume ebda. S.  17 ff. 32  Gesetz zur Änderung des Energiewirtschaftsrechts im Zusammenhang mit dem Klima­ schutz-Sofortprogramm und zu Anpassungen im Recht der Endkundenbelieferung vom 19.07.2022 (BGBl. I S.  1214). 33  Insbes. das Gesetz zu Sofortmaßnahmen für einen beschleunigten Ausbau der erneuer­ baren Energien und weiteren Maßnahmen im Stromsektor vom 20.07.2022 (BGBl. I S.  1237). 34 Gesetz zur Änd. des EnergiesicherungsG und anderer energiewirtschaftlicher Vor­ schriften vom 08.10.2022 (BGBl. I S.  1726).

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gende Überblick zwangsläufig auf ausgewählte Neuerungen beschränken. Den Anfang der Betrachtung soll aus aktuellem Anlass aber ein kurzer Blick auf die Neuerungen im EEG bilden.

1. Neuer §  1 EEG ab Januar 2021 Im Fokus steht insoweit der neue §  1 Abs.  1 EEG, der seit Januar 2023 in Kraft ist und nicht weniger als das Ziel einer „Transformation zu einer nachhaltigen und treibhausgasneutralen Stromversorgung, die vollständig auf erneuerbaren Energien beruht“, postuliert. Zur Erreichung dieses Ziels soll der Anteil des Stroms aus erneuerbaren Energien bis 2030 von 65  % auf mindestens 80  % an­ steigen (§  1 Abs.  2 EEG). Hierzu setzt man vor allem auf einen massiven Aus­ bau, in der Summe auf eine Verdreifachung, der Wind- und Solarenergiegewin­ nung.35 Aber solche Planvorgaben, das hat die Zentralverwaltungswirtschaft der DDR gezeigt, stehen zunächst nur auf dem Papier und müssen von dort auch den Weg in die weitaus komplexere Realität schaffen. Eine Katalysatorwir­ kung erhofft man sich insoweit von der bereits im Juli 2022 geschaffenen Vor­ rangklausel in §  2 EEG – erneuerbare Energien als vorrangiger Belang bei allen rechtlich erforderlichen Schutzgüterabwägungen.36 Es erscheint allerdings Skepsis angebracht, ob die Vorschrift wirklich so eine Wunderwaffe ist. Sie wird nicht zu einer kompletten Aushebelung unserer überkommenen verfas­ sungsrechtlichen Abwägungsmechanismen führen und Pauschallösungen an­ bieten können für Spannungsfelder wie etwa zwischen Staatszielbestimmungen und Grundrechten oder unter Staatszielbestimmungen  – auch Artenschutz wird ja in Art.  20a GG verankert.37 Ihre Wirkung wird sich nach meiner Ein­ schätzung eher in einzelnen konkreten Abwägungen wie mit dem Denkmal­ schutz oder der Einfügung ins Landschaftsbild zeigen. Für den Netzausbau hilfreicher erscheinen mir unspektakuläre Änderungen im materiellen Fach­ recht, wie der seit Oktober 2022 geltende38 neue §  18 Abs.  4a NABEG, nach dem beim Ausbau einer Leitung in einer Bestandstrasse Auswirkungen der zu erset­ zenden Bestandsanlagen bei der artenschutzrechtlichen Prüfung als Vorbelas­ tungen berücksichtigt werden müssen.39 35  Vgl. BT-Drs. 20/1630, S.  2 f.; nach Jarass, BB 2022, 854 (855) entspricht der Ausbauplan von Wind- und Solarenergie der Bundesregierung in Summe nahezu einer Verdreifachung bis 2030, einer Vervierfachung bis 2040 und einer Verfünffachung bis 2045. 36 Hierzu: Eh, IR 2022, 279 ff.; ders., IR 2022, 302 ff.; Attendorn, NVwZ 2022, 1586 ff. 37  Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3.  Aufl. 2015, Art.  20a Rn.  34; Jarass, in: Jarass/ Pieroth (Hrsg.), GG, 17.  Aufl. 2022, Art.  20a Rn.  13; Steinberg, NVwZ 2023, 138 (140). 38 §   18 Abs.  4a NABEG neu gefasst m.W.v 13.10.2022 durch G. v. 08.10.2022 (BGBl.  I S.  1726). 39  Eingefügt auf Initiative des Ausschusses für Klimaschutz und Energie, vgl. BT-Drs. 20/­ 2656, S.  46 f.

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2. Änderungen betreffend den Netzausbau durch Gesetz vom 19.07.2022 Generell zeigt sich hieran eine Art Marketingproblem: Die energiepolitischen Novellen des Osterpakets sind plakativ, demgegenüber haben die korrespon­ dierenden rechtstechnischen Änderungen, die den Netzausbau betreffen, eher wenig Aufmerksamkeit erhalten.40 Dem soll im Folgenden abgeholfen werden. a) Treibhausgasneutralität in §  1 EnWG Durch das schon erwähnte Artikelgesetz von Juli 2022 ist zunächst der Geset­ zeszweck in §  1 Abs.  1 EnWG um das Ziel der treibhausgasneutralen Energie­ versorgung erweitert worden. Das hat vor dem Hintergrund der vom KSG41 angestrebten Netto-Treibhausgasneutralität eine klarstellende Funktion und dürfte auch für die planerische Ebene des Stromnetzausbaus eher symbolische Bedeutung besitzen.42 b) Modifikationen beim Szenariorahmen, §  12a Abs.  1 EnWG Aber die mit dem Osterpakt verschärften Klimaschutzbemühungen bilden sich auch in den Änderungen zur Netzentwicklungsplanung ab. Bei der eingangs geschilderten Entwicklung des Szenariorahmens haben die ÜNB neuerdings nicht mehr „nur“ die energiepolitischen sondern jetzt dezidiert auch die klimapolitischen Ziele der Bundesregierung abzudecken (§  12a Abs.  1 S.  2 EnWG). Der zu erstellende Szenariorahmen muss nun zudem, wie bereits angespro­ chen,43 die Ziele für das Jahr 2045 betrachten (§  12a Abs.  1 S.  3 EnWG). Der Wortlaut ist etwas missverständlich, soweit er hierfür von „drei weitere[n] Sze­ narien“ spricht. Richtigerweise müsste das durch die Fortschreibung der Szena­ rien 2037 bis zum Jahr 2045 gewahrt sein. Denn es wäre doch unsinnig, für diesen Zeitraum drei weitere, gänzlich neue Szenarien zu betrachten und die bis 2037 projektierten Szenarien nicht weiterzuentwickeln. Zudem sollen durch einen neuen §  12a Abs.  1 Satz  5 EnWG auch die Verteiler­ netzbetreiber (VNB) stärker bei der Erstellung des Szenariorahmens eingebun­ den werden. Davon erhofft man sich, dass relevante Informationen für die Netzentwicklungsplanung  – etwa zu geplanten Netzausbau- und Optimie­ rungsvorhaben – besser auf ihre Tragfähigkeit überprüft werden können.44 Das 40  Kursorische Behandlung der den Netzausbau betreffenden Änderungen bei Schütte/ Winkler, ZUR 2022, 567 (570 f.). 41  §  3 Abs.  2 KSG. 42  Auch der Regierungsentwurf misst der Änderung – mutmaßlich im Blick auf §  3 Abs.  2 KSG – nur klarstellende Funktion zu BT-Drs. 20/1599, S.  50. 43  Der Entwurf der ÜNB für den Szenariorahmen 2037/2045 und die zugehörige Geneh­ migung der BNetzA antizipieren diese Regelung bereits (siehe oben unter III. 3). 44  Vgl. aus der Gesetzesbegründung: BT-Drs. 20/1599, S.  51; zur Umsetzung der angemes­

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erscheint sinnvoll, weil damit sicher auch eine Art „Realisierungscheck“ vor Ort verbunden ist. c) Präferenzräume, §  12c Abs.  2a S.  1 EnWG Ein gänzlich neues planerisches Instrument auf Ebene der Bedarfsermittlung wird mit den sog. „Präferenzräumen“ in §  12c Abs.  2a S.  1 EnWG eingeführt. Es soll zur weiteren Beschleunigung der Genehmigungsverfahren beitragen, weil es für Vorhaben in diesen Präferenzräumen eine Bundesfachplanung entfallen lässt (§  5a Abs.  4a NABEG).45 Laut der neuen Begriffsbestimmung (in §  3 Nr.  10 NABEG) ist ein Präferenzraum ein „durch die Bundesnetzagentur ermittelter und dem Umweltbericht nach §  12c Abs.  2 des Energiewirtschaftsgesetzes zu­ grunde gelegter Gebietsstreifen, der für die Herleitung von Trassen im Sinne des §  18 Abs.  3c NABEG besonders geeignete Räume ausweist.“ Die Bildung von Präferenzräumen wirkt auf die spätere Planfeststellung ein, indem gemäß §  18 Abs.  3c NABEG für Vorhaben, die im Bereich eines Präferenzraums reali­ siert werden sollen, der konkrete Trassenverlauf sowie die in Frage kommenden Alternativen auf Grundlage des Präferenzraums zu ermitteln sind. Eng damit verbunden ist die Bündelungsfunktion des §  12b Abs.  3a EnWG. Danach sollen die ÜNB, vereinfacht gesagt, der Regulierungsbehörde ergän­ zend zum NEP46 Informationen dazu liefern, welche neuen HGÜ-Ausbaumaß­ nahmen in einem bereits im Bundesnetzplan aufgenommenen Trassenkorridor oder in einem landesplanungsrechtlich bereits bestimmten HGÜ-Erdkabelver­ lauf realisiert werden können. Wenn ein solches Andocken an bereits planfest­ gestellte Vorhaben nicht möglich ist, ist dafür ein Präferenzraum zu ermitteln (§  12c Abs.  2a S.  1 EnWG). Es wird sich erweisen müssen, ob diese Präferenzräume tatsächlich einen Zeitgewinn oder vielmehr nur zusätzliche planerische Lasten mit sich bringen. Die insoweit maßgeblichen neuen Vorschriften (§  12b Abs.  3a und §  12c Abs.  2a EnWG) nehmen den Rechtsanwender, freundlich gesagt, nicht gerade an die Hand47 und eine allgemein anerkannte Methodik zur Ermittlung von Präfe­ renzräumen steht, soweit ersichtlich, auch noch nicht zur Verfügung.48 senen Beteiligung der VNB Pries, in: Assmann/Peiffer (Hrsg.), BeckOK EnWG, Stand: 09/­ 2022, §  12a Rn.  45a. 45  Vgl. zur Hoffnung einer beschleunigenden Wirkung: BT-Drs. 20/1599, S.  53; insoweit zurückhaltend: Fischer, in: Assmann/Peiffer (Hrsg.), BeckOK EnWG, Stand: 09/2022, §  12c Rn.  29c. 46  Die Informationspflichten sind nicht Bestandteil des NEP selbst, vgl. Fischer, in: Ass­ mann/Peiffer (Hrsg.), BeckOK EnWG, Stand: 09/2022, §  12c Rn.  9a; BT-Drs. 20/1599, S.  52. 47  Auch der Bundesrat hat im Rahmen seiner Stellungnahme im Gesetzgebungsverfahren das Instrument der Präferenzräume zwar grundsätzlich begrüßt aber eine weitere Konturie­ rung und Konkretisierung angemahnt, siehe BT-Drs. 20/1977, S.  5 f. 48 Zu letzterem Aspekt: Fischer, in: Assmann/Peiffer (Hrsg.), BeckOK EnWG, Stand: 09/2022, §  12c Rn.  29c.

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d) Verteilernetzplanung, §  14d EnWG Betroffen von der Sommernovelle sind auch die Verteilnetzbetreiber. Der erst ein Jahr alte §  14d EnWG,49 der sie verpflichtet, der Regulierungsbehörde alle zwei Jahre einen Netzausbauplan vorzulegen, wurde im Juli 2022 gründlich umgekrempelt. Damit soll auch die Netzausbauplanung der VNB am Ziel der Treibhausgasneutralität50 ausgerichtet werden, was etwa auch bedeutet, dass die Netzausbaupläne der VNB nun auch die voraussichtliche Entwicklung der Ver­ teilaufgabe darlegen müssen. Hierzu wird die bis letzten Sommer nur in einem Satz51 vorgesehene Pflicht zur Aufstellung eines abgestimmten Regionalszena­ rios für den Ausbau der Verteilernetze nun in einem eigenen Absatz näher aus­ gestaltet. Danach muss dieses Regionalszenario zehn Monate vor Vorlage des Netzausbauplans fertig sein und einen Entwicklungspfad aufzeigen, „der so­ wohl die für das langfristige Zieljahr 2045 gesetzlich festgelegten sowie weitere klima- und energiepolitische Ziele der Bundesregierung als auch die wahr­ scheinlichen Entwicklungen für die nächsten fünf und zehn Jahre berücksich­ tigt.“ (§  14d Abs.  3 S.  2 EnWG). Die gewollte Parallelisierung der Netzausbauplanung der VNB mit dem Sze­ nariorahmen und der Netzentwicklungsplanung der ÜNB ist offensichtlich.52 Den Preis für die zusätzliche planerische Berücksichtigung der klima- und energiepolitischen Ziele der Bundesregierung zahlen allerdings die VNB, die nun zwangsläufig einen gestiegenen Erfüllungsaufwand haben werden.53 e) Projektmanager, §  43g EnWG, §  29 NABEG Mitte letzten Jahres neu gefasst wurden auch die Vorschriften über den Projekt­ manager in §  43g EnWG und §  29 NABEG,54 einer seit mehr als zehn Jahren eingeführten Rechtsfigur, die eine Einschaltung externer Dritter durch die Be­ hörde möglich macht und sich deshalb bei spezialisierten Anwaltskanzleien großer Beliebtheit erfreut. Seit gut einem halben Jahr neu ist, dass man diesen Projektmanager nun nicht mehr nur mit der Vorbereitung und Leitung des Er­ örterungstermins, sondern auch mit dem Entwurf von Entscheidungen beauf­ tragen kann (§  43g Abs.  1 Nr.  10 EnWG). Der Gesetzgeber hat es für nötig be­ 49  Die Vorschrift führt die vormals in §  14 Abs.  1a und Abs.  1b EnWG a. F. geregelten Pla­ nungspflichten der VNB zusammen und setzt Artikel  32 Absatz  3 der Richtlinie (EU) 2019/­ 944 um, näher Sasse, in: Steinbach/Franke (Hrsg.), Kommentar zum Netzausbau, 3.  Aufl. 2022, §  14 Rn.  3 EnWG; BT-Drs. 19/27453, S.  110 f. 50  §  3 Abs.  2 S.  1 KSG. 51  §  14d Abs.  2 S.  4 EnWG a. F. 52  Vgl. auch BT-Drs. 20/1599, S.  55. 53  Zum seitens der Bundesregierung prognostizierten Erfüllungsaufwand für die Wirt­ schaft durch die Änderungen des §  14d EnWG vgl. BT-Drs. 20/1599, S.  36 ff. 54  Neufassung aufgrund des Vorschlags des Ausschusses für Klimaschutz und Energie, s. BT-Drs. 20/2402, S.  17 und 45.

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funden, in Abs.  3 hineinzuschreiben, dass die Entscheidung über den Planfest­ stellungsantrag selbst natürlich allein bei der zuständigen Behörde verbleibt. Übersetzt in die Kategorien des allgemeinen Verwaltungsrechts heißt das: Der Projektmanager bleibt weiterhin nur Verwaltungshelfer55 – oder, wenn man es gebildeter sagen will, er wird im Rahmen einer teilweisen Verfahrensprivatisie­ rung tätig. Dennoch bleibt ein ungutes Gefühl. Die Einschaltung von Projektmanagern vermag zur Verfahrensbeschleunigung beizutragen und die Behörden zu ent­ lasten.56 Das gilt vor allem auch finanziell, weil der Vorhabenträger den Projekt­ manager bezahlen muss.57 Die Neuregelung ist aber Wasser auf die Mühlen der­ jenigen, die bislang schon eine klarere Trennung zwischen Vorhabenträger, Anhörungsbehörde und Planfeststellungsbehörde gefordert haben.58 Auch der Verfasser hat immer schon vertreten,59 dass im planfeststellungsrechtlichen Er­ örterungstermin zur institutionellen Sicherung der Unparteilichkeit und um die Objektivität der Planfeststellungsbehörde für die Einwender besser sichtbar zu machen, 60 darauf zu achten ist, dass die Funktionentrennung von Anhö­ rungs- und Planfeststellungsbehörde auch durch eine verwaltungsorganisatori­ sche Trennung flankiert wird. 61 Sofern ein „Projektmanager“ als verwaltungsexterner Moderator hinzugezo­ gen wird,62 um den Erörterungstermin zu leiten,63 trägt das dazu bei, die Ob­ 55  Burgi/Durner, Modernisierung des Verwaltungsverfahrensrechts durch Stärkung des VwVfG, 2012, S.  173. 56  Zum Beschleunigungspotential durch den Einsatz von Projektmanagern: Versteyl, I+E 2020, 31 (32 ff.). 57  So nun ausdrücklich der durch G v. 19.07.2022 (BGBl. I S.  1214) neugefasste §  43g Ab­ satz  2 EnWG. 58 Etwa Turiaux, in Kment (Hrsg.), EnWG §  43g Rn.  2. 59  Mann, VVDStRL 72 (2012), 544 (587). 60  Dass eine Behördentrennung für sich allein noch kein ausreichendes Mittel ist, um die Bürgerbeteiligung bei Großvorhaben zufriedenstellend lösen zu können, belegt die optimal verwirklichte organisatorische Behördentrennung im Fall „Stuttgart 21“ zwischen dem Re­ gierungspräsidium Stuttgart als Anhörungsbehörde und dem Eisenbahn-Bundesamt als Planfeststellungsbehörde, s. zu den Einzelheiten Schönenbroicher, VBlBW 2010, 460 (466). 61  Diese Forderung ist schon früh mit Blick auf „Planfeststellungen in eigener Sache“ erho­ ben worden, vgl. Goerlich, Grundrechte als Verfahrensgarantien, 1981, S.  351 und die Doku­ mentation bei Fehling, Verwaltung zwischen Unparteilichkeit und Gestaltungsauftrag, 2001, S.  258 ff. sowie §  82 Abs.  1 UGB-KomE, vgl. BMU (Hrsg.), Umweltgesetzbuch (­UGB-KomE), 1998, S.  138, 624. Zur Trennung von Anhörungs- und Planfeststellungbehörde vgl. §  89 Abs.  2 UBG-KomE sowie etwa Fehling, a. a. O., S.  264 f.; Steinberg/Wickel/Müller, Fachplanung, 4.  Aufl. 2012, §  2 Rn.  5 ff.; Franzius, GewArch 2012, 225 (228); Ziekow, Neue Formen der Bür­ gerbeteiligung?, Verhandl. Des 69. DJT, Gutachten, 2012, D 63; Gurlit, JZ 2012, 833 (840). Ge­ gen eine „weisungsfreie Beteiligungsbehörde, die von der entscheidenden Behörde verschieden ist“ der 69. DJT, Beschlüsse, 2012, S.  13 in Beschluss 15 a) der Abteilung Öffentliches Recht. 62 Dazu Burgi, Funktionale Privatisierung und Verwaltungshilfe, 1999, S.   138 ff.; Groß, DÖV 2011, 510 (512); Schink, DVBl. 2011, 1377 (1380 f.); Schütte, ZUR 2011, 169 (170); Wulfhorst, DÖV 2011, 581 (585); vgl. auch §  4b BauGB. 63  Zum Einsatz der hiervon zu unterscheidenden externen Mediatoren als Konfliktmittler

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jektivität der Planfeststellungsbehörde zu unterstreichen. Vereinfacht gesagt: Ihre Leute sitzen beim Erörterungstermin nicht mehr gemeinsam neben dem Vorhabenträger auf der einen Seite und die Einwender auf der anderen Seite des Tisches. Wenn aber nunmehr der Projektmanager ausdrücklich befugt ist, auch die Entscheidung der Planfeststellungsbehörde zu entwerfen, geht dieser Vor­ teil wieder verloren. Im Gegenteil: Das Misstrauen gegen die Objektivität dieser Entscheidung wird sogar noch größer, weil der Projektmanager vom Vorhaben­ träger bezahlt wird. Das ist aber, zugegeben, nur ein psychologisches Moment, rechtlich kann man sich natürlich auf den Standpunkt zurückziehen, dass der Projektmanager nur einen Entwurf macht, nicht aber die unübertragbare genu­ ine Hoheitsaufgabe selbst erfüllt. 64 f) Anpassungen des BBPlG Auch am Bundesbedarfsplangesetz ist das Jahr 2022 nicht ohne Änderungen vorbei gegangen. Auf der Grundlage des bestätigten NEP sind 19 weitere Vorha­ ben hinzugekommen, 17 wurden geändert und eines wurde aufgehoben. Mit der Erhöhung der Vorhabenzahl im BBPlG tritt zunächst ein Entlastungseffekt für die Planungsbehörden ein, weil für diese Vorhaben dann auch deren energiewirt­ schaftliche Notwendigkeit und ihre Vereinbarkeit mit den Zielen des §  1 EnWG festgestellt ist.65 Elf der 19 neuen Vorhaben sind dabei als länder- oder grenz­ überschreitende Leitung im Sinne der §  2 Abs.  1 BBPlG, §  2 Abs.  1 S.  1 NABEG gekennzeichnet und damit über §  2 Abs.  2 NABEG i. V. m. §  1 PlfZV in die Zu­ ständigkeit der BNetzA verwiesen, was die Landesbehörden entlastet.66 Außerdem wurde Mitte 2022 aus Beschleunigungsgründen die Möglichkeit erweitert, für besonders eilbedürftige Vorhaben durch entsprechende Kennzei­ chung im Bundesbedarfsplan mit „G“ nach §  2 Abs.  7 BBPlG, §  5a Abs.  4 S.  1 NABEG auf eine Bundesfachplanung zu verzichten. Nach dem jetzt neuen §  2 Abs.  7 S.  2 BBPlG soll bei HGÜ-Erdkabeln – also gesetzlich intendiert – eine entsprechende Kennzeichnung erfolgen, wenn die eben geschilderte Bünde­

im Planfeststellungsverfahren s. Schmidt-Aßmann, Das Allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2.  Aufl. 2006, 2.  Kap. Rn.  104, 6. Kap Rn.  136 f.; Schmidt-Aßmann in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.) HStR V, 3.  Aufl. 2007, §  109 Rn.  36; Schulte, Schlichtes Verwaltungshandeln, 1995, S.  45 f., 121; Pünder, Die Verwaltung 38 (2005), 1 (23 f.); Kaltenborn, Streitvermeidung und Streitbeilegung im Verwaltungsrecht, 2007, S.  108 ff.; Eisele, ZRP 2011, 113 ff.; Steinberg, ZUR 2011, 340 (345 f.); Stüer/Buchsteiner, UPR 2011, 335 (349); Schink, DVBl.  2011, 1377 (1382 f.); Siegel, DVBl. 2012, 1003 ff.; grundlegend Hoffmann-Riem, Konfliktmittler in Ver­ waltungsverhandlungen, 1989, passim. 64 Zur Nichtübertragbarkeit genuiner Hoheitsaufgaben im Kontext des §   43g EnWG: Nebel/­R iese, in: Steinbach/Franke (Hrsg.), Kommentar zum Netzausbau, 3.  Aufl., 2022, EnWG §  43g Rn.  22. 65  Vgl. BT-Drs. 20/1599, S.  47. 66  BT- Drs. 20/1599, S.  36 ff.

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lungsoption nach §  12b Abs.  3a EnWG – Stichwort Trassenkorridor – eröffnet ist und bestimmte weitere Voraussetzungen vorliegen. g) Anpassungen des NABEG Schließlich hat es auch beim NABEG Mitte 2022 Anpassungen gegeben, die auf Beschleunigung und Vereinfachung abzielen. Längst überfällig war die Umstel­ lung von einer analogen auf eine digitale Auslegung der Unterlagen auf der In­ ternetseite der BNetzA bei den verschiedenen Öffentlichkeitsbeteiligungen im Rahmen der Bundesfachplanung (§  9 Abs.  3 NABEG) und beim Planfeststel­ lungsverfahren (§  22 NABEG). Weitere Änderungen betreffen u. a. auch hier den Projektmanager (§  29 NABEG), Zulassungserfordernisse für die Verlegung und Nutzung von Leerrohren für Stromleitungen (§  18 Abs.  3 S.  5 u. 6 NABEG) oder die Maßgeblichkeit des Präferenzraumes bei der Planfeststellung (§  18 Abs.  3c NABEG),67 worauf hier aus Platzgründen nicht im Detail eingegangen werden soll. h) Offshore-Anbindung, Wegfall des Erörterungstermins Eine Reihe von Änderungen verschiedener Gesetze, mit denen man auch das Ziel der Verfahrensbeschleunigung verfolgt,68 betreffen die Offshore-Anbin­ dungsleitungen. So wird etwa der zuständigen Planungsbehörde seit Oktober 202269 aufgegeben, Planfeststellungsbeschlüsse für die Errichtung von Offshore-­ Anbindungsleitungen innerhalb von zwölf Monaten zu fassen (§  43b Abs.  2 EnWG). Seit dem 01.01.2023 bedürfen nun auch Nebeneinrichtungen zu sol­ chen Offshore-Anbindungsleitungen im Regelfall nicht mehr der Planfeststel­ lung (§  18 Abs.  1 NABEG). Zur Abrundung noch die Randnotiz, dass die Rechtsänderungen vom Herbst 2022 nun auch die Möglichkeit vorsehen, auf die Erörterung nach §  73 Abs.  6 VwVfG und §  18 Abs.  1 S.  4 UVPG zu verzichten, und zwar sowohl im Anhö­ rungsverfahren (§  43a Nr.  3 S.  1 EnWG) als auch bei der Bundesfachplanung (§  10 Abs.  3 S.  1 NABEG) und der Planfeststellung nach NABEG (§  22 Abs.  5 NABEG). Die Planungsbehörden sollen zusätzlich entlastet werden, indem Änderungen des Betriebskonzepts nunmehr weitgehend der planerischen Ver­ antwortung entzogen sind. Ausweislich des §  3 Nr.  1 a. E. NABEG sind diese ausdrücklich nicht mehr (anders noch §  3 Nr.  1 a. F. NABEG) als „Änderung oder Erweiterung einer Leitung“ im Sinne des Gesetzes zu begreifen, sodass ein Planfeststellungsverfahren nach §  18 NABEG nicht erforderlich ist. Auch das Anzeigeverfahren nach §  25 NABEG bzw. §  43f EnWG ist entsprechend ange­ 67 

Vgl. BT- Drs. 20/1599, S.  71 ff. Siehe BT-Drs. 20/3497, S.  39. 69  Durch das Gesetz zur Änderung des Energiesicherungsgesetzes und anderer energie­ wirtschaftlicher Vorschriften vom 08.10.2022, BGBl. I, 2022, S.  1726 ff. 68 

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passt worden und für Änderungen des Betriebskonzepts grundsätzlich nicht mehr erforderlich.

V. Der Netzausbau im Blick der Judikative – Präzisierung und Klarstellung Dieser kursorische Parforceritt durch die netzausbaurelevanten Rechtsände­ rungen aus dem Jahr 2022 dürfte bereits gezeigt haben, dass das Rechtsregime insgesamt sehr viel Bewegung erfahren hat, was zweifelsohne auch die Gerichte auf den Plan rufen wird, wobei der Plural eher unangebracht ist, weil bekannt­ lich das BVerwG bei solchen Leitungsvorhaben in der Regel erst- und letzt­ instanzlich zuständig ist (§  50 Abs.  1 Nr.  6 VwGO). Blicken wir aber auch inso­ weit zurück und sehen uns abschließend an, was es aus der Judikative „Neues zum Netzausbau“ gibt. Wie schon bei den legislativen Änderungen kann hier nur eine Auswahl präsentiert werden, die sich auf drei Judikate mit interessanter Fallgestaltung beschränkt.

1. BVerwG, Urt. v. 27.07.2021, Einhausung von Höchstspannungsleitungen? Den Anfang macht eine Entscheidung des BVerwG zu einem Planfeststellungs­ beschluss für eine EnLAG-Höchstspannungsfreileitung nordöstlich von Ber­ lin.70 Das Vorhaben gehörte nicht zu den Pilotvorhaben, auf denen nach §  2 En­ LAG Erdkabel getestet werden können. Der Kläger hatte aber u. a. eine „Ein­ hausung“ der Leitung verlangt, also eine Leitungsführung knapp oberhalb des Geländeniveaus, bei der parallel zur Lärmschutzwand eine zweite Wand errich­ tet und die Konstruktion dann überdacht werden sollte – sozusagen ein „ober­ irdischer Infrastrukturkanal“. Das sei eine alternative Variante, die die Behörde bei ihrer Abwägung71 nach §  43 Abs.  3 EnWG nicht geprüft habe. Das BVerwG entwickelte methodisch sauber einen „numerus clausus“ der technischen Gestaltungen: §  1 Abs.  1 EnLAG erfasse über den Verweis auf §  43 Abs.  1 S.  1 EnWG ausschließlich Hochspannungsfreileitungen,72 nach der Aus­ nahmevorschrift des §  2 EnLAG73 sei eine Erdverkabelung möglich, allerdings 70 

Nr.  11 in die Anlage zum Energieleitungsausbaugesetz (EnLAG). Abwägungsgebot nach §  43 Abs.  3 EnWG siehe: Fest/Riese, in: Steinbach/Franke (Hrsg.), Kommentar zum Netzausbau, 3.  Aufl., 2022, EnWG §  43 Rn.  180 ff. 72  BVerwGE 173, 132 (144); das Gericht bezieht sich dabei noch auf ältere Fassungen der Normen. Die zwischenzeitlichen Änderungen der §  1 Abs.  1 EnLAG, §  43 EnWG stellen das Wortlautargument aber nicht in Frage. 73 Zur Auslegung des §   2 EnLAG als Ausnahmevorschrift s. Mann/Ashrafzadeh Kian, NVwZ 2016, 1443 (1446). 71  Zum

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nur bei den dort genannten Teilabschnitten (Abs.  1) und unter besonderen Vor­ aussetzungen (Abs.  2). Es wäre systematisch nicht einsichtig, wollte man andere, noch weniger übliche Lösungen nach §  43 Abs.  3 EnWG nun der behördlichen Abwägung überlassen74 – eine Begründung, die sachlich und methodisch über­ zeugt. Zudem differenziert das Gericht die für die optische Wirkung von Freileitun­ gen entwickelten Grundsätze im Sinne eines dreistufigen Maßstabes weiter aus. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass von Freileitungsmasten eine unzumut­ bare erdrückende Wirkung ausgehen kann, die Gegenvorkehrungen nach §  74 Abs.  2 VwVfG erforderlich machen kann.75 Unterhalb dieser Schwelle können visuelle Beeinträchtigungen durch Freileitungen relevant sein, wenn die Lei­ tung die Wohnbebauung optisch bedrängt.76 Das sei in der Regel zumutbar, müsse aber in der Abwägung Berücksichtigung finden. Auch hierfür gelte aber eine Erheblichkeitsschwelle. Sie sei erst dann überschritten, wenn die Masten der Leitung sich dem Grundstück derart annähern, dass sie gerade dessen Situ­ ation deutlich mitprägten:77 Die bloße Sichtbarkeit einer Leitung reiche hierfür aber noch nicht aus. Sie liege noch unterhalb dieser beiden Schwellen: Visuelle Wirkungen einer Freileitung betreffen nur das Wohnumfeld78 und gehören, wie der Anblick von Fabriken oder Windenergieanlagen, zur „Raumausstattung ­eines Industrielandes. Vor ihrem Anblick schützt das Eigentumsrecht nicht“. Mit dieser abgestuften Vorgabe ist es dem BVerwG gelungen, den Prüfungs­ maßstab für Klagen gegen die optische Wirkung von Freileitungen zu verfei­ nern, was künftige Verfahren in diesem Punkt vorhersehbarer macht und damit der Rechtssicherheit dient.

2. BVerwG, Urt. v. 05.07.2022, Erdkabel als Alternative i. S. d. §  34 Abs.  3 Nr.  2 BNatSchG Erst knapp ein halbes Jahr alt ist ein anderes Urteil des BVerwG zum Dauer­ thema der Erdkabel,79 hier nun im naturschutzrechtlichen Gewand. Gegen­

74 

BVerwGE 173, 132 (144). 173, 132 (149), anknüpfend an BVerwGE 161, 263 (289 Rn.  89); BVerwG, NVwZ 2018, 332 (335); NVwZ 2018, 336 (340). 76  BVerwGE 173, 132 (150) anknüpfend an BVerwGE 161, 263 (289 f.) m. w. N. 77  BVerwGE 173, 132 (150). 78 Zur Bemessung des Wohnumfeldes im Anwendungsbereich des EnLAG s. Mann, Rechts­fragen der Anordnung von Erdverkabelungsabschnitten bei 380 kV-Pilotvorhaben nach EnLAG, 2017, S.  23–36. Beachte auch die Entfernungsangaben in §  2 Abs.  2 EnLAG. 79  BVerwG, NVwZ-RR 2017, 768 (779 f.); BVerwGE, 165 (176); BVerwG, NVwZ 2021, 723 (731 f.); zur Relevanz der Errichtung als Erdkabel in der jüngeren Rechtsprechung des BVerwG: Külpmann, in: Faßbender/Köck (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen und Probleme beim Netzausbau, 2022, S.  40 ff. 75 BVerwGE

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stand war die Planfeststellung eines Teilabschnitts der sog. „Uckermarklei­ tung“, ein EnLAG-Vorhaben80 in Richtung polnischer Grenze. Ein Umweltschutzverband strebte die Errichtung der Leitung als Erdkabel an, um erhebliche Beeinträchtigungen der nahen Vogelschutzgebiete zu vermei­ den. Nach §  2 Abs.  2 EnLAG kann die Zulassungsbehörde für Pilotvorhaben unter bestimmten Voraussetzungen eine Erdverkabelung verlangen, unter an­ derem, wenn „eine Freileitung nach §  34 Abs.  2 BNatSchG unzulässig wäre und mit dem Einsatz von Erdkabeln eine zumutbare Alternative im Sinne des §  34 Abs.  3 Nr.  2 BNatSchG gegeben ist“. Der angegriffene Planergänzungsbeschluss sieht zwar eine erhebliche Beeinträchtigung im Sinne des §  34 Abs.  2 BNatSchG für manche Vogelarten, stützt sich aber insoweit auf die ausnahmsweise Zu­ lassungsmöglichkeit nach Abs.  3 – überwiegendes öffentliches Interesse –, weil die Leitung für den Transport des im Norden eingespeisten Stroms aus erneu­ erbaren Energien benötigt werde. 81 Die entscheidungserhebliche Frage war demnach, ob eine Erdverkabelung als eine zumutbare Alternative im Sinne des §  34 Abs.  3 Nr.  2 BNatSchG zu bewer­ ten ist. Soweit es danach darauf ankommt, ob der Zweck „mit geringeren Beein­ trächtigungen zu erreichen ist“,82 ist man aber einhelliger Meinung, dass keine zumutbare Alternative vorliegt, wenn die Identität des Vorhabens derart betrof­ fen ist, dass der Vorhabenträger seine Planungsziele nicht mehr erreichen kann. 83 Hierzu hat das BVerwG argumentiert, dass die Entscheidung des Gesetzgebers, einen Erdkabeleinsatz nach EnLAG nur bei bestimmten, explizit aufgelisteten Pilotvorhaben zu ermöglichen, bei der die Bestimmung zumutbarer Alternati­ ven im Sinne von §  34 Abs.  3 Nr.  2 BNatSchG zu beachten sei.84 Weil der betrof­ fene Uckermarkabschnitt keines der Pilotvorhaben sei, berühre eine Erdverka­ belung dieser Leitung auch die Identität des Vorhabens. Dieses Ergebnis ist klar, doch die Begründung über die Identität des Vorha­ bens ist angreifbar, weil die Alternativenprüfung der Nr.  2 grundsätzlich auch andere Arten der Ausführung erfasst.85 Nun kann man einwenden, die Erdver­ kabelung sei angesichts ihrer deutlich höheren Kostenstruktur keine andere 80 

Nr.  3 der Anlage zum EnLAG. Vgl. BVerwG, BeckRS 2022, 29112, Rn.  135. 82  Diese – gerichtlich voll überprüfbare – Einordnung richtet sich insbes. danach, ob sich das Planungsziel nach dem Schutzkonzept der Flora-Fauna-Habitat-RL (Art.  4) an einem günstigeren Standort oder mit geringerer Eingriffsintensität verwirklichen lässt, BVerwG, BeckRS 2022, 29112, Rn.  139; Lüttgau/Kockler, in: BeckOK Umweltrecht, BNatSchG §  34 Rn.  22. 83  BVerwG, BeckRS 2022, 29112, Rn.  139; BVerwGE 145, 40 (55); Gellermann, in: Land­ mann/Rohmer (Hrsg.), Umweltrecht, BNatSchG §  34 Rn.  36; Ewer, in: Lütkes/ders. (Hrsg.), BNatSchG, 2.  Aufl., 2018, §  34 Rn.  58; Lüttgau/Kockler, in: BeckOK Umweltrecht, B ­ NatSchG §  34 Rn.  22. 84  BVerwG, BeckRS 2022, 29112, Rn.  141 ff. 85  Gellermann, in: Landmann/Rohmer (Hrsg.), Umweltrecht, BNatSchG §   34 Rn.   36 „Tunnel statt Brücke oder Brücke statt Damm“. 81 

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Ausführungsart, sondern ein aliud, aber auf diese Diskussion muss man sich gar nicht einlassen. Ebenso wenig wie auf die Frage, ob Erdkabel tatsächlich weni­ ger erhebliche Beeinträchtigungen als Freileitungen nach sich ziehen. 86 Viel­ mehr genügt die schlichte Überlegung: Wie kann die Erdverkabelung eine ­naturschutzrechtliche Alternative im Sinne des §  34 Abs.  3 Nr.  2 BNatSchG ­darstellen, wenn der Behörde bei diesem EnLAG-Vorhaben jede rechtliche Handhabe fehlt, die ÜNB zu einer Erdverkabelung zu verpflichten? Erdkabel bei EnLAG-Projekten außerhalb der Pilotvorhaben sind schon keine Alterna­ tive, auf ihre Zumutbarkeit kommt es daher gar nicht an. 87

3. BVerwG, Urt. v. 22.02.2022, Anhörungspflicht bei Veränderungssperre Die letzte Entscheidung des BVerwG, die hier Erwähnung finden soll, stammt von Anfang 2022 und betrifft das für die Energiewende zentrale Vorhaben des SüdOstLinks, die Nr.  5 im Bundesbedarfsplan. Im Jahr 2020 hatte die BNetzA in der Bundesfachplanung auf der Teilstrecke Schwandorf–Isar einen raumver­ träglichen Trassenkorridor gemäß §  12 Abs.  2 NABEG festgelegt und zu dessen Sicherung eine Veränderungssperre nach §  16 Abs.  1 NABEG erlassen. Hierzu waren die Betroffenen jedoch nicht angehört worden, was eine Gemeinde, die Grundstücke im Gebiet der Veränderungssperre besaß, als fehlerhaft rügte.88 Weil Veränderungssperren als sachbezogene Allgemeinverfügung ergehen (§  16 Abs.  3 NABEG), musste sich das BVerwG mit der Frage auseinandersetzen, ob in diesem Fall auch ein Absehen von der Anhörung nach §  28 Abs.  2 Nr.  4 ­VwVfG möglich war. Der vierte Senat des BVerwG knüpft an §  35 VwVfG an und stellt fest, dass eine sachbezogene Allgemeinverfügung nur vorliege, wenn sie „eine“ Sache be­ trifft. Die Veränderungssperre beziehe sich jedoch auf mehrere Grundstücke, sodass sie sich als ein Bündel von mehreren Allgemeinverfügungen darstelle, die jeweils für sich betrachtet werden müssten.89 Die Tatbestandsstruktur des §  28 VwVfG verlange grundsätzlich eine Einzelfallprüfung, ob eine Anhörung nicht geboten ist, doch werde dieses Gebot durch die auf Typisierung angelegten 86  Zu beiden Aspekten Weyer/Mann/Schneider, BMU-Studie „Ökologische Auswirkun­ gen von 380-kV-Erdleitungen und HGÜ-Erdleitungen“, Band 4.4., Bericht der Arbeitsgruppe Recht, 2012, S.  132 ff., 158 ff. 87 Vgl. Ohms/Weiss, in: Säcker (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Energierecht, 4.  Aufl., 2019, 1. Bd.  Halbband 2, §  2 EnLAG Rn.  51a. Insofern ist der amtliche Leitsatz des BVerwG klarer als die Begründung: „Ist ein Vorhaben nach dem EnLAG kein Pilotvorhaben, so ist seine vollständige oder teilweise Errichtung als Erdkabel keine Alternative im Sinne des §  34 Absatz  3 Nummer  2 BNatSchG.“ 88  Zum Sachverhalt vgl. ausführlich BVerwG, NVwZ 2022, 978 f. 89  BVerwG, NVwZ 2022, 978 (980).

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Ausnahmen in Abs.  2 modifiziert.90 Auch wenn ein solches Regelbeispiel vorlie­ ge, müsse wegen der hohen rechtsstaatlichen Bedeutung der Anhörung noch in einem zweiten Schritt eine Ermessenentscheidung getroffen werden, ob nicht gleichwohl eine Anhörung durchgeführt werden sollte.91 Insoweit sei rechtser­ heblich, „in welchem rechtlichen und tatsächlichen Zusammenhang welche Art von Allgemeinverfügung erlassen werden soll“.92 Bei einer Veränderungssperre könne man, anders als bei sach- oder nutzungsbezogenen Allgemeinverfügun­ gen wie etwa einer straßenrechtlichen Widmung, aber klar bestimmen, welche Grundstücksbesitzer von ihr in welcher Weise betroffen sind.93 Deren Belange seien daher trotz Vorliegens einer Allgemeinverfügung im Wege der Einzelfall­ prüfung zu würdigen.94 Weil die Behörde stattdessen unter Verweis auf §  28 Abs.  2 Nr.  4 VwVfG pauschal von einer Anhörung abgesehen habe, liege mithin ein Anhörungsfehler vor.95 Und dann kommt, was unseren Studierenden ab dem 3. Semester bekannt vorkommen dürfte: Den Ausgang des Prozesses beeinflusst hat dies allerdings nicht. Weil die Gemeinde zwischenzeitlich einen Antrag auf Aufhebung der Veränderungssperre nach §  16 Abs.  2 S.  2 NABEG gestellt hatte, über den die Behörde entschieden hat, war der festgestellte Verfahrensfehler nach §  45 Abs.  1 Nr.  3, Abs.  2 VwVfG geheilt.96

VI. Fazit Seit mehr als zehn Jahren besteht Konsens darüber, dass der Ausbau der über­ regionalen Stromnetze beschleunigt werden muss, wenn die Energiewende Er­ folg haben soll. Doch der rechtsstaatlich eingehegten Konkretisierungskaskade aus Planungs- und Planfeststellungsverfahren ist eine gewisse Trägheit gerade­ 90  Zum Regelungszweck, die Verwaltung bei Verfahren zu entlasten, bei denen individuel­ le Belange typischerweise keine hervorgehobene Rolle spielen s. Schneider, in: Schoch/ders. (Hrsg.), VwVfG, §  28 Rn.  68; Engel/Pfau, in: Mann/Sennekamp/Uechtritz (Hrsg.), VwVfG 2.  Aufl., 2019, Rn.  77. 91 BVerwG, NVwZ 2022, 978 (980); ebenso Schneider, in: Schoch/ders., VwVfG, §   28 Rn.  52; Kallerhoff/Mayen, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), VwVfG, 10.  Aufl., 2022, §  28 Rn.  47. 92  BVerwG, NVwZ 2022, 978 (981). 93 Kritisch Seidel, UPR 2021, 284 (287). 94 Die Veränderungssperre wirkt damit im Ergebnis allenfalls wie eine Bündelung von Verwaltungsakten im Sinne des §  28 Abs.  II Nr.  4 2.  Var. VwVfG, vgl. BVerwG, NVwZ 2022, 978 (981). 95 Obwohl diese streng genommen keine Beteiligte i. S. d. §   13 Abs.  1 VwVfG ist, a. A. Stuttmann, Anmerkung zu BVerwG Urt. v. 22.02.2022 – 4 A 7/20, NVwZ 2022, 978 (984). 96  Auch dies kann man kritisch sehen, denn das Verfahren nach §  16 Abs.  2 S.  2 NABEG ist grundsätzlich unabhängig von dem Erlass der Veränderungssperre, Stuttmann, Anmerkung zu BVerwG Urt. v. 22.02.2022 – 4 A 7/20, NVwZ 2022, 978 (985).

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zu immanent. Und dabei ist noch kein Blick auf das sich zusätzlich noch an­ schließende Vergabeverfahren mit den ihm eigenen Klagerunden geworfen. An­ gesichts der politischen Ambition der Ampel-Koalition bei der Energiewende stand zu erwarten, dass es zu legislativen Änderungen kommen wird, mit denen der Netzausbau beschleunigt werden soll. Der Krieg in der Ukraine hat diesen Prozess aber nun enorm befördert. Weil viele der Änderungen unter erhebli­ chem Zeitdruck entwickelt, also sozusagen „mit der heißen Nadel gestrickt“ worden sind, wird sich die Schönheit und Reißfestigkeit der hierbei entstande­ nen Nähte, d. h. die Effektivität der Gesetze, erst noch erweisen müssen. Das größte Beschleunigungs-, aber auch Konfliktpotenzial dürfte dabei wahrscheinlich vom neuen Planungsinstrument der Präferenzräume ausgehen. Aber auch insoweit zählt nicht allein, was in Rechtsvorschriften niedergelegt ist, sondern es muss auch ein entsprechend beschleunigter Vollzug der Gesetze gesichert sein. Die ÜNB und die Behörden sind insoweit vor eine nicht leichte Aufgabe gestellt, weil sich auch hier die Beschleunigungshoffnung den Praxis­ bedingungen der Personalknappheit und gelegentlich noch fehlender Erfahrung im Umgang mit den neuen Rechtsvorschriften stellen muss. Der Rechtspre­ chung hingegen wird weiterhin die Aufgabe der Fehlerkorrektur im Einzelfall zukommen. Doch in dem Maße, in dem der Gesetzgeber nun zunehmend ver­ fahrensrechtliche Halteseile kappt und mit dem Befugniszuwachs des Projekt­ managers nach hier vertretener Auffassung ein falsches Signal setzt, werden auch die vom Netzausbau vor Ort Betroffenen stärker den Klageweg suchen, weil sie trotz der Möglichkeiten der Öffentlichkeitsbeteiligung gefühlt nur noch vor den Gerichten mit ihren Anliegen Gehör finden. Nehmen aber die Klageverfahren weiter zu, könnte das frühe Beschleunigungsinstrument erstinstanzlicher Zuständigkeit des BVerwG irgendwann dessen Belastungs­ grenzen erreichen und unseren Netzausbau sogar verzögern.

Beschleunigter Ausbau der Nutzung verflüssigten Erdgases Umweltprüfungen und die Beteiligungs- und Klagerechte Roda Verheyen und Marie Bohlmann

I. Einleitung Am 17.12.2022 wurde in Wilhelmshaven mit einem Festakt und unter Anwe­ senheit des Bundeskanzlers, des Bundesfinanz- und des Wirtschaftsministers das Spezialschiff „Höegh Esperanza“ mit Landanbindung und damit das erste LNG-Terminal Deutschlands eröffnet. Dabei betonte Bundeskanzler Olaf ­Scholz nicht nur die Bedeutung des Terminals für die Energieversorgungs­ sicherheit Deutschlands, er lobte auch die Errichtung in „Rekordzeit von zehn Monaten“.1 Wenige Tage später wurde bereits das erste Gas in die Anbindungs­ pipeline eingespeist, Mitte Januar hat das Terminal den kommerziellen Betrieb aufgenommen. Darüber sollen maximal 155 Gigawattstunden pro Tag ins deut­ sche Gasnetz eingeleitet werden.2 In Lubmin wurde das Terminal „Neptune“ am 14.01.2023 eingeweiht, die „Seapeak Hispania“ mit Flüssigerdgas aus Ägyp­ ten war in der Woche zuvor bereits eingetroffen.3 Am 20.01.2023 ist dann das dritte schwimmende Terminal „Höegh Gannet“ in Brunsbüttel angekommen.4 Das vierte schwimmende Terminal in Stade soll Ende 2023 an den Start gehen.5 1  ARD, Ein wichtiger Beitrag für die Sicherheit, https://www.tagesschau.de/inland/innen politik/lng-terminals-eroeffnung-wilhelmshaven-101.html, zuletzt abgerufen am 05.04.­2023. 2  Süddeutsche Zeitung, Erstes Gas an LNG-Terminal Wilhelmshaven in Netz eingespeist, https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/energie-erstes-gas-an-lng-terminal-wilhelmshaven-­ in-netz-­eingespeist-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-221221-99-978131, zuletzt abgeru­ fen am 05.04.2023. 3  Norddeutscher Rundfunk, LNG-Terminal in Lubmin: Das Gas strömt ins deutsche Netz, https://www.ndr.de/nachrichten/mecklenburg-vorpommern/LNG-Terminal-in-Lubmin-­ geht-in-Betrieb,lubminlng106.html, zuletzt abgerufen am 05.04.2023. 4 Norddeutscher Rundfunk, Großer Empfang für schwimmendes LNG-Terminal in ­Bruns­büttel, https://www.ndr.de/nachrichten/schleswig-holstein/Grosser-Empfang-fuer-­ schwimmendes-LNG-Terminal-in-Brunsbuettel,brunsbuettel662.html, zuletzt abgerufen am 05.04.2023. 5  Norddeutscher Rundfunk, Erster Rammschlag für neues LNG-Terminal in Niedersach­ sen, https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/Erster-Rammschlag-fuer-neues-LNG-­ Terminal-in-Niedersachsen,stade1126.html, zuletzt abgerufen am 05.04.2023.

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Seit einigen Wochen wird auch ein weiteres Terminal am Standort Rügen disku­ tiert, gegen das sich besonders viel Widerstand regt. 6 Mit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine wurde deutlich, wie ab­ hängig Deutschland von russischem Erdgas ist. Vor Beginn des Kriegs kam gut die Hälfte des Erdgases über die drei Pipelines Nord Stream I, Jamal und Trans­ gas nach Deutschland, ca. 46  Mrd. Kubikmeter (bcm) pro Jahr.7 Die hochum­ strittene Pipeline Nord Stream II sollte die vierte werden. Gegen diese wurde auch in Deutschland lange geklagt – mit guten Gründen, wie sich jetzt zeigt, aber rechtlich zunächst ohne Erfolg.8 Nachdem bereits früh nach Kriegsbeginn ein Importstopp gefordert wurde, hat Russland nach Beginn der Sanktionen seine Gaslieferungen an Deutschland zunächst erheblich gedrosselt und schließ­ lich im September 2022 gänzlich eingestellt. Um dieses Gas „zu ersetzen“, hat sich die Bundesregierung dazu entschieden, neue Lieferverträge zu schließen und LNG-Terminals zu bauen. LNG steht für „Liquified Natural Gas“  – zu Deutsch Flüssigerdgas, also Erdgas, das auf  –162°C heruntergekühlt wird. Das Flüssigerdgas ist sehr gut transportfähig, da das Volumen dabei im Vergleich zum gasförmigen Zustand um das Sechshundertfache reduziert wird.9 LNG hat insofern auch den Vorteil, dass es ohne Pipelines, mithilfe von Schiffen, nach Deutschland transportiert werden kann. Nach der Anlandung der Schiffe wird das LNG in das Terminal gepumpt. Sodann besteht der Hauptzweck eines LNG-Terminals darin, das LNG zu regasifizieren, also mithilfe eines Wärmetauschers wieder in Gas um­ zuwandeln und somit in das deutsche Gasnetz an Land einspeisen zu können. Bei den bislang eröffneten Terminals, den drei Spezialschiffen in Wilhelms­ haven, Lubmin und Brunsbüttel, handelt es sich um stationär schwimmende Terminals, sogenannte FSRU (Floating Storage Regasification Unit). FSRU sind Spezialschiffe, die selbst die Regasifizierung auf dem Schiff durchführen, 6  Norddeutscher Rundfunk, Weitere Proteste auf Rügen: Menschenkette gegen LNG-Ter­ minal, https://www.ndr.de/nachrichten/mecklenburg-vorpommern/Weitere-Proteste-auf-­ Ruegen-Menschenkette-gegen-LNG-Terminal,lng734.html, zuletzt abgerufen am 05.04.­2023. 7  New Climate Institute, Pläne für deutsche Flüssigerdgas-Terminals sind massiv überdi­ mensioniert, 1, https://newclimate.org/resources/publications/plane-fur-deutsche-flussigerd gas-­terminals-sind-massiv-uberdimensioniert, zuletzt abgerufen am 05.04.2023; BT-Drs. 20/­ 1742, 15: Laut Gesetzesbegründung liegt der Gesamtverbrauch an Erdgas bei 96 bcm pro Jahr, 40 Prozent davon werden aus Russland gedeckt. 8  Es handelte sich dabei um mehrere Klagen inklusive Eilverfahren und eine Verfassungs­ beschwerde des Naturschutzbund Deutschland e.V. (NABU), vgl. https://www.nabu.de/ news/2018/07/24875.html, zuletzt abgerufen am 05.04.2023; sowie eine Klage der Deutschen Umwelthilfe e.V., https://www.duh.de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilung/deutsche-­ umwelthilfe-geht-gerichtlich-gegen-nord-stream-2-vor/, zuletzt abgerufen am 05.04.2023. Diese Klagen wurden abgewiesen, vgl. u.a. OVG Greifswald, Urt. v. 16.11.2021 – 5 K 588/20 OVG – juris. Dabei ging es um die Frage der extraterritorial verursachten Methanemissionen. 9  ZDF, Verflüssigtes Erdgas: Das Wichtigste zu LNG, https://www.zdf.de/nachrichten/ politik/lng-terminals-fluessigerdgas-nordseekueste-faq-100.html, zuletzt abgerufen am 05.04.­2023.

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um das Gas dann über mit dem Schiff verbundene Anbindungsleitungen an das Festland zu transportieren.10 Für das FSRU in Wilhelmshaven beispielsweise müssen Umschlagsplattform, Vertäu- und Anlegedalben, Zugangsstege und Zugangsbrücke mit Unterstützungen sowie sonstige Anlegeranbauten errichtet werden.11 Vor kurzem kam die Meldung, dass die Bundesregierung einen Liefervertrag mit Katar für eine Laufzeit von 15 Jahren abgeschlossen hat: In Brunsbüttel soll danach ab 2026 jährlich 2,8 bcm Flüssigerdgas aus Katar bis zum Jahr 2041 in das dann gebaute stationär landgebundene Terminal eingespeist werden.12 Denn bei den genannten vier FSRU soll es nicht bleiben: Mit dem LNG-Beschleuni­ gungsgesetz (LNGG) sollen insgesamt mindestens zwölf Terminals an unter­ schiedlichen Standorten der deutschen Nord- und Ostseeküste beschleunigt ermöglicht werden, darunter insgesamt acht FSRU, vier stationär landgebunde­ ne Terminals sowie acht Gasanschlusspipelines: In Stade, Lubmin, Rostock, Hamburg/Moorburg und Brunsbüttel. Außerdem erfasst der Anwendungs­ bereich des Gesetzes auch Gewässerausbauten, Gewässerbenutzungen sowie Dampf- und Warmwasserpipelines, die für Errichtung und Betrieb eines LNG-Terminals (schwimmend oder stationär) erforderlich sind. Das Gesetz enthält einige beachtliche Regelungen, die im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht erhebliche Zweifel aufwerfen. Diese sollen im Folgen­ den näher betrachtet werden.

II. Das LNG-Beschleunigungsgesetz Das LNGG13 wurde im Frühjahr 2022 nahezu in Lichtgeschwindigkeit vom deutschen Bundestag verabschiedet. Die erste Lesung fand am 12. Mai 2022 statt,14 die zweite und dritte Lesung bereits eine Woche später. In Kraft getreten ist es am 01.06.2022.15 Schnell ging es sicher auch, da eine Verbändebeteiligung nach §  47 Abs.  1, Abs.  3 GGO nicht stattfand, wurde das LNGG doch erst kurz vor der ersten Lesung als bloße Formulierungshilfe in den Fachkreisen zirku­ 10  ARD, Wie funktioniert ein LNG-Terminal, https://www.tagesschau.de/wissen/techno logie/lng-terminal-umwelt-funktion-101.html, zuletzt abgerufen am 05.04.2023. 11  Bericht zu den voraussichtlichen Umweltauswirkungen des Vorhabens, LNG Terminal Wilhelmshaven, Wasserrechtliches Planfeststellungsverfahren nach §  68 WHG, 9 ff., https:// uvp.niedersachsen.de/documents-ige-ng/igc_ni/60601FBD-438C-4888-9117-7A49735A20 65/161000_UVP_Bericht_gesamt.pdf, zuletzt abgerufen am 05.04.2023. 12  Zaremba, Brunsbüttel wird ab 2026 mit LNG aus Katar beliefert, Tagesspiegel Back­ ground v. 30.11.2022, https://background.tagesspiegel.de/energie-klima/brunsbuettel-wirdab-2026-mit-lng-aus-katar-beliefert/, zuletzt abgerufen am 05.04.2023. 13  BGBl. I S.  8 02. 14  Gesetzesentwurf und Begründung in BT-Drs. 20/1742. 15  Vgl. §  14 Abs.  1 LNGG.

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liert. Im Oktober wurde es dann auch schon zum ersten Mal novelliert.16 Es reiht sich ein in die allgemeine Beschleunigungsdebatte, die sich in vielen Fach­ gesetzen niedergeschlagen hat,17 die sich aber momentan nur auf „graue“ und nicht auf die grüne Infrastruktur18 bezieht, die wohl unstreitig auch zur Errei­ chung der Ziele des Biodiversitätsgipfels in Montreal Ende 2022 erforderlich ist. Das Gesetz dient der Sicherung der nationalen Energieversorgung durch die zügige Einbindung verflüssigten Erdgases in das bestehende Fernleitungsnetz (§  1 Abs.  1 LNGG). Ziel des Gesetzes ist die Beschleunigung der Zulassung von Errichtung und Inbetriebnahme von LNG-Anlagen sowie der Durchführung der Vergabeverfahren (§  1 Abs.  2 LNGG). Die erfassten LNG-Anlagen sind ­stationär schwimmende und stationär landgebundene Anlagen zur Einfuhr, Entladung, Lagerung und Wiederverdampfung verflüssigten Erdgases, der ­dafür erforderlichen Gewässerausbauten, Gewässerbenutzungen, Dampf- und Warm­wasserpipelines sowie der LNG-Anbindungsleitungen und mittelbaren Anbindungsleitungen (§  2 Abs.  1 LNGG). Das Gesetz gilt jedoch nicht für alle erdenklichen derartigen Anlagen, sondern nur für diejenigen, die in der Anlage bezeichnet sind (vgl. §  2 Abs.  2 LNGG). Das LNGG beinhaltet einige Regelungen, die dem Zweck der Beschleuni­ gung dienen sollen. Hervorzuheben ist hier zum einen die in §  3 LNGG ge­ regelte gesetzliche Bedarfsfeststellung (1.), darüber hinaus die in §  4 LNGG geregelte Ausnahme von der Pflicht zur Durchführung einer Umweltverträg­ lichkeitsprüfung (2.), sowie die Verkürzung der Auslegungs- und Einwendungs­ fristen (3.). Kurz soll zudem auf die Beschränkung der Klagerechte eingegangen werden (4.). Zuletzt werden weitere problematische Aspekte erörtert (5.).

1. Gesetzliche Bedarfsfeststellung Das LNGG regelt, dass die abschließend in der Anlage aufgenommenen LNG-­ Vorhaben für die sichere Gasversorgung Deutschlands besonders dringlich sind. Für diese Vorhaben (es handelt sich dabei um FSRU und Terminals an­ 16  BGBl. I S.  1726, BT-Drs. 20/3497: Gegenstand der Novelle war im Wesentlichen die Ein­ fügung der Zulassung des vorzeitigen Beginns vor dem Vorliegen vollständiger Antragsunter­ lagen (§  5 Abs.  1 S.  1 Nr.  5; §  7 S.  1 Nr.  5 LNGG), die Verkürzung der Einwendungsfrist bei Planänderung (§  7 S.  1 Nr.  6 LNGG) sowie Modifikationen der Anlagestandorte: Nr.  2.3. wurde aufgrund von örtlichen Gegebenheiten vom Standort „Jade-Weser-Port“ zu „­ Voslapper Groden Nord 2“; In Lubmin sollen nach Nr.  6.1 statt einer nun mehrere Anlagen vom Anwen­ dungsbereich erfasst sein. 17  Dazu mit historischem Kontext: Burgi/Nischwitz/Zimmermann, NVwZ 2022, 1321. 18  Grüne Infrastruktur ist ein strategisch geplantes Netzwerk natürlicher und naturnaher Flächen mit unterschiedlichen Umweltmerkmalen, das mit Blick auf die Bereitstellung eines breiten Spektrums an Ökosystemdienstleistungen angelegt ist, vgl. EU-COM 2013/249. Die Biodiversitätsstrategie der EU (COM [2020] 380 final) nimmt mehrfach auf diesen Begriff Bezug.

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derer Art) wird die energiewirtschaftliche Notwendigkeit und der Bedarf zur Gewährleistung der Versorgung der Allgemeinheit mit Gas festgestellt (§  3 LNGG). Gesetzliche Bedarfsfeststellungen befinden sich bislang außerdem in §  1 Abs.  1 BBPlG und §  1 Abs.  2 S.  4 EnLAG für Höchstspannungsleitungen und Übertragungsnetze, in §  1 Abs.  2 FStrAbG für die Bundesverkehrswege­ planung und in §  1 Abs.  1 BSWAG für den Ausbau des Schienenwegenetzes. Üblicherweise wird durch die zuständige Behörde im Planfeststellungsver­ fahren im Rahmen der Planrechtfertigung geprüft, ob ein Vorhaben vernünfti­ gerweise geboten ist.19 Bei der gesetzlichen Bedarfsfeststellung entfällt dieser Prüfungsschritt, so ist bei §  1 Abs.  2 S.  2 FStrAbG, §  1 Abs.  2 S.  4 EnLAG, §  12e Abs.  4 S.  2 EnWG und §  1 Abs.  2 BSWAG explizit geregelt, dass die Feststellung für die Planfeststellungsbehörde verbindlich ist, die gesetzliche Bedarfsfeststel­ lung ersetzt insofern die Planrechtfertigung.20 Eine solche Regelung zur Ver­ bindlichkeit ist im LNGG nicht verankert. Diese ist wiederum verankert in der Bedarfsfeststellungsklausel des §  48 KVBG, zu dem das Bundesverfassungs­ gericht eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen hat.21 Dort geht es um die Zuständigkeit des Bundes im Bereich der Raum- und Braunkohlenplanung. Der Gasverbrauch in der Vorkriegszeit belief sich im Jahr 2021 auf 90,5 bcm.22 Der Gesetzgeber beziffert den Gesamtverbrauch an Erdgas auf 96 bcm pro Jahr.23 Da das LNGG die Kapazitäten der Terminals nicht explizit vorgibt, gibt es zur Auslastung der Terminals und den damit verbundenen Gasimporten ­unterschiedliche Prognosen: Die Bundesregierung scheint für acht Terminals im Jahr 2030 von 76 bcm auszugehen,24 das Bundeswirtschaftsministerium (BMWK) hingegen von 54 bcm 25 und eine vom BMWK beauftragte Studie des Energiewirtschaftlichen Instituts der Universität zu Köln (EWI) nimmt im Jahr 2030 für acht Terminals 46 bcm an.26 In der Diskussion um das Rügen-Terminal 19  BVerwG, Urt. v. 07.07.1978 – BVerwG 4 C 79.76 u.a. – BVerwGE 56, 110 (118 f.); BVerwG, Urt. v. 5.12.1986 – BVerwG 4 C 13.85 – BVerwGE 75, 214 (232 f.); BVerwG, Urt. v. 08.07.1998 – BVerwG 11 A 53.97 – BVerwGE 107, 142 (145). 20 Vgl. Prall/Ewer, in: Koch/Hofmann/Reese (Hrsg.), Umweltrecht, 2018, §   9 Rn.  151; Kloepfer, UmweltR, §  18 Rn.  303; Neumann/Külpmann, in: Stelkens/Bonk/Sachs/Neumann/ Külpmann (Hrsg.), 2023, VwVfG §  74 Rn.  42. 21  BVerfG, Beschl. v. 20.10.2020 – 1  BvR 2126/20. 22  Statista, Erdgasverbrauch in Deutschland in den Jahren von 1980 bis 2021, https://de. statista.com/statistik/daten/studie/41033/umfrage/deutschland-erdgasverbrauch-in-milliar den-­kubikmeter/, zuletzt abgerufen am 06.04.2023. 23  BT-Drs. 20/1742, 15. 24  BT-Drs. 20/5170, 9. 25  BMWK, Bericht des Bundeswirtschafts- und Klimaschutzministeriums zu Planungen und Kapazitäten der schwimmenden und festen Flüssigerdgasterminals, 2023, https://www. bmwk.de/Redaktion/DE/Downloads/Energie/20230303-lng-bericht.pdf?__blob=publica tionFile&v=6, zuletzt abgerufen am 06.04.2023. 26  Energiewirtschaftliches Institut an der Universität zu Köln, Analyse der globalen Gas­ märkte bis 2035, Szenariobasierte Modellsimulation und Gasbilanzanalyse, 2023, https://

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ist zudem die Sprache von weiteren 38 bcm.27 Das NewClimate Institute geht hingegen für elf Terminals ab 2026 jährlich von 73 bcm aus, damit würde in Zukunft sogar 50  % mehr Gas importiert werden als vor dem Krieg aus Russ­ land importiert wurde.28 Anfang des Jahres wurde jedenfalls bekannt, dass das BMWK wohl bei dem Design des LNGG mit falschen Zahlen gerechnet hat: Das Ministerium ging davon aus, dass 40 bcm Gas die „Regasifizierungskapazität“, also die Gesamt­ kapazität der Terminals in Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Polen darstelle. Dies ist aber falsch: Tatsächlich haben die acht Terminals dieser Län­ der im Jahr 2022 fast 70 bcm eingespeist. Sogar 96 bcm können von dort maxi­ mal nach Deutschland importiert werden.29 Schon vor der Verabschiedung des LNGG wurden Zweifel an der Notwen­ digkeit der Errichtung von LNG-Terminals geäußert: Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung Berlin (DIW) urteilte bereits im April 2022, dass die sta­ tionär landgebundenen LNG-Terminals „stranded investments“ und aufgrund langer Bauzeiten und dem mittelfristig stark rückläufigen Erdgasbedarf nicht sinnvoll seien.30 Die Studie des französischen Beratungsunternehmens Artelys kam zu einem ähnlichen Ergebnis und konstatierte, dass die existierende LNG-Infrastruktur in der EU ausreiche, um bis zum Jahr 2025 aus russischem Gas auszusteigen.31 Eine aktuelle Studie des NewClimate Institute aus dem Dezember 2022 be­ stätigt dies und besagt, dass neue LNG-Terminals bei anhaltenden Einspar­ bemühungen nicht nötig werden.32 Ohne eigene LNG-Terminals, so schätzt die Studie, übersteige die Nachfrage die Importe bis 2035, mit sinkender Tendenz www.duh.de/fileadmin/user_upload/download/Pressemitteilungen/Energie/LNG/ BMWK_ewi_LNG_analyse.pdf, zuletzt abgerufen am 06.04.2023. 27 Norddeutscher Rundfunk, LNG-Terminal vor Rügen: Fakten zum Großprojekt, ­https://www.ndr.de/nachrichten/mecklenburg-vorpommern/LNG-Terminal-vor-Ruegen-­ Fakten-zum-Grossprojekt,lng658.html, zuletzt abgerufen am 14.04.2023. 28  New Climate Institute (2022): Pläne für deutsche Flüssigerdgas-Terminals sind massiv überdimensioniert, 1, https://newclimate.org/resources/publications/plane-fur-deutsche-­ flussigerdgas-terminals-sind-massiv-uberdimensioniert, zuletzt abgerufen am 06.04.2023. 29  Kreutzfeldt, LNG-Planung mit fehlerhaften Zahlen, Table.Media v. 13.03.2023, https://table.media/berlin/analyse/lng-planung-mit-fehlerhaften-zahlen/, zuletzt abgerufen am ­06.04.­2023. 30 DIW, Energieversorgung in Deutschland auch ohne Erdgas aus Russland gesichert, DIW aktuell Nr.  83 v. 08.04.2022, https://www.diw.de/de/diw_01.c.838843.de/publikationen/­ diw_aktuell/2022_0083/energieversorgung_in_deutschland_auch_ohne_erdgas_aus_russ land_gesichert.html, zuletzt abgerufen am 06.04.2023. 31  Artelys, Does phasing-out Russian gas require new gas infrastructure?, 9, https://www. artelys.com/wp-content/uploads/2022/05/Artelys-Russian-gas-phase-out-Briefing-note.pdf, zuletzt abgerufen am 06.04.2023. 32  New Climate Institute (2022): Pläne für deutsche Flüssigerdgas-Terminals sind massiv überdimensioniert, 1, https://newclimate.org/resources/publications/plane-fur-deutsche-­ flussigerdgas-terminals-sind-massiv-uberdimensioniert, zuletzt abgerufen am 06.04.2023.

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ab 2030, um höchstens 15 bcm pro Jahr. Diese Lücke könne durch Einsparun­ gen oder durch drei schwimmende Terminals bis zum Jahr 2035 abgedeckt wer­ den.33 Erdgas besteht zu einem Großteil aus Methan (CH4). Das Treibhausgas­ potenzial von Methan ist in den ersten 20 Jahren bis zu 87-mal bzw. in den ers­ ten 100 Jahren 36-mal stärker als das von CO2.34 Darüber hinaus entstehen Treibhausgasemissionen bei der Verbrennung sowie bei der Förderung, Trans­ port und Lagerung von Erdgas. Aufgrund der hohen Leckageraten beim Fra­ cking beispielsweise, eine weltweit verbreitete Methode zur Gewinnung von Erdgas, ist das damit gewonnene Erdgas bezogen auf den gesamten Lebens­ zyklus klimaschädlicher als Kohle oder andere fossile Brennstoffe.35 Um das Ziel der Klimaneutralität im Jahr 2045 in Deutschland zu erreichen, muss der Gasverbrauch gegenüber dem heutigen Niveau bis 2030 um ein Fünftel, bis 2035 um die Hälfte und bis 2045 auf fast Null reduziert werden.36 Bei Nutzung aller Terminals würde jedoch allein der CO2-Ausstoß aus der Verbrennung des über die Terminals importierten Erdgases im Jahr 2030 ein Drittel der unter dem Zielpfad für Gesamtdeutschland zulässigen Treibhaus­ gasemissionen ausmachen, wobei die Emissionen aus CO2 und Methan bei För­ derung und Transport nicht miteingerechnet sind.37 Insofern handelt es sich ohne Zweifel um eine Angelegenheit von verfassungsrechtlicher Dimension: Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass der Gesetzgeber zur Her­ stellung von Klimaneutralität verpflichtet ist.38 Die Grundrechte schützen als intertemporale Freiheitssicherung vor einer einseitigen Verlagerung der durch Art.  20a GG aufgegebenen Treibhausgasminderungslast in die Zukunft.39 Das 33  New Climate Institute (2022): Pläne für deutsche Flüssigerdgas-Terminals sind massiv überdimensioniert, S.  7 https://newclimate.org/resources/publications/plane-fur-deutsche-­ flussigerdgas-terminals-sind-massiv-uberdimensioniert, zuletzt abgerufen am 06.04.2023. 34  DIW, Am Klimaschutz vorbeigeplant – Klimawirkung, Bedarf und Infrastruktur von Erdgas in Deutschland, in Politikberatung kompakt 166, II, S.  9, https://www.diw.de/de/diw _01.c.815878.de/publikationen/politikberatung_kompakt/2021_0166/am_klimaschutz_vor beigeplant_-_klimawirkung__bedarf_und_infrastruktur_von_erdgas_in_deutschland__ hintergrundpapier.html, zuletzt abgerufen am 06.04.2023. 35  Heynen, Warum Fracking in Deutschland keine Option ist, ZEIT online v. 06.05.2022, https://www.zeit.de/wissen/umwelt/2022-05/fracking-erdgasfoerderung-klimaschutz-­ klimaziele, zuletzt abgerufen am 06.04.2023; Howarth, in: Stolz/Griffin/Bain (Hrsg.), En­ vironmental Impacts from Development of Unconventional Oil and Gas Reserves; Howarth/ Santoro/Ingraffea, Climatic Change 2011, 679 . 36  New Climate Institute (2022): Pläne für deutsche Flüssigerdgas-Terminals sind massiv überdimensioniert, S.  6 , https://newclimate.org/resources/publications/plane-fur-deutsche-­ flussigerdgas-terminals-sind-massiv-uberdimensioniert, zuletzt abgerufen am 06.04.2023. 37  New Climate Institute (2022): Pläne für deutsche Flüssigerdgas-Terminals sind massiv überdimensioniert, S.  3, https://newclimate.org/resources/publications/plane-fur-deutsche-­ flussigerdgas-terminals-sind-massiv-uberdimensioniert, zuletzt abgerufen am 06.04.2023. 38 BVerfG, Beschl. v. 24.03.2021 – 1  BvR 2656/18 u.a. – Rn.  198. 39  BVerfG, Beschl. v. 24.03.2021 – 1  BvR 2656/18 u.a. – Rn.  183.

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LNGG setzt insoweit gegenteilige Anreize und bringt die Erreichung der Kli­ maziele in Gefahr.40 Die Standorte Wilhelmshaven, Brunsbüttel und Stade wurden schon vor ­einigen Jahren für LNG-Terminals vorgesehen.41 Für den Standort Wilhelms­ haven wurden die Pläne jedoch 2020 aufgegeben.42 Die Standorte der Anlage zum LNGG erscheinen laut Gesetzesbegründung „für die Erfüllung des Ge­ setzeszwecks von herausragender Eignung“.43 An den Standorten könne davon ausgegangen werden, dass ein zügiger und quantitativ wesentlicher Beitrag zur Sicherung der Versorgung Deutschlands mit LNG geleistet werden könne, die Standorte verfügten sämtlich über die erforderlichen geografischen und nauti­ schen Bedingungen, um LNG-Vorhaben grundsätzlich realisieren zu können bzw. zügig die entsprechenden Voraussetzungen schaffen zu können.44 Von Sei­ ten des Gesetzgebers bleiben weitere Erörterungen zur Standortwahl, insbe­ sondere auch zu den konkreten Standorten, aus. Fachlich und forensisch ist damit der Bedarf im Hinblick auf die Anlage des LNGG weder zur gesamten Kapazität noch zu den konkreten Standorten be­ lastbar. Die gesetzliche Bedarfsfeststellung kann allerdings in der Folge den­ noch nur sehr eingeschränkt angegriffen werden: Eine inzidente fachgericht­ liche Kontrolle der Gerichte ist auf eine Evidenzkontrolle beschränkt.45 Eine Überschreitung der Grenzen des gesetzgeberischen Ermessens nimmt das Bun­ desverwaltungsgericht (BVerwG) nur an, „wenn die Bedarfsfeststellung evident unsachlich ist, wenn es also für das Vorhaben offenkundig keinerlei Bedarf gibt,

40  Ausführlicher hierzu: BUND, ClientEarth, Green Legal Impact, Rechtsgutachten: Ver­ einbarkeit des LNG-Beschleunigungsgesetzes mit dem Grundgesetz, 2023, https://www. greenlegal.eu/wp/wp-content/uploads/2023/04/GLI_CE_Verfassungsrechtliches_Gutach ten ­_ LNGG.pdf, zuletzt abgerufen am 20.04.2023. 41 Das Rennen um Deutschlands erstes Flüssiggas-Terminal läuft, WirtschaftsWoche, ­https://www.wiwo.de/unternehmen/energie/brunsbuettel-stade-und-wilhelmshaven-das-­ rennen-um-deutschlands-erstes-fluessiggas-terminal-laeuft/23079374.html, zuletzt abgeru­ fen am 06.04.2023; Driftschröer, So steht es um den Bau der deutschen LNG-Terminals, ­manager magazin, https://www.manager-magazin.de/unternehmen/lng-terminals-wilhelms haven-stade-und-brunsbuettel-ueberblick-ueber-die-lng-projekte-a-b6a7f183-2c39-4b48-a 495­-17c96fe5b3a5, zuletzt abgerufen am 06.04.2023. 42 Vgl. manager magazin, Uniper stoppt Pläne für Flüssiggas, https://www.manager-­ magazin.de/unternehmen/energie/lng-uniper-stoppt-plaene-fuer-fluessiggas-terminal-in­wilhelmshaven-a-a60f5566-e04d-4b16-a102-f39e38a1dffa, zuletzt abgerufen am 06.04.2023; Murphy/Stratmann/Witsch, Scholz kündigt Bau von LNG-Terminals in Deutschland an  – Uniper prüft Investition, Handelsblatt, https://www.handelsblatt.com/unternehmen/ener gie/fluessiggas-scholz-kuendigt-bau-von-lng-terminals-in-deutschland-an-uniper-prueft-­in vestition/28106230.html, zuletzt abgerufen am 06.04.2023. 43  BT-Drs. 20/1742, S.  17. 44  BT-Drs. 20/1742, S.  17. 45 Vgl. Ludwig, ZUR 2017, 67 (68); Köck/Bovet/Fischer/Ludwig/Möckel/Faßbender, Das Instrument der Bedarfsplanung, 2017, S.  138 ff., https://www.umweltbundesamt.de/publika tionen/das-instrument-der-bedarfsplanung-rechtliche, zuletzt abgerufen am 06.04.2023.

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der die Annahme des Gesetzgebers rechtfertigen könnte“.46 Dies ist laut Bun­ desverwaltungsgericht nur dann der Fall, wenn es im Hinblick auf den beste­ henden oder künftig zu erwartenden Bedarf an jeglicher Notwendigkeit fehlt oder wenn sich die Verhältnisse seit der Bedarfsentscheidung des Gesetzgebers so grundlegend gewandelt hätten, dass das angestrebte Planungsziel unter kei­ nen Umständen auch nur annähernd erreicht werden könnte.47 Etwas anderes dürfte grundsätzlich auch nicht für das LNGG gelten, auch wenn hier die Fest­ legung fehlt, dass die Feststellungen für die Planfeststellung verbindlich sind.48 Das Bundesverfassungsgericht überprüft Planungsentscheidungen durch Gesetz, soweit eine Verfassungsbeschwerde überhaupt zulässig ist, ebenfalls nur anhand einer Evidenzkontrolle.49 Aktuelle Rechtsprechung des Bundesver­ fassungsgerichts fehlt hier, dieses hat sich allerdings zuletzt mit einer Bedarfs­ feststellung in einem Planfeststellungsbeschluss befasst und dabei erneut kon­ krete Maßstäbe für die Grundrechtsprüfung und vor allem für die notwendige Prognose benannt.50 Bereits behördliche Planungsentscheidungen überprüft das Bundesverfassungsgericht nur eingeschränkt daraufhin, ob sie das Willkür­ verbot beachten und verhältnismäßig sind.51 Laut Bundesverfassungsgericht ist dem Plangeber eine Gestaltungsbefugnis und damit die Kompetenz eingeräumt, die erforderliche Abwägung der verschiedenen Belange selbst vorzunehmen. Das Bundesverfassungsgericht kann seine eigene Abwägung nicht an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzen; es hat nur zu prüfen, ob sich diese in den verfassungsrechtlich vorgezeichneten Grenzen halten. Hierfür ist maßgebend, dass der Gesetzgeber sich davon hat leiten lassen, den für die Regelung erheb­ lichen Sachverhalt zutreffend und vollständig zu ermitteln, anhand dieses Sach­ verhalts alle sachlich beteiligten Belange und Interessen der Entscheidung zu­ grunde zu legen sowie umfassend und in nachvollziehbarer Weise gegeneinan­ der abzuwägen. Soweit über Ziele, Wertungen und Prognosen zu befinden ist, beschränkt das Bundesverfassungsgericht seine Nachprüfungen darauf, ob die­ se Einschätzungen und Entscheidungen offensichtlich fehlerhaft oder eindeutig widerlegbar sind oder der verfassungsrechtlichen Ordnung widersprechen.52 Dies gilt auch für Legalplanung.53 46 

BVerwG, Urt. v. 09.07.2010 – 9 A 20/08 ­– NVwZ 2011, 177 (179). BVerwG, Urt. v. 12.03.2008 – 9 A 3/06 – NVwZ 2008, 1238 (Ls.), BeckRS 2008, 38060 (43). 48  Ausführlicher hierzu: BUND, ClientEarth, Green Legal Impact, Rechtsgutachten: Ver­ einbarkeit des LNG-Beschleunigungsgesetzes mit dem Grundgesetz, 2023, 13 ff., https:// www.greenlegal.eu/wp/wp-content/uploads/2023/04/GLI_CE_Verfassungsrechtliches_ Gutachten_LNGG.pdf, zuletzt abgerufen am 20.04.2023. 49  BVerfG, Beschl. v. 17.07.1996 – 2  BvF 2/93 – NJW 1997, 383 (385). 50 BVerfG, Beschl. v. 02.07.2018 – 1  BvR 612/12 u.a. – NVwZ 2018, 1555 (1557). 51 BVerfG, Beschl. v. 20.02.2008 – 1  BvR 2389/06 – NVwZ 2008, 775; BVerfG, Beschl. v. 02.07.2018 – 1  BvR 612/12 – NVwZ 2018, 1555 (1557). 52 BVerfG, Beschl. v. 20.02.2008 – 1  BvR 2389/06 – NVwZ 2008, 775; BVerfG, Beschl. v. 02.07.2018 – 1  BvR 612/12 – NVwZ 2018, 1555 (1557). 53  BVerfG, Beschl. v. 17.07.1996 – 2  BvF 2/93 – NJW 1997, 383 (385). 47 

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Die Rechtsschutzlücke bei gesetzlichen Bedarfsfeststellungen ist im Hinblick auf die Gewährleistungen der Aarhus-Konvention kaum hinnehmbar. Gegen diese Folge der gesetzlichen Bedarfsfeststellung ist ein Beschwerdeverfahren vor dem Aarhus Convention Compliance Committee (ACCC) anhängig.54 Dem Gesetzgeber muss zudem klar gewesen sein, dass das LNGG das Schicksal des MgvG von 2020 teilen könnte, wegen dem die EU-Kommission bereits 2021 ein Aufforderungsschreiben versandt hatte: Die Europäische Kom­ mission war der Auffassung, dass durch das MgvG der Zugang von Einzel­ personen und NRO (Nichtregierungsorganisationen) zu Gerichten erheblich eingeschränkt würde, gerade weil Bundesgesetze in Deutschland nur durch das Bundesverfassungsgericht aufgehoben werden können.55

2. Umweltprüfungen a) Die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) Die UVP dient u.a. einem integrativen, medienübergreifenden Umweltschutz sowie der Verwirklichung des Vorsorgeprinzips.56 Überdies hat die UVP eine besondere Bedeutung als Informationsgrundlage in der Fachplanung.57 Im Rahmen der UVP werden die Umweltauswirkungen ermittelt, dabei wird durch das Verwaltungsverfahren Wissen generiert.58 Die UVP ist in Deutschland als unselbstständiger Teil verwaltungsbehörd­ licher Verfahren umgesetzt und damit letztlich ein Verfahrensinstrument zur Ermittlung, Beschreibung und Bewertung der erheblichen Auswirkungen eines Vorhabens (oder bei der SUP eines Plans oder Programms) auf die Schutz­ güter.59 Zur UVP gehören verschiedene Verfahrensschritte, u.a. hat der Vor­ habenträger der Behörde einen Bericht zu den voraussichtlichen Umweltaus­ wirkungen des Vorhabens, den UVP-Bericht, vorzulegen (§  16 UVPG). Dieser enthält eine Reihe an Informationen, z.B. die zu erwartenden erheblichen Um­ weltauswirkungen des Vorhabens, die Beschreibung vernünftiger Alternativen sowie von Verminderungs- und Ausgleichsmaßnahmen. Darauf folgt die Betei­ ligung anderer betroffener Behörden, Gemeinden und Landkreise (§  17 UVPG) 54 

ACCC/C/2020/178 (Deutschland). https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/inf_21_2743, zuletzt abgerufen am 04.05.2023; Näheres zur Europarechtswidrigkeit: Vgl. Wegener, ZUR 2020, 195 (202 f.); Schwerdtfeger, ZUR 2021, 451 (459); Wegener, Großprojekte per Gesetz: Ohne Rechtsschutz und ohne Zukunft, Legal Tribune Online v. 24.02.2020, https://www.lto.de/recht/hinter gruende/h/grossprojekte-infrastruktur-umwelt-entschiedung-behoerde-gesetz-massnahme gesetz-bmvi/, zuletzt abgerufen am 06.04.2023. 56 Vgl. Kloepfer, UmweltR, §  5 Rn.  505, 509. 57 Vgl. Schlacke/Wentzien/Römling, NVwZ 2022, 1577 (1583). 58 Vgl. Kloepfer, UmweltR, §  5 Rn.  503. 59 Vgl. Kloepfer, UmweltR, §  5 Rn.  498. 55 

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sowie der Öffentlichkeit (§§  18–23 UVPG). Im Anschluss daran erarbeitet die zuständige Behörde eine zusammenfassende Darstellung (§  24 UVPG), auf ­deren Grundlage die Behörde die Umweltauswirkungen des Vorhabens bewer­ tet (§  25 UVPG). Die Behörde hat diese begründete Bewertung bei der Ent­ scheidung über die Zulässigkeit des Vorhabens zu berücksichtigen (§  25 Abs.  2 UVPG). Die Entscheidung muss öffentlich bekannt gemacht werden (§  27 UVPG). b) Umweltseitige Auswirkungen von LNG-Terminals Ob die Anlagen nach §  2 Abs.  1 LNGG einer Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) nach dem Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVPG) be­ dürfen, hängt von der konkreten Ausgestaltung der Anlagen ab. Bei der Lage­ rung von verflüssigtem Erdgas kommt es auf die Kapazität an (Nr.  9.1.1.1 oder Nr.  9.1.1.2 der Anlage 1 zum UVPG), bei den Dampfkesselanlagen zur Regasi­ fizierung auf die Feuerwärmeleistung (1.1.1 oder 1.1.2 der Anlage 1 zum UVPG). Entweder ist dann eine allgemeine Vorprüfung des Einzelfalls durch­ zuführen, oder aber – bei größeren Kapazitäten – es besteht eine UVP-Pflicht ohne Vorprüfung. Für den Bau der LNG-Anleger bedarf es, da es sich dabei um den Bau eines Hafens für die Seeschifffahrt bzw. eines Landungssteges zum Laden oder Löschen von Schiffen, der Schiffe mit mehr als 1.350 t aufnehmen kann, handelt, einer UVP nach Nr.  13.10 der Anlage 1 zum UVPG bzw. nach Nr.  13.11.1. Umweltauswirkungen im Sinne des UVPG sind alle unmittelbaren und mit­ telbaren Auswirkungen eines Vorhabens oder der Durchführung eines Plans oder Programms auf die Schutzgüter (§  2 Abs.  2 S.  1 UVPG). Errichtung und Betrieb eines LNG-Terminals haben unmittelbare und mittelbare Auswirkun­ gen auf das Klima (§  2 Abs.  1 Nr.  3 Var.  5 UVPG). Seit der Neufassung des UVPG 2017 fallen darunter auch die Auswirkungen auf das globale Klima (§  16 Abs.  1 Nr.  1–6 i.V.m. Nr.  4b Anlage 4 UVPG). Da auf die in Rede stehenden LNG-Anlagen das neue UVPG anwendbar ist, ist auch die Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts, dass die alte Fassung des UVPG keine Berücksich­ tigung globaler Klimaauswirkungen erfordert, 60 hier nicht von Relevanz. Wie unter B.  I. bereits erörtert ist das mittels Fracking gewonnene Erdgas sehr klimaschädlich. 61 Die bei der Förderung von Erdgas entstehenden Treib­ hausgas-Emissionen sind sogenannte Scope-3-Emissionen – indirekte Emissio­ 60 

BVerwG, Urt. v. 04.05.2022 – 9 A 7/21 – NVwZ 2022, 1549 (1556). Heynen, Warum Fracking in Deutschland keine Option ist, ZEIT online v. 06.05.2022, https://www.zeit.de/wissen/umwelt/2022-05/fracking-erdgasfoerderung-klimaschutz-kli maziele, zuletzt abgerufen am 06.04.2023; Howarth, in: Stolz/Griffin/Bain (Hrsg.), Environ­ mental Impacts from Development of Unconventional Oil and Gas Reserves, Cambridge University Press, 2021, 6; Howarth/Santoro/Ingraffea, Climatic Change, 679. 61 

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nen, die zwar aus der Geschäftstätigkeit des Unternehmens resultieren, aber unmittelbar von Dritten verursacht werden. 62 Sind diese bei der Förderung im Ausland entstehenden Umweltauswirkun­ gen aber auch mittelbare Umweltauswirkungen, die im Rahmen eines UVP-Be­ richts zu beschreiben, zu bewerten und schließlich bei der Vorhabenzulassung der LNG-Terminals zu berücksichtigen sind? Dies hatte das OVG Berlin-Bran­ denburg verneint und angenommen, bei der UVP gehe es um die Auswirkun­ gen auf die den Standort umgebende Umwelt, für die Herstellung von Materia­ lien müssten die Umweltauswirkungen am Produktionsstandort betrachtet werden. 63 Das OVG Greifswald ging zuletzt ebenfalls davon aus, dass die bei der Förderung von Erdgas auf russischem Staatsgebiet entstehenden klima­ schädlichen Methanemissionen planfeststellungsrechtlich keine (mittelbaren) Auswirkungen eines auf deutschem Hoheitsgebiet genehmigten Pipeline-Pro­ jekts seien. 64 Selbst wenn sich diese Auffassung langfristig durchsetzen sollte, heißt das aber nicht, dass diese Emissionen nicht auf anderer Ebene Berücksichtigung finden müssen. §  13 Abs.  1 S.  1 KSG normiert eine Berücksichtigungspflicht für die Träger öffentlicher Aufgaben bei ihren Planungen und Entscheidungen. Zweck und Ziel des KSG müssen insbesondere dort Berücksichtigung finden, wo Abwägungs-, Beurteilungs- und Ermessensspielräume bestehen. 65 Im Rah­ men von §  13 Abs.  1 S.  1 KSG müssen auch mittelbar verursachte Emissionen ermittelt werden und die Klimarelevanz der Maßnahme, Investition oder Pla­ nung über den gesamten Lebenszyklus betrachtet werden. 66 Zumindest muss die zuständige Behörde also die vorgelagerten Emissionen aus der Förderung des Erdgases in die Abwägung mit anderen Belangen einstellen. Darüber hinaus könnte §  13 Abs.  1 S.  1 KSG auch Anwendung auf die gesetzliche Bedarfsfest­ stellung in §  3 S.  2 LNGG finden. 67 Neben Treibhausgas-Emissionen verursachen LNG-Terminals auch weitere Umweltauswirkungen entlang der gesamten Wertschöpfungskette: Fracking hat zum Beispiel über die Klimaauswirkungen hinaus auch erhebliche Auswir­ kungen auf Grundwasser und Oberflächengewässer. Zum einen kann es den mengenmäßigen, zum anderen aber auch den chemischen Zustand von Grund­ wasserkörpern und Oberflächengewässern beeinträchtigen. 68 62  WBCSD/WRI, The Greenhouse Gas Protocol, 25 ff., https://ghgprotocol.org/sites/de fault/files/standards/ghg-protocol-revised.pdf, zuletzt abgerufen am 04.05.2023. 63  OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 12.03.2020 – OVG 11 A 7.18 – BeckRS 2020, 3525 (46). 64  OVG Greifswald, Urt. v. 16.11.2021 – 5 K 588/20 OVG – BeckRS 2021, 34794 (75). 65  BT-Drs. 19/14337, S.  36; BVerwG, Urt. v. 04.05.2022 – 9 A 7/21 – NVwZ 2022, 1549 (84); Näheres zu §  13 KSG: Verheyen/Heß/Peters/Schönberger, NVwZ 2023, 113. 66  Frenz/Schröder, KSG, §  13 Rn.  24; Verheyen/Heß/Peters/Schönberger, NVwZ 2023, 113 (116). 67  Verheyen/Heß/Peters/Schönberger, NVwZ 2023, 113 (115). 68 Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucher­

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LNG-Terminals verursachen aber auch bei Bau und Betrieb eine Reihe weite­ rer Umweltauswirkungen. Beim Bau der Terminals werden durch die Rammar­ beiten Schallemissionen freigesetzt. In Wilhelmshaven beispielsweise erfolgt der Bau in unmittelbarer Nähe zum Nationalpark Niedersächsisches Watten­ meer, wo u.a. auch der geräuschempfindliche Schweinswal lebt, der nach An­ hang IV der Richtlinie 92/43/EWG (FFH-Richtlinie) streng geschützt ist. Bau und Betrieb der Anlagen stellen eine Gefahr für geschützte Unterwasserbiotope sowie teils gefährdete Arten dar. 69 Konkret am Standort Lubmin äußert das Thünen Institut Sorge um laichende Heringe.70 Auch der Betrieb der Terminals hat Umweltauswirkungen: Uniper hat beispielsweise für das LNG-Terminal in Wilhelmshaven beantragt (und die Erlaubnis auch erteilt bekommen), für einen unbegrenzten Zeitraum 177.780.775 Kubikmeter chlorhaltiges Abwasser im Jahr in die Innenjade einleiten zu dürfen.71 Bei einer Chlorkonzentration von 0,2 mg Cl 2/l72 vor Einleitung in die Jade sollen also jährlich 35 Tonnen Chlor eingeleitet werden dürfen. c) Die Regelung im LNGG Das LNGG bestimmt für alle vom LNGG erfassten Anlagen, außer für statio­ när landgebundene LNG-Terminals (§  2 Abs.  1 Nr.  2 LNGG), dass für sie keine UVP durchzuführen ist: Gemäß §  4 LNGG hat die zuständige Behörde das UVPG bei diesen Anlagen nicht anzuwenden, wenn eine beschleunigte Zulas­ sung des konkreten Vorhabens geeignet ist, einen relevanten Beitrag zu leisten, um eine Krise der Gasversorgung zu bewältigen oder abzuwenden. Eigentlich sollten auch stationär landgebundene LNG-Terminals (§  2 Abs.  1 Nr.  2 LNGG) von der UVP ausgenommen werden, allerdings wurden sie angesichts der mas­ siven Kritik für die Endfassung des Gesetzes wieder aus dem Katalog entfernt. d) Wegfall der UVP Zwar werden durch den Wegfall der UVP nicht direkt materiell-rechtliche Schutzstandards abgesenkt. Die UVP selbst ist ein Verfahrensinstrument und schutz, Fracking – Risiken für die Umwelt, https://www.bmuv.de/themen/wasser-ressourcen-­ abfall/binnengewaesser/grundwasser/grundwasserrisiken-hydraulic-fracturing, zuletzt ab­ gerufen am 06.04.2023. 69 Deutsche Umwelthilfe e.V., LNG, https://www.duh.de/lng/, zuletzt abgerufen am 06.04.­2023. 70  Norddeutscher Rundfunk, Flüssiggasterminal in Lubmin: Sorge um laichende Heringe, https://www.ndr.de/nachrichten/mecklenburg-vorpommern/Fluessiggasterminal-in-Lub min-­Sorge-um-laichende-Heringe,lubminlng100.html, zuletzt abgerufen am 06.04.2023. 71  Vgl. Erläuterungsbericht zum wasserrechtlichen Planfeststellungsverfahren, 18, https:// www.nlwkn.niedersachsen.de/startseite/wasserwirtschaft/zulassungsverfahren/abwasser_ und_einleitungen/lng_terminal_uniper/lng-terminal-wilhelmshaven-fsru-fa-uniper-global-­ commodities-se-215623.html, zuletzt abgerufen am 06.04.2023. 72  Ibid, S.  20.

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kein materiell-rechtliches Entscheidungsprogramm.73 Die Genehmigungsbe­ hörde prüft die objektiv-rechtlichen Voraussetzung auch ohne UVP. Die UVP ermittelt jedoch die Umweltauswirkungen des konkreten Vorhabens auf die Schutzgüter. Insbesondere der auf der Ermittlung der Auswirkungen basieren­ de Umweltbericht (§  16 UVPG) liefert eine wesentliche Informationsgrundlage für die behördliche Entscheidung, die dann wegfällt.74 In Bezug auf die Öffentlichkeitsbeteiligung bedeutet der Wegfall der UVP zwar nicht, dass auch die Öffentlichkeitsbeteiligung gänzlich entfällt. Diese fin­ det weiterhin nach Maßgabe der jeweiligen Fachgesetze in Bezug auf die dort vorgesehenen Informationen statt, soweit eine Öffentlichkeitsbeteiligung dort vorgesehen ist, etwa über das BImSchG oder das WHG. Bei Anwendbarkeit des UVPG sind aber einige Optimierungen vorgesehen. So enthält die öffentliche Bekanntmachung zusätzliche Angaben gem. §  19 Abs.  1 UVPG. Auch die Ein­ wendungsfrist ist länger als fachgesetzlich vorgesehen und endet einen Monat nach Ablauf der Frist für die Auslegung der Unterlagen (§  21 Abs.  2 UVPG). In §  73 Abs.  4 VwVfG sind hierfür beispielsweise nur zwei Wochen vorgesehen. Wenn es sich um ein UVP-pflichtiges Vorhaben handelt, darf nach dem UVPG auch nicht auf den Erörterungstermin verzichtet werden.75 Die Idee, die Umweltverträglichkeitsprüfung zum Zwecke der Beschleuni­ gung entfallen zu lassen, erfreut sich derzeit nicht nur auf nationaler, sondern auch auf europäischer Ebene gewisser Beliebtheit. Nach dem Vorschlag der EU-Kommission zur Änderung der Richtlinie (EU) 2018/2001 (Erneuerbare-­ Energien-RL)76 soll die UVP sowie die FFH-Verträglichkeitsprüfung für ganze Gebiete – sogenannte „go-to-areas“ für Erneuerbare Energien (Art.  16a Abs.  3) entfallen. Auch gem. Art.  4 Abs.  1 der neuen Verordnung (EU) 2022/2577 des Rates vom 22.12.2022 zur Festlegung eines Rahmens für einen beschleunigten Ausbau der Nutzung erneuerbarer Energien (EU-Notfall-Verordnung) ist für Solaranlagen auf künstlichen Strukturen eine UVP-Vorprüfung bzw. eine Um­ weltverträglichkeitsprüfung nicht mehr erforderlich. Gemäß Art.  6 können die Mitgliedsstaaten zudem Ausnahmen von der UVP und FFH-Verträglichkeits­ prüfung für Projekte im Bereich der erneuerbaren Energien sowie für Projekte im Bereich Energiespeicherung und Stromnetze, die für die Integration erneu­ erbarer Energie in das Elektrizitätssystem erforderlich sind, vorsehen.

73 

Kloepfer, UmweltR, §  5 Rn.  498. Schlacke/Wentzien/Römling, NVwZ 2022, 1577 (1583). 75 Vgl. Bunge, in: Schlacke/Schrader/Bunge (Hrsg.), Aarhus Handbuch, 2019, S.  264; vgl. Antweiler, NVwZ 2019, 29 (30). 76  Europäische Kommission, 18.05.2022, COM (2022) 222 final, 2022/0160 (COD), h ­ ttps:// eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/?uri=CELEX%3A52022PC0222&qid=16674020 77729, zuletzt abgerufen am 04.05.2023. 74 Vgl.

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e) Europarechtliche Grenzen Nach dem Unionsrecht besteht nach Art.  2 Abs.  1 S.  1 der Richtlinie 2011/92/EU (UVP-Richtlinie) eine UVP-Pflicht bei allen Projekten, bei denen aufgrund ­ihrer Art, ihrer Größe oder ihres Standorts mit erheblichen Auswirkungen auf die Umwelt zu rechnen ist. Zwar lässt die UVP-Richtlinie in Art.  2 Abs.  4 Aus­ nahmen dem Grunde nach zu. Danach können die Mitgliedstaaten in Ausnah­ mefällen ein bestimmtes Projekt von den Bestimmungen der (UVP-)Richtlinie ausnehmen, wenn sich die Anwendung dieser Bestimmungen nachteilig auf den Zweck des Projekts auswirken würde, jedoch unter der Voraussetzung, dass die Ziele dieser Richtlinie verwirklicht werden. aa) Enge Auslegung von Ausnahmen Nach dem Leitfaden der EU-Kommission zur Anwendung der UVP-Richtlinie ist die Ausnahme eng auszulegen.77 Der EuGH hat hierzu in der Rechtssache Doel entschieden, dass der Mitgliedsstaat für die Ausnahme belegen muss, dass „die geltend gemachte Gefahr für die Stromversorgungssicherheit bei vernünf­ tiger Betrachtung wahrscheinlich ist und dass das Projekt so dringlich ist, dass es das Unterbleiben einer [Umweltverträglichkeitsprüfung] zu rechtfertigen ver­ mag“78 . Laut EU-Kommission wurde zwischen 2014 und 2017 in drei Fällen von der Ausnahme Gebrauch gemacht. Diese drei Fälle betrafen unterschiedliche Bereiche, einer davon die Sicherung der Gasversorgung, ein anderer betraf stra­ tegische Interessen im Bereich erneuerbarer Energien, und im dritten Fall diente das Projekt der Erfüllung hochrangiger politischer Zusagen von Seiten öffent­ licher Behörden, um im Rahmen breiterer Aussöhnungsverhandlungen Vertrau­ en zwischen Gemeinschaften aufzubauen. Laut EU-Kommission ging es bei ­allen drei Fällen jedenfalls aber um Projekte von so großer Notwendigkeit und Dringlichkeit, dass die Aussetzung der Durchführung der Vorhaben aufgrund einer UVP dem öffentlichen Interesse zuwidergelaufen wäre und die politische, ad­ministrative und wirtschaftliche Stabilität und Sicherheit gefährdet hätte. bb) Einzelfallbezug der Ausnahme erforderlich Der Wortlaut des §  2 Abs.  4 UVP-Richtlinie ist hierzu deutlich: Die Ausnahme kann nur für ein bestimmtes Projekt gelten, nicht aber für eine ganze Projektka­ tegorie. Das sieht auch die EU-Kommission so: Die Ausnahmeregelung muss auf Grundlage einer Einzelfallbeurteilung Anwendung finden.79 Aus der Ge­ 77  Europäische Kommission, Leitfaden zur Anwendung der Ausnahmen im Rahmen der Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung v. 14.11.2019, ABl. 2019 C 386/05, 15. 78  EuGH, Urt. v. 29.07.2019 – C-411/17, ECLI:EU:C:2019:622, Rn.  101. 79  Europäische Kommission, Leitfaden zur Anwendung der Ausnahmen im Rahmen der Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung v. 14.11.2019, ABl. 2019 C 386/05, 15.

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setzesbegründung des §  4 LNGG lässt sich entnehmen, dass der Gesetzgeber davon ausgeht, dass die Entscheidung von der Ausnahme Gebrauch zu machen, der zuständigen Behörde im Einzelfall obliegt.80 Voraussetzung für die gebun­ dene Entscheidung der Behörde ist, dass „eine beschleunigte Zulassung des konkreten Vorhabens geeignet ist, einen relevanten Beitrag zu leisten, um eine Krise der Gasversorgung zu bewältigen oder abzuwenden.“ Die Gesetzesbegründung konkretisiert, dass dies der Fall sei, „weil in dieser Krisensituation auch eine in Monaten oder Wochen gemessene Verzögerung und damit potentielle Versorgungslücke unbedingt zu vermeiden ist“81. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass die Behörde für die Ausnahme von der UVP in jedem Einzelfall prüfen muss, ob eine Krise für die Gasversorgung bzw. Gas­ mangellage vorliegt oder droht. Liegt eine Gaswarnstufe nach dem Notfallplan Gas vor, sei dies ein Indiz für das Bestehen einer Gasmangellage. Darüber hin­ aus soll die Behörde den relevanten Beitrag zur Bewältigung bzw. Abwendung der Krise prüfen. Das sei dann der Fall, wenn über die konkrete Anlage mehr als nur geringfügig LNG eingespeist werden kann und die Gasmangellage wei­ terhin vorliegt. Für Anbindungsleitungen ist zu prüfen, ob sie zur Anbindung der Anlage an das Fernleitungsnetz benötigt werden, für Gewässerausbauten, ob diese für die Errichtung und den Betrieb der Anlage erforderlich seien. 82 Der Gesetzeswortlaut – auf den es in allererster Linie ankommt – spricht eine etwas andere Sprache. Liest man unbefangen, so muss man wohl die Vorausset­ zung des §  4 Abs.  1 S.  1 LNGG mit den Regelungen in §  3 LNGG bereits kraft Gesetzes als erfüllt ansehen. Denn, wenn die betroffenen Vorhaben alle für die sichere Gasversorgung besonders dringlich sind (§  3 S.  1 LNGG), die energie­ wirtschaftliche Notwendigkeit und der Bedarf für die Gewährleistung der Ver­ sorgung der Allgemeinheit mit Gas festgestellt ist (§  3 S.  2 LNGG) und die schnellstmögliche Durchführung dem zentralen Interesse an einer sicheren und diversifizierten Gasversorgung in Deutschland und aus Gründen eines überra­ genden öffentlichen Interesses und im Interesse der öffentlichen Sicherheit er­ forderlich ist (§  3 S.  3 LNGG) spricht vieles dafür, dass die Vorhaben allesamt gem. §  4 Abs.  1 S.  1 LNGG geeignet sind, einen relevanten Beitrag zur Bewälti­ gung oder Abwendung einer Krise der Gasversorgung zu leisten.83­

80 

BT-Drs. 20/1742, S.  18. BT-Drs. 20/1742, S.  18 82  BT-Drs. 20/1742, S.  18. 83 Vgl. Ziehm, Rechtliche Bewertung des „Entwurfs der Formulierungshilfe der Bundes­ regierung“ für den „Entwurf eines Gesetzes zur Beschleunigung des Einsatzes verflüssigten Erdgases“, Gutachten im Auftrag der Deutschen Umwelthilfe e.V. v. 10.05.2022, 16 f., https:// www.duh.de/fileadmin/user_upload/download/Projektinformation/Energiewende/LNG/ 220511_DUH_Ziehm_LNGG_Rechtliche_Bewertung_geschw% C3%A4rzt.pdf, zuletzt abgerufen am 06.04.2023. 81 

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cc) Sicherstellung der Verwirklichung der Ziele der Richtlinie Weitere Voraussetzung nach Art.  2 Abs.  4 der UVP-Richtlinie ist, dass die Mit­ gliedstaaten die Verwirklichung der Ziele der UVP-Richtlinie sicherstellen. Das wesentliche Ziel der UVP-Richtlinie ist eine Genehmigungspflicht (in Deutsch­ land fachgesetzlich umgesetzt) sowie die Prüfung der Umweltauswirkungen für Projekte, bei denen mit erheblichen Auswirkungen auf die Umwelt zu rechnen ist. Wenn die UVP nicht durchgeführt werden kann, müssen ersatzweise die Anforderungen von Art.  2 Abs.  4a bis c der UVP-Richtlinie erfüllt werden. Da­ nach muss der Mitgliedsstaat prüfen, ob eine andere Form der Prüfung ange­ messen ist; er muss der betroffenen Öffentlichkeit die im Rahmen anderer For­ men der Prüfung nach Buchstabe a gewonnenen Informationen, die Informa­ tionen betreffend die Entscheidung, die die Ausnahme gewährt, und die Gründe für die Gewährung der Ausnahme zugänglich machen; sowie die Kommission vor Erteilung der Genehmigung über die Gründe für die Gewährung dieser Ausnahme unterrichten sowie die Informationen, die der Mitgliedsstaat gege­ benenfalls seinen eigenen Staatsangehörigen zur Verfügung stellt, an die Kom­ mission übermitteln. Der EuGH hat sich dazu dahingehend geäußert, dass es sich bei dieser Prüfung nicht um eine Formalie handelt.84 Im LNGG wird in §  4 Abs.  4 und Abs.  5 LNGG versucht, diese Voraussetzungen zu erfüllen. Problematisch ist hierbei insbesondere, ob hinreichend geprüft wurde, ob nicht eine andere Form der Prüfung angemessen ist (Vgl. §  2 Abs.  4 UAbs.  2 lit.  a UVP-RL). Die EU-Kommission schreibt in ihrem Leitfaden hierzu, dass bei einem mehrphasigen Projekt beispielsweise die Vornahme einer Teil-UVP be­ züglich einiger dieser Phasen angemessen sein könnte. Auch wenn die Einhal­ tung der Anforderungen in der ersten Phase vielleicht aufgrund der Dringlich­ keit des Projekts ausgeschlossen sei, könne eine vollumfängliche UVP in den nachfolgenden Phasen durchaus möglich sein. Ebenso denkbar sei eine teilweise UVP in Bezug auf die vorhandenen Umweltdaten. Insofern wird wohl von den Mitgliedstaaten die Prüfung eines milderen Mittels bzw. von möglichen Alter­ nativen abverlangt. 85 Im konkreten Fall LNGG hätte man – im Sinne des Vorschlags der Kommis­ sion – die UVP für einen Teil der Vorhaben aufrechterhalten, manche Verfah­ rensschritte der UVP beibehalten oder beispielsweise den Umweltbericht auf bestimmte Daten beschränken können. Aus der Gesetzesbegründung ist aber nicht ersichtlich, inwiefern eine solche Prüfung eines „milderen Mittels“ im Ge­ setzgebungsprozess stattgefunden hat. Jedenfalls obliegt diese auch nicht der Zulassungsbehörde, da das LNGG dazu keinerlei Regelung trifft. Der Gesetz­ geber ging offenkundig davon aus, dass die Prüfung der weiteren Zulassungs­ voraussetzungen nach anderen fachrechtlichen Vorschriften (§  4 Abs.  3 LNGG) 84 

EuGH, Urt. v. 29.07.2019 – C-411/17, ECLI:EU:C:2019:622, Rn.  99. Kment/Fimpel, NuR 2022, 599 (603).

85 Vgl.

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samt der formellen und materiellen Anforderungen zum Schutze der Umwelt und damit auch der Schutzgüter der UVP-Richtlinie ausreicht, damit die Ziele der Richtlinie Berücksichtigung finden. 86 Daran sind jedenfalls im Hinblick auf die mittelbaren Auswirkungen auf die umweltrechtlichen Schutzgüter Zweifel angebracht.87 Dass sich die Anwendung der Bestimmungen der UVP-Richtlinie nachteilig auf den Zweck aller ausgenommenen Projekte auswirken würde, er­ gibt sich nicht aus der Gesetzesbegründung, diese Anforderung wurde schein­ bar ignoriert.

3. Die Verkürzung der Auslegungs- und Einwendungsfristen Um zu beschleunigen, hat der Gesetzgeber des LNGG außerdem einen Ansatz der Beschränkung von Beteiligungsrechten der Öffentlichkeit gewählt. Zentral ist dabei die Verkürzung von Auslegungs- und Einwendungsfristen. Ausle­ gungsfristen nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz (BImSchG), des Was­ serhaushaltsgesetzes (WHG) und des Energiewirtschaftsgesetzes (EnWG) wer­ den von einem Monat auf eine Woche verkürzt, 88 Einwendungsfristen werden entweder von einem Monat auf eine Woche verkürzt,89 oder von zwei Wochen auf eine Woche,90 so auch die Einwendungsfrist bei Planänderung.91 Nicht in den Anwendungsbereich dieser Verkürzungen fallen stationär landgebundene Terminals. Die Genehmigungen von LNG-Anlagen richten sich nach unterschiedlichen Fachgesetzen, je nach Art der zu genehmigenden Anlage. So ist für den Bau der Hafenanlagen ein Planfeststellungsbeschluss nach dem Wasserhaushaltsgesetz (WHG) erforderlich. Zudem ist u.a. für die Lagerung an Land eine Geneh­ migung nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz (BImSchG) erforderlich. Die LNG-­Anbindungsleitungen müssen nach dem Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) ebenfalls planfestgestellt werden. Aus dieser Vielgestaltigkeit des Ge­ nehmigungsrechts folgen die verschiedenen Vorschriften im LNGG zur Ver­ kürzung der Auslegungs- und Einwendungsfristen.

86 

BT Drs. 20/1742, S.  19. Kment/Fimpel, NuR 2022, 599 (604). 88  In §  5 Abs.  1 Nr.  1 LNGG: Abweichend von §  10 Abs.  3 S.  2 BImSchG; in §  7 S.  1 Nr.  1 LNGG; Abweichend von §  70 Abs.  1 S. 1 WHG i.V.m. §  73 Abs.  3 S.  1 VwVfG, in §  8 Abs.  1 Nr.  1 Buchst. a LNGG: Abweichend von §  43a EnWG i.V.m. §  73 Abs.  3 S.  1 VwVfG. 89  In §  5 Abs.  1 Nr.  2 LNGG: Abweichend von §  10 Abs.  3 S.  4 BImSchG. 90  In §  7 S.  1 Nr.  2 LNGG: Abweichend von §  70 Abs.  1 S.  1 Hs.  2 WHG i.V.m. §  73 Abs.  4 S.  1 VwVfG; §  8 Abs.  1 Nr.  1 Buchst. b LNGG: Abweichend von §  43a EnWG i.V.m. §  73 Abs.  4 S.  1 VwVfG. 91  In §  7 S.  1 Nr.  6 LNGG: Abweichend von §  70 Abs.  1 S.  1 Hs.  2 WHG i.V.m. §  73 Abs.  8 VwVfG; §  8 Abs.  1 Nr.  1 Buchst. d LNGG: Abweichend von §  73 Abs.  8 VwVfG. 87 Vgl.

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a) Europarechtliche Grenzen Auf Ebene des Unionsrechts ist für den Fall, dass die Bestimmungen der UVP-Richtlinie Anwendung finden, in Art.  6 Abs.  3 UVP-Richtlinie geregelt, dass der betroffenen Öffentlichkeit innerhalb eines angemessenen zeitlichen Rahmens bestimmte Informationen zugänglich gemacht werden. In Art.   6 Abs.  6 UVP-Richtlinie ist vorgesehen, dass der Zeitrahmen für die verschiede­ nen Phasen so gewählt werden muss, dass ausreichend Zeit zur Verfügung steht, um die Behörden und die Öffentlichkeit zu informieren und den Behörden und der betroffenen Öffentlichkeit die Möglichkeit zu geben, sich vorzubereiten und effektiv an dem umweltbezogenen Entscheidungsverfahren gemäß Art.  6 teilzunehmen. Eine konkrete Vorgabe zur Dauer der Frist enthält nur die UVP-­ Richtlinie in Art.  6 Abs.  7: Danach beträgt die Frist, innerhalb der die betroffe­ ne Öffentlichkeit zu dem UVP-Bericht zu konsultieren ist, mindestens 30 Tage. Der EuGH hat sich bislang nicht zur Angemessenheit des zeitlichen Rahmens geäußert. Sollte die UVP-Richtlinie keine Anwendung finden – falls §  4 LNGG also den Anforderungen der Ausnahme nach Art.  2 Abs.  4 der UVP-Richtlinie ge­ nügt – ist europarechtlich zudem Art.  24 Abs.  1 UAbs.  1 i.V.m. Anhang IV Nr.  5 der Richtlinie 2010/75/EU (Industrieemissions-Richtlinie) relevant. Darin wer­ den ähnliche Anforderungen an den Zeitrahmen wie in der UVP-Richtline ge­ stellt, bis auf die dreißigtägige Frist in Art.  6 Abs.  7 der UVP-Richtlinie. Soweit LNG-Anlagen also der Industrieemissions-Richtlinie unterfallen, gilt (auch) europarechtlich, dass ein angemessener zeitlicher Rahmen bzw. ausreichend Zeit für Information, effektive Vorbereitung und Beteiligung der Öffentlichkeit gewährleistet sein muss. b) Völkerrechtliche Grenzen An verschiedenen Stellen der Aarhus-Konvention (AK) wird ebenfalls ein ange­ messener zeitlicher Rahmen gefordert. Der Wortlaut der unionsrechtlichen Re­ gelungen und der Regelungen der Aarhus-Konvention ähneln sich sehr. So ist in Art.  6 Abs.  2 AK geregelt, dass die betroffene Öffentlichkeit je nach Zweckmä­ ßigkeit durch öffentliche Bekanntmachung oder Einzelnen gegenüber „in sach­ gerechter, rechtzeitiger und effektiver Weise frühzeitig“ informiert wird. Art.  6 Abs.  3 AK schreibt vor, dass die Verfahren zur Öffentlichkeitsbeteiligung je­ weils einen angemessenen zeitlichen Rahmen für die verschiedenen Phasen vor­ sehen, damit ausreichend Zeit zur Verfügung steht, um die Öffentlichkeit zu informieren und damit der Öffentlichkeit ausreichend Zeit zur effektiven Vor­ bereitung und Beteiligung während des umweltbezogenen Entscheidungsver­ fahrens gegeben wird. Das ACCC hat konkretisiert, dass ein „angemessener zeitlicher Rahmen“ be­ deutet, dass die Öffentlichkeit ausreichend Zeit haben sollte, sich mit den Un­

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terlagen vertraut zu machen und Stellungnahmen abzugeben, wobei unter ande­ rem die Art, die Komplexität und der Umfang der vorgeschlagenen Tätigkeit zu berücksichtigen seien. Ein Zeitrahmen, der für ein kleines, einfaches Projekt mit nur lokalen Auswirkungen angemessen sein mag, könne im Falle eines komplexen Großprojekts durchaus unangemessen sein.92 Konkrete Aussagen dazu, welche Zeiträume angemessen sind, macht das ACCC nur für Einzelfälle. So hielt es z.B. den im litauischen UVP-Gesetz fest­ gelegten Zeitrahmen von nur zehn Arbeitstagen für die Einsichtnahme in die Unterlagen, einschließlich des UVP-Berichts, und für die Vorbereitung auf die Teilnahme am Entscheidungsprozess über eine Großdeponie für nicht konform mit den Anforderungen des Art.  6 Abs.  3 AK.93 Eine Woche für die Prüfung der UVP-Unterlagen zu einem Bergbauprojekt in Armenien waren laut ACCC kei­ ne frühzeitige Information im Sinne von Art.  6 Abs.  2 AK. Dieser Zeitraum gebe der betroffenen Öffentlichkeit nicht genug Zeit, sich mit den umfang­reichen technischen Unterlagen vertraut zu machen und sich effektiv zu betei­ligen.94 Konkret würde hier zur Bestimmung der Angemessenheit sicher auch eine Rolle spielen, dass die LNG-Anlagen für die deutsche Öffentlichkeit neu sind und keine relevanten Erkenntnisse aus konkreten Vorgängerverfahren vorlie­ gen. Jedenfalls müssen „verschiedene Phasen“ gem. Art.  6 Abs.  3 AK existieren, und in all diesen Phasen müssen Zeitrahmen vorgesehen werden, die die wirk­ same Umsetzung der diesbezüglichen Anforderungen in Art.  6 AK ermögli­ chen. Im Handbuch „The Aarhus Convention  – An Implementation Guide“ wird präzisiert, dass dazu die Zeit gehöre, die die Öffentlichkeit benötigt, um die in der Bekanntmachung nach Absatz  2 bereitgestellten Informationen zu verarbeiten, Zeit für die Einholung zusätzlicher Informationen bei den Behör­ den, Zeit, um die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehenden Informationen zu prüfen, Zeit, um sich auf die Teilnahme an einer Anhörung oder der Möglich­ keit zur Stellungnahme vorzubereiten und Zeit, um sich effektiv an diesen Ver­ fahren zu beteiligen.95 In Bezug auf die einwöchigen Auslegungs- und Einwendungsfristen ist das mit großer Wahrscheinlichkeit zweifelhaft. Denn, einerseits handelt es sich bei den Unterlagen durchaus nicht selten um mehrere hundert bis tausende Seiten an Unterlagen96 andererseits sind die Inhalte auch hochkomplex. Regelmäßig 92 

ACCC/C/2006/16 (Lithuania), Rn.  69. ACCC/C/2006/70 (Lithuania), Rn.  70. 94  ACCC/C/2009/43 (Armenia), Rn.  67. 95  United Nations Economic Commission For Europe, The Aarhus Convention – An im­ plementation guide, 2014, S.  142. 96  Siehe etwa die Unterlagen für die Anlage in Wilhelmshaven, bei dem allein der Erläute­ rungsbericht zum wasserrechtlichen Planfeststellungsverfahren knapp 50 Seiten und der UVP-Bericht 394 Seiten aufweist, https://www.nlwkn.niedersachsen.de/startseite/wasser wirtschaft/zulassungsverfahren/lng_terminal_wilhelmshaven_nports/planfeststellungsver 93 

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werden derart kurze Fristen die Öffentlichkeit von der Beteiligung ausschlie­ ßen, da es schlicht und ergreifend nicht möglich sein wird, in einem solch kur­ zen Zeitrahmen Informationen einzuholen, zu prüfen, und sich dabei auch noch effektiv auf Stellungnahmen oder Erörterungstermine – soweit sie denn noch stattfinden – vorzubereiten. Nichts anderes gilt bei der viertägigen Zugänglichmachung des Entwurfs der Zulassungsentscheidung einschließlich Begründung (§  4 Abs.  4 Nr.  1 LNGG), der wesentlichen Antragsunterlagen einschließlich der Unterlagen, mit denen die wesentlichen Auswirkungen des Vorhabens auf die Umwelt dargestellt wer­ den (§  4 Abs.  4 Nr.  2 LNGG) sowie der Gründe für die Gewährung der Aus­ nahme nach Absatz  1 von den Anforderungen nach dem UVPG (§  4 Abs.  4 Nr.  3 LNGG). Hierbei handelt es sich um Informationen im Sinne von Art.  6 Abs.  2 Buchst. a und b der Aarhus-Konvention, über die die betroffene Öffentlichkeit durch öffentliche Bekanntmachung oder Einzelnen gegenüber in sachgerechter, rechtzeitiger und effektiver Weise frühzeitig informiert werden muss. Entgegen der Vorgabe „verschiedener Phasen“ in Art.  6 Abs.  3 der Aarhus-Konvention gibt es hier nur eine einzige, sehr kurze Phase. Die verschiedenen fachrechtli­ chen Verfahren fangen dies auch in der Summe nicht auf. Insofern scheint der Entfall der Öffentlichkeitsbeteiligung in Bezug auf diese Informationen erst recht nicht mit der Aarhus-Konvention vereinbar.

4. Klagerechte Das LNGG beschränkt den Rechtsschutz nicht unmittelbar. Mittelbar jedoch führt auch das LNGG zu einer Einschränkung von Klagerechten. Nicht nur die bereits erörterte gesetzliche Bedarfsfeststellung führt zu bedenklichen Lücken im Rechtsschutz. Gemäß §  11 Abs.  1 S.  1 LNGG entfällt im Falle eines Wider­ spruchs und einer Anfechtungsklage gegen eine Zulassungsentscheidung über LNG-Vorhaben zudem die aufschiebende Wirkung – dies ist allerdings mittler­ weile vollkommen üblich. Allerdings ist das vielleicht genau das Problem. Das Bundesverfassungsgericht erkennt im Hinblick auf Art.  19 Abs.  4 GG an, dass die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und verwaltungsgerichtli­ cher Klage eine adäquate Ausprägung der verfassungsrechtlichen Rechtsschutz­ garantie und ein fundamentaler Grundsatz des öffentlich-rechtlichen Prozesses ist.97 Laut Bundesverfassungsgericht können es jedoch überwiegende öffentli­ che Belange zwar rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch des Einzelnen einst­ fahren-fur-die-errichtung-und-den-betrieb-eines-lng-terminals-am-bestandsbauwerk-der-­ umschlaganlage-voslapper-groden-uvg-brucke-in-wilhelmshaven-212235.html, zuletzt ab­ gerufen am 06.04.2023. 97 BVerfG, Beschl. v. 19.06.1973  – 1   BvL 39/69, 1  BvL 14/72  – BVerfGE 35, 263 (272); BVerfG, Beschl. v. 18.07.1973 – 1  BvR 23/73, 1  BvR 155/73 – BVerfGE 35, 382 (401 f.).

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weilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des all­ gemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten.98 „Dies muss jedoch die Aus­ nahme bleiben. Eine Verwaltungspraxis, die dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis umkehrte, indem zum Beispiel Verwaltungsakte generell für sofort vollziehbar erklärt würden, wäre mit der Verfassung nicht vereinbar“.99 Es bleibt also die Frage offen, ob dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis im Umwelt- und Planungs­ recht nicht schon längst umgekehrt worden ist und welche Rolle §  11 LNGG dazu leistet. Verfassungsrechtlich noch problematischer ist der kürzliche beschlossene §  80c VwGO.100 Dieser findet Anwendung auf alle erdenklichen verwaltungs­ gerichtlichen Streitigkeiten und vor allem Infrastrukturvorhaben (§  80c Abs.  1 VwGO) inkl. die nach dem LNGG. Durch §  80c Abs.  2 VwGO wird der effek­ tive Rechtsschutz massiv eingeschränkt. An dem Gesetz bestehen u.E. erheb­ liche Zweifel an der Vereinbarkeit mit Art.  19 Abs.  4 GG sowie Europa- und Völkerrecht.101 Er wurde auch durch die richterliche Praxis kritisiert.102 Weiterhin wird in §  11 Abs.  1 S.  2 LNGG die Monatsfrist für Stellung und Begründung des Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung geregelt. Die Frist beginnt mit der Zustellung der Zulassungsentscheidung. Auch dieses Instrument ist bereits weit verbreitet und aus §  18e Abs.  3 S.  1 AEG, §  17e Abs.  3 S.  1 FStrG oder §  14e Abs.  3 S.  1 WaStrG bekannt. Damit kann der Bau eines LNG-Terminals etwa aus artenschutzrechtlichen Gründen nur noch dann ver­ hindert werden, wenn fachliche Probleme und Auswirkungen innerhalb von vier Wochen von oft ehrenamtlich tätigen Mitgliedern von Umweltschutzverei­ nigungen aufgeklärt werden können. §  11 Abs.  2 LNGG regelt zwar, dass auch 98  BVerfG, Beschl. v. 18.07.1973 – 1  BvR 23/73, 1  BvR 155/73 – BVerfGE 35, 382 (401 f.); BVerfG, Urt. v. 15.12.1983 – 1  BvR 209/83, 1  BvR 269/83, 1  BvR 420/83, 1  BvR 440/83, 1  BvR 484/83 – BVerfGE 65, 1 (70 f.). 99  Vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.07.1973 – 1  BvR 23/73, 1  BvR 155/73 – BVerfGE 35, 382 (402). 100  BGBl. 2023 I Nr.  71. 101  Green Legal Impact e.V., Stellungnahme – Entwurf eines Gesetzes zur Beschleunigung von verwaltungsgerichtlichen Verfahren im Infrastrukturbereich v. 12.09.2022, S.  2 ff., ­https:// www.bmj.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Stellungnahmen/2022/Downloads/­0912 _Stellungnahme_GLI_Beschl_Verfahren.pdf?__blob=publicationFile&v=2, zuletzt abgeru­ fen am 06.04.2023; BUND e.V., Stellungnahme zum Referentenentwurf des Bundes­m i­n i­ste­ riums der Justiz – Entwurf eines Gesetzes zur Beschleunigung von verwaltungsgerichtlichen Verfahren im Infrastrukturbereich v. 07.09.2022, S.  12 ff., https://www.bmj.de/SharedDocs/ Gesetzgebungsverfahren/Stellungnahmen/2022/Downloads/0912_Stellungnahme_GLI_ Beschl_Verfahren.pdf?__blob=publicationFile&v=2, zuletzt abgerufen am 07.04.­2023. 102 Deutscher Bundestag, Beschleunigungsgesetz stößt in Anhörung auf Kritik, Parla­ mentsnachrichten v. 23.01.2023, https://www.bundestag.de/presse/hib/kurzmeldungen-93 0802, zuletzt abgerufen am 07.04.2023; Bund Deutscher Verwaltungsrichter und Verwal­ tungsrichterinnen, Stellungnahme zu dem Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz für ein Gesetz zur Beschleunigung von verwaltungsgerichtlichen Verfahren im Infra­ strukturbereich v. 09.09.2022, https://www.bmj.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/DE/ Beschleunigung_verwaltungsgerichtliche_Verfahren.html, zuletzt abgerufen am 07.04.­2023.

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bei später eintretenden Tatsachen der Antrag nach §  80 Abs.  5 S.  1 VwGO noch gestellt werden kann, die Frist beginnt dann nach §  11 Abs.  2 S.  2 LNGG mit dem Zeitpunkt, in dem der Beschwerte von den Tatsachen Kenntnis erlangt. Hier ist aber zu befürchten, dass dieser Zeitpunkt in der Praxis auf den Zeit­ punkt der Veröffentlichung der Unterlagen oder jedenfalls das Erheben der Ein­ wendung zurückverlegt wird. Objektives Recht effektiv (und präventiv) einzuklagen, wie dies u.a. von Art.  9 Abs.  2 AK vorgegeben wird, erscheint in der Praxis damit beinahe ausge­ schlossen. Überdies wird ein weiteres Mal die erstinstanzliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts ausgeweitet (§  12 LNGG). Dass ein ständig wachsender Katalog an erstinstanzlichen Zuständigkeiten der Funktion des Bundesverwaltungsgerichts als oberstem Bundesgericht (Art.  95 Abs.  1 GG) möglicherweise nicht gerecht wird und ihnen eine erstinstanzliche Zuständig­ keit nur ausnahmsweise103 eingeräumt werden darf, soll an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden.

5. Weitere problematische Regelungen des LNGG Dies sind jedoch nicht die einzigen zweifelhaften Regelungen im LNGG. So soll die Genehmigungsbehörde den vorzeitigen Beginn nach BImSchG und WHG bereits vor der Beteiligung der Öffentlichkeit zulassen (§  5 Abs.  1 S.  4 LNGG; §  7 S.  4 LNGG). Damit wird ein begründeter Antrag auf einen Bau­ stopp im Eilverfahren de facto vollständig unmöglich gemacht, liegen der Öf­ fentlichkeit zu diesem Zeitpunkt doch keinerlei prüfungsfähige Unterlagen vor. Außerdem kann der vorzeitige Beginn auch ohne das Vorliegen vollständiger Antragsunterlagen (§§  5 Abs.  1 S.  1 Nr.  5, 7 S.  1 Nr.  5 LNGG) erfolgen. Für die vorzeitige Zulassung nach §  44c EnWG ist sogar vorgesehen, dass auch ir­ reversible Maßnahmen vorzeitig zugelassen werden können (§  8 Abs.  1 Nr.  4 LNGG).104 Die vorzeitige Zulassung birgt Risiken im Hinblick auf eine nicht zulässige, dennoch faktische Präjudizierung der Genehmigungsentscheidung sowie die nicht hinreichende Berücksichtigung ökologischer Reversibilität.105 Darüber hinaus ist das Vorliegen vollständiger Antragsunterlagen bislang nicht grundlos Voraussetzung für die erforderliche positive Prognose im Rahmen von §  8a BImSchG106 und §  17 WHG.107 Nur wenn alle wesentlichen Informationen

103 

BVerfG, Beschl. v. 10.06.1958 – 2  BvF 1/56 – BverfGE 8, 174 (180). Näheres hierzu: Wolff, NdsVBl 2022, 361. 105 Vgl. Hohnerlein, NVwZ 2022, 750 (753 ff.). 106  Jarass, BImSchG, 2022, BImSchG §  8a Rn.  11; Mann, in: Landmann/Rohmer (Hrsg.), UmweltR, 99. EL September 2022, BImSchG §  8a Rn.  49. 107  Knopp/Müller, in: Sieder/Zeitler/Dahme/Knopp (Hrsg.), 57. EL Februar 2022, WHG §  17 Rn.  45. 104 

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vorliegen, ist es auch möglich, die Genehmigungsfähigkeit zu beurteilen. Eine vorzeitige Zulassung ohne Beteiligung der Öffentlichkeit ist auch hier gerade nicht sinnvoll, da ohne Einwendungen in der Regel auch nicht von einer hinrei­ chenden Tatsachengrundlage für die positive Prognose ausgegangen werden kann.108 Zudem wurde in §  7 S.  1 Nr.  4 LNGG eine gesetzliche Regelausnahme für das Wasserrecht eingefügt. Danach sind bei der Zulassung von Vorhaben nach §  2 Abs.  1 LNGG durch die Entnahmen und Wiedereinleitungen von Wasser, die für den Betrieb der Vorhaben erforderlich sind, in der Regel keine schädlichen, auch durch den Erlass einzuhaltender Nebenbestimmungen nicht vermeidbaren oder nicht ausgleichbaren Gewässerveränderungen im Sinne des §  12 Abs.  1 Nr.  1 WHG zu erwarten. Da es sich dabei aber um eine Tatsachenfeststellung handelt, liegt es nahe, dass diese auch empirisch belegbar sein muss.109 Laut EuGH sind die Mitgliedstaaten vorbehaltlich der Gewährung einer Ausnahme verpflichtet, die Genehmigung für ein konkretes Vorhaben zu versagen, wenn es eine Verschlechterung des Zustands eines Oberflächenwasserkörpers verur­ sachen kann oder wenn es die Erreichung eines guten Zustands eines Oberflä­ chengewässers bzw. eines guten ökologischen Potenzials und eines guten che­ mischen Zustands eines Oberflächengewässers zu dem nach der Richtlinie maßgeblichen Zeitpunkt gefährdet.110 Insofern ist das Verschlechterungsverbot nicht nur auf der wasserrechtlichen Planungsebene relevant, sondern auch in jedem Zulassungsverfahren unmittelbar verbindlich.111 §  7 S.  1 Nr.  4 LNGG wirft Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit mit dem in Art.  4 Abs.  1 lit.  a i sowie Art.  4 Abs.  1 lit.  b i der Richtlinie 2000/60/EG (Wasser-Rahmen-Richt­ linie) normierten Verschlechterungsverbot für Oberflächengewässer und das Grundwasser sowie der rechtlich parallel für Meere und Küstengewässer an­ wendbaren Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie 2008/56/EG auf. Die ökologi­ sche Lage in Nord- und Ostsee ist laut offizieller Daten besorgniserregend.112

108  Näheres hierzu: Green Legal Impact e.V., Positionspapier – Gesetzentwurf zur Ände­ rung des BImSchG schwächt Umweltstandards ab und hebelt Öffentlichkeitsbeteiligung aus v. September 2022, https://www.greenlegal.eu/wp/wp-content/uploads/2022/09/GLI_ Positionspapier_BImSchG_09-2022.pdf, zuletzt abgerufen am 07.04.­2023. 109 Vgl. Reçber, Rechtliche Bedenken bei geplantem LNG-Turbo in Tagesspiegel Back­ ground v. 17.09.2022, https://background.tagesspiegel.de/energie-klima/rechtliche-bedenken-­ bei-­geplantem-lng-turbo, zuletzt abgerufen am 06.04.2023. 110 EuGH, Urt. v. 01.07.2015 – C-461/13, ECLI:EU:C:2015:433 – NVwZ 2015, 1041 Rn.  51. 111  Breuer/Gärditz, Öffentliches und privates Wasserrecht, 2017, Rn.  158 m.w.N. 112 Vgl. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU), Zustand der deutschen Nordseegewässer 2018, https://www.meeresschutz.info/berichte-­ art-8-10.html, zuletzt abgerufen am 07.04.2023; sowie BMU, Zustand der deutschen Ostsee­ gewässer 2018, https://www.meeresschutz.info/berichte-art-8-10.html, zuletzt abgerufen am 07.04.2023.

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Weiterhin ist geregelt, dass die Genehmigung nach §  4 BImSchG für stationär schwimmende und landgebundene LNG-Terminals mit der Bestimmung zu er­ teilen ist, dass der Betrieb der Anlage mit verflüssigtem Erdgas spätestens am 31.12.2043 einzustellen ist (§  5 Abs.  1 Nr.  4 LNGG). Die Genehmigung zum Weiterbetrieb derjenigen LNG-Terminals, die über den 31.12.2043 hinaus be­ trieben werden sollen, darf nur für einen Betrieb mit klimaneutralem Wasser­ stoff und Derivaten hiervon erteilt werden (§  5 Abs.  2 LNGG). Eine explizite Regelung, dass die LNG-Terminals „Wasserstoff-ready“ geplant werden müss­ ten oder auf den Betrieb mit Wasserstoff umgerüstet werden können müssen, ist hingegen nicht vorgesehen. Dies verwundert, da Wasserstoff nicht „einfach so“ in LNG-Terminals eingesetzt werden kann. Es sind erhebliche technische An­ passungen nötig, verbunden mit erheblichen Kosten. Insofern ist die Frage of­ fen, ob eine solche Umrüstung für die Betreiber überhaupt wirtschaftlich ist.113 Deshalb müsste eigentlich bereits im Planungsstadium der LNG-Terminals ein Konzept für die Umstellung auf andere Energieträger erstellt und bei der Mate­ rial- und Standortwahl berücksichtigt werden.114

III. Fazit Beim Festakt in Wilhelmshaven wurde das neue „Deutschland-Tempo“ be­ schworen, mit dem „wir Infrastruktur voranbringen“.115 Laut FDP soll das „Modell LNG“ auf eine ganze Reihe von Vorhaben übertragen werden: Nicht nur für den Ausbau Erneuerbarer Energien, sondern auch für leistungsfähige Straßen, Glasfasernetze, eine flächendeckende Ladeinfrastruktur für E-Autos oder den Wohnungsbau.116 Wie dargelegt, ist das LNGG jedoch ein Gesetz ohne ausreichende fachliche Grundlage, dessen Vereinbarkeit mit Unions-, ­Völker- und Verfassungsrecht zweifelhaft ist. Ein solches Gesetz kann und darf keine Blaupause für eine Transformation sein, die alle Bürger*innen mit­ nimmt.

113  Schreiner/Riemer, Conversion of LNG Terminals for Liquid Hydrogen or Ammonia, 2022, https://www.isi.fraunhofer.de/de/presse/2022/presseinfo-25-lng-terminals-wasserstoff ammoniak.html, zuletzt abgerufen am 07.04.2023. 114  Schreiner/Riemer, Conversion of LNG Terminals for Liquid Hydrogen or Ammonia, 2022, https://www.isi.fraunhofer.de/de/presse/2022/presseinfo-25-lng-terminals-wasserstoff ammoniak.html, zuletzt abgerufen am 07.04.2023. 115  ARD, Ein wichtiger Beitrag für die Sicherheit, https://www.tagesschau.de/inland/­i nnen politik/lng-terminals-eroeffnung-wilhelmshaven-101.html, zuletzt abgerufen am 07.04.­2023. 116 FDP, Schneller planen, schneller bauen, Positionspapier der Freien Demokraten im Deutschen Bundestag v. 12.10.2022, https://www.fdpbt.de/beschluss/positionspapier-freien-­ demokraten-im-deutschen-bundestag-schneller-planen-schneller-bauen, zuletzt abgerufen am 07.04.2023.

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Nicht nur das LNGG verfolgt das Ziel, treibhausgasintensive Vorhaben zu beschleunigen. Auch Fernstraßen, Verkehrsflughäfen und sogar Braunkohl­e­ tagebaue sollen beschleunigt werden.117 Diese Tendenz betrifft aber nicht nur das verwaltungsgerichtliche Verfahren, sondern auch den Abwägungsprozess bei der Zulassungsbehörde. Das überragende öffentliche Interesse war gedacht als klimaschützende positive Abwägungsdirektive, die die Durchsetzungskraft klimafreundlicher Vorhaben erhöhen soll. Nun soll wohl auch der Straßenbau davon profitieren. Art.  20a GG und das Klimaschutzgebot, welches das Bun­ desverfassungsgericht diesem entnimmt,118 gebieten aber eine Priorisierung kli­ mafreundlicher Vorhaben und auch Planungssicherheit in der Transformation als Ganzes. Wenn ein LNG-Terminal in zehn Monaten bereitsteht, eine Windkraftanlage aber oft erst nach sieben Jahren,119 dann ist das schwer vermittelbar, zeigt aber vor allem eines: Die Öffentlichkeitsbeteiligung ist nicht der hauptsächliche Hinderungsgrund, sondern die Planungskaskaden zwischen Ländern und Ge­ meinden und oft schlecht ausgestattete Genehmigungsbehörden, sowie (bisher) mangelhafte Klarheit etwa bei der Anwendung von Bauplanungsrecht und Na­ turschutzrecht. Das LNGG wurde vom Bund zentral erlassen und wenige Vor­ habenträger zogen mit wenigen zuständigen Stellen in den Ländern auf dieser Grundlage an einem Strang. Ein forensischer oder statistischer Beleg für die „Schuld“ der Öffentlichkeitsbeteiligung fehlt dagegen weiterhin. Um Beschleunigung zu erreichen darf – ob Erneuerbare Energie oder fossiles Projekt – nicht an den falschen Stellschrauben gedreht werden. Verzögerungen im Planungs- und Genehmigungsprozess entstehen im verwaltungsbehörd­ lichen Verfahren. Sicherlich können zur Beschleunigung Regelungen verbessert werden, Gesetze für den Normvollzug verständlicher gemacht werden und den Behörden Leitlinien an die Hand gegeben werden. Umweltprüfungen und Öffentlichkeitsbeteiligung sind aber sinnvoll und nicht ohne Grund erfunden worden: Nur mit hinreichenden Kenntnissen über alle unmittelbaren und mittelbaren Umweltauswirkungen eines Projekts kann die Behörde eine informierte und rechtmäßige Entscheidung treffen. Es gibt keine einzige Studie, die empirisch belegen würde, dass die Öffentlichkeitsbe­ teiligung Planungsverfahren maßgeblich verzögern würde. Im Gegenteil ist wohl davon auszugehen, dass die Öffentlichkeitsbeteiligung in Planungs- und Genehmigungsverfahren keinen statistisch relevanten Verzögerungsfaktor dar­ 117  So kürzlich vom Bundestag beschlossen mit der VwGO-Novelle: BGBl. 2023 I Nr.  71; zur Beschleunigung im Verkehrsbereich gibt es zudem Pläne aus dem Bundesverkehrsminis­ terium. 118 BVerfG, Beschl. v. 24.03.2021 – 1  BvR 2656/18 u.a. – Rn.  198. 119  MDR, Warum dauert es so lange Windkraftanlagen zu bauen?, https://www.mdr.de/ nachrichten/deutschland/politik/windkraft-anlagen-planung-dauer-sachsen-100.html, zu­ letzt abgerufen am 07.04.2023.

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stellt.120 Dies hat der Sachverständigenrat für Umweltfragen bereits 2002 festge­ stellt und damals schon appelliert, dass „der Trend zum Rückbau der Öffent­ lichkeitsbeteiligung […] nicht gestoppt, sondern umgekehrt werden [muss].“121 Laut Sachverständigenrat für Umweltfragen stärken und korrigieren Beteili­ gungsrechte den defizitären behördlichen Vollzug des Umweltrechts.122 Aber auch in jüngerer Zeit hat der Sachverständigenrat für Umweltfragen betont, dass die Beteiligungsrechte den defizitären behördlichen Vollzug des Umwelt­ rechts stärken und korrigieren.123 So wird teilweise zum Zwecke der Beschleu­ nigung in der rechtswissenschaftlichen Literatur sogar gefordert Einwendungs­ fristen zu verlängern.124 Grundrechtsschutz ist weitgehend auch durch die Gestaltung von Verfahren zu bewirken, dazu gehören auch die Beteiligungsrechte im Genehmigungsver­ fahren.125 Diese Rechte zu beschränken, kann also eine Grundrechtsverletzung darstellen.126 Die Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts zum Grund­ rechtsschutz durch Verfahrensgestaltung stammen aus dem Jahr 1979. Auch heute, vierzig Jahre später, haben sie nicht an Aktualität eingebüßt. Der Verzicht auf Umweltprüfungen, Öffentlichkeitsbeteiligung und Rechts­ schutzmöglichkeiten spart sicher etwas Zeit ein. Aber all das zu welchem Preis? Das aktuelle Handeln der Bundesregierung wirft dabei nicht nur die Frage auf, wie ernst wir unsere europa- und völkerrechtlichen Verpflichtungen nehmen, sondern auch, wie wichtig uns eine starke Zivilgesellschaft, demokratische Be­ teiligung, eine insgesamt gesunde Umwelt und ein funktionierender Rechts­ staat sind. Nach der Krise der Versorgungssicherheit kommt die nächste – und das wird neben der Klimakrise vor allem die Biodiversitätskrise sein, die das Überleben insgesamt bedrohen. Wie die EU-Kommission seit 2013 immer wieder feststellt, verschleißt Euro­ pa „weiterhin sein Naturkapital, gefährdet seine langfristige Nachhaltigkeit und schwächt seine Widerstandskraft gegenüber Umweltbelastungen“.127 Das ein­ seitig beschworene „Deutschland-Tempo“ und letztlich die Abschaffung von 120 Sachverständigenrat für Umweltfragen, Umweltgutachten 2002, BT-Drs.  14/8792, S.  108. 121 Sachverständigenrat für Umweltfragen, Umweltgutachten 2002, BT-Drs.  14/8792, S.  110. 122  Sachverständigenrat für Umweltfragen, Demokratisch regieren in ökologischen Gren­ zen – Demokratisch regieren in ökologischen Grenzen – Zur Legitimation von Umweltpoli­ tik, Juni 2019, S.  128 f. 123  Sachverständigenrat für Umweltfragen, Demokratisch regieren in ökologischen Gren­ zen – Demokratisch regieren in ökologischen Grenzen – Zur Legitimation von Umweltpoli­ tik, Juni 2019, S.  128 f. 124  Groß, ZUR 2021, 75 (79). 125  BVerfG, Beschl. v. 20.12.1979 – 1  BvR 385/77 – NJW 1980, 759 (765). 126  Vgl. BVerfG, Beschl. v. 20.12.1979 – 1  BvR 385/77 – NJW 1980, 759 (765). 127 Grüne Infrastruktur (GI)  – Aufwertung des europäischen Naturkapitals, COM 2013/155, S.  3.

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„Grundrechtsschutz durch Verfahren“ verdeckt dies nur. Die verbleibende Zeit müssen Klima- und Umweltministerium nutzen, um diesen Missstand zu besei­ tigen – und nicht Beteiligungs- und Klagerechte.

Grüner Wasserstoff als Baustein der Energiewende Zum delegierten Rechtsakt der EU1 Matthias Lang

I. Einleitung „Ich bin davon überzeugt, meine Freunde, daß das Wasser dereinst als Brennstoff Ver­ wendung findet, daß Wasserstoff und Sauerstoff, die Bestandtheile desselben, zur uner­ schöpflichen und bezüglich ihrer Intensität ganz ungeahnten Quelle der Wärme und des Lichtes werden. Der Tag wird nicht ausbleiben, wo die Kohlenkammern der Steamer und die Tender der Locomotiven statt der Kohle diese beiden Gase vielleicht in compri­ mirtem Zustande mitführen werden, welche unter den Kesseln eine enorme Heizkraft entwickeln. … Ich glaube also, daß man, wenn unsere jetzigen Kohlenschächte einmal erschöpft sein werden, mit Wasser heizen wird. Das Wasser ist die Kohle der Zukunft.“2

Wasser ist schon lange ein Baustein der Energiewende. Jules Verne, von dem das einleitende Zitat stammt, sah Wasser bereits 1870 als „Kohle der Zukunft“ – und meinte damit die Nutzung von Wasserstoff. Mehr als 150 Jahre später ist Rainer Baake wahrscheinlich der bekannteste Wasserstoff-Skeptiker im deutschen Sprachraum, mit seinem berühmten Ausspruch „Der Wasserstoff ist der ganz teure Champagner der Energiewende“.3 Werden die lange erwarteten europäischen delegierten Rechtsakte – eigent­ lich sind es ja zwei – endlich die lange erwartete Wasserstoff-Zukunft einleiten? Vorab: Wasserstoff ist 2023 noch ein ungewisser Baustein der Energiewende. Wir wissen aktuell nicht, wie viel Wasserstoff wir künftig brauchen. Wir wissen aktuell nicht, woher dieser Wasserstoff kommen soll. Wir wissen nicht, was der Wasserstoff kosten wird. Aber: Wir glauben ziemlich sicher zu wissen, dass wir Wasserstoff brauchen, besonders seit Beginn des Ukraine-Krieges. Wir wissen, dass wir Wasserstoff politisch wollen. Daher schaffen wir einen Rechtsrahmen für Wasserstoff, in 1  Der

Beitrag basiert grundsätzlich auf dem Vortragsskript vom 27.01.2023. Wegen der Veröffentlichung der delegierten Rechtsakte und weiterer Entwicklungen im Zeitraum bis zur Drucklegung wurde der Vortragstext partiell ergänzt und überarbeitet. 2  Ingenieur Cyrus Smith in: Jules Verne, Die geheimnisvolle Insel, 1870. 3  Rainer Baake, zitiert in NTV, Wasserstoff ist der ganz teure Champagner, 22.10.2022, verfügbar unter https://www.n-tv.de/wirtschaft/Wasserstoff-ist-der-ganz-teure-Champag ner-­article22117857.html, zuletzt abgerufen am 22.07.2023.

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der EU und ihren Mitgliedstaaten, den USA, Großbritannien, und in vielen anderen Ländern. In Deutschland wird der Wille zu Wasserstoff durch die jüngst vom Bundeskabinett beschlossene Fortschreibung der Nationalen Was­ serstoffstrategie bestätigt. Sie bringt eine Erhöhung des Ziels einer heimischen Elektrolysekapazität von 5 auf 10 GW bis 2030 und das ambitionierte Ziel von 1.800  km Wasserstoffleitungen bis 2027/2028.4 Vielleicht ist Wasserstoff das lange in der Asche neben dem Herd der Energie­ wende darbende Aschenputtel in der Energiefamilie – und die Zeit der Hochzeit mit Prinz Klimawandel ist nun endlich gekommen? Um es vorwegzunehmen: Die Zeit des Wasserstoff-Aschenputtels scheint nä­ her zu rücken. Allerdings ist nicht klar, wann die Hochzeit stattfinden wird. Die delegierten Rechtsakte sind Teil durchaus schwieriger Hochzeitsvorberei­ tungen. Sie sollen Klarheit zu einem wesentlichen Punkt schaffen: Der Frage des „richtigen“ Wasserstoffs. Genauso wie der Prinz bei Aschenputtel nicht nur irgendeine Frau sucht, sondern die zu dem Schuh passende, geht es der Stief­ mutter Politik nicht bloß darum, Wasserstoff als Rohstoff oder Energiequelle der Zukunft zu etablieren. Es muss der richtige Wasserstoff sein. In der deutschen Diskussion wird dabei häufig – wie im Titel meines Beitra­ ges – der Begriff „grüner“ Wasserstoff verwendet.5 Auf EU-Ebene ging es hin­ gegen eher um „erneuerbaren Wasserstoff“. In Wirklichkeit geht es bei den de­ legierten Rechtsakten darum, den passenden – genauer: den für den Verkehrsbe­ reich passenden – Wasserstoff zu finden. Schauen wir uns an, wie der Stand hierzu ist.

II. Erneuerbare-Energien-Richtlinie6 Die aktuelle Überarbeitung der Erneuerbare-Energien-Richtlinie RED II be­ tont, dass erneuerbare Brennstoffe nicht-biologischen Ursprungs, einschließ­ 4  Fortschreibung der Nationalen Wasserstoffstrategie NWS 2023, verfügbar unter https:// www.bmwk.de/Redaktion/DE/Wasserstoff/Downloads/Fortschreibung.pdf?__blob=pub licationFile&v=4, zuletzt abgerufen am 27.07.2023. 5 Vgl. bspw. S.   28 der Fortschreibung der Nationalen Wasserstoffstrategie NWS 2023, ­verfügbar unter https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Wasserstoff/Downloads/Fortschrei bung.pdf?__blob=publicationFile&v=4, zuletzt abgerufen am 27.07.2023, wonach das BMWK davon ausgeht, dass die Kriterien für die Produktion von „grünem Wasserstoff“ bereits durch EU-Vorgaben definiert werden. 6  Die Erneuerbare-Energien-Richtlinie RED III befindet sich noch im Legislativprozess. Am 28.06.2023 hat der Ausschuss für Industrie, Forschung und Energie („ITRE“-Ausschuss) sein grünes Licht gegeben, der nächste Schritt ist die erste Lesung im Parlament, die voraus­ sichtlich im September 2023 erfolgen soll. Zwecks Verfolgung des Legislativprozesses: https:// oeil.secure.europarl.europa.eu/oeil/popups/ficheprocedure.do?reference=2021/0218(COD) &l=en, zuletzt abgerufen am 27.07.2023; https://www.europarl.europa.eu/legislative-train/

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lich erneuerbaren Wasserstoffs, als Rohstoff oder als Energiequelle in industriel­ len und chemischen Prozessen sowie im Luft- und Seeverkehr, zur Dekarboni­ sierung von Sektoren beitragen können, in denen eine direkte Elektrifizierung technisch nicht möglich oder wettbewerbsfähig ist. Außerdem wird die Ener­ giespeicherungsfunktion betont, um das Energiesystem ausgleichen zu können. Wasserstoff spiele so eine wichtige Rolle bei der Integration des Energiesys­ tems.7 Die delegierten Rechtsakte, um die es heute gehen soll, gehen indessen bereits auf die 2018 neu gefasste RED II  – genauer: Richtlinie (EU) 2018/2001 vom 11. Dezember 2018 zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen  – zurück. Sie sieht (schon länger) vor, erneuerbare Energie im Ver­ kehrssektor verstärkt einzusetzen. Die Diskussion um erneuerbaren Wasser­ stoff auf europäischer Ebene betrifft insofern eigentlich nur einen kleineren Teilbereich der Wasserstoffentwicklung – nämlich nur den Verkehrssektor. Damit erneuerbare Energie im Verkehrssektor durchgängig genutzt wird, ist jeder Mitgliedstaat verpflichtet, über eine Inpflichtnahme von Kraftstoffanbie­ tern dafür zu sorgen, dass der Anteil erneuerbarer Energie am Endenergiever­ brauch des Verkehrssektors bis 2030, einem von dem betreffenden Mitgliedstaat festgelegten indikativen Zielpfad entsprechend, mindestens 14  % beträgt.8 Als Herausforderung erwiesen sich jedoch die Berechnungsregeln für die Min­ destanteile von erneuerbarer Energie im Verkehrssektor. Art.  27 RED II enthält diverse Vorgaben. Die Richtlinie sah daher vor, dass die Kommission bis zum 31. Dezember 2021 einen delegierten Rechtsakt erlässt, um RED II durch eine gemeinsame europäische Methode zu ergänzen, in der detaillierte Vorschriften zur Einhaltung der Anforderungen geregelt werden.9 Erwägungsgrund 90 der Richtlinie enthielt zu dieser Methode schon sehr ge­ naue Vorstellungen: Die erste Einschränkung bestand darin, die Wasserstoff­ diskussion mit dem Thema „Kraftstoffe nicht biogenen Ursprungs“ aufzula­ den. Die EU hat sich damit ein erhebliches Stück von früheren Förderansätzen für „grüne Kraftstoffe“ wegbewegt. Heute geht es nicht mehr wie noch vor 20 Jahren um „Förderung der Verwendung von Biokraftstoffen oder anderen erneuerbaren Kraftstoffen im Verkehrssektor“.10 Kernbegriffe sind heute die „Kraftstoffe nicht biogenen Ursprungs“, oder auf Englisch Renewable Fuels of Non-Biological Origins (RFNBOs). package-fit-for-55/file-revision-of-the-renewable-energy-directive zuletzt abgerufen am 31.07.­ 2023. 7  Erwägungsgrund 30a des aktuellen Richtlinienentwurfs, verfügbar unter https://www. europarl.europa.eu/RegData/commissions/itre/lcag/2023/06-28/ITRE_LA(2023)004123_ EN.pdf, zuletzt abgerufen am 27.07.2023. 8  Art.  25 Abs.  2 Richtlinie 2018/2001. 9  Art.  27 Abs.  3 Unterabs. 7 Richtline (EU) 2018/2001. 10  So aber noch die Richtlinie 2003/30/EG vom 08.05.2003 zur Förderung der Verwen­ dung von Biokraftstoffen oder anderen erneuerbaren Kraftstoffen im Verkehrssektor.

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Damit erneuerbare Kraftstoffe nicht biogenen Ursprungs tatsächlich zur Senkung der Treibhausgasemissionen beitragen, sollte bei der Kraftstoffpro­ duktion Elektrizität aus erneuerbaren Quellen eingesetzt werden. Für den Fall, dass die verwendete Elektrizität aus dem Netz bezogen wird, sollte die Kom­ mission durch delegierte Rechtsakte ein zuverlässiges Unionsverfahren ent­ wickeln. Mit dem Verfahren sollte sichergestellt werden, dass die Stromproduk­ tionseinheit, mit der der Produzent einen bilateralen Vertrag über den Bezug von erneuerbarem Strom geschlossen hat, zeitlich und geografisch mit der Kraftstoffproduktion korreliert. Beispielsweise sollten erneuerbare Kraftstoffe nicht biogenen Ursprungs nicht als uneingeschränkt erneuerbar angerechnet werden, wenn sie zu einer Zeit produziert werden, in der die unter Vertrag ge­ nommene Einheit zur Erzeugung erneuerbarer Elektrizität gar keinen Strom erzeugt. In einem weiteren Beispiel sollten Kraftstoffe bei einem Engpass des Elektrizitätsnetzes nur dann uneingeschränkt als erneuerbar angerechnet wer­ den können, wenn sich sowohl die Stromerzeugungs- als auch die Kraftstoff­ produktionsanlage auf der gleichen Seite des Engpasses befinden. Außerdem sollte es ein Element der Zusätzlichkeit geben, das heißt, der Kraftstoffprodu­ zent trägt zusätzlich zur Nutzung erneuerbarer Quellen oder zu deren Finan­ zierung bei. In unserem Märchen gaben die Stiefschwestern Aschenputtel erst eine Schüs­ sel voller Linsen, die sie bis zum Abend lesen sollte. Am nächsten Tag sollte sie ein Sack voll Wicken auslesen. Am dritten Tag sollte sie eine Schüssel Erbsen sortieren. Aschenputtel schaffte alle Aufgaben fristgerecht mit Hilfe wohlmei­ nender Tauben. Die Kommission hat die Frist 31. Dezember 2021 für klärende delegierte Rechtsakte hingegen klar verfehlt. Die Elemente zeitliche und geografische Kor­ relation, Engpassbewertung und Zusätzlichkeit erwiesen sich ohne Unterstüt­ zung durch die märchenhaften Tauben als echte Herausforderung. Daneben gab es Diskussionen, inwieweit CO2-freier Atomstrom eine Rolle spielen sollte.11

III. Wasserstoffstrategie der EU Einen wichtigen Zwischenschritt stellte die europäische Wasserstoffstrategie aus dem Jahr 2020 dar.12 Sie enthielt wichtige terminologische Festlegungen, insbesondere „strombasierter Wasserstoff“, „erneuerbarer Wasserstoff“, „sau­ 11  Zum Zeitpunkt der Drucklegung ist noch unklar, wie die dritte Überarbeitung der Er­ neuerbare-Energien-Richtlinie (RED III) die Wasserstoffdefinition überformen wird. Der Trilog zur RED III war durch unterschiedliche Auffassung von Kommission, Parlament und Rat geprägt. 12  Eine Wasserstoffstrategie für ein klimaneutrales Europa, Mitteilung der Europäischen Kommission vom 08.07.2020, COM(2020) 301 final.

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berer Wasserstoff“, „fossiler Wasserstoff“, „fossiler Wasserstoff mit CO2-­ Abscheidung“, „CO2-armer Wasserstoff“ und „aus Wasserstoff gewonnene synthe­tische Brennstoffe“. 13 Die Definition für „erneuerbaren Wasserstoff“ in der Wasserstoffstrategie war allerdings  – insoweit abweichend von RED  II  – kaum mit weiteren Politikzielen aufgeladen, sondern definierte erneuerbaren Wasserstoff noch relativ einfach als „Wasserstoff, der durch Elektrolyse von Wasser (in einem elektrisch betrie­benen Elekt­ rolyseur) und mit Strom aus erneuerbaren Quellen erzeugt wird. Die durch die Erzeu­ gung von erneuerbarem Wasserstoff über den gesamten L ­ ebenszyklus verursachten Treibhausgasemissionen tendieren gegen null. Erneuerbarer Wasserstoff kann auch durch Reformierung von Biogas (anstelle von Erdgas) oder durch biochemische Um­ wandlung von Biomasse erzeugt werden‚ sofern die Nachhaltigkeitsanforderungen ein­ gehalten werden“.

IV. Repower EU Nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine nahm die europäische Wasser­ stoffdiskussion erheblich an Fahrt auf. Am 18. Mai 2022 stellte die Europäische Kommission ihren REPower-EU-Plan vor, um die Unabhängigkeit Europas von russischen fossilen Brennstoffen bereits deutlich vor 2030 gewährleisten zu können.14 Der Plan der Kommission nimmt die Abkehr von russischen fossilen Brennstoffen und gezielte Investitionen in die Gasinfrastruktur zur Gewähr­ leistung der Versorgungssicherheit in den Blick. Er erfasst auch eine EU-weite Wasserstoffgrundstruktur und das Ziel, bis zum Jahr 2030 10  Millionen Tonnen Wasserstoff aus erneuerbaren Quellen in der EU zu erzeugen und 10  Millionen Tonnen erneuerbaren Wasserstoff zu importieren. Die Kommission erinnerte in diesem Zusammenhang auch daran, dass sie zwei delegierte Rechtsakte zur Definition und Erzeugung von erneuerbarem Wasserstoff ausstehend hat, um sicherzustellen, dass die Erzeugung zu einer Netto-Dekarbonisierung führt. Im Rahmen ihres REPower-EU-Plans führte die Kommission im Mai/Juni 2022 ein Konsultationsverfahren zu den geforderten delegierten Rechtsakten in Form delegierter Verordnungen durch.15 Nach der Feedback-Phase sollte ein endgültiger Text dem Europäischen Parlament und dem Rat für eine zweimona­ tige Prüfungsphase vorgelegt werden. Die delegierten Rechtsakte sollten bis Herbst 2022 in Kraft treten. Die Entwürfe waren Gegenstand starker Kritik. 13  Eine Wasserstoffstrategie für ein klimaneutrales Europa, Mitteilung der Europäischen Kommission vom 08.07.2020, COM(2020) 301 final, S.  4 f. 14  S. etwa die Pressemitteilung der Europäischen Kommission, verfügbar unter https://ec. europa.eu/commission/presscorner/detail/de/IP_22_3131, zuletzt abgerufen am 22.07.2023. 15  Die Unterlagen sind verfügbar unter https://commission.europa.eu/news/commission-­ launches-consultations-regulatory-framework-renewable-hydrogen-2022-05-23_de, zuletzt abgerufen am 22.07.2023.

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Zwischenzeitlich stellte sich sogar die Frage, ob angesichts der bevorstehenden Änderung der Erneuerbare-Energien-Richtlinie durch RED III die delegierten Rechtsakte überhaupt noch notwendig seien.

V. Delegierte Rechtsakte Im Februar 2023 war es schließlich so weit, dass die Kommission die beiden lange diskutierten delegierten Rechtsakte erließ: – Delegierte Verordnung (EU) 2023/1184 vom 10. Februar 2023 zur Ergänzung der Richtlinie (EU) 2018/2001 durch die Festlegung einer Unionsmethode mit detaillierten Vorschriften für die Erzeugung flüssiger oder gasförmiger erneuerbarer Kraftstoffe nicht biogenen Ursprungs für den Verkehr,16 und – Delegierte Verordnung (EU) 2023/1185 vom 10. Februar 2023 zur Ergänzung der Richtlinie (EU) 2018/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates durch Festlegung eines Mindestschwellenwertes für die Treibhausgaseinspa­ rungen durch wiederverwertete kohlenstoffhaltige Kraftstoffe und einer Me­ thode zur Ermittlung der Treibhausgaseinsparungen durch flüssige oder gas­ förmige erneuerbare Kraftstoffe nicht biogenen Ursprungs für den Verkehr sowie durch wiederverwertete kohlenstoffhaltige Kraftstoffe. 17 Beide Verordnungen wurden erst am 20. Juni 2023 im Amtsblatt veröffentlicht und sind 20 Tage nach der Veröffentlichung, also am 10. Juli 2023 in Kraft getre­ ten. Ich konzentriere mich nachfolgend auf die zuerst genannte Verordnung (EU) 2023/1184, da sie die kontrovers diskutieren Inhalte hat.

1. Keine Definition von erneuerbarem oder grünem Wasserstoff Die Delegierte Verordnung (EU) 2023/1184 enthält – anders als die vorherigen Entwürfe – keine allgemeine Definition von erneuerbarem Wasserstoff mehr. Sie enthält auch keine allgemein verwertbare Definition, wann Wasserstoff „grün“ ist. Das ist insofern stimmig, als Aufgabe der delegierten Rechtsakte nur ist, den passenden, anforderungsrechten Wasserstoff für bestimmte Verkehrs­ zwecke zu definieren. Art.  1 Abs.  1 Satz  1 Verordnung (EU) 2023/1184 stellt insofern klar, dass die Verordnung (nur) detaillierte Vorschriften für die Feststellung enthält, wann Strom, der für die Erzeugung flüssiger oder gasförmiger erneuerbarer Kraft­ stoffe nicht biogenen Ursprungs für den Verkehr verwendet wird, als vollstän­ 16 

17 

ABl. L 157/11 vom 20.06.2023. ABl. L 157/20 vom 20.06.2023.

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dig erneuerbar betrachtet werden kann. In der Sache enthält die Verordnung damit (nur) eine Konkretisierung, welche Art von Wasserstoff für den Ver­ kehrssektor als erneuerbarer Kraftstoff dienen kann. Die Definition von „Anlage zur Erzeugung von erneuerbarem Strom“ schließt Einheiten zur Stromerzeugung aus Biomasse und von Speichereinhei­ ten ausdrücklich aus.18

2. Direktleitung Strukturell sieht die Verordnung Strom aus Anlagen zur Erzeugung von erneu­ erbarem Strom, die über eine Direktleitung von einer Anlage zur Erzeugung erneuerbarer Kraftstoffe verbunden ist, als Standardfall an.19 Die Anlagen zur Erzeugung von erneuerbarem Strom müssen dabei frühes­ tens 36 Monate vor der Anlage zur Erzeugung der erneuerbaren Kraftstoffe nicht biogenen Ursprungs für den Verkehr in Betrieb genommen worden sein.20 Ist die Kraftstofferzeugungsanlage (auch) an das Netz angeschlossen, muss über ein intelligentes Messsystem nachgewiesen werden, dass kein Strom aus dem Netz entnommen wurde, um flüssige oder gasförmige erneuerbare Kraft­ stoffe nicht biogenen Ursprungs für den Verkehr zu erzeugen.21

3. Netzstrom allgemein Unter bestimmten Voraussetzungen kann auch Netzstrom für die Erzeugung erneuerbarer Kraftstoffe verwendet werden. Da im Netz bekanntlich alle Arten von Strom vorhanden sind und dem physisch aus dem Netz entnommenen Strom seine Herkunft nicht anzusehen ist, bedarf es wertender Vorgaben, wel­ chen Strom man als passend ansehen möchte. a) Anteil des erneuerbaren Stroms im vorangegangenen Kalenderjahr 90  % Kraftstofferzeuger können Strom aus dem Netz als vollständig erneuerbar an­ rechnen, wenn sich ihre Kraftstofferzeugungsanlage in einer Gebotszone befin­ det, in der der durchschnittliche Anteil des erneuerbaren Stroms im vorange­ gangenen Kalenderjahr 90  % überstieg und die Erzeugung der Kraftstoffe eine 18 

Art.  2 Nr.  3 Verordnung (EU) 2023/1184. Art.  3 Abs.  1 lit.  a Verordnung (EU) 2023/1184. 20  Art.  3 Abs.  1 lit.  b Verordnung (EU) 2023/1184.; kritisch zu dieser restriktiven Vorgabe: Reiners/Kirch, jurisPR-UmwR 3/2023 Anm.  1. 21  Art.  3 Abs.  1 lit.  c Verordnung (EU) 2023/1184; zu der Frage, ob es sich bei der Nachwei­ sanforderung um eine physikalische Anforderung des Nichtvorhandenseins von Strom im Netz handelt oder ob es ausreichend ist, dass die Erneuerbare-Energien-Anlage jederzeit mehr Strom produziert, als bei der Kraftstofferzeugung verbraucht wird: Wichmann, EWerk 2023, 116 (118). 19 

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Höchstzahl von Stunden nicht überschreitet, die im Verhältnis zum Anteil des erneuerbaren Stroms in der Gebotszone festgelegt wird.22 Das 90  %-Kriterium wird in Deutschland einstweilen praktisch nicht greifen. Da das europäisch geprägte Konzept der „Gebotszone“, an welches Art.  4 Abs.  1 der delegierten Verordnung anknüpft, in Drittstaaten überwiegend keine Anwendung findet, besteht unter Berücksichtigung der ebenfalls kaum weiter­ führenden Definition in Art.  2 Nr.  1 der delegierten Verordnung („gleichwerti­ ges Konzept für Drittländer“) noch eine erhebliche Rechtsunsicherheit für Kraftstoffhersteller außerhalb der EU.23 b) Emissionsintensität von Strom unter 18g CO2-Äq./MJ Alternativ können die Kraftstofferzeuger unter bestimmten zusätzlichen Bedin­ gungen Strom aus dem Netz als vollständig erneuerbar anrechnen, wenn sich ihre Erzeugungsanlage in einer Gebotszone befindet, in der die Emissionsinten­ sität von Strom unter 18g CO2-Äq./MJ liegt.24 Umgerechnet sind dies ­Ge­­bots­zonen mit einer Emissionsintensität von unter 65 Gramm pro Kilowattstun­ de, was in der Vergangenheit nur Frankreich und Schweden erreichen konnten.25 c) Redispatchklausel Auch in bestimmten Redispatchsituationen kann Strom als erneuerbar anre­ chenbar sein, und zwar, wenn der verwendete Strom während eines Bilanzkrei­ sabrechnungszeitintervalls verbraucht wird, für das der Kraftstofferzeuger an­ hand von Nachweisen des nationalen Übertragungsnetzbetreibers nachweisen kann, dass a) ein abwärts gerichteter Redispatch von Stromerzeugungsanlagen, in denen erneuerbare Energiequellen genutzt werden, stattfand oder b) der für die Erzeugung von flüssigen oder gasförmigen erneuerbaren Kraftstoffen nicht biogenen Ursprungs für den Verkehr verbrauchte Strom die Notwendigkeit des Redispatch um eine entsprechende Menge verringert hat.26

4. Netzstrom bei Zusätzlichkeit, zeitliche und geografische Korrelation Fällt aus dem Netz bezogener Strom nicht unter die zuvor beschriebenen Fälle, kann er unter den kumulativen Voraussetzungen der Zusätzlichkeit, der zeit­ lichen Korrelation und der geografischen Korrelation gleichwohl geeignet sein, erneuerbare Kraftstoffe herzustellen.27 22 

Art.  4 Abs.  1 Verordnung (EU) 2023/1184. Ausführlich hierzu: Wichmann, EWerk 2023, 116 (120). 24  Art.  4 Abs.  2 Verordnung (EU) 2023/1184. 25 Ebenso: Wilms, EnK-Aktuell 2023, 01060. 26  Art.  4 Abs.  3 Verordnung (EU) 2023/1184. 27  Art.  4 Abs.  4 Verordnung (EU) 2023/1184. 23 

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a) Zusätzlichkeit Das kurioseste Kriterium zur Feststellung, ob Strom für die Erzeugung für erneuerbaren Kraftstoff zulässig ist, hat eigentlich mit Erneuerbarkeit nur in zweiter Linie zu tun: das Kriterium der Zusätzlichkeit. In der Sache handelt es sich bei der Zusätzlichkeit um ein Kriterium, mit dem Strom aus unstreitig erneuerbaren Quellen von der Erzeugung erneuerbarer Kraftstoffe ausgeschlossen werden soll. Hintergrund des Zusätzlichkeitskrite­ riums ist es, erneuerbare Kraftstoffe mit zusätzlichen Kapazitäten herzustellen, um so keine Änderung der Nutzung der bestehenden Kapazitäten zur Erzeu­ gung erneuerbaren Stroms auszulösen.28 Die Zusätzlichkeit findet sich bereits in Erwägungsgrund Nr.  90 der Richt­ linie (EU) 2018/2001. Dort heißt es: „Außerdem sollte es ein Element der Zusätzlichkeit geben, das heißt, der Kraftstoff­ produzent trägt zusätzlich zur Nutzung erneuerbarer Quellen oder zu deren Finanzie­ rung bei.“

Im eigentlichen Richtlinientext der Erneuerbare-Energien-Richtlinie findet sich hierzu: „Damit dem erwarteten Anstieg der Nachfrage nach Elektrizität im Verkehrssektor über den aktuellen Ausgangswert hinaus mittels zusätzlicher Kapazitäten zur Erzeu­ gung erneuerbarer Energie entsprochen werden kann, erarbeitet die Kommission einen Rahmen für die Zusätzlichkeit im Verkehrssektor und schlägt verschiedene Optionen dafür vor, wie der Ausgangswert für die einzelnen Mitgliedstaaten festgelegt und die Zusätzlichkeit ermittelt werden kann.“29

Auf Basis dieser Vorgaben hat die Kommission in der delegierten Verordnung die Zusätzlichkeitsanforderungen fein ziseliert.30 Die Voraussetzungen sind nunmehr: – Stromerzeugung in eigener Anlage oder in vertraglich gesicherter Anlage in ausreichender Menge und – Stromerzeugungsanlage frühestens 36 Monate vor der Kraftstofferzeugungs­ anlage zur in Betrieb genommen 31 und – die Anlage zur Erzeugung von erneuerbarem Strom hat keine Förderung in Form von Betriebs- oder Investitionsbeihilfen erhalten.32 28  „Der Bau neuer Stromerzeugungskapazitäten wird also mittelbar zum Förderzweck er­ hoben. Gleichzeitig soll so verhindert werden, dass bei Nutzung schon bestehender Erzeu­ gungsstrukturen grüner Strom aus dem Markt genommen wird.“ Decker/Mallmann, EnK-­ Aktuell 2022, 01088. 29  Art.  27 Abs.  3 Unterabs. 3 Richtline 2018/2001. 30  Art.  5 Verordnung (EU) 2023/1184. 31  Sonderregeln gelten für die Erweiterung der Produktionskapazität, Art.  5 Abs.  1 lit.  a Unterabs. 3 Verordnung (EU) 2023/1184. 32  Es sei denn, es gelten Sonderregeln, wie die Ausnahme von Förderung, die die Anlagen

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Das Zusätzlichkeitserfordernis gilt in einer Übergangsphase bis zum 1. Januar 2038 nicht für Stromerzeugungsanlagen, die vor dem 1. Januar 2028 in Betrieb genommen werden.33 b) Zeitliche Korrelation Wind- und Solaranlagen produzieren Strom nur, wenn der Wind weht oder die Sonne scheint. Der reinen Lehre hätte es daher entsprochen, Wasserstoff nur dann als erneu­ erbar zu klassifizieren, wenn der Erzeuger nachweisen kann, dass genau zum Erzeugungszeitpunkt der Strom aus erneuerbarer Energie zur Verfügung stand. Die Erzeugung von Wasserstoff ist indessen günstiger, wenn Elektrolyseure auch laufen, wenn Wind und Sonne sich gerade rar machen. Um Wasserstoff auch bei volatiler Stromerzeugung häufiger als erneuerbar einstufen zu können, war politisch eine großzügigere Regelung gewollt. Der politische Kompromiss in der delegierten Verordnung besteht darin, dass bis zum 31. Dezember 2029 die Bedingung der zeitlichen Korrelation als erfüllt gilt, wenn der Kraftstoff in demselben Kalendermonat erzeugt wird wie der im Rahmen des Vertrags über den Bezug von erneuerbarem Strom erzeugte erneu­ erbare Strom. Gleiches gilt, wenn er mit erneuerbarem Strom aus einer neuen Speicheranlage erzeugt wird, die sich hinter demselben Netzanschlusspunkt befindet wie der Elektrolyseur, oder die Anlage zur Erzeugung von erneuerba­ rem Strom und die in demselben Kalendermonat geladen wurde, in dem auch der Strom im Rahmen des Vertrags über den Bezug von erneuerbarem Strom erzeugt wurde.34 Ab dem 1. Januar 2030 gilt die Bedingung der zeitlichen Korrelation als er­ füllt, wenn der Kraftstoff innerhalb desselben Zeitraums von einer Stunde er­ zeugt wird wie der im Rahmen des Vertrags über den Bezug von erneuerbarem Strom erzeugte erneuerbare Strom. Die Mitgliedstaaten können dies auf den 1. Juli 2027 vorziehen.35 Die zeitliche Korrelation gilt schließlich stets als erfüllt, wenn der Kraftstoff für den Verkehr während eines Zeitraums von einer Stunde erzeugt wird, in der der aus der einheitlichen Day-Ahead-Marktkopplung in der Gebotszone resul­ tierende Clearingpreis für Strom gemäß Artikel  39 Absatz  2 Buchstabe a der vor ihrem Repowering erhalten haben, finanzieller Förderung für Land oder für Netzan­ schlüsse, Förderung, die keine Nettoförderung darstellt, wie z. B. Förderung, die vollständig zurückgezahlt wurde, und Förderung für Anlagen zur Erzeugung von erneuerbarem Strom, die Anlagen zur Erzeugung von flüssigen oder gasförmigen erneuerbaren Kraftstoffe nicht biogenen Ursprungs für den Verkehr versorgen, die für Forschung, Erprobung und Demon­ stration genutzt werden, s. Art.  5 Abs.  1 lit.  b Verordnung (EU) 2023/1184. 33  Art.  11 Verordnung (EU) 2023/1184. 34  Art.  6 Abs.  1 Verordnung (EU) 2023/1184. 35  Art.  6 Abs.  2 Verordnung (EU) 2023/1184.

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Verordnung (EU) 2015/1222 höchstens 20 EUR pro MWh beträgt oder sich im Rahmen der Anforderungen der Richtlinie 2003/87/EG auf weniger als das 0,36-Fache des Preises eines Zertifikats für die Emission einer Tonne Kohlendi­ oxidäquivalent in dem betreffenden Zeitraum beläuft.36 c) Geografische Korrelation Für die Einstufung als erneuerbarer Wasserstoff ist weiter eine „geografische Korrelation“ erforderlich.37 Strom- und Kraftstofferzeugungsanlage müssen also in einem räumlichen Näheverhältnis stehen.38 Konkret muss in Bezug auf den Standort des Elektrolyseurs mindestens eines der nachfolgenden Kriterien erfüllt sein: – die Stromerzeugungsanlage, die im Rahmen des Vertrags über den Bezug von erneuerbarem Strom diesen erzeugt, befindet sich in derselben Gebotszone wie der Elektrolyseur, oder sie befand sich zum Zeitpunkt ihrer Inbetrieb­ nahme in derselben Gebotszone wie der Elektrolyseur; – die Stromerzeugungsanlage befindet sich in einer verbundenen Gebotszone, die auch in einem anderen Mitgliedstaat liegen kann, und die Strompreise sind im betreffenden Zeitraum auf dem Day-Ahead-Markt in der verbunde­ nen Gebotszone mindestens so hoch wie in der Gebotszone, in der der erneu­ erbare Kraftstoff erzeugt wird; – die Stromerzeugungsanlage, die im Rahmen des Vertrags über den Bezug von erneuerbarem Strom erneuerbaren Strom erzeugt, befindet sich in einer Offshore-Gebotszone, die mit der Gebotszone verbunden ist, in der sich der Elektrolyseur befindet.39 Die Mitgliedstaaten können unter bestimmten Voraussetzungen zusätzliche Kriterien für den Standort von Elektrolyseuren und der Stromerzeugungsanla­ ge einführen, um die Vereinbarkeit zusätzlicher Kapazitäten mit der nationalen Planung der Wasserstoff- und Stromnetze sicherzustellen. Diese zusätzlichen Kriterien dürfen sich jedoch nicht negativ auf das Funktionieren des Elektrizi­ tätsbinnenmarkts auswirken.40

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Art.  6 Abs.  3 Verordnung (EU) 2023/1184. Art.  7 Verordnung (EU) 2023/1184. 38  Groneberg, EnK-Aktuell 2023, 01018. 39  Art.  7 Abs.  1 Verordnung (EU) 2023/1184. 40  Art.  7 Abs.  2 Verordnung (EU) 2023/1184. 37 

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5. Sonstige Bestimmungen Die Vorschriften der Verordnung gelten unabhängig davon, ob die Kraftstoffe innerhalb oder außerhalb des Gebiets der Union erzeugt werden.41 Die Verordnung enthält im Übrigen nähere Bestimmungen, wie die Einhal­ tung ihrer Anforderungen nachzuweisen ist.42 Bis zum 1. Juli 2028 muss die Kommission einen Bericht vorlegen, in dem sie die Auswirkungen der delegierten Verordnung, einschließlich der Auswirkun­ gen der zeitlichen Korrelation, auf die Erzeugungskosten, die Treibhausgasein­ sparungen und das Energiesystem bewertet.43

VI. Nächste Schritte Mit dem Inkrafttreten der delegierten Wasserstoffrechtsakte ist ein wichtiger Zwischenschritt der Wasserstoffentwicklung gemacht. Das Inkrafttreten der delegierten Rechtsakte war  – nach den mit Verve geführten Diskussionen im Vorfeld – erstaunlich geräuschlos. Für den Verkehrssektor gibt es jetzt – kom­ plizierte – Regeln für anrechenbaren, passenden Wasserstoff, aber keine finale Definition für grünen oder erneuerbaren Wasserstoff. Damit haben wir für ­einen wichtigen Teilbereich der Energiewende einen wichtigen Baustein. Aber es bleibt noch viel zu tun. Um bei Aschenputtel zu bleiben: Aschenput­ tels Vater (Energiebedarf) und ihre Mutter (Wasserstoffwissenschaft) können sich freuen, dass die Stiefmutter (Energiepolitik) sich Aschenputtels Entwick­ lung angenommen hat. Die Stieftöchter (Elektromobilität, Erdgas, Atomkraft) sehen Aschenputtel wohl nicht mehr als Gefahr. RED II, RFNBO, Zusätzlichkeit, zeitliche und geografische Korrelation sowie RED III sind die Linsen, Wicken und Erbsen, die Aschenputtel mühsam sortieren muss. Hilfreiche Tauben aus Wissenschaft und Rechtspflege halfen und helfen Aschenputtel und ihrem Prinzen Klima­ wandel, mit den aktuellen delegierten Rechtsakten den Weg zueinander zu fin­ den. Die Stiefmutter hat anscheinend erkannt, dass die Unterstützung von Aschenputtel für alle hilfreich ist. Manchmal hat man allerdings den Eindruck, dass die Stiefmutter sich nur allzu gerne um die Details des Schuhs von Aschenputtel kümmern möchte  – und dabei nicht immer ideal beraten ist. Bei der Diskussion um die delegierten Rechtsakte zeigten sich die Risiken, einen perfekten Schuh designen zu wollen, der Allen gefällt. Der nun vorliegende Schuh ist nicht grün, er ist nicht umfas­ 41 

Art.  1 Abs.  2 Verordnung (EU) 2023/1184. Art.  8 , 9 Verordnung (EU) 2023/1184. 43  Art.  10 Verordnung (EU) 2023/1184. 42 

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send erneuerbar, aber er erfüllt seinen Verkehrszweck. Der Schuh der delegier­ ten Rechtsakte scheint Aschenputtel jedenfalls insoweit zu passen, als Prinz und Aschenputtel zusammengekommen sind. Jetzt müssen beide schauen, wie ihre Strategie für die gemeinsame Zukunft ausschaut. Im Märchen hätte der Prinz jetzt seine Prinzessin gefunden und würde mit ihr schon auf Jules Vernes geheimnisvoller Insel Herrn Baakes ganz teuren Energiewendechampagner trinken. Tatsächlich wird es bis dahin wohl noch et­ was dauern. Wir haben es aber wohl bis zur Verlobung geschafft. Das Wasserstoff-Aschenputtel ist insofern eine moderne Geschichte. Die de­ legierten Rechtsakte sind nur der erste Teil einer Aschenputtelsaga. Bleiben wir auf die nächste Folge gespannt.

Autorenverzeichnis Norbert Schürmann; 1980–1986 Studium des Bauingenieurwesens an der Rhei­ nisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) Aachen; 1986–1990 Abteilungsleiter für Abwasserwirtschaft bei der Stadt Eschweiler; 1990–2002 verschiedene Positionen in der Wasserwirtschaft innerhalb der RWE Gruppe; 2002–2006 Geschäftsführer RWE Aqua; 2006–2012 Vorstandsvorsitzender VSE, Kosice, Slowakei; 2012–05/2021 Vorstandsmitglied Lechwerke AG Augs­ burg; seit 07/2021 Senior Advisor bei Horváth & Partners sowie Industry advi­ sor bei Atreus (seit 08/2021). Prof. Dr. Wilhelm Söfker; Studium der Rechtswissenschaft an der Georg-­ August-Universität Göttingen; dort auch Promotion; Zweites Juristisches Staatsexamen in Niedersachsen; 1974–2007 tätig im Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, später Bundesministerium für Ver­ kehr, Bau und Stadtentwicklung (u. a. im Bereich Baugesetzbuch); ab 1994 als Leiter verschiedener Unterabteilungen in Bonn und ab 1999 in Berlin; Ministe­ rialdirigent a. D.; Honorarprofessur an der Universität Bonn; Arbeit für die Fachagentur Windenergie an Land e. V. Berlin. Monika Agatz; Dipl.-Ing. (FH) Umweltschutz; seit 1998 an verschiedenen Stel­ len in der Umweltverwaltung in Nordrhein-Westfahlen tätig in der Genehmi­ gung und Überwachung von Anlagen mit Schwerpunkt auf Anlagen der Er­ neuerbaren Energien; 2013–2017 Tätigkeit beim Umweltministerium zur Bear­ beitung von Grundsatzfragen und Beschleunigung des Ausbaus Erneuerbarer Energien; seit 2017 Tätigkeit beim Kreis Borken, Fachabteilung Anlagenbezo­ gener Immissionsschutz. Prof. Dr. Thomas Mann; Studium der Rechtswissenschaft und Promotion (1991) an der Ruhr-Universität Bochum; 2001 Habilitation an der Universität zu Köln und Professur für das Recht der Wirtschaft an der Universität Bochum (Fakul­ tät für Wirtschaftswissenschaften); seit 2002 Lehrstuhlinhaber für Öffentliches Recht, insbesondere Verwaltungsrecht, an der Georg-August-Universität Göt­ tingen; 2003–2013 Richter im Energierechtssenat des Niedersächsischen Ober­ verwaltungsgericht in Lüneburg; seit 2009 ordentliches Mitglied des Energie-­ Forschungszentrums Niedersachsen (EFZN) in Goslar.

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Autorenverzeichnis

Dr. Roda Verheyen; 1992–1998 Studium der Rechtswissenschaft an der Univer­ sität Hamburg, in Oslo und London; LL.M. (London); 2005 Promotion; 2006 Zweites Juristisches Staatsexamen in Hamburg; seit 2006 Rechtsanwältin bei Rechtsanwälte Günther, Hamburg; seit 2013 Partnerin bei Rechtsanwälte Gün­ ther, Hamburg; seit 2019 Gründung und Vorstandsmitglied des Vereins Green Legal Impact e. V.; seit 2021 Mitglied des Hamburgischen Verfassungsgerichts. Marie Bohlmann; 2012–2018 Studium der Rechtswissenschaft an der Univer­ sität zu Köln und der Université Paris 1 Panthéon-Sorbonne; 2019–2021 Re­ ferendariat am Oberlandesgericht Köln; seit 2022 Referentin bei Green Legal Impact Germany e.V. Dr. Matthias Lang; Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Wirtschafts­ akademie Hamburg (heute Hamburg School of Business Administration); ­Studium der Rechtswissenschaft an der Universität Trier und in Genf; Promo­ tion an der Humboldt-Universität zu Berlin; 1995–1997 Rechtsreferendariat in Hamburg, Brüssel und London; 1997 Zweites Juristisches Staatsexamen; Rechtsanwalt und Partner bei Bird & Bird LLP; Interimsvertreter Deutschland European Federation of Energy Law Associations; Mitglied im DAJV-­Vorstand; Vice Chair der Section on Energy, Environment, Natural Resources and Infra­ structure Law (SEERIL) der International Bar Association; Lehrbeauftragter an der Freien Universität Berlin (Masterstudiengänge Europäisches und Inter­ nationales Wirtschafts-, Wettbewerbs- und Regulierungsrecht sowie Sustain­ able Mobility Management) und der Technischen Universität Berlin (Master­ studiengang European and International Energy Law). Prof. Dr. Ines Zenke; 1990–1995 Studium der Rechtswissenschaften; seit 1995 bei Becker Büttner Held (BBH) Berlin, 1998 Promotion, seit 1999 als Rechtsan­ wältin, seit 2002 Partnerin und Mitinhaberin von BBH; seit 2011 Fachanwältin für Verwaltungsrecht; seit 2018 Honorarprofessur für das Lehrgebiet „Infra­ strukturrecht und -management“ an der HNEE, Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde, Fachbereich Wirtschaft; Gründungsmitglied, Vize­ präsidentin und seit 2021 Präsidentin des Wirtschaftsforums der SPD e.V.; Mit­ glied im Vorstand des Bundesverbands der Wirtschaftskanzleien in Deutsch­ land (BWD); seit 2022 stellv. Vorsitzende des Aufsichtsrats der Uniper SE; seit 2023 Mitglied im Aufsichtsrat der frischli Milchwerke GmbH; regelmäßige Sachverständigentätigkeit im Bundestag, zuletzt zu carbon leakage und 2023 zur VwGO-Novelle; Beratungsschwerpunkte: Energie, Umwelt und Wettbe­ werb.

Sachregister Aarhus-Konvention  126, 135 Anhörungspflicht 113 Artenschutz 35 − Artenhilfsprogramme 60 − Artenschutzabgabe  59 f., 67, 70 − Ausnahme  49, 59 − Brutvogelarten 39 − Fledermäuse 39 Ausführungsalternativen  54, 57, 110 ff. − Abschaltmaßnahmen  57 − Erdkabel  110, 111 − numerus clausus  110 Basisschutz  38, 59 Bedarfsfeststellung 121 − Evidenzkontrolle 124 Bedarfsplanung 98 Beihilfenrecht 90 − Allgemeine Gruppenfreistellungs­ verordnung 92 − Leitlinien für staatliche Klima-, Umweltschutz- und Energiebeihilfen  90 − Temporary Crisis and Transition Framework 92 Beschleunigungsgebiete 62 Bruttostrombedarf/-verbrauch  4, 10, 14 Bundesfachplanung 99 CO2-Preis  7, 78 CO2-Senken 5 Dekarbonisierung 147 Einschätzungsprärogative  38, 40 Emissionshandel 19 Emissionsintensität 152 Energieeffizienz  4 f., 19 Energiepreiskrise 75 − Energiepreisbremse 89 − Importabhängigkeit 82

− Ölpreiskrise 82 Energiesicherungsgesetz  83, 87 − Energiesparmaßnahmen 86 Energiewende  1, 145 − Stromwende 8 Energiewirtschaft 1 Erdgas  75, 118 − Erdgaspreis 75 Erhaltungszustand  50, 55 Erneuerbare Energien  4 ff., 10 ff., 16, 36, 51, 86, 98, 103, 130, 147 Erneuerbare-Energien-Gesetz  10, 19 − Ausbauziele 10 Erneuerbare Kraftstoffe  150 − Delegierte Rechtsakte  150 − Direktleitung  151 − Geografische Korrelation  155 − Zeitliche Korrelation  154 − Zusätzlichkeit 153 EU-Taxonomie 6 Floating Storage Regasification Unit  118 Gaspreisdeckel 88 Gasverbrauch 121 Go-to-Gebiete/-areas  62, 130 Individuenbezug 36 Inflation Reduction Act  20, 95 Klimabeschluss 100 Klimaschutzgesetz  4, 19 Klimaschutzindex 10 Klimaschutzziele  1, 5 − 1,5-Grad-Ziel  2, 3 − Klimaneutralität  101, 123 − Kohleausstieg 4 − PV-Ausbauziel 4 − Treibhausgasneutralität  5, 104 Klimawandel  1 f.

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Sachregister

Koalitionsvertrag 4 Kollisionsgefährdete Arten  40 Länderleitfäden  38, 42 LNG 118 − LNG-Beschleunigungsgesetz  86, 119 Methan 123 Netzausbau  13 f., 97 − Netzausbauplanung  13 − Übertragungsnetz  13, 98 Öffentlichkeitsbeteiligung  109, 134, 142 − Einwendungsfrist 134 − Erörterungstermin  107, 109 Optische Wirkung  111 Osterpaket  38, 41, 102 Photovoltaik  11 f. Präferenzräume  102, 105, 115 Projektmanager 106 Prüfradien 39 Rebound-Effekte 10 Rechtsschutz 137 REPower-EU-Plan 149 Repowering 43 − Plan-Ist-Vergleich 45 RFNBOs 147 Scoping 102 Signifikanzansatz  35, 47, 65 − Grundrisiko  47 − signifikante Erhöhung des Tötungs­ risikos  39, 41 ff. − Signifikanzschwelle 45 − Vorbelastung  44, 47 − Vorbelastungsrisiko 47 Solarenergie 4 Standortalternativenprüfung  49, 51, 53 Störungs- und Beschädigungsverbot  39, 47 Stromaustausch 14 Strommarktdesign  77, 88 − Merit-Order-Prinzip 78

Strompreis 75 − Besondere Ausgleichsregelung  80 − Brückenstrompreis − Industriestrompreis  76, 94 − Netzentgelte 79 − Staatliche Abgaben und Umlagen  79 − Transformationsstrompreis 95 Stromspeicherung 12 Szenariorahmen 104 Tötungsverbot  38 f., 42, 45, 47 Treibhausgase 1 − Treibhausgasemissionen  2, 4, 6, 123 Überragendes öffentliches Interesse  19, 50, 142 − § 2 EEG  50, 103 − EU-NotfallVO  51, 66 Umweltauswirkungen 127 − mittelbare Umweltauswirkungen  128 Umweltverträglichkeitsprüfung  64, 126 − Ausnahmen 131 Verkehrssektor  8, 147 Vermeidungsmaßnahmen 42 Verschlechterungsverbot 140 Verteilernetzplanung 106 Vorsorgegrundsatz 36 Wasserstoff  5, 17, 141, 145 − erneuerbarer Wasserstoff  146, 150 − grüner Wasserstoff  17, 146, 150 − Wasserstoff-ready 141 − Wasserstoffstrategie  148 Wärmesektor 14 − Biogas 17 − Fernwärme  14, 17 − Wärmeerzeugung  4, 8 Windenergie  4, 11, 23, 35 − Flächenbeitragswerte  25 − Privilegierung 29 − Rotor-innerhalb-Flächen 24 − Windenergieanlagen an Land  26 − Windenergiegebiete  24, 27, 32, 66 − Windenergieflächenbedarfsgesetz 23, 27