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German Pages 332 Year 2015
Sybille Bauriedl (Hg.) Wörterbuch Klimadebatte
Edition Kulturwissenschaft | Band 82
Sybille Bauriedl (Hg.)
Wörterbuch Klimadebatte
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Inhalt Einleitung Sybille Bauriedl | 9
Agrartreibstoffe Melanie Pichler | 23
Anthropozän Christoph Görg | 29
Bioökonomie Sarah K. Hackfort | 37
CO 2 -Abscheidung und -Speicherung Timmo Krüger | 43
Effizienzrevolution Tilman Santarius | 51
Energiedemokratie Sören Becker, Matthias Naumann, Laura Weis | 57
Energieeffiziente Kocher Harry Hoffmann | 65
Energiewende Stefanie Baasch | 73
Entkopplung Tilman Santarius | 81
Geoengineering Thilo Wiertz | 87
Geschlechtsspezifische Verwundbarkeit Sybille Bauriedl, Sarah K. Hackfort | 95
Globales Umweltmanagement Ulrich Brand, Christoph Görg | 103
Inwertsetzung von Natur Christoph Görg | 109
Klima-Governance Achim Brunnengräber | 117
Klimaanpassung Kristina Dietz, Achim Brunnengräber | 127
Klimabewegung Philip Bedall | 133
Klimaflüchtlinge Carsten Felgentreff | 141
Klimafreundlicher Konsum Ines Weller | 149
Klimagerechtigkeit Achim Brunnengräber, Kristina Dietz | 157
Klimakatastrophe Tobias Schmitt | 163
Klimakompatible Entwicklung Detlef Müller-Mahn | 171
Klimakonflikte Jürgen Scheffran | 179
Klimaneutralität Sybille Bauriedl | 187
Klimavulnerabilität Kristina Dietz | 195
Klimawissenschaften Werner Krauß | 201
Nachhaltigkeit Melanie Pichler | 209
Nullemission Sybille Bauriedl | 217
Ökologische Modernisierung Timmo Krüger | 225
Partizipation Stefanie Baasch | 233
Planetarische Grenzen Christoph Görg | 239
Raumschiff Erde Bettina Köhler | 245
REDD+ Jutta Kill | 253
Resilienz Sabine Höhler | 261
Smart City Bettina Köhler | 269
Sozial-ökologische Transformation Ulrich Brand | 277
Suffizienz Uta von Winterfeld | 283
Wachstum und Wohlstand Ulrich Brand | 289
Weltbürgergesellschaft Malte Timpte | 297
Weltklimarat Timmo Krüger | 305
Wissensunsicherheit Stefanie Baasch | 313
Autorinnen und Autoren | 321
Einleitung Sybille Bauriedl
Einleitung Klimaschutz ist notwendig, um die Weltbevölkerung vor zunehmenden Problemen des Klimawandels zu bewahren. Dieser globale Konsens hat zu umfangreichen internationalen Vereinbarungen und Aktivitäten geführt, aber bisher nicht die globale Erwärmung gebremst. Diese Dynamik lässt sich erklären, wenn der Klimawandel nicht nur als naturwissenschaftlich relevantes Phänomen betrachtet wird. Soziale und ökonomische Dynamiken haben großen Einfluss auf den Klimawandel und auf mögliche Lösungswege. Seitdem der Klimawandel ein politisches und gesellschaftliches Thema geworden ist, dient er auch zur Legitimation eines neoliberalen, globalisierten Wirtschaftsmodells. Die Überzeugungskraft dieses Modells lebt von einer Zukunftsvision, die als Tatsache erscheint: Anhaltendes Wirtschaftswachstum sei mit immer geringerem Umweltverbrauch möglich. Verbunden wird dieses Wachstumsideal mit dem Versprechen, dass mit einem Klimaschutz, der marktwirtschaftlichen Gesetzen folgt, nicht nur der Klimawandel, sondern auch andere drängende globale Probleme gelöst werden können. Klimaschutz steht aus all diesen Gründen ganz oben auf der internationalen politischen Agenda. »Eingedenk der aktuellen Ergebnisse des IPCC [des Weltklimarats der Vereinten Nationen, Intergovernmental Panel on Climate Change] betonen wir, dass tiefe Einschnitte bei den weltweiten Treibhausgasemissionen erforderlich sind, einhergehend mit einer Dekarbonisierung der Weltwirtschaft im Laufe dieses Jahrhunderts.«1 Diese Erklärung verabschiedeten die Staatschefs der sieben einflussreichsten Industrienationen beim G7-Gipfel 2015 in Elmau. Es geht um die vollständige Abkehr von fossilen Energieträgern in der Industrie, der Mobilität sowie der Strom- und Wärmeversorgung. Ein großer Schritt, der allerdings erst am Ende des 21. Jahrhunderts erreicht werden soll – wenn die Erdöl- und Kohlevorkommen ohnehin abgebaut 1 | G7 Germany. Think Ahead. Act Together. Abschlusserklärung G7-Gipfel, 7.-8. Juni 2015: 17.
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sein werden. Es bleiben also noch 85 Jahre Zeit. Der Endspurt wird zukünftigen Generationen überlassen. So lange werden emissionsintensive Industrien subventioniert und politisch gefördert, allen voran die Kohleindustrie sowie die Luftfahrt- und Automobilindustrie. Das radikale Ziel maximaler Dekarbonisierung ist ein Versprechen in die Zukunft unter strukturkonservativen Bedingungen. Auch UN-Generalsekretär Ban Ki-moon hatte den Klimawandel zu seinem Arbeitsschwerpunkt im Jahr 2014 gemacht. Er lud im September Vertreter_ innen von Regierungen, Wirtschaft und Nicht-Regierungsorganisationen zu einem UN-Sonderklimagipfel nach New York ein und verkündete: »In 2014, we must turn the greatest collective challenge facing humankind today – climate change – into the greatest opportunity for common progress towards a sustainable future. Next year is the year for climate action. We can delay no longer. […] Future generations will judge our action on this issue.«2 Er appellierte damit an eine nachhaltige Entwicklung. Diese Forderung brachte zur gleichen Zeit soziale Bewegungen auf die Straße. Allein in Manhattan demonstrierten 300.000 Menschen für globale Klimagerechtigkeit. Diese Appelle an die Weltgemeinschaft und der Verweis auf den Problemdruck, den Handlungsdruck und den Zeitdruck wiederholen sich bei allen internationalen Umwelt- und Klimakonferenzen seit der ersten UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro 1992. Dennoch sind über 20 Jahre vergangen, ohne dass eine globale Emissionsreduktion und ein nachhaltiger Klimaschutz in Sicht sind. Die Diskrepanz zwischen den formulierten und den realisierten Zielen wird sogar immer größer, da sowohl die Reduktionsziele als auch die globale Erwärmung stetig und beschleunigt ansteigen. Wie konnte dieser Widerspruch zwischen Absichtserklärung und Realisierung so lange bestehen? Wieso erscheinen immer ehrgeizigere nationale Reduktionsziele glaubwürdig? Diesen Fragen sind die Autor_innen dieses Sammelbandes aus kultur- und sozialwissenschaftlichen Perspektiven nachgegangen3, indem sie beispielhafte Schlüsselbegriffe der Klimadebatte daraufhin untersuchten, mit welchen Argumenten der Schutz des Weltklimas ver2 | Ki-moon, Ban (2013): UN and Climate Change. Big Idea 2014: The Year for Climate Action. www.un.org/climatechange/log/2013/12/big-idea-2014-year-climate-actionban-ki-moon (20.09.2015). 3 | Sozial- und Kulturwissenschaftler_innen setzen sich seit einigen Jahren mit den gesellschaftlichen Implikationen der Klimaforschung, Klimapolitik und der medialen Vermittlung des Klimawandels auseinander. Vgl. Voss, Martin (Hg.) (2010): Der Klimawandel – Sozialwissenschaftliche Perspektiven. Wiesbaden: Springer; Methmann, Chris/Rothe, Delf/Stephan, Benjamin (Hg.) (2013): Deconstructing the Greenhouse. Interpretive approaches to global climate governance. London: Routledge; Hulme, Mike (2009): Why we disagree about climate change. Cambridge; Schneider, Birgit/Nocke,
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handelt wird, welche Interessen jenseits des Klimaschutzes dabei eine Rolle spielen und welche Argumente kontraproduktiv für den globalen Klimaschutz sind. Alle Autor_innen kommen zu dem Ergebnis, dass es in der Klimadebatte nicht allein um die Konservierung des Weltklimas geht, sondern genauso um die Konservierung von Wirtschafts- und Wohlstandsmodellen. Klimaschutz soll Wachstumsmotor sein, Armut reduzieren und gleichzeitig lebenswichtige Funktionen der Atmosphäre und Biosphäre bewahren. Die Klimadebatte konzentriert sich auf Lösungen, die diese Zieltrias bedienen. Die Analyse der Ursachen des Klimawandels bleibt im Vergleich zu den Anstrengungen, die auf mögliche Lösungen verwendet werden, erstaunlich eindimensional auf physikalische Ursachen beschränkt. Obwohl seit dem Statusbericht des Weltklimarats von 2007 Konsens darüber besteht, dass die globale Erwärmung anthropogen verursacht ist, konzentriert sich die Suche nach den Problemursachen auf die Quellen der Treibhausgasemissionen, was meist zu technologischen Lösungsvorschlägen führt. Dabei könnten auch der emittierende Mensch und dessen Motive im Fokus stehen. Die Beharrungskraft der gesellschaftlichen und ökonomischen Rahmung, innerhalb der die Treibhausgase verursacht werden, ist jedoch kaum Untersuchungsgegenstand. Die Ursachen steigender Treibhausgasemissionen könnten auch mit Blick auf das Verhältnis von struktureller Armut im Globalen Süden und Wohlstand im Globalen Norden untersucht werden, da dieses Ungleichheitsverhältnis von der gleichen industriekapitalistischen Wirtschaftsweise geprägt ist wie auch der Klimawandel. Diese Wirtschaftsweise beruht auf der Inwertsetzung und Ausbeutung von Natur und von Arbeitskräften und hat eine enorme Beschleunigung erfahren seit der Nutzung fossiler Energieträger für die industrielle Produktion und Mobilität. Die Emission von Treibhausgasen ist die systemimmanente Begleiterscheinung eines Industriekapitalismus. Argumente für eine grundlegende Veränderung dieser Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung sind dennoch nur am Rand der Klimadebatte zu finden. Der Klimawandel wird in der internationalen Klimapolitik und im Mainstream allein als Umweltkrise diskutiert, nicht als Zeichen einer sozialen Krise oder Wirtschaftskrise. Vielmehr werden soziale Krisen (Armut, Vertreibung, Hunger, Landverlust, Krankheit) in der Klimadebatte als Folgen des Klimawandels angesprochen (z.B. durch Ernteausfälle nach langen Dürren, durch Zerstörungen von Orkanen und Meeresspiegelanstieg). Durch einen Begriff wie ›Klimaverwundbarkeit‹ wird der Klimawandel als Problemverstärker und arme Menschen als Opfer von Extremwetterereignissen thematisiert. Diese Problembetrachtung verschiebt den Fokus auf das Naturereignis, und die Ursachen der Armut – die den Menschen eigentlich verwundbar machen – Thomas (Hg.) (2014): Image politics of Climate Change. Visualizations, Imaginations, Documentations. Bielefeld: transcript.
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rücken aus dem Blick. Es findet eine rhetorische Naturalisierung sozialer und globaler Ungleichheit statt. Begriffe wie ›Klimakatastrophe‹ oder ›Klimaflüchtling‹ verknüpfen naturalisierende Argumentationsweisen der Klimadebatte zu einer Kausalkette. Hunger wird so zu einer extremen Form der Klimawandelbetroffenheit und Migration zu einer Anpassung an negative Folgen des Klimawandels. Die Ursache dieser Situation bzw. Reaktion ist jedoch niemals allein der Klimawandel. Kommt es zu Ernährungsproblemen von Kleinbauern und -bäuerinnen im Globalen Süden, so muss auch die ungerechte Landverteilung thematisiert und gefragt werden, warum so viele Menschen in dürregefährdeten Gebieten leben. Kommt es zunehmender Migration von Menschen aus Trockengebieten oder tropischen Küstenzonen, muss genau untersucht werden, wieso sie ihre Lebensgrundlage verloren haben. Menschen aus tropischen Ländern, die nach Europa oder in andere Wohlstandsregionen migrieren wollen, fliehen nicht allein vor dem Klimawandel, sondern weil sie keinen ausreichenden Zugang zu Land oder anderen Ressourcen haben. Die Rede vom Klimawandel als Ursache für soziale Krisen findet ihre Steigerung im Begriff des ›Klimakrieges‹. Der Klimawandel wurde in zahlreichen populärwissenschaftlichen Publikationen zur Ursache zukünftiger militärischer Auseinandersetzungen um immer knapper werdende natürliche Ressourcen erklärt. Und auch wissenschaftliche Institutionen haben den Klimawandel zum Sicherheitsproblem für Europa, Australien und Nordamerika erklärt (→ Klimavulnerabilität, → Klimakonflikte, → Klimaflüchtlinge). Um die Ursachen dieser Konflikte zu verstehen, könnte man genauso gut fragen, warum der Zugang zu lebenswichtigen Ressourcen so ungleich verteilt ist und warum landwirtschaftlich nutzbare Flächen in immer weniger Händen liegen. Post_koloniale Machtverhältnisse sind hier gleich dreifach relevant: als historische Bedingung aktueller Landnutzung und extrem ungleicher Besitzverhältnisse, als Ausdruck imperialer Lebensweisen sowie als diskursive Praktik, durch die Dominanzverhältnisse zwischen Globalem Norden und Globalem Süden reproduziert werden. In den letzten Jahren war zu beobachten, dass sich die Situation des ungerecht verteilten Landbesitzes durch Klimaschutzprojekte noch verschärft hat. Sogenannte Klimaflüchtlinge sind in vielen Fällen Menschen, die bei der Umsetzung von Klimaschutzprojekten vertrieben wurden. Es scheint legitim, im Namen des globalen Klimaschutzes lokale soziale Krisen zu verursachen. So hat die zunehmende Konkurrenz um landwirtschaftliche Flächen insbesondere in Entwicklungsländern durch den Anbau von Biomasse für erneuerbare Energien und von Agrartreibstoffen mittlerweile ein relevantes Ausmaß angenommen, das sich zum Nachteil für die Ernährungssicherheit durch kleinbäuerliche Betriebe entwickelt hat. Dabei dienen großflächige Klimaschutzmaßnahmen primär dem Energie- und Mobilitätsbedürfnis in Industriestaaten.
Einleitung
Die Klimadebatte wird dominiert von der Idee, dass Wachstum mit reduziertem und langfristig sogar ohne Umweltverbrauch möglich sei, und dass Wachstum und Ressourcenverbrauch voneinander entkoppelt werden könnten. Das »Wörterbuch Klimadebatte« untersucht, wie der klimawandelverursachende Industriekapitalismus durch seine Umdeutung in eine Grüne Ökonomie bzw. ein nachhaltiges Wachstum als Lösung für alle Klimawandelprobleme plausibel erscheinen kann. Die Versprechen einer »Effizienzrevolution« oder einer »Klimaneutralität« spielen hierbei eine Schlüsselrolle. Diese Begriffe schaffen es, die einst gegensätzlichen Interessen einer Naturnutzung und des Naturschutzes miteinander zu versöhnen. Die Klimadebatte ist voll von solchen Begriffen. Sie hat ein eigenes Vokabular hervorgebracht, mit dem sich über die letzten Jahrzehnte ein internationaler politischer Konsens herstellen ließ. Das »Wörterbuch Klimadebatte« vereint über vierzig Begriffsanalysen, in denen die Autor_innen eine kritische Betrachtung und Einordung der diskursprägenden Argumentationen ermöglichen. Das Wörterbuch will damit ein Nachdenken über vorherrschende Strategien und mögliche Zukünfte anregen. Es will nicht Mythen der Umweltpolitik aufdecken oder Alternativen beschreiben – dazu liegen bereits aufschlussreiche Sammelbände vor4 –, sondern Kritik an der scheinbaren Alternativlosigkeit einer neoliberal globalisierten Klimapolitik formulieren. Die Autor_innen machen deutlich, dass es einfache und bequeme Lösungen für die komplexen Dynamiken des Klimawandels und die damit zusammenhängenden sozial-ökologischen Verhältnisse nur zu hohen sozialen Kosten geben kann. Und diese Kosten werden genauso ungleich verteilt sein wie bisher und damit eine nachhaltige Entwicklung, die auf internationale und intragenerationale Gerechtigkeit zielt, verunmöglichen. Um diese Kritik an der institutionalisierten Klimapolitik nachvollziehbar zu machen, wurden Begriffe ausgewählt, die zum einen die Problemwahrnehmung des Klimawandels festschreiben (→ Planetarische Grenzen, → Klimavulnerabilität, → Klimakatastrophe, → Klimakonflikte, → Klimaflüchtlinge), zum anderen die Lösungsstrategien zur Bewältigung des Klimawandels festlegen (→ Energiewende, → Effizienzrevolution, → Agrartreibstoffe, → Bioökonomie, → Geoengineering, → Smart Cities) und die Chancen der Klimawandelbewältigung betonen (→ Wachstum und Wohlstand, → Energiedemokratie, → Ökologische Modernisierung, → Klimafreundlicher Konsum). Außerdem werden die Begriffe für die bevorzugten Gestaltungsformen der Klimapolitik kritisch reflektiert (→ Globales Umweltmanagement, → Klima-Governance, → Welt bürgergesellschaft, → Weltklimarat). Die Querverweise innerhalb der Einzel4 | Brand, Ulrich/Lösch, Bettina/Opratko, Benjamin/Thimmel, Stephan (2012): ABC der Alternativen 2.0. Hamburg: VSA; Görg, Christoph/Brand, Ulrich (2002): Mythen globalen Umweltengagements. Rio+10 und die Sackgassen nachhaltiger Entwicklung. Münster: Westfälisches Dampfboot.
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beiträge zu verwandten Begriffen der Klimadebatte zeigen, dass die impliziten Argumentationen dieser Begriffe an vielen Stellen strategisch gekoppelt sind. Das ist möglich, da sie an gemeinsame Narrative von Umwelt und Entwicklung anschließen. Als Anregung für die Leser_innen, die diskursiven Verbindungslinien der einzelnen Begriffsreflektionen nachzuvollziehen, werden im Folgenden sechs Narrative der Klimadebatte skizziert, deren Rhetorik den hier vorgestellten Begriffen implizit ist: Der Alarmismus einer nahenden Klimakatastrophe, die Anrufung des Klimawandels als Menschheitsproblem, die Formulierung von abstrakten globalen Grenzwerten, die Fokussierung auf eine Technologieentwicklung zur Einhaltung dieser Grenzwerte, das Profitversprechen für ein Klimaschutzengagement und die Erklärung der Alternativlosigkeit dieser Strategien.
1. »Katastrophenbewältigung schafft Entwicklungschancen« Die Klimadebatte ist gekennzeichnet von Zukunftsvorstellungen der Extreme: Einerseits werden Dystopien verheerender Naturereignisse skizziert, andererseits positive Bilder von Wohlstand in einer gesunden Umwelt. Die seit den 1970er Jahren dauerhaft schlechte Nachricht von Klimaforscher_innen, die zu Beginn jedes Klimagipfels wiederholt wird, lautet: Es droht der Klimakollaps. Und die Bewältigungsstrategie zur Verhinderung dieser Katastrophe lautet: Unser Lebensstil ist auch ohne Umweltzerstörung möglich. Die Klimakommunikation ist sowohl in der Wissenschaft als auch in Politik und Medien stark bildlich geprägt: Kohlenstoffemissionen werden in »Fußabdrücken« gemessen, das Diagramm der Klimaerwärmung als »Hockeyschlägerkurve« bezeichnet, und für die Übernutzung der Natur werden »planetarische Grenzen« und »Leitplanken« definiert. Auch die Kritiker_innen der Klimapolitik verwenden Bilder aus der Natur, anstatt die soziale und ökonomische Dimension des Klimawandels zu vermitteln. Die Warnungen der Klimaforscher_innen vor der Klimakatastrophe und dem Verlust von Biodiversität wird in emotionalisierende Darstellungen von Eisbären auf Eisschollen oder halb überfluteten Städten übersetzt. Umweltorganisationen greifen diese Ikonen auf. Der Verweis auf einen drohenden Verlust von Biodiversität und kulturellen Werten scheint geeigneter zu sein zur Moblisierung gegen einen verfehlten Klimaschutz als auf betroffene Menschen (→ Klimakatastrophe). Die Warnungen vor den Extremfolgen des Klimawandels werden außerdem oft mit dem Verweis auf eine drohende Apokalypse stark gemacht und damit die kulturelle Kraft biblischer Ängste (Sintflut) und Hoffnungen (Arche Noah) herauf beschworen. Das Bild der Klima-Apokalypse zeigt eine Katastrophe, die von außen auf die Welt hereinbricht. Der Klimawandel steht hier im Kontext einer vormodernen Dystopie, die mit den Mitteln einer aufgeklärten Zivilisation, die geeignete Technologien und die Organisationsformen besitzt,
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verhindert werden kann. Ökologische Modernisierung erscheint so als absolut notwendiger und dringlicher Weg zur Verhinderung einer Klimakatastrophe und für eine hoffnungsvolle Zukunft. In diesem Narrativ ist der moderne Mensch fähig, diese Chance zu nutzen, da er über das Wissen verfügt, die geeigneten Technologien zu entwickeln, um die schlimmsten Folgen zu verhindern (Klimaschutz) oder diese zumindest abzumildern (Klimaanpassung).
2. »Klimaschutz ist eine Menschheitsaufgabe« In der Klimadebatte kommen kaum lokale Prozesse mit all ihren komplexen sozial-ökologischen Dynamiken zur Sprache. Beim Klimawandel geht es um den größtmöglichen Maßstab einer Problembetrachtung: um globale Probleme, von denen alle Menschen betroffen sind. Das führt zu Verallgemeinerungen, die den Blick auf soziale Differenzierungen oft verstellen. Auch wenn bei weitem nicht alle Menschen an den Klimaverhandlungen teilhaben können, sprechen die dominanten Akteure der Klimapolitik von allen – und damit auch für alle – Menschen der ganzen Erde, inklusive der zukünftigen Generationen. Internationale Klimainstitutionen und -verbände betiteln ihre Zustandsberichte mit programmatischen Aussagen wie »Our Common Future« (1987, UNWeltkommission für Umwelt und Entwicklung), »The future we want« (2012, UN-Konferenz für Nachhaltige Entwicklung), »Our Planet – Healthy Planet, Healthy People« (2015, UN-Umweltprogramm), »Think Ahead. Act Together« (2015, Abschlusserklärung G7-Gipfel) oder »Living Planet Report« (2015, World Wide Fund for Nature). Diese Kollektivierungsrhetorik suggeriert, dass alle Menschen die gleichen Zukunftsinteressen bei der Lösung von Klimaproblemen haben. Die historischen und strukturellen Bedingungen von Armut, Ungleichheit und Nicht-Nachhaltigkeit werden in diesen Studien nicht benannt, genauso wenig die unterschiedliche Teilhabe an politischen Entscheidungsprozessen und die ungleich verteilten Lasten und Vorteile des Klimaschutzes. Gerechtigkeitsfragen verschwinden hier hinter verbaler Gleichstellung. Sowohl die Verantwortung für das Klimawandelproblem als auch die Verantwortung für dessen Lösung werden kollektiviert. Dass es Profiteure der Umweltzerstörung gibt und dass diese zur Verantwortung gezogen werden könnten, gerät damit aus dem Blick. Die Klimapolitik kommt mit Hilfe dieser Rhetorik ohne Sozial- und Kolonialgeschichte aus: Wenn die Katastrophe naht, wird die Erde zum Gemeinschaftsgut, um das sich alle Menschen im gleichen Maße sorgen sollen. Aber wer ist dieses ›Wir‹? (→ Raumschiff Erde) Und wessen Zukunft ist gemeint? (→ Partizipation) Die breite Anerkennung des IPCC beruht auf seiner Betrachtung des Klimawandels als planetarisches Problem und der Zusammenfassung von weltweiten Klimaforschungserkenntnissen. Das UNFCCC-Sekretariat (Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen) als Weltorganisation des globalen
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Klimaschutzes überträgt diese planetarische Perspektive in internationale Zielsetzungen, die Konsensentscheidungen für die nachhaltige Zukunft aller Menschen jenseits bestehender globaler Machtkonstellationen sein sollen (→ Weltklimarat, → Klima-Governance). Jeder Klimagipfel ringt um konkrete Emissionsreduktionsziele, obwohl klar ist, dass diese reine Willensbekundungen bleiben, die Umsetzung auf Freiwilligkeit beruht und die Missachtung gemeinsamer Beschlüsse nicht juristisch einklagbar ist (→ Globales Umweltmanagement, → Weltbürgergesellschaft). Neben der großen öffentlichen Aufmerksamkeit für das anhaltende Bemühen um gemeinsame Ziele verläuft die Auseinandersetzung über Umsetzungsstrategien und Instrumente ziemlich unbehelligt. Denn an der grundlegenden Ideologie internationaler Klimapolitik wollen die Vertreter_innen der UN-Nationen nicht rütteln: Die gemeinsame Zukunft soll ressourcenökonomisch gestaltet werden, und der Klimawandel wird lediglich als Systemstörung etablierter Gesellschafts- und Wirtschaftsmodelle betrachtet. Das zeigt auch die Abwehrhaltung der UN-Organisationen gegen kapitalismuskritische Stimmen aus dem Globalen Süden und von internationalen Umweltorganisationen (→ Klimabewegung).
3. »Die Einhaltung von Grenzwerten ist ökonomisch sinnvoll« Im Rahmen der internationalen Klimapolitik wird der Klimawandel als Grenzproblem verhandelt. Die Definition von Grenzwerten entspricht einem natur-, wirtschafts- und ingenieurswissenschaftlichen Denken. Diese drei Disziplinen sind in der Klimadebatte eng verzahnt. Klimaforscher_innen überprüfen nicht nur den aktuellen Status des Klimawandels, sondern berechnen auf Basis historischer Prozesse auch Szenarien für die Zukunft der Atmosphäre und Biosphäre. Sie legen Grenzwerte fest, in deren Rahmen sich Umweltschädigungen wieder regenerieren können (→ Resilienz) und bei deren Überschreitung irreversible Folgen eintreten würden (→ Planetarische Grenzen). Wirtschaftswissenschaftler_innen erkennen in der Definition von Grenzwerten für die Nutzung bestimmter Ressourcen die Möglichkeit, ein nun knappes Gut mit Nutzungsrechten zu belegen und damit zur handelbaren Ware zu machen, die einen Preis hat. Die Kosten für die Nutzungsrechte (z.B. Emissionszertifikate) machen den Einsatz von Klimaschutz- und Klimaanpassungstechnologien ökonomisch sinnvoll, solange die Investitionskosten für Emissionseinsparungen unter den Verschmutzungskosten liegen. Ingenieurswissenschaftler_innen versuchen, entsprechende emissionseffiziente Technologien zu entwickeln. Die Summe der Kohlenstoffemissionen in einem bestimmten Zeitraum oder für eine bestimmte Nutzung wird zum Maß des Handelns. Mit der Definition von Tragfähigkeitsgrenzen der Atmosphäre und der Berechnung einer maximal vertretbaren globalen Treibhausgasemission lassen sich Zielwerte für
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alle Maßstabsebenen – von Emissionsbudgets pro Kopf bis zu globalen Emissionen – festlegen. Ziel des klimakompatiblen Handelns, Wirtschaftens und Konsumierens ist es nun, diese Budgets nicht zu überschreiten und die direkten und indirekten Emissionen permanent zu bilanzieren. Die Emissionsrate bestimmt mittlerweile sowohl die Kostenkalkulation von Unternehmen und Kommunen als auch das Alltagshandeln von Menschen in Wohlstandsgesellschaften. Mittels Online-Rechner kann laufend der individuelle Fußabdruck der Kohlenstoffemission überprüft und daraufhin optimiert werden. Die Ziele der Klimapolitik werden quantifiziert, um Erfolge messbar zu machen. Obwohl wissenschaftliches Wissen über den Klimawandel faktisch immer unsicher ist, liefern Klimaforscher_innen fixe Grenzwerte, um politisches Handeln zu stimulieren. Was wissenschaftliche Erkenntnis ausmacht, nämlich vorläufig und umstritten zu sein – besonders wenn es um Zukunftsaussagen geht –, wird in der Klimapolitik quasi ausgeschaltet. Für politische Auseinandersetzungen und Vereinbarungen sind vage Aussagen nicht brauchbar. Gebraucht werden eindeutige Grenzwerte, die zur roten Linie erklärt werden können, die nicht überschritten werden darf. Diese Funktionalisierung biophysikalischer Grenz- und Zielwerte greift weder naturwissenschaftliches Wissen differenziert auf noch sind soziale Kriterien der Grenzbestimmung vorgesehen. Der aktuelle Konsensgrenzwert einer maximalen Zwei-Grad-Erwärmung berücksichtigt keine regional unterschiedliche Temperaturausprägung oder die sehr unterschiedlichen Bedingungen zur Anpassung an die Folgen dieser Erwärmung. Welche Klimawandelfolgen sind für wen vertretbar? Was sagen die Grenzwerte und Zeitkorridore über heutige und zukünftige sozial-ökologische Realitäten aus? (→ Wissensunsicherheit, → Klimawissenschaft). Die Bilanzierungslogik der Klimadebatte lässt Effektivität und Effizienz zur zentralen Formel des Klimaschutzes werden. Ein effektives Klimamanagement und ein effizienter Ressourceneinsatz sind stets die Strategien, auf die sich sowohl Politik als auch Wirtschaft und Konsument_innen einigen können. Das Effizienzversprechen von Unternehmen ist zu einem Kaufargument geworden, wenn damit zusätzlich zu Treibhausgasemissionen auch Betriebskosten gespart werden können (z.B. energiesparende Kühlschränke oder emissionsreduzierte Autos). Die Kostenersparnis führt oft zu Rebound-Effekten, da sie Spielraum für mehr Konsum bietet, der wiederum Treibhausgasemissionen zur Folge hat. Die Klimaschutzengagement endet gemäß dieser Logik dort, wo die kostenneutrale Treibhausgasreduktion erreicht ist und die Anschaffung von Effizienztechnologien mehr kostet als langfristig eingespart werden kann (→ Effizienzrevolution, → Klimafreundlicher Konsum). Seit jüngster Zeit sprechen hochrangige Politiker_innen von einem langfristigen Ziel vollständiger Dekarbonisierung oder einer klimaneutralen Entwicklung. Das meistzitierte Resultat des G7-Gipfels 2015 war die Ankün-
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digung, dass am Ende des 21. Jahrhunderts die Weltwirtschaft emissionsfrei funktionieren soll. Das heißt in der buchhalterischen Logik der Klimapolitik: ohne Nettoemissionen. In der biophysikalischen Praxis bedeutet dies, Treibhausgasemissionen entweder zu vermeiden, einzufangen oder zu kompensieren. Emissionen können auch zu Netto-Nullemissionen werden, wenn man sie an einem anderen Ort einspart als dort, wo sie produziert werden. Das ist neutral für die Atmosphäre, aber nicht für die Gesellschaft. Denn aus politökonomischer Perspektive bedeutet diese Praxis, die Lasten und Kosten des Klimaschutzes in andere Bereiche oder Regionen zu verlagern. Der Handel mit Emissionszertifikaten und damit die Möglichkeit zur Kompensation von zu hohen Treibhausgasemissionen in Industrieländern basiert auf dem Argument, dass Emissionsreduktion immer dort betrieben werden sollte, wo sie am billigsten ist. Dass dies ausgerechnet für den Globalen Süden zutrifft, ist nicht ›natürlich‹, sondern hat eine Geschichte. Dort sind nicht zufällig Ressourcen wie Land und Arbeit günstiger zu haben. Dieses Ungleichheitsverhältnis wird mit der international vereinbarten Möglichkeit zur finanziellen Kompensation von Emissionen fortgeschrieben (→ Nullemission, → Klimaneutralität).
4. »Klimawandel ist mit technologischen Lösungen bewältigbar« Die Klimadebatte ist gekennzeichnet von einem modernisierungstheoretischen Entwicklungsparadigma, dessen Fortschrittsideal und Technologieoptimismus aus der Frühzeit der Industrialisierung stammen. Alle Hoffnungen auf eine dekarbonisierte Wirtschaftsweise sollen durch technologische Innovationen erfüllt werden. Damit ist die Annahme verbunden, dass sich die effektivsten Innovationen durchsetzen, wenn hierfür finanzielle Anreize gesetzt werden. Insbesondere die deutsche Klimapolitik, die als Energiewendepolitik betrieben wird, lebt von dem Argument, dass Klimaschutz sowohl positive Effekte für die Volkswirtschaft sowie die regionale Wertschöpfung, als auch für die globale Umwelt haben kann. Wirtschaftswachstum und Umweltverbrauch stehen in dieser Logik nicht im Widerspruch. Sie beruht auf der Vision, Wirtschaftswachstum vom Umweltverbrauch entkoppeln zu können. Dabei lässt sich eine solche Entkopplungsthese nicht verallgemeinert belegen. Umweltverträgliche Einzelelemente verringern nicht die Belastung durch die gesamte Produktion von Waren: Kühlschränke können mit Ersatzstoffen betrieben werden, die kein ozonschädliches FCKW enthalten – das heißt aber nicht, dass alle umweltschädlichen Materialien in allen Produkten substituierbar sind; Kraftfahrzeuge können mit Agrartreibstoffen angetrieben werden – das ändert jedoch nichts an allen anderen Umweltschäden bei der Produktion, Nutzung und Entsorgung von Kraftfahrzeugen (→ Energiewende, → Agrartreibstoffe, → Entkopplung, → CO2-Abscheidung und -Speicherung).
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Auch in der Technologieentwicklung geht es um Klimaschutz im globalen Maßstab. Seit Jahren gibt es nationale und internationale Forschungsprogramme, die Wege suchen, um die Sonneneinstrahlung zu reflektieren und damit die globale Erwärmung zu verringern oder um Kohlenstoffemissionen einzufangen, zu verflüssigen und unterirdisch einzulagern. Die Entwicklung solcher Großtechnologien dient dazu, die Klimakatastrophe zu verhindern oder zu verzögern und gleichzeitig eine soziale und ökonomische Transformation überflüssig zu machen. Durch den Einsatz digitaler Technologien für sogenannte smarte Infrastrukturen sollen auf kommunaler und individueller Ebene insbesondere Mobilität und Haushaltsführung durch optimierte Steuerung den effizientesten emissionsarmen Ressourceneinsatz ermöglichen. Durch die digitale Speicherung vielfältiger Daten des Mobilitäts- und Konsumverhaltens können außerdem die Emissionskonten kontrolliert werden. Diese Strategien räumen der Effektivität durch Steuerung auf Basis physikalischer und Kostenkriterien einen höheren Stellenwert ein als der Möglichkeit von Lebenstilveränderungen auf Basis gesellschaftlicher Debatten. Dabei zeigen die Beispiele von verändertem Mobilitäts- und Ernährungsverhalten in europäischen Großstädten, dass diese nicht durch Technologieentwicklung motiviert wurden (→ Geoengineering, → Smart City).
5. »Klimaschutz und Wachstum sind win-win-Optionen« Klimaschutz ist nicht das alleinige Motiv für effizienten Ressourceneinsatz und Emissionsreduktion. Das Engagement für den Klimaschutz kann auch das persönliche soziale Kapital erhöhen oder zum positiven Image eines Unternehmens beitragen. Die Klimadebatte der letzten Jahrzehnte hat viele neue Werte geschaffen, die in verschiedenen Kontexten gehandelt werden können. Da der Verweis auf die Reduktion von Treibhausgasemissionen das Image jedes Vorhabens befördert, hat fast jede Stadt und jedes Großsportevent in Europa mittlerweile ein Klimaschutzkonzept oder verspricht, klimaneutral zu sein. Emissionsreduktion hat aktuell den höchsten Stellenwert im Portfolio des unternehmensbezogenen Umweltschutzes. Solange ein Fahrzeug mit Agrartreibstoff und ohne Abgasemissionen betrieben wird, sind andere umwelt- und gesundheitsbelastenden Folgen des Automobilverkehrs und die Landnutzungskonflikte beim Anbau des Treibstoffs gesellschaftlich akzeptabel. Die Klimadebatte hat außerdem neue ökonomische Werte geschaffen. Die internationalen Instrumente zur Emissionskompensation und Förderung erneuerbarer Energien bieten ökonomische Anreize für die Inwertsetzung natürlicher Ressourcen. So wird zum Beispiel die Fähigkeit von Wäldern Kohlenstoff zu binden, als ökosystemare Dienstleistung bewertet und damit zum ökonomischen Gut. Da tropische Wälder besonders viel Kohlenstoff binden,
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wird deren Bewahrung oder Aufforstung zur Einkommensquelle im Rahmen der international vereinbarten Klimaschutzmechanismen. Natur in Wert zu setzen ist ein Grundzug des Kapitalismus, der nach immer neuen Wertschöpfungsformen sucht. Grünes Wachstum im Sinne expandierender ökonomischer Wertschöpfung kann daher nicht nachhaltig sein und täuscht eine Wertschätzung von Natur vor. Kohlenstoff bekommt durch Emissionszertifikate einen Preis. Mit Investitionen in Klimaschutzanlagen lässt sich auf diese Weise ein zusätzlicher Gewinn erwirtschaften, und Klimaschutz wird ökonomisch rational. Oder andersherum betrachtet: Die globale Erwärmung schafft über den marktgerechten Klimaschutz ein neues Potenzial zur Abkühlung überhitzter Kapitalmärkte. Das ökonomische Interesse daran, den Emissionsmarkt zu erhalten, ist entsprechend größer, als ihm durch effektiven Klimaschutz die Grundlage zu entziehen (→ REDD+, → Inwertsetzung von Natur, → Nachhaltigkeit). Die wirkmächtige win-win-storyline des Grünen Wachstums beruht auf dem Versprechen, für alle Umweltprobleme flexible und kosteneffiziente Lösungen finden zu können. Ein Klimaschutz ohne ökonomischen Gewinn ist mit diesem Narrativ nicht denkbar. Weltweit versuchen daher viele Menschen, die Ideologie des Grünen Wachstums als krisenverschärfend zu entlarven. Die Kritik richtet sich gegen eine marktbasierte, neoliberale Klimapolitik und die damit verbundene globale Arbeitsteilung des Klimaschutzes. Emissionszertifikate, die Unternehmen, Städten und Privatpersonen in Industriestaaten die Kompensation ihrer Treibhausgasemissionen ermöglicht, sollen in Entwicklungsländern durch Emissionseinsparungen bereitgestellt werden. Das führt zu einer hohen Nachfrage nach kompensationsfähigen Klimaschutzprojekten, die oft von Landnutzungskonflikten begleitet sind. Außerdem wird das Kompensationssystem des Emissionshandels nur funktionieren, wenn Entwicklungsländer auf einem niedrigen Emissionsniveau bleiben, billige Arbeitskräfte und ausreichend Flächen für Klimaschutzprojekte zur Verfügung stehen. Das globale Wohlstands- und Entwicklungsgefälle wird auf diese Weise nicht aufgehoben, sondern für die nächsten Jahrzehnte festgeschrieben (→ Wachstum und Wohlstand, → Klimagerechtigkeit, → Klimakompatible Entwicklung).
6. »Der eingeschlagene Weg ist alternativlos« Gibt es nur eine Lösung im Umgang mit dem Klimawandel, oder gibt es Alternativen? Die politischen und gesellschaftlichen Wahrnehmungen und die Reaktionen auf den Klimawandel sind nur im historischen Entstehungskontext der Klimadebatte zu verstehen. Die globale Erwärmung ist gleichzeitig mit der Globalisierung, dem Ende des kalten Krieges und der Neoliberalisierung der Ökonomie zum zentralen Thema der politischen und öffentlichen Debatte geworden. Die Klimapolitik wurde in diese ökonomischen und politischen Rah-
Einleitung
menbedingungen eingepasst, die entscheidend waren für die internationalen Vereinbarungen und Strategien. Das Ergebnis waren Instrumente für eine globalisierte, neoliberalisierte Welt mit multipolaren Machtzentren. Diese Rahmenbedingungen haben weiterhin Bestand. Auch nach dem Klimagipfel von Paris, der ein Meilenstein für Klimaschutzstrategien der nächsten Jahrzehnte ist, dominieren technologische Lösungen, marktwirtschaftliche Instrumente und ein Klimaschutzengagement, das auf Freiwilligkeit beruht und die Möglichkeit zur finanziellen Kompensation von zu hohen Emissionen bietet. Die jahrzehntelangen Klimaverhandlungen zeigen, dass bisher allein strukturkonservative und systemstabilisierende Lösungsvorschläge anschlussfähig waren. Diese dienen nicht allen Menschen zum Vorteil, denn sie stabilisieren auch Unterdrückungsverhältnisse, die auf zentralisierter Staatsmacht, Kapitalmonopolen, Neokolonialismus, Rassismus und patriarchalen Strukturen beruhen (→ Geschlechtsspezifische Verwundbarkeit). Die entscheidenden Institutionen der Klimapolitik erklären den eingeschlagenen Weg als alternativlos. Gesellschaftspolitische Experimente sind nicht vorgesehen und werden mit dem Argument der drängenden Zeit und der Notwendigkeit schneller Lösungen vernachlässigt. Sie finden lediglich in sozialen Nischen statt. So erproben lokale Initiativen an vielen Orten mit dem Ideal eines Guten Lebens (buen vivir) jenseits von Wachstumsstress und Naturausbeutung ein Gegenmodell zur Grünen Ökonomie und ihrem Versprechen eines dekarbonisierten Endloswachstums. Die sehr unterschiedlichen Zukunftsideale des Grünen Wachstums und des Guten Lebens haben jedoch auch argumentative Gemeinsamkeiten: Sie verweisen auf den Klimawandel als zentralem Antrieb ihres Entwicklungsideals und sehen ein ressourcenschonendes Wirtschaften als ihr Ziel. Dabei wäre eine sozial und global gerechtere Welt auch ohne Meeresspiegelanstieg und Extremwetterereignisse ein wichtiges Ziel (→ Suffizienz, → Sozial-ökologische Transformation).
7. Klimawandel neu debattieren Die Auseinandersetzung mit den dargestellten Narrativen der Klimadebatte eröffnet einen anderen Blick auf die Chancen und Hindernisse einer nachhaltigen Klimapolitik. Sie zeigt unter anderem die gesellschaftlichen Implikationen der bisher dominierenden Klimaschutzpolitik auf. Die gesellschaftliche Dimension spielt in der Klimadebatte immer noch eine untergeordnete Rolle, obwohl sich in den letzten Jahren im deutschsprachigen Raum eine sozialwissenschaftliche Klimaforschung etabliert hat, die auch in der Lehre der Soziologie, Geographie, Politikwissenschaft, Umweltpsychologie und dem Umweltrecht mittlerweile eine große Rolle spielt. Sozialwissenschaftliches Wissen wird in der Klimaforschung jedoch fast ausschließlich für Fragen der Akzeptanz von Klimaschutz- und Klimaanpassungsmaßnahmen abgefragt –
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also am Ende der Klimaforschungskette. Die Autor_innen des »Wörterbuchs Klimadebatte« wollen die Problemdefinition des Klimawandels jedoch nicht allein solchen Naturwissenschaftler_innen überlassen, die ihre Analysen auf wenige quantifizierbare und politisch funktionalisierbare Elemente reduzieren. In ihren Beiträgen erklären sie, wie die physikalischen Klimawandelursachen in vielfältigen sozialen und ökonomischen Strukturen verankert sind. Die meisten Autor_innen des Wörterbuchs sind sowohl in der Wissenschaft als auch in sozialen Bewegungen sowie beratend für staatliche Institutionen tätig und bringen diese unterschiedlichen Perspektiven in ihre hier vorliegenden Analysen ein. Allen Beiträgen des Wörterbuchs ist eine Kurzfassung des zentralen Arguments zu den Schlüsselbegriffen der Klimadebatte vorangestellt. Es folgt die Darstellung des Gebrauchs des Begriffs in der öffentlichen, politischen und wissenschaftlichen Diskussion und dessen kritische Reflektion. Wo relevante weiterführende Weblinks vorliegen, werden diese am Ende des Beitrags aufgelistet. Das Wörterbuch dokumentiert die aktuelle Klimadebatte an zahlreichen Beispielbegriffen. Da die Klimadebatte laufend neue Begriffe hervorbringt, werden für eine fortgesetzte kritische Reflektion weitere Beiträge in einem Online-Blog zur Diskussion gestellt (»Schlüsselbegriffe der Klimadebatte«). Als Herausgeberin des Sammelbandes danke ich den beteiligten Autor_innen, die die Aufgabe übernommen haben, die Argumentation und Funktion einzelner Schlüsselbegriffe zusammenzufassen und zu analysieren. Die Idee zur kritischen Reflektion von Schlüsselbegriffen der Klimadebatte beruht auf Diskussionen im Rahmen von Workshops und Doktorandenschulen des »Netzwerks Politische Ökologie‹« – einem Zusammenschluss deutschsprachiger Geograph_innen und Politikwissenschaftler_innen, die soziale Dimensionen von Umweltkrisen thematisieren –, an dem einige der Autor_innen beteiligt sind. Anregungen zur konzeptionellen Rahmung des Wörterbuches verdanke ich außerdem zahlreichen Diskussionen an der Bayreuth Academy of Advanced African Studies und der inspirierenden Begleitung des Buchprojekts durch Detlef Müller-Mahn, Stefanie Baasch und Ulrike Bergermann. Dem transcriptVerlag danke ich für die engagierte Umsetzung des Wörterbuchs. Ich wünsche mir, dass der Band zu einer transparenten und reflektierten Diskussion klimapolitischer Optionen beiträgt und eine Zukunft ohne Wachstumsstress und Daueroptimierung vorstellbarer macht. Hamburg/Bonn im Oktober 2015 Sybille Bauriedl
Agrartreibstoffe Melanie Pichler
Der Anbau von Agrartreibstoffen wird seit der Jahrtausendwende staatlich gefördert, um CO2-Emissionen zu reduzieren und die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern zu verringern. Entgegen dieser Zielrichtung führte die verpflichtende Beimischung von Treibstoffen aus landbasierten Ressourcen in den letzten Jahren zu einer zunehmenden Konkurrenz um Agrarflächen und damit verbunden zur Abholzung von tropischen Regenwäldern, der Vertreibung von Bäuer_innen und Indigenen sowie zu Preissteigerungen bei Grundnahrungsmitteln – insbesondere in Ländern des Globalen Südens.
Begriffsklärung und Anfänge Agrartreibstoffe (auch Biotreibstoffe genannt) werden aus Nahrungsmitteln oder Futterpflanzen in großflächiger und monokultureller Landwirtschaft produziert und können in zwei Kategorien unterteilt werden. Biodiesel wird aus ölhaltigen Pflanzen (z.B. Raps, Palmöl, Soja, Jatropha oder Sonnenblumen) durch den chemischen Prozess der Veresterung hergestellt und fossilem Diesel beigemischt. Bioethanol wird aus zucker- oder stärkehaltigen Pflanzen (z.B. Zuckerrohr, Mais, Weizen, Zuckerrübe oder Maniok) durch alkoholische Gärung gewonnen und für den teilweisen Ersatz von Benzin verwendet. In der wissenschaftlichen und politischen Diskussion werden diese sogenannten Agrartreibstoffe der ersten Generation von jenen der zweiten Generation unterschieden, die aus pflanzlichen Materialien stammen, die nicht als Nahrungsmittel genutzt werden (z.B. Holzabfälle, Stroh, Hackschnitzel oder Altspeiseöl). Obwohl diese Alternative in diversen Papieren und Absichtserklärungen eine große Rolle spielt, stammen derzeit etwa 99 Prozent der in der EU verwendeten Agrartreibstoffe aus Nahrungsmitteln (vgl. European Parliament 2015: 8). Die staatliche Subventionierung von Agrartreibstoffen als Ersatz für fossile Brennstoffe geht bis in die 1970er Jahre zurück. So förderte Brasilien als Reaktion auf die Ölkrise von 1973 die Produktion von Treibstoffen aus Zuckerrohr
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in großem Stil und die USA intensivierten in dieser Zeit die Forschung zu Bioethanol. Nach dem Verfall des Ölpreises Ende der 1980er Jahre wurden sowohl wissenschaftliche Forschungen als auch Subventionen zurückgefahren. Vor dem Hintergrund der internationalen Klimapolitik und steigender Erdölpreise seit der Jahrtausendwende wird die Produktion von Agrartreibstoffen weltweit wieder angekurbelt. Im Jahr 2001 schlug das wichtigste wissenschaftliche Organ der internationalen Klimapolitik, das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), die Nutzung von Agrartreibstoffen als zentrale Maßnahme für die Bekämpfung des Klimawandels vor: »Liquid biofuels […] when substituted for fossil fuels will directly reduce CO2 emissions. Therefore, a combination of bioenergy production with carbon sink options can result in maximum benefit from mitigation strategies.« (IPCC 2001: 226)
Politische Förderung von Agrartreibstoffen Als Vorreiterin der staatlichen Förderung von Agrartreibstoffen durch verpflichtende Beimischungsziele gilt seit den 2000er Jahren die EU. Vorbereitet wurde diese Strategie durch das »Grünbuch für Energieversorgungssicherheit« im Jahr 2000: »Despite their high production costs, it is important to ensure the continuing and growing presence of biofuels and other alternative fuels in the fuel market. […] In terms of environmental impact, biofuels are very attractive, emitting between 40 and 80 % less in the way of greenhouse gases than other fossil fuels. They also give off less particulate and carbon monoxide and hydroxide.« (European Commission 2000 o.S.) Im Jahr 2003 beschloss die EU schließlich ein Beimischungsziel für Agrartreibstoffe von 5,75 % bis 2010 (vgl. EU 2003). Im Jahr 2009 wurde die Beimischungspflicht im Rahmen der Richtlinie für erneuerbare Energien auf 10 % bis 2020 erhöht (vgl. EU 2009). Auch andere Länder wie zum Beispiel Brasilien, die USA, Malaysia und Indonesien fördern die Agrartreibstoffindustrie durch Beimischungsverpflichtungen. Die globale Produktion von Bioethanol wird derzeit von Agrarkonzernen in den USA und Brasilien dominiert. Die Biodieselproduktion wird angeführt von der EU, gefolgt von den USA, Brasilien, Argentinien und Indonesien als weitere wichtige Produktionsländer (OECD/ FAO 2014: 117ff.). Die verpflichtende Beimischung von Agrartreibstoffen – insbesondere in der EU und den USA – kurbelt nicht nur die Produktion, sondern auch den internationalen Handel mit Agrartreibstoffen an. Insbesondere Länder des Globalen Südens wie Brasilien, Argentinien und Indonesien sind wichtige Exportländer – sowohl von verarbeiteten Agrartreibstoffen als auch von Rohstoffen wie Soja und Palmöl. Die Agrartreibstoffindustrie hat sich in diesem Zusammenhang zu einem zentralen Profitfeld für transnationale Konzerne entwickelt. Wichtige Player sind beispielsweise die Agrobusinessunternehmen ADM (Unternehmenszentrale in den USA), Cargill (USA), Du Pont
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(USA) und Wilmar (Singapur), die Erdölkonzerne BP (Großbritannien) und Shell (Niederlande) sowie das finnische Mineralölunternehmen Neste Oil.
Negative CO 2 -Bilanz von Agrartreibstoffen In der EU hat sich in den letzten Jahren gezeigt, dass der enorme Anstieg in der Produktion von Agrartreibstoffen weder zu einer verringerten Importabhängigkeit – sowohl von Agrartreibstoffen als auch von Erdöl – geführt hat, noch die erwarteten Einsparungen an CO2-Emissionen erreicht wurden. Gleichzeitig verschärfte die zunehmende Flächenkonkurrenz soziale und ökologische Konflikte in wichtigen Exportländern. Im Jahr 2012 wurde etwa ein Viertel der EU-weit beigemischten Agrartreibstoffe importiert (vgl. European Parliament 2015: 3). Diese Zahl schließt allerdings nur die Einfuhren bereits verarbeiteter Agrartreibstoffe ein, das heißt die Importabhängigkeit wird deutlich höher, wenn auch Rohstoffimporte (z.B. Palmöl und Soja) berücksichtigt werden, die innerhalb der EU zu Agrartreibstoffen weiterverarbeitet werden – wofür derzeit allerdings keine Zahlen vorliegen. Die geringen Erfolge bei der Einsparung von CO2-Emissionen ergeben sich großteils aus sogenannten Landnutzungsveränderungen, die in der wissenschaftlichen Debatte in zwei unterschiedliche Kategorien eingeteilt werden. Von direkten Landnutzungsveränderungen wird gesprochen, wenn für die Produktion von Agrartreibstoffen Regenwälder, Torfmoore oder andere Flächen mit hoher Biodiversität in Plantagen für Energiepflanzen umgewandelt werden. Vor allem bei der Abholzung von Regenwäldern oder der Trockenlegung von Torfmooren entstehen zusätzliche Emissionen, weil CO2-Senken verloren gehen. Hingegen entstehen indirekte Landnutzungsveränderungen (indirect land use change, ILUC), wenn die Produktion von Nahrungsmitteln und Futterpflanzen durch die Herstellung von Agrartreibstoffen verdrängt wird und auf bis dahin nicht landwirtschaftlich genutzte Flächen (Regenwald, Feuchtgebiete etc.) ausweichen muss. Während die EU-Richtlinie für erneuerbare Energien von 2009 im Rahmen von Nachhaltigkeitskriterien einige direkte Landnutzungsänderungen für die finanzielle Förderung von Agrartreibstoffen explizit ausschließt (z.B. Primärwald und Naturschutzgebiete), ist der »ILUC-Faktor« ein wesentlicher Grund für die schlechte CO2-Bilanz von Agrartreibstoffen (vgl. Bowyer 2010). Neben diesen ökologischen Kosten hat die Flächenkonkurrenz durch die Produktion von Energiepflanzen in vielen Ländern des Globalen Südens soziale Konflikte (insbesondere um Land) verschärft. Diese Konflikte manifestieren sich beispielsweise in der Marginalisierung oder (gewaltsamen) Vertreibung von Bäuer_innen, die mit der zunehmenden Privatisierung und Konzentration des Landbesitzes in Verbindung stehen (vgl. Backhouse 2014; Pichler 2014). Die Produktion von Agrartreibstoffen im Rahmen eines großflächigen, monokulturellen und globalisierten Landwirtschaftsmodells trägt demnach zu den
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negativen Effekten in der internationalen Agrar- und Rohstoffindustrie bei, die unter dem Stichwort land grabbing in den letzten Jahren politisiert wurden (vgl. Borras/Franco 2012). Auf Grund der umfangreichen wissenschaftlichen Erkenntnisse, der öffentlichkeitswirksamen Kampagnen von Umwelt- und Entwicklungsorganisationen und nicht zuletzt des aktuell niedrigen Erdölpreises ist die Euphorie des Agrartreibstoff booms der 2000er Jahre abgeflaut. In programmatischen und wissenschaftlichen Berichten der internationalen Umwelt- und Klimapolitik können die negativen Auswirkungen von Agrartreibstoffen der ersten Generation nicht länger ignoriert werden, und die Hoffnung verlagert sich auf die zweite Generation (vgl. UNEP 2011). Dennoch gehen OECD und FAO (2014: 109ff.) von einer stetigen Steigerung der Produktion von Agrartreibstoffen in den nächsten zehn Jahren aus und sehen in diesem Zeitraum keine nennenswerte Industrie für die zweite Generation. Diese Entwicklung scheint sich in den aktuellen Verhandlungen um eine Anpassung der EU-Richtlinie für erneuerbare Energien zu bestätigen, in der die Agrartreibstoffindustrie bisher viele ihrer Interessen durchsetzen konnte. Die Verhandlungen wurden auf Grund der wissenschaftlichen Erkenntnisse zur negativen CO2-Bilanz (ILUC) von Agrartreibstoffen aufgenommen und die Kommission legte 2012 einen Entwurf vor, in dem sie eine Reduktion der Beimischung von Agrartreibstoffen der ersten Generation von zehn auf fünf Prozent vorsah. In den darauf folgenden Verhandlungen wurde diese Zahl schrittweise erhöht – zuletzt auf sieben Prozent durch den Rat. Die Höhe der Beimischungsverpflichtung bleibt also Anlass heftiger Auseinandersetzungen (vgl. European Parliament 2015). Zusammenfassend zeigt die staatliche Förderung von Agrartreibstoffen, dass die EU für die vermeintliche Erreichung von Klimazielen weiterhin auf Ressourcen in Ländern des Globalen Südens zurückgreift und dadurch Landkonflikte und negative Trends in der Agrarpolitik in diesen Ländern verschärft werden. Die bisher negative CO2-Bilanz und die sozialen Konflikte hängen nicht zuletzt damit zusammen, dass die Förderung von Agrartreibstoffen weder die gegenwärtige Ausrichtung des Mobilitätsbedarfs auf den motorisierten Individualverkehr, noch das herrschende Landwirtschaftsmodell in Frage stellt. Entscheidend für die weitere Ausrichtung der Klima- und Energiepolitik werden dementsprechend die aktuellen Verhandlungen um eine Nachfolge der EU-Richtlinie für erneuerbare Energien nach 2020 sein, aber auch die öffentliche Debatte um nachhaltige Mobilitätskonzepte.
Weblink Think Tank für nachhaltige EU-Verkehrspolitik ›Transport & Environment‹: »www.transportenvironment.org«
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Literatur Backhouse, Maria (2014): Biodiesel aus Amazonien – Verdrängung statt Förderung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft. In: Bernd Hirschl/Kristina Dietz/Thomas Vogelpohl/Elisa Dunkelberg/Maria Backhouse/Raoul Herrmann/Michael Brüntrup (Hg.): Biokraftstoffe zwischen Sackgasse und Energiewende. München: Oekom-Verlag: 111-131. Borras, Saturnino/Franco, Jennifer (2012): Global land grabbing and trajectories of agrarian change. A preliminary analysis. In: Journal of Agrarian Change 12(1): 34-59. Bowyer, Catherine (2010): Anticipated indirect land use change associated with expanded use of biofuels and bioliquids in the EU. An analysis of the national renewable energy action plans. www.ieep.eu/assets/731/Anticipated_ Indirect_Land_Uce_Change_Associated_with_Expanded_Use_of_Biofuels _and_Bioliquids_in_the_EU_-_An_Analysis_of_the_National_Renewable_ Energy_Action_Plans.pdf (27.05.2015). EU (2003): Richtlinie 2003/30/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Mai 2003 zur Förderung der Verwendung von Biokraftstoffen oder anderen erneuerbaren Kraftstoffen im Verkehrssektor. http://eur-lex.euro pa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32003L0030&from=DE (27.05.2015). EU (2009): Richtlinie 2009/28/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen und zur Änderung und anschließenden Aufhebung der Richtlinien 2001/77/EG und 2003/30/EG. http://eur-lex.europa.eu/LexUri Serv/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2009:140:0016:0062:DE:PDF (27.05.2015). European Commission (2000): Green Paper. Towards a European strategy for the security of energy supply. http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUri Serv.do?uri=CELEX:52000DC0769:EN:HTML (25.05.2015). European Parliament (2015): EU biofuels policy. Dealing with indirect land use change. European Parliamentary Research Service. www.europarl.europa. eu/RegData/etudes/BRIE/2015/548993/EPRS_BRI%282015%29548993_ REV1_EN.pdf (12.06.2015). IPCC (2001): Climate Change 2001. Mitigation. Contribution of Working Group 3 to the Third Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change. Cambridge: Cambridge University Press. OECD/FAO (2014): OECD-FAO Agricultural Outlook 2014. Paris: OECD Publishing. Pichler, Melanie (2014): Umkämpfte Natur. Politische Ökologie der Palmöl- und Agrartreibstoffproduktion in Südostasien. Münster: Westfälisches Dampfboot.
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UNEP (2011): Towards a green economy. Pathways to sustainable development and poverty eradication. www.unep.org/greeneconomy/Portals/88/documents /ger/ger_final_dec_2011/Green%20EconomyReport_Final_Dec2011.pdf (27.05.2015).
Anthropozän Christoph Görg Glaubt man Vertreter_innen dieses Begriffs, dann leben wir in einem neuen Erdzeitalter, das nun unwiderruflich vom Menschen geprägt ist: dem Zeitalter des Anthropozäns. Obwohl bislang nicht recht klar ist, was der Begriff wirklich meint, verweist er nach kritischer Analyse auf eine neue Phase in der Dialektik gesellschaftlicher Naturbeherrschung, in der die Menschheit trotz immer größerer Transformation der Natur gleichzeitig immer weniger in der Lage ist, ihre Naturverhältnisse zu kontrollieren.
Ein neues Erdzeitalter stimuliert die Phantasie »Welcome to the Anthropocene«, so titelte »The Economist« im Mai 2011. Und Wochenzeitung ›Die Zeit‹ erklärte am 05.04.2014: »Das Anthropozän hat begonnen, das Zeitalter der Menschen […]. Gerade weil wir die Natur verändern, sind wir untrennbar mit ihr verbunden. Das zu akzeptieren birgt die beste Chance, die Erde zu retten […]«. Doch in der Weltrettung sind sich Wissenschaftler_innen keineswegs einig. Überschreibt »Die Zeit« am 10.01.2013 ein Interview mit dem Geobiologen Reinhold Leinfelder mit dem pathetischen Titel: »Wir Weltgärtner«, dann titelt Spiegel-Online ein Interview mit dem britischen Geologen Jan Zalasiewicz (beides wichtige Protagonisten in der Debatte) am 01.03.2011: »Wir sind auf der Erde das dominierende Raubtier.« Dominierendes Raubtier oder Weltgärtner – der Begriff des Anthropozäns regt die Fantasien an, aber leider in sehr entgegengesetzte Richtungen. Überhaupt bekommt man manchmal den Eindruck, es handele sich beim Anthropozän eher um eine kulturelle Imagination denn um einen harten (natur-)wissenschaftlich definierten Begriff. Während sich die Fachwelt noch keinesfalls einig ist, ob dieser denn zu Recht verwendet wird und was er genau meint, wann das neue Zeitalter beginnt und was seine Hauptmerkmale sind, sind die Feuilletons und Museen schon längst mit seiner Interpretation beschäftigt. Insbesondere das Haus der Kulturen der Welt in Berlin (HKW) preschte 2013 mit einem Anthropozän-Projekt in Kooperation mit Geologen
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verschiedener deutscher Forschungseinrichtungen vor (HKW 2014). Die diversen Ausstellung, Tagungen, Vorträge und Diskussionen rund um das Projekt versprechen nicht weniger als kulturelle Grundlagenforschung. Gleich vier teilweise sehr umfangreiche Tagungsbände zielen auf eine Neuauslotung unserer Vorstellungen von Natur und Gesellschaft. Nicht der postmoderne Diskurs, sondern materiale Abhängigkeiten stehen im Zentrum dieser Suchbewegung. »matter does matter« fasst das der Direktor des HKW Bernd Scherer im Vorwort zusammen. Die drei dicken Bände der »Textures of the Anthropocene« stellen viele durchaus bekannte literarische und andere Texte neu zusammen (und bedienen damit den Diskurs um das Anthropozän, weniger die materialen Abhängigkeiten – und wie sollte das auch anders sein). Dabei kommt der Verdacht auf, dass man vieles so oder so ähnlich schon gehört hat und dass nun die überspitzte postmoderne Zeitdiagnose – alles sei nur noch Diskurs – durch eine genauso einseitige ersetzt werden soll. Diesen Verdacht teilt der kulturelle Diskurs mit dem wissenschaftlichen. Wissenschaftssoziologisch ist es zunächst hochgradig interessant, dass eine naturwissenschaftliche Disziplin, die bislang am wenigsten den Menschen zur Kenntnis genommen hat und sich in Zeitskalen jenseits des menschlichen Vorstellungsvermögens bewegt, nämlich die Geologie, nun »den Menschen« entdeckt – oder das zumindest vorgibt. Wo erdgeschichtlich betrachtet die Geschichte des Homo Sapiens eher ein Bruchteil eines Wimpernschlags ausmacht, da wird nun diagnostiziert, dass sich sein Auftreten unwiderruflich in die Erde eingeschrieben habe und selbst in vielen Millionen Jahren noch sichtbar sein wird. Mehr noch: nach den drei großen »Kränkungen«, der kopernikanischen, der darwinschen und der freudschen, die »den Menschen« immer mehr aus dem Zentrum von Welt, belebter Natur und autonomer Individualität vertrieben haben, scheint er nun ins Zentrum des Geschehens zurückzukehren – das dürfte der tiefere Grund für die vielen Phantasien sein, die sich mit dem Begriff verbinden. Nur: Weder ist das Anthropozän als erdgeschichtliche Epoche schon fest etabliert – erst 2016 wird von der zuständigen wissenschaftlichen Kommission darüber das Urteil gefällt – noch verdankt sich der Begriff einem immanenten wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt. Viele Geowissenschaftler_innen lehnen ihn rundherum ab. Neben der enger angelegten Debatte in der Geologie gibt es jedoch eine zweite, breiter gelagerte Debatte in den Erdsystemwissenschaften (vgl. IGBP 2015), die weniger auf die strengen Kriterien zur Unterscheidung verschiedener erdgeschichtlicher Epochen in geologischen Sedimenten denn auf Änderungen im Erdsystem abzielen (mit starken Bezügen zur Debatte um Planetarische Grenzen; vgl. Hamilton et al. 2015). Und in dieser Debatte besitzt der Begriff eine klar politische Zielsetzung: er soll zum Handeln motivieren und den unzureichenden Bemühungen zur Bekämpfung des Klimawandels Auftrieb verleihen. Wie immer wieder anekdotisch kolpor-
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tiert wird, hat sein Erfinder, der Nobelpreisträger Paul Crutzen, den Begriff in einer hitzigen Debatte um die Auswirkungen des Klimawandels in die Diskussion geworfen und ihn erst danach durch einen ebenfalls noch sehr groben Artikel in der Zeitschrift »Nature« untermauert (Crutzen 2002).
Ein Begriff an der Grenze zwischen Wissenschaft und Politik Der Begriff ist also seiner Herkunft und Verwendung nach davon geprägt, dass er eine politische Botschaft transportieren soll: dass der anthropogene Klimawandel die Menschheit zwar nicht aus dem Paradies, jedoch aus dem Holozän vertrieben hat (oder vertreiben wird), einem Erdzeitalter mit relativ stabilen, der gesellschaftlichen Entwicklung zuträglichen klimatischen Bedingungen. Stattdessen könnte auf die Menschheit eine neue, sehr viel unfreundlichere Epoche zukommen, für die wir keinerlei sichere Prognosen wagen dürfen, außer dass es sehr viel ungemütlicher wird – eben weil sich die Parameter des Klima- und Erdsystems in gravierender Weise ändern könnten. Unabhängig davon, wie belastbar diese Aussage ist: der Begriff weist damit alle Merkmale eines Grenzbegriffs (boundary concepts) an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik/Gesellschaft auf. So ärgern sich die Geowissenschaften auch darüber, dass sie keine Kontrolle mehr über den Begriff haben und alles Mögliche in der Öffentlichkeit damit verbunden wird. Gesellschaft und Politik haben sich längst in die Definitionskämpfe eingeschaltet. Daher sind die Merkmale und ihre Relevanz für die Neubestimmung einer neuen Epoche auch so unklar und umstritten: Neben dem Klimawandel wird auf den radioaktiven Fallout der Atombombentests genauso verwiesen wie auf die zunehmende Vermüllung der Meere durch Plastikmüll, die Transformation der Landschaften der Erde durch menschliche Nutzung oder den »Columbian Exchange« (Crosby 1972), die Eroberung Amerikas und den darauf folgenden Austausch der Biodiversität. Je nachdem welche Merkmale in den Vordergrund gestellt werden, ergeben sich völlig verschiedene Datierungen des Beginn des Anthropozäns und damit auch seiner politischen Brisanz. Der Beginn des Anthropozäns weist eine große Variationsbreite auf. Die Schaffung von Kulturlandschaften kann zumindest dem Beginn nach nicht weniger als auf die sogenannte neo-lithische Revolution vor ca. 10.000 Jahren zurückdatiert werden; bezogen auf den Klimawandel müsste dagegen der Beginn der industriellen Revolution und die Nutzung der fossilen Energiequellen durch die Dampfmaschine und anderer Technologien vor rund 200 Jahre betont werden. Lewis und Maslin (2015) diskutieren neun Optionen, den Beginn festzulegen, sehen aber nur bei zwei Daten konkrete Anhaltspunkte für eine präzise geowissenschaftliche Periodisierung: den Tiefstand der Treibhausgasemissionen 1610 (der mit Kolonialismus und der Entstehung des modernen Weltsystem korreliert) und 1964, dem Höhepunkt des radioaktiven Fallouts
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in der Atmosphäre. Dabei ist klar: Der Streit um den Beginn des Anthropozäns ist kein rein akademischer, er hat erhebliche politische Implikationen. Aus diesem Grund wird von führenden Protagonist_innen auch ein späterer Zeitpunkt favorisiert: die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg ab den 1950er Jahren, was Will Steffen und seine Ko-Autoren die »Great Acceleration« (Steffen et al. 2015) nennen. Seit dieser Zeit weisen alle Daten zur Nutzung natürlicher Ressourcen steil nach oben, im Wachstum nur leicht gebremst durch kleinere Wirtschaftskrisen. Es ist dieses Phänomen, das auch die politische Brisanz der These vom Anthropozän beleuchten kann. Denn alle politischen Bemühungen seit den 1970er Jahren, dem weltweiten Beginn einer expliziten Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik, konnten an dieser »großen Beschleunigung« (great acceleration) keinen Deut ändern – wenn, dann waren es die ökonomischen Krisen. Und genau da liegt sowohl das Potenzial der These vom Anthropozän, wie auch seine Schieflage (zumindest bislang): Einerseits soll die Notwendigkeit und Dringlichkeit politischen Handelns eindrücklich untermauert werden, andererseits kümmert sich die Debatte überhaupt nicht darum, warum bisher keine irgendwie adäquate politische Reaktion erfolgt ist. Dem Anthropozän fehlt eine Debatte über »den Anthropos«, genauer: Über die gesellschaftliche Dynamik, die der great acceleration zu Grunde liegt wie auch über die Probleme einer politischen Gestaltung (IGBP 2015).
Ein »post-politisches« Zeitalter? Jenseits der kulturwissenschaftlichen Imaginationen haben sich die Sozialwissenschaften bislang wenig in dieser Debatte engagiert (ein aktuelles Gegenbeispiel wäre Hamilton et al. 2015); und wenn, dann haben sie die These vom Anthropozän oftmals unkritisch aufgegriffen und entweder zur Phantasie einer »Planetary Stewardship« (Steffen et al. 2011) aufgeblasen oder als Beleg für die Notwendigkeit einer »Earth System Governance« (Biermann 2014) trivialisiert. In beiden Fällen wird weder kritisch die Funktion des Begriffs als boundary concept zwischen Wissenschaft und Politik noch das völlige Unvermögen der existierenden Institutionen reflektiert, der great acceleration etwas entgegenzusetzen. Insbesondere wurden bisher kaum die Sprecherpositionen kritisch analysiert, die Wissenschaftler_innen in dieser Debatte einnehmen und welche Machtpositionen damit verbunden sind. Wie auch in der Debatte um planetarische Grenzen (planetary boundaries), die eng mit der These vom Anthropozän verknüpft ist, versuchen (überwiegend Natur-)Wissenschaftler_innen, mit einer wissenschaftlichen Diagnose die Notwendigkeit und die Dringlichkeit politischen Handelns abzuleiten: »Can we become active, effective stewards of the Earth System, our own life support system […]?« (Steffen et al. 2011, 741) Aber wie müsste eine aktive und effektive Verwaltung des Planeten aus-
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sehen, damit sie wirklich in der Lage ist, der »großen Beschleunigung« des Ressourcenverbrauchs Einhalt zu gebieten? Schon seit einiger Zeit wächst der Zweifel, ob die bestehenden Institutionen (internationaler) Nachhaltigkeitspolitik der Dynamik des kapitalistischen Weltsystems etwas entgegensetzen können (Park et al. 2008). Wer ist eigentlich das »Wir«, das hier handeln soll? Sind alle Regionen der Erde wirklich gleichermaßen daran beteiligt sowie von ihren Auswirkungen betroffen? Ohne eine kritische Analyse der gesellschaftlichen Dynamik, die der great acceleration zu Grunde liegt, und ohne eine kritische und schonungslose Offenlegung der Unfähigkeit der bestehenden Institutionen, daran etwas zu ändern, besteht die Gefahr, dass der Bock zum Gärtner gemacht und die »Planetary Stewardship« das Werk weiter (und zu Ende?) führen, das in die aktuelle Krise gesellschaftlicher Naturverhältnisse hineingeführt hat. Eine der wenigen kritischen Analysen der These vom Anthropozän zeigt sehr prägnant, dass die Diskussionen um das Anthropozän durch drei zentrale ontologische Annahmen gekennzeichnet sind: eine post-naturale, eine post-soziale und eine post-politische (Lövbrand et al. 2015). Alle drei Annahmen zusammen interpretieren die Autor_innen als das gemeinsame Narrativ der Diskussion um das Anthropozän: dass Natur nicht mehr der Gesellschaft gegenübergestellt wird, dass statt der Diversität und Eigendynamik sozialer Prozesse nur von »dem Anthropos« oder »der Menschheit« gesprochen wird, und dass die politische Rhetorik dem entspricht, was Erik Swyngedouw und andere als Post-Politik beschreiben: als eine paradoxe Mischung zwischen apokalyptischer Rhetorik und der pragmatischen Verteidigung des institutionellen Status quo, bei der Politik im radikalen Sinne gar nicht mehr vorkommt (vgl. Swyngedouw 2011). Ein kritischer Umgang mit der These vom Anthropozän erfordert daher nach Ansicht der Autor_innen eine Reflexion der kulturellen Konstruktion der Natur und der Diversität und Konflikthaftigkeit des Sozialen – und damit die Re-Politisierung der ganzen Debatte. Selbst die Absage an die Gegenüberstellung von »Natur« und »Mensch/Gesellschaft« im Anthropozän negiert noch die Konflikthaftigkeit gesellschaftlicher Naturverhältnisse wie die Vielschichtigkeit sozial-ökologischer Krisenprozesse (auf verschiedenen räumlichen und zeitlichen Skalen).
Die Entzauberung des »Anthropos« In den Geowissenschaften hat die Debatte um das Anthropozän zum Teil massives Gerangel zwischen den Wissenschaftsdisziplinen Geologie und Geographie, um ihre Relevanz und damit um ihre Ressourcen hervorgerufen (vgl. Egner 2014). Dabei wäre es absolut notwendig, eine kritische Form von Interdisziplinarität zu entwickeln, in der dann auch die eingangs erwähnten kulturwissenschaftlichen Dimensionen eine große Rolle spielen müssten (Jahn et
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al. 2015). Denn unabhängig davon, wie die Kommission zur Bezeichnung der Erdzeitalter entscheiden wird: Das Anthropozän ist in der Welt, wenn auch zunächst nur als zeitdiagnostische These. Neu daran ist keineswegs die Rede vom »Ende der Natur« (als einer vom Menschen unabhängigen Kraft) – das wurde schon öfter ausgerufen. Neu ist auch nicht, dass Natur und Gesellschaft keine unabhängig voneinander bestehenden Entitäten sind – davon ging schon Karl Marx aus. Neu ist aber, dass menschliche Aktivitäten zunehmend in planetarischen Ausmaßen und in langen zeitlichen Rahmen erfasst und diskutiert werden. Wenn die Ozeane nach den Müllstrudeln umbenannt werden, die sich auf ihnen bilden (vgl. SZ vom 8. September 2014: Kartierung mit Plastikmüll. Die sieben Meere des Mülls), dann blitzt davon eine Ahnung auf; ebenso in den Debatten um die Zukunft des radioaktiven Mülls, die sich von den Zeitskalen her jeder geschichtlichen Erfahrung entzieht (denn es geht um Zeitspannen um ein Vielfaches länger als die menschheitsgeschichtliche Überlieferung). Wenn sich die Klimawissenschaftler_innen nicht völlig irren (wovon leider kaum auszugehen ist), dann ist das »gemütliche« Klima des Holozäns bald vorbei. Und anders als in diesen Debatten, die die Dringlichkeit des Handelns unter Beweis stellen wollen, ist die zunehmende sozial-ökologische Verwundbarkeit schon heute in vielen Teilen der Erde erheblich gestiegen (→ Klimavulnerabilität). Daran, und das ist die eigentliche Tragik dieser Debatten, werden auch die Warnrufe aus der Wissenschaft wenig ändern, da diese ein viel zu naives Bild von dem »Wir« entwerfen, das da handeln soll. Dieses Wir – und damit den Anthropos – zu entzaubern, und zwar in beide Richtungen: als Ursache der Great Acceleration wie als Akteure einer gesellschaftlichen Transformation, die die Dynamik dieser Beschleunigung tatsächlich brechen kann, das wäre die nicht eben kleine Aufgabe. Insofern haben Hamilton et al. (2015) recht: Gerade das Anthropozän stellt unsere Vorstellungen vom »Menschen« (und der Gesellschaft) in Frage, da die Grundlagen politischer Entscheidungen und demokratischer Prozeduren nicht mehr zu den geologischen Zeitskalen wie auch der Dringlichkeit einer »Entschleunigung« des Ressourcenverbrauchs passt. Mit der These vom Anthropozän ist die Dialektik der Naturbeherrschung (vgl. Görg 2003) in eine neue Phase eingetreten: Zwar hat sich die Menschheit die Erde »untertan« gemacht, aber sie ist immer weniger in der Lage, ihre Naturverhältnisse zu kontrollieren.
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Anthropozän
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Bioökonomie Sarah K. Hackfort Bioökonomie ist zu einem Synonym für ökonomisch erfolgreiche Lösungen im Umgang mit globalen Umwelt- und Ressourcenproblemen geworden – obwohl bisher wesentliche Fragen nach der Verfügbarkeit der biologischen Ressourcen, deren Nachhaltigkeit, der Technologiegestaltung, den Risiken der Nutzung sowie der Akzeptanz damit verbundener Maßnahmen nicht beantwortet wurden. Wenn die Bioökonomie einen Beitrag zu einer sozial-ökologischen Transformation leisten soll, gilt es auch ihr wachstumszentriertes Modell einer ökologischen Modernisierung zu überprüfen.
Hoffnungsträger Bioökonomie? Der Begriff Bioökonomie steht für eine Wirtschaftsform, die auf Produkten aus biologischen Ressourcen wie Pflanzen oder Mikroorganismen basiert. Seit die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) die »wissensbasierte Bioökonomie« zu einem zentralen Leitbild erhob, sehen zahlreiche Regierungen der Industrieländer in der Bioökonomie die Zukunftsstrategie zur Lösung nationaler und globaler ökologischer, sozialer und ökonomischer Probleme. Mit dem Konzept Bioökonomie wird auch in Deutschland die Umstellung der wirtschaftlichen Produktionsbasis auf biogene Rohstoffe, Reststoffe und regenerative Energiequellen und eine am natürlichen Stoff kreislauf orientierte Wirtschaft gefördert. Bioökonomie gilt damit als zentrales Instrument für eine nachhaltige Entwicklung und für die Bearbeitung einer Reihe von globalen Herausforderungen wie die Ernährungssicherung, die nachhaltige Rohstoff- und Energieversorgung, der Erhalt der biologischen Vielfalt, der Klima- und Umweltschutz sowie die Steigerung internationaler Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen der Bioökonomiebranchen. Entsprechend fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit der »Nationalen Forschungsstrategie BioÖkonomie 2030« Forschungs- und Innovationsprojekte in den folgenden Handlungsfeldern: weltweite Ernährungssicherheit, nachhaltige Agrarproduktion, gesunde und sichere Lebensmittel, industrielle Nutzung nachwachsender Rohstoffe und Energieträger auf Basis von Biomasse.
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Zur Unterstützung wurde im Jahr 2013 von dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) eine »Politikstrategie Bioökonomie« beschlossen, die einen kohärenten Politikrahmen schaffen soll. Ein 2009 gegründeter Bioökonomierat, besetzt mit Vertreter_innen aus Wissenschaft und Wirtschaft, berät die Bundesregierung bei der Umsetzung und verfasst Stellungsnahmen und Empfehlungen, wie sich neue, nachhaltig erzeugte und klimafreundliche Produkte und Dienstleistungen hervorbringen und damit ökonomisches Wachstum und ökologische Verträglichkeit vereinbaren lassen sollen. Insgesamt spiegelt die Debatte zur Bioökonomie jedoch Ambivalenzen und Widersprüche des Konzepts und den damit verbundenen Strategien wider. Sie bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen der Hoffnung auf eine sozialökologische Transformation hin zu einer nachhaltigen Entwicklung einerseits und der Sorge um verschärfte soziale Ungleichheiten und negative ökologische Effekte bei der Implementierung einer Bioökonomie andererseits. In Deutschland und auch international wurde von zivilgesellschaftlichen Organisationen und Teilen der Wissenschaft Kritik an dem Konzept geäußert. Diese richtet sich weniger auf die Ziele – wie die globale Ernährungssicherung, eine nachhaltige Agrarproduktion oder die verstärkte Nutzung nachwachsender Rohstoffe – als vielmehr auf die Strategien zur Erreichung der Ziele und die bisherige Gestaltung dieses umfassenden und in seiner Dimension über vorherige Konzepte weit hinausgehenden Transformationsprozesses. Zur weiteren Erläuterung der Dimensionen und Implikationen der Bioökonomie werden im Folgenden einige Ambivalenzen aufgeworfen, deren Reflexion gleichzeitig Ansatzpunkte für eine sozial-ökologische Forschungs- und Politikagenda zur Bioökonomie bilden können.
Zweifelhafte Nachhaltigkeit und Nutzungskonkurrenzen von Ressourcen Problematisch ist zum einen, dass bisher Nachhaltigkeitskriterien und -standards für die Erzeugung und Nutzung der benötigten Bioressourcen für eine komplette Transformation zu einer Bioökonomie fehlen. Diese Nachhaltigkeitskriterien müssten auf systemischen Potenzialanalysen basieren, die gesellschaftliche Systemzusammenhänge und deren Wechselwirkungen berücksichtigen. Eine auf erneuerbaren Ressourcen basierende Ökonomie ist nicht per definitionem nachhaltig. Da auch nachwachsende Ressourcen begrenzt sind, ist es notwendig, transnationale Vereinbarungen zu treffen, die den begrenzten Anbaupotentialen für die stoffliche und energetische Nutzung von Biomasse im Rahmen der Belastbarkeit der Ökosysteme sowie der sozialen Verhältnisse Rechnung tragen (Pfau et al. 2014). Dabei mangelt es immer noch an der Berücksichtigung von möglichen Nutzungskonkurrenzen und Zielkonflikten in der bisherigen Forschung und Politik
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zur Bioökonomie (Lahl 2014). So haben einige Maßnahmen neben den gewünschten Effekten (wie die Steigerung des Anteils an Bioenergieträgern) zu nicht intendierten Folgen geführt, die andere Ziele der Bioökonomie, wie etwa die globale Ernährungssicherheit oder den Erhalt der Biodiversität, konterkarieren (wie z.B. Landnutzungsänderungen, vgl. auch die »Tank oder Teller«-Debatte über die Verteuerung von Grundnahrungsmitteln durch deren Nutzung als Treibstoff). So werden mitunter soziale und ökologische Probleme in den Globalen Süden verlagert, indem z.B. der Anbau von Agrarkraftstoffen dort Landnutzungskonkurrenzen, Entwaldung, Hunger oder Verdrängung lokaler Bevölkerungsgruppen verschärft (Hirschl et al. 2014). Internationale Organisationen erkennen zwar die Konfliktpotenziale, aber es existieren bisher kaum nennenswerte politische Strategien zum Umgang damit, die über die Hoffnung der landwirtschaftlichen Produktivitätssteigerung durch (Bio-)Technologieentwicklung hinausgehen (Lahl 2014). Alternative Pfade, die durch kleinbäuerliche und ökologische Landwirtschaft eingeschlagen werden könnten oder die auch Suffizienzstrategien (→ Suffizienz) in den Bereichen der Produktion und des Konsums beachten, spielen weder in der staatlichen Forschungsförderung noch der Strategieentwicklung der Bioökonomie bisher eine Rolle (Albrecht et al. 2012; Petschow 2011).
Im Spannungsfeld von Green Economy und sozial-ökologischer Transformation In dem Konzept Bioökonomie bleibt das wachstumszentrierte Modell der ökologischen Modernisierung unhinterfragt und die deutsche Bundesregierung schürt die Hoffnung auf neue grüne Wachstumsmärkte. Analog zu den politischen Umsetzungsstrategien, die mit den Leitbildern »nachhaltige Entwicklung« und »grüne Ökonomie« häufig verbunden sind, wird dabei vor allem auf die Substitution (fossiler) durch (biogene und flächenintensive) Produkte und die Leistungsfähigkeit von neuen Technologien gesetzt. Damit tritt die Frage nach der Suffizienz hinter die der Konsistenz und Effizienz und »das Vertrauen in die Innovationskraft der kapitalistischen Ökonomie zurück« (Brand/Wissen 2014: 136) (→ Effizienzrevolution). Eine allein darauf basierende Wachstumsstrategie läuft jedoch Gefahr, bereits ausgehandelte und noch nicht erreichte Gerechtigkeits-, Biodiversitäts- und Klimaschutzziele zunichte zu machen (Tanzmann 2014). Bisher gelang es nicht, wirtschaftliches Wachstum vom Verbrauch natürlicher Ressourcen zu entkoppeln (→ Entkopplung). Für die Zukunft einer nachhaltigen Bioökonomie stellt sich die Frage, inwieweit es gelingen kann, z.B. über die Einführung von Mehrfachnutzungen, die Schließung von Stoff kreisläufen zu erreichen und über eine reine Substitutionsstrategie hinaus zu kommen, um den Anspruch an ein nachhaltiges Wirtschaftsmodell einzulösen. Falls dies nicht gelingt, bleibt die Bioökonomie vorrangig ein neues Feld für den innovationsorientierten Kapitalmarkt – und
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damit nach der Green Economy eine weitere polit-ökonomische Strategie eines grünen Kapitalismus und der Inwertsetzung von Natur (Birch et al. 2010: 2898; Brand/Wissen 2014: 137) (→ Inwertsetzung von Natur). Dabei sind auch der zu beobachtende Effizienz- und Technikoptimismus und das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit technologischer Verfahren mit dem Ziel der für die Umsetzung einer Bioökonomie benötigten landwirtschaftlichen Produktivitätssteigerungen äußerst kritisch zu begleiten (Petschow 2011; Unmüßig et al. 2012). Da die Bioökonomie neben der Land- und Forstwirtschaft eine Vielzahl von Branchen wie die Pflanzenzüchtung, die Nahrungsmittelindustrie, die chemische Industrie und Teile der Energiewirtschaft einschließt, ist hier ein breites Spektrum von Akteuren und Technologien unterschiedlicher Entwicklungsstadien involviert. Darunter fallen etablierte Konversionstechnologien wie Biogasanlagen ebenso wie die Algenkultivierung und weiterverarbeitende Infrastrukturen wie Bioraffinerien. Im Rahmen der deutschen Forschungsförderung und der Entwicklung von Biotechnologien wird auch Technologien, wie der synthetischen Biologie oder der sogenannten »Grünen Gentechnik«, eine wichtige Rolle zugeschrieben, deren ökologische und gesundheitliche Folgen schon lange höchst kontrovers diskutiert werden. Ihr Beitrag zur Lösung globaler Umweltprobleme sowie ihre Effekte für die menschliche Gesundheit oder für Ökosysteme sind schwer abschätzbar und daher umstritten (Grunwald 2011; Sheppard et al. 2011). Hier ist eine auf gesellschaftlichem Dialog basierende demokratische Technologiegestaltung und Technikfolgenabschätzung, die in erster Linie dem Vorsorgeprinzip Rechnung trägt, unabdingbar.
Notwendige Demokratisierung der Bioökonomie Gegenwärtig ist die Art und Weise der politischen Aushandlung und gesellschaftlichen Umsetzung der Bioökonomie kritisch zu sehen. So fehlt bislang ein Konzept für einen öffentlichen und transparenten Dialog und für die demokratische Partizipation gesellschaftlicher Gruppen. Mit dem in Deutschland eingesetzten Bioökonomierat wurde zwar ein Gremium geschaffen, das verschiedene Akteursgruppen zusammenbringen soll. Es mangelt dem Rat jedoch deutlich an demokratischer Glaubwürdigkeit, solange er mit einer Reihe von Vertreter_innen führender Industrieunternehmen der Bioökonomie-Branchen besetzt ist und zivilgesellschaftliche Akteure vollends fehlen. Dabei braucht eine nachhaltige Bioökonomie als Teil einer sozial-ökologischen Transformation einen transdisziplinären und demokratischen Dialog, der die verschiedenen möglichen Zukünfte und deren gewünschte Gestaltung zum Gegenstand hat und so zum Entwurf integrativer Politiken der Technologiegestaltung und der Governance-Strukturen einer Bioökonomie beiträgt (Grunwald 2011). Macht- und herrschaftspolitische Fragen von Partizipation, Akzeptanz und Widerstand, von Verteilungsproblematiken, Problemverlagerungen und Gerech-
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tigkeitsfragen, sowie alternative Pfade zur Erreichung der gesetzten Nachhaltigkeitsziele gehören dabei mit auf die Agenda (Albrecht et al. 2012). Zwar bietet die Grundidee der Bioökonomie mit der Umstellung von einer Senken- und Durchflussökonomie hin zu einer biobasierten Kreislaufwirtschaft durchaus Chancen für eine nachhaltigere Wirtschaft. Dennoch stellt sich die Frage, ob sie gegenwärtig nicht mehr neue Risiken und Probleme aufwirft, als sie lösen wird, und unter welchen Bedingungen sie von wem gewollt und gestaltet wird. Für eine weiterreichende sozial-ökologische Transformation braucht es eine Perspektive, die auch die Ambivalenzen dieses Transformationsprozesses fokussiert und sich mit möglichen »Problemen zweiter Ordnung«, also potenziellen Folgeproblemen technologischer Entwicklungen oder ökonomischer Regulationen, auseinander setzt (Becker/Jahn 2006: 251). Dies erfordert eine kritische Nachhaltigkeitsforschung, die die theoretischen Grundlagen sowie konkreten Ansatzpunkte für integrative und transformative Politiken zur Demokratisierung der gesellschaftlichen (Natur-)Verhältnisse in der Gestaltung einer nachhaltigen Bioökonomie erarbeitet. Jüngst wurde vom BMBF die Förderung sozial- und wirtschaftswissenschaftlicher Forschung für die Bioökonomie initiiert (siehe weiterführende Links). Damit sollen gesellschaftswissenschaftliche Forschungsfragen als Teil einer umfassenden bioökonomischen Forschung etabliert und mit der natur- und technikwissenschaftlichen Forschung verknüpft werden. Es bleibt abzuwarten, inwieweit sich die kommende Forschung auch kritisch mit genannten Ambivalenzen der Bioökonomie-Agenda auseinandersetzen wird oder ob es lediglich darum gehen wird, die Akzeptanzsteigerung für deren Umsetzung zu gewährleisten und die sich bisher abzeichnenden Widerstände zu neutralisieren.
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CO 2 -Abscheidung und -Speicherung Timmo Krüger Mit der Abscheidung von Kohlenstoff aus Industrieemissionen und dessen Speicherung in unterirdischen Lagerstätten (Carbon Capture and Storage, CCS) ist eine Hoffnung verbunden, die symptomatisch ist für die Suche nach einer technologischen Lösung des Klimaproblems, ohne gesellschaftliche Strukturen – insbesondere die Abhängigkeit der Wirtschaft von fossilen Brennstoffen – ändern zu müssen. CCS-Technologien sind strukturkonservativ und haben transformationshemmende Effekte. Darüber hinaus verstärkt die Entwicklung und Anwendung von CCS genau jene naturbeherrschenden Deutungs- und Handlungsmuster, die historisch zur ökologischen Krise geführt haben.
Erforschung, Entwicklung und Anwendung von CCS Die Abkürzung CCS steht erstens für die Abscheidung von CO2 bei fossilen Kraftwerken oder anderen Industriestandorten mit hohen CO2-Emissionen; zweitens den Transport des abgeschiedenen Kohlenstoffdioxids in Pipelines oder Schiffen zu geeigneten Speicherstätten; drittens die Speicher, in denen das CO2 endgelagert werden soll, und viertens dessen Speicherung über eine sehr lange Zeitspanne, die mit Monitoring-Technologien überwacht werden muss. Insofern handelt es sich bei CCS nicht um eine konkrete Technologie, sondern um eine Kombination verschiedener Technologien. Die ersten Ideen zur Entwicklung von CCS als Klimaschutzstrategie gab es bereits in den 1970er Jahren. Allerdings kam es erst in den 1990er Jahren, mit der zunehmenden politischen Bedeutung des Klimawandels, zu einem gesteigerten Interesse. Ab den 2000er Jahren wurde die Erforschung und Entwicklung von CCS-Technologien noch einmal intensiviert (vgl. Evar/Armeni/Scott 2012: 19ff.). Mit Hilfe von CCS sollen ca. 85-95 % des entstehenden Kohlenstoffdioxids einzelner Industriestandorte abgeschieden und anschließend in unterirdischen Speicherstätten oder in Tiefseegebieten eingelagert werden (vgl. Berger 2010: 146; IPCC 2005: 4, 27). Im Gegensatz zu anderen Klimaschutzstrate-
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gien wie der Nutzung erneuerbarer Energien oder Maßnahmen zur Energieeffizienz stellen sie weder zusätzliche Energie bereit noch sparen sie Energie ein. Im Gegenteil, die Anwendung von CCS-Technologien verbraucht Energie und führt damit zu einem Wirkungsgradverlust. Zieht man also die CCS-bedingten Emissionen (die bei der notwendigen zusätzlichen Förderung von Brennstoffen, bei der Abscheidung, beim Transport, bei der Verpressung usw. anfallen) mit ein, liegen die Reduktionen des in die Atmosphäre emittierten Kohlenstoffdioxids – eine sichere Speicherung vorausgesetzt – bei maximal 67-90 %. Der Ressourceneinsatz erhöht sich dabei um bis zu 40 % pro erzeugte Kilowattstunde. Von den Akteuren, die an der Weiterentwicklung von CCS arbeiten und/ oder diese finanzieren, ist ein kommerzieller Einsatz ab 2020, spätestens 2030, geplant (vgl. Evar/Armeni/Scott 2012: 18). Inwieweit dieser Zeitplan realistisch ist und ob CCS-Technologien überhaupt im großen Stil eingesetzt werden können, ist aus verschiedenen Gründen noch unklar (Berger 2010: 147). Dabei spielt die Reife der technologischen Komponenten eine entscheidende Rolle sowie die Kosten von CCS-Technologien. Weitere wichtige Faktoren sind zukünftige ökonomische Anreize zur Vermeidung von CO2-Emissionen, der Preis fossiler Brennstoffe, der weitere Ausbau erneuerbarer Energien und die Akzeptanz von CCS-Technologien an möglichen Einsatzorten. Was die Kosten von CCS-Technologien betrifft, so variieren die Prognosen extrem, von hohen Investitionskosten ist aber auszugehen. Prinzipiell gilt, dass sich CCS-Technologien nur bei sehr hohen finanziellen Anreizen zur Vermeidung von Treihausgasemissionen betriebswirtschaftlich lohnen können (IPCC 2005: 10f.). Projekte zur Erforschung, Entwicklung und Anwendung von CCS werden in der Regel zu einem großen Anteil durch staatliche Forschungsförderungen finanziert (Evar/Armeni/Scott 2012: 25). Die Länder mit dem bisher größten finanziellen CCS-Engagement sind: Australien, Frankreich, Großbritannien, Kanada, Japan, Norwegen, Niederlande, die USA und mit etwas Abstand folgen Deutschland sowie Spanien. Zusätzlich finanziert die EU viele Projekte. Norwegen ist – gemessen am Bruttosozialprodukt – das Land mit den höchsten Subventionen zur Erforschung und Entwicklung von CCS. In absoluten Zahlen liegen die USA weit vorne. Auf Seiten der privaten Akteur_innen sind es vor allem Energiekonzerne, die an der Erforschung und Entwicklung von CCS-Technologien arbeiten, um ihr Geschäftsmodell auf zukünftige Klimaschutzregularien bzw. steigende Preise für Treibhausgasemissionen in Kohlenstoffmärkten vorzubereiten. Neben Energieunternehmen gibt es eine Reihe weiterer Organisationen, die sich in den Bereichen Forschung, Entwicklung und Lobbying für CCS-Technologien einsetzen, wie die norwegische Umwelt-NRO Bellona Foundation, die zwischenstaatliche Organisation Carbon Sequestration Leadership Forum, das
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von der australischen Regierung initiierte internationale Global CCS Institute, das Forschungsprogramm Greenhouse Gas R&D Programme der Internationalen Energieagentur sowie die Wirtschaftsverbände International Emissions Trading Association und International Petroleum Industry Energy Conservation Association. Die gesamte CCS-Kette wird im großindustriellen Maßstab bislang in vier Projekten erprobt. Bei dem weltweit ersten CCS-Projekt verpresst der norwegische Energiekonzern Statoil seit 1996 Kohlenstoffemissionen aus der offshoreErdgasförderung in einem salinen Aquifer (einer porösen, salzwasserführenden Gesteinsschicht) in der norwegischen Nordsee. Ein ähnliches Verfahren wendet Statoil seit 2008 auch für die Erdölförderung in der Barentssee im Nordpolarmeer an. Weitere onshore-Testprojekte laufen seit 2004 in Algerien und seit 2000 in Kanada.
CCS als umkämpfte Klimaschutzstrategie Die Entwicklung und Anwendung von CCS-Technologien wird von politischen Auseinandersetzungen begleitet, in denen sich prinzipiell eine CCS-befürwortende Koalition und eine CCS-kritische Koalition gegenüberstehen (Markusson/Shackley 2012: 36; Meadowcroft/Langhelle 2009: 267ff.). Die CCS-befürwortende Koalition wird gebildet von Regierungen, internationalen Klima- und Energieinstitutionen, Energiekonzernen, technologieaffinen NRO wie die Bellona Foundation und der Word Wide Fund for Nature sowie an der Erforschung von CCS beteiligten Wissenschaftler_innen. Als ein (Wettbewerbs-)Vorteil von CCS-Technologien heben diese Akteure die Kompatibilität mit zentralisierten Energieinfrastrukturen hervor und betonen, dass auf globaler Ebene die Abhängigkeit der Wirtschaft von fossilen Brennstoffen kurz- bis mittelfristig bestehen bleibe und CCS somit als Brückentechnologie für den Klimaschutz unverzichtbar sei. In diesem Zusammenhang gelten – teils explizit, teils implizit – die Wohlstandssicherung in Industrieländern sowie steigendes Wirtschaftswachstum (und eine damit einhergehende Steigerung des Primärenergieverbrauchs) in Ländern des Globalen Südens als übergeordnete Ziele, denen die Klimaschutzstrategien angepasst werden. Weiterhin wird auf die mächtige Position der fossilen Wirtschaft verwiesen, die sich vehement für ihr Geschäftsmodell und ihre Wettbewerbsfähigkeit einsetze. Daraus wird gefolgert, dass erfolgreicher Klimaschutz nur mit CCS-Technologien erfolgreich sein könne. Andernfalls wäre der Widerstand der fossilen Wirtschaft und die damit verbundenen politischen Kosten zu hoch. Die ökologischen und gesundheitlichen Risiken der CCS-Technologien hält die CCS-befürwortende Koalition grundsätzlich für beherrschbar. Entscheidend sei ein Risikomanagement, das adäquate Sicherheitsstandards, rechtliche Rahmenbedingungen, eine sorgfältige Wahl der Speicherstandorte und ein genaues Monitoring umfasse.
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Dagegen ist der Verweis auf unkalkulierbare Risiken der Endlagerung von CO2 Teil einer kritischen Perspektive auf CCS, die jenseits von Umweltforschungsinstituten vor allem von Umweltgruppen, Klimaaktivist_innen und lokalen Bürgerinitiativen sowie einzelnen Wissenschaftler_innen eingenommen wird (vgl. Berger 2010; Markusson/Shackley 2012: 36f; Meadowcroft/Langhelle 2009: 271f.; Sachverständigenrat für Umweltfragen 2009). Da die Kritik an CCS selbst unter den großen Umwelt-NROs tendenziell eine Minderheitenmeinung darstellt, kann man von einer marginalisierten Position sprechen (von den großen Umwelt-NROs sticht Greenpeace mit ihrer eindeutig CCS-kritischen Position heraus). Die CCS-kritische Koalition betont, dass die Auswirkungen der Lagerung von CO2 auf die direkte Speicherumgebung, beispielsweise das Grundwasser, nicht vorhersehbar seien. Tatsächlich gibt es für alle vier CCSProjekte im großindustriellen Maßstab Studien und/oder Berichte, die diese skeptischen Einschätzungen bestätigen (vgl. Nationalpark Wattenmeer 2012; Nikiforuk 2011; Scheer 2013: 151; White et al. 2014). Ein weiteres Argument der CCS-kritischen Koalition lautet, dass – unabhängig des nicht quantifizierbaren Risikos des plötzlichen Zutagetretens – ein schleichender Prozess des Entweichens von CO2 mit Sicherheit anzunehmen sei. Dabei würden bereits niedrige Leckageraten (des austretenden Kohlenstoffdioxids) den Klimanutzen von CCS zunichtemachen. Einer der Hauptkritikpunkte der CCS-kritischen Koalition ist die Perpetuierung der fossilen Energieinfrastruktur. Die sozialen, ökologischen und gesundheitlichen Schäden, die mit der Förderung fossiler Brennstoffe einhergehen, werden durch CCS – auf Grund des Wirkungsgradverlusts und des damit einhergehenden erhöhten Ressourceneinsatzes – noch verschärft. Weiterhin befürchten die CCS-Kritiker_innen, dass die Ankündigung von CCS-Technologien als Legitimation für den Bau neuer fossiler Kraftwerke diene und damit den konsequenten Ausbau von erneuerbaren Energien verhindern könne. Da die CCS-Technologien auf Grund ihrer Kapitalintensität stark von der staatlichen Subventionierung abhängig seien, würden diese Mittel von den zu bevorzugenden Klimaschutzoptionen (Energieeffizienz und erneuerbare Energien) abgezogen. Zusammenfassend kann man konstatieren, dass die CCS-kritische Koalition den Beitrag von CCS-Technologien zur Bewältigung der ökologischen Krise bezweifelt. Dagegen plädiert die CCS-befürwortende Koalition für den Einsatz von CCS, da sie an CCS-Technologien die Möglichkeit schätzt, die fossile Energieinfrastruktur zum Zwecke der Profit- und Wohlstandsmaximierung fortführen zu können (vgl. Krüger 2015: 324ff.). Darüber hinaus zielt die CCS-befürwortende Koalition auf den Erhalt bestimmter gesellschaftlicher Strukturen und sozialer Kräfteverhältnisse, die mit der Abhängigkeit der Weltwirtschaft von fossilen Brennstoffen verknüpft sind. Eine Überwindung der fossilistischen Energieinfrastruktur hätte unabsehbare destabilisierende Effekte, die sie zu vermeiden sucht. Damit spitzt sich in den Konflikten um CCS
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die Frage zu, inwieweit es zur adäquaten Bearbeitung der ökologischen Krise einer umfassenden Transformation gesellschaftlicher Strukturen bedarf und inwieweit die damit einhergehende Destabilisierung hegemonialer Verhältnisse (un)erwünscht ist. Diese Grundsatzfrage wird nicht nur von außen an die Befürworter_innen einer ökologischen Modernisierung durch technologische Innovationen (→ ökologische Modernisierung) herangetragen, sondern wird auch innerhalb des ökomodernen Paradigmas kontrovers verhandelt (vgl. Krüger 2015: 326f.). Mit der Durchsetzung eines ökomodernen Konsenses in den 1980er und 1990er Jahren wurde die Forderung nach gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozessen zunächst einmal zurückgedrängt. In der Folge fokussierten auch viele NROs, Umweltgruppen und ökologische Think Tanks auf die ökomoderne Forderung nach Effizienzsteigerung und der Förderung technologischer Innovationen. Dabei zielen ökomoderne Klimaschutzstrategien nicht auf eine Beschränkung der Energieproduktion durch fossile Brennstoffe (Input-Seite), sondern auf die Regulierung der daraus entstehenden Emissionen (OutputSeite). Diese Vernachlässigung der Input-Seite und die alleinige Fokussierung auf die Output-Seite wird mit CCS auf die Spitze getrieben. Deshalb brechen an CCS-Technologien die Konflikte um die Ausgestaltung des ökomodernen Projekts auf. Der ökomoderne Konsens, dass die Output-Seite, die Reduktion der Treibhausgasemissionen, für die Bedeutung von Klimaschutzoptionen entscheidend sei, bedeutet für kritische ökomoderne Protagonist_innen wie Greenpeace keineswegs, dass die Input-Seite nicht angetastet werden dürfe. Für andere Protagonist_innen wiederum basiert die Attraktivität des ökomodernen Konzepts gerade darauf, dass die Energieproduktion mit fossilen Brennstoffen nicht in Frage gestellt wird.
CCS und das Paradigma der Naturbeherrschung Die mit CCS-Technologien legitimierte Fortführung der fossilen Energieinfrastruktur soll für Wirtschaftswachstum, Profit- und Wohlstandsmaximierung sorgen – bei reduzierten Treibhausgasemissionen (→ Entkopplung). Dieses Versprechen ist ein zentraler Grund, warum sich neben den Energiekonzernen auch viele Akteur_innen aus Politik und Wissenschaft für die Entwicklung und den Einsatz von CCS-Technologien einsetzen. Dabei wird die Gefahr des carbon lock-ins unterschätzt: die Perpetuierung der fossilen Energieinfrastruktur beeinträchtigt die Ausgangsbedingungen für Transformationsprozesse hin zu einer dekarbonisierten Lebensweise und einer Gesellschaft mit weniger Ressourcenverbrauch, die nur durch einen radikalen Wandel der Produktions- und Konsummuster – insbesondere in den Ländern des globalen Nordens – erreicht werden wird (→ Klimaneutralität).
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CCS-Technologien werden keinen wirklich relevanten Beitrag zur Lösung der ökologischen Krise leisten können. Vielleicht mag es gelingen, mit Hilfe von CCS-Projekten kurzfristig Treibhausgasemissionen zu reduzieren. Allerdings werden diese Projekte die negativen sozialen, gesundheitlichen und ökologischen Konsequenzen der Ressourcenausbeutung verschärfen. Darüber hinaus führt die Endlagerfrage zu vergleichbaren Risiken wie bei der Lagerung von Rückständen der Atomenergie und führt zu ähnlichen gesellschaftlichen Problemen bei der Standortwahl. CCS-Technologien stehen symptomatisch für die Abhängigkeit von immer neuen technischen Innovationen, um die Naturbeherrschung aufrechterhalten und deren nicht-intendierten Nebenfolgen abmildern zu können. Sie verstärken also genau jene Deutungs- und Handlungsmuster, die historisch zur ökologischen Krise geführt haben und diese auch in Zukunft nicht werden lösen können. CCS-Technologien bilden damit eine weitere Windung in der Abhängigkeitsspirale des naturbeherrschenden Paradigmas einer Wachstumsgesellschaft.
Weblinks Informationen zu Gefahren von CCS von Regionalgruppen in Deutschland, Bürgerinitiativen gegen CO2-Endlager e.V.: www.kein-co2-endlager.de Studien zu Technologien und Lagerstätten der internationalen Lobby-Organisation Global CCS Institute: www.globalccsinstitute.com
Literatur Berger, Hartwig (2010): Verkehrte Kreisläufe. Das Dilemma der KohlendioxidAbscheidung und -Lagerung. In: Leviathan 38(2): 143-155. Evar, Benjamin/Armeni, Chiara/Scott, Vivian (2012): An introduction to key developments and concepts in CCS: history, technology, economics and law. In: Markusson, Nils/Shackley, Simon/Evar, Benjamin (Hg.): The Social Dynamics of Carbon Capture and Storage. Understanding CCS Representations, Governance and Innovation. London/New York: Routledge: 18-30. IPCC (2005): Special Report on Carbon Dioxide Capture and Storage. Cambridge: University Press. Krüger, Timmo (2015): Das Hegemonieprojekt der ökologischen Modernisierung. Die Konflikte um Carbon Capture and Storage (CCS) in der internationalen Klimapolitik. Bielefeld: transcript. Markusson, Nils/Shackley, Simon (2012): Introduction to Part I: Perceptions and representations. In: Markusson, Nils/Shackley, Simon/Evar, Benjamin (Hg.): The Social Dynamics of Carbon Capture and Storage. Understanding CCS Representations, Governance and Innovation. London/New York: Routledge: 33-44.
CO 2 -Abscheidung und -Speicherung
Meadowcroft, James/Langhelle, Oluf (2009): The politics and policy of carbon capture and storage. In: Meadowcroft, James/Langhelle, Oluf (Hg.): Caching the Carbon. The Politics and Policy of Carbon Capture and Storage, Cheltenham/Northampton: Edward Elgar: 1-21. Nationalpark Wattenmeer (2012): Nationalpark Nachrichten September 2012. www.nationalpark-wattenmeer.de/sh/service/newsletter/1830_september-2012 (01.06.2015). Nikiforuk, Andrew (2011): More Fizz to Saskatchewan Carbon Storage Controversy. www.thetyee.ca/News/2011/01/19/CarbonStorage (01.06.2015). Sachverständigenrat für Umweltfragen (2009): Abscheidung, Transport und Speicherung von Kohlendioxid. Der Gesetzesentwurf der Bundesregierung im Kontext der Energiedebatte. Stellungnahme, Berlin. Scheer, Dirk (2013): Computersimulationen in politischen Entscheidungsprozessen. Zur Politikrelevanz von Simulationswissen am Beispiel der CO2 Speicherung. Wiesbaden: Springer VS. White, Joshua A./Chiaramonte, Laura/Ezzedine, Souheil/Foxall, William/Hao, Yue/Ramirez, Abelardo/McNab, Walt (2014): Geomechanical behavior of the reservoir and caprock system at the In Salah CO2 storage project. www. pnas.org/content/111/24/8747.full.pdf (01.06.2015).
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Effizienzrevolution Tilman Santarius Im gegenwärtigen umweltpolitischen Diskurs wird die Steigerung der Energieeffizienz als zentrale Strategie zur absoluten Verringerung der Energienachfrage gehandelt. Wenn der industrielle Kraftwerkspark, der Gebäudebestand, Mobilität und Konsumgüter wesentlich energieeffizienter würden, so wird angenommen, dann ginge der Energieverbrauch in absoluten Zahlen so stark zurück, dass er zukünftig vollständig aus erneuerbaren Energien gedeckt werden und die Treibhausgasemissionen auf nachhaltige Niveaus einschwenken könnten. Doch diese Hoffnung beruht auf einem Irrtum: Effizienzsteigerungen führen nicht eins zu eins zu Einsparungen. Sie rufen Rebound-Effekte hervor, die die Produktion und den Konsum antreiben und damit einen erheblichen Teil des Einsparpotenzials auffressen.
Effizienzgewinne schaffen neuen Ressourcenverbrauch Seit langem bestimmt die Annahme, dass ›Effizienz‹ mit ›Sparsamkeit‹ gleichgesetzt werden kann, das Denken und Handeln von Politiker_innen, Unternehmer_innen und Konsument_innen. Diesen Mythos hatte der britische Ökonom William Stanley Jevons schon vor 150 Jahren als Paradox bezeichnet und nachgewiesen, dass technologische Innovationen zu immer mehr Ressourcenverbrauch führen (Jevons 1865: 102). Heute wird das von Jevons identifizierte Paradox auch als Rebound-Effekt diskutiert. Nichtsdestotrotz gehen viele wissenschaftliche Szenarien wie auch Studien mit konkreten klima- und energiepolitischen Empfehlungen nach wie vor davon aus, dass mittels Energieeffizienzsteigerungen der absolute Verbrauch an Energie drastisch und auf ein langfristig nachhaltiges Niveau gesenkt werden könne (z.B. BMWI 2010; WWF 2010). So schätzt etwa die Internationale Energieagentur: »Energy efficiency improvements across the end-use sector have the potential to achieve 52 % of the CO2 emissions reduction required by 2030 to contain atmospheric CO2 concentrations at 450 ppm.« (IEA 2009: 211) Der Beitrag von Energieeffizienzsteigerungen zur Verminderung von Emissionen sei damit größer als der von jeder anderen Strategie, inklusive etwa
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dem Umstieg auf erneuerbare Energieträger oder der CO2-Abscheidung und -Speicherung (CCS) (ebd.). Indessen postuliert das Konzept des Rebound-Effekts, dass ein Kausalverhältnis zwischen der Steigerung der Effizienz und der Steigerung der Expansion bzw. Nachfrage besteht: Ein Rebound-Effekt ist definiert als eine Steigerung der (Energie-)Nachfrage, die durch eine Steigerung der (Energie-) Effizienz hervorgerufen wurde. Doch Rebound-Effekte werden bis heute in den meisten Energie- und Klimaschutzstudien und -politiken nicht angemessen berücksichtigt. Der fünfte Assessment Report des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) erwähnt rebounds zwar an mehreren Stellen, betont aber vor allem den mangelnden Forschungsstand zum Thema (IPCC 2014: 98; 249f., 390f.; 707f.; 1168f.). In ihrem jüngsten Sondergutachten zur Energieeffizienz widmet die IEA dem Rebound-Effekt mehrere Abschnitte, zieht aber widersprüchliche Schlussfolgerungen: Einerseits wird der Rebound-Effekt als »one of the most persistent challenges in energy efficiency policy« bezeichnet; andererseits wird konstatiert, dass »[w]here energy savings are ›taken back‹ in the achievement of health benefits, poverty alleviation, or improving productivity, the rebound effect can be viewed as having a net positive outcome« (IEA 2014: 20); womit unterstellt wird, dass Nachteile der Effizienzsteigerung – hier: der wachsende Verbrauch – gegen vorteilhafte Begleiterscheinungen (co-benefits) aufgerechnet werden könnten, so dass netto ein »Nutzengewinn« erfolge. Insgesamt erklärt die IEA Energieeffizienz als »a key tool for boosting economic and social development« (ebd.).
Uner wünschte Nebenfolgen der Effizienz Rebound-Effekte lassen sich auf unterschiedliche Mechanismen zurückführen. Zunächst können sie finanziell erklärt werden: Effizientere Technologien sparen häufig Geld ein, das man an anderer Stelle für Konsum oder Investitionen ausgeben kann. Wenn eine Autofahrerin von einem konventionellen PKW mit einem Spritverbrauch von sechs Litern pro 100 Kilometer auf ein Drei-LiterAuto umsteigt, kostet sie ihr Benzinverbrauch nur noch die Hälfte. Sie kann für das gleiche Geld nun doppelt so weit fahren. Genauso können Unternehmer_ innen durch Effizienzersparnisse kostenneutral mehr produzieren. In beiden Fällen hat die Verbesserung der Energieeffizienz keine effektive Einsparung von Energie zur Folge. Selbst wenn das gesparte Geld in weniger energieintensive Dienstleistungen investiert wird, etwa in Friseurbesuche oder Volkshochschulkurse, werden immer noch gewisse Rebound-Effekte eintreten. Denn in modernen Gesellschaften, die auf Massenproduktion und -konsum basieren, werden dann auch die Friseure oder Lehrerinnen mehr konsumieren. Zudem können materielle Rebound-Effekte auftreten, wenn die Herstellung effizienterer Geräte und Maschinen dazu führt, dass sich ein zunehmen-
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der Anteil des Energieverbrauchs vom Endkonsum in die Produktion verlagert. Um beispielsweise die tatsächliche Energiebilanz eines Elektroautos zu erstellen, reicht es nicht aus, lediglich auf dessen Verbrauch zu schauen. Auch der Energieaufwand für den Auf bau neuer Produktionsstätten und Stromtankstellen wird das Einsparpotenzial jedes einzelnen E-Autos reduzieren. Derzeit entfallen durchschnittlich 20 % des Energieverbrauchs eines Autos auf die Produktion und 80 % auf die Nutzung. Werden beispielsweise mehr Quecksilber oder Leichtbauteile aus Aluminium in hocheffizienten Fahrzeugen eingesetzt, steigt der produktionsbedingte Energieverbrauch. Drittens lassen sich Rebound-Effekte motivational erklären. Denn effizientere Produkte verändern unter Umständen nicht nur ihre technischen, sondern auch ihre symbolischen Eigenschaften. Autofahrer_innen, die sich einen ihrer Meinung nach umwelt- und klimaschonenden PKW zugelegt haben (z.B. ein Hybridauto), könnten nun häufiger bzw. weitere Strecken fahren, weil sich ihre Einstellung oder ihr Verantwortungsgefühl gegenüber der Autonutzung verändert hat. Beispielsweise können sie nun der Meinung sein, die Investition in ein energieeffizientes Fahrzeug rechtfertige dessen intensivere Nutzung; oder sie empfinden, dass sie ihre Verantwortlichkeit auf die Ingenieure des Fahrzeugs verlagert haben; oder sie verspüren weniger soziale Stigmatisierung der Autonutzung aus dem Freundes- und Bekanntenkreis. Zahlreiche umweltpsychologische Studien legen nahe, dass manche Verbraucher_innen nach dem Konsum ›ethischer‹ Produkte an anderer Stelle durch vermehrten Konsum ›unethischer‹ Produkte reagieren (z.B. Khan/Dhar 2006; Longoni et al. 2014). Ferner geht die Steigerung der Energieeffizienz insbesondere im Verkehrs- und Kommunikationsbereich mit strukturellen Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft einher. Zwei Jahrhunderte der technologischen Entwicklung von Verkehrstechnologien – von der Pferdedroschke über die Eisenbahn, Pkw und Flugzeug – machen deutlich, wie die enormen Energieeffizienzsteigerungen bei der Fortbewegung von Waren und Passagieren zu einer Beschleunigung des Lebenstempos und der Umschlagszeit von Kapital beigetragen haben. Im Ergebnis ist nicht nur die Fortbewegung pro Kilometer energieintensiver geworden, sondern es sind gesellschaftliche Strukturen entstanden (z.B. Vororte mit Berufspendler_innen, Supermärkte auf der grünen Wiese usw.), die eine raschere Fortbewegung über weite Distanzen erforderlich machen. Ähnliche strukturelle Rebound-Effekte konnten in den vergangenen Jahrzehnten im Bereich der Kommunikation beobachtet werden: Von der Mitte des 20. Jahrhunderts bis heute ist die Energieeffizienz der Rechenleistung von Computern (performance per watt efficiency) um mehr als eine Billion Prozent gestiegen (Santarius 2015). Auch wenn die Rebound-Effekte dieser Effizienzrevolution noch nicht quantifiziert worden sind, dürfte unzweifelhaft sein, dass weder das Internet noch Laptops, Tablet-Computer oder Smart Phones
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ohne die beschriebene Effizienzrevolution in der Computertechnik hätten entwickelt werden können. Und ebenso unzweifelhaft erscheint es, dass es genau diese Medien waren und sind, die die historisch beispiellose Explosion zwischenmenschlicher Kommunikation ermöglicht und zur Beschleunigung des Lebens aber auch der Steigerung des Warenaustausches über größere Distanzen beigetragen haben. Bei der Berechnung des quantitativen Ausmaßes von Rebound-Effekten liegen noch erhebliche Unsicherheiten und vor allem große Lücken vor (Santarius 2014). Immerhin liefern mehrere Meta-Studien eine Auswertung der mikro- und makroökonomischen Einzeluntersuchungen, deren Zahl sich inzwischen auf weit über 100 empirische Studien erstreckt (z.B. Greening/Greene 1998; Sorrell 2007; Maxwell/McAndrew 2011). Aus ihnen lässt sich als Anhaltspunkt die Faustformel fifty-fifty ableiten: Langfristig und im Mittel ist mit gesamtwirtschaftlichen (ökonomischen) Rebound-Effekten von mindestens 50 % zu rechnen. Mit anderen Worten, im Schnitt werden Energieeffizienzsteigerungen einer Wirtschaft höchstens die Hälfte des theoretischen Einsparpotenzials von Effizienztechnologien und -maßnahmen realisieren, mitunter auch weniger. Technologie- und Innovationsoffensiven werden also allein nicht ausreichen, um in den Industrieländern bis 2050 die Treibhausgasemissionen um 80 % oder gar 90 % zu verringern. Das Konzept der »Effizienzrevolution« greift zu kurz. Jedoch sind deswegen die technischen und politischen Maßnahmen zur Steigerung der Energie- und Ressourceneffizienz nicht alle schlecht – im Gegenteil. Natürlich muss es darum gehen, Energie und Materialien möglichst sparsam einzusetzen. Es gibt keinen plausiblen Grund, statt einer konsequenten Dämmung von Häusern und Wohnungen die Wärme weiterhin zum Fenster und undichte Dächer hinaus zu heizen. Aber als ›unerwünschte Nebenwirkungen‹ der Effizienzrevolution zeigen Rebound-Effekte die Wachstumsgrenzen des Systems auf. Erst wenn die Wirtschaft aufhört zu wachsen, können Effizienzstrategien einen uneingeschränkt konstruktiven Beitrag zur Nachhaltigkeit leisten.
Literatur BMWI – Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (2010): Energy Concept for an Environmentally Sound, Reliable and Affordable Energy Supply. www.osce.org/eea/101047?download=true (23.06.2015). Greening, Lorna/Greene, David L. (1998): Energy Use, Technical Efficiency, and the Rebound Effect: A Review of the Literature. Oak Ridge: Oak Ridge National Laboratory. IEA – International Energy Agency (2009): World Energy Outlook 2009. Paris: IEA.
Effizienzrevolution
IEA – International Energy Agency (2014): Capturing the Multiple Benefits of Energy Efficiency. Paris: IEA. IPCC – Intergovernmental Panel on Climate Change (2014): Climate Change 2014: Mitigation of Climate Change. www.ipcc.ch/report/ar5/wg3 (23.06. 2015). Jevons, William Stanley (1865): The coal question: an inquiry concerning the progress of the nation, and the probable exhaustion of our coal-mines (published 1906 by A. W. Flux). London: Macmillan. Khan, Uzma/Dhar, Ravi (2006): Licensing Effect in Consumer Choice. In: Journal of Marketing Research 43(2): 259-266. Longoni, Chiara/Gollwitzer, Peter M./Oettingen, Gabriele (2014): A green paradox: Validating green choices has ironic effects on behavior, cognition, and perception. In: Journal of Experimental Social Psychology 50: 158-165. Maxwell, Dorothy/McAndrew, Laure (2011): Addressing the Rebound Effect. A report for the European Commission DG Environment. Brüssel. Santarius, Tilman (2014): Der Rebound-Effekt: ein blinder Fleck der sozialökologischen Gesellschaftstransformation. In: GAIA 23(2): 109-117. Santarius, Tilman (2015): Der Rebound-Effekt. Ökonomische, psychische und soziale Herausforderungen für die Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch. Weimar: Metropolis-Verlag. Sorrell, Steve (2007): The Rebound Effect: an assessment of the evidence for economy-wide energy savings from improved energy efficiency. London. WWF – World Wildlife Fund (Hg.) (2010): Modell Deutschland. Klimaschutz bis 2050. Vom Ziel her denken. Frankfurt a.M.: Fischer.
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Energiedemokratie Sören Becker, Matthias Naumann und Laura Weis Die Energiewende hin zu einer Nutzung erneuerbarer Energien stellt nicht nur einen technologischen Wandel dar, sondern bietet mit dezentralen und kleineren Erzeugungsanlagen auch die Chance für eine Demokratisierung der Energieversorgung. Damit werden Fragen der Verteilungs- und Beteiligungsgerechtigkeit für einen wesentlichen Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge neu gestellt, deren Beantwortung großen Einfluss auf einen wirksamen Klimaschutz haben wird.
Forderungen nach Energiedemokratie betreffen eine gerechte Verteilung der Kosten und des Nutzens der Energieversorgung ebenso wie den offenen Zugang zu politischen und unternehmerischen Entscheidungsprozessen im Energiebereich. Darüber hinaus stellt sich aber auch die Frage nach den grundsätzlichen Vorgaben für die Regelung des Zugangs zu und des Verbrauchs von Energie. Die von einer Gesellschaft an den Energiesektor formulierten Ziele bestimmen damit maßgeblich dessen Transformation und welche Interessen und Akteure sich bei der Energiewende durchsetzen können. Der Begriff Energiedemokratie wird häufig synonym mit Energiegerechtigkeit verwendet. Gemeinsam ist beiden Begriffen, dass sie die aktuellen Veränderungen im Energiesektor in allgemeine gesellschaftliche Verhältnisse einbetten und eine Orientierung für eine Alternative zur bisherigen fossilen und zentralisierten Energieversorgung entwickeln. Forderungen nach Energiedemokratie reichen dabei von einer fairen Verteilung von Kosten und Nutzen der Energieversorgung, über einen gesicherten Zugang zu ausreichend Energie für alle Menschen, bis hin zur Vergesellschaftung von Energieversorgungsunternehmen. Wie zahlreiche aktuelle Projekte in Europa zeigen, finden diese Forderungen durchaus praktischen Eingang in verschiedene Formen einer lokalen Energieversorgung (Kunze/Becker 2014).
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Energiedemokratie in Deutschland Energiedemokratie ist ein maßgebliches Thema sozialer Bewegungen, Gewerkschaften und politischer Stiftungen in unterschiedlichen Kontexten und mit verschiedenen Vorzeichen geprägt.1 In der bundesdeutschen Debatte steht der Begriff Energiedemokratie für einen Versuch, die auf Strom- und Wärmeerzeugung fokussierte Diskussion zu Energiethemen in Deutschland um Themen wie Verteilung von Kosten und Nutzen von Energieinfrastrukturen sowie die Beteiligung an energie- und klimapolitischen Entscheidungen zu erweitern. Energiedemokratie geht damit über die Forderung nach einem weiteren Ausbau erneuerbarer Energien hinaus und thematisiert Fragen danach, wer über Produktionsformen entscheidet und wie Kosten und Gewinne verteilt werden. Damit wird ein breiter Begriff von Demokratie verwendet, der eine Perspektive jenseits von Beteiligungsverfahren und Akzeptanzfragen entwickelt. Im Jahr 2013 diente Energiedemokratie beispielsweise als Slogan und inspirierendes Konzept bei der Mobilisierung für die Volksentscheide zur Rekommunalisierung der Energienetze in Berlin und Hamburg. Ein wichtiger Wegbereiter für das Konzept von Energiedemokratie in Deutschland ist Hermann Scheer, auch wenn er statt dem Begriff Energiedemokratie den der Energieautonomie ins Feld führt. Während es sich bei fossilen und nuklearen Kraftwerken in der Regel um Großtechnologien handelt, die mit hohen Investitionskosten, staatlichen Subventionen und zentralistischen Versorgungsstrukturen verbunden sind, können erneuerbare Technologien auch problemlos dezentral installiert und genutzt werden. Mit dem bisherigen auf fossilen und nuklearen Energieträgern beruhenden technischen System müssen Scheer zufolge auch die alten Akteure, vor allem transnationale Energieunternehmen, weichen, da diese die »strukturellen Gegner« der erneuerbaren Energien seien (Scheer 2005: 31). Das wünschenswerte Resultat ist laut Scheer eine technologische, ökonomische, politische und kulturelle »Energieautonomie« im Sinne einer Dezentralisierung von Produktion, Entscheidung und Besitz (ebd.). Er spricht in diesem Zusammenhang auch davon, dass jede »Techno-Logik« mit einer bestimmten »Sozio-Logik« einhergeht (ebd.). Diese Vorstellung ist auch innerhalb des Mainstreams weit verbreitet, die große Zahl an dezentralen Selbstversorgern – ob einzelne Haushalte oder ganze Dörfer – scheint Hermann Scheers Vision Recht zu geben. Zu nennen sind hier auch über 900 Energiegenossenschaften, in denen die Mitglieder nach dem Prinzip »Ein Anteil – eine Stimme« zusammenarbeiten. Im Jahr 2013 haben nur fünf Prozent der installierten erneuerbaren Kapazitäten den großen vier Stromversorgern gehört, während knapp die Hälfte im Besitz von Bürger_innen war 1 | Der Beitrag geht auf die im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung erstellte Studie »Energiedemokratie« (Weis et al. 2015) zurück.
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(vgl. Trend: Research/Leuphana Universität Lüneburg 2013). Allerdings zeigt die Diskussion um steigende Energiekosten und darum, wer die Hauptlast der Umlage von Kosten für den durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) geförderten Ausbau erneuerbarer Energieträger leisten muss, ebenso wie der zunehmende Anteil von überregionalen Finanzinvestor_innen bei der Entwicklung von Energieinfrastrukturen, dass die technische Dezentralisierung der Energieversorgung nur ein Teil einer demokratischen und lokal verankerten Umgestaltung des Energiesystems sein kann. Während die Idee lokaler Selbstversorgung und Energieautonomie in der Bundesrepublik mittlerweile in die Mitte des gesellschaftlichen Diskurses gerückt ist, wird Energiedemokratie in der Klimabewegung auf globaler Ebene und mit weitergehenden Bezügen diskutiert. Die Forderung vor allem von sozialen Bewegungen nach Energiedemokratie kann als eine strategische Weiterentwicklung des Begriffs der Klimagerechtigkeit gesehen werden, indem sie mit Auseinandersetzungen um Energie »tatsächliche soziale Kämpfe« in den Blick nimmt, »die direkt oder zumindest indirekt klimarelevant sind« (Müller 2011: 19). Auf dem Lausitzer Klima- und Energiecamp 2012 wurde der Begriff Energiedemokratie durch die Teilnehmer_innen wie folgt definiert: »Energiedemokratie bedeutet, sicherzustellen, dass jede_r Zugang zu genug Energie hat. Die Energie muss jedoch so produziert werden, dass sie weder Umwelt noch Menschen schädigt oder gefährdet. Das bedeutet konkret, fossile Rohstoffe im Boden zu lassen, Produktionsmittel zu vergesellschaften und demokratisieren und unsere Einstellung zum Energieverbrauch zu ändern.« (Büro für eine demokratische Energiewende 2015: o.S.) In einem Buch zum Thema »Energieversorgung in Bürgerhand« vom Netzwerk attac wird die Entmachtung der großen Energiekonzerne als grundlegende Voraussetzung für Energiedemokratie gesehen: »Wer für eine soziale, ökologische und demokratische Energieversorgung eintritt, muss die Eigentumsverhältnisse im Vierstromland in Frage stellen. Die vier Riesen müssen weg!« (Methmann et al. 2008: 7). Damit besteht ein Spannungsfeld zwischen der Verankerung von »autonomen« und dezentralen Organisationsformen wie Genossenschaften im Mainstream des Energiewendediskurses und weitergehenden Ansprüchen, wie sie etwa von der Klimabewegung formuliert werden. Dieses materialisiert sich in Fragen danach, ob beispielsweise Rekommunalisierungen tatsächlich demokratische Prozesse nach sich ziehen und die Beteiligung der Bürger_innen an Gewinnen und Entscheidungen erhöhen, oder inwieweit die Mitgliedsbeiträge in Energiegenossenschaften nicht eine soziale Beteiligungsbarriere bedeuten. Um bereits existierende neue Organisationsformen im Energiesektor besser zu verstehen und auf ihren demokratischen Charakter zu hinterfragen, sind analytische Kriterien hilfreich, die aus der internationalen Debatte um Energiegerechtigkeit abgeleitet werden können.
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Energiedemokratie und energy justice international Obwohl Energiedemokratie in Deutschland in vielen Städten und Gemeinden als Forderung für eine Energieversorgung mit umfassender Beteiligung der Bürger_innen eine Rolle spielt, taucht der Begriff in der deutschsprachigen akademischen Debatte bislang nicht auf. Erste Publikationen beziehen sich vor allem auf aktivistische Debatten (vgl. Kunze/Becker 2014; Müller 2011; Weis et al. 2015); demgegenüber gibt es in Großbritannien und den USA eine Debatte um energy justice (vgl. Bickerstaff et al. 2013), die ähnliche Fragen behandelt. Ausgangspunkt der Debatte um eine Bestimmung von energy justice ist die Einschätzung, dass die bisherige Energieforschung Fragen der Gerechtigkeit nicht ausreichend adressiert hat. Besonders in den USA wird hier an die Tradition der Umweltgerechtigkeit angeschlossen, deren zentrale These es ist, dass sich benachteiligte Bevölkerungsgruppen, besonders ethnische Minderheiten und finanzschwache Haushalte in Städten, überdurchschnittlich häufig in direkter Nachbarschaft zu technischen Gefährdungen befinden (Robbins 2012: 74). Auf Energieanlagen bezogen, werden damit Fragen nach deren – räumlicher und sozialer – Verteilung, den damit verbundenen Kosten und Gewinnen sowie nach der Beteiligung an Standortentscheidungen aufgeworfen. So schreibt das US-amerikanische Energy Justice Network in seinem Selbstverständnis: »Wir denken, dass Energiefragen schwerwiegende Folgen für viele andere ökologische Bereiche haben von der Landwirtschaft bis hin zum Abfall. Wir sind der Überzeugung, dass einkommensschwache Bevölkerungsgruppen und ethnische Minderheiten am stärksten von den Belastungen von Energieanlagen betroffen sind.« (Energy Justice Network 2015: o.S.) In Großbritannien und Osteuropa ist dagegen die Betrachtung von Energiearmut bei Forderungen nach Energiedemokratie bestimmend (Boardman 2010; Buzar 2007), der vor allem die Kosten für Elektrizität und Wärme und deren Belastung für private Haushalte diskutiert. Hier ist der Zugang zu Energie zentral und die Frage, welche Bevölkerungsgruppen, Regionen oder Stadtteile überdurchschnittlich von Energiearmut betroffen sind. Ein dritter Strang, aus dem sich die Debatte um Energiegerechtigkeit bzw. -demokratie speist, ist Klimagerechtigkeit oder climate justice (vgl. Bedall 2014). Der Kern dieses Konzeptes besteht in der Thematisierung der ungleichen Verteilung der Folgen des Klimawandels sowohl zwischen dem Globalen Süden und Globalen Norden wie auch zwischen Arm und Reich innerhalb einzelner Länder. Hierbei spielt die Energieversorgung – sowohl als Verursacher von Emissionen und der Nutzung von natürlichen Ressourcen wie auch als wichtiges Element von Bemühungen um Klimaschutz – eine entscheidende Rolle. Die internationale Debatte um energy justice rückt Fragen von Energieverteilung, Zugang zu Energie und Beteiligung an der Energiewende in den
Energiedemokratie
Fokus der Energieforschung und thematisiert damit Machtasymmetrien und räumliche Ungleichheiten entlang von Energiesystemen. Dabei wird von einer engen Verzahnung unterschiedlicher Dimensionen von Gerechtigkeit ausgegangen. Hinter der ungleichen Verteilung und Beteiligungsmöglichkeiten steht für kritische Wissenschaftler wie Erik Swyngedouw und Nik Heynen (2003) die systemisch bedingte Produktion von Ungleichheiten im Kapitalismus. Die Realisierung von Energiedemokratie steht damit vor der grundsätzlichen Schwierigkeit, unter den Bedingungen struktureller Ungleichheiten gerechte Formen von Beteiligung und Verteilung im Energiesektor zu schaffen. Insgesamt lassen sich dabei drei Dimensionen von Energiegerechtigkeit unterscheiden. Prozedurale Gerechtigkeit umfasst Fragen danach, wer an der Planung und Gestaltung von Energiesystemen beteiligt bzw. ausgeschlossen ist. Distributive Gerechtigkeit thematisiert die Verteilung der Kosten und Gewinne der Energieversorgung zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen und Regionen. Schließlich behandelt systemische Gerechtigkeit die gesellschaftlichen Verhältnisse, die für eine ungleiche Entwicklung von Regionen und Beteiligungsmöglichkeiten im Energiesektor verantwortlich sind (vgl. Fuller/Bulkeley 2013).
Perspektive Energiedemokratie? Die deutsche Energiewende verändert nicht nur die technologische und räumliche Struktur der Energieversorgung, sie hat auch konkrete und beobachtbare soziale Verteilungseffekte. Energiepreise, Entgeltregulationen, staatliche Subventionen und Standortentscheidungen für Anlagen erneuerbarer Energien bestimmen maßgeblich darüber, wer von der Energiewende profitiert und wer nicht. Damit die Energiewende ein demokratischer Prozess werden kann, bedarf es einer Rahmensetzung für gesellschaftliche Entscheidungsprozesse, die über die politische Beteiligung der Bevölkerung an kommunalen Planverfahren und die finanzielle Beteiligung an Bürgerenergiegenossenschaften weit hinausgeht. Diskussionen über Demokratie drehen sich seit der Antike um die Frage, ob Demokratie durch Prozesse oder ihr Wesen, ihre Substanz definiert werden kann. Energiedemokratie braucht beides. In einem breiten Beteiligungsverfahren, das auf unterschiedlichen räumlichen Maßstabsebenen – von kommunal bis transnational – alle gesellschaftlichen Gruppen und deren Interessen einbindet, müssen substanzielle ökologische und soziale Ziele definiert werden. Die Energiewende wird nur ein Erfolg, wenn sie sich am Gemeinwohl und damit an Demokratie und Gerechtigkeit orientiert. Hierfür können Energieversorger, die sowohl einer direkten demokratischen Kontrolle unterliegen als auch konkreten, aber auch langfristigen Vorgaben einer sozialen und ökologischen Energiewirtschaft folgen, einen wichtigen Beitrag leisten.
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Weblinks Das Energy Justice Network ist eine NRO mit Sitz in Philadelphia (USA), die aus der environmental justice-Bewegung hervorgegangen ist: www.energyjustice. net Das EU Fuel Poverty Network ist ein europäisches Netzwerk aus Forschung und Praxis zum Thema Energiearmut: http://fuelpoverty.eu
Literatur Bedall, Philipp (2014): Climate Justice vs. Klimaneoliberalismus? Klimadiskurse im Spannungsfeld von Hegemonie und Gegen-Hegemonie. Bielefeld: transcript. Bickerstaff, Karen/Walker, Gordon/Bulkeley, Harriet (Hg.) (2013): Energy Justice in a Changing Climate. Social Equity and Low-Carbon Energy. London, New York: Zed Books. Boardman, Brenda (2010): Fixing Fuel Poverty. London: Earthscan. Büro für eine demokratische Energiewende (2015): Was ist Energiedemokratie? http://energie-demokratie.de/energiedemokratie (20.05 2015). Buzar, Stefan (2007): Energy Poverty in Eastern Europe: Hidden Geographies of Deprivation. Aldershot: Ashgate. Energy Justice Network (2015): About Energy Justice Network. www.energyjus tice.net/about (20.05.2015). Fuller, Sara/Bulkeley, Harriet (2013): Energy Justice and the Low-Carbon Transition. Assessing Low-Carbon Community Programmes in the UK. In: Bickerstaff, Karen/Walker, Gordon/Bulkeley, Harriet (Hg.) (2013): Energy Justice in a Changing Climate. Social Equity and Low-Carbon Energy. London, New York: Zed Books: 61-78. Kunze, Conrad/Becker, Sören (2014): Energiedemokratie in Europa. Bestandsaufnahme und Ausblick. Brüssel: Regionalbüro Rosa-Luxemburg-Stiftung. Methmann, Chris/Sander, Henrik/Sundermann, Jutta (2008): Power to the People! Den Stromkonzernen den Stecker ziehen! Hamburg: VSA. Müller, Tadzio (2011): Von der Klimagerechtigkeit zur Energiedemokratie. Für’s Klima kämpfen, ohne vom Klima zu reden. In: Forum Wissenschaft 28(4): 19-22. Robbins, Paul (2012): Political Ecology. A Critical Introduction. Oxford: Wiley-Blackwell. Scheer, Hermann (2005): Energieautonomie. Eine neue Politik für erneuerbare Energien. München: Antje Kunstmann. Swyngedouw, Erik/Heynen, Nik (2003): Urban Political Ecology, Justice and the Politics of Scale. In: Antipode: A Journal of Radical Geography 35(5): 898918.
Energiedemokratie
Trend:Research/Leuphana Universität Lüneburg (2013): Definition und Marktanalyse von Bürgerenergie in Deutschland. http://100-prozent-erneuerbar. de/wp-content/uploads/2013/10/Definition-und-Marktanalyse-von-B%C3% BCrgerenergie-in-Deutschland.pdf (20.05.2015). Weis, Laura/Becker, Sören/Naumann, Matthias (2015): Energiedemokratie. Grundlage und Perspektive einer kritischen Energieforschung. Berlin: RosaLuxemburg-Stiftung.
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Energieeffiziente Kocher Harry Hoffmann
Den Einsatz von energieeffizienten Kochern im Globalen Süden, um das Kochen mit Brennholz über offenem Feuer zu vermeiden, betrachten internationale Entwicklungsorganisationen und NROs als multiple-win-Lösung. Ziel ist neben dem reduzierten Energieverbrauch und damit Klimaschutz auch die Vermeidung einer nichtnachhaltigen Waldnutzung, reduzierte Gesundheits- und Arbeitsbelastung sowie ggf. Kostenreduktion. Die erhofften Minderungsraten werden hypothetisch berechnet und konnten bisher über längere Zeiträume nur in Einzelfällen verifiziert werden. Ungeklärt bleibt, wie diese technische Innovation in die lokal sehr unterschiedlichen und stets komplexen kulturellen, sozialen und ökologischen Wirkungsgefüge optimal eingeführt werden kann.
Sauber, grün und gesund kochen Der Begriff der energieeffizienten Kocher, im Englischen unter anderem als improved cookstoves, clean cookstoves oder non-traditional cook stoves bezeichnet, ist in der öffentlichen Debatte sehr positiv besetzt und steht für eine multiple-win-Lösungsstrategie zur Überwindung zahlreicher Entwicklungshemmnisse der armen Bevölkerung im Globalen Süden, vor allem aber im südlichen Afrika (Urmee/Gyamfi 2014). Zu den Problemen, verursacht durch traditionelles Kochen, gehören Atemwegserkrankungen durch das Einatmen von Rauch, Arbeitsbelastung durch das Sammeln und Tragen von Feuerholz (auf dem Land) und zunehmende Haushaltsausgaben durch den Kauf von Holzkohle (in Städten) sowie die Zerstörung von Ökosystemen (Wald) durch eine nicht nachhaltige Brennholzgewinnung und Holzkohleproduktion. Die Idee, energieeffiziente, raucharme Kocher einzusetzen, ist im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit nicht neu, hat aber im internationalen Kontext der Einsparung von Treibhausgasemissionen neue Relevanz und Dynamik erlangt. Die Ausgabe bzw. der Einsatz entsprechender Kocher befindet sich somit an der Schnittstelle vieler entwicklungspolitisch relevanter Kernthemen, wie beispielweise Ressourcen- und Klimaschutz, Gesundheit, Geschlechter-
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gerechtigkeit, ökonomische und landwirtschaftliche Entwicklung sowie Ernährungssicherung. Erste Versuche zum Einsatz entsprechender Kocher starteten in den späten 1970er Jahren und wurden seitdem mit wechselndem Fokus vorangetrieben. In den Anfangsjahren legitimierte vor allem die Debatte um den sogenannten fuelwood gap (Feuerholzlücke) Programme zur Förderung energieeffizienter Kocher (Hiemstra-van der Horst/Hovorka 2009; Maes/Verbist 2012), später standen dann die Atemweggesundheit der meist weiblichen Köch_innen (die WHO nennt 2006 1,6 Millionen Todesfälle für das Jahr 2000) sowie zunehmend der Klimawandel als maßgebliche Treiber im Vordergrund (Hoffmann et al. 2015; Simon et al. 2012). UN-Generalsekretär Ban Ki-moon hob beim Weltklimagipfel 2009 in Kopenhagen bei einer Ansprache zum Welternährungsprogamm in diesem Zusammenhang hervor: »A Safe Stove performs double duty by addressing both the causes and consequences of climate change. A fuel efficient stove requires significantly less firewood, which means preserving trees and reducing emissions, including black carbon. Fuel-efficient stoves like this are a critical step towards reducing air pollution and environmental degradation.« (Ki-Moon 2009: o.S.) Entsprechende Programme zur Verteilung und Nutzung energieeffizienter Kocher führten allerdings lange ein Nischendasein, werden auch heute noch nicht von Entwicklungshilfeorganisationen als prioritär betrachtet und verfügen im Vergleich zu Entwicklungshilfeprogrammen im Gesundheitsbereich nur über geringes Förderkapital (Kees/Feldmann 2011). Ein Grund hierfür ist sicher die durchwachsene Erfolgsbilanz vieler Initiativen (Johnson/Bryden 2012). Eine detaillierte globale Erfassung der Anzahl von effizienten Kochern, deren tatsächlicher Einsatz und ihr gesundheitlicher, sozialer, ökonomischer und ökologischer Effekt liegt bislang nicht vor, da clean cooking meist als kleines Segment in weitreichendere Entwicklungsprogramme eingebunden ist (Murphy 2001) und daher mit geringer Priorität behandelt wird. Falls eine globale Erfassung angestrebt wird, beinhaltet diese nur die größten Programme (Urmee/Gyamfi 2014). Allerdings wurde diesen Ansätzen in den letzten Jahren z.B. durch die Gründung der Global Alliance for Clean Cookstoves (GACC) im Jahre 2010 unter der Schirmherrschaft der damaligen US-Außenministerin Hillary Clinton und der Sustainable Energy for All Kampagne (SE4ALL) der Vereinten Nationen (Hoffmann/Uckert 2014) zunehmend Aufmerksamkeit zuteil. »People have cooked over open fires and dirty stoves for all of human history, but the simple fact is they are slowly killing millions of people and polluting the environment. […] But today, because of technological breakthroughs, new carbon financing tools, and growing private sector engagement, we can finally envision a future in which open fires and dirty stoves are replaced by clean, efficient, and affordable stoves and fuels all over the world […].« (Clinton 2010: o.S.)
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Ziel von GACC ist es, bis 2020 weltweit an 100 Millionen Haushalte cleanand-green cook stoves zum Preis von maximal 25 $ zu vertreiben. Der Beigeordnete des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge, Alexander Aleinikoff, kritisiert, dass effiziente Kocher nicht für die Menschen gemacht sind, die diese nutzen sollen, und zweifelt deren Effektivität, vor allem bei der Verbreitung in Flüchtlingslagern, an: »We’re in the situation where everybody and his brother has invented a cookstove and none of them have really worked well for us. […] The stoves that we get are from people who sat in laboratories and said ›gee, this kind of gas is very efficient‹. But what does it cook? What is the food refugees want to cook? When do they cook it? How does it fit into their social and cultural patterns?« (The Guardian 2014: o.S.)
Energieeffizienzkocher nicht immer effektiv Der Verbreitung effizienter Kocher – dies beinhaltet zum einen überhaupt den Einsatz von Biomasse-Kochern als Ersatz für das Kochen über dem offenen Feuer (Feuerholz), zum anderen den Ersatz ineffizienter traditioneller Holzkohlekocher durch verbesserte Modelle (z.B. bessere Isolation) – wird in der Debatte um die Reduzierung des Ausstoßes von Klimagasen eine immer größere Bedeutung zugesprochen (Simon et al. 2012). Eine aktuelle Studie zeigt, dass die globalen Emissionen durch die traditionelle energetische Nutzung von Biomasse (vor allem Feuerholz und Holzkohle) über eine Gigatonne CO2 pro Jahr betragen (ca. 2 % der Globalemissionen) (Bailis et al. 2015). Eine erfolgreiche Verteilung von 100 Millionen energieeffizienten Kochern könnte demnach hypothetisch bis zu 17 % der entsprechenden biomasseindizierten Emissionen einsparen. Die Autoren dieser Studie heben allerdings hervor, dass solche globalen Berechnungen, die für große Zeiträume und für unterschiedliche soziale Gruppen und Regionen gelten sollen, komplex sind. Ein Grund unter vielen sind massive Datenlücken hinsichtlich Adaptionsstudien von effizienten Kochern, aber auch hinsichtlich des generellen Verbrauchs traditioneller Energieträger (Lewis/Pattanayak 2012). Allerdings gibt es – zumindest in der Forschung – durchaus Hinweise, dass eine holistischere Betrachtung der tatsächlichen Nutzungsraten und Einsparpotenziale auf dem Vormarsch ist. Gregory Simon, Adam Bumpus und Philip Mann stellen zum Beispiel in ihrer Evaluation klar, dass kein kausaler Zusammenhang zwischen effizienten Kochern und einer signifikanten Reduktion von Emissionen vorliegt (Simon et al. 2014). Eine Erklärung ist wahrscheinlich, dass die Gründe, warum Organisationen effiziente Kocher verteilen, und die Nutzungsgründe der Endabnehmer inkongruent sind (Bielecki/ Wingenbach 2014). Auf lokaler und regionaler Ebene liegen Studien vor, die jene postulierten mittel- bis langfristigen Erfolge kritisch hinterfragen und teilweise zu ab-
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weichenden Ergebnissen kommen. Ein Beispiel hierfür stellt eine viel zitierte Studie des Massachusetts Institute of Technology aus Orissa, Indien, dar, die explizit die langfristigen Veränderungen von sowohl innerhäuslicher Luftverschmutzung als auch Verbrauch von Brennmaterial untersucht und, trotz anfänglicher Verbesserungen, nach vier Jahren keinerlei positive Änderung genannter Parameter feststellen konnte (Hanna et al. 2012). Eine andere Studie aus Mexiko unterstreicht diese Veränderungen der Nutzungsraten im Laufe der Zeit und kommt zu dem Ergebnis, dass vier Monate nach Ausgabe der effizienten Kocher die höchsten Nutzungsraten zu verzeichnen sind und danach eine Verminderung einsetzt (Pine et al. 2011). Eine weitere Herausforderung für eine realistische Bewertung der zu erwartenden Emissionsminderungen ist der in der Projektplanung übliche Transfer von Laborwerten in die Realität, obwohl ein Einsatz unter realistischen Bedingungen häufig die Effizienzgrade der Kocher stark vermindert (Bentson et al. 2013; The Guardian 2014). Sie zeigen, dass der Gebrauch der Kocher auch von ihren zusätzlichen Funktionen in hohem Maße abhängig sind (u.a. Wärmen, Licht Spenden, Insektenschutz durch entweichenden Rauch, veränderter Geschmack der zubereiteten Speisen). Und gerade hier schneidet das Kochen über offenen Feuerstellen aus Sicht vieler Nutzer_innen oft besser ab. Eine weitere Studie zur Effektivität von effizienten Kochern zeigt außerdem, dass ein weitverbreitetes technisches Problem bei afrikanischen Programmen die schlechte Anpassung von Kochtopf und Kocher ist und somit größere oder kleine Portionen nicht einfach auf dem energieeffizienten Kocher zubereitet werden können (Urmee/Gyamfi 2014). Gerade dieser Aspekt kann dazu führen, dass entsprechende Kocher von den eigentlichen Zielgruppen als sinnlos und negativ eingestuft und somit abgelehnt werden.
Energieeffizienzkocher als Element des Emissionskompensationsmarktes Neben der Hoffnung auf positive Effekte für Gesundheit, Einkommen und Umwelt sind die UN-Instrumente der Klimaschutzfinanzierung ein wichtiger Treiber der Effizienzkochereuphorie. Ein Grund, warum gerade das Konzept der energieeffizienten Kocher bei der Klimaschutzfinanzierung (Clean Development Mechanism, CDM) so beliebt ist: Sauberes Kochen ist einfach umsetzbar, anwendbar und einleuchtend – und lässt sich damit hervorragend in den Geberländern kommunizieren. Im Rahmen des CDM-Programms wird deutlich, dass es Anreize seitens der Implementierer gibt, die Wirksamkeit ihrer Programme in einem bestmöglichen Licht darzustellen, mit der Folge einer voraussichtlich überschätzten positiven Auswirkung von effizienten Kochern (Bailis et al. 2015). In seiner jetzigen Form birgt die Ausweitung entsprechender Programme allerdings eine
Energieeffiziente Kocher
Reihe von Risiken, welche eine nur kurzfristige Emissionsminderung und die entsprechende Ressourcenverschwendung beinhalten. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, ist grundsätzlich zwischen der Verteilung bzw. dem (subventionierten) Verkauf der Kocher und ihrer langfristigen Nutzung zu unterscheiden, da der Besitz eines energieeffizienten Kochers nicht zwangsläufig seine Nutzung bzw. seine ausschließliche Nutzung zur Folge hat. Im Rahmen der Klimabilanz ist zudem der sogenannte Rebound Effekt in Betracht zu ziehen: Eine Verringerung des Energieverbrauchs kann dazu führen, dass z.B. ein zweiter Kocher angeschafft, länger gekocht wird (Mwampamba et al. 2013) oder andere emissionsintensive Güter und Dienstleistungen konsumiert werden. Und hier stellt sich die Frage nach den impliziten Entwicklungs- und Wohlstandsvorstellungen der Geberländer gegenüber den sogenannten Entwicklungsländern. Die langfristigen Kalkulationen der CO2Einsparungen durch den Gebrauch von energieeffizienten Kochern setzt voraus, dass in dieser Zeit keine wesentlichen Veränderungen der Alltagspraxis der Reproduktion stattfindet, dass das Geschlechterrollenmodell der Haushaltsführung fortgesetzt und Ernährung mit minimalem Ressourceneinsatz innerhalb von Familienstrukturen gewährleistet wird. Mit Blick auf Entwicklungsideale, die durch Nachhaltigkeit und globale Gerechtigkeit gekennzeichnet sind, erscheint die Hoffnung, dass sich Millionen von Haushalte (genauer die Frauen, die die Kocher benutzen) mit effizienten Kochern als Zukunftsperspektive begnügen, unrealistisch, vor allem wenn zunehmendes Bevölkerungswachstum, fortschreitende Ressourcendegradierung und Klimawandel einbezogen werden. Es bleibt festzustellen, dass aus Sicht der Implementierer und Projektentwickler die Verteilung von effizienten Kochern durchaus Sinn macht, diese aber von langfristigen und externen Evaluationen begleitet sein müssen, welche die tatsächliche Minderung bestätigen.
Weblinks Wiki-basierte Plattform zu nachhaltiger Energieversorgung und Energieffizienz in Entwicklungsländern: https://energypedia.info Hintergrundinformationen und Beispielprojekte der Global Alliance for Clean Cookstoves: http://cleancookstoves.org
Literatur Bailis, Robert/Drigo, Rudi/Ghilardi, Adrian/Masera, Omar (2015): The Carbon Footprint of Traditional Woodfuels. In: Nature Climate Change 5: 266-272. Bentson, Samuel/Still, Dean/Thompson, Ryan/Grabow, Kelley (2013): The Influence of Initial Fuel Load on Fuel to Cook for Batch Loaded Charcoal Cookstoves. In: Energy for sustainable development 17(2): 153-157.
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Bielecki, Christopher/Wingenbach, Gary (2014): Rethinking Improved Cookstove Diffusion Programs: A Case Study of Social Perceptions and Cooking Choices in Rural Guatemala. In: Energy Policy 66: 350-358. Clinton, Hillary R. (2010): Remarks on Global Alliance for Clean Cookstoves at the Clinton Global Initiative. www.state.gov/secretary/20092013clinton/ rm/2010/09/147500.htm (01.05.2015). Hanna, Rema/Duflo, Esther/Greenstone, Michael (2012): Up in Smoke: The Influence of Household Behavior on the Long-Run Impact of Improved Cooking Stoves. Massachusetts: MIT. Hiemstra-van der Horst, Greg/Hovorka, Alice J. (2009): Fuelwood: The »Other« Renewable Energy Source for Africa? In: Biomass & Bioenergy 33(11): 16051616. Hoffmann, Harry/Uckert, Götz (2014): Die UN-Initiative »Nachhaltige Energie für alle«. Entstehung, Einordnung und Aussichten. In: Zeitschrift Vereinte Nationen 3(2014): 51-56. Hoffmann, Harry/Uckert, Götz/Reif, Constance/Müller, Klaus/Sieber, Stefan (2015): Traditional Biomass Energy Consumption and the Potential Introduction of Firewood Efficient Stoves: Insights from Western Tanzania. In: Regional Environmental Change: online first 24. January 2015. Johnson, Nathan G./Bryden, Kenneth M. (2012): Energy Supply and Use in a Rural West African Village. In: Energy 43(1): 283-292. Kees, Marlis/Feldmann, Lisa (2011): The Role of Donor Organisations in Promoting Energy Efficient Cook Stoves. In: Energy policy 39(12): 7595-7599. Ki-Moon, Ban (2009): Secretary-General’s Remarks at World Food Programe Safe Stoves Event. www.un.org/sg/statements/?nid=4305 (01.05.2015). Maes, Wouter H./Verbist, Bruno (2012): Increasing the Sustainability of Household Cooking in Developing Countries. Policy Implications. In: Renewable & Sustainable Energy Reviews 16(6): 4204-4221. Murphy, James T. (2001): Making the Energy Transition in Rural East Africa: Is Leapfrogging an Alternative? In: Technological Forecasting and Social Change 68(2): 173-193. Mwampamba, Tuyeni H./Ghilardi, Adrián/Sander, Klas/Chaix, Kim Jean (2013): Dispelling Common Misconceptions to Improve Attitudes and Policy Outlook on Charcoal in Developing Countries. In: Energy for sustainable development 17(2): 75-85. Pine, Kathleen/Edwards, Rufus/Masera, Omar/Schilmann, Astrid/Marrón-Mares, Adriana/Riojas-Rodríguez, Horacio (2011): Adoption and Use of Improved Biomass Stoves in Rural Mexico. In: Energy for sustainable development 15(2): 176-183. Simon, Gregory L./Bumpus, Adam G./Mann Philip (2012): Win-Win Scenarios at the Climate–Development Interface: Challenges and Opportunities for
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Energiewende Stefanie Baasch Die »Energiewende« wird von einem sehr heterogenen Akteursspektrum als zentraler Beitrag zu einer nachhal-tigen zukünftigen Entwicklung angepriesen. Die Zielsetzungen sind vielfältig und können je nach Prioritätensetzung im Konflikt stehen: Bekämpfung des globalen Klimawandels, Schaffung von Arbeitsplätzen, Generierung regionaler Wertschöpfung, Abkehr von Risikotechnologien (Atomkraft), dauerhafte Sicherung der Energieversorgung etc. Oft behindern immer noch die bisherigen Profiteure der fossilen und nuklearen Energiegeneration (v.a. energieintensive Industrien, fossile Energieerzeuger) die Umstellung auf erneuerbare Energien.
»Energiewende« als Abkehr von endlichen Ressourcen und risikobehafteten Technologien Der Begriff Energiewende (energy transition) beschreibt den Übergang zu einer überwiegend auf erneuerbaren Energien basierenden Strom- und Wärmeerzeugung und einer effizienteren Nutzung von Energie (Energieeffizienz). Die Energiewende ist dabei mit verschiedenen Zielsetzungen verknüpft. Erstens mit Klimaschutz durch die Reduzierung von Treibhausgasemissionen bei der Energieproduktion, zweitens mit der langfristigen Energieerzeugung durch ›unbegrenzt‹ zur Verfügung stehende Energieträger (Wind, Sonne, Wasser) und damit die Überwindung einer Abhängigkeit von endlichen fossilen Energieträgern. Allerdings werden für die Produktion und Verwendung von Windkraftanlagen, Photovoltaik-Panels und Speichersystemen sogenannte »Seltene Erden« benötigt, deren Förderung mit oft erheblichen Umweltbeeinträchtigungen einher geht (vor allem schadstoff belasteten Abwässern). Neben der Verbesserung von Förderbedingungen wird an der (Weiter-)Entwicklung von Recyclingverfahren, der effizienteren Verwendung von Rohstoffen und an Ersatzmaterialien gearbeitet (z.B. am Fraunhofer-Institut für Innovations- und Systemforschung). In Deutschland ist der Begriff Energiewende zusätzlich verbunden mit einem Ausstieg aus der Atomenergie, der erstmals im Jahr 2000 von der damaligen rot-grünen Bundesregierung beschlossen wurde. Im Herbst 2010
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wurde im Bundestag mit einer Stimmenmehrheit von CDU/CSU und FDP zunächst eine Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke verabschiedet. Im Juni 2011 wurde das Atomgesetz erneut modifiziert, ausgelöst durch eine veränderte Risikobewertung nach den Störfällen in japanischen Atomkraftwerken als Folge eines Erdbebens bzw. Tsunamis (»Fukushima«). Acht deutschen Atomkraftwerken wurden die Betriebsgenehmigungen sofort entzogen und für die neun verbleibenden Betriebsstilllegungen bis spätestens 2022 festgelegt. Der Begriff »Energiewende« wurde in einer 1980 erschienenen Studie des Öko-Instituts im programmatischen Buch »Energiewende – Wachstum und Wohlstand ohne Erdöl und Uran« in die öffentliche Debatte eingeführt. Die beteiligten Wissenschaftler_innen fordern darin eine Abkehr von der Nutzung der Atomenergie und fossiler Energieträger und zeigen, dass Wachstum und Wohlstand ohne Kernenergie und fossile Energieträger möglich sind. Der Auslöser dieser Debatte ist in der Anti-Atomkraftbewegung und den Folgewirkungen der Ölkrise und atomaren Störfällen zu sehen: »The German Energiewende did not just come about in 2011. It is rooted in the anti-nuclear movement of the 70s and brings together both conservatives and conservationists — from environmentalists to the church. The shock of the oil crisis and the meltdown in Chernobyl lead to the search for alternatives — and the invention of feed-in tariffs.« (Morris/Pehnt 2014: o.S.) In Debatten um die Kosten der Energiewende werden in öffentlichen und politischen Debatten oft einseitig die Kosten für den Ausbau erneuerbarer Energien berücksichtigt, nicht aber die Kosten für konventionelle Energieträger. Die Studie »Was Strom wirklich kostet« (Küchler/Meyer 2015) analysiert, welche staatlichen Förderungen und Folgekosten mit welchen Energieträgern verbunden sind: »Dies zeigt, dass einige erneuerbare Energien heute schon günstiger sind als konventionelle Energieträger, wenn außer dem Strompreis auch die Kosten von staatlichen Förderungen sowie die Kosten für Umweltund Klimabelastung sowie nukleare Risiken einbezogen werden. Dies sollte bei der Diskussion um ›bezahlbaren Strom‹ und der Debatte um die zukünftige Energieversorgung berücksichtigt werden.« (Küchler/Meyer 2015: 26)
Transformation von Energiesystemen International betrachtet, gibt es ›die‹ Energiewende nicht. Stattdessen zeigen sich in verschiedenen Ländern sehr unterschiedliche Entwicklungen, basierend u.a. auf den lokal verfügbaren Ressourcen, der vorhandenen Infrastruktur, den rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen und den politischen Zielsetzungen. Hier ein paar Beispiele: In Deutschland wurde und wird die Energiewende durch verschiedene Instrumente und Gesetze unterstützt. Auf rechtlicher Ebene wurde 1991 mit dem Stromeinspeisungsgesetz (StromEinspG) die Grundlage für eine Einspeisung erneuerbarer Energien ins Strom-
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netz geschaffen; allerdings ließen diese sich damals nicht zu konkurrenzfähigen Preisen produzieren. Das 1998 verabschiedete Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) führte die Liberalisierung des Energiemarktes ein, welches Verbaucher_innen ermöglichte, ihr Energieversorgungsunternehmen selbst und unabhängig vom Wohnort zu wählen. Im Zuge der Liberalisierung gründeten sich Ökostromanbieter wie Naturstrom, Greenpeace Energy und Lichtblick. Auch der deutschlandweit erste reine Ökostromanbieter, die 1994 von einer atomkraftkritischen Bürgerinitiative gegründeten Elektrizitätswerke Schönau GmbH, erweiterte sein bislang regionales Angebot auf das ganze Bundesgebiet. Ein weiterer Effekt des EnWG war eine Privatisierungswelle kommunaler Versorgungsunternehmen. Da die erhofften positiven wirtschaftlichen Effekte der Privatisierung ausgeblieben sind, zeichnet sich in den letzten Jahren ein Trend zur Rekommunalisierung ab (z.B. in Berlin, Hamburg und Stuttgart). Seit dem Jahr 2000 hat das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) durch die Festlegung von Einspeisevergütungen den Ausbau erneuerbarer Energien stark befördert. Das EEG ist mehrfach überarbeitet worden u.a. was die Höhe von Einspeisevergütungen anbelangt. Die Novellierung von 2014 hat starke Kritik bei Verbänden im erneuerbaren Energiebereich, Verbraucherschutzorganisationen und Umweltverbänden ausgelöst. Die Kritik richtet sich gegen: • die Einführung einer ›Sonnensteuer‹ für die Nutzung von Solarenergie aus Eigenanlagen (ausgenommen sind PV-Anlagen mit einer Leistung unter zehn Kilowatt, d.h. typische Solarstromanlagen auf Eigenheimen); • die Behinderung von regionalen Akteuren, z.B. Bürgerenergiegenossenschaften, durch eine Verpflichtung zur öffentlichen Ausschreibung des Anlagenbaus (mit hohen Planungskosten in den Ausschreibungsverfahren); • den Zwang zur Direktvermarktung von erneuerbarer Energie an der Leipziger Strombörse (European Energy Exchange, EEX), wodurch Strom ohne Herkunftsnachweise gehandelt wird und so die Stromkund_innen die Produktionsstätten nicht mehr nachvollziehen können; • Ausnahmeregelungen bzw. Befreiung von der EEG-Umlage für stromintensive Industrien und für den energetischen Eigenbedarf bei konventioneller Energieproduktion. Diese Punkte werden von Befürworter_innen einer schnellen Energiewende als Behinderung eines weiteren Ausbaus der erneuerbaren Energien und als eine ungerechte Kostenabwälzung auf Privatverbraucher_innen angesehen. Eine Reihe von Verordnungen richtet sich darüber hinaus auf eine Reduzierung des Energiebedarfs und damit der Treibhausemissionen nicht nur im Strom-, sondern auch im Wärmesektor. So soll die Einsparverordnung (EnEV) in der Fas-
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sung von 2013 dazu beitragen, dass der Gebäudebestand in Deutschland bis 2050 weitgehend klimaneutral wird. (→ Klimaneutralität). Der Anteil an erneuerbaren Energien im Stromsektor nimmt seit der Umsetzung des Stromeinspeisungsgesetzes stetig zu. 2014 erreichten erneuerbare Energien beim gesamten Bruttostromverbrauch einen Anteil von 27,8 % (Umweltbundesamt 2015). Die Zuwächse liegen in Deutschland in den Bereichen Windenergie (2014 im Vergleich zum Vorjahr mit + 8,3 %), Biomasse (+ 6 %) und Photovoltaik (+ 12,6 %). Die EU-Richtlinie für erneuerbare Energien (Renewable Energy Directive) 2009 legt den Rahmen für den Ausbau der erneuerbaren Energien fest. Bis zum Jahr 2020 sollen mindestens 20 % des Gesamtenergiebedarfs aus erneuerbaren Energien gedeckt werden und gleichzeitig 10 % der Treibstoffe aus erneuerbaren Quellen stammen. Die Umsetzung erfolgt auf nationalstaatlicher Ebene und unterliegt regelmäßigen Berichtspflichten. Die Bundesregierung hat zusätzliche Ziele formuliert. Sie will den Anteil erneuerbarer Energien (Sonne-, Wind-, Wasser- oder Meeresenergie, Biomasse und Biothermie) bis zum Jahr 2050 auf 80 % steigern und so zum Erreichen der deutschen Klimaschutzziele beitragen (vgl. BMUB 2014). Im internationalen Vergleich gibt es sehr unterschiedliche Anreizsysteme zur Energiewende. Weltweit sind die USA nach China auf dem zweiten Platz bei der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien (vgl. EIA 2013). Allerdings lag der Anteil erneuerbarer Energieträger bei der Gesamtstromerzeugung im Jahr 2013 lediglich bei 12,9 %, davon wurden über 60 % aus Wasserkraft erzeugt. Mit 39 % hatten Braunund Steinkohle als Energieträger 2013 den größten Anteil an der Gesamtstromerzeugung. In den USA gibt es keine nationalstaatlichen Gesetzesgebungen über Einspeisungsvergütungen, stattdessen existieren unterschiedliche Instrumente auf lokaler oder bundesstaatlicher Ebene (vgl. EIA 2013). In den sogenannten Schwellen- und Entwicklungsländern ist der Mechanismus für umweltverträgliche Entwicklung (Clean Development Mechanism – CDM) ein starker Treiber für die Nutzung erneuerbarer Energieträger. Die meisten CDM-Projekte wurden bisher in China, Indien und Brasilien umgesetzt (vgl. UNEP 2015). Zumeist handelt es sich dabei um Großprojekte im Bereich Wind- und Solarenergie und vor allem um Wasserkraftanlagen. Als problematisch hat sich das Fehlen von international verbindlichen Richtlinien für die Umweltverträglichkeit und die sozialen Auswirkungen in den jeweiligen Projektregionen erwiesen. Insbesondere Graswurzel-Organisationen wie z.B. Climate Justice Now!, lokale und indigene Initiativen sowie Entwicklungshilfeorganisationen verweisen auf negative Folgewirkungen von CDM-Großprojekten. Unter anderem zählen hierzu der Verlust von Landnutzungsrechten und Umsiedlungen, die Reduzierung von Flächen zum Nahrungspflanzenanbau, fehlende regionale Wertschöpfung und fehlende Mitsprache bei der lokalen Umsetzung. In den ärmsten Ländern der Welt (least developed countries) werden CDM-Projekte nur selten umgesetzt.
Energiewende
Energiewendestrategien in Deutschland: zentral oder dezentral? Die Produktion von erneuerbaren Energien, vor allem von Wind- und Solarenergie, unterliegt natürlichen Schwankungen, daher wird das Thema Versorgungssicherheit im Kontext erneuerbarer Energien kontrovers diskutiert. Es geht dabei unter anderem um die (Weiter-)Nutzung konventioneller Kraftwerke, der Entwicklung von Speichertechnologie und überregionalen bzw. internationalen Energiekooperationen (vgl. BMWI 2015). Auf dem deutschen Energiemarkt dominieren vier Großanbieter: RWE, E.ON, EnBW und Vattenfall mit einem Marktanteil von ca. 80 % der Stromerzeugung. Bis zur Novellierung des Energiewirtschaftsgesetzes (EnWG) 2005 waren diese vier Unternehmen auch die Betreiber der überregionalen Energieübertragungsnetze, was ihnen eine Oligopolstellung verschaffte. Durch die Gesetzesänderung wurde die Entflechtung von Stromerzeugern und Netzbetreibern verpflichtend und damit ein diskriminierungsfreier Zugang für Marktteilnehmer (Energieerzeuger) zum Übertragungsnetzbetrieb ermöglicht. Als Folge davon zogen sich RWE, E.ON und Vattenfall weitgehend aus dem überregionalen Netzbetrieb zurück. Derzeit gibt es in Deutschland folgende überregionale Energienetzbetreiber: TransnetBW (Tochtergesellschaft von EnBW), Tennet TSO, 50Hertz Transmission und Amprion. Für die Erzeugung erneuerbarer Energien gibt es zwei grundsätzliche Ausbaupfade. Die zentrale Ausbaustrategie setzt vornehmlich auf eine Stromerzeugung durch Großanlagen (wie Offshore-Windkraftparks) und ist mit der kontroversen Auseinandersetzung um den Ausbau des Übertragungsnetzes über lange Distanzen (z.B. SuedLink, die Windstromleitung von der Nordsee bis nach Bayern) verknüpft. Hauptargumente für die zentrale Strategie sind Versorgungssicherheit und eine stärkere europäische Vernetzung des Strommarktes (EU) zur effizienteren Nutzung erneuerbarer Energien (siehe Renewables Grid Initiative). Die dezentrale Strategie hingegen setzt auf eher kleinteilige Anlagen, Verbrauchernähe und eine Diversifizierung der Eigentümerverhältnisse, wie sie z.B. in Bürgerwindkraftanlagen zu finden sind (vgl. Stelter 2009). Ihre Befürworter_innen sehen die Vorteile in der regionalen Wertschöpfung (Arbeitsplätze im Energiesektor, Gewerbesteuereinnahmen) sowie in der ökonomischen Teilhabe von Kommunen und Bürger_innen an der Energieerzeugung und politischen Teilhabe an Entscheidungsprozessen der regionalen Energiewendestrategie (→ Energiedemokratie). Eine Studie des Reiner Lemoine Instituts kommt zu dem Schluss, dass beide Optionen mit ähnlichen Kosten verbunden sind (Reiner Lemoine Institut 2013). Probleme der zentralen Energiewende sind vor allem mit dem Ausbau von Übertragungsnetzen verbunden (bei mangelnder Akzeptanz der Bürger_ innen) und der notwendigen Erhöhung von Speicherkapazitäten (bei ungewisser technischer Entwicklung). Bei einer dezentralen Energieerzeugung ist die
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Wertschöpfung breiter verteilt und mehr Regionen können hiervon profitieren, allerdings sind die Transaktionskosten und insbesondere der Verwaltungsaufwand durch das EEG sehr hoch. Bisherige Erfahrungen zeigen, dass eine Einbindung und Beteiligung von Bürger_innen an dezentraler Energieerzeugung, z.B. durch Bürgerenergiegenossenschaften, auch als Anreiz für weitere Schritte in Richtung Energieeffizienz und nachhaltiger Entwicklung wirken kann (Baasch 2015). Grundsätzlich ist die Energiewende mit vielfältigen Transformationen verbunden, daher werden technologische Innovationen der Energieproduktion oder der Energieeffizienz allein nicht zielführend sein. Stattdessen erfordert eine erfolgreiche Energiewende auch Transformationen von Konsum-, Produktions- und Mobilitätsmustern, die heute noch vorwiegend auf fossilen Energieträgern aufgebaut sind.
Weblinks Informationen zu Förderprogrammen zur Einspeisung erneuerbarer Energien von der Beratungsorganisation der Energiewirtschaft, Agentur für Erneuerbare Energie: www.unendlich-viel-energie.de Informationen zur dezentralen und zentralen Windenergieproduktion beim Bundesverband Windenergie: www.wind-energie.de Informationen zu politischen Zielsetzungen, rechtlichen Rahmensetzungen, Statistiken und Förderprogrammen zur Energiepolitik der Europäischen Kommission: http://ec.europa.eu/energy Interaktive Karten der globalen und nationalen Energieproduktion und Erläuterungen von National Geographic – Global Electricity Outlook: http:// environment.nationalgeographic.com/environment/energy/great-energychallenge/world-electricity-mix/
Literatur Baasch, Stefanie (2015): A local energy transition success story. In: Hoff, Jens/ Gausset, Quentin (Hg.): Community governance and citizen-driven initiatives in climate change mitigation. London: Routledge/Earthscan: 130-149. BMUB – Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (2014): Aktionsprogramm Klimaschutz 2020. www.bmub.bund.de/ fileadmin/Daten_BMU/Download_PDF/Aktionsprogramm_Klimaschutz/ aktionsprogramm_klimaschutz_2020_broschuere_bf.pdf (23.05.2015). BMWI – Bundesministerium Wirtschaft und Energie (2015): Versorgungssicherheit in Deutschland und seinen Nachbarländern: länderübergreifendes Monitoring und Bewertung. http://bmwi.de/BMWi/Redaktion/PDF/Pub likationen/versorgungssicherheit-in-deutschland-und-seinen-nachbarlaen
Energiewende
dern,property=pdf,bereich=bmwi2012,sprache=de,rwb=true.pdf (20.05. 2015). EIA – U.S. Energy Information Administration (2013): Feed-in tariff: A policy tool encouraging deployment of renewable electricity technologies. www. eia.gov/todayinenergy/detail.cfm?id=11471 (17.06.2015). Küchler, Swantje/Meyer, Bettina (2015): Was Strom wirklich kostet. Vergleich der staatlichen Förderungen und gesamtgesellschaftlichen Kosten von konventionellen und erneuerbaren Energien. www.foes.de/pdf/2012-08-Was_ Strom_wirklich_kostet_lang.pdf (20.05.2015). Morris, Craig/Pehnt, Martin (2014): Energy Transition. The German Energiewende. Berlin. http://energytransition.de/wp-content/themes/boell/pdf/en/ German-Energy-Transition_en.pdf (20.05.2015). Reiner Lemoine Institut (2013): Vergleich und Optimierung von zentral und dezentral orientierten Ausbaupfaden zu einer Stromversorgung aus Erneuerbaren Energien in Deutschland. www.bvmw.de/fileadmin/download/ Downloads_allg._Dokumente/politik/Studie_zur_dezentralen_Energie wende.pdf.pdf (20.05.2015). Stelter, Annika (2009): Siedlungsentwicklung und Energielogistik in Deutschland im Spannungsfeld von Zentralität und Dezentralität. Frankfurt a.M.: Peter Lang. UNEP (2015): CDM projects by host region. www.cdmpipeline.org/cdm-pro jects-region.htm#2 (23.05.2015).
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Entkopplung Tilman Santarius
Spätestens seit dem Erscheinen des Bestsellers »Die Grenzen des Wachstums« (Meadows et al. 1972) bewegt eine Frage die Umweltdebatte ganz besonders: Ist es möglich, dass der wirtschaftliche Wohlstand – sprich: das Bruttoinlandsprodukt – weiter wächst und zugleich der Verbrauch an natürlichen Ressourcen und die schädlichen Emissionen auf ökologisch nachhaltige Niveaus absinken? Diese ›Aufspreizung‹ zwischen steigendem (monetären) Wohlstand und sinkendem (materiellen) Naturverbrauch wird als Entkopplung bezeichnet. Sie bildet eine wichtige Prämisse von Konzepten des »Green Growth« bzw. des »qualitativen Wachstums«. Doch bei genauerer Betrachtung wird klar, dass sich die Entkopplung als Mythos entpuppt.
Relative versus absolute Entkopplung Zunächst ist es wichtig, begrifflich zwischen relativer und absoluter Entkopplung zu unterscheiden. Unter relativer Entkopplung wird verstanden, dass sowohl Bruttoinlandsprodukt (BIP) als auch Naturverbrauch weiter anwachsen, aber letzterer immerhin langsamer zunimmt als das BIP. In Deutschland und wenigen anderen Länder kann für einige Bereiche, etwa für den Energieverbrauch oder die CO2-Emissionen, bereits eine relative Entkopplung beobachtet werden. Doch diese reicht nicht mehr aus, um die Verbräuche auf nachhaltige Niveaus zu senken, da insbesondere in den Industrieländern der Naturverbrauch bereits jetzt weit darüber liegt. Nur für die ärmsten Länder des Globalen Südens, denen noch ein Zuwachs an materiellem Naturverbrauch eingeräumt wird, stellt die relative Entkopplung von BIP und Naturverbrauch weiterhin ein legitimes Ziel dar. Unter absoluter Entkopplung wird verstanden, dass das BIP weiter anwächst, während der Energie- und Ressourcenverbrauch zugleich in absoluten Zahlen zurückgeht. Hierbei ist die zeitliche Dimension von Bedeutung: Wie schnell bzw. wie stark kann der Naturverbrauch sinken, wenn die Wirtschaft weiter wächst? Einmal angenommen, in Deutschland würde das BIP in Zukunft um zwei Prozent pro Jahr wachsen und die CO2-Emissionen zugleich
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um zwei Prozent pro Jahr abnehmen, würde dies zwar einer absoluten Entkopplung entsprechen und im Vergleich zur Emissionsentwicklung der letzten Jahrzehnte eine große Verbesserung darstellen, aber es würde nicht dazu führen, dass bis zur Mitte des Jahrhunderts die bundesdeutschen Emissionen um die aus Klimaschutzgründen erforderlichen 80 % bis 90 % zurückgehen. Da bereits über Jahre oder gar Jahrzehnte ökologisch gesehen praktisch ›über die Verhältnisse‹ gelebt wurde und insofern ›ökologische Schulden‹ angehäuft wurden, reicht eine einfache absolute Entkopplung in den meisten Bereichen des Naturverbrauchs heute nicht mehr aus. Vielmehr muss es darum gehen, eine hinreichend starke und rasche absolute Entkopplung zu erzielen. Die Strategie, bei anhaltendem Wirtschaftswachstum eine hinreichende absolute Reduktion des Naturverbrauchs zu erzielen, wird derzeit vor allem von Befürworter_innen des Green Growth bzw. des »qualitativen Wachstums« verfolgt (vgl. Edenhofer et al. 2009; UNEP 2011; OECD 2012). Doch die folgenden Gründe sprechen dafür, dass diese Strategie ihr Ziel verfehlen dürfte: Erstens gehen Effizienzsteigerungen beim Energie- und Ressourcenverbrauch unweigerlich mit Rebound-Effekten einher. Rebound-Effekte bedeuten, dass ein signifikanter Teil der relativen Effizienzgewinne durch neue Nachfragesteigerungen ›aufgefressen‹ wird und einer hinreichenden Entkopplung daher entgegenwirkt (→ Effizienzrevolution). Zweitens führt der Trend zur Tertiarisierung der Ökonomien (mehr Jobs im Dienstleistungssektor, weniger dreckige Industrien) in den Ländern des Globalen Nordens bei gleichzeitiger nachholender Entwicklung in den Ländern des Südens dazu, dass die Ressourcenintensität der Importe in vielen Industrieländern seit Jahren ansteigt. Dies bedingt einen sprichwörtlichen Rich Country Illusion-Effekt: Der zunehmende Welthandel und die damit einhergehende Verlagerung der Produktion ins Ausland vertuscht, dass die konsumbasierten Naturverbräuche in den Industrieländern höher ausfallen als es die territorialen Statistiken suggerieren (Santarius 2009; Becker/Richter 2015). Deutschland beispielsweise hat allein zwischen 1995 und 2005 knapp eine Tonne CO2 pro Kopf ins Ausland verlagert, was bei rund 10t pro Kopf und Jahr etwa 10 % der Emissionen entspricht. Würden diese Emissionen dem Konsum in Deutschland in Rechnung gestellt, hätten sich die konsumbasierten Emissionen in Deutschland in dieser Dekade nicht verringert, sondern wären leicht gestiegen von 12,5 auf 12,8 t CO2/Kopf (vgl. UBA 2008). Im Jahr 2008 waren fast ein Drittel der konsumbasierten Emissionen von Deutschland nicht Teil der offiziellen bundesdeutschen Klimabilanz; der Konsum in der EU insgesamt zeichnet für rund 500 Megatonnen Emissionen verantwortlich, die in den Herkunftsländern von Importen anfallen – eine Größenordnung, die mehr als der Hälfte der gesamten CO2-Emissionen Deutschlands entspricht (Bruckner et al. 2010; Peters et al. 2012). Solange es keine weltweit greifenden Obergrenzen für Emissionen sowie für andere Ressourcenverbräuche (so ge-
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nannte caps) gibt – und hiervon ist die internationale Politik derzeit weit entfernt –, wird eine hinreichende absolute Entkopplung daher durch geographische Verlagerung konterkariert.
Beharrungskraft des Natur verbrauchs Die Vorstellung von der Entkopplung baut ferner auf der Vision einer Kreislaufwirtschaft auf: Wenn größtenteils umweltverträgliche und nachwachsende Rohstoffe Verwendung fänden und überdies in einem Kreislauf zirkulierten, so dass mittels reuse und recycling in erster Linie bereits im Wirtschaftskreislauf bestehende Ressourcen genutzt würden, könne bei steigendem Wirtschaftswachstum der Verbrauch von (neuen) Ressourcen in absoluten Zahlen sinken (Braungart/McDonough 2002). Doch trotz eindrücklicher Fallstudien zur praktischen Umsetzung bei einzelnen Rohstoffen in einzelnen Industriezweigen, so etwa in der Aluminiumindustrie, müssen Zweifel angemeldet werden, ob das Konzept der Kreislaufwirtschaft auf gesamtwirtschaftlicher Ebene eine hinreichende absolute Entkopplung gewährleisten kann. Zum einen stellt sich die Frage, ob sich das Konzept auch in komplexen Wertschöpfungsketten, beispielsweise in der High-Tech-Industrie, flächendeckend so durchsetzen lässt, dass es dabei noch ökonomisch rentabel ist – nur dann jedenfalls würde es zugleich zu Wachstum führen. Zum anderen beantwortet das Konzept nicht die Frage, wie energieintensiv eine auf recycling und reuse abgestimmte Wirtschaft (noch) ist und wie diese Energie ökologisch nachhaltig bereitgestellt werden kann. Manchen mag die Vision einer zu 100 % auf erneuerbaren Energieträgern fußenden Ökonomie eine unendliche Verfügbarkeit von Energie suggerieren – frei nach dem Motto: ›Die Sonne scheint immer‹. Doch Studien zur Nettoenergiebilanz diverser Energieträger, also zum Verhältnis der erforderlichen Energie zur Bereitstellung vis-à-vis der ökonomisch nutzbaren Energie (engl. Energy Return on Energy Invested), zeigen die Grenzen auch von erneuerbaren Energiequellen auf. Vor rund 100 Jahren konnten in der Ölförderung mit einer Einheit Energie-Input bis zu 100 Einheiten Energie-Output erzeugt werden (Verhältnis 1:100). Für Windenergie lag das Verhältnis zu Beginn des 21. Jahrhunderts im Vergleich aller erneuerbaren Energieträger am günstigsten, bei ca. 20:1. Für Photovoltaik lag es zwischen ca. 4:1 bis 10:1; bei der Gewinnung von Ethanol aus Mais bei nur ca. 1,8:1 (Heinberg 2009; Morgan 2013). Auch wenn diese konkreten Berechnungen nur bedingt belastbar sein mögen und überdies der weitere technische Fortschritt die Nettoenergiebilanz erneuerbarer Energien noch verbessern dürfte, wird deutlich, dass auch eine Kreislaufwirtschaft thermodynamischen Grenzen des Wachstums unterliegt. Die Vorstellung eines unendlichen wirtschaftlichen Wachstums hatte offenbar auf dem Zenit der fossilen Industrialisierung eine größere Legitimation als sie es in einer Wirtschaft haben wird, die auf erneuerbaren Energien fußt.
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Neben diesen drei strukturellen Effekten – Rebounds, Rich Country Illusion, Return on Energy – gesellen sich noch weitere Argumente, die eine hinreichende absolute Entkopplung als realpolitisch äußerst schwierig umsetzbar und wohl nur in der Theorie bzw. in Modellen und Szenarien wahrscheinlich erscheinen lassen. So stehen Effizienzrevolution und der Umstieg auf die Kreislaufwirtschaft vor der Herausforderung eines großen Beharrungsvermögens und einem locked-in bestehender Infrastrukturen, insbesondere im Verkehrs-, Gebäude- und Industriebereich (vgl. Antal/van den Bergh 2014). Beispielsweise geht das Szenario einer Studie des WWF, welches eine 90 prozentige Reduktion der Treibhausgasemissionen für Deutschland bis zum Jahr 2050 bei weiterem Wirtschaftswachstum für machbar erklärt, im Gebäudebereich von einer Reduktion der Emissionen auf nahezu Null aus (WWF 2010). Doch die vollständige Umrüstung des gesamten Gebäudebestands der Bundesrepublik auf Null- oder Plus-Energiehäuser in weniger als 40 Jahren dürfte aus rechtlichen (z.B. Besitzstandswahrung), habituellen (Heiz- und Lüftungsgewohnheiten), aber auch aus ästhetischen und historischen Gründen (z.B. Denkmalschutz) eine schwer realisierbare Mammutaufgabe sein. Auch der Einfluss bestimmter politischer und wirtschaftlicher Interessengruppen wird eine rasche absolute Reduktion des Ressourcenverbrauchs erschweren. Beispielsweise verfügen transnationale Energiekonzerne über Explorations- und Schürfrechte an Kohle-, Öl- und Gasfeldern, deren Verbrennung zu einer Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre führen wird, die ein Mehrfaches über dem für die Einhaltung des Zwei-Grad-Ziels zulässigen Niveaus läge (Meinshausen et al. 2009; Johnson 2012). Es wird außerordentliche Anstrengungen erfordern, Politiken und Maßnahmen gegen die ökonomische und wirtschaftliche Macht von Shareholdern und Stakeholdern einzuführen, die in die zukünftige Ausbeutung dieser fossilen Energieressourcen bereits investiert haben und davon profitieren wollen. Zwar muss eingeräumt werden, dass der Übergang in beispielsweise eine Postwachstums-Ökonomie mindestens ebenso große Anstrengungen erfordern dürfte (→ Wachstum). In jedem Fall muss jedoch in Frage gestellt werden, ob ein rascher absoluter Naturverbrauch durch eine Internalisierung externer Kosten mit technischen Mitteln ins Werk gesetzt werden kann, ohne die bestehenden Kapitalverhältnisse und marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen anzutasten.
Der Preis der Entkopplung Schließlich vergisst ein Festhalten am Ziel des anhaltenden Wirtschaftswachstums, dass die stetige absolute Reduktion des Naturverbrauchs mit progressiven Kosten einhergehen wird (vgl. Antal/van den Bergh 2014). Effizienz- und Konsistenzsteigerungen werden sich anfänglich zu relativ geringen Kosten
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realisieren lassen, die jedoch im Zeitverlauf nicht-linear ansteigen, sobald die low hanging fruits – beispielsweise kosteneffektive Effizienzsteigerungen – geerntet wurden. Zukünftiger technischer Fortschritt mag zwar die Kosten relativ zu heutigen Erwartungen senken, kann ihre progressive Zunahme aber prinzipiell nicht aufheben. Dies bedeutet, dass eine absolute Entkopplung nicht einfach die gegenwärtige Kopplung umkehren muss und anschließend zum Selbstläufer wird, sondern im Zeitverlauf immer unwahrscheinlicher wird. Die vorangegangenen Argumente zeigen, dass die Vorstellung der Entkopplung auf unrealistischen Annahmen beruht. In einer Situation, in welcher der ökologische Fußabdruck der Industriezivilisation bereits weit über der Regenerationsfähigkeit der Biosphäre liegt (WWF et al. 2014), ist sie nicht mehr geeignet, eine drastische absolute Reduktion des Naturverbrauchs in einer hinreichend kurzen Zeitspanne zu erzielen. Lediglich als Brückenmythologie könnte die Vorstellung der Entkopplung noch vorübergehend fortleben, um politische Weichenstellungen leichter ins Werk zu setzen, solange das Wachstumsparadigma gesellschaftspolitisch noch dominiert. Wie gezeigt wurde, hat diese Brückenmythologie allerdings einen (ökonomischen) Preis. Und überdies birgt sie die Gefahr, dass eine grundständige sozial-ökologische Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft umso konfliktiver werden könnte, je später damit begonnen wird. Aus wissenschaftlich-empirischer Sicht ist die Entkopplungsdebatte daher obsolet geworden. Die langfristige Tragfähigkeit der Biosphäre kann nur gewahrt – bzw. wiederhergestellt – werden, wenn das Volkseinkommen aufhört weiter zu wachsen. Nicht die Frage der Entkopplung, sondern die Frage, wie das Volkseinkommen stabil gehalten oder schrumpfen kann, ist daher die wichtigste und herausforderndste Frage des Nachhaltigkeitsdiskurses.
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Geoengineering Thilo Wiertz Unter dem Begriff Geoengineering (oder Climate Engineering) werden Ideen für gezielte technische Eingriffe in das Klimasystem zusammengefasst, die das Ziel haben, die globale Erwärmung zu verringern. Doch Visionen eines wissenschaftlichtechnisch geleiteten Erdsystemmanagements tendieren dazu, bestehende Machtverhältnisse und Konflikte in der Klimawandeldebatte auszublenden und die politische Dimension von Geoengineering auf die Frage nach einer wünschenswerten Regulierung zu reduzieren.
Technische Ansätze zur Steuerung des Weltklimas Der fünfte IPCC Sachstandsbericht definiert Geoengineering als eine Bandbreite von Methoden und Techniken zur absichtlichen Veränderung des Klimasystems mit dem Ziel, die Auswirkungen des Klimawandels zu verringern (IPCC 2013: 627). Die aktuelle Diskussion geht auf eine Veröffentlichung des Meteorologen und Atmosphärenwissenschaftlers Paul Crutzen aus dem Jahr 2006 zurück. Crutzen, der für seine Forschung 1995 mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet wurde, schlägt vor, dass ein gezielter Eintrag von Schwefelpartikeln in die Stratosphäre Sonnenlicht reflektieren und so einem globalen Temperaturanstieg entgegenwirken könnte (Crutzen 2006). Ideen, dem anthropogenen Klimawandel mit großtechnischen Eingriffen in die Umwelt zu begegnen, reichen bis in die 1960er Jahre zurück (Keith, 2000). Doch lange hatten Wissenschaftler_innen Vorbehalte, das Thema öffentlich zu diskutieren – aus Sorge, Geoengineering könne als Alternative zum Klimaschutz missverstanden werden. Crutzens Aufsatz wurde daher vielfach als Tabubruch gewertet, der den Anstoß zu intensiveren Forschungsarbeiten und Überblicksstudien gab. Üblicherweise wird zwischen zwei Ansätzen des Geoengineering unterschieden: einer Verringerung der Sonneneinstrahlung (Solar Radiation Management, SRM) und dem Abscheiden von CO2 aus der Umgebungsluft (Carbon Dioxide Removal, CDR). Vorschläge für SRM umfassen beispielsweise
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Spiegel im Weltall, das Aufhellen von Meereswolken, Partikel in der Stratosphäre oder eine Steigerung des Reflexionsvermögens von Nutzpflanzen. Anhand von Computersimulationen hat die naturwissenschaftliche Forschung gezeigt, dass eine Verringerung der Sonneneinstrahlung einen Anstieg der mittleren globalen Oberflächentemperatur rasch bremsen könnte. Allerdings wären regional unterschiedliche Auswirkungen zu erwarten. So könnte sich beispielsweise die räumliche Verteilung von Niederschlägen und Temperaturen verändern. Zudem würde die Erdtemperatur schnell wieder ansteigen, sollte der Einsatz von SRM abrupt beendet werden (IPCC 2013: 627-635). Im Unterschied zu SRM zielt CDR darauf ab, die Konzentration von CO2 in der Atmosphäre zu verringern. Dies ließe sich beispielsweise durch technische Anlagen erreichen, die CO2 aus der Umgebungsluft abscheiden1, oder durch großflächige Aufforstungsmaßnahmen. Auch das sogenannte Düngen nährstoffarmer Gebiete im Ozean wird diskutiert. Dabei wird durch Eintrag von Nährstoffen das Algenwachstum stimuliert und so CO2 in Biomasse gebunden. Sterben diese Algen ab und sinken auf den Meeresgrund, wäre Kohlenstoff dem atmosphärischen Kreislauf entzogen. Da CDR unmittelbar dem Anstieg der CO2-Konzentration entgegenwirkt, ergeben sich Risiken weniger aus den klimatischen Folgen der Technik als aus den direkten Eingriffen in die Umwelt, beispielsweise in marine Ökosysteme (IPCC 2013: 546-552). Da das Klimasystem nur träge auf eine Veränderung der Treibhausgaskonzentrationen reagiert, wären klimatische Effekte von CDR erst nach Jahrzehnten zu spüren und damit sehr viel langsamer wirksam als SRM-Maßnahmen. Angesichts der unterschiedlichen Wirkungsweisen von SRM und CDR werden diese häufig hinsichtlich ihres möglichen Beitrags für die Klimapolitik unterschieden. Demnach könnte CDR Anstrengungen zur Emissionsvermeidung unterstützen und durch sogenannte negative Emissionen langfristig die CO2Konzentrationen senken. Da SRM sehr viel schneller wirkt als CDR, wird es häufig als eine Notfallmaßnahme gegen drohende katastrophale Klimafolgen diskutiert. Oder es wird als Hilfs- und Übergangstechnik zur Begrenzung des Temperaturanstiegs erwogen, die Maßnahmen zur Verringerung von Emissionen zeitweise begleiten könnte (IPCC 2014: 484-489).
Geoengineering als effizientere Klimapolitik? Die Forschung zu Geoengineering bildet ein heterogenes Feld, auf dem neben sehr unterschiedlichen technischen Ansätzen auch unterschiedliche naturwissenschaftliche, ebenso wie gesellschafts- und geisteswissenschaftliche Pers1 | Das Abscheiden von CO 2 aus der Umgebungsluft funktioniert analog zu Techniken, die CO 2 unmittelbar an der Emissionsquelle, beispielsweise an Kraftwerken, abscheiden (→ CO 2 -Abscheidung und -Speicherung).
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pektiven anzutreffen sind. Eine kritische Reflexion des Themas kann an dieser Stelle daher nur einem Ausschnitt der Diskussion Rechnung tragen. Des Weiteren gibt es derzeit keine konkreten Planungen oder Entscheidungsprozesse, die einen Einsatz von Geoengineering zum Ziel haben. Im Folgenden geht es daher darum, eine grundlegende Denkbewegung zu hinterfragen, die der Idee einer gezielten Veränderung und Optimierung des Klimas zu Grunde liegt, eine Denkbewegung, die eng an die Perspektive der Klima- und Erdsystemwissenschaften auf das Verhältnis von Gesellschaft und Natur geknüpft ist. Der Blick auf das Verhältnis von Gesellschaft und Natur, der die Diskussion um Geoengineering begleitet, spiegelt sich in dem Vorschlag wider, das derzeitige geologische Zeitalter als »Anthropozän« zu bezeichnen (→ Anthropozän). Als Paul Crutzen im Jahr 2002 diesen Vorschlag der wissenschaftlichen Öffentlichkeit unterbreitet, erwähnt er auch die Möglichkeit von Geoengineering, indem er folgert: »A daunting task lies ahead for scientists and engineers to guide society towards environmentally sustainable management during the era of the Anthropocene. This will require appropriate human behaviour at all scales, and may well involve internationally accepted, large-scale geo-engineering projects, for instance to ›optimize‹ climate.« (Crutzen 2002: 23). Crutzen verweist also auf die Rolle von Wissenschaftler_innen und Ingenieur_innen, welche die Gesellschaft zu einem nachhaltigen Management führen sollten. Dieses Bild ist von Vertreter_innen der Klima- und Erdsystemwissenschaften wiederholt gezeichnet worden. Es beruht auf einer wissenschaftlichen Perspektive, der die Entwicklung des Erdsystems aus einem distanzierten, objektiven Perspektive erfasst und daraus Handlungsziele ableitet (bspw. Schellnhuber 1999). In dieser Betrachtungsweise wird der Erfolg von Politik daran bemessen, inwiefern sie wissenschaftlich erfassbare Ziele verwirklicht und das sogenannte »Raumschiff Erde« in die richtige Richtung navigiert (→ Raumschiff Erde). Im Vordergrund stehen also nicht ein Ausgleich von Interessen, der Umgang mit Konflikten oder ungleichen Machtverhältnissen, sondern das Erreichen messbarer Zielvorgaben, zum Beispiel das Einhalten planetarer Grenzwerte oder des Zwei-Grad-Ziels (→ Planetarische Grenzen). Vor diesem Hintergrund besticht Geoengineering durch das Versprechen, die definierten Ziele auf direkterem und effizienterem Wege zu erreichen als es die Politik vermag. Dieses Versprechen schwingt beispielsweise in dem Argument mit, Geoengineering müsse erforscht werden, da die Klimapolitik zu scheitern drohe. So gibt ein vielbeachteter Bericht der britischen Royal Society zu Geoengineering an, dass die »Besorgnis über den mangelnden Fortschritt in den politischen Prozessen zu einem erhöhten Interesse an GeoengineeringAnsätzen geführt hat« (The Royal Society 2009: 1, Übers. TW). Und Crutzen positioniert Geoengineering im Untertitel seines Aufsatzes von 2006 als »Beitrag zur Lösung eines politischen Dilemmas«. Indem es Klimarisiken verringert, soll Geoengineering das schaffen, was der Politik nicht (mehr) zugetraut
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wird. Die Gefahr besteht darin, dass in dieser Perspektive der Klimawandel als vorwiegend naturwissenschaftliches und technisches anstatt als gesellschaftliches Problem erscheint: Geoengineering adressiert den Klimawandel zuallererst als ein Problem erhöhter CO2-Konzentrationen und steigender Temperaturen. Damit verlagert sich die Suche nach Lösungen und Auswegen aus der »Krise des Anthropozäns« (Schellnhuber et al. 2005) von einer Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Ursachen und Implikationen ökologischer Veränderungen auf die Kontrolle physikalischer Variablen im Erdsystem. Das heißt nicht, dass Politik in der Diskussion um Geoengineering keine Rolle spielt. Die Frage nach einer Regulierung von Forschungsaktivitäten und einem denkbaren zukünftigen Einsatz wurde früh gestellt, ebenso nach möglichen Konflikten und ungleich verteilten Folgewirkungen (vgl. The Royal Society 2009; Rickels et al. 2011). Ethische Überlegungen nehmen eine zentrale Stellung in der Diskussion um Geoengineering ein (vgl. Preston 2013) und werden auch in naturwissenschaftlichen Kreisen, auf Tagungen und in wissenschaftlichen Zeitschriften, diskutiert. Jedoch besteht eine Tendenz dazu, Politik vornehmlich unter dem Blickwinkel zu betrachten, wie eine wünschenswerte Regulierung, einschließlich eines möglichen Verbots bestimmter Geoengineering-Aktivitäten, aussehen könnte. Dies spiegelt sich auch darin wider, dass gesellschaftliche Fragen von Geoengineering häufig unter den Begriffen Governance und Ethik subsumiert werden (vgl. Royal Society 2009). Während der Ethik eine akademisch fundierte Unterscheidung zwischen ›richtig‹ und ›falsch‹ zukommt, unter Berücksichtigung von Kriterien wie beispielsweise Transparenz, Kooperation und Partizipation, beschäftigt sich die Governance-Forschung mit der Frage, welche Mechanismen zur Regulierung nötig und möglich seien. Zwar liefert diese Forschung durchaus wichtige Beiträge zu der Diskussion; sie bleibt jedoch häufig einem instrumentellen Politikverständnis verhaftet, in dem eine, auch unter ethischen Gesichtspunkten, ›effiziente‹ Entscheidungsfindung im Vordergrund steht. Es geht darum, wie der Umgang mit der Technik zu organisieren sei. In den Hintergrund tritt hingegen ein kritischer Diskurs über Wertmaßstäbe, Ziele und Machtverhältnisse in der Entwicklung klimapolitischer Strategien und über ungleiche Fähigkeiten, Verwundbarkeiten und die Nutzenverteilung in der Umsetzung klimapolitischer Maßnahmen. Eine substanzielle Auseinandersetzung mit historischen und aktuellen Entwicklungen in der Klimapolitik fehlt in der Diskussion um Geoengineering fast gänzlich. Dabei lohnt es sich, die Frage zu stellen, welche Rolle Technik und das Versprechen technischen Fortschritts in der internationalen Klima- und Umweltpolitik spielen. Einen ersten Anhaltspunkt bieten Debatten um Carbon Capture and Storage, Energieeffizienz oder um Möglichkeiten und Grenzen einer ökologischen Modernisierung, in denen das Versprechen technischen Fortschritts nicht selten strukturkonservativ erscheint, insofern es eine Veränderung bestehender Produktionsregime und Machtver-
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hältnisse für unnötig erklärt oder in die Zukunft verweist (vgl. Bäckstrand/ Lövbrand 2006, Krüger 2015).
Gesellschaft in technologischen Zukunftsvisionen Der Überbetonung naturwissenschaftlicher und technischer Aspekte in der Diskussion um Geoengineering liegt auch eine erkenntnistheoretische Asymmetrie zu Grunde. So lassen sich gesellschaftliche Auswirkungen und Implikationen von Klimawandel und Geoengineering nicht mit den gleichen Methoden und Evidenzkriterien der quantitativen Naturwissenschaften erfassen. Während die Klimaforschung ausgehend von physikalischen Gesetzmäßigkeiten Umweltfolgen weit in die Zukunft berechnet, bewegen sich Aussagen über gesellschaftliche Folgen und politische Risiken eher im Bereich des kritischen Argumentierens. Oder sie beziehen sich auf spezifische Kontexte bzw. Fallstudien, die sich nicht ohne weiteres verallgemeinern lassen. In der Konsequenz wird ihnen in akademischen Diskussionen nicht immer die gleiche Relevanz beigemessen (Castree et al. 2014). Zumeist sind es daher die quantitativ arbeitenden Naturwissenschaften, die Bilder zukünftiger Klimawelten generieren und daraus Schlussfolgerungen auch über die Gesellschaft ableiten (vgl. hierzu kritisch Hulme 2011). Dies kommt insbesondere in der Forschung zu SRM zum Tragen, die ganz wesentlich auf computergenerierte Projektionen klimatischer Veränderungen zurückgreift (vgl. Wiertz 2016). In diesem Zusammenhang sind in den letzten Jahren auch Arbeiten entstanden, die Geoengineering als Optimierungsproblem betrachten, darum bemüht, klimatische Veränderungen weltweit einem Idealzustand anzunähern (Ban-Weiss/Caldeira 2010). Gesellschaft tritt dabei bestenfalls als regionale Bevölkerungsdichte oder ökonomischer Output in Erscheinung. Wie sich gesellschaftliche Dimensionen in wissenschaftlichen Zukunftsdebatten angemessener berücksichtigen lassen, ist eine zentrale Herausforderung für die Forschung zu globalen Umweltthemen. Denn wenn das Klima zur einzig bekannten und bestimmenden Variable in einer ansonsten unbestimmten Zukunft wird (Hulme 2011), erscheint Geoengineering leicht als Mittel der Wahl, um Kontrolle über diese Zukunft zu erlangen – trotz aller Bedenken gegenüber solchen Eingriffen, die von vielen Wissenschaftler_innen selbst ins Feld geführt werden.
Weblinks Aktuelle Informationen zu wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Veranstaltungen: www.climate-engineering.eu Dossier und weiterführende Informationen des Institute for Advanced Sustainability Studies: www.iass-potsdam.de/de/content/climate-engineering
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Schwerpunktprogramm zu Climate Engineering der Deutschen Forschungsgemeinschaft: www.spp-climate-engineering.de
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Geschlechtsspezifische Verwundbarkeit Sybille Bauriedl und Sarah K. Hackfort In der internationalen Klimadebatte kursieren Bilder von armen Frauen im reproduktionsfähigen Alter in Entwicklungsländern, die die Lasten des Klimawandels buchstäblich auf den Schultern tragen. Sie müssen immer weitere Wege für Wasser und Brennholz gehen. Sie werden als tendenziell besonders verwundbar, hilflos und schwach gegenüber den Folgen des Klimawandels dargestellt, und ihnen wird eine geringere Anpassungskapazität zugeschrieben. Begründet wird diese ungleiche Verwundbarkeit durch biologisch und kulturell abgeleitete Geschlechterrollen. Gesellschaftliche Bedingungen von Verwundbarkeit werden auf diese Weise naturalisiert und Ursachen sozialer Ungleichheit entlang patriarchaler, kapitalistischer und postkolonialer Strukturen unberücksichtigt gelassen.
Stereotypisierung und Viktimisierung von Frauen im Klimawandel »Die Gefahren des Klimawandels sind nicht geschlechtsneutral.« (UN 2009: o.S., Übers. SB) Diese Aussage hat politisch wie wissenschaftlich weitreichende Implikationen und ist das Ergebnis langjähriger Auseinandersetzungen innerhalb sozialer Bewegungen, insbesondere der internationalen Frauenbewegung und diverser UN-Verhandlungen. Seit einigen Jahren gilt es als common sense, dass die Betroffenheit und Verwundbarkeit durch Klimawandelfolgen zwischen regionalen Siedlungsräumen, Generationen, Einkommensgruppen, Berufsgruppen und zwischen Männern und Frauen unterschiedlich ausgeprägt sind. Das Konzept der Verwundbarkeit schließt neben der Bewertung von Naturrisiken auch die gesellschaftlich bedingten Fähigkeiten von Individuen oder sozialen Gruppen zur Anpassung an Klimawandelfolgen mit ein. Bei Naturkatastrophen werden immer wieder auffällig ungleiche Mortalitätsraten von Männern und Frauen beobachtet. Für diese geschlechtsspezifische Betroffenheit gibt es verschiedene Erklärungsversuche, die sich empirisch schwer belegen lassen und meist biologistisch oder kulturalistisch argumentieren. Die hohen Todeszahlen von Frauen bei Flutkatastrophen werden – explizit in islamischen Ländern – dadurch erklärt, dass Frauen weni-
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ger Mobilitätsmöglichkeiten haben, nicht gelernt haben zu schwimmen, dass sie ohne männliche Begleitung nicht das Haus verlassen, zuerst ihre Kinder versorgen und weniger Zugang zu relevanten Informationen haben. Bei Dürreereignissen wird die Verwundbarkeit von Frauen durch ihre Aufgaben der Familien- und Haushaltsversorgung erklärt, die dazu führen, dass sie immer längere Transportwege für die tägliche Trinkwasser- und Brennholzbeschaffung überwinden müssen. Demnach verstärkten sich infolge von klimawandelbedingten Extremereignissen vor allem für Frauen prekäre, unsichere und belastende Verwundbarkeitsverhältnisse (Dankelmann 2010). Diese Kausalkette klimabedingter und sozialer Verwundbarkeit führt zu einer additiven Viktimisierung von armen Frauen im ländlichen Raum in Entwicklungsländern. Es wird eine Kausalität behauptet, die festschreibt, dass Frauen vulnerabler als Männer sind, weil sie in der Sorgearbeit stärker abhängig sind von klimawandelsensitiven Ressourcen, weil sie im ländlichen Raum weniger mobil sind und weil sie ärmer sind. Diese verkürzten Erklärungen naturalisieren soziale und polit-ökonomische Dimensionen sozialer Ungleichheit, über die bestimmte Armutsformen erst generiert werden, und verstellen so den Blick auf die Frage, warum Frauen stärker von Armut und Ausgrenzung betroffen sind und was das für den Umgang mit dem Klimawandel in konkreten Situationen bedeutet. Zur Beantwortung dieser Frage wäre ein multidimensionaler Armutsbegriff erforderlich, der Dynamiken gesellschaftlicher Exklusion erfasst, die neben Einkommensarmut und dem Mangel an Bildung auch die fehlende Einbindung in die gesellschaftliche Arbeitsteilung und den Verlust damit verbundener sozialer Rechte sowie sozialer Beziehungen und Netzwerke berücksichtigt. Genauso müsste eine differenziertere Situation von Geschlechterverhältnissen wahrgenommen werden, anstatt Frauen als kohärente Gruppe mit kollektiven Interessen und gleichzeitig als Sonderfall zu thematisieren und Männer als Norm und Referenzgröße der Unterschiedlichkeit zu betrachten (Bauriedl 2013; Hackfort 2014; Tuana 2013). Geschlechterrepräsentationen in der Klimadebatte sind normativ aufgeladen durch stereotype Geschlechterbilder. Fotos von geschlechtersensiblen Anpassungsmaßnahmen zeigen vor allem Frauen bei der Haushalts- oder Kinderversorgungsarbeit. Frauen sind primär Mütter, Männer erscheinen als abwesend in der familiären Gemeinschaft. Diese Repräsentationen zeigen geschlechtskonformes, heteronormatives Rollenverhalten und eliminieren reale Vielfalt von Geschlecht und Geschlechterverhältnissen. Und diese pauschalen und generalisierenden Zuschreibungen verkennen die Bedeutung subjektiver Handlungsrationalitäten in den Reaktionen auf Klimaphänomene (Bradshaw 2001). Biografien und Strategien, die normierte Geschlechtermuster auf brechen, sind kaum Gegenstand von Vulnerabilitäts-, Klimaschutz- oder Klimaanpassungsstudien.
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Klimaschutz für Frauen Sowohl Klimawandel als auch Geschlechtergerechtigkeit sind zentrale Querschnittsthemen in allen UN-Aktivitäten und Behörden geworden (UNDP 2010: 2). Auch in UN-Organisationen werden sozial und kulturell produzierte Geschlechterhierarchien als Problem betrachtet. Die Antwort darauf lautet: Empowerment von Frauen, das auf allen Ebenen befördert werden soll. Dieses Gender Mainstreaming wurde auf Drängen sozialer Bewegungen durchgesetzt (vgl. Women’s Caucus beim Klimagipfel in Buenos Aires 2004) und soll gewährleisten, dass Männer und Frauen in gleicher Weise von nationalen und lokalen Anpassungsprogrammen profitieren (UNDP 2010: 22). Eigentlich ist die Forderung nach gleichen Rechten und Ressourcenzugang für Männer und Frauen ein alter Hut. Die Frauenbewegung seit den 1970er Jahren hat erfolgreich dazu beigetragen, dass Menschenrechte auch als Frauenrechte in internationalen Institutionen verankert wurden (vgl. UNConvention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women, CEDAW von 1979). Als Antidiskriminierungsstrategien wurden schon damals der Zugang zu Landwirtschaftskrediten und Vermarktungsmöglichkeiten, angemessene Technologien und gleiche Behandlung bei Land- und Landwirtschaftsreformen festgeschrieben (CEDAW Artikel 14.2). Und auch schon damals ging es primär um die Lebenssituation von Frauen im ländlichen Raum des Globalen Südens. Ein zentrales Instrument der Klimapolitik, das zum empowerment von Frauen in Entwicklungsländern in besonderer Weise betragen soll, sind marktbasierte Klimaschutzmaßnahmen im Modus des Clean Development Mechanism (CDM). In den Augen des Sekretariats der UN-Klimarahmenkonvention (UNFCCC) und anderer Institutionen internationaler Klimapolitik bringen CDM-Projekte nicht nur einen ökonomischen und ökologischen Gewinn, sondern können auch helfen, die Lebenssituation von Frauen in Entwicklungsländern zu verbessern: »The Clean Development Mechanism has the potential to help the empowerment of women.« (UNFCCC 2012: 3) So werden die bezahlten Tätigkeiten, die durch CDM-Projekte in Entwicklungsländern unterstützt werden (z.B. Aufforstung oder Messung von Kohlenstoffsenken in Wäldern) und hauptsächlich von Frauen ausgeübt werden, als »gender positive impacts« betrachtet (UNFCCC 2012: 7). Eine weitere viel gepriesene CDM-Maßnahme, von der Frauen profitieren sollen, sind effiziente Kocher (→ energieeffiziente Kocher). Die Verbreitung dieser Kocher hat durch ihre CDM-Zertifizierung in großem Umfang zugenommen (die deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit hat allein in Kenia zwischen 2006 und 2014 1,45 Millionen energiesparende Kochherde installiert). Mit dem potenziell reduzierten Verbrauch von Kerosin, Holz und Holzkohle werden für jeden Kocher 1 t/a Kohlenstoffemissionen ›neutralisiert‹ (GIZ 2015) (→ Klimaneutralität). Als positiver
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Nebeneffekt für eine geschlechtergerechte Entwicklung wird der reduzierte Aufwand des Holzsammelns bzw. der Kosten für Brennstoff berechnet sowie die verringerte Gesundheitsbelastung durch geringere Rauchentwicklung. Diese Verbesserungen durch eine effiziente Technologie sollen Frauen Zeit und finanzielle Ressourcen für Bildung oder Erwerbsarbeit verschaffen und damit zu ihrem empowerment beitragen – und damit immer auch die Lebenssituation der ganzen Familie verbessern: »Providing women with access and the ability to make climate friendly changes enables them to not only improve their lives but also the lives of their families and communities.« (UNFCCC 2012: 5) Auch diese Bewertung sagt viel über die Modernisierungsideologie und das Geschlechterbild der UN-Klimapolitik aus und ignoriert gleichzeitig die Interessen von Frauen oder die Gründe dafür, keine energieeffizienten Kocher zu benutzen. In der Entwicklungsvorstellung der UN-Klimapolitik ist offensichtlich keine andere Zukunft vorstellbar als die, in der allein Frauen für die Sorgearbeit in der Familie und der Gemeinschaft zuständig sind und weiterhin einfachste Technologien benutzen. Neue Kocher werden jedoch nicht die Probleme einer patriarchalen Gesellschaft lösen und tragen in dieser Hinsicht nichts zum empowerment von Frauen bei – im Gegenteil.
Frauen für den Klimaschutz Frauen werden nicht nur zu Opfern globaler Umweltveränderungen stilisiert, sie sollen auch noch maßgeblich befähigt – und damit verantwortlich dafür – werden, weitere Umweltveränderungen zu verhindern. Die Beachtung von Frauen als Kollektivsubjekt in internationalen Vereinbarungen und die Schaffung von Institutionen, die die Umsetzung dieser Vereinbarungen gewährleisten, verfestigt einen geschlechtsbezogenen Essentialismus. Einerseits werden dadurch die unsichtbaren Belastungen, die sehr viele Frauen treffen, sichtbar gemacht. Andererseits aber werden damit Geschlechterrollen festgeschrieben und Lasten des Klimaschutzes explizit auf die Schultern von Frauen geladen. Im Aktionsprogramm der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung von 1992, der Agenda 21, wurde Frauen ebenfalls eine hervorgehobene Rolle für eine nachhaltige Entwicklung zugeschrieben. Sie wurden zu Expertinnen des Umweltschutzes gemacht. Auch internationale Frauenorganisationen plädierten für die »Hervorhebung ihrer führenden Rolle für die Veränderung nicht nachhaltiger Verbrauchs- und Produktionsmuster, um Anstöße für umwelt- und sozialverträgliche Produktionsprozesse zu geben, insbesondere in den Industrieländern« (Forum Umwelt und Entwicklung 1997). Daraus folgte die in der Agenda 21 verankerte Forderung, dass Frauen als Schlüsselakteurinnen nachhaltiger Entwicklung besser an lokalen Entscheidungsprozessen beteiligt werden sollen, um ihre Kompetenz als Ressourcenmanagerinnen für Umwelt- und Klimaschutz nutzbar machen zu können (BMU 1992). Aufgrund
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ihrer Arbeit mit Wald-, Wasser-, Land- und anderen natürlichen Ressourcen, die besonders empfindlich auf Klimaveränderungen reagieren, haben Frauen in Entwicklungsländern nicht nur besondere Lasten zu tragen, sondern nun auch die Antworten auf den Klimawandel sozusagen in ihren Händen und werden als »powerful change agents« betrachtet (Aguilar 2013: 150). Diese Betrachtung bestätigt auch die Generalsekretärin des Sekretariats der UN-Klimarahmenkonvention Christiana Figueres: »Women are not just the victims of climate change; they represent […] the strongest key agents to adaptation – as they represent both the problem and the solution.« (UNFCCC 2012: 5)
Patriarchat, Kapitalismus und Post-Kolonialismus Die zwei dominierenden Geschlechtsnarrative der Klimadebatte »Frauen sind besonders durch Klimawandel betroffen« und »Frauen sind besonders prädestinierte Klimaschützerinnen« tragen zur Entpolitisierung globaler Ungleichheiten bei (Arora-Jonsson 2011). Es bleiben sowohl ungleiche Verwundbarkeiten innerhalb nationaler Kontexte unhinterfragt wie auch neo-koloniale Verhältnisse bestehen, die Menschen im globalen Süden eine passive Rolle im Klimawandel zuschreiben. Diese können nur verstanden werden, wenn Geschlechterverhältnisse in ihrer Verschränkung mit rassistischen und Klassenverhältnissen reflektiert (Hackfort 2014; Nightingale 2011) und die Hierarchisierung von Produktion, Erwerbsarbeit, Öffentlichkeit einerseits und Reproduktion, Versorgungsarbeit, Privatheit andererseits (Vinz 2012: 63) dekonstruiert werden. Mit einer intersektionalen Perspektive auf Ungleichheit im Kontext von Verwundbarkeit und Anpassungsfähigkeit gegenüber Klimawandel wird nicht etwa die Bedeutung von Geschlecht relativiert, sondern vielmehr sichtbar, dass Geschlecht nur eine relevante Ungleichheitskategorie neben Klasse, Ethnizität, race oder Körper ist. Feministische Ökonom_innen haben sehr klar analysiert, in welcher Weise patriarchale Geschlechterverhältnisse, Geschlechterrollen und geschlechtliche Arbeitsteilung in kapitalistischen Strukturen verankert sind, bzw. diese erst ermöglichen (Federici 2012). Eine konstruktive Auseinandersetzung mit den Klimawandelfolgen kapitalistisch geprägter Produktions- und Konsumptionsmuster rüttelt damit immer auch an den Grundpfeilern patriarchaler Gesellschaftsstrukturen, Institutionen und Alltagspraktiken. Bei kritischen Analysen zur Bedeutung von Geschlecht ist deshalb erstens zu untersuchen, in welcher Weise die Strukturkategorie Geschlecht mit anderen z.B. klassenbezogenen Praktiken verschränkt ist, die den Zugang zu Arbeit, Einkommen, Landeigentum, Technologien, Krediten und politischen Entscheidungsprozessen – als notwendige Voraussetzungen für den Umgang mit Klimawandelfolgen – regulieren (Fordham 1999); zweitens, wie Diskurse, Repräsentationen und hegemoniale Deutungsmuster von Natur
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und Geschlecht ungleiche Geschlechterverhältnisse oder auch ethnische Zuschreibungen reproduzieren und die globalen Problemdefinitionen der Klimapolitiken selbst ungleiche Klassen-, Körper-, Natur- oder Geschlechterverhältnisse reproduzieren und mitunter sogar verstärken (Hackfort 2015); drittens, welche Widerstandspraktiken sowie individuellen oder kollektiven Organisationsformen im Umgang mit sozial-ökologischen Krisen existieren, die alternative Zukünfte denkbar machen und ermöglichen (Harcourt/Escobar 2005). Der Blick auf geschlechtsspezifische Verwundbarkeit als Diagnose ungleicher Betroffenheiten und unterschiedlicher Reaktionspielräume auf Klimawandelfolgen verschleiert hier mehr als er offenlegt.
Weblinks Informationen und Kommentare zu Genderaspekten in der deutschen und internationalen Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik der NRO Genanet – Gender, Umwelt, Nachhaltigkeit: www.genanet.de Internationale Frauen-, Umwelt- und Entwicklungsorganisation mit Fokus auf Frauenrechte im Globalen Süden, Women’s Environment & Development Organization: www.wedo.org Netzwerk von NROs für Frauenrechte und Geschlechtergerechtigkeit mit Beobachterstatus bei UN-Klimagipfeln, Women and Gender Constituency: http://womengenderclimate.org
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Federici, Silvia (2012): Caliban und die Hexe. Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation. Wien: Mandelbaum. Fordham, Maureen (1999): The Intersection of Gender and Social Class in Disaster: Balancing Resilience and Vulnerability. In: International Journal of Mass Emergencies and Disasters 17(1): 15-36. GIZ (2015): Energising Development. Ländervorhaben Kenia. www.giz.de/de/ weltweit/21975.html (29.06.2015). Hackfort, Sarah K. (2014): Für eine Feministische Politische Ökologie des Klimawandels – Überlegungen zu einer erweiterten Analyseperspektive auf Geschlecht und Anpassung. In: Prokla – Zeitschrift für Kritische Sozialwissenschaft 44(174): 93-110. Hackfort, Sarah K. (2015): Geschlecht und Klimawandel. Zur Politischen Ökologie der Anpassung in Mexiko. Nomos. Harcourt, Wendy/Escobar, Arturo (Hg.) (2005): Women and the politics of place. Bloomfield: Kumarian Press. Nightingale, Andrea J. (2011): Bounding difference: Intersectionality and the material production of gender, caste, class and environment in Nepal. In: Geoforum 42: 153-162. Tuana, Nancy (2013): Gendering Climate Knowledge for Justice: Catalyzing a New Research Agenda. In: Alston, Margaret/Whittenbury, Kerri (Hg.): Research, action and policy. Addressing the gendered impacts of climate change. Dordrecht, New York: Springer: 17-31. UN – United Nations Women Watch (2009): Women, Gender Equality and Climate Change. www.un.org/womenwatch/feature/climate_change/down loads/Woman_and_Climate_Change_Factsheet.pdf (26.08.2015). UNDP – United Nations Development Programme (2010): Gender, Climate Change and Community-Based Adaptation. New York: UNDP. UNFCCC (2012): CDM and Women. http://unfccc.int/resource/docs/publica tions/cdm_and_women.pdf (26.06.2015). Vinz, Dagmar (2012): Klimapolitik und Geschlechtergerechtigkeit. In: Caglar, Gülay/do Mar Castro Varela, Maria/Schwenken, Helen (Hg.): Geschlecht – Macht – Klima. Feministische Perspektiven auf Klima, gesellschaftliche Naturverhältnisse und Gerechtigkeit. Opladen: Budrich: 61-77.
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Globales Umweltmanagement Ulrich Brand und Christoph Görg In der vorherrschenden wissenschaftlichen und politischen Behandlung globaler Umweltprobleme wird angenommen, dass diese Probleme gegeben sind und mit geeigneten politischen Rahmenbedingungen kooperativ gelöst bzw. gemanagt werden können. Der Ansatz eines globalen Umweltmanagements hat sich jedoch in den letzten Jahrzehnten als wenig realitätsgerecht erwiesen, weil die tiefergehende sozio-ökonomische, politische und kulturelle Verankerung nicht-nachhaltiger Produktionsund Lebensweisen bei einem solchen »manageriellen« Politikverständnis tendenziell ausgeblendet bleiben. Auch den starken Tendenzen einer Globalisierung westlicher Produktions- und Konsumnormen kann mit dem Managementansatz nicht begegnet werden. Fragen sozialer Macht und Herrschaft bleiben ausgeblendet oder werden sogar affirmativ als Erfolgsbedingungen effektiver Umweltpolitik akzeptiert.
Der Steuerungsoptimismus zwischenstaatlicher Umweltabkommen Als zentrale Instrumente internationaler Umweltpolitik werden seit der Konferenz für Umwelt- und Entwicklung (UNCED) 1992 in Rio de Janeiro die beiden Rahmen-Konventionen zu Klima (UNFCCC) und zu biologischer Vielfalt (CBD) angesehen, deren Umsetzung von den gleichnamigen Sekretariaten gewährleistet werden soll. Es handelt sich nicht um eigenständige internationale Organisationen, sondern um zwischenstaatliche Institutionen, die die weiteren Verhandlungen zwischen den nationalen Regierungen koordinieren sollen. Auch die auf der UNCED verabschiedete Agenda 21, die im Unterschied zu den beiden Konventionen nicht völkerrechtlich verbindlich ist, stellt einen Rahmen dar, an dem sich die Akteure der internationalen Umweltpolitik orientieren sollen. Dieser zwischenstaatliche bzw. intergouvernementale Charakter dieser im internationalen Vergleich eher schwachen Institutionen erweist sich jedoch immer mehr als Grenze ihrer Gestaltungsfähigkeit. Die von den Regierungen vereinbarten Regeln selbst sind unzureichend, um effektiv implementiert zu werden (Park et al. 2008; Brunnengräber 2009). Letztlich sind sie weder in der
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Lage noch dazu gedacht, der Dynamik un-nachhaltiger Produktions- und Konsummuster sowie der neoliberalen Globalisierung etwas entgegenzusetzen. Mit dieser Fixierung auf zwischenstaatliche Institutionen verbunden ist auch ein sehr enges Verständnis der Problemlage. Unter nachhaltiger Entwicklung wird heute – insbesondere im Globalen Norden – im günstigsten Falle die ökologische Modernisierung etablierter Institutionen und ein vor allem technokratisch »von oben« gedachter Prozess verstanden (Bemmann et al. 2014). Die zentrale Annahme der Umwelt- und Klimapolitik ist ein technokratischer Steuerungsoptimismus bzw. ein »Managerism« (Redclift 1994), der davon ausgeht, dass Probleme bei richtigem Management im Kern lösbar seien. Dazu bedürfe es der Kooperation innerhalb der Gesellschaften und auf der internationalen Ebene zwischen den Regierungen, aber auch die Zusammenarbeit mit privaten Akteuren wie Unternehmen oder Nichtregierungsorganisationen. Der Managerismus der Umwelt- und Klimapolitik nimmt dabei eine top-down-Perspektive ein. Wissenschaftliche, regierungsnahe und Unternehmensexpert_innen sollen als global agierende Elite die Probleme definieren und die Möglichkeiten einer Bearbeitung vorgeben.
Umweltmanagement aus der Nordperspektive Klimaprobleme stehen für eine vermeintlich globale ökologische Krise und sind damit Ausdruck einer sehr selektiven, rein nördlichen Perspektive auf Natur, die ihre eigene partikulare Perspektive nicht reflektiert, sondern unterschlägt und zu universalisieren versucht. Denn Umweltprobleme wie der Klimawandel und damit verbundene Verwundbarkeiten sind in spezifische sozio-ökonomische und politische Bedingungen vor Ort eingelassen, die eine top-down, mit naturwissenschaftlichen Methoden vorgenommene Problembeschreibung verfehlt (Dietz 2011). Diese globale Selektivität unterminiert aber nicht nur Problemdeutungen aus Sicht des globalen Südens, weil eben soziale und ökonomische Ungleichheiten sowie sehr unterschiedliche Erfahrungen mit Umweltproblemen ausgeblendet werden. Da auch die geschlechtsspezifischen Auswirkungen ignoriert werden, ist die managerielle Perspektive zudem geschlechtsblind (→ Geschlechtsspezifische Vulnerabilität). Unsichtbar gemacht wird mit der Konstruktion der einen Natur, dass ökologische Probleme in den verschiedenen Teilen der Welt vor dem Hintergrund verschiedener ökonomischer und kultureller Naturverhältnisse sehr unterschiedliche Formen annehmen können. So hat die Third World Political Ecology (Bryant/Bailey 1997) darauf aufmerksam gemacht, dass in Ländern des Globalen Südens die ökologischen Belastungen viel direkter in die alltäglichen Lebensprobleme eingelassen sind: als Mangel an gesundem Wasser, von Feuerholz bzw. Brennmaterial, als hygienische und sanitäre Probleme oder als Versteppung und Wüstenbildung. Mit der Perspektive des dominanten globa-
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len Umweltmanagements werden diese Alltagsdimensionen und damit ihre fragmentierte sozial-ökologische Realität in der Regel ausgeblendet. Aus der Perspektive des globalen Umweltmanagements ist ein Hauptgrund für das relative Scheitern des Rio-Prozesses die institutionelle Zersplitterung internationaler Umwelt- und Entwicklungspolitik. Entsprechend wird die Schaffung einer starken und sanktionsfähigen Weltumweltorganisation vorgeschlagen. Hier artikuliert sich eine Problemsicht, welche die fehlende Durchsetzungsfähigkeit der internationalen Institutionen als größtes Hindernis fehlschlagender nachhaltiger Entwicklung sieht. Es wird nahegelegt, dass globale Umweltpolitik am besten von zentralisierten, mit Entscheidungs- und Machtressourcen ausgestatteten Institutionen zu erfüllen sei. Dieses Verständnis ist jedoch unzureichend, denn die Gründe für die relative Machtlosigkeit umweltpolitischer Institutionen werden nicht thematisiert. In den verschiedenen Institutionen verdichten sich unterschiedliche Kräfteverhältnisse mit verschiedenen Interessen und Machtpotenzialen im Rücken. In der Klimapolitik auf nationaler und internationaler Ebene sind auch die Interessen der fossilistischen Industrie wie Energieerzeugung, Automobilproduktion oder Chemieindustrie präsent – und zwar auf der Kapitalseite wie auch seitens der Beschäftigten und ihrer Interessenvertretungen. Dazu kommt: Zwar finden in den umwelt- und entwicklungspolitischen Institutionen im engeren Sinne schwächere Interessen eher Gehör als etwa in den internationalen Finanz- und Handelsorganisationen. Erstere sind jedoch deutlich weniger durchsetzungsstark als wirtschafts- und finanzpolitische Organe. Daher ist die Hoffnung auf einen Machtgewinn dieser Institutionen ohne erkennbare Grundlage. Auf der internationalen Ebene ist das wichtigste Abkommen der 1990er Jahre, das die gesellschaftlichen Naturverhältnisse tiefgreifend transformiert, weder die Konvention über die biologische Vielfalt noch die KlimarahmenKonvention, sondern die Welthandelsorganisation (WTO). Die Nichtbeachtung umweltpolitischer wie sozialer Belange in dieser wichtigen internationalen Institution hat sehr weitreichende Folgen. Die Liberalisierung des Welthandels hat direkte ökologische wie soziale Effekte, beispielsweise in der Erhöhung der Güterströme oder den Eingriff in die nationale Umwelt-, Sozial- und Gesundheitspolitik. Zwar wird auf Grund der Politisierung der WTO inzwischen verstärkt auf bilaterale Abkommen gesetzt (insbesondere im Bereich der Sicherung der geistigen Eigentumsrechte der nördlichen Unternehmen). Doch diese teilen mit der WTO die Nichtbeachtung oder Abwertung umwelt- und sozialpolitischer Aspekte. Die aktuellen Verhandlungen zum Transatlantischen Handels- und Investitionsabkommen (TTIP) sind ein Beispiel dafür. Schließlich werden die umweltpolitischen Institutionen in gewisser Weise umfunktioniert. Ein Beispiel ist der Emissionshandel der Klimarahmenkonvention (Kill et al. 2010; Brunnengräber 2009). Über ein Preissignal sollen kostengünstige Einsparpotenziale gefunden oder entwickelt werden, um
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Treibhausgasemissionen zu reduzieren. Die Menge der handelbaren Zertifikate für zulässige Emissionen wird politisch festgelegt und ist beeinflusst von erwartbaren – nicht einfach zu prognostizierenden (vgl. Wirtschaftskrise) – künftigen Emissionen. Sie soll zwar im Zeitverlauf sinken, um weitere Einsparanreize zu schaffen. Tatsächlich steigt jedoch nicht nur der Ausstoß von Klimagasen, sondern die Klimapolitik wird in zweierlei Hinsicht umfunktioniert. Zum einen werden die Verhandlungen entgegen ihrer Absicht zu Terrains, auf denen de facto über unzureichende Reduktionsziele verhandelt werden, damit es eben nicht zu effektiver Klima- und Umweltpolitik kommen muss (Wissen 2010). Zum anderen strukturiert die Klimarahmenkonvention mit ihren marktbasierten Instrumenten (Joint Implementations, Clean Development Mechanisms, Emissionshandel) selbst Anlagefelder für das Finanzkapital (Heuwieser 2015). Mit der dominanten Perspektive des globalen Umweltmanagements werden nicht nur alternative, an der Einhegung von Macht und Veränderung von Produktions- und Lebensweisen orientierte Politikansätze übergangen. Es wird auch das Wissen der lokalen Bevölkerung untergraben sowie deren Möglichkeit, an den Auseinandersetzungen teilzunehmen und die komplexen, klimarelevanten Probleme zu definieren. Gerade im Bereich der zivilgesellschaftlichen Akteure ist Klimapolitik längst zum green business geworden, bei dem internationale Großorganisationen wie The Nature Conservancy oder Conservation International sich mit ihrer starken Schutzorientierung wenig um die Belange lokaler Bevölkerung und viel um die wohlwollende Finanzierung durch transnationale Unternehmen kümmern (→ Klimabewegung).
Glokale Gegenstrategien Da die Hoffnung auf ein top-down-Management des globalen Wandels der Realität ökologischer Probleme nicht gerecht wird, sollten die internationalen Institutionen, ihre tatsächlichen Funktionen und ihre blinden Flecken kritisiert und perspektivisch verändert werden. Dafür ist eine Stärkung der lokalen Ebene und des lokalen Wissens eine unabdingbare Voraussetzung, um dem Gedanken einer nachhaltigen Entwicklung mehr Realitätsgehalt zu verschaffen. Ansonsten werden durch den Managerismus die globalen Machtverhältnisse in fataler Weise weiter zu Gunsten einer globalen Managerklasse und der damit verbundenen Interessen an einer immer weiteren Inwertsetzung der Natur verschoben (→ Inwertsetzung). Dies ist auch die Konsequenz einer »Astronautenperspektive« (Sachs 1997) – eines Blicks aus dem Weltall auf die Erde als Ganze, ohne dass soziale Beziehungen dabei sichtbar würden – auf die weltweite Ungleichheiten und Herrschaftsverhältnisse, wenn überhaupt, nur noch eine nachgeordnete Bedeutung haben. Schließlich wird die Einsicht vernachlässigt, dass unter dem Deckmantel des Umweltmanagements auf lo-
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kaler, nationaler und internationaler Ebene oftmals ganz andere Prozesse vorangetrieben werden und dabei etablierte sozial-ökologische Verhältnisse untergraben werden. Das spiegelt sich in der Frage nach dem Verhältnis zwischen expliziter Umweltpolitik bzw. -abkommen einerseits und anderen Politiken, Vertragswerken und Institutionen andererseits (siehe Verweis auf die WTO oben). So werden mit der Begründung, den Anbau erneuerbarer Energieträger wie Palmöl oder Zuckerrohr auszuweiten, Land in großem Maße privatisiert, Kleinbauern und -bäuerinnen vertrieben und Monokulturlandschaften geschaffen (→ Agrartreibstoffe). Faktisch entsteht dabei eine von Macht- und Herrschaftsinteressen durchsetzte Form des globalen Managements, das Michael Goldman als »globales Ressourcenmanagement« (Goldman 1998) bezeichnet hat. Mit diesem bildete sich ein neuer Autoritäts- und Machttyp heraus, da globale Institutionen die als global definierten Ressourcen und Krisenherde verwalten sollen. Die einheimischen und regionalen Institutionen, so die Argumentation, seien dafür schlecht gerüstet. Das größte Problem für die globalen Ressourcenmanager_innen bestehe – neben der Überbevölkerung, welche in ihren Augen die Tragfähigkeit der Erde gefährdet – konsequenterweise darin, dass die globalen Institutionen nicht genug Macht hätten. Wichtig wäre stattdessen in der öffentlichen Auseinandersetzung, den Glauben an technokratische Allheilmittel und das »Management« von Problemen in Frage zu stellen. Selbstbestimmung, Menschenwürde und die Befriedigung elementarer Bedürfnisse werden nicht durch Effizienzdenken und Managerismus erreicht. Erstens geht es weiterhin darum, alternative Perspektiven in der öffentlichen Debatte und in politischen Prozessen zu stärken, zweitens um eine stärkere Anerkennung sich verändernder klimafreundlicher Praxen »von unten«, etwa in den Bereichen Landwirtschaft und Ernährung, Mobilität oder Stadtentwicklung. Drittens bedarf es einer Infragestellung einer grundsätzlich nicht-nachhaltigen und klima-zerstörenden Produktions- und Lebensweise, was mitunter in konfliktreichen Auseinandersetzungen erreicht werden muss. Dazu müssen viele staatliche und Unternehmenspolitiken, das zeigen die aktuellen Auseinandersetzungen um die Energiewende in Deutschland, ganz grundlegend verändert werden.
Literatur Bemmann, Martin/Metzger, Birgit/von Detten, Roderich (Hg.) (2014.): Ökologische Modernisierung. Zur Geschichte und Gegenwart eines Konzepts in Umweltpolitik und Sozialwissenschaften. Frankfurt a.M./New York: Campus. Brunnengräber, Achim (2009): Die politische Ökonomie des Klimawandels. München: Oekom.
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Bryant, Raymond L./Bailey, Sinead (1997): Third World Political Ecology. London/New York: Routledge. Dietz, Kristina (2011): Der Klimawandel als Demokratiefrage. Sozial-ökologische und politische Dimensionen von Vulnerabilität in Nicaragua und Tansania. Münster: Westfälisches Dampf boot. Goldman, Michael (1998): Privatizing Nature: Political Struggles for the Global Commons. London: Pluto. Heuwieser, Magdalena (2015): Grüner Kolonialismus in Honduras. Land Grabbing im Namen des Klimaschutzes und die Verteidigung der Commons. Wien: Promedia. Kill, Jutta/Ozinga, Saskia/Pavett, Steven/Wainwright, Richard (2010): Trading carbon: How it works and why it is controversial. Brüssel.www.fern.org/ sites/fern.org/files/tradingcarbon_internet_FINAL.pdf (16.06.2015). Park, Jacob/Conca, Ken/Finger, Mathias (Hg.) (2008): The Crisis of Global Environmental Governance. Towards a new political economy of sustainability. London/New York: Routledge. Redclift, Michael (1994): Development and the Environment: Managing the Contradictions? In: L. Sklair (eds.): Capitalism and Development. London: Routledge: 123-139. Sachs, Wolfgang (1997): Sustainable Development. Zur politischen Anatomie eines internationalen Leitbilds. In: Brand, Karl-Werner (Hg.): Nachhaltige Entwicklung. Eine Herausforderung an die Soziologie. Opladen: Leske + Budrich: 93-110. Wissen, Markus (2010): Klimawandel, Geopolitik und »imperiale Lebensweise«. Das Scheitern von »Kopenhagen« und die strukturelle Überforderung internationaler Umweltpolitik. In: Kurswechsel 2: 20-38.
Inwertsetzung von Natur Christoph Görg Seit Jahren wächst in der Umweltpolitik der Glaube, eine ökonomische Bewertung bzw. eine Inwertsetzung von Natur würde zu einem rationaleren Umgang mit Umweltproblemen beitragen. Von der Marx’schen Theorie kann man dagegen lernen, dass die Inwertsetzung von Natur ihre Unterordnung unter die Gesetze der Kapitalakkumulation meint – begleitet von weitreichenden sozial-ökologischen Konflikten.
Monetäre Bewertung von Natur — Fallstricke eines tiefsitzenden Glaubens »Forscher versuchen, der Natur einen Preis zu geben.« (3Sat-Wissenschaftsmagazin »Nano« vom 11. Oktober 2012) So oder so ähnlich klingt es seit Jahren immer häufiger aus allen Medien. Was nicht wertgeschätzt wird, so die dahinter stehende Überzeugung, wird auch nicht sorgfältig genutzt und erhalten. Und Wertschätzung wird oft genug mit ökonomischer Bewertung gleichgesetzt – als gäbe es nicht viele andere Formen der sozialen, ethischen oder ästhetischen Wertschätzung, die mit dem Preis eines Gegenstands rein gar nichts zu tun haben. Was sich beobachten lässt, ist das ungebrochene, ja wachsende Vertrauen in ökonomisch fundierte Argumente in der Politik. Nicht zuletzt der sogenannte Stern-Report (Stern 2007), der Bericht des britischen Ökonomen Niklas Stern zu den Kosten des Klimawandels, beförderte diesen Glauben. Stern hatte es geschafft, das Klimaproblem auf eine einfache Formel zu bringen: Die Kosten für Klimaschutz und Klimaanpassung sind zu stemmen, aber wird nichts gegen die Erderwärmung getan, dann wird es angesichts der Folgen noch teurer. Wer kann sich schon der Überzeugungskraft dieser einfachen Botschaft entziehen – die gleichwohl von vielen Ökonom_innen ob ihrer problematischen Annahmen und methodischen Schwächen heftig kritisiert wurde (z.B. Spash 2011). Der neue Stern-Bericht »The new climate economy« wiederholte dennoch die gleiche These und gab dem Vertrauen Ausdruck, dass durch technologische Innovation und UN-Kooperation Klima und Ökonomie profitieren können (Stern 2015).
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Die G7/8 nahm denn auch gerne die Botschaft auf und versuchte, auf ihrem Treffen 2008 in Heiligendamm einen ganz ähnlichen Bericht, einen »Stern-Report für Biodiversität« ins Leben zu rufen. Doch dieser Prozess sah dann etwas anders aus. Die internationalen TEEB-Reports (The Economics of Ecosystems and Biodiversity), die in den Folgejahren entstanden, gingen das Thema anders an als Stern. So findet man dort keine Gesamtberechnung für den Wert der Biodiversität überhaupt, noch wird die ökonomische Bewertung für den gesamten Bereich der Ökosystemleistungen vorgelegt. Obwohl schon der Begriff der Ökosystemleistungen (Ecosystem Services) oftmals mit einer ökonomischen Bewertung der Natur gleichgesetzt wird, stellt der internationale TEEB-Prozess fest: Viele Leistungen der Natur sind uns noch gar nicht bekannt, oder sie lassen sich nicht quantifizieren und damit erst recht nicht monetär berechnen. So kritisiert der Ökonom John Gowdy herkömmliche ökonomische Paradigmen, wenn er davon spricht: »If we discard the straightjacket of Walrasian mathematics we can begin to sort out what can be priced, what can be measured without prices, and what cannot be measured at all but still valued.« (TEEB 2010: 21) Und trotzdem: Der Glaube an die Überzeugungskraft ökonomischer Argumente wird gerade auch im TEEB-Prozess gepflegt, der zu ihrer Verbreitung beiträgt. Ausgehend von der These, dass in gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen die oft kostenlos in Anspruch genommenen Leistungen der Natur nicht ausreichend gewürdigt werden, wird eine bessere Berücksichtigung der ökonomischen Bedeutung von Ökosystemen bzw. der Biodiversität in ihnen gefordert. Abgezielt wird aber weniger auf eine ökonomische Gesamterfassung als auf die Nutzung ökonomischer Argumente in konkreten Entscheidungssituationen, z.B. in Fragen der Landnutzung. Als Leitmotiv wird im ersten TEEB-Report formuliert: »You cannot manage what you cannot measure.« (TEEB 2008: 6) Genau hier zeigt sich aber ein grundlegendes Problem ökonomischer Bewertung. Dieses Leitmotiv ignoriert nicht nur andere, vormoderne Formen des Managements natürlicher Ressourcen, es reproduziert in erstaunlich naiver Weise den Glauben an die Naturbeherrschung, den Glauben, dass man im Prinzip alle Dinge »durch Berechnen beherrschen könne« (Weber 1973: 317), nach Max Weber ein Kernprinzip neuzeitlicher Rationalität und Grundlage kapitalistischen Wirtschaftens. Obwohl also die wissenschaftlichen Grenzen monetärer Bewertung der Natur von reflektierten Ökonomen (insbesondere jenseits des neoklassischen Dogmas) anerkannt werden, sind es die politischen Ziele, die einer ökonomischen Bewertung Auftrieb verschaffen und dabei das Grundmotiv neuzeitlicher Naturbeherrschung reproduzieren. So soll TEEB kein Ersatz sein für bestehende Ansätze im Umwelt- und Naturschutz, sondern durch die verstärkte Verwendung ökonomischer Bewertungen neue und zusätzliche Argumente für den Erhalt der Biodiversität in Anschlag bringen (vgl. Görg/Aicher 2014).
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Eine ähnliche Zielsetzung findet sich in vielen Bereichen der Biodiversität, häufig unter Verweis auf Leistungen wie die ökonomische Bedeutung von Bestäubung durch Insekten: »Although action to halt biodiversity loss entails costs, biodiversity loss itself is costly for society as a whole, particularly for economic actors in sectors that depend directly on ecosystem services. For example, insect pollination in the EU has an estimated economic value of € 15 billion per year.« (EC 2011: 3) Auf den ersten Blick scheint es plausibel zu sein, den Beitrag bestimmter Leistungen mit ökonomischen Werten zu erfassen und als Argument in Auseinandersetzungen um den Schutz der Biodiversität zu verwenden. Darin spiegelt sich der tiefsitzende Glaube, eine ökonomische Bewertung könnte zu einem schonenderen Umgang mit der Natur beitragen – als würden nicht ökonomische Werte selbst immer wieder irrationalen Kräften ausgesetzt (wie z.B. der Psyche der Anleger an den Aktienmärkten) oder regelmäßig in Krisenprozessen zerstört, selbst wieder Ausdruck der Irrationalität kapitalistischer Verwertungslogik. Doch dieser Glaube ist keineswegs unumstritten: Einige Akteure der Zivilgesellschaft kritisieren pauschal das Konzept der Ökosystemleistungen selbst (Unmüßig 2014) oder zumindest seine Verwendung in der neoklassischen Ökonomie (BUND 2010). Im internationalen Rahmen wird besonders die westliche Rationalität und das Naturverständnis abgelehnt, das hinter dem Konzept steht (Turnhout et al. 2014). Und in wissenschaftlichen Diskussionen wird immer wieder auf die Gefahr einer Kommodifizierung der Natur hingewiesen, bei der sozial-ökologische Verhältnisse umgestaltet und der Warencharakter der Natur gestärkt bzw. gegenüber nicht-warenförmigen Naturverhältnissen überhaupt erst durchgesetzt wird (Gómez-Baggethun/Ruiz-Pérez 2011). Gegen den im Konzept angelegten Anthropozentrismus und Utilitarismus lassen sich ethische Argumente anbringen (Jax et al. 2013), aber entscheidender dürfte sein, dass durch die Dominanz ökonomischer Rationalität und die Verwandlung der Natur in eine Ware der Prozess kapitalistischer Inwertsetzung gestärkt und in neue Bereiche ausgedehnt wird – eine Inwertsetzung, die allerdings weiterreichendere Implikationen hat als nur die Verwendung ökonomischer Argumente.
Inwertsetzung aus marxistischer Perspektive Im Gegensatz zur Mainstream-Ökonomie, bei der Inwertsetzung meist weitgehend synonym mit wirtschaftlicher Nutzbarmachung eines bisher nicht oder kaum genutzten Gebietes oder Gegenstandes verwendet wird, hat der Begriff der Inwertsetzung in den Marx’schen Schriften zwei zentrale, anders gelagerte Bedeutungen (vgl. Görg 2006). Einmal spielt er in systematischer Weise auf die Verwandlung von Ware in Geld und die Verselbständigung von Wert und
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Kapital gegenüber den Gebrauchswerteigenschaften der Ware an; zudem bezieht er sich auf die im 24. Kapitel des ersten Bandes des Kapitals beschriebene »sogenannte ursprüngliche Akkumulation«. Die erste Dimension bringt zum Ausdruck, dass der Wert der Waren einen diesen gegenüber selbständigen Gehalt besitzt, insofern er gerade nicht die besonderen Qualitäten einer Ware (ihre Naturalform und damit verbundene Gebrauchswerteigenschaften), sondern ihre »quantitativ bestimmte Austauschbarkeit« (Marx 1974: 59) bezeichnet. Systematisch bezeichnet der Begriff daher nicht nur die Verwandlung von Gegenständen in Waren (d.h. ihre Kommodifizierung), sondern viel weitergehender ihre Unterordnung unter die Gesetze kapitalistischer Verwertungslogik. Der Zweck dieser Austauschbarkeit liegt nämlich nicht in der Nutzung der besonderen materialen Qualitäten einer Ware, sondern allein in der Verwertung des Wertes, d.h. in der Vermehrung des eingesetzten Kapitals. Die monetäre Bewertung von Gegenständen allein ist also keinesfalls ausreichend zur Charakterisierung der Inwertsetzung, so sehr auch die Monetarisierung ein wesentliches Element dieses Prozesses darstellt, z.B. im Zusammenhang mit der monetären Bewertung von Naturressourcen oder Ökosystemleistungen (s.o.). Aber über die Monetarisierung hinaus schließt die Inwertsetzung die tatsächliche Einbeziehung von Gegenständen oder sozialen Prozessen in den Prozess der Kapitalakkumulation mit ein. Die zweite Dimension, der Vorgang der »sogenannten ursprünglichen Akkumulation«, meint die Entstehung und Durchsetzung kapitalistischer Produktionsverhältnisse, die Scheidung »von Produzent und Produktionsmittel« und die Verwandlung letzterer in Kapital (MEW 23: 741ff.). Weil Marx diesen Scheidungsprozess insofern als »ursprünglich« charakterisiert, »weil er die Vorgeschichte des Kapitals und der ihm entsprechenden Produktionsweise bildet« (ebd.: 742), wurde zum Teil davon ausgegangen, dass dieser Prozess mit der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse abgeschlossen sei. Marx beschreibt in diesem Zusammenhang den Prozess der Freisetzung des/der modernen Lohnarbeiter_in aus feudalen Verhältnissen, die damit verbundene Zerstörung vorkapitalistischer Produktions- und Eigentumsverhältnisse (vor allem die Einhegung des Gemeindelandes; MEW 23: 752ff.) und letztlich die Genese des/der industriellen Kapitalist_in, d.h. die Entstehung spezifischer Klassenverhältnisse bzw. Produktionsverhältnisse. Deren Durchsetzung ist nicht mit den Gesetzmäßigkeiten dieser Gesellschaftsformation und dem ihr innewohnenden »stumme[n] Zwang der ökonomischen Verhältnisse« selbst zu erklären, sondern ist durch »außerökonomische, unmittelbare Gewalt« (ebd.: 765) hervorgerufen. Zu ihrer Durchsetzung bedurfte es sowohl des Staates und seiner Gesetze als auch einer direkten militärischen Gewalt. Nach Marx ist es die Eroberung und die Ausbeutung der Bodenschätze der »neuen Welt«, die »die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära« darstellen (ebd.: 779).
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Beide Aspekte der Inwertsetzung, der systematische wie der historische, fließen in der Akkumulations- und Imperialismustheorie von Rosa Luxemburg zusammen. Ihr zufolge entsteht der Kapitalismus nicht nur in einer nicht-kapitalistischen Umwelt, sondern ist auch in seiner weiteren Entwicklung mit einer solchen vermittelt: »Der Kapitalismus bedarf zu seiner Existenz und Fortentwicklung nichtkapitalistischer Produktionsformen als seiner Umgebung.« (Luxemburg 1923: 289) In diesem Sinne ist der Begriff der Inwertsetzung ein wichtiges Element einer marxistisch ausgerichteten Zeitdiagnose und wird immer wieder auf aktuelle Prozesse kapitalistischer Globalisierung und die damit verbundenen gesellschaftlichen Strukturveränderungen angewendet.
Land und Ökosysteme als Objekte kapitalistischer Inwertsetzung Die Tendenz kapitalistischer Verhältnisse, sich »eine Welt nach ihrem eigenen Bilde« zu schaffen (MEW 4: 466), ist also mit der Durchsetzung kapitalistischer Produktionsverhältnisse in den Metropolen keineswegs abgeschlossen. Gerade die jüngste Runde kapitalistischer Globalisierung seit den 1990er Jahren hat deutlich werden lassen, dass der Prozess der Inwertsetzung dabei eine zentrale Rolle spielt. Entgegen den Annahmen der bürgerlichen Ökonomie meint Inwertsetzung aber nicht einfach die gesellschaftliche Nutzbarmachung oder Wertschätzung bestimmter Räume und Ressourcen, sondern ihre systematische Integration in den kapitalistisch geprägten Weltmarkt (vgl. eine der ersten Arbeiten dazu: Altvater 1987). Diese Integration hat verschiedene Facetten. Zum einen geht es um die höchst selektive Integration und Ausbeutung bestimmter Regionen wie z.B. des Amazonasgebietes (vgl. Altvater/Mahnkopf 1999: 23, 128ff.), zum anderen werden neue Ressourcen unter die Bedingungen der Kapitalakkumulation subsumiert (vgl. zum Beispiel genetische Ressourcen: Brand/Görg 2003) und die damit verbundenen Geschlechterverhältnisse sowie umfassende soziale Verhältnisse tiefgreifend umstrukturiert (vgl. Mies/Shiva 1995). Entscheidend ist dabei, dass Inwertsetzung nicht allein auf die Warenförmigkeit von Produkten abzielt, sondern einen mehrstufigen Prozess meint, in dem Ressourcen zuerst als solche definiert bzw. konstituiert, identifiziert und extrahiert und letztlich in den Weltmarkt integriert werden (vgl. Altvater/ Mahnkopf 1999: 131). Diese Stufen stellen wichtige Bausteine der Subsumtion unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen dar, deren Ergebnis aber keineswegs garantiert ist, sondern die mit zum Teil weitreichenden sozial-ökologischen Konflikten verbunden sind. In diesen Konflikten treffen einerseits kapitalistische und nicht-kapitalistische Naturverhältnisse aufeinander, andererseits werden aber auch immer wieder aus dem kapitalistischen Verwertungszusammenhang freigesetzte
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Bereiche (z.B. Formen der informellen Arbeit oder der Landnutzung) erneut transformiert und der Kapitalverwertung wieder unterworfen. Dies schließt massive Eingriffe in kulturell verankerte Lebensweisen, in Eigentums- und Nutzungsformen, ein. Aktuell spielen vor allem die Konflikte um die Aneignung »natürlicher« Ressourcen und damit von potenziell wertvollem Land und Ökosystemen eine große Rolle. Konflikte um land- oder green grabbing sind auch in der Debatte um Ökosystemleistungen deutlich zu vernehmen und müssen in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit analysiert werden (Dempsey/ Robertson 2012). Statt zu einem rationaleren Umgang mit Natur auf Grund steigender ökonomischer Wertschätzung sind Prozesse der Inwertsetzung Ausdruck einer »Neoliberalisierung der Natur« (Castree 2008, Übers. CG), die diese der kapitalistischen Verwertung unterwirft, dabei aber auch neue Widersprüche und Konflikte erzeugt.
Weblinks Länderbeispiele und Veröffentlichungen von The Economics of Ecosystems and Biodiversity (TEEB): www.teebweb.org Berichte und Interviews von TEEB-Deutschland: www.naturkapitalteeb.de Blog von Studierenden der TU Berlin zu Inwertsetzung im Bereich Klimawandel: https://umweltwert.wordpress.com/2014/07/08/inwertsetzung-derwert-der-natur-fur-wirtschaft-und-gesellschaft
Literatur Altvater, Elmar (1987): Sachzwang Weltmarkt. Hamburg: VSA. Altvater, Elmar/Mahnkopf, Birgit (1999): Grenzen der Globalisierung. Münster: Westfälisches Dampf boot. Brand, Ulrich/Görg, Christoph (2003): Postfordistische Naturverhältnisse. Münster: Westfälisches Dampf boot. BUND (2010): TEEB: The economics of ecosystems and biodiversity. Internationale Diskussion um eine Ökonomie der Ökosysteme und der biologischen Vielfalt, BUNDhintergrund (Eigenverlag). Castree, Noel (2008): Neoliberalising nature: processes, effects, and evaluations. In: Environment and Planning A 40: 153-173. Dempsey, Jessica/Robertson, Morgan M. (2012): Ecosystem services: Tensions, impurities, and points of engagement within neoliberalism. In: Progress in Human Geography 36: 758-779. EC – European Commission (2011): Our life insurance, our natural capital. An EU biodiversity strategy to 2020. http://ec.europa.eu/environment/nature/ biodiversity/comm2006/pdf/EP_resolution_april2012.pdf (20.07.2015).
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Gómez-Baggethun, Eric/Ruiz-Pérez, Manuel (2011): Economic valuation and the commodification of ecosystem services. In: Progress in Physical Geography 35: 613-628. Görg, Christoph (2003): Regulation der Naturverhältnisse. Münster: Westfälisches Dampfboot. Görg, Christoph (2006): Inwertsetzung. In: Haug, Wolfgang F./Haug, Frigga/ Jehle, Peter/Küttler, Wolfgang (Hg.): Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 6/2. Hamburg: Argument-Verlag: 1501-1506. Görg, Christoph/Aicher, Christoph (2014): Ökosystemdienstleistungen – zwischen Natur und Gesellschaft. In: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berichte und Abhandlungen Band 16. Berlin, De GruyterAkademie: 35-58. Jax, Kurt et al. (2013): Ecosystem services and ethics: Reclaiming the ecosystem services concept. In: Ecological Economics, 93, 260-268. Luxemburg, Rosa (1923): Die Akkumulation des Kapitals. Berlin: Vereinigung Internationaler Verlagsanstalten. Marx, Karl (1974): Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin (Ost): Dietz. Mies, Maria/Shiva, Vandana (1995): Ökofeminismus. Zürich: Rotpunkt. Spash, Clive L. (2011): Terrible economics, ecosystems and banking. In: Environmental Values 20(2): 141-145. Stern, Niklas H. (2007): The economics of climate change: the Stern review. Cambridge: Cambridge University Press. Stern, Niklas H. (2015): The new economics of climate change. http://2015.new climateeconomy.report (13.07.2015). TEEB (2008): The economics of ecosystems and biodiversity: An interim report. European Commission. Brussels. www.teebweb.org/publication/theeconomics-of-ecosystems-and-biodiversity-an-interim-report (20.07.2015). TEEB (2010): The economics of ecosystems and biodiversity: Ecological and economic foundations. Edited by Pushpam Kumar. London: Routledge. Turnhout Esther/Waterton, Claire/Neves, Katja/Buizer, Marleen (2013): Rethinking biodiversity: from goods and services to ›living with‹. In: Conservation Letters 6(3): 154-161. Unmüßig, Barbara (2014): Vom Wert der Natur. Sinn und Unsinn einer Neuen Ökonomie der Natur. Berlin: Heinrich-Böll-Stiftung. Weber, Max (1973): Soziologie – Universalgeschichtliche Analysen – Politik. Stuttgart: Kröner.
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Klima-Governance Achim Brunnengräber Nicht »Climate Governance«, sondern »Climate Conflicts« prägen seit 2009 die UN-Klimaverhandlungen. Gleichzeitig wird die Klimapolitik von einer neuen Klimabewegung begleitet, die sich aber nur bedingt als Konkurrenz zu den auf Klimakonferenzen etablierten Nicht-Regierungsorganisationen behaupten kann. Währenddessen bilden sich dezentrale Politikansätze zum Klimaschutz heraus, die die lokalen Gegebenheiten stärker berücksichtigen.
Von der Kooperation zur Konfrontation Die wissenschaftliche Karriere des Governance-Begriffs begann 1995, als er von der politischen Kommission für Weltordnungspolitik der Vereinten Nationen international populär gemacht wurde (SEF 1995). Er bezeichnete nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes die Möglichkeiten neuer Kooperationsformen unter den Staaten, insbesondere auch mit privatwirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren. Im Zuge der UN-Weltkonferenzen in den 1990er Jahren zu sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Problemen wurde der Begriff vor allem in den Politik- und Sozialwissenschaften aufgegriffen und zum Forschungskonzept weiterentwickelt. Die Zeiten haben sich jedoch geändert. Die internationale Klima-Governance, die durch Dialog, Entscheidungen und Kooperation von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren geprägt war, steht vor einem Scherbenhaufen. Mindestens vier wesentliche Entwicklungen haben dazu beigetragen: Erstens wird die globale Problemsicht, die auch immer eine diskursive Konstruktion war und weitreichende Konsequenzen für die politische Bearbeitung des Klimawandels hatte, um eine deutlich differenziertere, regional präzisere Problemanalyse ergänzt. Zweitens wird den Problemursachen des Klimawandels wieder mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Wer mehr Klimaschutz will, kann sich nicht nur mit den schädlichen Treibhausgasen beschäftigen, sondern muss den gesamten Kohlenstoffzyklus von der Extraktion der fossilen Ressourcen bis zu den Emissionen abbremsen und schließlich verhindern. Drittens sind
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Kräfteverschiebungen auf dem Konfliktfeld Klima kaum zu übersehen. Starke global player, darunter vor allem die BRIC-Staaten Brasilien, Russland, Indien und China, fordern mit einigem Erfolg mehr Mitsprache ein. Viertens werden in der Zivilgesellschaft und den Medien die Auseinandersetzungen darüber, welches der richtige Weg zu mehr Klimaschutz ist, intensiver, aber auch deutlich konflikthafter geführt. In der Region und am lokalen Ort finden wichtige Energiekämpfe statt, die zentrale Impulse zur Transformation des auf immer mehr Wachstum ausgerichteten Wirtschaftssystems in Richtung Nachhaltigkeit geben. Das Scheitern der internationalen Klimapolitik zeigt sich darin, dass die bisher ergriffenen Maßnahmen das Ziel der Reduktion der CO2-Emissionen weitgehend verfehlten (Ziesing 2014) und es nicht gelingt, ein anspruchsvolles Folge-Abkommen für das Kyoto-Protokoll zu beschließen. Das Scheitern gründet darauf, dass die Verhandlungen nie zum Problemkern – dem nuklearfossilen Energie- und Wirtschaftssystem – vordringen konnten und die marktwirtschaftlichen Instrumente, mit denen dem Klimawandel begegnet werden soll, diesen Kern gar nicht berühren (Brunnengräber et al. 2008). Es zeigt sich auch darin, dass sich erhebliche Widerstände innerhalb der Regierungen in den Industrie- wie in den Schwellenländern gegen weitreichende Reduktionsziele entwickelten. Dafür wird insbesondere die Klimakonferenz 2009 in Kopenhagen im Gedächtnis bleiben. Das unverbindliche Abschlussdokument, der Copenhagen-Accord, wurde nur »zur Kenntnis« genommen. Weniger Ergebnis ist in der internationalen Diplomatie kaum möglich. Damit wird dem Tempo der dramatischen Klimaveränderungen mit seinen sehr unterschiedlichen sozial-räumlichen Auswirkungen und ganz unterschiedlichen Vulnerabilitäten (→ Klimavulnerabilität) alles andere als Rechnung getragen. Diese Situation erzwingt eine realistischere Perspektive auf die Möglichkeiten und Grenzen der internationalen Klima-Governance, die lange Zeit von einem starken Geist der Problemlösung geprägt war. In der Krise der Klimadiplomatie entstehen Möglichkeiten zur Korrektur, zum Umsteuern oder zu alternativen Entwürfen. Vielleicht bildet sich auf subglobaler Ebene eine breite Bewegung für den Klimaschutz, zu einem neuen nachhaltigen Lebensstil sowie für eine kritische Beschäftigung mit dem Wachstumszwang der Weltwirtschaft heraus. Schon jetzt lässt sich konstatieren, dass durch zivilgesellschaftliches Engagement ein öffentliches Bewusstsein für dezentrale Klimaschutzmaßnahmen und ein breiteres Verständnis der Problemlösung entstanden ist. Auch deshalb müssen die globalen Klimaverhandlungen in einem anderen Licht betrachtet werden. Aber gehen damit bereits Prozesse der Dekarbonisierung der Weltwirtschaft einher?
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Grenzen globalen Umweltmanagements Die Atmosphäre wird von den UN, von NROs oder von Entscheidungsträgern aus Politik und Wirtschaft als Gemeinschaftsgut angesehen, das allen zur Verfügung steht. Das ist einer der Ausgangspunkte dafür, dass heute vom Entstehen einer Weltgesellschaft gesprochen wird. Aus der permanenten Übernutzung der Atmosphäre – es werden zu viele Treibhausgase deponiert – werden gemeinsame Interessen an ihrem Schutz und einer globalen Umweltpolitik begründet. Daraus wird die Notwendigkeit des international abgestimmten Handelns der Staatengemeinschaft abgeleitet, um den gravierenden Zerstörungen in Folge des Klimawandels gemeinsam begegnen zu können. Die Betrachtung der Atmosphäre als globales Gemeinschaftsgut folgt jedoch keiner objektiven Wissenschaft, sondern politischen Zuschreibungen und diskursiven Konstruktionen. Die globalen Klimamodelle etwa des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) liefern insofern nicht nur Beratungswissen, sondern stellen immer auch eine strategische Ressource für die politischen Entscheidungsträger dar (→ Weltklimarat). Ähnliches gilt für das neu ausgerufene Erdzeitalter, das »Anthropozän«. Der Fachterminus weist darauf hin, dass das Holozän, das über Jahrtausende hinweg von relativ stabilen Klimaverhältnissen geprägt war, vorbei ist und der Mensch eine zentrale Kraft dieses Übergangs war und ist (→ Anthropozän). Auch hier lassen sich aus der globalen Perspektive internationale Handlungsnotwendigkeiten ableiten. Ein solches Problemverständnis führte innerhalb der UN zur Klimarahmenkonvention (UNFCCC), dem Kyoto-Protokoll und den verschiedenen Maßnahmen, die von den UN-Staaten verabschiedet und im top down-Verfahren implementiert werden. Dazu zählen der Emissionshandel, der Clean Development Mechanism (CDM), die Klimaschutzfonds wie der Adaptation Fund oder das Programm Reducing Emissions from Deforestation and Forest Degradation (REDD). Auf Grund ihrer Komplexität sind die Regelwerke vielfach nicht sehr effizient, verfehlen ihre Wirkung und sind kaum noch überschaubar. Längst werden auch bei den UN-Verhandlungen regelmäßig Forderungen nach einem Weniger an Komplexität und einem Mehr an dezentralen Lösungsansätzen laut. Noch ein weiteres Problem wurde im Laufe der Klimapolitik immer deutlicher: Die internationale Handlungsebene lenkt die Aufmerksamkeit von konkreten nationalen wie subnationalen Handlungsansätzen ab und ermöglicht die Verschiebung der Verantwortung auf die übergeordnete Ebene, was sich als two level game beschreiben lässt. Nationale Regierungen warten auf die Ergebnisse der internationalen Verhandlungen, die aber stets sehr mühsam und langsam geführt werden. Entscheidungen werden nur auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner getroffen, woran sich die Politik im Nationalstaat schließlich orientieren kann. In der internationalen Klimapolitik stieß der Ansatz des
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globalen Umweltmanagements auch vor diesem Hintergrund stets auf großen Zuspruch (→ Globales Umweltmanagement). Dass sich mit der globalen Problemperspektive aber nur eine der möglichen Deutungen durchgesetzt hat, zeigt sich insbesondere in Krisenzeiten. Die gesellschaftlichen Widersprüche, die in die internationale Klimapolitik eingeschrieben sind und zu denen sozio-ökonomische Ungleichheiten gehören, die sich in Luxus- und Armutsemissionen oder ungleichen Chancen zur Anpassung zeigen, blieben im hegemonialen Diskurs auf internationaler Ebene verdeckt. Sie werden heute wieder intensiver thematisiert. 20 Jahre nach Inkrafttreten der Klimarahmenkonvention 1994 verschiebt sich scheinbar die Perspektive zu mehr Realismus: Das Weltwirtschaftsforum in Davos macht in seinem Risiko-Bericht 2012 eine Verlagerung von globalen Umweltrisiken zu räumlich differenzierteren sozio-ökonomischen Gefahren aus – ein Auftrieb von Nationalismen, Populismus und Abschottung (WEF 2012: 10).
Strategische Engführung des Problems Der Klimawandel wird in der internationalen Klima-Governance nicht als zentrales Problem eines ressourcenintensiven Kapitalismus gerahmt, der durch die Verbrennung fossiler Energien angetrieben wird. Insbesondere die InputSeite des Fossilismus, die zerstörerische Kraft von Kohle, Gas und Öl, bleibt jenseits des Horizonts der Politik; die Reduktion von Emissionen als Ziel des Klimaschutzes (mitigation) wird zum zentralen Ansatzpunkt erklärt. Damit ist allerdings nicht alleine die Vermeidung der Emissionen gemeint, sondern auch der Umgang mit ihnen und ihren Auswirkungen. Mitigation zielt auch auf die Verpressung der schädlichen Emissionen in die Erdkruste (→ Geoengineering), die Auswirkungen der Treibhausgase auf Ökosysteme oder auf Wälder als Senken von CO2-Emissionen (→ REDD). Der Bezug auf die Output-Seite macht das Problem polit-ökonomisch erst handhabbar. Den Maßnahmen, die hier ansetzen, kann auch von den starken staatlichen wie privatwirtschaftlichen Akteuren zugestimmt werden, die eine internationale Besteuerung der fossilen Energien oder Verbote strikt ablehnten. Eine solche Output-Orientierung herrschte jedoch nicht immer vor. Zu Beginn der klimapolitischen Debatte in den 1980er Jahren wurden grundsätzliche gesellschaftliche Probleme thematisiert, die in den Klimawandel eingeschrieben sind. Diese Diskussionen bewegten sich um Fragen der Klimagerechtigkeit zwischen Nord und Süd, um die weltweite Gleichverteilung der Pro-Kopf-Emissionen, um den Zusammenhang von Armut, Reichtum und Umweltzerstörung oder um die Frage der historischen Verantwortung für den Klimawandel und den Konsequenzen daraus (→ Klimagerechtigkeit). Diese umfassenderen Ansätze hatten in der Klima-Governance jedoch keine Deutungsmacht. Das Kyoto-Protokoll konzentriert sich mit dem neueingeführten
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Emissionshandel, Technologie- und Wachstumsförderung und Finanzinstrumenten dagegen am hegemonialen Projekt des Neoliberalismus (Harvey 2005). Ökonomische Prozesse der Inwertsetzung der Natur, freier Warenhandel, Wachstum und Lebensstil- bzw. Konsumfragen waren wirkmächtiger (→ Inwertsetzung von Natur). Mit anderen Worten: Maßnahmen, die sich in das bestehende Wirtschaftsgefüge einpassten, waren erfolgreicher als solche, die auf Ordnungspolitik setzten oder gar das bestehende fossilistische Energiesystem in Fragen stellten. Deshalb konnte es auch nicht gelingen, Wachstum und Emissionszunahme zu entkoppeln. Das weltweite Angebot an fossilen Energien wird noch bis 2040 kontinuierlich ansteigen. Die Prognosen, die der World Energy Outlook 2014 präsentierte, sind klimapolitisch mehr als alarmierend. Wenn auch mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten wird bei business as usual sowohl der Gasals auch der Kohle- und Ölverbrauch in den nächsten zweieinhalb Jahrzehnten weiter steigen. Eine große Bedeutung wird außerdem die unkonventionelle Gas- und Ölförderung ( fracking) haben. Nach Angaben der Internationalen Energie Agentur (International Energy Agency, IEA) nahm die Versorgung mit Primärenergie zwischen 1973 und 2011 von 6.115 auf 13.113 Millionen Tonnen Öläquivalent zu. Das entspricht einer Steigerung von insgesamt 114,4 % bzw. 2 % pro Jahr. Der Anteil der neuen erneuerbaren Energien (Geothermie, Solar-, Wind- und Meeresenergie) hat sich in diesem Zeitraum lediglich von 0,1 auf 1 % erhöht (IEA 2013). Da weltweit die Nachfrage nach Energie weiterhin deutlich ansteigen wird, wird – sofern kein drastischer Pfadwechsel erfolgt – der Anteil der erneuerbaren Energien am Gesamtenergieverbrauch relativ gering bleiben.
Prozesse der Re-Nationalisierung Diese Entwicklungen und ihre Ursachen werden bei den jährlichen Klimaverhandlungen nicht thematisiert. Sie verdeutlichen aber, dass eine Trendwende in der auf fossilen Energieträgern basierenden Energiewirtschaft erst noch – und zwar gegen machtvolle Interessen – angestoßen und durchgesetzt werden muss. Denn die billige Versorgung mit fossilen Energien ist der Schmierstoff für die nationale Wettbewerbsfähigkeit, die auf global umkämpften Märkten immer wieder neu gesichert werden muss. Diese strukturelle Blindstelle der Klimadiplomatie kann jedoch noch nicht erklären, warum der internationale Konsens in den Klimaverhandlungen brüchig wird. Andere »externe Effekte« müssen dafür berücksichtigt werden. Zu diesen zählt das Erstarken der BRICStaaten Brasilien, Russland, Indien und China. Diese Staaten traten seit 2009 (Klimakonferenz in Kopenhagen) selbstbewusster und fordernder auf als jemals zuvor in den internationalen Klimaverhandlungen. Das beachtliche Wirtschaftswachstum in den BRIC-Staaten bringt neue Konkurrenten auf dem Weltmarkt hervor, deren steigender Verbrauch an fossilen
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Energieträgern ganz wesentlich zum globalen Anstieg an Treibhausgasen beiträgt. So stiegen die Emissionen in Brasilien zwischen dem Basisjahr 1990 und dem Jahr 2013 um 136%, in China um 285% und in Indien um 240%, wobei die größten Steigerungsraten in den letzten Jahren gemessen wurden (Ziesing 2014). Doch weder das Kyoto-Protokoll (die Schwellenländer sind von Emissionsreduktionen freigestellt), noch die Finanztransfers vom Norden in den Süden tragen dieser zunehmenden Mitschuld der Schwellenländer am Klimawandel Rechnung. Die Industrieländer, allen voran die USA, fordern deshalb die BRICStaaten auf, ihren Beitrag zum Klimaschutz zu leisten. Denn den Industrieländern, so deren Argument, drohen nationale Wettbewerbsnachteile und eine Infragestellung der ökonomischen Machtbasis, wenn sie Klimaschutzmaßnahmen ergreifen, ihre Konkurrenten jedoch davon ausgenommen sind. Für die BRICStaaten hingegen wäre es ein erheblicher Wettbewerbsnachteil, so deren Verteidigungsstrategie, wenn sie nicht – wie die Industrieländer – in der Phase ihres wirtschaftlichen Aufstiegs auf billige, fossile Energieträger zugreifen könnten. Aber auch innerhalb der Gruppe der Industrieländer verändert sich die Klima-Governance. Lange Jahre waren die USA mit ihrer ablehnenden Haltung gegenüber der internationalen Klimapolitik isoliert. Im Dezember 2011 gab Kanada seinen Ausstieg aus dem völkerrechtlich verbindlichen Kyoto-Protokoll bekannt, und auch Russland, Neuseeland und Japan haben sich bereits verabschiedet. Damit ist die absurde Situation eingetreten, dass die Länder, die dem Kyoto-Protokoll noch die Treue halten, lediglich 15% der globalen Emissionen auf sich vereinigen (BMUB 2014: o.S.). Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum die Rede vom Scheitern durchaus seine Berechtigung hat. Aber auch der vorhergehende Konsens unter der Staatengemeinschaft führte lediglich zu anspruchslosen und aus klimawissenschaftlicher Sicht völlig unzureichenden Ergebnissen. Der EU-Emissionshandel ist so ausgestaltet, dass die Bilanz der CO2-Buchführung auch dann stimmt, wenn tatsächlich gar keine Reduktion von Emissionen erfolgt ist. So können Emissionsrechte durch Projekte, die im Rahmen des CDM in Entwicklungsländern generiert werden, auf Unternehmen übertragen werden, die ihre Reduktionsziele im Industrieland nicht realisieren können. Oder sie ziehen den billigeren Zukauf gegenüber eigenen Maßnahmen vor. Dieses System geht in der Praxis mit einem Zuviel an ausgegebenen Emissionsrechten, dem Steuerbetrug durch »geschickten« internationalen Handel mit Zertifikaten, dem Diebstahl von Zertifikaten bis zu sozialen Konflikten mit der Bevölkerung, einher. Aber solche Schlupflöcher, wie sie das Kyoto-Protokoll eröffnete, waren politisch gewollt. Sie sind jedoch nicht mehr groß genug, um den Anstieg der Emissionen zu kaschieren. Zum Ausdruck kommt dies in der Entwicklung der CO2-Emissionen zwischen 1990 und 2012 in Ländern wie Österreich (+11,7%), Spanien (+18%), Japan (+8,5%) oder Kanada (+42,2%) unter Berücksichtigung von Landnutzung, Landnutzungsveränderungen und
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Forstwirtschaft (UNFCCC 2014: 9). Auch diese Emissionsentwicklungen sind ein Grund dafür, dass der vermeintliche Konsens der Staatengemeinschaft zur verbindlichen Reduktion der Emissionen auf bricht.
Klimaschutz und Klimakämpfe von unten Die dramatische Schwäche der internationalen Klima-Verhandlungen muss als Kristallisation der vorherrschenden Machtverhältnisse und Kräfteverschiebungen in der internationalen Politik angesehen werden. In der neuen KlimaGovernance aus Konkurrenz, Interessen und Konflikten ist die Bereitschaft zu Schutzbemühungen des Gemeinschaftsgutes Atmosphäre gering. Nicht grundlos betraten neue und transnational vernetzte Organisationen und Bewegungen die Bühne der internationalen Klimapolitik. Mit dem transnationalen Netzwerk für Klimagerechtigkeit (Climate Justice Now!-Netzwerk) oder der Klimainitiative 350.org (beide mit hunderten, wenn nicht tausenden von NROs und Graswurzelbewegungen) hat sich über die Klimakonferenzen 2007 in Bali und den G8-Gipfel im gleichen Jahr in Heiligendamm eine eher konferenzkritische neue Protestbewegung herausgebildet, die 2009 in Kopenhagen zur breiten Gegendemonstration aufrief. Sie trat damit in eine gewisse Konkurrenz zum Climate Action Network (CAN), das die Konferenzen von den ersten Verhandlungen an begleitete (Dietz/Garrelts 2013). Auch aus der Kritik an deren strategischer Ausrichtung an die offizielle Konferenzagenda heraus haben sich die neuen zivilgesellschaftlichen Organisationen und Bewegungen gebildet. Durch sie wurden neue Perspektiven auf den Klimawandel entwickelt, die Aspekte von Demokratie, das Ende des fossilen Energiesystems, Gerechtigkeit und neue Lebensstilformen umfassen – Dimensionen, die in der marktwirtschaftlich ausgerichteten Klimapolitik in Vergessenheit geraten sind. Doch die magnetische Anziehungskraft der internationalen Klimakonferenzen ist groß, so dass Konferenz-NRO und Protest-Bewegungen zum Gipfel 2015 in Paris aufeinander zugehen (→ Klimabewegung). Zugleich finden lokale Energiekämpfe von Umweltorganisationen, sozialen Bewegungen und engagierten Bürger_innen statt (z.B. in den vom Braunkohletagebau bedrohten Dörfern in der Lausitz, in den für Windkraftparks vorgesehenen Regionen, in Klimacamps oder den Kommunen, die ihre nachhaltige Energieversorgung in die eigene Hand nehmen wollen). Auch die umweltpolitischen Kampagnen gegen die Gas- und Ölförderung in der Arktis und viele andere energiepolitische Formen der Skandalisierung sind Teil dieser Auseinandersetzungen. Die Klima-Governance franst also an allen Ecken und Enden aus, wird konflikthafter und wird vielleicht gerade dadurch breiter und Erfolg versprechender (vgl. Klein 2015). Ist also Klima-Governance-Optimismus angesagt? Die Verbrauchstrends (fossiler Energien) und Emissionstrends (schädlicher Treibhausgase) sprechen
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dagegen. Allerdings verlagern sich im klimapolitischen Diskurs die Schauplätze: Die internationale (Output-orientierte) Klimapolitik verliert ihre Anziehungskraft. Projekte zur dezentralen Energieversorgung in Bürgerhand nehmen erfolgreich und zügig Fahrt auf (Brunnengräber/Di Nucci 2014). Doch gerade deshalb formieren sich erhebliche Widerstände der fossilen Industrie. Denn die Schwäche der internationalen Klimapolitik geht nicht mit einer Schwäche der machtvollen Interessengruppen aus der Kohle-, Gas- und Erdölindustrie einher (Rest 2011). Diese wollen den Status quo solange aufrechterhalten, wie mit diesen Ressourcen weiterhin beträchtliche Profite erzielt werden können. Besondere Zeiten also für die UN-Klimaverhandlungen. Sie geraten von vielen Seiten erheblich unter Druck: durch ihre negative Erfolgsbilanz, die BRIC-Staaten, nationalstaatliche Eigeninteressen in Zeiten der Finanzkrisen sowie durch die vielen lokalen und kommunalen Initiativen von unten.
Weblinks Blog der Heinrich-Böll-Stiftung zu Klima- und Energiepolitik und zu den UNKlimaverhandlungen: http://klima-der-gerechtigkeit.boellblog.org Der Infoblog »Klimaretter« öffnet eine breite Perspektive auf die Themen Klimapolitik, Klimaschutz, Energiepolitik, Energiewende und Nachhaltigkeit: www.klimaretter.info Internationales und interdisziplinäres Forschungszentrum zu Klimaschutz und Nachhaltigkeit: www.tyndall.ac.uk/research/energy
Literatur Altvater, Elmar/Brunnengräber, Achim (Hg.) (2011): After Cancún: Climate Governance or Climate Conflicts. Wiesbaden: VS Verlag. BMUB (2014): Kyoto-Protokoll. www.bmub.bund.de/themen/klima-energie/ klimaschutz/internationale-klimapolitik/kyoto-protokoll (19.06.2015). Brunnengräber, Achim/Di Nucci, Rosaria (Hg.) (2014): Im Hürdenlauf zur Energiewende. Von Transformationen, Reformen und Innovationen. Wiesbaden: Springer VS. Brunnengräber, Achim/Dietz, Kristina/Hirschl, Bernd/Walk, Heike/Weber, Melanie (2008): Das Klima neu denken. Eine sozial-ökologische Perspektive auf die lokale, nationale und internationale Klimapolitik. Münster: Westfälisches Dampf boot. Dietz, Matthias/Garrelts, Heiko (Hg.) (2013): Die internationale Klimabewegung. Ein Handbuch. Buchreihe Bürgergesellschaft und Demokratie. Wiesbaden: Springer VS.
Klima-Governance
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Klimaanpassung Kristina Dietz und Achim Brunnengräber Anpassung zählt in der Klimadebatte zu jenen Schlüsselbegriffen, dessen politische und gesellschaftliche (Be-)Deutung bis heute umstritten ist. Die offizielle klimapolitische Begriffsverwendung impliziert die Annahme, dass Gesellschaften objektiven klimatischen Zwängen gegenüber stünden, denen sie sich anpassen müssen. Soziales Handeln folgt demnach klimatischem Wandel. Das Soziale wird damit naturalisiert und nichtklimatische gesellschaftliche und politische Prozesse sowie lokale Anpassungspraktiken werden unsichtbar gemacht. Die Folge ist eine Entpolitisierung der Klimaanpassung sowie eine Reduzierung politischer Antworten auf technologische Innovationen, Infrastrukturmaßnahmen und Governance-Optimierungen.
Klimaanpassung als junges Thema der Klimapolitik In den internationalen Klimaverhandlungen stand Anpassung (adaptation) erst relativ spät auf der Agenda. Nach Inkrafttreten der UN-Klimarahmenkonvention 1994 wurde vor allem über die Verringerung der Treibhausgasemissionen verhandelt. Es war umstritten, ob sich die Vereinten Nationen überhaupt mit der Anpassung an den Klimawandel befassen sollten. Einerseits befürchteten zivilgesellschaftliche Akteure des Globalen Nordens, dass dies auf Kosten des gesellschaftlichen und politischen Interesses an der Reduzierung von Treibhausgasemissionen gehen könnte. Andererseits spiegelt die untergeordnete Bedeutung des Anpassungsthemas das Kräfteverhältnis in den klimapolitischen Nord-Süd-Beziehungen wider, da die Folgen des Klimawandels und damit die Notwendigkeit zur Anpassung primär Menschen im Globalen Süden treffen. Stärker beachtet wird das Thema seit jeher von gesellschaftlichen Gruppen und Regierungen eben dieser Länder. Die politische und wissenschaftliche Vernachlässigung änderte sich erst mit dem zweiten und verstärkt mit dem dritten Sachstandsbericht des Intergovernmental Panel on Climate Change IPCC (IPCC 1995, 2001; vgl. Dietz 2006). Im dritten IPCC-Bericht wird Anpassung definiert als »Anpassungen sozialer, ökologischer und ökonomischer Systeme in Reaktion auf aktuelle und
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erwartete klimatische Stimuli und ihre Auswirkungen« (Smit/Pilifosova 2001: 879). Anpassung wird hier bezogen auf einen »Wandel von Prozessen, Praktiken und Strukturen, um potenziellen Schaden des Klimawandels zu verringern oder von dessen Möglichkeiten zu profitieren« (ebd.).1 Diese Definition stellt bis heute die wichtigste Referenz für klimapolitisches Handeln im Bereich Anpassung dar. Mit einer Orientierung an den globalen Folgen des Klimawandels richtet sich dieses Handeln vor allem auf die Verbesserung der Wissensbasis, auf verbesserte Managementstrategien sowie die technologische und infrastrukturelle Begrenzung der Klimafolgen. Beispiele wie der Bau von Deichanlagen, die Ausweitung von Bewässerungssystemen, die Erforschung und der Einsatz dürreresistenten Saatguts, architektonische und städtebauliche Innovationen oder die Entwicklung neuer Monitoring-Systeme finden sich in allen nationalen Anpassungsstrategien – im Globalen Norden und Süden (vgl. etwa das National Adaptation Programme for Action der tansanischen Regierung, URT 2007 oder die deutsche Anpassungsstrategie, Deutsche Bundesregierung 2008).
Klimadeterministische Problemdefinition Anpassung an den Klimawandel als sozialtechnologische Herausforderung zu fassen, bringt eine klimadeterministische Denkweise zum Ausdruck, der zufolge das Klima oder der Klimawandel die Richtung menschlicher Handlungen vorgibt. Nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse stellen den Ausgangspunkt für politisches Handeln dar. Diese verschwinden hinter mess-, quantifizier- und prognostizierbaren globalen Folgen des Klimawandels. Damit werden jene evolutionären und gesellschaftspolitischen Verhältnisse ausgeblendet, die die Handlungsspielräume sozialer Akteure im Kontext des Klimawandels im Wesentlichen bestimmen. Die Gefahr einer solchen konzeptionellen Missachtung der komplexen sozialen, politischen und ökonomischen Verhältnisse, in die Anpassungsprozesse eingebettet sind, ist es, bestehende soziale Ungleichheiten mittels Anpassungspolitik zu perpetuieren. Vertreter_innen einer kritischen sozialwissenschaftlichen Anpassungsforschung kritisieren seit Mitte der 2000er Jahre die klimadeterministische und top down-Bearbeitung des Themas und betonen stattdessen den sozialen und politischen Charakter von Anpassung (Adger et al. 2009; Eriksen/Lind 2009; Brunnengräber et al. 2008; Brunnengräber/Dietz 2013; Beck et al. 2013; Bauriedl 2014). Grundprämisse dieser Forschungsrichtung ist es, Anpassung als ein vom sozialen und politischen Kontext und von vielfältigen Wandel- und Krisenprozessen bestimmten Prozess zu fassen. Je nach sozialer Lage und politischer Machtposition fällt der Prozess der Anpassung unterschiedlich aus 1 | Alle Übersetzungen englischsprachiger Zitate stammen von den Autor_innen selbst.
Klimaanpassung
(Forsyth/Evans 2013). Statt Anpassung als klimawandelbedingten Prozess zu verstehen, sollte sie kontextualisiert betrachtet werden. Das bedeutet, Anpassung als einen an hegemoniale Produktions-, Konsum-, und Mobilitätsmuster sowie an die gesellschaftlichen Verteilungsstrukturen gekoppelten Prozess zu fassen. So verstanden ist Anpassung an den Klimawandel ein politischer und umkämpfter Prozess, der je nach Gegenstand auf unterschiedlichen Ebenen verortet und wie alle latenten und manifesten gesellschaftlichen Konflikte durch Machtverhältnisse strukturiert ist. Es geht bei diesem Prozess je nach Kontext und Skala der Verhandlung darum zu entscheiden, wer für was und unter welchen Bedingungen Zugang zu Wasser erhält, inwiefern es gesellschaftlich gewollt ist, Siedlungsbau in Überflutungsgebieten zu genehmigen oder welches Verkehrskonzept in Großstädten zukünftig gesellschaftlich gewollt ist: individualisierte Automobilität oder öffentlicher Nahverkehr. In den Blick geraten dann neben »dem Klimawandel« all jene Bereiche (Agrar-, Land-, Stadtentwicklungs-, Asyl-, Gesundheits-, Verkehrs-, Rohstoff-, Energiepolitik, Einkommensverteilung etc.) in denen Anpassungsmaßnahmen gewollt oder ungewollt stattfinden, ermöglicht oder verhindert werden. Empirische Arbeiten belegen, dass Anpassung ein Prozess der Aushandlung um die Nutzung von und den Zugang zu materiellen (Land, Einkommen) und immateriellen Ressourcen (Gesundheitsversorgung, Bildungszugang, politische und soziale Position etc.) ist (Eriksen/Lind 2009; Dietz 2011). Anpassungskapazitäten werden entscheidend durch die gesellschaftliche Verteilung von Gestaltungs- und Entscheidungsmacht bestimmt. Solche politischen Dimensionen werden auch sichtbar, wenn fehlende politische Einflussnahme sozialer Akteure deren Risiko erhöht, von Anpassungspolitiken negativ betroffen zu sein oder in Krisen staatliche Unterstützung nicht aktivieren zu können. Umso wichtiger erscheint es, politisch wie forschungspraktisch, die Belange der Bevölkerung und die je konkreten sozialen Praktiken als Ausgangspunkt zu nehmen. Solche Praktiken sind etwa veränderte landwirtschaftliche Anbauweisen, Saatguttauschbörsen, temporäre oder permanente (Arbeits-)Migration, selbst organisierter Technik- und Wissenstransfer sowie solidarische Formen der Gesundheitsversorgung auf Stadtteilebene. Diese Praktiken finden bei klimapolitischen Strategien, die auf wissenschaftliche Modellrechnungen und großtechnische Lösungen setzen, kaum Berücksichtigung (Beck et al. 2013). In vielen nationalen Anpassungskonzepten und -programmen wird Anpassung als Managementaufgabe und Partizipation als Konsultation konzipiert. Ein sich davon abgrenzendes, re-politisierendes Verständnis von Anpassung, wie es kritische Sozialwissenschaftler_innen und Akteur_innen sozialer Bewegungen fordern, stellt klimatische Veränderungen, soziale Verhältnisse, alltägliche Herausforderung und konkrete Praxis in einen Zusammenhang. Anpassung ist demnach politisch! Diese Einsicht
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hat Konsequenzen für eine Anpassungsforschung, die es sich zum Ziel macht, einen Beitrag zu sozial-ökologischen Veränderungsprozessen zu leisten, der über eine Konservierung des gesellschaftlichen Status Quo durch Technikanwendung hinausgeht. Sie hat aber auch Konsequenzen für die politische Gestaltung von Anpassung. So ist in Wissenschaft und Politik zu fragen, welche Belange lokale Bevölkerungsgruppen selbst artikulieren, welche Praxen sie anwenden und welche Unterstützung sie wollen, welche strukturellen Bedingungen Menschen davon abhalten oder daran hindern, selbst aktiv zu werden und einer Universalisierung und Demokratisierung von Anpassung entgegenstehen – im Globalen Norden wie im Globalen Süden. Aus unserer Sicht muss Anpassung als Teil eines übergeordneten Transformationsprozesses gefasst werden, der die Reduzierung sozialer Ungleichheiten und die Vertiefung substanzieller Demokratie gleichermaßen zum Ziel hat. Sozialtechnische Planungsprozesse und klimadeterministische Vorstellungen von Anpassung werden einem solchen Anspruch nicht gerecht.
Weblinks Internationales Forschungszentrum Klimawandel, Tyndall-Center: www.tyn dall.ac.uk/research/adaptation UNEP Forschungsplattform für Klimaanpassung in Afrika: http://aaknet.org
Literatur Adger, W. Neil/Lorenzoni, Irene/O’Brien, Karen (Hg.) (2009): Adapting to climate change: Thresholds, values, governance. Cambridge, UK: Cambridge University Press. Bauriedl, Sybille (2014): Geschlechter im Klimawandel. Soziale Differenzierung in der Anpassungsforschung. In: GAIA 23(1): 8-10. Beck, Silke/Böschen, Stefan/Kropp, Cordula/Voss, Martin (2013): Jenseits des Anpassungsmanagements. Zu den Potenzialen sozialwissenschaftlicher Klimawandelforschung. In: GAIA 22(1): 8-13. Brunnengräber, Achim/Dietz, Kristina (2013): Transformativ, politisch und normativ: für eine Re-Politisierung der Anpassungsforschung. In: GAIA 22(4): 224-227. Brunnengräber, Achim/Dietz, Kristina/Hirschl, Bernd/Walk, Heike/Weber, Melanie (2008): Das Klima neu denken. Eine sozial-ökologische Perspektive auf die lokale, nationale und internationale Klimapolitik. Münster: Westfälisches Dampf boot. Deutsche Bundesregierung (2008): Deutsche Anpassungsstrategie an den Klimawandel. Vom Bundeskabinett am 17. Dezember 2008 beschlossen.
Klimaanpassung
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Klimabewegung Philip Bedall Die Akteure der Klimabewegung sind in der Klimapolitik in vielfältiger und konfliktreicher Weise an Deutungskämpfen beteiligt. Die vorherrschende politische Engführung des Klimawandels – als globales Umweltproblem, das es anhand von Marktmechanismen zu bearbeiten gilt – bringt der Großteil von ihnen selbst mit hervor. Andere, insbesondere die Climate-Justice-Bewegung, fechten diese Engführung an und machen Alternativen stark.
Klimabewegung — unter wegs zwischen Kritik und Bekräftigung internationaler Klimapolitik Die Klimabewegung ist kein homogenes Feld. Auch unter Nicht-Regierungsorganisationen (NROs) und sozialen Bewegungen konkurrieren hinsichtlich der Problemwahrnehmung oder der als notwendig und legitim erachteten Handlungsweisen mehr oder weniger gegensätzliche Auffassungen. Die Akteure der Klimabewegung befinden sich dabei in einem Spannungsverhältnis von Kritik und Bekräftigung der vorherrschenden Klimapolitik. Mit einzelnen ihrer Forderungen, Kampagnen und Protesten stellen sie entweder spezifische Aspekte dieser Politik in Frage oder stützen sie bzw. bringen sie gar mit hervor. Die Klimabewegung ist damit Teil der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen darüber, was als klimapolitisch adäquat oder legitim angesehen wird. Ebenso wie eine Vielzahl anderer Akteure sind NROs und soziale Bewegungen in vielfältiger und konfliktreicher Weise an Deutungskämpfen um die Problemkonstruktion sowie daraus abgeleitete Lösungsansätze beteiligt. Auch Akteure der Klimabewegung tragen so zur Herausbildung eines hegemonialen (klimapolitischen) Konsenses1 bei. Dieser Konsens fasst den Klimawandel als 1 | Die Akteure der Klimabewegung werden hier, anschließend an die Überlegungen des politischen Philosophen Antonio Gramsci, dem »erweiterten Staat« – der Zivilgesellschaft – zugerechnet. In der Zivilgesellschaft, so Gramsci, stellt sich als Ergebnis politischer Auseinandersetzungen eine Balance von Kompromissen ein: ein hegemonialer
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globales Umweltproblem und favorisiert die politische Bearbeitung über den Markt. Einerseits verallgemeinert der Konsens bestimmte Deutungen, andererseits werden mit ihm alternative Perspektiven marginalisiert bzw. ausgeschlossen (was im Weiteren noch näher dargestellt wird). Die Prozesse von Verallgemeinerung, Marginalisierung und Ausschluss sichern spezifische gesellschaftliche Verhältnisse ab. Seit Beginn der Verhandlungen über den Entwurf einer Klimarahmenkonvention im Jahr 1991 können hinsichtlich der Strukturierung des Akteursfeldes von NROs und sozialen Bewegungen in der internationalen Klimapolitik drei Phasen ausgemacht werden (vgl. Görg/Bedall 2013: 81ff.): In der Startphase internationaler Klimapolitik artikuliert der Großteil der umwelt- und entwicklungspolitischen Gruppen noch grundsätzliche Kritik an Produktions- und Konsummustern und positioniert sich ablehnend gegenüber einer marktorientierten Bearbeitung des Klimawandels. Während der UN-Verhandlungen in Rio de Janeiro 1992 (der Geburtstunde der Klimarahmenkonvention) stellt das Climate Action Network, das größte Netzwerk von den zu Verhandlungen akkreditierten Gruppen, entsprechend die Forderung »[to] avoid any emission trading schemes which only superficially address climate change problems, perpetuate or worsen inequities hidden behind the problem, or have an negative ecological impact« (zit. n. Brunnengräber 2009: 183). Im weiteren Verlauf der internationalen Klimaverhandlungen gleichen sich jedoch die Positionen der breiten Mehrheit der umwelt- und entwicklungspolitischen Gruppen zunehmend an die Linie des offiziellen Prozesses an. Den Wandel markiert die Verabschiedung des Kyoto-Protokolls im Jahr 1997 und seine Konkretisierung anhand von Marktmechanismen (Emissionshandel, Clean Development Mechanism und Joint Implementation). Der Großteil der NROs wendet sich der Debatte um die Ausgestaltung dieser Mechanismen zu. Der zu Beginn der Verhandlungen verbreiteten grundsätzlichen Ablehnung der Mechanismen im zivilgesellschaftlichen Feld folgt damit die breite Akzeptanz. Für die NROs stehen im Folgenden Fragen zu technischen Details im Vordergrund. Ihre Positionen – insbesondere die des größten Netzwerks akkreditierter NROs, des Climate Action Network (CAN) – prägen sich entlang der flexiblen Mechanismen aus, welches von ihnen in den Folgejahren als alternativlos betrachtet wird (Brunnengräber et al. 2008: 97). Die Etablierung von Kohlenstoffmärkten erfolgt nicht unabhängig von den NROs: »Pollution trading itself is no corporate conspiracy, but rather a joint invention of civil Konsens, der für die Gestaltung von Politik und den Umgang mit kollektiven Problemen von wesentlicher Bedeutung ist. Dieser Konsens kann aktiver wie auch passiver Natur sein. Kennzeichnend für Hegemonie ist eine ungleiche Kräftekonstellation, innerhalb derer eine konfliktuelle Auseinandersetzung über unterschiedliche politische Strategien und Diskurse erfolgt.
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society, business and the state. Non-governmental organisations (NGOs) have been nearly as prominent in its development as private corporations.« (Lohmann 2006: 58) Vor diesem Hintergrund kann ab dem Jahr 1997 hinsichtlich klimapolitischer NROs von der Herausbildung eines affirmativen Politikstils gesprochen werden – eines Politikstils, der sich »entlang der politischen und herrschaftsförmigen Restriktionen [orientiert und sich] als skeptisch befürwortend und kritisch begleitend beschreiben« (Walk/Brunnengräber 2000: 276) lässt. Charakteristisch für diese Politik vieler NROs ist der Prozess des Auslotens von systemimmanenten Spielräumen im offiziellen Verhandlungsprozess (Walk/ Brunnengräber 2000: 138). Der Wille zur Teilnahme am offiziellen Verhandlungsprozess bestimmt dabei die Grenzen der politischen Forderungen und Protestaktionen der Bewegungsakteure. Die Möglichkeit einer Verschlechterung des eigenen Status oder gar des Ausschlusses von den Verhandlungen setzt ihnen eine Grenze hinsichtlich der Artikulation grundsätzlicher Kritik bzw. eines klar konfrontativen Auftretens. Fundamentale Kritik an der inhaltlichen Ausrichtung des Prozesses bzw. der Verfahren wird entsprechend kaum mehr geäußert. Dieser affirmative Politikstil von Klimabewegungsakteuren hat eine legitimierende Funktion hinsichtlich des offiziellen Prozesses (vgl. Brunnengräber et al. 2001; Paterson 2010). Insbesondere ab Mitte der 2000er Jahre kommt es im Kontext der Verhandlungen um ein Post-Kyoto-Abkommen sowie der Artikulation multipler globaler Krisen zu einer Repolitisierung des klimapolitischen Terrains. Verstärkt – jedoch keineswegs mehrheitlich – werden nun von NROs und sozialen Bewegungen im Umfeld der Klimaverhandlungen wieder kritische Positionen artikuliert, die zuvor mit dem affirmativen Politikstil ausgeschlossen bzw. marginalisiert wurden – wie Fragen der globalen Gerechtigkeit oder Alternativen zur Marktorientierung der Klimapolitik. Kritik wird dabei oftmals mit der Forderung nach Climate Justice (Klimagerechtigkeit)2 zu einer eigenen Programmatik verknüpft (vgl. Bedall 2014). Zur Verbreitung der Forderung nach Climate Justice und der Vernetzung der sie vorantreibenden Akteure trägt eine Reihe von Erklärungen und Alternativgipfeln bei (vgl. Pettit 2004; Goodman 2009: 502-504). Auf dem internationalen Parkett ist es insbesondere das aus 2 | Bereits die Formulierung in der UNFCCC, dass die Vertragsparteien »auf der Grundlage der Gerechtigkeit und ihren gemeinsamen aber unterschiedlichen Verantwortlichkeiten« (UNFCCC 1992: Art. 3) das Klimasystem schützen sollen, ist eine, wenn auch sehr unpräzise und unkritische, Referenz auf die Forderung nach Gerechtigkeit im Klimawandel. Erst die Politisierung ab Mitte der 2000er Jahre verstärkte den Prozess der Herausbildung einer eigenen Programmatik um Climate Justice. Diese ist nun keineswegs mehr auf unterschiedliche Verpflichtungen zur Emissionsreduktion begrenzt, sondern umfasst die gesellschaftliche Verursachung und sozialen Folgen des Klimawandels.
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einer Spaltung von CAN auf Grund politisch-strategischer Differenzen hervorgegangene Netzwerk Climate Justice Now! (CJN!), das dort ab 2007 den Klimagerechtigkeitsdiskurs hervorbringt. Zu den treibenden Kräften innerhalb CJN! gehören die Organisationen Focus on the Global South, Global Justice Ecology Project und La Via Campesina. Auch auf lokaler und nationaler Ebene wird die Forderung nach Klimagerechtigkeit gestellt. Es sind dabei insbesondere die sogenannten Klimacamps, mit denen sich Aktivist_innen aus der globalisierungskritischen Bewegung ab 2006 dem Klimathema zuwenden.
Engführung der Klimapolitik Der sich ab 1997 verstärkt herausbildende affirmative Politikstil vieler Akteure der Klimabewegung – die Angleichung der Forderungen und Strategien der Akteure an Inhalte und Verfahren des offiziellen Prozesses – trägt zur Verallgemeinerung (Hegemonisierung) einer spezifischen Deutung und Bearbeitung des Klimawandels bei. Entsprechend des offiziellen Prozesses wird der Klimawandel von ihnen als ein »globales Umweltproblem« (vgl. Lutes 1998: 160, 165ff.) gefasst – als eine Krise der Ökologie, die der Gesellschaft äußerlich ist. Im Vordergrund dieser Problemdeutung steht die erhöhte Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre. Aus dem Blick dieser naturalisierenden Sichtweise gerät die soziale, politische und ökonomische Dimension der Klimakrise, d.h. ihre lokal, regional bzw. national, aber auch zeitlich-historisch spezifischen Ursachen und Verantwortlichkeiten (BUKO 2008: 152f.; Agrawal/ Narain 1991). Mit der Konstruktion des Klimawandels als globales Problem wird ausgeblendet, an welchem Ort und zu welcher Zeit bzw. unter welchen Bedingungen Emissionen verantwortet werden bzw. wo und wer unter welchen Bedingungen von Klimaveränderungen betroffen ist. Es ist die Climate-Justice-Koalition, die ab Mitte der 2000er Jahre derartige Fragen verstärkt vorbringt. Die Akteure deuten den Klimawandel als sozial-ökologische Krise und sehen dessen Ursache in einer ungerechten Wirtschaftsweise und nichtnachhaltigen Produktions- und Konsummuster globaler Eliten. Entsprechend der hegemonialen Problemwahrnehmung stehen auch bei der Bearbeitung des Klimawandels die Emissionen im Vordergrund. Mit dem Fokus auf die Emissionen – die Output-Seite des fossilistischen Energieregimes (Brunnengräber et al. 2008: 188) –, gerät die Forderung nach einer Transformation der Input-Seite, die Energieproduktion, aus dem Blick des Verhandlungsprozesses und der sich an ihm orientierenden NROs. Im Vordergrund der vorherrschenden Debatte stehen in diesem Sinne die ökonomische Inwertsetzung der Emissionen oder technologische Lösungsansätze wie Geoengineering oder CO2-Abscheidung und -Speicherung. Die politische Engführung der Klimapolitik auf die Verregelung der globalen atmosphärischen Treibhausgas-Emissionen anhand von Marktmechanismen entspricht dem
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Ansatz des Umweltmanagements (vgl. Görg/Brand 2002). Charakteristisch für diesen Ansatz ist die Fixierung auf globale Allgemeingüter (global commons) und die Überzeugung, dass diese Allgemeingüter eines Managements anhand der Logik des Marktes bedürfen. In der internationalen Klimapolitik ist es die Atmosphäre, die als globales Allgemeingut begriffen wird. Sie gilt es, anhand eines Marktes zu regeln.
Dominanz ressourcenstarker NROs des Globalen Nordens und die Gefahr des Paternalismus Auf dem internationalen Terrain der Klimapolitik sind Akteure der Klimabewegung aus dem Globalen Norden und dem Globalen Süden höchst ungleich präsent. Primär ist es transnationalen Organisationen aus dem Norden, wie beispielsweise Greenpeace, WWF oder Friends of the Earth International (FoEI) auf Grund ihrer Finanzausstattung und ihres Personalumfangs möglich, den Verhandlungsprozess kontinuierlich mit Lobbying, internationalen Kampagnen oder Expertisen zu begleiten. Gruppen aus dem Globalen Süden, insbesondere Betroffene selbst, haben nur selten eine Stimme im Verhandlungsprozess (vgl. Sagar/Banuri 1999). Sie stellen nur einen geringen Anteil der bei den internationalen Verhandlungen vertretenen Organisationen. Mit der Formierung von CJN! geraten Gruppen aus dem Globalen Süden – wie das Kleinbäuer_innen-Netzwerk La Via Campesina oder das Indigenous Environmental Network – temporär stärker in Erscheinung. Doch hinsichtlich der verfügbaren personellen und finanziellen Kapazitäten bleibt CJN! im Vergleich zu CAN weit weniger sichtbar. Abseits der transnationalen Netzwerke wie CAN, FoEI oder CJN!, tendiert die Präsenz von Gruppen aus dem Globalen Süden bei den Verhandlungen gegen Null. Eine prominente Stimme haben sie hingegen auf den fast jährlich stattfindenden alternativen Klimagipfeln, die von NROs und sozialen Bewegungen veranstaltet werden. Auch in den Netzwerken umwelt- und entwicklungspolitischer NROs wie dem CAN haben Süd-NROs gegenüber den einflussreichen NROs aus dem Globalen Norden nur geringen Einfluss auf Positionierungen und Forderungskataloge. Tendenziell fokussieren Nord-NROs stärker auf umweltpolitische Aspekte, wohingegen Organisationen aus dem Globalen Süden stärker entwicklungspolitische Fragen und die Frage globaler Gerechtigkeit betonen. Die Marginalisierung entsprechender Perspektiven in den Verhandlungen hat insofern auch eine strukturelle Ursache. Die Nord-NROs und die von ihnen dominierten Netzwerke laufen Gefahr paternalistisch zu agieren und in der internationalen Politik ihre Stimme für Betroffene zu erheben, die in den Netzwerken selbst kaum Einfluss haben.
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Weblinks Beiträge zur kritischen Debatte internationaler Klimaverhandlungen aus Perspektive sozialer Bewegungen: klimadiplomatie.de Online-Magazin mit journalistischen Beiträgen zu Klimapolitik, Kimaschutz, Energiepolitik und Energiewende: www.klimaretter.info
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Klimabewegung
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Klimaflüchtlinge Carsten Felgentreff Der Begriff »Klimaflüchtling« naturalisiert und verharmlost gesellschaftliche Problemlagen. Indem das sich verändernde Klima maßgeblich für die Vertreibung und Flucht von Menschen verantwortlich gemacht und die gesellschaftlich hergestellten Migrations- und Fluchtursachen dabei ausgeblendet werden, wird das Geschehen entpolitisiert. Freiwillige wie unfreiwillige Migration kann in der Regel hinreichend mit sich verschärfenden sozialen, politischen, wirtschaftlichen u.ä. Ungleichheiten erklärt werden. Der Verweis auf ein außerhalb der Gesellschaft stehendes Klima als Faktor überwältigender Wirkmächtigkeit bei Flucht und Migration lenkt davon ab, dass alle diese Veränderungen im Wesentlichen menschengemacht sind. Dies gilt für Kriege, Investitionsentscheidungen, Migrationspolitik, terms of trade, Handelsabkommen und ungleiche Entwicklung ebenso wie für den anthropogenen Klimawandel sowie für viele Formen von Umweltveränderung. Letztlich leistet der Begriff genau dem Vorschub, was er zu beschreiben vorgibt, nämlich unfreiwilliger Migration, die durch Klimapolitik induziert wird.
Umweltdeterministische Migrationsbegründung Gemäß der Daten des internationalen Flüchtlingshilfswerks UNHCR hat die Zahl der Flüchtlinge Ende 2014 fast 60 Mio. erreicht, mit rapide ansteigender Tendenz (UNO-Flüchtlingshilfe 2015: o.S.). Seit den 1980er Jahren wird Flucht immer öfter auch mit fortschreitender Umweltdegradation in Verbindung gebracht (»Umweltflüchtlinge«), bald darauf auch mit dem Klimawandel (»Klimaflüchtlinge«). Diese Einordnung von Flucht als dem Klimawandel geschuldet ist allerdings umstritten. Gleichgültig, ob in Science Fiction-Geschichten, in politischen Verlautbarungen, in populärwissenschaftlichen Beiträgen oder in akademischen Abhandlungen: Der Debatte über klima- oder umweltbedingter Flucht und Migration liegt ein sehr einfaches, alltagsnahes Ursache-Wirkungs-Modell zu Grunde, das in verschiedenen Ausprägungen kursiert, mal als strikter, mal als diffuser Klima- oder Umweltdeterminismus (vgl. Hard 1982). Manche stellen
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einen unmittelbaren, direkten Zusammenhang her, demzufolge Menschen aus von Klimawandel betroffenen Regionen unweigerlich dauerhaft in andere Regionen fliehen müssen. Andere räumen ein, dass dies nicht zwingend so sein müsse und geeignete Anpassungen an sich wandelnde Umweltbedingungen ein Bleiben erlauben könnten. Die Beziehungen zwischen einer als außergesellschaftlich gedachten Ursache (Klima bzw. Umwelt und deren Wandel) und Migration als gesellschaftliche Wirkung ist hier weniger eindeutig, eher vage als deterministisch und noch nicht hinreichend erforscht (McLeman 2013). Die Verwendung des Begriffs »Klimaflucht« zeigt jedoch an, was als maßgebliche Ursache dieser Form von Mobilität angesehen wird (Morrissey 2012; Aufenvenne/Felgentreff 2013). Auffällig ist, dass »Klimaflucht« fast ausnahmslos im Globalen Süden verortet wird. Obwohl der Meeresspiegel weltweit ansteigt, gelten nicht sämtliche Bewohner_innen von küstennahen Tiefländern als potenzielle Klimaflüchtlinge – zwar die in Bangladesch, nicht aber die in der norddeutschen Tiefebene. Aufgrund zunehmender Dürren werden Klimakatastrophen mit massiver Emigration für Afrika südlich der Sahara prognostiziert, nicht aber für Las Vegas oder Australien. Offenbar wird stillschweigend davon ausgegangen, dass in wohlhabenden Volkswirtschaften Ressourcen zur Anpassung an den Klimawandel vorhanden sind, die ein Verbleiben der Bevölkerung ermöglichen werden: ein deutliches Indiz dafür, dass es sich um keineswegs ausschließlich ›ökologische‹ Probleme handelt, die nichts mit gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu tun hätten. Die von Migrationsforscher_innen immer wieder betonte Einsicht, dass Migrationsentscheidungen bei freiwilliger wie bei auferlegter Migration komplex sind und viele verschiedene Faktoren berücksichtigen, Klima- oder Umweltveränderungen also allenfalls einen von vielen Faktoren im Wanderungsgeschehen darstellen, setzt sich indessen zunehmend durch (Black 2001: 14). Wenn aber stets verschiedene Beweggründe in die Entscheidung hineinspielen, dann ist es schwer möglich, den als Klimaflüchtlinge titulierten Personenkreis eindeutig so zu definieren, dass er von anderen Migrant_innen oder Flüchtlingen abgrenzbar wäre. Biermann und Boas operieren mit folgender Definition: »In sum, we define ›climate refugees‹ here as people who have to leave their habitats, immediately or in the near future, because of sudden or gradual alterations in their natural environment related to at least one of three impacts of climate change: rise in sea level, extreme weather events, and drought and water scarcity […]. This definition covers climate refugees in both industrialized and developing countries. However, in practical terms only climate refugees in poorer developing countries will be an issue of international concern, cooperation, and assistance. It is people in developing countries who are most likely to be compelled to leave their homes and communities, owing to low adaptive capacities, their often vulnerable location vis-à-vis climate change
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events, often high population densities, existing hunger and health problems, low level of GDP per capita, often week structures of governance, political instability, and other factors.« (Biermann/Boas 2012: 292)
Kritik am Konzept des Klimaflüchtlings Die Figur des Klimaflüchtlings ist mit vielfältiger Kritik bedacht worden, die sich nicht allein auf den Hinweis der fehlenden Trennschärfe der Definitionen und ihrer daraus resultierenden analytischen Unbrauchbarkeit beschränkt (Black 2001: 14; Nicholson 2014: 3). So ignoriert diese häufig alternative Handlungsweisen, etwa Adaption an den Klimawandel vor Ort. Die Kategorisierung als Klimaflüchtling wird von den Betroffenen selbst meist weit von sich gewiesen, in ihrer Selbstwahrnehmung sind Umweltveränderungen nicht handlungsleitend bzw. nachrangig (für Tuvalu im Pazifik siehe Mortreux/Barnett 2009). Übersehen wird zudem, dass das Denkmodell der Klimaflucht nur Push-Faktoren in den Blick nimmt und Anreize ignoriert, die mit den Zielorten verbunden werden (Felgentreff/Geiger 2013: 8); das können Wohlstandsgefälle sein, ebenso aber auch immaterielle Anreize. Die Aussage, dass Klima Flucht oder Migration bewirke, lässt meist historische Zusammenhänge außer Acht, etwa bestehende Migrationssysteme. Global betrachtet führen wahrscheinlich mehr Wanderungen hin zu ökologischen Problemgebieten als fort von dort, man denke an die Land-Stadt-Wanderung in überschwemmungsgefährdete Küsten- und Megastädte mit prekärer Trinkwasserversorgung. Und selbst dann, wenn der Migrationssaldo in von Klimawandelsymptomen heimgesuchten Regionen negativ ist, besteht keine Gewähr dafür, dass die Fliehenden genau jene sind, die von diesen Umweltveränderungen am stärksten betroffen sind (Piguet 2010: 518). Häufig sind jene, die die offensichtlichsten Gründe zur Flucht hätten, derart unterprivilegiert, dass ihnen die Ressourcen dazu fehlen (trapped population, Foresight 2011). Überhaupt sind Umwelt und Klima per se allenfalls in Ausnahmefällen unmittelbar handlungsrelevant, sie werden erst durch die Übersetzung in kulturelle Kategorien oder Zustandsbeschreibungen wie »akut lebensgefährlich«, »langfristig gefährdet« oder »ökonomisch nicht tragfähig« zu sinnstiftenden Kategorien (Oliver-Smith 2009: 9). Zu guter Letzt plädieren zahllose Kritiker_innen für einen engen Flüchtlingsbegriff im Sinne der Menschenrechtskonvention, der für politisch Verfolgte reserviert bleiben und nicht aufgeweicht werden sollte (Hartmann 2010). Wenn Klima- und Umweltveränderungen bewirken, dass bisher praktizierte Existenzsicherungssysteme nicht mehr tragfähig sind (was selten ohne Veränderungen in der Sphäre der Wirtschaft, des Politischen oder Sozialen geschieht), kann Migration durchaus eine Handlungsoption im Sinne einer Problemlösung darstellen. In vielen regionalen Kontexten ist das bewährte und anerkannte Praxis (vgl. Campbell/Bedford 2014: 181). Ebenso gut kann Migration
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aber auch ein Scheitern markieren, wenn andere Anpassungsmaßnahmen vor Ort unmöglich sind oder – etwa wegen fehlender Ressourcen – versagen.
Alarmierungsdiskurse Trotz der Unmöglichkeit, Klimaflüchtlinge eindeutig zu definieren, werden Prognosen zu deren Anzahl aufgestellt. Bis zum Jahr 2010 waren 50 Mio. Klimaflüchtlinge prognostiziert worden, bis zum Jahr 2050 sollen es 150, 200 oder auch 250 Mio. sein (Myers 2002; vgl. Aufenvenne/Felgentreff 2013: 32). Migration findet im Kontext von Umweltkrisen und Klimaveränderungen eher kleinräumig, regional und häufig temporär statt. Dessen ungeachtet machten die alarmistischen Darstellungen in verschiedenen Studien und Massenmedien das Thema spätestens zur Jahrhundertwende auch politisch relevant, und zwar als Sicherheitsproblem (vgl. WBGU 2007; zur Kritik siehe Herbeck/ Flitner 2010). Die immer wieder propagierte Vorstellung, dass unvorstellbar viele vom Klimawandel Betroffene aus dem Globalen Süden auf direktem Weg zu den Wohlstandsinseln des Nordens seien, hat so eine Diskussion über die Steuerung von Migration entfacht (Jakobeit/Methmann 2012: 302). Während zu Beginn der Debatte über umweltbedingte Flucht eben diese Flucht eindeutig negativ konnotiert war, gilt vielen in der jüngeren Debatte dieser Prozess unter Umständen nun als durchaus akzeptable Reaktionsweise, nämlich als legitime Strategie zur Anpassung an den Klimawandel (Methmann/Oels 2015). Selbstbestimmte und -organisierte Flucht ist auch in diesem Zusammenhang eher negativ belegt; wenn sie aber geregelt als (meist temporäre) Migration zu aufnahmebereiten Arbeitsmärkten stattfindet, dann stellt dies aus Sicht der International Organization for Migration (IOM) keineswegs eine korrekturbedürftige Fehlentwicklung dar: »Migration, however, is and always has been an integral part of the interaction of humans with their environment. It should therefore also be recognized as one possible adaptation strategy, especially at early stages of environmental degradation. Migration reduces reliance on the environment for livelihoods by allowing, for example, for income diversification through remittances. The contributions of migrants through the transfer of knowledge and skills upon return can also significantly strengthen the livelihoods of families and communities facing environmental challenges.« (IOM 2009: 2) Bemerkenswert ist die Verschiebung der Problemsicht: Nicht mehr der Umwelt- oder Klimawandel, seine Verursacher und seine Minderung stehen im Fokus, sondern die Notwendigkeit, dass sich die davon Betroffenen im Globalen Süden an ihre sich verschlechternden Lebensbedingungen anpassen sollen, und zwar aus wohlverstandenem Eigeninteresse, unter Umständen auch durch Migration. Die Rede von umwelt- oder klimawandelbedingter Migration folgt nun häufiger Nützlichkeitskalkülen und ist seltener getragen von der Sor-
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ge um humanitäre Missstände oder rechtebasierten Überlegungen (Felli 2012; Bettini 2014). Ein Klimawandel, der als unakzeptabel zu bewertende Flucht produziert, ist für seine Verursacher_innen politisch schwer zu adressieren. Wenn der Klimawandel nun aber nicht mehr zu stoppen und somit als gegeben hinzunehmen ist, sollen seine unangenehmen Folgen für die Betroffenen wenigstens durch (deren) Migration gemindert werden können (McLeman 2013; IPCC 2014: 770f.). Dieses Argument bietet neue Ansatzpunkte zur Problembearbeitung (vgl. Sherbinin et al. 2011). Die veränderte Rahmung des Verhältnisses von Klimawandel und Migration könnte die Beseitigung von Mobilitätshemmnissen nahelegen, scheint aber eher der weitergehenden Regulierung von Mobilität Vorschub zu leisten. Entscheidungen darüber, wer migrieren darf oder muss und wohin, wer bleiben muss oder darf, werfen neue Fragen auf, nicht zuletzt nach den Entscheidungsgrundlagen und der Legitimation der Entscheider_innen.
Migration als Folge internationaler Klimapolitik Schon in der letzten Dekade waren die Least Developed Countries von den UNKlimainstitutionen aufgefordert, ihre unmittelbar dringenden Anpassungsmaßnahmen an den Klimawandel in National Adaptation Programmes of Action (NAPAs) darzulegen. Rasch zeichnete sich ab, dass viele Staaten davon ausgehen, dass es Umsiedlungen besonders exponierter Bevölkerungsteile geben müsse (McDowell 2013). Angesichts der enormen finanziellen Mittel, die für Anpassung an den Klimawandel (adaptation) speziell für Staaten des Globalen Südens in diversen Adaptation Funds nicht nur unter dem Dach der UN-Klimarahmenkonvention (UNFCCC) bereitgestellt werden (siehe bspw. climatefundsupdate.org), entwickelt sich ein neues Geschäftsmodell einer entsprechenden Umsiedlungsindustrie (siehe bspw. displacementsolutions.org). Erfahrungen mit unfreiwilliger Umsiedlung im Kontext von Staudammbauten und anderen Entwicklungsprojekten zeigen, dass diese in der Regel gravierende Verschlechterungen der Lebenssituation der Umgesiedelten mit sich bringen (Wilmsen/ Webber 2015). Schilderungen aus Ruanda lassen befürchten, dass Umsiedlungen im Namen und auf Rechnung der Adaptation an den Klimawandel ähnlich bestürzend verlaufen, dass Menschenrechte missachtet, Betroffene nicht informiert und an den Planungen beteiligt, sondern bedroht werden, ungenügende Kompensation erhalten und sich anschließend oft schlechter versorgen können als zuvor. Mit Verweis auf Klimaanpassung und -wandel, Umweltschutz und Biodiversität werden dort Aufforstungen begründet, die mit der Entrechtung und zwangsweisen Umsiedlung vieler Familien einhergehen – international von höchster Stelle als vorbildlich gelobt für die Bekämpfung von Klimavulnerabilität in Afrika (Gebauer/Doevenspeck 2014: 102) (→ Klimavulnerabilität; → Klimaanpassung).
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Exemplarisch für zahllose weitere Fälle von land grabbing für den großflächigen Anbau von Energiepflanzen ist die Region am Fluss Tana im Osten Kenias, wo die Produktion von Bioethanol durch einen Großinvestor dazu führt, dass viele bisherige Nutzer_innen der Flächen und des Wassers keinen Zutritt mehr haben (Schade 2013) (→ Agrartreibstoffe; → REDD). Zynischerweise ist derartige Migration speziell für solche Menschen vorgesehen, die selbst nur verschwindend wenig zum Klimawandel beigetragen haben. Was sie zu Migration oder Flucht bewegt, ist streng genommen nicht umwelt- oder klimawandelinduziert, sondern Ergebnis einer veränderten internationalen (Klima-) Politik. Es wäre naheliegend, von »klimapolitikinduzierter Migration« anstatt von »Klimaflucht« oder »klimainduzierter Migration« zu sprechen, denn die Bezüge zur Politik sind ungleich unmittelbarer und evidenter als zu Umwelt oder Klima(-wandel).
Weblinks Beiträge zu klimabedingter Migration des NRO-Bündnisses Klimaallianz Deutschland: www.die-klima-allianz.de/klimabedingte-migration Überblick über diverse Klimafonds, bereitgestellt von der Heinrich-Böll-Stiftung und dem Overseas Development Institute: www.climatefundsupdate. org Weltweit tätige Rechtshilfe-NRO für Menschen, die durch Klimawandelfolgen ihr Land verloren haben: displacementsolutions.org
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Klimaflüchtlinge
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Klimafreundlicher Konsum Ines Weller In den Debatten über Klimawandel und Klimaschutz im Alltag findet seit einigen Jahren insbesondere im Bereich des privaten Konsums der Begriff »klimafreundlicher« oder »klimaverträglicher Konsum« Verwendung. Diese Debatte suggeriert, dass der private Konsum direkt und indirekt einen Großteil der Treibhausgase verursacht. Problematisch daran ist zum einen – ähnlich wie in den Debatten über nachhaltigen Konsum – eine implizite Engführung von Konsum auf den Kauf klimafreundlicher Produkte und zum anderen die Gefahr einer zunehmenden sozialen Exklusion, wenn Präferenzen für klimafreundlichere Produkte, die häufig teurer sind oder als teurer wahrgenommen werden, vor allem als eine Option für einkommensstarke Gruppen dargestellt werden.
Privater Konsum, Klimaschutz und soziale Ungleichheit Die Debatten über klimawandelbezogene Transformationsprozesse richten sich auch an private Konsument_innen, die in ihr Alltagshandeln Klimaschutzziele in unterschiedlicher Weise aufnehmen sollen. Sie knüpfen an die Konzepte und Diskussionen über einen nachhaltigen Konsum an, wobei der Fokus des klimafreundlichen Konsums auf der Reduzierung von Treibhausgasen liegt. Ausgehend vom nachhaltigen Konsum erfolgt eine weitere Konkretisierung klimafreundlichen Konsums über den Bezug auf spezifische Produkte und Maßnahmen in den verschiedenen Konsumbereichen. Als Handlungsschwerpunkte klimafreundlichen Konsums gelten insbesondere klimafreundliche Maßnahmen bzw. klimafreundlichere Produkte im Bereich Wohnen (insbesondere Wärmedämmung, energieeffiziente Heizung, Wechsel zu Ökostrom-Anbietern), im Bereich Mobilität (insbesondere PKWs mit geringem Kraftstoffverbrauch, Verzicht von Flugreisen bzw. ihre Verlagerung z.B. auf Bahnreisen) und im Bereich Ernährung (insbesondere Reduzierung des Fleischverbrauchs, Kauf von Bio-Lebensmitteln und regionalen Produkten) (Grießhammer et al. 2010; Scholl 2013; UBA 2014).
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Um privaten Konsument_innen Orientierung und Informationen über Klimaschutz im Alltag zu bieten, gibt es inzwischen eine kaum mehr überschaubare Vielzahl an Ratgebern. Diese unterstreichen die Bedeutung des privaten Konsums für den Klimaschutz und das Erreichen der angestrebten Treibhausgasreduktionsziele. So weist die vom Umweltbundesamt herausgegebene Broschüre »Klimaneutral leben: Verbraucher starten durch beim Klimaschutz« auf die diesbezüglichen Stellschrauben im privaten Bereich hin (→ Klimaneutralität); die privaten Konsument_innen werden dabei sogar als Vorreiter_innen im Klimaschutz gesehen: »Wir, als klimabewusste Menschen, können der Politik vorausgehen.« (UBA 2014, S. 5) Speziellen Bezug auf Klimaschutz im Alltag nehmen auch die zum Beispiel vom WWF oder vom Umweltbundesamt1 online angebotenen CO2-Rechner, mit denen private Konsument_innen ihre persönliche CO2-Bilanz berechnen können und auf dieser Grundlage Hinweise zu CO2-Einsparmöglichkeiten erhalten. Klimaschutz im Alltag weist viele Facetten auf. An der Verwendung des Begriffs ›klimafreundlicher Konsum‹ ist problematisch, dass er häufig implizit auf Kaufentscheidungen für klimafreundlichere Produkte verengt wird. Diese verengte Betrachtung wird besonders deutlich von Wirtschaftsakteuren zum Ausdruck gebracht, schwingt aber auch in anderen öffentlichen Debatten und Klimaschutzratgebern mit. Beispielsweise sind seit einiger Zeit so genannte Klimasparbücher für unterschiedliche Regionen auf dem Markt, deren Entwicklung und Verbreitung von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU) unterstützt werden. Sie sollen konkrete Hinweise und Anreize für klimafreundlichen Konsum bieten, ihre Käufer_innen erhalten mit dem Klimasparbuch zusätzlich Vergünstigungen in Geschäften und für Dienstleistungen in der jeweiligen Stadt bzw. Region.2 Hier wird zwischen klimafreundlichem Konsum und Kaufprozessen eine deutliche Verbindung hergestellt. Besonders hervorgehoben wird diese Verknüpfung in Aktivitäten und Veröffentlichungen der Unternehmer-Initiative »2°-Deutsche Unternehmer für Klimaschutz«. Diese Initiative, die von mehreren Unternehmen aus Deutschland getragen wird (u.a. Otto Group, Deutsche Bahn, Puma, Bosch, Siemens, Allianz, BP), versteht unter klimafreundlichem Konsum explizit den Kauf klimafreundlicher Produkte3 und betont die Bedeutung dieses noch unerschlossenen Marktes für die Wirtschaft und privaten Konsument_innen: »Die Verbindung zwischen Klimaschutz und Konsum ist neu in einer Debatte, die sich bisher fast ausschließlich um Verzicht und Einschränkung dreht. Es ist jedoch 1 | Siehe z.B. www.wwf.de/aktiv-werden/tipps-fuer-den-alltag/energie-spartipps/co2rechner/ und http://uba.klimaktiv-co2-rechner.de/de_DE/page/start (07.05.2015). 2 | Vgl. DBU: www.klimasparbuch.net (03.06.2015). 3 | Was genau unter einem klimafreundlichen Produkt verstanden wird, wird nicht weiter ausgeführt.
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klar, dass Verzicht weder für Konsumenten noch für Unternehmen ein nachhaltiger Ansatz sein kann. Der Konsum ohne schlechtes Gewissen birgt gewaltiges Potenzial – im Angebot und in der Nachfrage.« (Lüth/von Winning 2009: 10). Aus dieser Perspektive folgt als Konsequenz: »Geringverdiener haben weniger Möglichkeiten zu klimafreundlichem Konsum.« (Ebd.: 7) Hier wird offensichtlich, dass Klimaschutz in dem Moment, in dem er im Alltag auf den Kauf klimafreundlicher Produkte reduziert wird, als Option insbesondere für wohlhabendere gesellschaftliche Gruppen gilt. Diese können ihre klimabezogenen Kaufentscheidungen und den dafür gezahlten Mehrpreis sogar mit einem Mehr an »Gewissenswohlstand« verbinden, wie dies der Kulturtheoretiker Wolfgang Ullrich kritisch mit Blick auf Bio- und FairtradeProdukte formuliert (Ullrich 2013: 127). Für Ärmere dagegen »bleibt das gute Gewissen ein knappes Gut, womit sie einmal mehr in ein gesellschaftliches Abseits zu geraten drohen, während andere immer mehr Gewissenswohlstand anhäufen können« (ebd.: 128). Einkommensschwachen Gruppen steht diese Möglichkeit der Gewissensberuhigung nur begrenzt offen. Darüber hinaus ist ihr Zugang zu energieeffizienteren Produkten und Technologien erschwert, so dass sie ihre Energiekosten auf diesem Weg kaum reduzieren können. In Befragungen wird dies bereits als Problem sozialer Gerechtigkeit wahrgenommen. So brachten in einer eigenen empirischen Studie insbesondere Befragte aus Familien, die von Armut bedroht sind, ihre Befürchtung zum Ausdruck, dass neue klimafreundlichere Technologien soziale Ungleichheiten und die gesellschaftliche Spaltung in ›Privilegierte‹, die sich klimafreundlichen Konsum leisten könnten, und ›alle anderen‹, die dies nicht können, verschärfen könnten (Weller et al. 2010: 59). Darüber hinaus spielt in diesen Debatten die enge Korrelation zwischen Einkommen und Ressourcenverbrauch und ihren Folgen für CO2-Emissionen bzw. Klimaschutz im Alltag bislang kaum eine Rolle. So kommt eine Vielzahl nationaler und internationaler Stoffstromanalysen zu dem Ergebnis, dass der Ressourcenverbrauch direkt mit dem Einkommen zusammenhängt: Je höher das Einkommen, desto höher der Ressourcenverbrauch bzw. je geringer das Einkommen, desto geringer der Ressourcenverbrauch (UNEP 2010). Demnach ist davon auszugehen, dass das Konsumverhalten einkommensschwacher gesellschaftlicher Gruppen unter anderem wegen ihrer geringeren Wohnfläche und ihrer geringeren Auto- und Flugmobilität im Vergleich zu den einkommensstarken Milieus bereits mit einem deutlich geringeren Energieverbrauch und CO2-Emissionen verbunden ist. Diesem Zusammenhang wird in den Debatten über klimafreundlichem Konsum aber nur selten Rechnung getragen. Neuere empirische Studien haben demgegenüber herausgearbeitet, dass auch einkommensschwache Haushalte trotz ökonomischer Zwänge sehr wohl Klimaschutzüberlegungen in ihren Alltag integrieren (Weller et al. 2010). Eine aktuelle sozial-ökologische Untersuchung belegt darüber hinaus die ver-
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gleichsweise günstige CO2-Bilanz einkommensschwacher Haushalte4 (BirzleHarder et al. 2013). Der Fokus der Konsumdebatte allein auf klimafreundliche Produkte läuft außerdem Gefahr, die für eine substanzielle Reduzierung der CO2-Emissionen bei Produktion und Konsum erforderlichen Transformationen jenseits des Marktes und seiner Wachstumsorientierung auszublenden. Notwendig wäre hierfür auch eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Konsumbedürfnissen und Gütern, mit Lebensstilen und Fragen nach einem kulturellen Wandel, sowohl in Unternehmen als auch bei privaten Konsument_innen.
Überhöhung und Moralisierung der Gestaltungsmacht privater Konsument _innen Bereits seit langem wird in den Debatten über nachhaltigen Konsum insbesondere aus feministischer Perspektive auf problematische Grundannahmen über die Gestaltungsmacht privater Konsument_innen hingewiesen sowie die damit verbundene Überhöhung und Moralisierung des Konsumverhaltens aufgezeigt (vgl. Weller 2004). Mit Blick auf die sich nur langsam verändernde geschlechtsspezifische Arbeits- und Verantwortungsteilung wurde hierfür der Begriff »Feminisierung der Umweltverantwortung« eingeführt (vgl. Schultz/Weiland 1991). Neuere Debatten über die Individualisierung der Klimaverantwortung auf Grundlage der Berechnung individueller CO2-Emissionen knüpfen daran an und fragen nach der Bedeutung einer klimabezogenen Selbststeuerung von Konsument_innen für die Governance des Klimawandels insgesamt (vgl. Paterson/Stripple 2010). Ähnliche Tendenzen lassen sich auch in den Debatten über klimafreundlichen Konsum erkennen. Eine ihrer Grundannahmen ist, dass ein hoher Anteil des Energieverbrauchs und der resultierenden CO2-Emissionen bzw. CO2-Äquivalente von Produkten und Technologien durch den privaten Konsum verursacht werden. So geht beispielsweise das Öko-Institut in einer Studie über Energieeinsparpotenziale des privaten Konsums davon aus, dass auf die privaten Haushalte rund zwei Drittel der Gesamtemissionen durch Stromund Wärmeverbrauch entfallen (Grießhammer et al. 2010). In dieser Studie wird zwischen dem direkten und dem indirekten Energieverbrauch unterschieden. Danach entfallen auf den direkten Energieverbrauch rund ein Viertel der gesamten CO2-Emissionen auf die privaten Haushalte. Dem wird noch der indirekte Energieverbrauch hinzugerechnet, der unter anderem aus der Herstellung der Güter, die von den privaten Haushalten nachgefragt werden, resultiert. Damit kommt die Studie zu dem Schluss, dass die »direkten und in4 | Siehe www.klima-alltag.de; Pressemitteilung vom 17. Dezember 2013: »CO 2 -arme Lebensstile – wie Klimaschutz in den Alltag passt« (03.06.2015).
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direkten energiebezogenen Treibhausgas-Emissionen der privaten Haushalte […] bei etwa zwei Drittel der Gesamtemissionen liegen« (ebd.: 4). Eine problematische Prämisse dieser und ähnlicher Berechnungen ist, dass private Konsument_innen auch für den Energieverbrauch verantwortlich gemacht werden, der bei der Herstellung der von ihnen genutzten Güter anfällt. Hier zeigt sich zunächst das Grundproblem der Zuordnung von Ressourcenverbräuchen und Umweltbelastungen auf die verschiedenen Phasen im Lebenszyklus von Produkten. Dass die Bestimmung des Anteils der privaten Haushalte an den Gesamtemissionen und Ressourcenverbrauch spezifischer Produkte schwierig ist, lässt sich unter anderem daran zu erkennen, dass die Ergebnisse unterschiedlicher Studien erheblich differieren (vgl. Weller 2004; Huber 2011). Dazu trägt auch die schwierige Abgrenzung zwischen privatem Konsum sowie dem Konsum der öffentlichen Hand und der Wirtschaft bei. Beispielsweise werden bei der ökologischen Priorisierung von Konsumbereichen alle drei Bereiche zusammengefasst (vgl. Weller 2008).5 Darüber hinaus ist jedoch grundsätzlich kritisch zu hinterfragen, inwiefern private Konsument_innen Verantwortung für den Ressourcenverbrauch der Herstellung von Produkten übernehmen können, obwohl sie keinerlei Einfluss auf die Gestaltung der Produktionsprozesse und des Ressourceneinsatzes haben. Denn sie können im Gegensatz zu den Akteuren aus der Wirtschaft nur indirekt – über den Kauf bzw. Nicht-Kauf – auf das Angebot von Produkten und Technologien reagieren. Die grundlegenden Konstruktions- und Designentscheidungen, die sich jedoch direkt auf den Ressourcenverbrauch und die Umweltbelastungen entlang der gesamten Produktlebensdauer auswirken, entziehen sich ihrer Einflussnahme. Diese werden vielmehr upstream, das heißt am Anfang der Wertschöpfungskette, hauptsächlich von Akteuren aus Produktion, Wissenschaft und Forschung, getroffen (vgl. Huber 2011).6 Eine Überhöhung der Gestaltungsmacht privater Konsument_innen läuft nicht nur Gefahr, das Konsumverhalten zu moralisieren und an seine Veränderung überzogene Ansprüche zu stellen, sondern von anderen relevanten und wirkmächtigeren Akteuren in komplexen Versorgungssystemen abzulenken. Dies betrifft neben der Wirtschaft insbesondere den Staat, der durch Anreize Kaufentscheidungen in Richtung auf mehr oder auch weniger Klimaschutz lenken kann, zum Beispiel durch steuerliche Entlastungen für Elektroautos, 5 | Diese kamen zu dem beachteten Ergebnis, dass aus ökologischer Perspektive die drei Bereiche Mobilität, Ernährung sowie Bauen und Wohnen prioritär sind (UNEP 2010). 6 | Eine Stärkung der Gestaltungsmacht privater Konsument_innen wird von dem neuen Trend zu gemeinschaftlichen Konsum erwartet. Hier wird davon ausgegangen, dass Bürger_innen als ›Prosumenten‹ nicht nur Produkte nachfragen, sondern als Produzent_innen auch anbieten und dadurch ihre Einflussnahme auf Produktions-Konsumsysteme steigt (Blättel-Mink/Hellmann 2009).
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die in Deutschland bislang fehlen, während sie in anderen Ländern wie Norwegen eingeführt wurden und zu einer steigenden Nachfrage geführt haben.
Literatur Birzle-Harder, Barbara/Dehmel, Christian/Marg, Oskar/Stieß, Immanuel (2013): Ansatzpunkte, Handlungsspielräume und Barrieren für CO2-arme Alltagspraktiken und Lebensstile. www.klima-alltag.de/Downloads.7.0.html (15.06.2015). Blättel-Mink, Birgit/Hellmann, Kai-Uwe (Hg.) (2010): Prosumer Revisited. Zur Aktualität einer Debatte. Wiesbaden: VS Verlag. Grießhammer, Rainer/Brommer, Eva/Gattermann, Marah/Grether, Stefanie/ Krüger, Malte/Teufel, Jenny/Zimmer, Wiebke (2010): CO2-Einsparpotenziale für Verbraucher. Studie im Auftrag des Verbraucherzentrale Bundesverbandes e.V. Freiburg. www.oeko.de/oekodoc/1029/2010-081-de.pdf (02.06.2015). Huber, Joseph (2011): Allgemeine Umweltsoziologie. Wiesbaden: VS. Lüth, Arved/von Winning, Alexandra (2009): Klimaschutz für Alle! Klimafreundlicher Konsum als neue Säule für den Klimaschutz. Initiative ›2°-Deutsche Unternehmer für Klimaschutz‹. www.allianz.com/v_1339507806000/ media/current/de/presse/news/studien/archiv/downloads/strategiebericht_ klimaschutz.pdf (02.06.2015). Paterson, Matthew/Stripple, Johannes (2010): My Space: governing individuals’ carbon emissions. In: Environment and Planning D: Society and Space 28(2): 341-362. Scholl, Gerd (2013): Klimafreundlicher Konsum. Eine Frage des Lebensstils? In: Zschiesche, Michael (Hg.): Klimaschutz im Kontext. Die Rolle von Bildung und Partizipation auf dem Weg in eine klimafreundliche Gesellschaft. München: Oekom: 15-26. Schultz, Irmgard/Weiland, Monika (1991): Frauen und Müll. Frauen als Handelnde in der kommunalen Abfallwirtschaft. Frankfurt a.M.: IKO. UBA – Umweltbundesamt (2014): Klimaneutral leben: Verbraucher starten durch beim Klimaschutz. www.umweltbundesamt.de/publikationen/klima neutral-leben (27.04.2015). Ullrich, Wolfgang (2013): Alles nur Konsum. Kritik der warenästhetischen Erziehung. Berlin: Wagenbach. UNEP (2010): Assessing the Environmental Impacts of Consumption and Production: Priority Products and Materials. A Report of the Working Group on the Environmental Impacts of Products and Materials to the International Panel for Sustainable Resource Management. www.unep.org/resour cepanel/Portals/24102/PDFs/PriorityProductsAndMaterials_Report.pdf (20.04.2015).
Klimafreundlicher Konsum
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Klimagerechtigkeit Achim Brunnengräber und Kristina Dietz Klimagerechtigkeit hat viele Dimensionen. In der internationalen Klimapolitik dominiert jedoch ein quantitatives Verständnis von Gerechtigkeit, das sich auf die Verteilung globaler Treibhausgasemissionen konzentriert. Qualitative Aspekte von Gerechtigkeit wie die Verantwortung für den Klimawandel, die regional und sozial spezifische Verteilung der Lasten des Klimawandels und des Klimaschutzes oder die demokratische Entscheidung über klimapolitische Maßnahmen werden hierbei nicht hinreichend berücksichtigt. Letztere sind aber zunehmend Gegenstand sozialwissenschaftlicher und gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen und Forderungen.
Dimensionen von (Un-)Gerechtigkeit Gerechtigkeitsvorstellungen variieren je nach Kontext, Bezugsrahmen (lokal, national, global, transnational), politisch-ideologischem und politischtheoretischem Standpunkt. Sie sind gesellschaftlich umkämpft und verändern sich im Laufe der Zeit. Was für die einen als gerechte Verteilung von Gütern und Lasten gesehen wird, kann für andere ein hohes Maß an Ungerechtigkeit beinhalten. Gerechtigkeit umfasst darüber hinaus unterschiedliche politische Dimensionen wie gesellschaftliche und politische Teilhabe, Repräsentation von Interessen oder Verteilung gesellschaftlichen Wohlstands (vgl. Fraser 2003). Mit dem Begriff der Klimagerechtigkeit ist es nicht anders. In der internationalen Klimapolitik bedeutet Klimagerechtigkeit, entsprechend der UN-Klimarahmenkonvention von 1992 (United Nations Framework Convention on Climate Change, UNFCCC), dass Industrieländer eine höhere Last bei der Reduzierung der globalen Treibhausgasemissionen zu tragen haben als die so genannten Entwicklungsländer. Nach Artikel 3 der Konvention sollen die »Vertragsparteien […] auf der Grundlage der Gerechtigkeit und entsprechend ihren gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeiten und ihren jeweiligen Fähigkeiten das Klimasystem zum Wohl heutiger und künftiger Generationen schützen. Folglich sollen die Vertragsparteien, die entwickelte Länder sind, bei der Bekämpfung der
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Klimaänderungen und ihrer nachteiligen Auswirkungen die Führung übernehmen.« (UN 1992, Art. 3.1) Die Industrieländer müssen demnach in einem höheren Maß für die globalen Kosten von Anpassung und Emissionsreduzierung aufkommen als andere Vertragspartner. Obgleich damit der ungleichen Verantwortung in der Krisenverursachung und der Ungleichheit der Mittelverfügbarkeit zur Krisenbearbeitung zwischen Nord und Süd Rechnung getragen wird, greift die Vorstellung von Klimagerechtigkeit als zwischenstaatliche Lastenverteilung zu kurz. Sie führt an der Komplexität bestehender Klimaungerechtigkeit in vielfacher Hinsicht vorbei: Erstens werden jene sozialen Macht- und Herrschaftsverhältnisse ausgeblendet, die die bestehenden Ungleichheiten hinsichtlich der Krisenverursachung, Krisenbetroffenheit und die damit verbundenen Handlungsspielräume erst hervorgebracht haben und weiterhin reproduzieren (z.B. Geschlechterverhältnisse, globale Arbeitsteilung); sie stellen zweitens das fossile Energiesystem mit seinen zentralistischen Versorgungsstrukturen, auf dem die Emissionen beruhen, nicht in Frage; drittens bleibt der Aspekt der prozeduralen Gerechtigkeit im Sinne der demokratischen Teilhabe an klimapolitischen Entscheidungsprozessen unberücksichtigt; viertens werden soziale Ungleichheiten unterhalb der Ebene des Nationalstaates nicht beachtet und fünftens finden hegemoniale Produktions- und Konsummuster als konstitutive Bestandteile von Klimaungerechtigkeit keine Berücksichtigung (Müller 2014).
Klimagerechtigkeit im Verständnis der Vereinten Nationen Nach der Klimarahmenkonvention sollen die Lasten und Kosten der Krisenlösung zwischenstaatlich gerecht verteilt werden. Doch auf welcher Basis – z.B. historische versus gegenwärtige Verantwortung – dies geschehen soll, bleibt hier unbestimmt. Vertraglicher und konkreter Ausdruck dieses Prinzips ist das 1997 verabschiedete und 2005 in Kraft getretene Kyoto-Protokoll. Dieses sieht eine verpflichtende Reduzierung der CO2-Emissionen der Industrieländer um 5,2% bis zum Jahr 2012 im Vergleich zum Basisjahr 1990 vor. Allerdings weist sowohl die geringe Reduktionsverpflichtung als auch die Tatsache, dass es schon in den Verhandlungen zum Kyoto-Protokoll ein zähes Ringen um die Integration der so genannten großen Schwellenländer wie Brasilien, Indien oder China in die Verpflichtung zur Reduktion der Emissionen gab, darauf hin, dass mit dem Prinzip der gemeinsamen aber unterschiedlichen Verantwortung kein historisches Schuldeingeständnis der Industrieländer verbunden ist. Wie die geteilte Verantwortung zu interpretieren und welche Bedeutung hierbei die historisch-ungerechte Entwicklung der Treibhausgasemissionen spielt, ist mehr denn je umstritten. Während die Industrieländer ein höheres Engagement der Schwellenländer einfordern, vertreten diese die Position, dass die Industrieländer ihre Emis-
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sionen erst drastisch nach unten korrigieren müssen. Beide Ländergruppen sehen ihre Wettbewerbsfähigkeit gefährdet, wenn sie einseitig klimapolitische Maßnahmen ergreifen, sprich fossile Energien nicht mehr subventionieren oder verteuern. Daran zeigt sich sehr deutlich: Was von den Akteur_innen der internationalen Klimapolitik und auf globaler Ebene als gerecht angesehen wird, hängt auch von den geoökonomischen und geopolitischen Rahmenbedingungen und von wirtschaftlichen Interessen ab. Die Klima-Governance hat sich im Laufe der Verhandlungen vor diesem Hintergrund immer konflikthafter gestaltet (→ Klima-Governance). Forderungen des Globalen Südens nach Kompensationszahlungen für die historische Klimaschuld des Globalen Nordens werden von den Industrie- wie auch von den OPEC-Ländern zurückgewiesen. Die Schwellenländer dagegen lehnen Reduktionsverpflichtungen ab, da sie die Atmosphäre in der Vergangenheit weit weniger als die Industrieländer belastet haben.
Individualisierter, quantitativer Gerechtigkeitsanspruch Das UN-basierte zwischenstaatliche Gerechtigkeitsprinzip wurde seit den 2000er Jahren in wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Debatten kritisiert und erweitert. Klimapolitik – so die Argumentation einiger Sozialwissenschaftler_innen – ist dann gerecht, wenn sie das Ziel verfolgt, dass sich die Emissionen pro Kopf auf möglichst geringem Niveau angleichen (Santarius 2007: 24). Dieser Ansatz folgt dem Gedanken, dass die Atmosphäre ein globales öffentliches Gut ist, das allen Menschen (nicht allen Staaten) gehört und folglich von allen Menschen gleichermaßen als »Deponie« für klimaschädliche Emissionen genutzt werden kann bzw. »allen Menschen das gleiche Recht auf die Atmosphäre zukommt« (ebd.; vgl. Ott et al. 2004). Soweit die normative Grundaussage, deren Plausibilität sich mit einem Blick auf die durchschnittlichen Emissionswerte nach Ländern auch zeigen lässt. Alleine die G8-Staaten beanspruchen aktuell mit ihrem Anteil von ca. 13% an der Weltbevölkerung den satten Anteil von nahezu 50 Prozent an den weltweiten CO2-Emissionen, ohne Russland (G7) sind es immer noch 45%. Grundsätzlich gilt, je ärmer ein Land, desto weniger CO2-Emissionen werden ausgestoßen. Noch deutlicher wird die ungleiche Nutzung der Atmosphäre, wenn die Emissionen pro Kopf betrachtet werden. In den ärmsten Ländern, wie Tansania, wurden 2012 weniger als 0,2t, in Deutschland 9,2 und in den USA 16,2t CO2 pro Kopf und Jahr durch die Verbrennung fossiler Energieträger emittiert (IEA 2014). Um eine Gleichverteilung der Emissionen pro Kopf zu erreichen, müssten Industriegesellschaften ihre Emissionen deutlich senken, die Gesellschaften im Globalen Süden dürften je nachdem, wo sie leben, moderat zulegen. Auch wenn es gelingt, mit diesem erweiterten Verständnis von Gerechtigkeit, die globalen Machtverhältnisse besser abzubilden, bleibt die Forderung nach einer
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gerechten pro-Kopf-Verteilung von Emissionsrechten, basierend auf dem Prinzip der Gleichheit aller Menschen, abstrakt und verkürzt, da auch hier die sozialen Ungleichheiten innerhalb der Länder wie der gesellschaftliche Kontext, in dem Emissionen entstehen, nicht reflektiert wird. Richtig ist, dass die Gleichheit aller Menschen unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Einkommen, sozialem Status zum Ausgangspunkt jeder gerechten Klimapolitik werden muss. Allerdings bleibt eine Reihe von Klimaungerechtigkeiten auch bei einem auf individueller Gleichheit basierendem Modell unbeachtet. Denn mit der Forderung nach einer individuell gleichen und gerechten Lasten- sowie Nutzenverteilung des Gemeinschaftsgutes Atmosphäre wird einem Denkmuster gefolgt, in dem Ansätze der Nicht-Verschmutzung und der nicht-marktförmigen Bearbeitung der Klimakrise unberücksichtigt bleiben. Der Fossilismus wird fortgeschrieben, sprich die herrschenden Produktionsund Konsummodelle werden nicht hinreichend in Frage gestellt. Stattdessen festigt auch ein am Pro-Kopf-Ausstoß gemessenes Gerechtigkeitsmodell die hegemonial gewordene Prämisse der ökologischen Modernisierung, die in den marktwirtschaftlichen Instrumenten des Kyoto-Protokolls ihren Ausdruck findet. Demnach muss die gesellschaftliche Entwicklung – sowohl in Entwicklungs- als auch in Industrieländern – mit der effizienteren Nutzung fossiler Energieträger, mit globalem Standortwettbewerb und Wirtschaftswachstum, einhergehen, nur eben auf einem geringeren Emissionsniveau als bisher. Aber welches Niveau wäre – gerade auch im Hinblick auf zukünftige Generationen – gerecht?
Qualitativer Gerechtigkeitsanspruch Aus diesen Überlegungen kann geschlussfolgert werden, dass nicht die quantitative Seite ungleicher Emissionsniveaus, sondern normative und qualitative Bedeutungen berücksichtigt werden müssen, wenn über Fragen globaler Gerechtigkeit beim Klimaschutz geredet wird. Dann rücken die Luxusemissionen reicher und die Überlebensemissionen armer Bevölkerungsgruppen ebenso in den Blick wie die unterschiedlichen Möglichkeiten, sich an die Auswirkungen des Klimawandels anzupassen (→ Vulnerabilität; → Klimaanpassung). Darüber hinaus müssten die Möglichkeiten der Partizipation an klimapolitischen Entscheidungsverfahren wie auch die Bedeutung der marktwirtschaftlichen Instrumente unter Gerechtigkeitskriterien betrachtet werden. Die Dekarbonisierung und die Postwachstumsgesellschaft wären aus dieser Perspektive neue und ganz andere, grundsätzlichere Orientierungspunkte der Klimapolitik. In diesen verschiedenen Überlegungen spiegelt sich ein Grundproblem vieler Modelle zur Klimagerechtigkeit wider: die fehlende Verknüpfung von Klimagerechtigkeit mit sozialer Gerechtigkeit. Diese Kritik wurde in den 1980er Jahren bereits von der damals in den USA entstehenden Umweltge-
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rechtigkeitsbewegung formuliert. Environmental Justice bezog sich nicht primär auf ökologische Fragen, sondern auch auf feministische, antirassistische und antikapitalistische Forderungen und Praktiken. Grundgedanke eines solchen mehrdimensionalen und an konkrete Kämpfe rückgebundenen Gerechtigkeitsbegriff ist, dass ökologische Krisen keine sozial neutralen Fakten sind, die rein technisch, quantitativ oder marktwirtschaftlich gelöst werden könnten, »sondern untrennbar mit sozialen, politischen und ökonomischen Faktoren verbunden« sind (Kaiser/Wullweber 2012: 190; vgl. Harvey 1993). An diese Kritik knüpfen aktuell soziale Klima-Bewegungen an, die sich in ihren Praktiken und Kämpfen auf einen erweiterten, gesellschaftskritischen Begriff von Klimagerechtigkeit (climate justice) beziehen. Sie fassen darunter neben ökologischer und sozialer Verteilungs- und Verfahrensgerechtigkeit auch Gerechtigkeit zwischen Geschlechtern und zwischen ethnischen Gruppen. Beispiele hierfür sind die Netzwerke Climate Justice Now! und Climate Justice Action. Klimagerechtigkeit wird hier mit der Forderung nach gesellschaftlicher Teilhabe und anderen Konsum- wie Produktionsformen verbunden. Klimapolitik ist aus dieser Perspektive nicht nur eine staatliche Aufgabe zur internationalen Bewirtschaftung der Atmosphäre als Deponie für Treibhausgase. Vielmehr wird gefordert, Klimapolitik in einem umfassenderen, demokratischen Sinne an der Verwirklichung der politischen, sozialen und physischen Menschenrechte zu orientieren. Diese einzulösen muss eine das kapitalistische System transformierende, Bedeutung erlangen. Klimagerecht sind in diesem Sinne die Beendigung des auf Wachstum ausgerichteten, fossilen Energiezeitalters und damit verbunden die Etablierung dezentraler, gesellschaftlich kontrollierter und erneuerbarer Energiesysteme. Mit Letzteren kann es gelingen, Energiearmut zu reduzieren und Energieversorgung zu demokratisieren, ohne Emissionen steigen zu lassen. Klimagerecht ist ferner eine emanzipatorische, demokratische Gestaltung der Klimapolitik. Erst wenn klimapolitische Entscheidungen wie die Dekarbonisierung der Energiesysteme, die Gestaltung urbaner Mobilität, die (Nicht-)Förderung fossiler Energieträger, die Produktion von Nahrungsmitteln in einem emanzipatorischen, selbstbestimmten Sinne demokratisch verfasst sind, kann Klimagerechtigkeit eingelöst werden. Ob die Welt allerdings in absehbarer Zeit in diesem Sinne klimagerechter wird oder nicht, darüber entscheiden weniger die internationalen Klimaverhandlungen als soziale Kämpfe an vielen verschiedenen Orten der Welt.
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Weblinks Blog der Heinrich-Böll-Stiftung zu Klimagerechtigkeit: http://klima-der-gerech tigkeit.boellblog.org Informationsplattform zu globaler Umweltgerechtigkeit an der Schnittstelle von Wissenschaft, Politik, sozialen Bewegungen des Transnational Institute: www.tni.org/work-area/environmental-justice Texte und Berichte der degrowth-Sommerschule 2015 zum Schwerpunkt Klimagerechtigkeit: www.degrowth.de/de/2015/03/klimagerechtigkeit-unddegrowth-zwei-seiten-einer-medaille Weltweites Netzwerk von NRO und sozialen Bewegungen für soziale, Umweltund Geschlechtergerechtigkeit, Climate Justice Now!: www.climate-justicenow.org
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Klimakatastrophe Tobias Schmitt Katastrophistische Darstellungsweisen der zu erwartenden Auswirkungen des Klimawandels erhöhen nicht nur die öffentliche Aufmerksamkeit und erzeugen Handlungsdruck, sondern bergen auch die Gefahr, die Krise der gesellschaftlichen Naturverhältnisse herrschaftsförmig zu bearbeiten und über eine solche Bearbeitungsweise bestehende Macht- und Ungleichverhältnisse nicht aufzubrechen, sondern zu verfestigen.
Katastrophenmetaphern des Klimawandels Kaum eine Publikation im Rahmen der Klimadebatte kommt ohne einen Verweis auf die bevorstehende Klimakatastrophe aus. Egal ob in wissenschaftlichen Artikeln oder Regierungserklärungen, in Veröffentlichungen von NichtRegierungsorganisationen, populärwissenschaftlichen Ausführungen oder Publikationen des Militärs – die kommende Katastrophe wird zumeist als Aufhänger und Hintergrundfolie genutzt, vor der die jeweiligen Debattenbeiträge und Lösungsansätze diskutiert werden. Dabei spielt das strategische Moment der Inszenierung des Klimawandels als Katastrophe eine entscheidende Rolle. Durch die Verwendung einer Katastrophen- und Untergangsmetaphorik werden – angelehnt an religiös aufgeladenen Mythen von Sintflut und Apokalypse – »archaische Ängste aktiviert« (Weingart et al. 2002: 119) und (mediale) Aufmerksamkeit erzeugt. Die Etablierung des Begriffs der Klimakatastrophe in der deutschen Klimadebatte lässt sich dabei auf ein spezifisches Ereignis zurückführen (vgl. Weingart et al. 2002: 35f.). Anfang 1986 gab der Arbeitskreis Energie der Deutschen Physikalischen Gesellschaft eine Pressemitteilung heraus, in der vor einer drohenden Klimakatastrophe gewarnt wurde. Insbesondere wurde dabei ein Meeresspiegelanstieg von fünf bis zehn Metern auf Grund des Abschmelzens der Polkappen prognostiziert, der für viele Küstenbereiche katastrophale Auswirkungen haben würde. Allerdings wurde der Begriff der Klimakatastrophe von vielen Klimaforscher_innen als sensationalistisch kritisiert. So wurde in
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einer einige Monate später veröffentlichten Version der Begriff der Klimakatastrophe durch den Begriff der Klimaänderungen ersetzt, ohne dadurch jedoch die Schlagkraft der Katastrophenmetapher zu reduzieren. Der Begriff der Klimakatastrophe hatte sich verselbstständigt und im Laufe der Jahre zu einem »Leitbegriff der Debatte« (ebd.: 14) entwickelt. In den deutschen Massenmedien geistert der Begriff bereits seit den 1970er Jahren herum. Im Kontext der Herausbildung einer Umweltbewegung in Westdeutschland und vor dem Hintergrund der Diskussionen um die Studie des Club of Rome zu den »Grenzen des Wachstums« (Meadows et al. 1972) wurde die Katastrophenmetapher zur Benennung der Auswirkungen des menschlichen Handelns auf die Umwelt vermehrt angewandt (Gammelsberger 2007: 29). Die Zeitschrift »Der Spiegel« verwendete schon Mitte der 1970er den Katastrophenbegriff und betitelte im August 1974 einen Artikel über einen »weltweiten Wetterumschwung« mit »Katastrophe auf Raten«. Später schafften es Überschriften wie »Klima für Dinosaurier« (1977), »Tod im Treibhaus« (1979) oder »Auf dem Weg in die Katastrophe« (1981) in das Magazin. Die Warnung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft nahm »Der Spiegel« in seiner Ausgabe vom 11.8.1986 auf, setzte den Begriff »Klima-Katastrophe« (Untertitel: »Ozon-Loch, Pol-Schmelze, Treibhaus-Effekt: Forscher warnen«) auf die Titelseite und bebilderte die Ausgabe mit einem halb überfluteten Kölner Dom – bis heute eines der wirkmächtigsten Bilder der deutschen Klimadebatte. In der zugehörigen Titelgeschichte wird daran anschließend ein düsteres Szenario für das Jahr 2004 entworfen: »Überraschend war die Katastrophe nicht gekommen. Wissenschaftler hatten zeitig gewarnt, Umweltschützer unermüdlich demonstriert. Schließlich hatten sogar die Politiker den Ernst der Lage erkannt – zu spät: Das Desaster, der weltweite Klima-GAU, war nicht mehr aufzuhalten. Jetzt, im Sommer 2004, ragen die Wolkenkratzer New Yorks weit vor der Küste wie Riffs aus der See. Überflutet, vom Meer verschluckt sind längst auch Hamburg und Hongkong, London, Kairo, Kopenhagen und Rom.« (Der Spiegel 11.8.1986: 122) Insbesondere nach den Anschlägen in Manhattan vom 11. September 2001 wurde das alarmistische Vokabular der Klimawandeldebatte noch um die Kriegsmetaphorik mit Stichworten wie Terror und Sicherheit erweitert. So wird der Klimawandel als »größtes Sicherheitsrisiko« (Bundesministerin a. D. Heidemarie Wieczorek-Zeul zitiert in Wiesnet 2012: 254) und selbst als »weapon of mass destruction« (Klimaforscher Sir John Houghton zitiert in Hulme 2008: 11) bezeichnet, »more serious even than the threat of terrorism« (wissenschaftlicher Chef berater der britischen Regierung Sir David King zitiert ebd.). Und der Physiker Stephen Hawking prognostizierte: »Terror only kills hundreds or thousands of people. Global warming could kill millions. We should have a war on global warming rather than the war on terror.« (Ebd.) Nach wie vor machen Untergangsszenarien einen wesentlichen Teil der ka-
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tastrophistischen Erzählung über den Klimawandel aus. So wird die baldige Unbewohnbarkeit des Planeten Erde (Leggewie/Welzer 2010), der Untergang einzelner Kulturen (Welzer 2008) oder gleich der gesamten menschlichen Zivilisation prophezeit (Wiesnet 2012: 255). Die entsprechenden dramatischen Bilder liefert Hollywood mit Filmen wie The Day after Tomorrow (Regie: Roland Emmerich, 2004), der den bevorstehenden apokalyptischen Untergang durch eine plötzliche Kaltzeit in Szene setzt, nachdem abschmelzendes Schelfeis den Golfstrom unterbricht. Innerhalb des Katastrophendiskurses werden demnach Dramatisierungen und Überzeichnungen als Mittel eingesetzt, um Aufmerksamkeit zu erzeugen und Handlungsdruck herzustellen. Gleichzeitig birgt eine solche Strategie die Gefahr der Sättigung und Abnutzung der Argumente und das Risiko eines Gewöhnungseffekts, der sogar in Langweile und Desinteresse münden kann (Weingart et al. 2002: 144). Einen entsprechenden Effekt hatte die bildhafte Metapher des »Waldsterbens«, das in dieser dramatisierten Form nicht stattgefunden hat. Um die Aufmerksamkeit zu halten, braucht es ständig neue Nachrichten, die jeweils noch etwas dramatischer oder akuter als die vorhergehenden wirken müssen: »Nach apokalyptischen Hitzewellen kann man mit dem klimabedingten Aussterben von Tierarten keine Aufmerksamkeit mehr erregen. Da muss schon das Umkippen des Golfstroms her. So ergibt sich eine Spirale der Übertreibung.« (Storch/Stehr 2005: 161) Doch was passiert, wenn im Sommer 2004 weder New York noch der Kölner Dom unter Wasser stehen und wenn Prognosen zu Meeresspiegelanstiegen und Zeithorizonte korrigiert werden müssen? Auch wenn über Dramatisierungen kurzfristig Aufmerksamkeit hergestellt werden kann, so kann ein solcher Wettbewerb der Bilder zu einem Glaubwürdigkeitsverlust führen, der sogar in eine grundlegende Skepsis gegenüber dem Klimawandel umschlagen kann (Weingart et al. 2002: 92-93).
Katastrophenszenarien relativieren aktuelle Zustände im Globalen Süden Mit dem Schüren von Ängsten vor den apokalyptischen Auswirkungen des Klimawandels wird eine Politik der Angst betrieben, die nicht-intendierte Reaktionen und Abwehrmechanismen auslösen kann. Anhand von Sicherheitsdiskursen kann nachgezeichnet werden, dass eine (imaginierte oder reale) Bedrohung nicht automatisch zu mehr Solidarität und emanzipatorischen Lösungsansätzen, sondern vielmehr zu vermehrten Abgrenzungsmechanismen und Abwehrhaltungen führt. Dabei stellen Ängste eine hervorragende Legitimationsgrundlage für die Ausweitung staatlicher Befugnisse, repressiver Politiken und die Umsetzung jeglicher Projekte im Namen der Ökosicherheit dar (Anbau von Agrartreibstoffen, Sicherung von Rohstoffinteressen, Abschottung gegenüber sogenannten Klimaflüchtlingen etc.) (vgl. BUKO 2009).
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Wenn der Klimawandel als Bedrohung für die gesamte Menschheit gerahmt und ihm der Krieg erklärt wird, dann wird dabei das Bild einer dem Menschen äußeren Natur, die außer Kontrolle geraten ist, und einer von außen auf die Menschheit hereinbrechenden Katastrophe bedient. Dadurch wird die Natur zum Problem, die mithilfe von technischen Maßnahmen besser beherrscht und manipuliert werden muss (s.u.), während die zugrunde liegenden gesellschaftlichen Verhältnisse unbenannt bleiben. Durch die Imagination eines äußeren Feindes (wie in Science-Fiction-Filmen üblich) verschmilzt die Menschheit zu einer homogenen Masse, deren gemeinsames Interesse die Überlebenssicherung darstellt. Klassen- und Geschlechterunterschiede und eine (post)kolonial aufgeteilte Weltordnung scheinen plötzlich keine Rolle mehr zu spielen: »Catastrophic climate change makes distinctions between hotel room cleaners and hedge fund managers irrelevant. ›People‹ become the universal political subject. Climate politics moves out of the realm of, say, class struggle between workers in Chicago and the financiers of energy projects that pollute their neighbourhoods, or between indigenous bands in the Amazon and the oil companies despoiling their territories.« (Lohmann 2014: 1) Durch die Fixierung auf die zukünftige Klimakatastrophe, die zu einer Reduzierung der Biodiversität und der Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln und sauberem Trinkwasser bis hin zu Klimakriegen (vgl. Welzer 2008) führen wird, findet auch eine Nicht-Benennung und Verschleierung von aktuellen Verantwortlichkeiten und eine Ausblendung der gegenwärtigen Katastrophe der alltäglichen Naturaneignung statt. Durch die Überfischung der Meere, die Abholzung der Wälder, die Verschmutzung von Gewässern und Böden, den rücksichtlosen Extraktivismus und die ungleiche Verteilung von Ressourcen werden täglich – auch ohne den Umweg über den Klimawandel – Arten vernichtet, Ökosysteme und Lebensgrundlagen zerstört und Zugang zu Ressourcen verweigert. Dabei sind die Zusammenhänge offensichtlich, und die Verantwortlichen können klar benannt werden. Gleichzeitig wird durch die Betonung einer in Zukunft auf die Menschheit hereinbrechenden Katastrophe, die Dürren, Überschwemmungen, Hungersnöte und Epidemien auslösen wird, der eurozentrische Charakter der Klimadebatte deutlich: Durch die Beschwörung einer zukünftigen Katastrophe (im Globalen Norden) werden die bereits heutzutage stattfindenden und erlebten Katastrophen (Dürren, Überschwemmungen, Hungersnöte und Krankheiten) vor allem im Globalen Süden ausgeblendet oder zumindest relativiert. Der katastrophale Status Quo erscheint dadurch als relativ besser und somit akzeptabel.
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Katastrophendiskurs verhindert sozialen Wandel Wichtigstes Argument für einen Alarmismus stellt jedoch die Dringlichkeit der Problemlage dar. Nur wenn sofort und entschlossen gehandelt wird, lässt sich – so die Erzählung – die unmittelbar drohende Katastrophe vielleicht noch abwenden. Die Gefahr, die sich in dieser Argumentationslogik verbirgt, besteht in der darin eingeschriebenen Effizienzlogik und der undifferenzierten Ausgestaltung des Handlungsdrucks. Wenn schnellstmöglich gehandelt werden soll, dann besteht offensichtlich keine Zeit mehr für zeitintensive, demokratische und emanzipatorische Prozesse. Langwierige Projekte, wie eine grundlegende Umgestaltung des fossilen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems und eine radikale Veränderung der vorherrschenden kapitalistischen Weltsicht (Klein 2015: 554f.), erscheinen in Anbetracht der skizzierten Lage utopisch und ineffizient. Wenn jetzt gehandelt werden muss, dann ist keine Zeit mehr, »zuerst noch die Verteilungsfrage zu stellen« (Flemming et al. 2012: o.S.). Implizit steckt in der Handlungsaufforderung, den Klimawandel so schnell wie möglich zu bremsen, ein unausgesprochenes »Egal wie«, »Egal mit wem« und ein »Koste es, was es wolle«. Durch den Handlungsdruck werden insbesondere diejenigen Lösungsansätze favorisiert, die eine konkrete Reduktion der CO2-Emissionen nachweisen können und von denen angenommen wird, dass sie in einem absehbaren Zeitraum umgesetzt werden können. Anstatt die bestehenden Verhältnisse verändern zu wollen, erscheint es somit ratsamer, eine ökologische Modernsierung kapitalistischer Produktionsweisen zu forcieren (Green New Deal, Green Economy, ökologische Modernisierung). Anstatt Verbote und Grenzwerte gegen die Interessen von Unternehmen und Verbänden durchsetzen zu wollen, erscheint es plausibler, gemeinsam mit den Unternehmen eine konsensuale Politik zu betreiben (vgl. Kyoto-Protokoll und Selbstverpflichtungen von Unternehmensverbänden). In Anbetracht des Ausmaßes der bevorstehenden Katastrophe erhalten Lösungsansätze, die äußerst kostenintensiv und risikoreich erscheinen (Solar Radiation Management, Carbon Dioxide Capture and Storage) oder die gesellschaftlich höchst umstritten sind (Fracking zur Gasförderung, Atomenergie), eine neue Legitimationsgrundlage. Nicht zuletzt verbanden die Physiker_innen, die 1986 den Begriff der Klimakatastrophe stark gemacht hatten, ihre Warnung mit dem konkreten Interesse, die Kernkraft in Deutschland rasant auszubauen (Weingart et al. 2002: 35). Dass die diskursive Verbindung zwischen bevorstehender Klimakatastrophe und dem Ausbau der Atomenergie in Deutschland jedoch nicht besonders wirkmächtig wurde, lässt sich wohl auch auf den im gleichen Jahr erfolgten Reaktorunfall in Tschernobyl zurückführen. Eine kritische Analyse des Katastrophismus als strategisches Instrument negiert weder die bestehenden katastrophalen gesellschaftlichen Naturverhältnisse noch die zu erwartenden negativen Auswirkungen eines veränder-
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ten Klimasystems. Jedoch stellt sich die Frage, welche Mechanismen durch einen alarmistischen Diskurs bedient werden und welche Gefahren damit verbunden sind. Konkret muss gefragt werden, ob durch eine katastrophistische Beschreibung des Klimawandels die Hegemonie der vorherrschenden Produktions- und Lebensweisen aufgebrochen und eine grundlegende sozialökologische Transformation der Nahrungsmittel- und Güterproduktion, der Energiegewinnung, und der Mobilitäts- und Wohnformen als unverzichtbar gestärkt wird. Oder werden dadurch jegliche Ansätze der CO2-Minderung legitimiert und somit die in die Krise geratene kapitalistische Produktionsweise sogar weiter stabilisiert? Werden Ansätze gestärkt, die das Verhältnis und Verständnis von Natur neu konzipieren, oder führt der Alarmismus nicht letztendlich noch zu einer weiteren Ausweitung der Naturbeherrschung? Wird dabei der Einzelne als Subjekt der Veränderung hervorgebracht oder wird der Repräsentationsgedanke forciert, bei dem führende Politiker_innen, Wissenschaftler_innen, Unternehmer_innen und Aktivist_innen stellvertretend den Planeten Erde retten? Werden im Katastrophendiskurs bestehende Diskriminierungs- und Ausbeutungsverhältnisse und ihre klassen- und geschlechtsspezifische Vermittlung als zentraler Bestandteil des Kampfes um veränderte gesellschaftliche Naturverhältnisse gesehen oder werden sie im Kampf zur Rettung der Menschheit zur Nebensache erklärt? Letztendlich geht es in der Klimadebatte insgesamt um die Frage, ob sie als Vehikel für einen radikalen Umbau der gesellschaftlichen Verhältnisse genutzt werden kann, oder ob sie zu einer herrschaftsförmigen Stabilisierung der Verhältnisse beiträgt.
Literatur BUKO – Bundeskoordination Internationalismus (2009): Vergesst Kopenhagen! Die Katastrophe ist schon da. www.buko.info/fileadmin/user_upload/ doc/projekte/klima_assoe_09.pdf (25.06.2015). Flemming, Jana/Friedrich, Beate/Schmitt, Tobias (2012): Immer wieder fünf vor zwölf. Die Fixierung auf Katastrophenszenarien verfestigt den Status Quo kapitalistischer Naturaneignung anstatt ihn aufzubrechen. In: analyse & kritik 572 vom 18.05.2012. www.akweb.de/ak_s/ak572/17.htm (25.06.2015). Gramelsberger, Gabriele (2007): Berechenbare Zukünfte – Computer, Katastrophen und Öffentlichkeit. Eine Inhaltsanalyse futurologischer und klimatologischer Artikel der Wochenzeitschrift ›Der Spiegel‹. In: Communication Cooperation Participation 1: 28-51. Hulme, Mike (2008): The conquering of climate: discourses of fear and their dissolution. In: The Geographical Journal 74 (1): 5-16. Klein, Naomi (2015): Die Entscheidung. Kapitalismus vs. Klima. Frankfurt a. M.: Fischer.
Klimakatastrophe
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Klimakompatible Entwicklung Detlef Müller-Mahn Unter dem Begriff »klimakompatible Entwicklung« (climate compatible development) werden Entwicklungsansätze zusammengefasst, die darauf abzielen, das Ausmaß der vom Klimawandel angerichteten Schäden zu minimieren und zugleich die Möglichkeiten einer emissionsarmen, resilienteren Zukunft zu maximieren (Mitchell/Maxwell 2010). Entwicklung, Anpassung und Klimaschutz unter einen Hut zu bringen ist ein äußerst anspruchsvolles Unterfangen. Angestrebt wird eine »triple-win«-Situation (Tanner et al. 2014: 3) durch die Harmonisierung der drei genannten Politikfelder, auch wenn sich deren Interessen und Zielsetzungen nicht ohne Weiteres in Einklang bringen lassen. Voraussetzung dafür sind internationale finanzielle Unterstützungen, die an die Erfüllung konkreter klimarelevanter Vorgaben geknüpft werden (Kaur/Ayers 2010).
Der Klimawandel als Herausforderung für die internationale Entwicklungspolitik Die Zielsetzung einer klimakompatiblen Entwicklung steht für die Integration von drei unterschiedlichen Antworten auf aktuelle soziale und ökologische Krisen. In welchem Maße diese Antworten wiederum soziale Ungleichheiten verstärken können, ist in der Klimapolitik wie der Entwicklungsforschung umstritten. (1) Klimaschutz und Minderung klimaschädlicher Emissionen (mitigation): An der Notwendigkeit dieser Maßnahmen besteht kein Zweifel, aber umstritten ist bis heute, in welchem Umfang sich auch die Entwicklungs- und Schwellenländer daran beteiligen sollen. Die Umsetzung dieses Ziels stößt vor allem bei den Schwellenländern auf Widerstände. (2) Anpassung (adaptation) an die zu erwartenden Auswirkungen des Klimawandels: Aktivitäten in dieser Richtung sind mit erheblichen Kosten verbunden. Wer soll sie tragen? Die Entwicklungsländer argumentieren, dass hier die Verursacher des Klimawandels in der Pflicht stehen. Über eine
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Kostenverteilung wird derzeit im Rahmen der internationalen Klimaverhandlungen diskutiert. (3) Neuorientierung von Entwicklungsstrategien im Kontext des Klimawandels: In der Entwicklungspolitik erzwingt die Auseinandersetzung mit dem Klimawandel einen Paradigmenwechsel, der mit einer Neubewertung bisheriger Erfahrungen und einer durchaus umstrittenen Verschiebung von Prioritäten einhergeht. Die Erkenntnis, dass Entwicklungs- und Klimapolitik im Zusammenhang zu betrachten sind, ist nicht neu. Erstmals in die Debatte eingeführt wurde das Konzept der klimakompatiblen Entwicklung durch eine Forschergruppe am Institute for Development Studies (IDS) der University of Sussex, die im Auftrag des Department for International Development (DFID) in London anwendungsorientierte Studien zur Beratung der britischen Entwicklungspolitik durchführt (Mitchell/Maxwell 2010). Dieses Climate & Development Knowledge Network (CDKN) hat in den letzten Jahren zahlreiche Studien vorgelegt, die konkrete Vorschläge für die Implementierung von Maßnahmen einer klimakompatiblen Entwicklung in konkreten Projektkontexten unterbreiten (vgl. Kaur/Ayers 2010; Tanner et al. 2014). In der Wissenschaft besteht weitgehend Konsens darüber, dass die anthropogene Verursachung des Klimawandels primär auf industrielle Entwicklung und Wohlstandssteigerung in den Ländern des Globalen Nordens zurückzuführen ist, während die damit einhergehenden negativen Folgen primär die Menschen im Globalen Süden treffen. Nutzen und Kosten des industriell-technologischen Fortschritts sind weltweit höchst ungleich verteilt. Der Norden hat von einem wirtschaftlichen Wachstum profitiert, das wesentlich auf der Nutzung fossiler Energieträger beruhte. Die Menschen in den armen Ländern des Südens dagegen zahlen heute den Preis dafür. Der Klimawandel trägt insofern zur Verschärfung globaler Ungleichgewichte bei und verstärkt die Disparitäten zwischen Reich und Arm. Damit wird deutlich, dass der Klimawandel eine komplexe geopolitische Problematik im Verhältnis zwischen Norden und Süden darstellt. Schon jetzt haben die unmittelbar fühlbaren Auswirkungen für viele Menschen in den Entwicklungsländern ein existenzgefährdendes Niveau erreicht. Dabei sind die regionalen und sozialen Unterschiede bemerkenswert, die der letzte Sachstandsbericht des IPCC hervorhebt (Denton et al. 2014). Die folgenden Beispiele illustrieren die unmittelbaren Auswirkungen des Klimawandels in ihrer räumlichen Differenziertheit: • Der prognostizierte Meeresspiegelanstieg gefährdet die dicht besiedelten Küstenzonen und dort liegende Großstädte wie Dakar, Lagos oder Dhaka, lässt Überschwemmungen in Deltagebieten wie z.B. in Bangladesch im-
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mer häufiger und verheerender auftreten, und droht die kleinen Inselstaaten wie Tuvalu oder Niue völlig auszulöschen. • Veränderte Niederschlagsregime führen vermehrt zu Extremereignissen und beeinträchtigen die Nahrungsmittelproduktion in vielen armen Entwicklungsländern. Die IPCC-Prognosen rechnen mit Engpässen bei der Ernährungssicherung und dadurch ausgelöste Hungerkatastrophen. • Steigende Temperaturen und abnehmende bzw. unregelmäßigere Niederschläge in den Gebieten, die schon heute unter Trockenheit leiden, werden laut Einschätzung des IPCC-Berichtes zu immer häufigeren und länger anhaltenden Dürren führen. • Außerdem ist mit einer massiven Verschärfung der schon jetzt vielfach bestehenden Wasserknappheit zu rechnen, was sowohl die Bewässerungswirtschaft in Trockenregionen als auch die Wasserversorgung menschlicher Siedlungen beeinträchtigen wird. Neben den genannten direkten Auswirkungen hat der Klimawandel auch indirekte wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgen, die die Entwicklungsmöglichkeiten der armen Länder und von Armutsgruppen weltweit weiter einschränken. • Armut und Verwundbarkeit verstärken sich oftmals gegenseitig und bilden somit in ihrer Wechselwirkung eine Art Teufelskreis, der durch den Klimawandel verschärft wird. • Die Auswirken des Klimawandels treffen die Ärmsten der Armen besonders hart und machen viele Ergebnisse bisheriger Entwicklungsbemühungen zunichte. • Armut geht vielfach einher mit eingeschränkten Kapazitäten zur Bewältigung von Krisen und Katastrophen. Arme Menschen sind deshalb besonders verwundbar gegenüber den Folgen des Klimawandels. Sie sind einem besonders hohen Katastrophenrisiko ausgesetzt. Ein Beispiel: Städtische Armensiedlungen liegen häufig in Gebieten, die von Naturgefahren wie Überschwemmungen oder Bergrutschen bedroht werden. • Armutsgruppen sind häufiger Extremereignissen ausgesetzt, was wiederum deren Vulnerabilität erhöht und Kapazitäten zur Bewältigung solcher Risiken erodiert. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie die Anforderungen einer armutsorientierten Entwicklungsarbeit mit den Anforderungen von Klimaschutz und Anpassung in Einklang gebracht werden können. Die Problematik enthält eine besondere Dringlichkeit. Der Klimawandel gefährdet schon jetzt die Lebensgrundlagen vieler Menschen weltweit. Eine weitere Verzögerung bei der Umsetzung von Schutzmaßnahmen würde den zu erwartenden Schaden
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weiter vergrößern. Deshalb plädieren Wissenschaft, soziale Bewegungen und Politik für eine rasche Umsetzung einer klimakompatiblen Entwicklung. Die Vorstellungen, wie deren konkrete Ausgestaltung und die Einbindung betroffener Akteure aussehen sollte, weisen eine große Bandbreite auf und sind immer wieder Gegenstand politischer Auseinandersetzungen.
Zur Umsetzung klimakompatibler Entwicklung Auf internationaler Ebene hat die Klimawandel-Debatte in den vergangenen drei Jahrzehnten zu einer Neubewertung entwicklungspolitischer Ziele und Maßnahmen geführt. Ein erster wichtiger Meilenstein auf diesem Weg war die Rio-Konferenz 1992 (United Nations Conference on Environment and Development, UNCED), auf der die Zusammenhänge von globalen Umwelt- und Entwicklungsproblemen im Mittelpunkt standen und Ansätze für eine nachhaltige Entwicklung erarbeitet wurden. Mit der Klimarahmenkonvention (United Nations Framework Convention on Climate Change, UNFCCC), die zwei Jahre später in Kraft trat, und der Gründung des gleichnamigen UN-Sekretariates mit Sitz in Bonn wurde die institutionelle Grundlage für die Aushandlung eines weltweit verbindlichen Abkommens geschaffen. Das Kyoto-Protokoll aus dem Jahre 1997 und das darauf beruhende, im Jahre 2005 verabschiedete Abkommen legten erstmals Grenzwerte zur Kontrolle von Treibhausgasemissionen fest. Die Tatsache jedoch, dass es bis zum regulären Auslaufen des Kyoto-Protokolls im Jahre 2012 nicht gelang, ein Nachfolgeprotokoll zu verabschieden, und dass seitdem in einer Kette von Klimaverhandlungen zäh um eine Suche nach Lösungen gerungen wird, zeigt die tiefen Zerwürfnisse zwischen den beteiligten Staatengruppen. Dabei spielen die Interessengegensätze zwischen Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländern eine entscheidende Rolle. Im Kern geht es bei den Klimaverhandlungen im Kontext der Nord-Süd-Beziehungen um umfassende Transferzahlungen, die ein Vielfaches der bisher zum Zweck der Entwicklungszusammenarbeit bereitgestellten Mittel ausmachen. Im Vorfeld der COP21 in Paris im Dezember 2015 gibt es bereits deutliche Signale, in welchen Größenordnungen hier gedacht wird. Bereits auf dem G7-Gipfel in Brüssel im Juni 2014 kündigten die sieben führenden Industrieländer an, ab 2020 jährlich 100 Milliarden Dollar aus öffentlichen und privaten Mitteln für die internationale Klimafinanzierung zu mobilisieren. Beim G7-Gipfel in Schloss Elmau in Bayern im Juni 2015 wurde diese Zusage noch einmal bekräftigt. Zwei konkrete Vorschläge richten sich auf die Einführung einer Klimarisikoversicherung für bis zu 400 Millionen Menschen mit geringem Einkommen und den umfassenden Ausbau von Anlagen zur Erzeugung erneuerbarer Energie in Afrika bis zum Jahre 2020.
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Eine wichtige Rolle in der Aushandlung neuer Strategien und internationaler Abkommen als Reaktion auf den Klimawandel spielen große internationale Nichtregierungsorganisationen wie Oxfam, Greenpeace u.a., die sich massiv für die Verknüpfung von Klimazielen und Entwicklungspolitik einsetzen und dazu eine stärkere Konzentration von Fördergeldern in diesem Bereich fordern. Das Konzept der klimakompatiblen Entwicklung bietet dafür eine passende Grundlage. Symptomatisch ist es deshalb auch, dass im Kontext der Klimaverhandlungen eine zunehmend engere Zusammenarbeit zwischen Nichtregierungsorganisationen aus den bisher eher getrennt agierenden Gruppierungen in der Umwelt- und der Entwicklungspolitik zu beobachten ist. Ein zentraler Gedanke der auf internationaler Ebene seit einigen Jahren vorherrschenden Auffassungen zur Reaktion auf globale Herausforderungen im Rahmen der Entwicklungspolitik wird im Titel des Weltentwicklungsberichts der Weltbank für das Jahr 2014 ausgedrückt: »Risk and Opportunity: Managing Risk for Development« (World Bank 2013). Hier wird ein ganzheitlicher Entwicklungsansatz gefordert, der Risiken als positive Herausforderungen zur Umsetzung von zukunftsorientierten Veränderungen und zur Stärkung von Resilienz begreift. Zugespitzt wird dieser Ansatz in der Formel, dass Risikomanagement als ein wirkmächtiges Instrument zur Entwicklung genutzt werden sollte (World Bank 2013: 5). Ein ähnliches Konzept steckt übrigens auch hinter den im IPCC-Bericht 2014 propagierten »klima-resilienten Entwicklungspfaden«, die als Verknüpfungen von Anpassung und Minderung mit dem Ziel einer nachhaltigen Entwicklung verstanden werden (Denton et al. 2014). Auch im Rahmen der deutschen Entwicklungspolitik hat die Problematik des Klimawandels in den vergangenen Jahren einen zunehmend höheren Stellenwert eingenommen. Abzulesen ist dies beispielsweise daran, dass das zuständige Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) seine Leistungen im Bereich Klimaschutz und Anpassung im vergangenen Jahrzehnt (2003-2013) vervierfacht hat, auf einen Betrag von 1,75 Milliarden Euro im Jahre 2013 (BMZ 2014). Der Haushalt des BMZ stellt den Löwenanteil (90 %) der insgesamt von der Bundesregierung im Jahre 2013 zugesagten Mittel von fast zwei Milliarden Euro für Internationale Klimafinanzierung. Die Mittelzusagen der deutschen bilateralen Klimafinanzierung verteilen sich fast gleichwertig auf Anpassung (38,3 %) und Minderung (38,9 %), während der Rest (22,8 %) für Maßnahmen im Bereich Waldschutz und Aufforstung (REDD+) und Biodiversitätsschutz vorgesehen ist (BMZ 2014). Im Mittelpunkt der Aktivitäten stehen die besonders verwundbaren Regionen und Bevölkerungsgruppen in den ärmsten Ländern der Welt. Das zeigt sich auch bei der regionalen Verteilung der deutschen Mittelzusagen für die internationale Klimafinanzierung, bei der das subsaharische Afrika 2013 mit einem Anteil von 31 % an erster Stelle steht. Diese regionale Fokussierung kann durchaus auch so verstanden werden, dass hier Zielsetzungen im Bereich der
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Armuts- und Vulnerabilitätsreduktion aufgegriffen werden, die schon sehr viel länger die deutsche Entwicklungszusammenarbeit prägten (→ Klimavulnerabilität). Auf Ebene der einzelnen Entwicklungsländer bilden zwei Instrumente die wesentlichen Grundlagen für die strategische Planung von klimakompatibler Entwicklung. Während die von der Weltbank propagierten Leitlinien zum Zwecke der Armutsbekämpfung schon seit den 1990er Jahren in sogenannten Poverty Reduction Strategy Papers (PRSPs) auf Länderebene festgelegt wurden (Craig/Porter 2003), dienen analog dazu die sogenannten National Adaptation Programmes of Action (NAPAs) als planerische Grundlagen für nationale Anpassungsstrategien. Die in den NAPAs enthaltenen Programme sollen möglichst genau auf die spezifischen Bedingungen der betreffenden Länder abgestimmt sein. Sie bilden die Voraussetzung dafür, dass die im Rahmen der Klimaverhandlungen bereitgestellten Fördermittel zugeteilt werden können. De facto jedoch wurden diese Länderprogramme in vielen Staaten des Globalen Südens maßgeblich durch internationale Nichtregierungsorganisationen und deren Fachleute beeinflusst oder sogar ausgearbeitet. Dabei blieb es nicht aus, dass bestimmte Kerngedanken und ganze Textblöcke in den NAPAs vieler Länder in ähnlicher Form auftauchen.
Zur Kritik der Klima-Fixiertheit in der Entwicklungspolitik Auch wenn nicht zu bezweifeln ist, dass der Klimawandel eine der zentralen Herausforderungen für die Gestaltung einer gemeinsamen Zukunft des Planeten Erde bildet, sollte doch nicht übersehen werden, dass dies für viele Menschen nicht die einzige und noch nicht einmal die wichtigste Problematik darstellt. In Hinsicht auf die globale Ungleichverteilung von Wohlstand, Macht und Lebenschancen wirkt der Klimawandel vielfach eher als eine Verschärfung von Problemen, aber er ist nicht die eigentliche Ursache. Vor diesem Hintergrund hat die Fokussierung auf Klimafragen gravierende Konsequenzen für unser Verständnis von Entwicklung, die sich in neueren sozialwissenschaftlichen Debatten einer massiven Kritik gegenübersieht. Aus kritisch-sozialwissenschaftlicher Perspektive wird die zunehmende Klima-Fixiertheit als eine Form des Umweltdeterminismus gesehen (Hulme 2008), die mit einer Depolitisierung der Problemanalyse einhergeht (Swyngedouw 2010). Auch in entwicklungspraktischer Hinsicht besteht keineswegs Konsens über die Art und Weise, wie dem Problem Klimawandel zu begegnen ist und wie konkrete Anpassungsprozesse gestaltet werden sollten. Anpassung als Reaktion auf Klimareize zu verstehen ist eine recht naive Vorstellung davon, wie gesellschaftliche Gruppen im globalen Süden mit komplexen Umweltveränderungen umgehen. Vieles von dem, was in Projektkontexten als Anpassung bezeichnet wird, beruht wohl eher auf Übersetzungsprozessen einer »reisen-
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den Idee« oder der Umbenennung (Relabelling) von entwicklungspraktischen Konzepten (Weisser et al. 2014). Vor diesem Hintergrund enthält das vorherrschende »Mainstreaming« von Klimawandel und Anpassung im Rahmen der Entwicklungspolitik die latente Gefahr, dass hier die sozialen Ziele der bisherigen Entwicklungspraxis, beispielsweise in der Armutsbekämpfung oder im Bildungswesen, durch andere Prioritätensetzungen in den Hintergrund gedrängt werden (Cannon/Müller-Mahn 2013).
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Klimakonflikte Jürgen Scheffran Wie Gesellschaften mit den Ursachen und Folgen des Klimawandels umgehen, hängt von ökonomischen, sozialen und politischen Kontexten ab. Reaktive Handlungsmuster stellen die Abwehr von Bedrohungen für die nationale und internationale Sicherheit in den Vordergrund, die ein »Klima der Gewalt« befördern, Konflikte anheizen und die politische Stabilität untergraben. Präventive Konzepte zielen auf die Verringerung der Verwundbarkeit, die Vermeidung von Risiken für menschliche Sicherheit, die Stärkung der Anpassungsfähigkeit und Resilienz von Gemeinschaften, die besonders betroffen sind von Folgen des Klimawandels. Kritische Ansätze hinterfragen die Versicherheitlichung des Klimawandels und die These vom Klimakrieg. Institutionelle Konzepte setzen auf kooperative Lösungen, die Konfliktrisiken des Klimawandels vermeiden lassen.
Der politische Diskurs über Sicherheitsrisiken und Konflikte des Klimawandels Mit dem Ende des Kalten Krieges wurde der Sicherheitsbegriff auf alle erdenklichen Risikofelder ausgeweitet, darunter auch die Umwelt (Floyd/Matthew 2013; Jaeger 2015). Während zunächst die nationale und internationale Sicherheit im Fokus standen, geht es in der Umwelt- und Entwicklungsdebatte vorwiegend um die Auswirkungen auf die menschliche Sicherheit, also den Schutz und die Stärkung menschlicher Lebensbedingungen gegen akute Gefahren. Mit dem Konzept der ökologischen Sicherheit werden neben den ökologischen Auswirkungen von Gewalt und Krieg auch Ressourcen- und Umweltprobleme als Sicherheitsrisiken interpretiert. Hierzu gehört der Klimawandel, der natürliche und soziale Systeme weltweit unter Stress setzt und erhebliche Gefahrenpotenziale in sich birgt. Erschien der Klimawandel in den neunziger Jahren noch als umweltpolitisches Problem, so spielten im vergangenen Jahrzehnt auch sicherheitspolitische Bezüge eine zunehmende Rolle. Im Gefolge des vierten Sachstandsberichts des Weltklimarates (IPCC) von 2007 entwickelte sich eine Debatte über
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Sicherheitsrisiken und Konflikte des Klimawandels (vgl. Beiträge in Scheffran et al. 2012a). Auch wenn dieser Bericht die Thematik selbst nicht behandelte, zeigte sich das friedenspolitische Interesse am Klimawandel in der Verleihung des Friedensnobelpreises im Jahr 2007 an Al Gore und den IPCC. Der fünfte IPCC-Bericht widmete den Auswirkungen des Klimawandels auf die menschliche Sicherheit ein eigenes Kapitel (IPCC 2015: Kapitel 12). Seit dem Jahr 2007 gab es eine wachsende Zahl von Studien über das Risiko- und Bedrohungspotenzial des Klimawandels, das verschiedene Umweltprobleme miteinander verbindet: die Degradation von Wasser, Wäldern, Ackerland und Artenvielfalt, die Gefährdung von Meeren, Küsten und Polregionen. Dies führte zu Befürchtungen, dass aus Wetterextremen und der Gefährdung natürlicher Ressourcen mögliche Sicherheitsrisiken und Ressourcenkonflikte erwachsen könnten. Damit verbunden war eine Darstellung in den Massenmedien, die die Gefahren des Klimawandels mit sicherheitspolitischen Begriffen und Kontexten in Beziehung setzte (Bedrohung, Kampf, Abwehr, Klimakrieg, Klimachaos u.ä.) (→ Klimakatastrophe). Verschiedene Think Tanks haben die Sicherheitsrisiken des Klimawandels in den Blick genommen (vgl. Scheffran/Battaglini 2011). Bereits im Jahr 2003 entwickelten zwei Pentagon-Berater das Szenario eines abrupten Klimawandels, der Chaos, Anarchie und Krieg um Rohstoffe mit sich bringt (Schwartz/ Randall 2003). Im April 2007 bezeichnete eine Studie von ehemaligen Generälen und Admirälen des US-Militärs den Klimawandel als einen »Bedrohungsvervielfacher«, der ohnehin schon bestehende Probleme in instabilen Weltregionen verschärft, bis hin zu Gewalt, Terrorismus, Bürgerkrieg und Massenflucht (CNA 2007). Eine ausführliche Darstellung potenzieller Sicherheitsrisiken des Klimawandels wurde 2007 vom Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) vorgenommen. Demnach könne der ungebremste Klimawandel die Anpassungsfähigkeit vieler Gesellschaften überfordern und Spaltungs- und Konfliktlinien in der Welt verstärken: »Im Fall einer gescheiterten Klimaschutzpolitik wäre […] ab Mitte des Jahrhunderts voraussichtlich mit einer starken Proliferation lokaler und regionaler Konflikte, einer Destabilisierung des internationalen Systems, einer Gefährdung der weltwirtschaftlichen Entwicklung und der völligen Überforderung der Global-Governance-Strukturen zu rechnen.« (WBGU 2007: 14) Um Verteilungskonflikte um Wasser und Land, um Flüchtlingsbewegungen und Naturkatastrophen in regionalen Brennpunkten (hot spots) zu verhindern, müsse die Menschheit stärker zusammenarbeiten (ebd.). Auch hochrangige politische Repräsentanten rekurrierten öffentlich auf den Klimawandel als globales Sicherheitsrisiko, darunter die beiden letzten UNO-Generalsekretäre und US-Präsident Barack Obama. Ban Ki-moon sah 2007 in der vom Menschen mitverursachten Klimaänderung eine dem Krieg
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vergleichbare Bedrohung. Der Kampf um knapper werdendes Wasser, um fruchtbaren Boden und um Rohstoffe als Folge des Klimawandels habe in Darfur ein fürchterliches Ausmaß angenommen und werde zu einer treibenden Kraft für Krieg und Völkermord, die Hunderttausende das Leben koste und Millionen zu Vertriebenen mache. In Reaktion auf eine Resolution der UNOGeneralversammlung legte er am 11. September 2009 einen umfassenden Bericht über die potenziellen Sicherheitsrisiken des Klimawandels vor (UNGA 2009). Im April 2007 diskutierte der UNO-Sicherheitsrat auf Initiative Großbritanniens erstmals die Sicherheitsrisiken des Klimawandels. Während die damalige britische Außenministerin Margaret Beckett den Klimawandel mit dem »heraufziehenden Sturm« vor dem Zweiten Weltkrieg verglich, äußerte der Vertreter Chinas Liu Zhenmin Zweifel, ob der Sicherheitsrat die »professionelle Kompetenz« in der Behandlung der Klimaproblematik habe. Die Differenzen konnten unter der deutschen Präsidentschaft im Juli 2011 nicht beseitigt werden. Zwar äußerte der Sicherheitsrat unter Führung von OECD-Staaten und kleinen Inselstaaten die Besorgnis, dass der Klimawandel eine Bedrohung für Frieden und Sicherheit sei, doch lehnten Russland, China und viele G77Staaten ein Mandat des Sicherheitsrates für den Klimawandel ab. Auch im europäischen Kontext wurden die Sicherheitsrisiken des Klimawandels thematisiert. Ein 2008 verfasstes Positionspapier der Europäischen Kommission und des Hohen Vertreters für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU, Javier Solana, bezeichnete den Klimawandel als »Bedrohungs-Multiplikator«, der »existierende Spannungen in Ländern und Regionen verstärkt, die bereits fragil und konfliktträchtig sind« (EU 2008). Das deutsche Auswärtige Amt führte 2011 eine Dialog-Reihe zur Klimasicherheit in verschiedenen Weltregionen durch. Die NATO unterstützt den transatlantischen Dialog zur Klimasicherheit. Das Dezernat Zukunftsanalyse des Planungsamtes der deutschen Bundeswehr legte mehrere Studien zur Energieversorgung, zum Klimawandel und zu Geoengineering vor. Befürchtet werden Implikationen für Sicherheit und Stabilität im Nahen Osten und Nordafrika: »Der Klimawandel birgt ernstzunehmende Destabilisierungspotenziale für Staaten und Gesellschaften, insbesondere wenn diese über eine geringe Problemlösungskapazität (Resilienz) verfügen.« (BW 2012) Entsprechende Befürchtungen wurden auch vom Bundesnachrichtendienst geäußert. In seiner 2014 vorgelegten Anpassungsstrategie sieht das Pentagon den Klimawandel ebenfalls als Multiplikator verschiedener Bedrohungen. Hierzu gehören »Nahrungs- und Wassermangel, pandemische Erkrankungen, Dispute über Flüchtlinge und Ressourcen, und die Zerstörung durch Naturkatastrophen« (DOD 2014, Übers. JS). Damit verbunden seien direkte Folgen für das Militär, das stärker in humanitäre Operationen, Katastrophen- und Küsten-
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schutz eingebunden werde, und sich auf Grund von Wetterextremen, Dürren und Meeresspiegel-Anstieg auf veränderte Einsatzpraktiken und Nachschubprobleme einstellen müsse. Anlässlich der Veröffentlichung des für die G7 verfassten Gutachtens A New Climate for Peace (Rüttinger et al. 2015) bezeichnete US-Außenminister Kerry am 24. Juni 2015 den Klimawandel als »eine ernste Bedrohung für die globale Sicherheit« und begrüßte die Empfehlungen.
Kontroversen über Klimakonflikte Weitreichende Aussagen über klimabedingte Sicherheitsrisiken und Konflikte sind oft hypothetisch, vom Klimadeterminismus geprägt und empirisch nicht belegt. Viele kausale Zusammenhänge sind noch wenig verstanden und in der Wissenschaft umstritten. Kritische Einwände richten sich daher gegen eine Versicherheitlichung des Klimawandels. Trotz aller Versuche einer ›objektivierbaren‹ Rechtfertigung der Argumente sind sie vielfach durch ›subjektive‹ Wahrnehmungen geprägt. In der Begründung außerordentlicher Maßnahmen offenbaren Sicherheitsexperten ein von Zwangsrationalität geprägtes Denken und eine eurozentristische Wahrnehmung, zum Beispiel durch die formulierte Bedrohung Europas durch »Ströme von Klimaflüchtlingen« aus Afrika. Die Rolle der Massenmedien und der Öffentlichkeit spielten bislang in der Debatte nur eine geringe Rolle. Trotz der Rhetorik von »Klimakriegen« in Medien oder offiziellen Dokumenten hielten sich tatsächliche Maßnahmen zur Bewältigung der Sicherheitsrisiken des Klimawandels in Deutschland und weltweit bislang in Grenzen. Meist beschränkten sie sich auf den Grenzschutz, internationale humanitäre Hilfe und den Einsatz des Militärs im Katastrophenmanagement, wie im November 2013 nach dem Taifun auf den Philippinen. Kritisiert wird häufig auch der erweiterte Sicherheitsbegriff, der viel zu breit sei, um als analytische Kategorie dienen zu können und geodeterministischen Wahrnehmungen Vorschub leistet. Zudem erlaube die damit verbundene Begrifflichkeit, militärische Instrumente in die Umweltpolitik auszudehnen, obwohl diese zur langfristigen und primären Problemlösung ungeeignet sind. Ein weiterer Kritikpunkt sind die empirischen Grundlagen der These vom Klimakrieg. Seit den 1990er Jahren wurden neben Fallstudien, die das Konfliktpotenzial von Ressourcenknappheit und Umweltveränderungen untersuchen, zunehmend quantitative empirische Studien durchgeführt, die das Wechselspiel zwischen klimatischen Bedingungen und Gewaltkonflikten mit statistischen Methoden analysieren. Historische Langzeitstudien konstatieren einen signifikanten Zusammenhang zwischen kühleren klimatischen Perioden, reduzierter Ressourcenverfügbarkeit und dem Auftreten von bewaffneten Konflikten in Europa und in China in der »Kleinen Eiszeit«. Die Ergebnisse für die jüngere Vergangenheit sind widersprüchlich. So hat die Zahl bewaffneter Konflikte weltweit nach einem Maximum in den frühen
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1990er Jahren deutlich abgenommen, obwohl in der gleichen Zeit die globale Durchschnittstemperatur weiter anstieg. Andere Entwicklungen, wie das Ende des Ost-West-Konflikts, spielten für die Konflikthäufigkeit und -dauer eine größere Rolle. Seit einigen Jahren ist die Zahl bewaffneter Konflikte wieder angestiegen. Einige Autoren haben empirisch untersucht, in welchem Maße die weltweite Konfliktlage durch wetter- und klimabedingte Ereignisse beeinflusst wird. Folgt man den statistischen Analysen, gibt es Gewaltkonflikte vornehmlich in Regionen, die eine große Bevölkerungszunahme, einen geringen Entwicklungsstand, ein niedriges Wirtschaftswachstum, kurz zurückliegende politische Instabilität, Gewalt und Kriege in unmittelbarer Nachbarschaft sowie ein mittleres Niveau an Demokratie aufweisen. Eine Studie stellte für den Zeitraum 1981-2002 fest, dass in trockeneren Jahren das Konfliktrisiko für Bürgerkriege in Afrika südlich der Sahara signifikant war, woraus eine Zunahme des Konfliktrisikos um etwa 50 % bis 2030 abgeleitet wurde (Burke et al. 2009). Bei einer Verwendung anderer Daten und Modellspezifikationen erschienen die Ergebnisse jedoch nicht robust. Einflüsse von Temperatur- und Niederschlagsänderungen auf die Konflikthäufigkeit sind oftmals widersprüchlich. Auf globaler Ebene variieren die empirischen Befunde über den Zusammenhang von Klimawandel und Konflikten. Nach einer vergleichenden Analyse in der Fachzeitschrift Science fanden die meisten empirischen Studien zwar einen statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen Klimawandel und Gewaltkonflikten, andere jedoch keinen nachweisbaren oder einen ambivalenten Zusammenhang (Scheffran et al. 2012b). Dagegen konstatierte eine später in Science erschienene Meta-Analyse einen durchweg signifikanten Zusammenhang von Klima- und Konfliktdaten über große historische Zeiträume, geographische Regionen, Gewaltformen und kausale Mechanismen hinweg (Hsiang et al. 2013). Diese Debatte fand ihren Niederschlag auch in den Massenmedien, mit teilweise sensationellen Schlagzeilen. So titelte der Berliner ›Tagesspiegel‹ am 2. August 2013: »Ein Klima der Gewalt: Wenn die Temperaturen um zwei Grad steigen, könnte es in manchen Regionen 50 % mehr blutige Konflikte geben.« Die überregionale Tageszeitung »Süddeutsche Zeitung« mutmaßt über den Zusammenhang von Klima und Gewalt: »Wenn sich die Erde erwärmt und der gewohnte Regen ausbleibt, könnte das Aggression steigern und Konflikte auslösen vermuten Sozialwissenschaftler.« In der Weltpresse (etwa im »Economist« oder in der »New York Times« wurde die Verbindung zwischen Klima und Krieg weitgehend unkritisch aus der Fachliteratur übernommen). Angesichts dieser Kontroverse mokierte sich »Spiegel Online« im August 2013 über den »Forscherkrieg um Klimastudie« (Becker 2013). In der wissenschaftlichen Diskussion wurden die Grenzen der bislang verwendeten Methoden deutlich. Auch wenn klimatische Variablen in der Regel
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gut messbar sind, werden meist eher kurzfristige Wetterphänomene betrachtet als langfristige Klimatrends. Noch schwieriger ist die Datenlage bei Konflikten. Gängige Datenbanken sind auf die sichtbareren bewaffneten Konflikte ausgerichtet, während kleinskaligere Gewaltereignisse meist nicht erfasst werden. Für eine statistische Analyse braucht es außerdem eine große Zahl von vergleichbaren Ereignissen. In komplexen Konfliktlagen ist der Einfluss klimabedingter Faktoren schwer von anderen Konfliktfaktoren wie Bevölkerungswachstum, Einkommens- und Entwicklungsniveau zu trennen. Angesichts langer Kausalketten sind die Wirkungen von Naturprozessen auf Konflikte kaum isolierbar.
Kritik der Prämissen und Implikationen Die Debatte über die Versicherheitlichung des Klimawandels zeigt, dass die zugrunde liegenden Prämissen die Methoden und Ergebnisse beeinflussen können. So wird durch die Auswahl der Selektionskriterien für Daten und Studien eine Ergebnisverstärkung im Sinne der eigenen Hypothesen möglich. Wenn im Zusammenhang mit dem Klimawandel nur der Blick auf Konflikte gerichtet wird, werden kooperative Reaktionen vernachlässigt. Zudem erwecken Thesen vom Klimakrieg mehr Aufmerksamkeit als eine skeptische Haltung gegenüber dieser Kausalität, so dass durch den Einfluss von Medien, politischen Interessen und Förderstrukturen im Wissenschaftssystem eine gewisse Selektion spektakulärer Ergebnisse erfolgt. Dabei sind Klimakonflikte nicht nur Ergebnis medialer und politischer Konstruktion. Der Klimawandel selbst ist real, aber Mensch-gemacht und daher keine unabhängige Variable, wie in statistischen Analysen unterstellt wird. Wenn nun sowohl Klimawandel als auch Gewaltkonflikte eine Folge der gleichen Ursachen wären, etwa der kapitalistischen Globalisierung und der Expansion der industriellen Naturaneignung, dann ergäbe sich dadurch eine enge Korrelation zwischen beiden Phänomenen. Indem Gewalt und andere gesellschaftliche Probleme weltweit auf den Klimawandel zurückgeführt werden, wird es den Eliten möglich, ihre unmittelbare Verantwortung für diese Probleme und ihre Lösung auf ein globales Menschheitsproblem zu schieben, während dessen lokale Ursachen ausgeblendet werden. Dies wurde am Beispiel des Darfurkonflikts deutlich, der als erster Klimakrieg bezeichnet wurde, weil Nomaden- und Bauernvölker durch die Ausweitung von ariden Zonen unter Stress gerieten, obwohl die verfehlte Politik der sudanesischen Regierung und die Ausbeutung von Ölressourcen eine direktere Bedeutung für die Konflikteskalation hatten als der Klimawandel. Ebenso lenkt die Darstellung, der Mangel und die ungerechte Verteilung des Trinkwassers in Nahost sei dem globalen Klimawandel zu schulden, von der verfehlten Wasserpolitik einiger Staaten ab.
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Die These vom Klimakrieg könnte zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden, wenn deren Prämissen das Denken und Handeln von Entscheidungsträgern beherrschen. Die Malthusianische Furcht vor zukünftigen Energie-, Wasser-, Ernährungs- und Flüchtlingskrisen kann den Kollaps befördern, wenn kontraproduktive Handlungen und Instrumente ergriffen werden, die die Problematik nicht vorbeugend lösen, sondern nachträglich verschlimmern. Dies wäre der Fall, wenn militärische Instrumentarien zur Abwehr von Klimarisiken und -konflikten geschaffen werden, die selbst wieder Bedrohungsängste erzeugen, Ressourcen verbrauchen und kooperative Lösungen verhindern. Vielversprechender erscheinen präventive und antizipative Strategien, die auf Kooperation und Konfliktlösung setzen, die Verwundbarkeit gegenüber dem Klimawandel verringern und die Anpassungsfähigkeit und Resilienz stärken. Dazu bedarf es gemeinsamer Mittel und Institutionen zwischen Industrieund sogenannten Entwicklungsländern, um das ökonomische Gefälle und die Verteilungsungerechtigkeit in der Welt abzubauen.
Weblinks Berichte des Programms zu Umweltveränderungen und Sicherheit des USKongresses: www.wilsoncenter.org/program/environmental-change-andsecurity-program Forschergruppe der Universität Hamburg zu Klimawandel und Sicherheit (CLISEC): www.clisec-hamburg.de Forschungszentrum zu Klimawandel und politischer Stabilität in Afrika an der Universität Austin, Texas (CCAPS): www.strausscenter.org/ccaps
Literatur Becker, Markus (2013): Globale Erwärmung – Studie über Klimawandel-Kriege stößt auf heftige Kritik. In: Spiegel Online vom 01.08.2013. www.spiegel. de/wissenschaft/natur/klimawandel-studie-ueber-gewalt-anstieg-stoesstauf-heftige-kritik-a-913966.html. (03.08.2015). Burke, Marshall B./Miguel Edward/Satyanath, Shanker/Dykema, John A./ Lobell, David B. (2009): Warming increases the risk of civil war in Africa. In: Proceedings of the National Academy of Science of the USA 106(49): 20670-20674. BW – Bundeswehr (2012): Klimafolgen im Kontext – Implikationen für Sicherheit und Stabilität im Nahen Osten und Nordafrika. Strausberg: Dezernat Zukunftsanalyse des Planungsamtes der Bundeswehr. CNA (2007): National Security and the Threat of Climate Change. Alexandria: VA: Center for Naval Analysis.
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Klimaneutralität Sybille Bauriedl Das Ziel der ›Klimaneutralität‹ ist in Industrieländern mit der Strategie verbunden, Klimaschutzaktivitäten in den Globalen Süden zu verlagern. Die Möglichkeit zur finanziellen Kompensation von Treibhausgasemissionen durch den Kauf von Emissionszertifikaten manifestiert eine globale Arbeitsteilung der Emissionsreduktion. Emissionsreduktion an dem Ort, an dem sie am günstigsten und effektivsten realisiert werden kann, ist rechnerisch neutral für die globale Gesamtemission, aber nicht sozial neutral. Klimaschutzprojekte in Entwicklungsländern stehen oft in Konkurrenz zu indigenen und kleinbäuerlichen Nutzungen. Außerdem basiert der Emissionszertifikathandel darauf, dass Länder des Globalen Südens auf einem sehr niedrigen Entwicklungs- und Emissionsgrad bleiben. Er transportiert damit globale Ungleichheitsverhältnisse in die Zukunft.
Bereinigte Emissionsbilanzen Die Ausgangsidee von ›Klimaneutralität‹ beruht auf dem physikalischen Gesetz, dass Stoffwechselprozesse ohne einen Netto-Ausstoß von Treibhausgasen stattfinden können, indem diese an anderer Stelle wieder eingespart oder ausgeglichen werden (net zero carbon footprint). Dieses physikalische Labormodell wurde im Rahmen internationaler Klimapolitik auf den planetarischen Maßstab übertragen und mit der Behauptung verbunden, dass das atmosphärische Gleichgewicht unverändert gehalten werden kann, unabhängig davon, wie hoch die Treibhausgasemissionen an einem Ort sind, solange sie an anderer Stelle ausgeglichen werden (carbon offsetting). Die Idee der Klimaneutralität basiert auf Emissionskalkulationen. Das Messen, Addieren und Begrenzen von Treibhausgasemissionen ist der Ausgangspunkt der Klimadebatte. Diese Daten werden niemals exakt sein, da nicht gemessen werden kann, was tatsächlich pro Jahr in der Atmosphäre ankommt. Es werden die Einträge an den Emissionsquellen gemessen. Diese lassen sich national und global summieren und als durchschnittliche Pro-Kopf-Werte umrechnen. Ökologisch relevant ist der absolute Wert der Treibhausgasemissio-
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nen, politisch relevant sind hingegen relative Werte. Diese sind mit zwei Fragen verbunden, die mit Bezug auf den nationalen oder kommunalen Maßstab beantwortet werden: (1) Um wie viel Prozent haben sich die Emissionen im Vergleich zum Vorjahr oder einem anderen Referenzjahr verändert? (2) Zeigt sich ein Reduktionstrend für die Zukunft, der die Klimaschutzziele erreichen lässt? Bei der Beantwortung dieser rein quantitativen Fragen fallen sehr viele Emissionsquellen aus der Messung, die nicht eindeutig zu lokalisieren sind. Eine Stadt wie Frankfurt a.M. will sich zum Beispiel nicht die Emissionen, die durch Starts und Landungen am internationalen Flughafen entstehen, in seine Bilanz schreiben. Das Gleiche gilt für die Emissionen durch Schiffsdiesel im Hamburger Hafen oder Kohlekraftwerke für die überregionale Versorgung. Diese nicht unerheblichen Werte fallen auf diese Weise regelmäßig ganz aus der nationalen wie der globalen Rechnung heraus, wenn lediglich die kommunalen Emissionsdaten addiert werden. Alle Werte, die in einer Emissionsbilanz berechnet werden, stehen zur Disposition für die Verwirklichung der Reduktionsziele. Diese können erreicht werden durch Reduktionsmaßnahmen vor Ort oder die Finanzierung von Maßnahmen außerhalb von Industriestaaten. Die internationale Klimapolitik hat beim UN-Klimagipfel in Kyoto 1997 eine Kompensationspolitik vereinbart, die auf der Idee des globalen Nettoausgleichs von Emissionen beruht. Die zentralen Instrumente des globalen Klimaschutzes (Clean Development Mechanism – CDM und Joint Implementation – JI) basieren auf der Idee des Ausgleichs messbarer Mengen freigesetzten Kohlenstoffs durch das Verhindern potenzieller Kohlenstoffemissionen an anderer Stelle (z.B. durch die Nutzung von nachwachsenden anstatt fossilen Brennstoffen). Es handelt sich also um hypothetische Emissionseinsparungen, nicht um eine Extraktion von Treihausgasen aus der Atmosphäre. Mit den Kyoto-Instrumenten wurde ein institutioneller und rechtlicher Rahmen geschaffen, der die Kohlenstoff kompensation marktwirtschaftlich organisieren lässt und damit ökonomische Rationalitäten anspricht. Global effektiver Klimaschutz bedeutet in diesem Rahmen: Klimaschutz wird dort praktiziert, wo das beste Kosten-Nutzen-Verhältnis unter Einberechnung des aktuellen Börsenkurses von Emissionszertifikaten zu realisieren ist. Ein ähnlicher Kompensationsmarkt wird aktuell auch für den REDDMechanismus diskutiert (→ REDD+). Hier sollen Kohlenstoffemissionen in Industrieländern durch den Waldschutz in Entwicklungsländern finanziell ausgeglichen werden können. Oder umgekehrt aus Sicht der Industriestaaten formuliert: Über den Kauf von Kohlenstoffzertifikaten wird der Schutz des Regenwaldes finanziert, den Entwicklungsländer nicht alleine leisten können. Hier gehen post-koloniale Entwicklungshilfe und das Interesse an einem anhaltend emissionsintensiven Wachstumsmodell in Industrieländern Hand in Hand.
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Kompensation als kostengünstige Alternative zu Reduktion und Substitution In Industrieländern hat die Reduktion von Kohlenstoffemissionen und die Sub stitution von fossilen Energieträgern Priorität, solange diese Klimaschutzstrategien innerhalb eines vertretbaren Kostenrahmens realisierbar sind. In Deutschland wird Reduktion primär über saubere Technologien bei der Verbrennung von Energieträgern in der Industrie erzielt; auf der Konsumebene geht es um effizienten Strom-, Wärme- und Treibstoffverbrauch. Substitution wird durch die Nutzung erneuerbarer Energieträger betrieben. Kohlenstoff kompensation wird als unverzichtbare dritte Strategie verstanden, um Zeit für die Entwicklung von Technologien für noch effektivere Reduktions- und Substitutionsleistungen zu gewinnen. Der ehemalige Direktor des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP), Klaus Töpfer, sieht in Emissionskompensationen auch die Chance, ein weiteres Abwälzen der Kosten des Wohlstands auf die Umwelt zu verhindern sowie den globalen sozialen Zusammenhalt und Zukunftschancen zu sichern (Töpfer 2013: 21). Der Verweis auf Nachhaltigkeitseffekte wird im Sinne internationaler und intergenerationaler Gerechtigkeit von politischen Vertreter_innen des Globalen Nordens stets als positiver Zusatzeffekt von Kompensationsstrategien gewertet. Die Kompensation der Umweltverschmutzung durch Unternehmen oder Konsument_innen in Industriestaaten ist jedoch keine bedingungslose Wiedergutmachung der globalen Umweltbelastung durch die Industriestaaten, die an Entwicklungsländer gezahlt wird. Finanzmittel fließen nur gegen den Nachweis erbrachter Klimaschutzleistungen. Die Kompensation von Emissionen ist ein Geschäft zwischen mehreren Partner_innen und wird über den Verkauf beziehungsweise Kauf von Emissionsreduktionszertifikaten abgewickelt. Beteiligte Akteure sind erstens die Käufer_innen von Emissionsrechten, zweitens Agenturen, die Kompensationsprojekte vermitteln, drittens Zertifizierer von Projekten und viertens Projektentwickler in Entwicklungsländern. Zahlreiche Autor_innen kritisieren, dass der Handel mit Verschmutzungsrechten zu einem Geschäft geworden ist, das den Klimaschutz bisher nicht vorangebracht hat (vgl. Altvater 2008; Gilbertson/Reyes 2010). Der Begriff ›Klimaneutralität‹ kann als green washing der Verantwortung für den globalen Klimawandel verstanden werden. Die Industriestaaten als Hauptverursacher von Treibhausgasen neutralisieren ihren spezifischen Beitrag zum Klimaproblem. Das New Oxford American Dictionary hat ›Klimaneutralität‹ (carbon neutrality) 2006 zum Wort des Jahres gewählt, mit der Begründung: »The increasing use of the word carbon neutral reflects not just the greening of our culture, but the greening of our language. When you see first graders trying to make their classrooms carbon neutral, you know the word has become mainstream.« (OU 2006: o.S.)
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Klimaneutralität als Selbstverpflichtung in Industrieländern Klimaneutralität ist keine verpflichtende Zielsetzung internationaler Klimapolitik, sondern beruht auf dem Engagement von einzelnen Kommunen, Unternehmen und Privatpersonen in Industrieländern mit selbstgesteckter Emissionsbegrenzung und Reduktionsverpflichtung für den globalen Klimaschutz. Die quantifizierten Ziele der Klimaneutralität liegen bei diesen Initiativen immer über den nationalen Zielen zur Emissionsreduktion. Der fundamentale Unterschied zu staatlich verankerten Richtlinien ist jedoch, dass die Umsetzung von Klimaneutralitätsverpflichtungen auf Freiwilligkeit beruht und deren Einhaltung von niemandem eingefordert werden kann. Die finanzielle Kompensation von Emissionen bietet dabei die Möglichkeit, die Verantwortung für den globalen Klimaschutz auf eine monetäre Ebene zu verlagern. Klimaneutralität gewährleistet für finanzstarke Akteure die Möglichkeit, Verantwortung für den globalen Klimawandel zu übernehmen, ohne strukturelle Veränderungen der Ressourcennutzung selbst realisieren zu müssen. Finanzstarke Kommunen, Unternehmen, Privatpersonen müssen ihren emissionsintensiven Konsum nicht verändern, wenn sie bereit sind, für Kompensation zu bezahlen. Die Praxis der Klimaneutralisierung durch den Kauf von Zertifikaten geht bisher vor allem von Mitteleuropa aus und konzentriert sich auf die Kompensation von Emissionen fossiler Energieträger in den Bereichen Mobilität und Transport, Wärme- und Stromproduktion. Die Verschmutzungsrechte der Industrie werden in der EU seit 2005 über den europäischen Emissionshandel reguliert. Daneben gibt es mehrere freiwillige Handelssysteme. Kohlenstoffkompensation über CDM-Projekte wird primär von Großunternehmen nachgefragt. Emissionszertifikatedienstleister wie Atmosfair gGmbH, 3C Group, Transfair, MyClimate und firstclimate haben sich auf kleinere und mittlere Unternehmen und Privatkonsument_innen spezialisiert. Sie bieten an, den Karbonfußabdruck, der beim Konsum von Strom, Wärme und Treibstoff anfällt, durch Emissionsreduktionsprojekte mit Gold Standard Zertifikat1 CO2neutral zu stellen. Internationale Prüf- und Zertifizierungsdienstleister wie der deutsche TÜV garantieren die Einhaltung der Zertifikatkriterien und ermöglichen den Zertifikatkäufer_innen, mit einem Logo für sich als »Klimaneutrales Unternehmen« oder »Klimaneutrales Event« zu werben. Die Angebote zur Klimaneutralisierung wurden zuerst von Unternehmen und Eventveranstaltern mit umweltbewussten Kunden (z.B. Sportartikelhersteller) genutzt, später auch für das Umweltimage anderer Unternehmen im Wettbewerb um Privatkunden (Finanzinstitute und Versicherungen). In jüngster Zeit nutzen insbesondere in Deutschland immer mehr zivilgesellschaftliche Organisationen und 1 | Freiwillige Kompensationsprojekte werden über die so genannten Verified Emission Reductions Zertifikate (VER) in Anlehnung an CDM-Vorschriften abgewickelt.
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Bildungsinstitutionen (Universitäten, Jugendherbergen, Sportverbände, evangelische Kirche u.ä.) die Angebote von Zertifikatverkäufer_innen, um neben dem Imagegewinn auch eine Vorbildfunktion für den globalen Klimaschutz zu übernehmen. Auch die deutsche Bundesregierung hat 2008 beschlossen, alle PKWDienstfahrten der Mitglieder und Beschäftigten der Bundesregierung durch Investitionen in Klimaschutzprojekte (u.a. Solarprojekte in Indien und Wärmedämmmaßnahmen in Südafrika) klimaneutral zu stellen. Die Kompensationskosten von circa 4 Mio. € sollen durch Energieeinsparungen erbracht werden – also kostenneutral für den Bundeshaushalt sein (BMU 2008). Hessen hat als erstes deutsches Bundesland eine Klimaschutzstrategie vorgelegt, die das Ziel der Klimaneutralität über den Kauf von Klimazertifikaten kurzfristig erreichen will. Die Landesregierung hat Klimaneutralität zum Leitbild des eigenen Handelns gemacht und 2009 eine klimaneutrale Bewirtschaftung hessischer Liegenschaften und der Landesverwaltung bis 2030 beschlossen (Hölscher/ Radermacher 2013). Auch viele Kommunen haben Programme für eine klimaneutrale Stadt aufgelegt. Dabei wird allerdings stets Klimaneutralität mit Emissionsreduktion und Energiewende gleichgesetzt, ohne Kompensationen zu benennen – und damit auch nicht deren Kosten (Berghausen 2012). Die Berliner Regierung hat zum Beispiel im Koalitionsvertrag von 2011 beschlossen, die Hauptstadt bis 2050 klimaneutral zu stellen und vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung und dem Institut für ökologische Wirtschaftsforschung eine Machbarkeitsstudie erarbeiten lassen. Darin geht es primär um Emissionseinsparungspotenziale durch »erneuerbare Energieversorgung, smarte Infrastrukturen und eine verantwortungsbewusste Stadtgesellschaft auf [dem Weg] zu einer klimaneutralen Stadt« (SSU 2014: 3). Der Machbarkeitsstudie ist eine spezifische Definition von Klimaneutralität vorangestellt: »›Klimaneutral‹ ist eine Stadt dann, wenn sie einen Ausstoß von Treibhausgasen erzeugt, der das Weltklima unterhalb der gefährlichen Schwelle einer Erwärmung von 2 Grad halten kann.« Aus dieser Definition leiten die Autoren für Berlin Emissionsrechte von 4,4 Mio. Tonnen CO2 für 2050 ab, was einer Reduktion der gesamtstädtischen Emission um 85 % zum Referenzjahr 1990 entspricht (ebd.: 4). ›Klimaneutral‹ bedeutet hier: Jede_r Berliner_in soll – genauso wie jeder Mensch auf der Erde – 2050 so viel Kohlenstoff emittieren dürfen, wie die Atmosphäre maximal verträgt, ohne dass es zu einer unberechenbaren Klimaveränderung kommt (→ Planetarische Grenzen). Das deutsche Umweltbundesamt hat 2014 zwei Publikationen zur Klimaneutralität herausgegeben. Die Broschüre »Klimaneutraler Lebensstil« (UBA 2014a) bietet klimawandelbewussten Bürger_innen Anregungen zur individuellen Emissionsreduktion. Deren Erfolg kann mit dem UBA-CO2-Rechner selbst online kontrolliert werden. Weniger Flugreisen, Nutzung des öffentlichen Verkehrs, geringerer Strom- und Wärmeverbrauch, kein Fleischkonsum
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und Konsum regionaler Lebensmittel halten das individuelle Kohlenstoff konto niedrig. Mit der Studie »Treibhausgasneutrales Deutschland 2050« will das deutsche Umweltbundesamt außerdem »zeigen, dass ein treibhausgasneutrales Deutschland mit vorwiegend technischen Maßnahmen möglich ist« (UBA 2014b: 5). Sie listet die verfügbaren Möglichkeiten für die einzelnen Bereiche Energie, Verkehr, Industrie, Abfall, Abwasser, Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Landnutzung auf. Als Reduktionsziel wird eine Senkung der Treibhausgasemissionen um 95 % für 2050 gegenüber 1990 festgelegt (es verbleiben 60 Mio. Tonnen CO2 pro Jahr) und als prinzipiell technisch umsetzbar erklärt. Unter ›Neutralität‹ wird hier eine rechnerisch hundertprozentige Reduktion verstanden: »Um vollständige Treibhausgasneutralität zu erreichen, könnte die letzte Tonne pro Kopf durch Minderungsmaßnahmen im Ausland kompensiert werden.« (Ebd.: 38) Das Umweltbundesamt als oberste Behörde für Umweltschutz in Deutschland geht offensichtlich davon aus, dass eine absolute Reduktion von Emissionen durch individualisierte Klimaschutzverantwortung, die zu Selbstoptimierung motiviert, und durch technologischen Fortschritt möglich wäre.2
Globale Arbeitsteilung des Klimaschutzes Die Energiewende als zentrale Klimaschutzstrategie in Deutschland ist mit vielfältigen Flächennutzungskonflikten verbunden. Der Anbau von Agrartreibstoffen, Photovoltaik-Freiflächenanlagen und Stauseen als Stromspeicheranlagen konkurriert um Flächen für den Nahrungsmittelanbau oder den Naturschutz. Das Gleiche gilt für die zunehmende internationale Nachfrage nach Kohlenstoff kompensationsprojekten im Globalen Süden. Es werden mit den Kompensationszahlungen nicht nur Klimaschutzprojekte in Entwicklungsländer verlagert, sondern auch deren Umsetzungskonflikte. In der internationalen Klimapolitik wird Kompensation dennoch immer als positiver Deal sowohl für Industrie- wie für Entwicklungsländer beschrieben. Die globale Handelspartnerschaft zielt darauf, dass sowohl der Globale Norden als auch der Globale Süden von den Strategien internationaler Klimapolitik profitieren können. Die Profitoptionen sind jedoch geographisch klar verteilt. Klimaschutz, der sich nicht mit Energieeffizienz, Technologieentwicklung und Grüner Ökonomie verbinden lässt, also keinen direkten Gewinn abwirft, soll sich geographisch auf den Globalen Süden konzentrieren. Die Lasten des Klimaschutzes werden durch die Kompensationsstrategie der Klimaneutralität auf mehreren Ebenen externalisiert: (1) Länder des Globalen Südens reduzieren proportional mehr 2 | Weitere internationale Beispiele für Strategien und deren kritische Diskussion finden sich im Themenheft »Die CO 2-freie Stadt – Wunsch und Wirklichkeit« der Zeitschrift Informationen zur Raumentwicklung, 2012, Heft 5/6.
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Kohlenstoffemissionen als Industrieländer; (2) dadurch kommt es auch zu umfangreicheren Akzeptanz- und Gerechtigkeitsproblemen und (3) müssen Entwicklungsländer für die Zertifizierung von Kompensationsprojekten ein permanentes Monitoring ihrer Emissionsreduktion umsetzen. Der Begriff der Neutralität lässt den Klimaschutz als ein Projekt ohne negative Nebenwirkungen erscheinen. Das trifft jedoch nur für diejenigen zu, die die Bedingungen für die Kompensation der ›Restleistung‹ einer vollständigen Emissionsreduktion oder Dekarbonisierung festlegen. Die Anrechnung von Nettoemissionen versetzt Industrieländer in die Lage, etablierte Wirtschaftsformen und Konsummuster fortzuführen und ökologisch korrekt erscheinen zu lassen, ohne schnelle oder radikale Lösungen für ihre ›Überemission‹ finden zu müssen.
Literatur Altvater, Elmar (2008): Ablasshandel gegen Klimawandel? Marktbasierte Instrumente in der globalen Klimapolitik und ihre Alternative. Hamburg: VSA-Verlag. Berghausen, Maja (2012): Hamburg – Wege zur klimafreundlichen und CO2neutralen Großstadt: Wie kann der Stadtumbau gelingen? In: Informationen zur Raumentwicklung 5/6: 217-234. BMU – Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (2008): Klimaneutrale Dienstreisen der Bundesregierung. www. bmub.bund.de/fileadmin/bmu-import/files/pdfs/allgemein/application/ pdf/hintergrund_dienstreisen.pdf (01.09.2015). Gilbertson, Tamara/Reyes, Oscar (2010): Globaler Emissionshandel: Wie Luftverschmutzer belohnt werden – Analyse, Kritik, Perspektiven. Frankfurt a.M.: Brandes & Apsel. Hölscher, Luise/Radermacher, Franz J. (Hg.) (2013): Klimaneutralität – Hessen geht voran. Wiesbaden: Springer Vieweg Verlag. OU – Oxford University (2006): Carbon Neutral. Oxford Word of the Year. blog. oup.com/2006/11/carbon_neutral (07.08.2015). SSU – Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt (Hg.): Klimaneutrales Berlin 2050. Machbarkeitsstudie: Broschüre. Berlin: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt. Töpfer, Klaus (2013): Klima als globale Herausforderung. In: Hölscher, Luise/ Radermacher, Franz J. (Hg.): Klimaneutralität – Hessen geht voran. Wiesbaden: Springer Vieweg Verlag. S. 21-26. UBA – Umweltbundesamt (2014a): Klimaneutral leben. Berlin: UBA. UBA – Umweltbundesamt (2014b): Treibhausgasneutrales Deutschland 2015. Berlin: UBA.
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Klimavulnerabilität Kristina Dietz Menschen sind gegenüber den Folgen des Klimawandels unterschiedlich verwundbar. Der entscheidende Faktor ist dabei nicht das biophysikalische Ereignis einer Flut oder Dürre als solches, sondern nichtklimatische Prozesse, politische Strukturen und soziale Verhältnisse. Dennoch bestimmt eine klimadeterministische Sichtweise die Vulnerabilitätsdebatte. Diese befördert vor allem technologische Antworten auf den Klimawandel und verfestigt bestehende soziale Ungleichheiten, Abhängigkeiten und Machtasymmetrien.
Klimawandel trifft soziale Ungleichheit In den Worten von Mick Kelly und Neil Adger lässt sich Vulnerabilität (Verwundbarkeit) definieren als »die Fähigkeit […] von Individuen oder sozialen Gruppen auf externe Stressoren, die ihre Lebensgrundlagen und ihr Wohlergehen beeinflussen, im Sinne eines Umgangs mit einer Erholung von oder Anpassung an [diese Stressfaktoren] zu reagieren« (Kelly/Adger 2000: 328; Übers. KD). Zentrale Fragen, die bei dieser Definition zunächst offen bleiben und die die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen seither bestimmen, richten sich auf die Ursachen, die Messung und die Verteilung von Vulnerabilität. Was macht Individuen und soziale Gruppen verwundbar gegenüber erhöhten Temperaturen, Dürre, steigenden Meeresspiegeln oder Extremwetterereignissen? Wie lässt sich Verwundbarkeit messen und wie lässt sich erklären, dass Verwundbarkeit gesellschaftlich ungleich verteilt ist? Die Beschäftigung mit diesen Fragen ist für sozialwissenschaftliche wie politische Auseinandersetzungen mit dem Klimawandel zentral. Sozialwissenschaftlich bietet eine Auseinandersetzung mit der Frage nach den Ursachen von Verwundbarkeit Einsichten über das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Klimawandel. Politisch ist die Erklärung von Vulnerabilität relevant, da die Formulierung von Anpassungspolitiken größtenteils auf Vulnerabilitätsanalysen basiert. Darüber hinaus lassen sich ausgehend von Erkenntnissen über die Entstehung und Verteilung von Vulnerabilität politische Forderungen stellen, die auf Umver-
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teilung, Geschlechtergerechtigkeit, gesellschaftlicher Teilhabe, Ausweitung sozialer Sicherungssysteme oder die demokratische Teilhabe an klimapolitischen Entscheidungen zielen. Entscheidend für diese wissenschaftlichen und politischen Bedeutungen des Konzeptes ist die zu Grunde liegende erkenntnistheoretische Perspektive. Nur wenn Vulnerabilität in einem dialektischen Sinne konzeptualisiert wird als ein Ergebnis der Vermittlung von gesellschaftlichen und natürlichen Prozessen, lässt sich erklären, warum bestimmte gesellschaftliche Gruppen stärker von den Folgen des Klimawandels betroffen sind als andere. Dann wird sichtbar, dass Verwundbarkeit nicht im Sinne einer linearen Ursache-Wirkungskette das Ergebnis der Folgen des Klimawandels ist. Verwundbarkeit ist vielmehr entscheidend geprägt von Geschlechter-, Klassen- und den damit verbundenen Naturverhältnissen, von (kolonial verfassten) Ein- und Ausschlussmechanismen auf der Grundlage von Herkunft, Hautfarbe oder ethnischer Zugehörigkeit sowie konkreten politischen Entscheidungen über die Formen der Naturaneignung und (De-)Investitionen in Infrastrukturen der sozialen Reproduktion. Erst vermittelt über diese gesellschaftlichen und politischen Faktoren und Praktiken treten die Folgen des Klimawandels als Verwundbarkeit in Erscheinung. Empirisch eindrücklich ließ sich der Zusammenhang zwischen sozialen Verhältnissen, politischen Entscheidungen und Extremwetterereignissen an den Folgen von Hurrikan Katrina in New Orleans im August 2005 beobachten. Hier waren es insbesondere arme, vor allem schwarze Frauen und Männer, Kinder und Rentner_innen, die sowohl während als auch nach der Katastrophe, besonders verwundbar waren. Als Ursachen dieser Vulnerabilität konnten u.a. eine fehlende öffentliche Evakuierungsstrategie, schlecht ausgestattete und unzureichende Zufluchtsstätten, unzureichende Wiederauf baumaßnahmen der zerstörten Wohnviertel und eine mangelnde Vorsorge auf Seiten der US-Bundesbehörde für Katastrophenschutz, bundesstaatlicher und städtischer Behörden identifiziert werden. Letztere waren über die schlechten Zustände von Schutzdeichen ebenso informiert wie darüber, dass insbesondere die östlichen Bezirke der Stadt sowie einige Vororte von einer Überflutung besonders stark betroffen sein würden. Diese Bezirke waren mehrheitlich von Arbeiter_innen und von diesen wiederum mehrheitlich Schwarzen bewohnt. Die Überlagerung klassen-, geschlechts- und race-spezifischer Ungleichheiten mit einer Stadtplanung, in der die bekannten Risiken bewusst in Kauf genommen wurden, führte zu der extrem ungleichen Verteilung von Vulnerabilität in New Orleans (Davis 2005; Katz 2008).
Gesellschaftliche Machtverhältnisse als Vulnerabilitätsfaktor Das Beispiel des Hurrikans Katrina in New Orleans zeigt, dass die »Natur der Katastrophe«, in dem Fall ein Hurrikan der Stufe fünf, Verwundbarkeit und
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ihre gesellschaftlich ungleiche Verteilung nicht erklären kann. Ebenso wenig liegt es in der »Natur der Sache«, dass die wenig geschützten, infrastrukturell schlecht ausgestatteten Stadtteile New Orleans jene waren, in denen vor allem Schwarze mit niedrigen Einkommen leb(t)en. Verwundbarkeit ist das Ergebnis sozialer Praktiken, gesellschaftlicher (nicht selten rassistischer) Zuschreibung und Verhältnisse. Es sind diese häufig historisch verankerten Praktiken, Zuschreibungen und Verhältnisse, die es auf der Suche nach Erklärungen zu analysieren gilt. Ein solches denaturalisierendes Verständnis von Vulnerabilität findet sich mittlerweile in einer Vielzahl kritischer sozialwissenschaftlicher Arbeiten (Bohle et al. 1994; Adger 2006; Eakin/Luers 2006; Leichenko/O’Brien 2006; O’Brien et al. 2007; Dietz 2011; 2014). Offiziellen klimawissenschaftlichen und -politischen Begriffsverwendungen ist ein solches Verständnis trotz diskursiver Anerkennung sozialer Faktoren nach wie vor weitgehend fremd. Vulnerabilität wird gemäß einer Definition des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) von 2001 als Ergebnis nicht kompensierbarer Folgen des Klimawandels gefasst: »Vulnerability is the degree to which a system is susceptible to, or unable to cope with, adverse effects of climate change, including climate variability and extremes. Vulnerability is a function of the character, magnitude and rate of climate change and variation to which a system is exposed, its sensitivity, and its adaptive capacity.« (IPCC 2001: 6) In der wissenschaftlichen Literatur wird diese Konzeption von Vulnerabilität als »biophysikalische Vulnerabilität« (Brooks 2003) sowie in kritischer Absicht als »outcome vulnerability« (O’Brien et al. 2007) oder »physikalistische Perspektive« (Lampis 2012) bezeichnet. Die Kritik richtet sich hier explizit auf die mangelnde Berücksichtigung des sozialen und politischen Gehaltes von Vulnerabilität und die eindimensionale Fokussierung auf die »Natur« der Klimakatastrophe: »A view of risk as controlled by, or following from, the nature of geophysical agents.« (Hewitt 1997: 58) Der Klimawandel und seine Erscheinungsformen werden als dem Menschen äußerlich und vermeintlich bedrohlich konzipiert. Aus einer funktionalistischen Sichtweise bestimmt das externe Klimaereignis – dessen Intensität, Häufigkeit und Charakter – den Grad der Vulnerabilität eines bestimmten Bezugssystems. Gesellschaftliche und politisch-institutionelle Faktoren werden als gegeben angenommen und nachgeordnet über die der Ökologie entlehnten Begriffe exposure, sensitivity und adaptive capacity integriert. Unter Verweis auf die »objektiven« biophysikalischen Folgen des Klimawandels werden soziale Machtverhältnisse als grundlegende Bestimmungsfaktoren von Vulnerabilität zum Verschwinden gebracht. Nicht soziale Akteure und deren soziales und politisches Handeln oder soziale Verhältnisse stehen mithin im Mittelpunkt der Betrachtung, sondern homogenisierte, sozial entleerte geographische »Einheiten« (semi-aride Gebiete, niedrig liegende Küs-
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tenregionen oder Stadtteile, prekäre Siedlungsstandorte, der »Norden«, der »Süden«, »Industrie- vs. Entwicklungsländer« etc.), die sich in einer linearen Abhängigkeit zu dem äußeren Ereignis verhalten, darauf reagieren oder sich in Abhängigkeit davon verändern. Ausgehend von dieser Sichtweise werden weltweit die hot spots des Klimawandels identifiziert. Hierzu zählen etwa die Amazonas- und Andenregion in Lateinamerika oder die Küstenregionen Subsahara-Afrikas und Südost-Asiens. Wenn Klimadeterminismus als Paradigma beschrieben werden kann, in dem die Vorstellung vorherrscht, der Klimawandel gäbe die Richtung menschlichen Handelns vor, dann werden in der klimapolitisch relevanten Definition von Verwundbarkeit Ansätze klimadeterministischer und naturalistischer Denkweisen integriert. Basierend auf einer solchen Essentialisierung leiten sich Forderungen nach einer Anpassung der Gesellschaft an ökologische Kreisläufe bzw. Zwänge ab, wie sie in den Debatten um Anpassung an Klimawandel nachvollzogen werden können (→ Klimaanpassung). Die Bedeutung nichtklimatischer Wandelprozesse, politischer Strukturen und sozialer Verhältnisse bei der Bestimmung von Vulnerabilität zu vernachlässigen heißt, einen engen Pfad politischen Handelns zu definieren und bestehende Ungleichheiten, Abhängigkeiten und Machtasymmetrien festzuschreiben. Dieser Pfad basiert auf Technikoptimismus, das heißt dem Glauben, über technologischen Fortschritt die Folgen des Klimawandels beherrschen und abmildern zu können. Mit nachgeschalteten technologischen Maßnahmen Verwundbarkeit reduzieren zu wollen, liegt dann auf der Hand, wenn die Ursachen für Vulnerabilität in erhöhten Temperaturen oder veränderten Niederschlägen vermutet werden, an den bestehenden Verhältnissen nicht gerüttelt werden soll und politisches Handeln auch an wirtschaftlicher Rentabilität gemessen wird. Maßnahmen zur Anpassung, die sich hieraus ableiten und finanzielle Förderung erlangen, sind jene soziotechnokratischen Strategien (Infrastrukturmaßnahmen wie Staudämme und Bewässerungssysteme, technologische Innovationen wie dürreresistentes Saatgut oder an Extrembedingungen angepasste Architektur), die möglicherweise für manche die negativen Folgen von Überflutungen, Trockenperioden, Hitzewellen oder veränderten Niederschlagsmustern reduzieren. Vulnerabilität reduzieren sie nicht.
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Klimawissenschaften Werner Krauß Die Klimawissenschaften erbrachten nicht nur den Nachweis, dass der Klimawandel von Menschen verursacht ist, sondern sie prägten zugleich auch die Vorstellung von Klima und wie mit dieser Herausforderung umzugehen sei. Ihre zentrale Stellung in der globalen Klimapolitik führte zu einer Politisierung der Klimawissenschaften und setzte einen Reflexionsprozess über ihre Aufgabe und Funktion in der Gesellschaft in Gang. Nach der langen Zeit rein physikalischer Betrachtung wird Klima heute wieder mehr als ortsgebunden und eingebettet in kulturelle Verhaltensweisen verstanden.
Klimawissenschaften im Wandel Die Klimawissenschaften unterliegen genauso wie ihr Gegenstand, das Klima, einem permanenten Wandel. Die Anfänge der heutigen Klimawissenschaften finden sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als das Interesse am Rätsel der Eiszeiten wuchs und die Rolle der Treibhausgase für den Wärmehaushalt der Erdatmosphäre schrittweise erkannt wurde. Im weiteren Verlauf wurde Klima immer mehr zu einer rein quantitativen Größe und zum Gegenstand der Physik. Im Zentrum der heutigen Klimawissenschaften stehen der von Menschen verursachte Klimawandel, die Klimafolgenforschung und die Politikberatung. Der Weltklimarat IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) definiert Klima wie folgt: »Climate in a narrow sense is usually defined as the ›average weather‹, or more rigorously, as the statistical description in terms of the mean and variability of relevant quantities over a period of time ranging from months to thousands or millions of years. The classical period is 30 years, as defined by the World Meteorological Organization (WMO). These quantities are most often surface variables such as temperature, precipitation, and wind. Climate in a wider sense is the state, including a statistical description, of the climate system.« (IPCC 2013, o.S.) Das Klima als System ist global und »a natural object to be understood, investigated, and managed on planetary scales« (Miller/Edwards 2007: 7). Das
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Deutsche Klimakonsortium (DKK 2015a) – ein Zusammenschluss deutscher Klimaforschungseinrichtungen – stellt eine klare Hierarchie der Disziplinen fest, welche heute die Klimawissenschaften als interdisziplinäre Querschnittsdisziplin ausmachen: voran gehen Physik, Meteorologie und Chemie, gefolgt von Disziplinen wie Geophysik, Ozeanographie oder Paläontologie. Der Schwerpunkt auf Klimamodellierung zeigt sich im Bedarf an Mathematik und Informatik. In der Logik eines positivistischen Wissenschaftsverständnisses, demzufolge Wissenschaft zugleich Wissenslücken schließt und Probleme löst, folgen die Ingenieurswissenschaften, die Ökonomie und angewandten Sozialwissenschaften. Die Erforschung des Klimawandels geht nahtlos über in eine Politikstrategie der Reduktion von Treibhausgasen: Um den angestrebten Wandel hin zu einer Energiewende und gesellschaftlichen Transformation zu bewerkstelligen, müssen Gesellschaft und Individuum erforscht und entsprechend geleitet werden. Die Klimawissenschaften sind somit weit mehr als nur mit der Erforschung des Klimawandels beschäftigt. Die vorliegenden Berichte des IPCC fassen nicht nur den Stand des Wissens in der Klimaforschung zusammen, sondern dienen zugleich als Grundlage der globalen Klimaverhandlungen. Das Ziel, die maximale globale Erwärmung unter zwei Grad (seit Beginn der Industrialisierung) zu halten oder die Begrenzung von Treibhausgasemissionen, werden mit Verweis auf die Wissenschaft legitimiert. Diese enge Verzahnung macht die Klimaforschung selbst zu einem politischen Akteur und zu einem Gegenstand der Wissensforschung. In den Science & Technology Studies wird die Tätigkeit der Klimawissenschaften als Ko-Produktion von Wissen und Gesellschaft bezeichnet: »The ways in which we know and represent the world (both nature and society) are inseparable from the ways in which we choose to live in it. […] Scientific knowledge […] both embeds and is embedded in social practices, identities, norms, conventions, discourses, instruments and institutions.« (Jasanoff, 2004: 2f.). Dieser Prozess geht nicht ohne Konflikte vonstatten, wie die jüngere Geschichte der Klimawandelforschung zeigt. Das Selbstverständnis und die Glaubwürdigkeit der Klimawissenschaften werden durch »die gefährliche Nähe von Klimaforschung und Politik« (von Storch/Krauß 2013) auf eine Probe gestellt, die sie nicht immer bestehen. In ihrem neuen Zehn-Jahresplan versucht das Deutsche Klimakonsortium (DKK 2015b), diese Entwicklung mit zu reflektieren, und nennt drei Themenfelder als zukünftige Aufgaben für die Klimawissenschaften: (1) die notwendige Vertiefung des Systemverständnisses zum Klimageschehen; (2) die Bewertung und den Umgang mit Klimarisiken sowie (3) die Rollen der Klimaforschung in der demokratischen Gesellschaft.
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Allerdings ist die Selbstreflexion erst an dritte Stelle gesetzt, und in Praxis und Ausbildung haben die quantitativ forschenden Wissenschaften nach wie vor ein absolutes Primat.
Klimawissenschaften und Klimapolitik Dem Geographen Mike Hulme zufolge entwickeln alle Kulturen spezifische Vorstellungen von Klima, die zwischen ihrer jeweiligen Lebensweise und dem Wetter einen Zusammenhang und damit auch Regelmäßigkeit herstellen (Hulme 2015: 1). Abweichungen wie extreme Wetterereignisse bedürfen der Erklärung, die je nach Weltbild unterschiedlich ausfällt und rituelle Maßnahmen erfordert. Erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts, mit Beginn der modernen Klimaforschung, sind wissenschaftliche Erklärungen für Klimaänderungen möglich. Diese sind allerdings keinesfalls in der Lage, religiöse, magische oder animistische Vorstellungen zu ersetzen. Auch wir haben Angst, so der Wissensforscher Bruno Latour, dass uns der Himmel auf den Kopf fällt (Latour 1998). Auch diejenigen Klimawissenschaftler, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit der Nachricht vom durch Menschen verursachten Klimawandel an die Öffentlichkeit traten, taten dies unter Verwendung religiöser Symbolik: Es war nur ein kurzer Weg »[v]on der Hypothese zur Katastrophe« (Weingart/Engels/Pansegrau 2002). Der Klimawandel kam als drohende Apokalypse daher, von globalem Ausmaß und nur durch eine drastische Änderung des Lebensstils und die Reduktion von Treibhausgasemissionen vermeidbar. Die Verleihung des Friedensnobelpreises 2007 an den Weltklimarat IPCC und an Al Gore als Kommunikator von Klimawandelwissen führte zu einem ungeheuren Bedeutungszuwachs der Klimawissenschaften. Zugleich wurde die Frage des Klimawandels zu einem missionarischen Unternehmen und Wahrheitsspiel, mit dem die letzten Zweifler – die sogenannten Klimaskeptiker – überzeugt werden sollten. Diese hatten allerdings, wie der Politikwissenschaftler Roger Pielke jr. nachweist, gar kein Problem damit, Wissenschaft als Grundlage der Klimapolitik anzuerkennen (Pielke 2010: 2). Naomi Oreskes legte in ihrem Buch »Merchants of doubt« überzeugend dar, dass Klimaskeptiker vielmehr oft von ideologischen, ökonomischen oder politischen Interessen motiviert sind (Oreskes 2010). Der Glaubenskrieg trieb die Klimawissenschaften wiederholt in eine selbstgestellte Falle: sie gaben die Tugenden der Skepsis, der Vorläufigkeit und der Unsicherheit wissenschaftlicher Erkenntnisse preis, um der kaum mehr bezweifelten Tatsache des menschengemachten Klimawandels noch mehr politische Relevanz zu verleihen. Dies hatte eine Reihe von Skandalen und Debatten zur Folge, bei denen es u.a. um methodologische Fragen zum Hockeystick (die Klimaentwicklung der letzten tausend Jahre, deren Verlauf einem Hockeyschläger gleicht), um öffentlich gemachten informellen Austausch unter Wis-
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senschaftlern (Climategate) oder Fehler bei den Datengrundlagen eines IPCCBerichts (Himalayagate) ging, und in deren Verlauf die Glaubwürdigkeit und Autorität der Klimawissenschaften in Frage gestellt wurden (vgl. von Storch/ Krauß 2013: 81ff.). Die Klimawissenschaften liefen Gefahr, zum Opfer ihres eigenen Erfolges zu werden. Ihr Aufstieg fiel zusammen mit dem Endes des Kalten Krieges sie beerbten die Umweltbewegung und verkörperten die Idee des Blauen Planeten, der von einer wissenschaftlich informierten Weltregierung auf Basis von Big Data gemanagt wird. Diese enge Kopplung von Klimaforschung und global gesteuerter Klimapolitik erwies sich bisher als wenig produktiv; der UN-Klimagipfel 2009 in Kopenhagen (COP 15) wurde allgemein als gescheitert angesehen, und auch die folgenden Klimaverhandlungen weckten wenig Hoffnungen für eine rein wissenschaftsbasierte Lösung von Klimawandelproblemen. Dabei waren die Klimawissenschaften mit der Verbreitung ihrer Botschaft vom menschengemachten Klimawandel als einem der zentralen Probleme des 21. Jahrhunderts durchschlagend erfolgreich. Das Problem besteht lediglich darin, dass für die Klimawissenschaften dasselbe gilt wie für manch andere Wissenschaften auch: Die Resultate aus ihren Laboren und Rechenzentren lösen keine Probleme, sondern sie benennen neue Herausforderungen, die dann politisch und gesellschaftlich gelöst werden müssen.
Paradigmenwechsel: Klimawissenschaften als Kultur wissenschaften Auch wenn die Klimawissenschaften bei den UN-Verhandlungen zu globaler Klimapolitik vorerst weiter im Zentrum stehen, so beobachten dennoch Politikberater wie Oliver Geden Anzeichen einer Kehrtwende. Die bisherige wissenschaftsbasierte Klimapolitik, die vor allem durch das Zwei-Grad-Ziel und die Setzung weiterer Grenzwerte gekennzeichnet ist, sieht er als gescheitert und unrealistisch (Geden 2013). Während der symbolische Wert der Klimaverhandlungen nach wie vor groß ist, so verlagert sich die Klimapolitik zunehmend von der globalen Problemperspektive auf eine Fokussierung auf bestimmte Akteure und Orte: Einzelne Länder oder Regionen treffen bi- und multilaterale Abkommen entsprechend ihrer jeweiligen Kapazitäten und klimapolitischen Interessen. Damit einher geht die Forderung, globale top downStrategien durch polyzentrische Maßnahmen zu ersetzen. Klimapolitik und Klimawissenschaften, so Geden, müssen wieder entkoppelt werden (ebd.). Ethnographische Untersuchungen zeigen zudem, dass die Anwendung von Klimamodellen, Klimawissen und Politikstrategien oft an den tatsächlichen Bedingungen vor Ort vorbeigehen und in der Praxis einer Fortsetzung kolonialer Strategien entlang globaler Machtverhältnisse gleichkommen (vgl. Mahony/Hulme 2012).
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Die Klimawissenschaften reagieren vorsichtig auf die sich abzeichnenden Veränderungen in der Klimadebatte, wie das eingangs dargestellte Programm des Deutschen Klimakonsortiums zeigt. Bereits im letzten IPCC Bericht von 2013/2014 nimmt die Benennung von »Unsicherheiten« einen viel breiteren Raum ein. Das Konzept der postnormal science (Funtowicz/Ravetz 1993) markiert eine Situationsbeschreibung, in der Wissen unsicher, Werte im Spiel, die Einsätze hoch und Entscheidungen dennoch dringlich sind. Diese Ausgangslage erfordert eine andere Art der Selbstidentifikation und Positionierung von Klimawissenschaftler_innen neben anderen gesellschaftlichen Akteuren. Als eine solche neue Rollenzuweisung schlägt Roger Pielke jr. den honest broker vor, der oder die an der Seite und gemeinsam mit anderen gesellschaftlichen Akteuren an der Entscheidungsfindung mitwirkt. Eine ähnliche Vorstellung verfolgen regional climate services, die seit einigen Jahren in verschiedenen Ländern eingerichtet wurden. Sie erstellen zum einen regionale Klimaszenarien und sind zum anderen beratend für Unternehmen oder Kommunen tätig. Um diese Aktivitäten ausfüllen zu können, bedarf es der inter- und transdisziplinären Zusammenarbeit vor allem mit Sozial- und Kulturwissenschaften (Krauß/ von Storch 2012). Damit wird jedoch zugleich ein neues Kapitel in den Klimawissenschaften eröffnet, das den Anschluss an die Anfänge der Klimaforschung wieder herstellt und einen Paradigmenwechsel ankündigt, von der physikalischen zur kulturellen Klimaforschung (Hulme 2015). Die Reduzierung auf die physikalischen und quantitativen Elemente des Klimawandels diente dazu, eine historische Mission zu erfüllen: der Welt die Nachricht vom menschengemachten Klimawandel mitzuteilen. Diese Mission ist erfüllt, und um die daraus folgenden Aufgaben zu erledigen ist es wichtig, Klima wieder als eine kulturelle Größe zu definieren, als die sie zum Beispiel Alexander von Humboldt definierte: »Der Ausdruck Klima bezeichnet in seinem allgemeinen Sinne alle Veränderungen in der Atmosphäre, die unsere Organe merklich afficieren: die Temperatur, die Feuchtigkeit, die Veränderungen des barometrischen Druckes, den ruhigen Luftzustand oder die Wirkungen gleichnamiger Winde, die Größe der electrischen Spannung, die Reinheit der Atmosphäre oder die Vermengung mit mehr oder minder schädlichen gasförmigen Exhalationen, endlich den Grad habitueller Durchsichtigkeit und Heiterkeit des Himmels, welcher nicht bloß wichtig ist für die vermehrte Wärmestrahlung des Bodens, die organische Entwicklung der Gewächse und die Reifung der Früchte, sondern auch für die Gefühle und ganze Seelenstimmung des Menschen.« (Humboldt 1845: 345) In den letzten Jahren mehren sich detaillierte Studien über die hot spots der Klimadebatte, über einzelne Regionen und kulturelle Wahrnehmungen von Wetter, Klima und Formen lokaler Resilienz und Adaption (vgl. Hastrup 2013). Damit wird ein Anschluss an eine lange und reiche Tradition von Studien über das Leben von Menschen in Landschaften mit spezifischen Wetter-
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lagen und Klimata wieder hergestellt und eine Möglichkeit geschaffen, mit den Menschen gemeinsam ihre Umwelt so zu gestalten, dass sie dauerhaft mit veränderten Klimabedingungen umgehen können (Hulme 2015). Die naturwissenschaftlichen Klimaforscher_innen können sich wieder den Unsicherheiten und Lücken in der Erforschung des Klimas zuwenden, ohne politischen oder gesellschaftlichen Druck.
Weblinks Blog der amerikanischen Klimaforscherin Judith Curry zu Unsicherheit, Alarmismus und mangelnder Skepsis in der Klimaforschung, Climate etc.: http://judithcurry.com Blog von interdisziplinären Klimawissenschaftler_innen zu Wechselwirkungen von Klimaforschung und Politik, »Die Klimazwiebel«: http://klima zwiebel.blogspot.de Blog von Klimaforscher_innen des Potsdamer Instituts für Klimafolgenforschung wie Stefan Rahmstorf und Anders Levermann zu aktuellen Fragen der Klimaforschung und Klimapolitik, KlimaLounge: www.scilogs.de/ klimalounge Blog zur Geschichte der Klimawandelforschung, explizit Auseinandersetzung mit Klimawandelskeptiker_innen, Skeptical Science: www.skepticalscience. com/translationblog.php?n=1473&l=6
Literatur DKK – Deutsches Klima Konsortium (2015a): Klimawissenschaften studieren. www.deutsches-klima-konsortium.de/de/themen/klima-karriere/klimastudiengaenge.html?expand=1986&cHash=751c5e8df0ef bc1649320e38b8 393f91 (30.07.2015). DKK – Deutsches Klima Konsortium (2015b): Perspektiven für die Klimaforschung 2015 bis 2025. www.deutsches-klima-konsortium.de/fileadmin/ user_upload/2015_Downloads/DKK_Positionspapier_Mai_2015_Web_.pdf (30.07.2015). Funtowicz, Silvio O./Ravetz, Jeremy R. (1993): Science for the Post-Normal Age. In: Futures 25(7): 739-755. Geden, Oliver (2013): Klimapolitik ohne Klimawissenschaft? In: Gesellschaft Wirtschaft Politik 62(4): 487-492. Hastrup, Kirsten (2013): Anthropological Contributions to the Study of Climate: Past, Present, Future. In: Climate Change 4(4): 269-281. Hulme, Mike (2015): Climate and its Changes: A Cultural Appraisal. In: Geo. Geography and Environment. Online-first: http://onlinelibrary.wiley.com/ doi/10.1002/geo2.5/full (05.08.2015).
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Nachhaltigkeit Melanie Pichler Die Umdeutung des Konzepts der Nachhaltigkeit ermöglicht es dem Globalen Norden, die dort verursachte ökologische Krise als Menschheitsproblem umzudeuten und damit eine globale Verantwortlichkeit zu postulieren. Auf diese Weise wird auch der kapitalistische Entwicklungspfad globalisiert und zur universalen Lösung für eine ökologische Nachhaltigkeit erklärt. Gesellschaftlich und global unterschiedliche Verantwortlichkeiten und Betroffenheiten in Bezug auf Ressourcenausbeutung und Klimawandel werden dabei an den Rand der politischen Debatte gedrängt, genauso wie alternative Vorstellungen gesellschaftlicher Naturverhältnisse.
Ursprünge der Nachhaltigkeitsdebatte Der Begriff »Nachhaltigkeit« hat seinen Ursprung in der deutschen Forstwirtschaft. Hans Carl von Carlowitz verwendete ihn erstmals zu Beginn des 18. Jahrhunderts, um auf die exzessive Waldnutzung durch die Bedeutung von Holz als Energielieferant und auf die Konsequenzen für die Forstwirtschaft hinzuweisen: »Wird derhalben die größte Kunst/Wissenschaft/Fleiß und Einrichtung hiesiger Lande darinnen beruhen/wie eine sothane Conservation und Anbau des Holtzes anzustellen/daß es eine continuierliche beständige und nachhaltende Nutzung gebe/weiln es eine unentberliche Sache ist/ohne welche das Land in seinem Esse nicht bleiben mag.« (Carlowitz 1713: 105f.) Auch wenn bei der nachhaltigen Forstwirtschaft die natürliche Regenerationsfähigkeit des Waldes betont wurde und damit die ökologische Dimension im Vordergrund stand, spielten ökonomische Überlegungen für den Nachhaltigkeitsbegriff von Beginn an eine entscheidende Rolle: Nachhaltiger Waldbestand war entscheidend, um die energetische Basis für zukünftiges Wirtschaftswachstum und Industrialisierung zu sichern. Insbesondere für den Erz- und Steinkohlebergbau und den Städtebau wurden seit Anfang des 18. Jahrhunderts enorme Mengen Holz verbraucht. Abseits der Forstwirtschaft gewann der Nachhaltigkeitsbegriff mit der aufkommenden Umweltbewegung und der zunehmenden Anerkennung der öko-
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logischen Krise ab den 1970er Jahren an Bedeutung für die internationale Umwelt – und später für die Klimapolitik. Zwei zentrale Publikationen markieren diesen Aufstieg. 1972 veröffentlichten Wirtschaftswissenschafter_innen unter der Leitung von Dennis Meadows im Auftrag des Club of Rome eine Studie mit dem Titel The Limits to Growth (deutsche Fassung: »Grenzen des Wachstums«, Meadows et al. 1972). Sie entwarfen Szenarien zur Zukunft der Weltwirtschaft und zum Zusammenhang von Industrialisierung, Ressourcenverbrauch, Umweltverschmutzung und globalem Bevölkerungswachstum. Sie schlussfolgerten, dass dieser Zusammenhang die ökologische Regenerationsfähigkeit der Erde gefährdet und dass eine Systemtransformation für ein »aufrechterhaltbares« 1 Weltsystem notwendig ist: »Wir suchen nach einem Modellverhalten, das ein Weltsystem repräsentiert, das 1. aufrechterhaltbar ist ohne Tendenz zu plötzlichem unkontrolliertem Zusammenbruch und 2. die Kapazität besitzt, die materiellen Bedürfnisse der Weltbevölkerung zu befriedigen.« (Meadows et al. 1972:142) Mehr als ein Jahrzehnt später führte die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung der Vereinten Nationen diesen systemischen Ansatz fort und veröffentlichte 1987 unter Leitung der norwegischen Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland einen Bericht mit dem Titel Our Common Future (deutsche Fassung Hauff 1987), der erstmals den Begriff der »nachhaltigen Entwicklung« (damals noch als »dauerhafte Entwicklung« übersetzt) anhand von zwei unterschiedlichen Aspekten der Nachhaltigkeit definiert: Die intergenerationelle Dimension stellt die Verantwortung der Gesellschaft gegenüber künftigen Generationen in den Mittelpunkt, während die intragenerationelle Dimension die gerechtere Verteilung von Ressourcen in der Gegenwart hervorhebt: »Dauerhafte Entwicklung ist Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können. […] [D]iese Dauerhaftigkeit kann nur dann sichergestellt werden, wenn Entwicklungsvereinbarungen einbeziehen, daß sich der Zugang zu Ressourcen und die Verteilung von Kosten und Nutzen verändern. Sogar der enge Begriff Dauerhaftigkeit bedeutet die Verantwortung für soziale Gerechtigkeit zwischen den Generationen, die sich logischerweise auch bezieht auf die Gerechtigkeit innerhalb jeder Generation.« (Hauff 1987: 46) Neben der ökologischen Dimension integriert der Brundtland-Bericht eine soziale Dimension in das Konzept der Nachhaltigkeit. Diese Spannweite zwischen ökologischen Grenzen und Verteilungsgerechtigkeit zeigt sich in kon1 | Der englische Begriff sustainable development bzw. sustainability wird zu dieser Zeit noch nicht einheitlich ins Deutsche übersetzt; erst in den 1990er Jahren setzen sich die einheitlichen Begrifflichkeiten »nachhaltige Entwicklung« und »Nachhaltigkeit« durch.
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kreten Modellen und Beschreibungen von Nachhaltigkeit. Sogenannte Einsäulenmodelle gehen von einem »Primat der ökologischen Dimension« (Littig/ Grießler 2004: 25) aus und versuchen durch die Bestimmung von ökologischen Leitplanken (vgl. Rockström 2009) auf die Grenzen von Wachstumsund Entwicklungspfaden hinzuweisen. Der Fokus liegt dabei in der Reduktion des Ressourcen- und Emissionsverbrauchs, beispielsweise angeleitet durch die Berechnung des ökologischen Fußabdrucks (vgl. Wackernagel/Beyers 2010). Das sogenannte Dreisäulenmodell oder »Dreieck der Nachhaltigkeit« betont hingegen die gleichwertige Verbindung von ökologischer, ökonomischer und sozialer Dimension für ein angemessenes Verständnis von Nachhaltigkeit, wenn auch die konkrete Ausgestaltung und die Suche nach Indikatoren – insbesondere für die soziale Dimension – äußerst umstritten sind (vgl. Littig/ Grießler 2004: 29ff.).
Politische Verankerung in der internationalen Politik Den politischen Siegeszug erlebte das Konzept der nachhaltigen Entwicklung 1992 durch die UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung (UNCED) in Rio de Janeiro, häufig auch »Erdgipfel« oder einfach »Rio-Konferenz« genannt. In der Abschlusserklärung (daneben wurden die Agenda 21, die Klimarahmenkonvention, die Forest Principles und die Biodiversitätskonvention vereinbart) fand die neue Leitidee erstmals Eingang in einen internationalen Vertrag. Mit den Hinweisen auf kommende Generationen und Armut und Ungleichheit als wesentliche Hindernisse für nachhaltige Entwicklung wurden sowohl interals auch intragenerationelle Dimensionen des Konzepts in das Vertragswerk der internationalen Umweltpolitik aufgenommen (vgl. UNCED 1992). Nach der Rio-Konferenz wurde die Kommission für Nachhaltige Entwicklung (Commission on Sustainable Development, CSD) gegründet, die die Umsetzung der Vereinbarungen gewährleisten soll. Die Rio-Deklaration übernahm in wesentlichen Teilen die Definitionen des Brundtland-Berichts von 1987. Gleichzeitig wurde mit der politischen Etablierung der Nachhaltigkeit allerdings auch eine »Versöhnung« zwischen ökologischer Nachhaltigkeit und kapitalistischem Wachstum proklamiert (vgl. UNCED 1992). Diese Fusion wurde auch in der Klimarahmenkonvention verankert, die als Startschuss für die internationale Klimapolitik gilt: »Die Vertragsparteien sollen zusammenarbeiten, um ein tragfähiges und offenes internationales Wirtschaftssystem zu fördern, das zu nachhaltigem Wirtschaftswachstum und nachhaltiger Entwicklung in allen Vertragsparteien, insbesondere denjenigen, die Entwicklungsländer sind, führt und sie damit in die Lage versetzt, die Probleme der Klimaänderungen besser zu bewältigen.« (UNFCCC 1992: Artikel 3) Die Rhetorik der Vereinbarkeit von kapitalistischem Wachstumsimperativ und ökologischer Nachhaltigkeit ist eng mit dem Aufstieg der »ökologischen
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Modernisierung« als theoretischem und politischem Paradigma der Umweltpolitik verbunden. Dieses Paradigma geht davon aus, dass durch technischen Fortschritt und die Internalisierung von Umweltauswirkungen durch Preismechanismen eine Entkopplung von kapitalistischem Wachstum und Ressourcenverbrauch gelingen kann (vgl. Mol/Jänicke 2009). Die Verteilungs- und Gerechtigkeitsdimension nachhaltiger Entwicklung – die im Brundtland-Bericht noch einen zentralen Stellenwert eingenommen hatte – wurde dadurch zunehmend an den Rand gedrängt und internationale Umwelt- und Entwicklungsfragen auf Wettbewerbsfähigkeit und technokratische Lösungen reduziert (vgl. Brand/Görg 2002: 30f.). In diesem Zusammenhang wurden auch die Maßnahmen zur Abschwächung des Klimawandels an die Aufrechterhaltung des Wirtschaftswachstum gekoppelt bzw. mussten mit diesem kompatibel sein; eine Entwicklung, die im Zuge der Einführung marktbasierter Instrumente zur Bekämpfung des Klimawandels im Kyoto-Protokoll und allen Folgemechanismen konsequent weitergeführt wurde.
Von Nachhaltigkeit zu ›grüner Wirtschaft‹ Die internationalen Instrumente des Klimaschutzes stehen in engem Zusammenhang mit einer neo-liberalen Globalisierung, die im Laufe der 1990er Jahre in internationalen Institutionen – beispielweise durch die Gründung der WTO 1995 – vorangetrieben wurde und entscheidende Auswirkungen auf die Zielverschiebung der Nachhaltigkeitsdebatte hatte (vgl. Brand/Görg 2002). Zum einen werden seit der Verabschiedung des Kyoto-Protokolls 1997 und im Zuge nachfolgender Abkommen hauptsächlich (freiwillige) Marktmechanismen – beispielsweise flexible Klimaschutzmechanismen – als Mechanismen der Nachhaltigkeit betont. Diese Perspektivenverschiebung wird im neuen Leitbegriff »grüne Wirtschaft« deutlich, der 2012 bei der UN-Konferenz über nachhaltige Entwicklung in Rio de Janeiro (Rio+20) als zentrale Strategie für eine nachhaltige Entwicklung etabliert wurde: »In dieser Hinsicht betrachten wir das Konzept der grünen Wirtschaft im Kontext der nachhaltigen Entwicklung und der Armutsbeseitigung als eines der wichtigsten Mittel zur Herbeiführung einer nachhaltigen Entwicklung, das der Politik Optionen bieten könnte, aber kein starres Regelwerk darstellen soll. Wir betonen, dass eine grüne Wirtschaft zur Armutsbeseitigung sowie zu einem dauerhaften Wirtschaftswachstum, zu vermehrter sozialer Inklusion, zur Verbesserung des menschlichen Wohlergehens und zur Schaffung von Beschäftigungsmöglichkeiten und menschenwürdiger Arbeit für alle beitragen und dabei gleichzeitig das gesunde Funktionieren der Ökosysteme der Erde auf Dauer gewährleisten soll.« (UN 2012: Artikel 56) Mit »grüner Wirtschaft« werden ökonomische und marktkonforme Elemente gestärkt und das Konzept der nachhaltigen Entwicklung letztendlich
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auf ein Zweisäulenmodell der Integration von Natur in die Kapitalakkumulation verengt. Eine Definition von grüner Wirtschaft des Umweltprogramms der Vereinten Nationen macht dies deutlich: »Eine grüne Ökonomie, die Umweltkapital bewertet, Preispolitiken und regulative Veränderungen anwendet, um diese Werte in Marktanreize zu übersetzen, und die Messung der Ökonomie durch das BIP an Umweltschäden anpasst, ist entscheidend, um das Wohlergehen derzeitiger und zukünftiger Generationen zu sichern.« (UNEP 2011: 17, Übers. MP) Zum anderen geht mit dieser Umdeutung des Nachhaltigkeitsbegriffs ein Fokus auf die Rolle der einzelnen Individuen einher. Die Verantwortung für nachhaltiges Handeln wird zunehmend an Konsument_innen ausgelagert, die durch Zertifizierungssysteme und Marketinginitiativen eine »informierte Wahl« (UNEP 2011: 67) treffen und »Produkte identifizieren, die nachhaltig produziert wurden« (UNEP 2011: 138), das heißt, die es »Konsumenten ermöglichen, sich aus der ökologischen Patsche freizukaufen« (Swyngedouw 2009: 381). Dieser Fokus wird beispielsweise auch in der Klima-Roadmap der Europäischen Union deutlich, die bis 2050 eine Verringerung der CO2-Emissionen um 80 % bezogen auf das Referenzjahr 1990 ermöglichen soll: »Eine wesentliche Herausforderung besteht darin, das Investitionspotenzial des Privatsektors und des einzelnen Verbrauchers zu erschließen. […] Eine Kernfrage lautet daher, wie die Politik, einschließlich durch neue Finanzierungsmodelle, die Rahmenbedingungen schaffen kann, damit solche Investitionen auch wirklich getätigt werden.« (Europäische Kommission 2011:12) In dieser Umdeutung ist Nachhaltigkeit zu einem entleerten Ideal geworden, das auf die Einsparung von Energieverbrauch und CO2-Emissionen reduziert wird, ohne die gesamtgesellschaftlichen Implikationen einer solchen Stoßrichtung in den Blick zu nehmen. Jede Stadt, jedes Sportevent und jedes Unternehmen, das etwas auf sich hält, schreibt sich mittlerweile Nachhaltigkeit auf die Fahnen. Die politische Dimension nachhaltiger Entwicklung, die auf Gleichheits- und Gerechtigkeitsvorstellungen in der Nutzung von natürlichen Ressourcen und Senken fokussiert, wird dadurch an den Rand gedrängt und von einer Deutung ersetzt, »die im Namen der Menschheit, der sozialen Integration, der Erde und aller ihrer menschlichen und nicht-menschlichen Einwohner an allen Orten nach einer technisch-managementmäßigen Antwort auf die Krise ruft. […] Soziale Spannungen oder gesellschaftlich generierte Konflikte kommen im Nachhaltigkeitsdiskurs dagegen nicht vor.« (Swyngedouw 2009: 382f.) Zusammenfassend verweist das Konzept der Nachhaltigkeit mittlerweile auf eine Lösung der ökologischen Krise innerhalb der bestehenden politischen und ökonomischen Ordnung. Es stellt die Prämissen einer kapitalistischen Produktions- und Lebensweise nicht in Frage und hat durch den alleinigen
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Fokus auf technologischen Fortschritt und Marktinstrumente das politische Mobilisierungspotenzial für soziale Bewegungen und zivilgesellschaftliche Gruppen verloren (vgl. Brand/Görg 2002: 39ff.; Sachs 1997: 98f.). Weltweit werden auf Grund dieser Verengung zunehmend Alternativen für nachhaltige Entwicklung gesucht. Beispiele dafür sind Bewegungen für Umweltgerechtigkeit (environmental justice) oder degrowth, das lateinamerikanische Leitbild des buen vivir oder Formen der solidarischen Ökonomie (vgl. Hollender 2015).
Weblinks Lexikon der Nachhaltigkeit: www.nachhaltigkeit.info Webseite des Umweltprogramms der Vereinten Nationen: www.unep.org/
Literatur Brand, Ulrich/Görg, Christoph (2002): »Nachhaltige Globalisierung«? Sustainable Development als Kitt des neoliberalen Scherbenhaufens. In: Dies. (Hg.): Mythen globalen Umweltmanagements. Rio+10 und die Sackgassen »nachhaltiger Entwicklung«. Münster: Westfälisches Dampf boot: 12-47. Carlowitz, Hans Carl von (1713): Sylvicvltvra oeconomica, oder haußwirthliche Nachricht und naturmäßige Anweisung zur Wilden Baum-Zucht. Leipzig: Johann Friedrich Braun. Europäische Kommission (2011): Fahrplan für den Übergang zu einer wettbewerbsfähigen CO2-armen Wirtschaft bis 2050. http://eur-lex.europa.eu/ LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2011:0112:FIN:de:PDF (28.05.2015). Hauff, Volker (Hg.) (1987): Unsere gemeinsame Zukunft. Der Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung. Greven: Eggenkamp-Verlag. Hollender, Rebecca (2015): Post-Growth in the Global South: The Emergence of Alternatives to Development in Latin America. In: Socialism and Democracy 29(1): 73-101. Littig, Beate/Grießler, Erich (2004): Soziale Nachhaltigkeit. Informationen zur Umweltpolitik 160. Wien: Bundeskammer für Arbeiter und Angestellte. Meadows, Dennis/Meadows, Donella H./Randers, Jorgen/Behrens, William W. (1972): Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. Stuttgart: DVA. Mol, Arthur/Jänicke, Martin (2010): The Origins and Theoretical Foundations of Ecological Modernisation Theory. In: Mol, Arthur/Sonnenfeld, David/ Spaargaren, Gert (Hg.): The Ecological Modernisation Reader. Environmental Reform in Theory and Practice. London/New York: Routledge: 17-27. Rockström, Johan et al. (2009): A Safe Operating Space for Humanity. In: Nature 461: 472-475.
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Sachs, Wolfgang (1997): Sustainable Development. Zur politischen Anatomie eines Leitbilds. In: Brand, Karl-Werner (Hg.): Nachhaltige Entwicklung. Eine Herausforderung an die Soziologie. Opladen: Leske und Budrich: 93110. Swyngedouw, Erik (2009): Immer Ärger mit der Natur: »Ökologie als neues Opium für’s Volk«. In: Prokla 39(3): 371-389. UN (2012): Resolution 66/288. Die Zukunft, die wir wollen. www.un.org/ depts/german/gv-66/band3/ar66288.pdf (28.05.2015). UNCED (1992): Rio-Erklärung über Umwelt und Entwicklung. www.un.org/ Depts/german/conf/agenda21/rio.pdf (28.05.2015). UNEP (2011): Towards a green economy. Pathways to sustainable development and poverty eradication. www.unep.org/greeneconomy/Portals/88/documents/ ger/ger_final_dec_2011/Green%20EconomyReport_Final_Dec2011.pdf (28.05.2015). UNFCCC (1992): Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen. http://unfccc.int/resource/docs/convkp/convger.pdf (28.05. 2015). Wackernagel, Mathis/Beyers, Bert (2010): Der Ecological Footprint. Die Welt neu vermessen. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt.
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Nullemission Sybille Bauriedl Nullemission steht für einen maximal denkbaren Klimaschutz und die konsequenteste Weiterentwicklung der Idee einer Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Umweltverbrauch. Die großen Industriestaaten streben bis zum Ende dieses Jahrhunderts eine vollständig dekarbonisierte Weltwirtschaft an. Und dieses Ziel wird überzeugend vorgetragen, obwohl aktuell ungebrochen ansteigende globale Emissionen zu beobachten sind. Das Versprechen der Nullemission basiert auf drei Annahmen: Eine Kreislaufwirtschaft lässt sich auf große Maßstäbe übertragen, die notwendigen Technologien dafür werden entwickelt, und die steigenden Kosten für fossile Energieträger machen deren Substitution durch erneuerbare ökonomisch sinnvoll.
Karriere eines betriebswirtschaftlichen Prinzips Konstituierendes Prinzip für industrielle und gewerbliche Prozesse auf dem Weg zu Nullemissionen ist das Kreislaufprinzip. Mit diesem sollen aus der Produktionsphase resultierende Rückstände so weit wie möglich wieder als Inputs in den weiteren Produktionsprozess eingebracht werden. Kreislaufwirtschaft solI die traditionelle Durchflusswirtschaft ersetzen, bei der – vereinfacht ausgedrückt – Ressourcen und Energie als Input aus der Ökosphäre entnommen und die Rückstände aus der Produktions- und Konsumtionsphase in einem Entsorgungssystem beseitigt werden (in Deponien oder ungeregelt in die Bio- und Atmosphäre) (Sturm et al. 2009: 177). Ursprünglicher Antrieb des Kreislaufprinzips war nicht der Klimawandel, sondern ökonomische Überlegungen. Die Nullemission-Debatte resultiert aus der Suche nach Einsparungspotentialen in ressourcenintensiven Industrien. In den 1980er Jahren wurden die größten Ressourceneffizienz- und damit Kostenminimierungspotentiale bei der Reduktion von Produktionsfehlern (»zero defects«) und der Reduktion der Lagerhaltung (»zero inventory«) gesehen. Seit den 1990er Jahren werden diese Strategien mit der Reduktion von Umweltbelastungen (»zero emission«) ergänzt. In Deutschland wurde dieses Einsparungsziel auch mit den Begriffen »Öko-Effizienz«, »Ressourcenproduktivität«, »Dematerialisierung«, »Stoff-
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strommanagement« und »Faktor 10« diskutiert (→ Effizienzrevolution). Treiber dieser Diskussion waren schon damals steigende Rohstoffpreise und eine zunehmende Abhängigkeit von knappen Ressourcen durch eine steigende Nachfrage der Schwellenländer (Kühr 2000: 120). In einer betriebswirtschaftlichen Logik ist es möglich, auch mit der absoluten Reduktion von Kohlenstoffemissionen Profit zu erwirtschaften. Diese Kosten-Nutzen-Rechnung basiert auf einer Bepreisung aller Ressourcen, auch der Abfallprodukte. Sobald Beschaffungskosten von Rohstoffen die Auf bereitungskosten von Produktionsresten übersteigen, wird eine Kreislaufwirtschaft auch ökonomisch sinnvoll. Durch die Bepreisung von Kohlenstoffemissionen über den Emissionshandel wurde dieses marktorientierte Prinzip auf Kohlenstoffemissionen übertragen. Schon Anfang der 1990er Jahre hat das Forschungsinstitut Zero Emissions Research and Initiatives (ZERI) seine Arbeit aufgenommen, um ein neues Geschäftsmodell zu entwerfen, das ohne Abfall und Emissionen funktioniert. Gegründet wurde das Institut von Gunter Pauli an der UN-Universität in Tokio (UNU) mit der Unterstützung des UN Entwicklungsprogramms (UNDP) und der japanischen Regierung. 2009 stellte Pauli mit seinem Team die Studie »The Blue Economy« vor, die in über hundert Beispielen darstellt, wie Materialien und Energie zu integrieren sind, damit alle Ressourcen im Produktions- und Konsumsystem optimal nutzbar sind. Umweltprobleme werden in dieser betriebswirtschaftlichen Logik als Resultat von Marktfehlern durch eine ineffektive Nutzung von Ressourcen verstanden. Es geht bei der Kreislaufwirtschaft nicht um die absolute Reduktion des Abfallaufkommens, sondern allein um dessen vollständige Rückführung in den Produktionsprozess. Ging es bei den end-of-pipe-Strategien der 1970er Jahre noch um eine Kostenminimierung durch Abfallreduktion, geht es bei zeroemission-Strategien um zusätzliche Wertschöpfung durch Abfallverwertung. Nachvollziehbar wird dies für kleinmaßstäbige einzelne Wirtschaftszweige wie die Lebensmittelproduktion. Offen bleibt, wie weit dies auf eine Kreislaufwirtschaft ganzer Industriezweige, für Städte oder auf die nationale und globale Ebene übertragbar sein kann.
Die »Null« als klimapolitische Zielsetzung Das Ziel der Nullemission ist in der Klimadebatte noch relativ jung, hat sich aber sehr schnell zur tragenden Figur auf der Bühne internationaler Klimaverhandlungen entwickelt. Nullemission drückt das Versprechen aus, sehr konsequent auf die prognostizierten katastrophalen Folgen des Klimawandels zu reagieren und Treibhausgase drastisch zu reduzieren. Das Ziel der Nullemission wird in vielen politischen Dokumenten äquivalent mit den Begriffen »Klimaneutralität«, »vollständige Dekarbonisierung« und »postfossile Gesellschaft«
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verwendet (→ Klimaneutralität). Nullemission ist physikalisch jedoch nicht das Gleiche. Es geht nicht allein um Substitution und gar nicht um Kompensation, sondern um die Reduktion von Emissionen durch Wiederverwertung mit Hilfe technologischer Innovationen (→ Geoengineering, → CO2-Abscheidung und -Speicherung). Die betriebswirtschaftliche Idee der Nullemission ist damit sehr gut anschlussfähig an eine marktorientierte und technologieoptimistische Klimapolitik. Fixe Emissionsgrenzen und die Bepreisung von Kohlenstoffemissionen, wie sie bei den Klimagipfeln vereinbart und in nationalen Gesetzen verbindlich gemacht werden, schaffen den Rahmen für die KostenNutzen-Rechnung einer Nullemission. Die Nullemission-Diskussion ist nicht an Verbots- und Sanktionierungspolitik geknüpft, sondern verfolgt das Argument, Klimaschutz als sehr langfristiges Ziel zu realisieren und bis dahin die Technologieentwicklung zu fördern. Wirtschaftsorganisationen wie die OECD unterstützen daher das Instrument der Kohlenstoff bepreisung, um Investitionen in emissionsreduzierende Technologien ökonomisch profitabel zu machen. Im Oktober 2013 hat der Generalsekretär der OECD, Angel Gurría, in London eine Grundsatzrede zu Nullemissionen gehalten: »Whatever policy mix we cook up, it has to be one that leads to the complete elimination of emissions to the atmosphere from the combustion of fossil fuels in the second half of the century […]. We don’t need to get to zero tomorrow. Not even in 2050, although we should be a long way down the track by then. […] We can energise the world without interfering in the carbon cycle. The solar flux reaching our planet – and the secondary flows it sets up in wind, waves and rain – is stupendously large. And there is potential in biomass and of course nuclear energy, provided safety issues related to nuclear power generation and waste management are properly handled.« (OECD 2013, o.S.). Die Null soll auch bei steigender globaler Bevölkerungszahl und Energienachfrage möglich sein. Bill Gates hat diese Herausforderung in seiner viel beachteten TED-Lecture »Innovating to zero« thematisiert und wirbt offen für eine nachhaltige und sozial verantwortliche Lösung des Klimawandelproblems durch eine Unternehmensförderung im Bereich der sogenannten Grünen Technologien. Mit Hilfe einer subventionierten Privatwirtschaft hält er eine Reduktion von Kohlenstoffemissionen um 80 Prozent schon bis Mitte des 21. Jahrhunderts für realisierbar (Gates 2010). Auch der fünfte Statusbericht des Weltklimarats (IPCC Fifth Assessment Report) schlägt eine technologiebasierte Strategie der sukzessiven Reduktion vor, um eine globale Erwärmung begrenzen zu können: »There are multiple mitigation pathways that are likely to limit warming to below two degrees relative to preindustrial levels. These pathways would require substantial emissions reductions over the next few decades, and near zero emissions of carbon dioxide and other long-lived greenhouse gases by the end of the century.« (IPCC
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2014: 20). Die notwendigen sogenannten negativen Emissionen sollen über Aufforstung oder technologische Lösungen wie Bioenergie und Kohlenstoffextraktion erzielt werden (→ Bioökonomie). Diese Argumentation hat auch der wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) in seinem Sondergutachten »Klimaschutz als Weltbürgerbewegung« übernommen. Die Beiratsmitglieder schlagen eine Nullemission bis 2070 vor. Sie prognostizieren, dass nur mit dieser mittelfristigen Maximalreduktion die globale Erwärmung unter zwei Grad zu halten ist (WBGU 2014: 44f.). Um Aussagen über die soziale Dimension der geplanten Transformation auf dem Weg zur Nullemission machen zu können, ist ein Blick auf die formulierten Zeithorizonte aufschlussreich. Ein kurzfristiges Reduktionsziel von Treibhausgasemissionen auf Null würde einen radikalen Umbau von Produktionsstrukturen und Konsumgewohnheiten notwendig machen. Mittelfristig lässt sich eine hohe Reduktionsquote in Industrieproduktion, Mobilität und Wärme- und Stromversorgung auch über eine konsequente Umstellung auf erneuerbare Energieträger realisieren. Für eine langfristige Strategie ist die Nullemission und das postfossile Zeitalter quasi ein Selbstgänger, da am Ende dieses Jahrhunderts die Kohle- und Erdölreserven ausgeschöpft sein werden. Die im Vorfeld des Pariser Klimagipfels vielfach formulierte Zielsetzung einer vollständigen Dekarbonisierung bis 2100 – unter anderem beim G7-Gipfel im Juni 2015 im bayrischen Elmau – setzt auf die positiven Emissionseffekte der mittel- und langfristigen Variante. Eine Nullemission als Fernziel bei den UN-Klimaverhandlungen festzulegen, scheint auch für Industriestaaten akzeptabel zu sein. Kritik an der Verlagerung der Reduktionsanstrengungen in die ferne Zukunft – die die heutigen Entscheidungsträger_innen nicht mehr verantworten und erleben werden – formulieren allein mehrere Umweltorganisationen. Sie halten den anvisierten Zeitpunkt der Nullemission für nicht ausreichend, um die globale Erwärmung auf einem ökologisch verträglichen und global gerechtem Maß halten zu können, da schon heute viele Regionen unter extremen Folgen des Klimawandels leiden. Auch einigen Wirtschaftsakteuren, die mit grünen Technologien einen neuen Markt erschließen wollen, ist der langfristige Zeithorizont nicht ehrgeizig genug gewählt. Eine Gruppe internationaler Konzerne rund um Virgin-Chef Richard Branson und Unilever fordert bis 2070 eine Netto-Nullemission für alle Treibhausgase.
»Nullemission« bedeutet nicht »ohne Emissionen« Wo die Problemstellen einer Kreislaufwirtschaft liegen, zeigt sich am konkreten Beispiel dekarbonisierter Stadtentwicklung. Mittlerweile gibt es einige Großprojekte, die von den beteiligten Stadtplaner_innen und Investor_innen unter dem Begriff »Nullemissionstadt« beworben und vermarktet werden. Seit einem Jahrzehnt ist für Regionen in Asien, Afrika und Lateinamerika, die
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einem dynamischen Urbanisierungsprozess unterliegen, die kohlenstofffreie Stadt ein zentrales Entwicklungsziel (vgl. Müller et al. 2012: 322). Nullemission ist nicht gleichzusetzen mit Konsum- oder Mobilitätsverzicht (→ Suffizienz). Oberstes Ziel der Nullemissionsstadt bleibt die Versorgungssicherheit, und diese orientiert sich am realen Bedarf. Eine Reduktion und Regulation des Inputs (z.B. des Strom- und Wärmeangebots pro Einwohner_in oder Wohneinheit) gilt als Versorgungsunsicherheit. Das Angebot soll immer die Nachfrage decken. Bisher zählen Städte in Industrieländern auf Grund des hohen Konsums von Gütern und Dienstleistungen zu den Hauptverursachern von Treibhausgasen. Dennoch sollen sich die Konsumstrukturen und urbanen Lebensstile nicht verändern müssen. Es geht in den bisherigen Modellstädten darum, siedlungsstrukturelle und technologische Möglichkeiten zu erproben, die auf digitalisierter Steuerung basieren (→ Smart City). Vielbeachtete Siedlungsentwicklungsvorhaben, die als Modell einer Nullemissions- und Nullabfallstadt gelten, sind das Riverside One-Projekt im englischen Middlesbrough, die chinesischen Siedlungsprojekte Lingang New City und Dongtan sowie Masdar im Emirat Abu Dhabi. Die Planstadt Masdar soll 2016 fertiggestellt sein und ist vorgesehen für 90.000 Einwohner_innen und eine Universität, deren Strombedarf über Solar- und Windkraft erzeugt wird. Die Stadt ist frei von fossil betriebenen Fahrzeugen und der Transport wird über ein führerloses Personentransportsystem organisiert. An der Konzeption und dem Bau sind internationale Firmen und Forschungsinstitute beteiligt wie das Massachusetts Institute of Technology, General Electric, Siemens, BP, Mitsubishi, Rolls Royce, Fiat, BASF, die RWTH Aachen, Bosch und Conergy (Abbasi 2012). Wem werden jedoch die extern generierten Emissionen von importierten Rohstoffen und Produkten angerechnet? Städte sind keine autarken Gebilde, und ihre Bewohner_innen bewegen sich nicht allein innerhalb der Stadtgrenzen. Nullemissionsstädte sind bisher frei von emissionsintensiven Industrien, obwohl deren Produkte konsumiert werden. Außerdem nutzen deren Bewohner_innen außerhalb der Stadt emissionsintensive Mobilität. Masdar ist zum Beispiel in direkter Nachbarschaft der Hauptstadt Abu Dhabi und dessen internationalem Flughafen gelegen. »Das Ziel einer Zero-Emission-City ist dann erreicht, wenn die Emissionen, die eine Stadt an ihre Umgebung abgibt, die Aufnahmekapazität der lokalen, regionalen und globalen Umwelt nicht überschreitet. Diese Bedingung muss auch dann gelten, wenn die Emissionen sämtlicher Städte der Erde – dargestellt als fiktive Zero-Emission-Cities – zusammengenommen werden.« (Sturm et al. 2009: 178). Derzeit gibt es weltweit keine realisierte treibhausgasfreie Modellstadt, an der die internalisierten und externalisierten Emissionen überprüft werden könnten. Eine Nullemission, die auch eine globale Emissionsreduktion zur Folge hat, müsste eine räumliche Verlagerung von Emissionen ins Umland und
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die Externalisierung von Emissionen in globalen Produktionsketten jedoch ausschließen. Die Problematik externer Emissionen ist natürlich auch für bestehende Städte relevant. Für diese kommt hinzu, dass sie auf langfristig angelegten Infrastrukturen aufgebaut sind. Die Versorgungs- und Verkehrsinfrastruktur sowie der Wohnungsbau stammen aus der Ära fossiler Energieträger. Das Straßennetz ist auf motorisierten Individualverkehr ausgerichtet und das Wärmenetz auf zentrale Versorgungssysteme. Emissionsreduktion durch zum Beispiel Passivstandard bei der Strom- und Wärmeversorgung ist nur im relativ geringen und zudem meist kleinteiligen Wohnungsneubau möglich. Die Spielräume technologischer Innovationen sind hier sehr viel begrenzter als beim Neubau (IWU 2002; Müller 2012). Für die automobile Stadt wird auch an emissionsfreien Fahrzeugen geforscht, die schon lange für die Serienproduktion angekündigt sind. Der Begriff Zero Emission Vehicle (ZEV) wurde 1990 durch das kalifornische »Low Emission Program« geprägt, das die Forschung zu Antriebssystemen ohne schädliche Emissionen in Gang gesetzt hat. Problematisch ist auch hier die globale Gesamtbilanz und unberücksichtigte Umweltbelastungen. So umfassen Nullemissionsfahrzeuge nicht die Emissionen durch Abrieb (Feinstaub) und Lärm. Kritik richtet sich außerdem gegen die Nutzung von Landwirtschaftsflächen für den Anbau von Agrartreibstoffen, der in Konkurrenz zur Lebensmittelproduktion steht (→ Agrartreibstoffe).
Weblinks Projektbeispiele der Zero Emissions Research and Initiatives: www.zeri.org/ ZERI/Home.html
Literatur Abbasi, Tasneem (2012): Masdar City: A zero carbon, zero waste myth. In: Current Science 102(1): 12. Gates, Bill (2010): TED talk »Innovating to zero«. www.ted.com/talks/bill_ gates (01.10.2015). IPCC (2014): Climate Change 2014. Synthesis Report. Summary for Policymakers. www.ipcc.ch/pdf/assessment-report/ar5/syr/AR5_SYR_FINAL_SPM. pdf (01.10.2015). IWU – Institut Wohnen und Umwelt GmbH (2002): Zero Emission City. Sondierungsstudie im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. www.iwu.de/fileadmin/user_upload/dateien/wohnen/zec/zec_ endfassung.pdf (01.10.2015).
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Kühr, Rüdiger (2000): Das Zero-Emissions-Konzept. Zum Stand der Dinge. In: Simonis, Udo (Hg.): Jahrbuch Ökologie. München: Beck. 119-128. Müller, André/Porsche, Lars/Schön, Karl Peter (2012): Auf dem Weg zur CO2freien Stadt – was wir von der Welt lernen können und was die Welt von uns wissen mag. In: Informationen zur Raumentwicklung 5/6: 321-337. OECD (2013): The climate challenge: Achieving zero emissions. www.oecd.org/ about/secretary-general/the-climate-challenge-achieving-zero-emissions. htm (07.08.2015). Sturm, Peter/Diefenbach, Nikolaus/Enseling, Andreas/Werner, Peter (2009): Vision Zero Emission Cities. In: Raumforschung und Raumordnung 2: 170-181. WBGU – Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (2014): Sondergutachten. Klimaschutz als Weltbürgerbewegung. Berlin: WBGU.
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Ökologische Modernisierung Timmo Krüger Das wissenschaftliche und politische Konzept der ökologischen Modernisierung dominiert die internationale Klimapolitik und verengt die möglichen Reaktionen auf die globale ökologische Krise. Innerhalb des ökomodernen Paradigmas gelten nur solche Vorschläge als realistisch, die sich im Rahmen der bestehenden sozialen und ökonomischen Strukturen implementieren lassen. Alternative Vorschläge, die auf eine umfassendere Transformation sozial-ökologischer Verhältnisse zielen, werden marginalisiert.
Die Formierung des Projekts der ökologischen Modernisierung Mit der Diagnose einer ökologischen Krise war in den 1970er Jahren zunächst die Überzeugung verbunden, dass sich Umweltschutz und Wirtschaftswachstum grundlegend widersprechen. Die Umweltbewegungen interpretierten die lokalen und globalen ökologischen Probleme als Symptom einer generellen gesellschaftlichen Krise und kritisierten das Entwicklungsmodell der Moderne, das auf dauerhaftes Wachstum und Naturausbeutung setzt (vgl. Görg 2003: 135). Dieser radikalen Kritik standen allerdings weite Teile der Gesellschaften und mächtige Akteur_innen skeptisch gegenüber, die am Primat der industriellen Produktion festhielten, der lediglich additive Umweltschutzmaßnahmen wie Partikelfilter oder Entschwefelungsanlagen nachgeschaltet werden sollten (vgl. Hajer 1995: 25). Im Kontext dieses Konfliktfelds trieben verschiedene Akteur_innen aus Wissenschaft, Politik und Wirtschaft das Projekt der ökologischen Modernisierung (= das ökomoderne Projekt) voran, das eine Zwischenposition vertritt. Im ökomodernen Projekt wird davon ausgegangen, dass die ökologische Krise eine besonders akute und große gesellschaftliche Herausforderung darstellt. Dementsprechend gilt ein Festhalten am business as usual, d.h. eine einfache Fortschreibung des modernen Entwicklungsmodells, als delegitimiert. Allerdings zielt das ökomoderne Projekt nicht auf einen Bruch mit dem bestehenden System, sondern auf eine ökologische Restrukturierung bestehender Institutionen und Strukturen. Im Zentrum des öko-
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modernen Projekts steht die Überzeugung, dass sich Wachstum und Ökologie nicht zwangsläufig widersprechen müssen, sondern sich auch gegenseitig positiv beeinflussen können. Dazu bedürfe es in erster Linie technologischer Innovationen (vgl. Huber 1993: 54; Jänicke 1993: 18). Diese Idee der Versöhnung von Umweltschutz und Wirtschaftswachstum verhalf den ökomodernen Strategien zur Anschlussfähigkeit in verschiedenen Arenen. Der 1972 vom Club-of-Rome veröffentlichte Bericht ›Die Grenzen des Wachstums‹ gab die Initialzündung für eine intensive wissenschaftliche und politische Auseinandersetzung mit globalen Umweltproblemen. Der Bericht enthält einerseits eine deutliche Warnung vor Wachstumsgrenzen. Andererseits waren die Autor_innen optimistisch, die drohende Krise durch wissenschaftlichen Fortschritt, Umweltmanagement und Effizienzsteigerungen abwenden zu können. Dabei setzten sie auf die rationale Anwendung kybernetischer Erkenntnisse durch Entscheidungsträger_innen in Politik und Wirtschaft (vgl. Hajer 1995: 78-79). Die Kombination aus einer drastischen Warnung einerseits und dem Vertrauen in Fortschritt durch wissenschaftlichtechnische Rationalität andererseits machte den Bericht zu einem Katalysator für eine ökomoderne Koalition aus Wissenschaftler_innen und großen Umwelt-NROs sowie einzelnen Entscheidungsträger_innen aus Politik und Wirtschaft, welche die Bedrohlichkeit der ökologischen Krise anerkennen, ohne daraus eine Modernisierungskritik abzuleiten. In den 1970er Jahren wurden erste ökomoderne Konzepte zunächst vor allem innerhalb der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Politikberatung entwickelt – in Deutschland prominent vertreten durch Martin Jänicke und Joseph Huber. Der Terminus der »ökologischen Modernisierung« hat seine Ursprünge in der deutschsprachigen Wissenschaft. Allerdings kam es zur gleichen Zeit in verschiedenen Ländern zu Neukonzeptionalisierungen der Umweltprobleme, die alle eine strukturelle Ähnlichkeit aufweisen (vgl. Hajer 1997: 108). Dabei waren die Übergänge von politischem Programm und wissenschaftlicher Theorie stets fließend. Im Verlauf der 1980er und 90er Jahre wurde ein kohärentes ökomodernes Konzept geformt, das sich als Basis von Politikformulierung etabliert hat. Diese Entwicklung nahm in verschiedenen Ländern des globalen Nordens ihren Anfang und setzte sich über den Einfluss dieser Länder auch in der internationalen Umweltpolitik mehr und mehr durch. Für die Verbreitung des ökomodernen Konzepts auf internationaler Ebene gab der 1987 von der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung veröffentlichte Bericht Our Common Future (Brundtland-Bericht) die programmatische Richtung vor. Im Zentrum des Berichts steht die Idee einer fortschreitenden gesellschaftlichen Entwicklung, die mit der ökologischen Krise in Gefahr gerate, aber durch eine nachhaltige Entwicklung (sustainable development) aufrecht erhalten werden könne. Nachhaltige Entwicklung wird somit als rationale Intervention zur Stabilisierung des
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Fortschritts gefasst, um die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse sowohl der jetzigen als auch der zukünftigen Generationen zu sichern. Das Kernanliegen des Brundtland-Berichts ist dabei die Versöhnung von Umweltschutz und Wirtschaftswachstum. »In unserem Bericht, der den Titel ›Unsere gemeinsame Zukunft‹ trägt, prognostizieren wir daher auch kein Umsichgreifen des ökologischen Zerfalls in einer von wachsender Not und Armut sowie zunehmender Umweltverschmutzung und immer knapper werdenden Ressourcen gekennzeichneten Welt. Wir sehen vielmehr sehr wohl Chancen für eine neue Ära des wirtschaftlichen Wachstums; eine Ära, die auf bauen muß auf der Bewahrung alter und der Nutzung neuer, in unserer Umwelt vorhandener Ressourcen.« (WCED 1987: 1-2; Übers. der deutschen Fassung des Berichts). Mit der Forderung nach sustainable development brachte der Brundtland-Bericht einflussreiche Institutionen wie die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds (IWF) dazu, ihre ablehnende Haltung gegenüber ökologischen Debatten aufzugeben (vgl. Hajer 1995: 12). Darüber hinaus beeinflusste der Brundtland-Bericht die Strategien großer Umwelt-NROs, die sich positiv auf ihn beriefen, um Einfluss auf politische und wirtschaftliche Entscheidungsträger_innen zu nehmen (vgl. Mol/Spaargaren/Sonnenfeld 2009: 5). Ein weiteres wichtiges Ereignis in der Herausbildung und Verbreitung des ökomodernen Projekts war die Konferenz der Vereinten Nationen zu Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro, auf welcher der Begriff der nachhaltigen Entwicklung im internationalen politischen System verankert wurde (→ Nachhaltigkeit). Auch innerhalb der Wirtschaft wurden ökomoderne Strategien entwickelt, wobei die überwiegende Zahl der Unternehmen und Wirtschaftsverbände sich bis heute kaum mit der ökologischen Krise beschäftigt und Umweltschutzmaßnahmen passiv bis abwehrend gegenüber steht. Dennoch wuchs die Zahl derjenigen Unternehmen, die ihre Fundamentalopposition aufgaben, weil sie sich von der Ablehnung jeglicher Veränderung ihres Geschäftsmodells nur noch wenig Erfolg versprachen. Stattdessen gingen einzelne Unternehmen und Verbände mehr und mehr dazu über, die Art und Weise der umweltpolitischen staatlichen Regulierung – beispielsweise hin zu marktbasierten Mechanismen – zu beeinflussen (vgl. Krüger 2015: 88ff.). Die genannten Prozesse in Wissenschaft, Politik und Wirtschaft bilden ein ökomodernes Projekt, das eine spezifische Reaktion auf die ökologische Krisendiagnose und die daran geknüpfte Gesellschaftskritik darstellt. Es basiert auf der Annahme, dass ökologische Probleme isoliert betrachtet und gelöst werden können. War die Deutung der ökologischen Krise in den 1970er Jahren noch häufig mit einer prinzipiellen Gesellschaftskritik verknüpft, so bleibt diese im ökomodernen Projekt weitgehend aus. Es dominiert eine technokratische Vorstellung von Politik, die weder hegemoniale Strukturen
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noch die damit einhergehenden sozialen Kräfteverhältnisse hinterfragt (vgl. Hajer 1995: 25). Damit hat eine Verschiebung von revolutionären zu reformerischen Lösungsansätzen stattgefunden. Es werden Lösungen gesucht, die möglichst unkompliziert innerhalb der gegebenen Rahmenbedingungen umgesetzt werden können (vgl. Jänicke 1993: 19). Dahinter steht die Überzeugung, die ökologischen Probleme mit kleinen, vorwiegend technologischen Schritten innerhalb der bestehenden institutionalisierten Strukturen lösen zu können (vgl. Hajer 1997: 113). Dabei gelten allein die Reaktionen auf die ökologische Krise als realistisch und umsetzbar, die mit dem Primat der Betriebswirtschaft kompatibel sind, indem sie helfen (wenn schon nicht gegenwärtige, dann zumindest zukünftige) betriebswirtschaftliche Kosten zu vermeiden oder als Wachstumsmotor dienen können. Das Hauptkriterium zur Bewertung verschiedener Umweltschutzoptionen ist ihr kostensenkender Beitrag zur Erreichung konkreter Umweltschutzziele (vgl. Huber 1993: 54). Alternativ denkbare Kriterien wie soziale Aspekte (z.B. Gerechtigkeitsfragen), über die gesellschaftlichen Funktionslogiken hinausgehende ökologische Aspekte (z.B. Natur einen Eigenwert beizumessen) oder demokratische Aspekte (z.B. Mitbestimmungsrechte bei Energieproduktion und -distribution) spielen dagegen nur eine untergeordnete Rolle (→ Wachstum und Wohlstand).
Die Hegemonialisierung des ökomodernen Projekts Bei der Verbreitung ökomoderner Strategien in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen wurden durchaus Forderungen der Umweltbewegungen aufgegriffen. Allerdings wurden in diesen strategisch-selektiven Aneignungsprozessen die gesellschaftskritischen Elemente gekappt. So werden im ökomodernen Projekt die Grundprinzipien des konventionellen, wachstumsbasierten Entwicklungsmodells nicht in Frage gestellt. Weiterhin wird die Kritik an den – fossilistischen und zentralisierten – Strukturen des Wirtschaftens nicht übernommen (vgl. Hajer 1997: 113). Huber, selber Protagonist der ökologischen Modernisierungstheorie, fasst den Wandel von den modernisierungskritischen Artikulationen zu Strategien der Integration ökologischer Forderungen in die Institutionen der Moderne folgendermaßen zusammen: »Von der ehedem prononcierten Modernisierungskritik bleibt die heute weitgehend unkontroverse Feststellung, dass Wachstum und Entwicklung wie zuvor nicht weitergehen können und sie also anders, eben in ökologisch angepasster und auch unter sozialen und kulturellen Aspekten neuerlich readaptierten Weise weitergehen müssen. […] Vor einem solchen Hintergrund ist es müßig, nach fundamentalen Entwicklungsalternativen zu suchen. Außerhalb des industriegesellschaftlichen Entwicklungskorridors gibt es für die moderne Gesellschaft keine reellen Optionen. Modernisierung und industrielle Ent-
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wicklung gehen weiter, aber sie können und sollen in veränderter, sozialökologisch restrukturierter Weise weitergehen.« (Huber 2011: 144-145) Trotz stetiger Verschärfung ökologischer Probleme sind Forderungen, die über eine ökologische Modernisierung hinausgehen, marginalisiert (vgl. Krüger 2014). Selbst viele (ehemalige) Protagonist_innen der Umweltbewegungen (re-)artikulieren ihre Forderungen innerhalb des ökomodernen Konzepts, um sich Gehör und Einfluss zu verschaffen (vgl. Hajer 1995: 93ff.). Spätestens seit den 1990er Jahren fungiert das Konzept der ökologischen Modernisierung als Leitprinzip für innovative Politikformulierung im Umweltbereich – sowohl auf internationaler Ebene als auch auf der nationalstaatlichen bzw. regionalen Ebene vieler Industrieländer (ebd. 1995: 26, 30, 100). Dabei ist allerdings einschränkend anzumerken, dass sich die Dominanz des ökomodernen Projekts primär auf den Bereich der Umweltpolitik beschränkt. Darüber hinaus entwickelte der ökomoderne Diskurs bislang keine gesamtgesellschaftliche Integrationskraft im Sinne einer Metaerzählung oder einer Selbstbeschreibung der Gesellschaft, die das politische und wirtschaftliche Handeln bestimmt. Dies erklärt die Diskrepanz zwischen den Ansprüchen und den tatsächlichen Erfolgen des ökomodernen Projekts. Dessen Wirkung bleibt begrenzt, weil umweltpolitische Maßnahmen weiterhin dem Primat ökonomischer Vorgaben und damit der Profitorientierung und der Standortpolitik unterliegen (vgl. Görg 2003: 214). Dieser Befund geht nicht allein auf die Stärke ökonomischer Diskurse, sondern auch auf die Ausrichtung des ökomodernen Projekts zurück. Schließlich wird das ökomoderne Projekt gerade deshalb von bestimmten sozialen Kräften getragen, weil es weder die hegemonialen Strukturen in Frage stellt noch auf die Verschiebung sozialer Kräfteverhältnisse drängt. Daher enden ökomoderne Strategien dort, wo zentrale Institutionen westlicher Gesellschaften zur Disposition stehen (ebd.: 140; Hajer 1995: 25). Dies stellt vor dem Hintergrund der fossilistischen Wirtschaft eine starke Selbstbeschränkung dar.
Die Grenzen ökomoderner Klimapolitik Im ökomodernen Projekt steht außer Frage, dass Klimaschutztechnologien den gesellschaftlichen Funktionslogiken angepasst bzw. untergeordnet werden müssen, die wiederum – vor dem Hintergrund des dominanten ökonomischen Diskurses des globalen Konkurrenzkampfes – in erster Linie auf die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit zielen (Görg 2003: 140). Die Auswahl der Klimaschutzoptionen erfolgt deshalb nicht nach dem Gesichtspunkt, inwieweit diese bestimmte gesellschaftliche Transformationsprozesse anstoßen könnten. Im Gegenteil, im besonderen Fokus stehen technofixes – technische Lösungsansätze, mit denen die Hoffnung verbunden ist, Symptome komplexer
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Probleme bekämpfen zu können, ohne gesellschaftliche Strukturen ändern zu müssen (→ CO2-Abscheidung und -Speicherung, → Energiewende). Eine solche Perspektive wirkt transformationshemmend. Sie stärkt die etablierter Strukturen, unterschlägt die (potenziellen) Wirkungen von Klimaschutzoptionen auf die gesellschaftlichen Strukturen und verschleiert den prinzipiell denkbaren politischen Gestaltungsspielraum. Weiterhin ist das ökomoderne Projekt abhängig vom Erfolg der technofixes. Denn mit der Ausklammerung alternativer Klimaschutzpolitiken, in denen beispielsweise Suffizienz, degrowth, Klimagerechtigkeit oder Energiedemokratie als Lösungsansätze verhandelt werden, und einem insgesamt geringen Glauben an politische Gestaltungsspielräume, bleibt dem ökomodernen Projekt als einzig realistische Position nur die »technologische Flucht nach vorn« (Jänicke 1993: 18). Aus emanzipatorischer Perspektive gilt es erstens, auf die prekären Erfolgsaussichten des ökomodernen Projekts hinzuweisen. Bislang führten die ökomodernen Klimaschutzstrategien nicht zu den erhofften Erfolgen. Im Gegenteil, die globalen Treibhausgasemissionen steigen stetig an. Kurzzeitige Rückgänge gab es bislang nur in Phasen der wirtschaftlichen Rezession (vgl. IPCC 2014: 6f.). Angesichts der Rebound-Effekte ist auch für die Zukunft nicht zu erwarten, dass die nötigen drastischen Reduktionen ohne umfassende Transformationsprozesse erreicht werden können. Deshalb ist es gefährlich, sich vom Erfolg von technofixes abhängig zu machen und nicht-technische Lösungen zu vernachlässigen. Zweitens gilt es, die Konstruktion scheinbarer Sachzwänge und Notwendigkeiten aufzudecken und als Ergebnis von institutionalisierten Machtbeziehungen zu begreifen. Nur so können die gesellschaftlichen Reflexionsmöglichkeiten gesteigert werden und Gestaltungsspielräume wachsen – für eine alternative Klimapolitik, in der die Fragen nach Demokratie, Gerechtigkeit und einem Eigenwert der Natur nicht ausgeklammert werden.
Literatur Görg, Christoph (2003): Regulation der Naturverhältnisse. Zu einer kritischen Regulation der ökologischen Krise. Münster: Westfälisches Dampf boot. Hajer, Maarten A. (1995): The Politics of Environmental Discourse. Ecological Modernization and the Policy Process. New York: Oxford University Press. Hajer, Maarten A. (1997): Ökologische Modernisierung als Sprachspiel. Eine institutionelle konstruktivistische Perspektive zum Umweltdiskurs und zum institutionellen Wandel. In: Soziale Welt 48(2): 107-132. Huber, Joseph (1993): Ökologische Modernisierung: Zwischen bürokratischem und zivilgesellschaftlichem Handeln. In: von Prittwitz, Volker (Hg.): Umweltpolitik als Modernisierungsprozess. Politikwissenschaftliche Umwelt-
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Partizipation Stefanie Baasch Partizipation gilt heute vielfach als Mittel zur Bekämpfung von Politikverdrossenheit und als Allheilmittel zur Verhinderung von Bürgerprotesten sowie als geeigneter Ansatz für verbesserte (zielgruppenorientiertere) Planungsprozesse. Was für Politiken und Zielsetzungen mit den jeweiligen Beteiligungsprozessen verbunden werden, ist jedoch höchst unterschiedlich und nicht zwangsläufig mit einer Erweiterung demokratischer Mitsprache oder Mitgestaltung verknüpft.
Vielfältiger Partizipationsbegriff In Klimawandeldebatten wird unter »Partizipation« ein Bündel unterschiedlicher Ansätze und Formate zur Bewältigung von Klimawandelfolgen (Adaption) und/oder zur Reduzierung von Treibhausgasemissionen (Mitigation) verstanden, bei denen nicht-staatliche Akteure und/oder Vertreter_innen gesellschaftlicher Gruppen einbezogen werden. »Auf der politischen und praktischen Ebene erleben wir gegenwärtig einen wahren Partizipationsboom in fast allen Themenbereichen, und zuvorderst bei der Erstellung und Umsetzung von Klima- und Energiekonzepten wird das Partizipationsthema hervorgehoben. Von der lokalen über die regionale bis zur nationalen Ebene werden Veranstaltungen mit starken Beteiligungsanteilen konzipiert.« (Walk 2013: 24) Forderungen nach mehr Beteiligung zivilgesellschaftlicher Akteure bei der Bewältigung von Umweltproblemen sind nicht neu und wurden bereits in der »Rio-Deklaration über Umwelt und Entwicklung« von 1992 festgeschrieben: »Grundsatz 10: Umweltfragen sind am besten auf entsprechender Ebene unter Beteiligung aller betroffenen Bürger zu behandeln. Auf nationaler Ebene erhält jeder Einzelne angemessenen Zugang zu den im Besitz öffentlicher Stellen befindlichen Informationen über die Umwelt, einschließlich Informationen über Gefahrstoffe und gefährliche Tätigkeiten in ihren Gemeinden, sowie die Gelegenheit zur Teilhabe an Entscheidungsprozessen. Die Staaten erleichtern und fördern die öffentliche Bewusstseinsbildung und die Beteiligung der Öffentlichkeit, indem sie Informationen in großem Umfang verfügbar
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machen. Wirksamer Zugang zu Gerichts- und Verwaltungsverfahren, so auch zu Abhilfe und Wiedergutmachung, wird gewährt.« (Vereinte Nationen 1992: o.S.) Schwerpunkte liegen hier auf der Herstellung von Transparenz durch die Offenlegung von Informationen, wodurch das Bewusstsein für globale Umweltprobleme gestärkt werden soll. Seit den 1990er Jahren werden partizipative Verfahren verstärkt auch als Lösungsansatz zur Bewältigung des Klimawandels favorisiert. Der wissenschaftliche Beirat der deutschen Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) fordert in seinem Gutachten »Welt im Wandel« für eine klimaverträglichere Gesellschaft einen »gestaltenden Staat mit erweiterten Partizipationsmöglichkeiten« (WBGU 2011: 252). Dabei soll Partizipation dazu dienen, die Akzeptanz klimapolitischer Maßnahmen zu steigern sowie die Qualität von Maßnahmen durch den Einbezug lokalen Wissens zu verbessern: »Zivilgesellschaftliche Partizipation sollte möglichst frühzeitig im Prozess eine Rolle spielen, um eine bessere Einschätzung der Probleme vor Ort zu bekommen, was letztlich die Legitimation verbessern und Akzeptanz erleichtern kann.« (WBGU 2011: 68) In der »Deutschen Anpassungsstrategie an den Klimawandel« (DAS) wird unter Partizipation die Einbindung der vom Klimawandel betroffenen Akteure verstanden. Es soll ein Prozess gestaltet werden, »in dem in transparenter und strukturierter Art schrittweise mit betroffenen Akteuren der Handlungsbedarf benannt, gegebenenfalls entsprechende Ziele definiert, Zielkonflikte fest[ge]stellt und ausgeräumt sowie mögliche Anpassungsmaßnahmen entwickelt und umgesetzt werden« (Bundesregierung 2008: 58). Genauere Angaben darüber, wie diese »Betroffenheit« von Akteuren definiert wird, wer diese Definition vornimmt und wie Beteiligungsprozesse konkret gestaltet werden sollen, werden weder vom WGBU noch in der DAS ausgeführt, was symptomatisch die sehr allgemeine Verwendung des Partizipationsbegriffs in Klimawandeldebatten zeigt (vgl. Bauriedl et al. 2013). Für die Länder des Globalen Südens wird von internationalen NROs primär eine stärkere politische Partizipation an der Klimadebatte eingefordert und der Ausschluss von Betroffenen bei der Gestaltung von Klimapolitiken kritisiert: »The current system of climate governance – which encompasses international policy and climate financing frameworks – lacks the involvement of and accountability to those most affected by climate change.« (Transparency International 2011: o.S.)
Partizipationsverfahren zwischen Akzeptanzbeschaffung und Selbstermächtigung Forderungen nach mehr Partizipation werden sowohl von politischen, wissenschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren vertreten. Dabei sind die zu Grunde liegenden Zielsetzungen in der Praxis ebenso breit gefächert wie die
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jeweiligen methodischen Ansätze. Sherry Arnstein unterscheidet in ihrem vielzitierten Stufenmodell unechte partizipative Ansätze (Manipulation) von Vorstufen der Partizipation (Informations- und Konsultationsverfahren) sowie graduell unterschiedliche Formen ›echter‹ Partizipation im Sinne von emanzipatorischen Prozessen (partnerschaftliche Kooperation), die für die Beteiligten (partielle) Entscheidungskontrolle und Entscheidungsmacht gewähren (Arnstein 1969). Die Rolle der Beteiligten ist dabei das entscheidende Kriterium. Die entscheidende Frage von Partizipationsprozessen lautet: Wird den Beteiligten tatsächlich Entscheidungsmacht zugestanden, die es ihnen ermöglicht, auf die Prozessgestaltung Einfluss zu nehmen bzw. diese gänzlich zu übernehmen? Oder ist es den Beteiligten lediglich gestattet, in einem vorgegebenen Rahmen mitzumachen oder ihre Meinung nur zu vorgegebenen Themen zu äußern? Darüber hinaus werden unter anderem in den Politikwissenschaften auch unkonventionelle Formen der Beteiligung wie zum Beispiel Graffitis im öffentlichen Raum, Flashmobs oder Online-Petitionen als Form der politischen Partizipation diskutiert (vgl. de Nève/Oltenanu 2013). Diese Vielfalt an Ansätzen und Formaten führt dazu, dass allein die Tatsache, dass Beteiligung stattfindet, nicht besonders aussagekräftig ist. Vielmehr ist die Qualität von Partizipationsprozessen entscheidend. Wie Beteiligungsprozesse konzipiert werden und wie viel Gestaltungsraum sie den Beteiligten beimessen, entscheidet darüber, ob Lernprozesse angestoßen werden und ob es im Beteiligungsprozess möglich ist, zivilgesellschaftliches Wissen in Lösungsvorschläge für gesellschaftliche Probleme einfließen zu lassen (Kropp 2013). Wichtig ist hierbei auch die Zusammensetzung der jeweils Beteiligten und ihre Artikulationsmöglichkeiten und -fähigkeiten: »Sensitivity to inequality of social power is again crucial here, in order to avoid domination of dialogue by those with greater resources in terms of communication, social/political networking, and experience in decision-making processes.« (Few et al. 2007: 57) Bei Partizipationsverfahren sind neben der Auswahl der Akteure auch Methoden zur Prozessgestaltung, beispielsweise integrative Moderationstechniken, erforderlich, die eine offene Diskussion unter Einbeziehung aller anwesenden Akteure ermöglichen. Ebenso bedeutend ist die Frage, was mit den Ergebnissen von partizipativen Prozessen geschieht, vor allem wie verbindlich diese in der politischen Entscheidungsfindung berücksichtigt werden. Obwohl dieser Aspekt zentral für den Erfolg von partizipativen Prozessen im Sinne ihrer Glaubwürdigkeit ist, bleibt dies in der Praxis oft undefiniert. Beteiligungsverfahren zum Themenfeld Klimawandel werden in Deutschland und in der EU häufig im Rahmen von Forschungsprojekten durchgeführt. Zumeist handelt es sich um wissenschaftliche Akteure, die partizipative Verfahren zur Umsetzung der von (zumeist Natur-)Wissenschaftler_innen bereits identifizierten Lösungsansätze initiieren sollen. Dieses Vorgehen ist
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nicht unproblematisch, da solche Projekte in der Regel starren Rahmenbedingungen bezüglich Laufzeit, Budgets, Zielsetzungen, Fragestellungen und des Personals unterliegen, durch die ein flexibles Reagieren auf unvorhergesehene Entwicklungen in der Praxis ebenso wie eine Ergebnisoffenheit kaum möglich sind. Anstatt Beteiligungsformen und -zwecke den spezifischen Aufgabenstellungen und Akteurskonstellationen anzupassen, wird auf bewährte WorkshopFormate sowie Interviews und Umfragen für individuelle wie Gruppenbefragungen zurückgegriffen (Baasch et al. 2013: 275). In der Praxis werden solche Partizipationsprozesse häufig als Forschungsstudie durchgeführt, bei der die beteiligten zivilgesellschaftlichen Akteure von den Forschenden identifiziert und ausgewählt und nach ihren Meinungen und Einstellungen gefragt werden. Die Beteiligten haben hierbei wenig oder keinerlei Einfluss auf die Prozessgestaltung, Fragestellungen oder auf die Analyse und Ergebnisproduktion. Ähnliche Einschränkungen finden bei Partizipationsverfahren statt, die von politischen Akteuren als formelle (z.B. im Rahmen von Bauleitplanungen) oder informelle Beteiligung (wie Bürgerdialoge) initiiert werden. Die Funktionen solcher Verfahren liegen vor allem in der Herstellung von Legitimation (demokratische Funktion) und/oder in der Verbesserung, Anpassung und Akzeptanz von Maßnahmen (ökonomische Funktion) (vgl. Walk 2008). Häufig werden Fachexpert_innen aus Wissenschaft, Verwaltung und Wirtschaft in die Beteiligungsverfahren einbezogen, um dort den Bürger_innen Problemanalysen und Lösungsvorschläge zu präsentieren. Wissensbestände von Bürger_innen oder Praxisakteuren werden dabei in den meisten Fällen nicht gleichwertig einbezogen und geäußerte Kritik häufig als Partikularinteressen (ab-)gewertet. Derartige Verfahren sind von Partizipationsforscher_innen als »expertenzentrierte Akzeptanzbeschaffung« kritisiert worden (Kropp 2013). Auch in der Entwicklungszusammenarbeit findet sich oftmals ein erzieherisches Verständnis von Beteiligung, bei dem die Problemdefinition und Lösungsentwicklung zumeist wissenschaftlichen Akteuren (z.B. Klimawandelprozesse) und/oder Organisationen der Entwicklungshilfe oder des Naturschutzes (geeignete Anpassungsmaßnahmen) vorbehalten bleibt und die lokalen Zielgruppen lediglich an der Umsetzung von Maßnahmen, zum Beispiel zur Veränderung von landwirtschaftlichen Produktionsweisen, beteiligt werden beziehungsweise dazu angehalten werden, ihre bisherigen Praktiken zu ändern. Ein Beispiel dafür, wie mangelnde Einbindung lokaler Akteure und ihrer Wissensbestände zu eklatanten Fehleinschätzungen und damit zu fehlerhaften Lösungsansätzen führen kann, beschreiben James Fairhead und Melissa Leach. Über Jahrzehnte wurde die Landschaft der Kissidougou-Region in Guinea von europäischen Kolonialist_innen und bis in die 1990er Jahre von Wissenschaftler_innen und Nationalbehörden als Ergebnis zerstörerischer
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Landnutzung der lokalen Bevölkerung gedeutet, die für die Entwaldung der Savanne verantwortlich gemacht wurden. Durch umfassende Analysen historischer Dokumente und Aufzeichnungen (u.a. über Vegetation und dörfliche Ressourcen), Vergleiche historischer und zeitgenössischer Fotografien, durch teilnehmende Beobachtungen sowie Auswertungen von Gesprächen und sonstigen mündlichen Informationen von Bewohner_innen dieser Region stellten Fairhead und Leach allerdings fest, dass von einer Zerstörung »natürlicher Wälder« durch die lokale Bevölkerung nicht die Rede sein kann. Der vorhandene inselhafte Baumbestand wurde stattdessen erst im Zuge menschlicher Besiedlung angepflanzt. Ohne diesen Eingriff wäre diese Region waldlos (Fairhead/Leach 1996). Wären die Bewohner_innen in die Erforschung ihrer Region einbezogen gewesen, hätte eine solche Fehldeutung vermieden werden können. Im Zusammenhang von Klimaschutz und Entwicklungshilfe finden sich darüber hinaus multiple und teilweise problematische Interessenüberlagerungen, bei denen unter anderem das Interesse von Industrieländern an Projekten zur Emissionskompensationen und nationalstaatliche ökonomische beziehungsweise Entwicklungsinteressen vonEntwicklungsländern auf lokale, heterogene Zielsetzungen treffen und sich vor Ort zum Beispiel in unterschiedlichen Landnutzungsansprüchen manifestieren. Neben staatlich initiierten Beteiligungsformaten gibt es auch bottom up-Prozesse, bei denen Akteure ihre Beteiligung einfordern oder Beteiligungsprozesse selbst initiieren. Beispiel hierfür sind Klimacamps, Petitionen (z.B. campact!), Netzwerke und Bündnisse wie der »Berliner Energietisch«, Klimallianzen etc. Weitere Beispiele für solche selbstermächtigenden, emanzipatorischen Partizipationsformen sind zum Beispiel Graswurzelorganisationen, die sich zusammenschließen, um sich bei internationalen Klimaverhandlungen eine wahrnehmbare Position zu verschaffen (z.B. das internationale Netzwerk Climate Justice Now!). Die Grenzen zwischen den unterschiedlichen Partizipationsfunktionen sind fließend und können sich im Laufe des Beteiligungsprozesses verändern. So haben auch top-down initiierte Prozesse das Potenzial, über die reine Legitimationsfunktion und die Beschaffungen gesellschaftlicher Akzeptanz hinauszugehen. Entscheidend hierfür ist neben dem Willen zur ›echten‹ Beteiligung auch ein transparenter und offener Umgang mit Machtverhältnissen und Eigeninteressen sowie eine partizipative und gegenstandsangemessene Prozessgestaltung, die von allen Akteur_innen Selbstreflektion und Kritikfähigkeit fordert.
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Literatur Arnstein, Sherry A. (1969): A Ladder of Citizen Participation. In: Journal of the American Institute of Planners 35(4): 216-224. Baasch, Stefanie/Gottschick, Manuel/Knierim, Andrea (2013): Partizipation und Klimawandel. Ein Resümee. In: Knierim, Andrea/Baasch, Stefanie/ Gottschick, Manuel (Hg.): Partizipation und Klimawandel. Ansprüche, Konzepte und Umsetzung. München: Oekom: 269-279. Bauriedl, Sybille/Baasch, Stefanie/Rau, Irina/Kropp, Cordula/Knierim, Andrea (2013): Konzeptionelle Überlegungen zum Begriff »Betroffenheit« in der sozialwissenschaftlichen Partizipationsforschung. In: Knierim, Andrea/Baasch, Stefanie/Gottschick, Manuel (Hg.): Partizipation und Klimawandel. Ansprüche, Konzepte und Umsetzung. München: Oekom: 121-13. Bundesregierung (2008): Deutsche Anpassungsstrategie an den Klimawandel. www.bmu.de/klimaschutz/downloads/doc/42783.php (10.06.2015). de Nève, Dorothée/Olteanu, Tina (Hg.) (2013): Politische Partizipation jenseits der Konventionen. Opladen: Budrich. Fairhead, James/Leach, Melissa (1996): Misreading the African Landscape: Society and Ecology in a Forest-Savanna Mosaic. Cambridge: Cambridge University Press. Few, Roger/Brown, Katrina/Tompkins, Emma L. (2007): Public participation and climate change adaptation: avoiding the illusion of inclusion. In: Climate Policy 7 (1): 46-59. Kropp, Cordula (2013): Demokratische Planung in der Klimaanpassung? Über die Fallstricke partizipativer Verfahren im expertokratischen Staat. In: Knierim, Andrea/Baasch, Stefanie/Gottschick, Manuel (Hg.): Partizipation und Klimawandel. Ansprüche, Konzepte und Umsetzung. München: Oekom: 55-74. Vereinte Nationen (1992): Rio-Erklärung über Umwelt und Entwicklung. www. un.org/Depts/german/conf/agenda21/rio.pdf (09.06.2015). Walk, Heike (2008): Partizipative Governance. Beteiligungsrechte und Beteiligungsformen im Mehrebenensystem der Klimapolitik. Wiesbaden: Springer. Walk, Heike (2013): Herausforderungen für eine integrative Perspektive in der sozialwissenschaftlichen Klimafolgenforschung. In: Knierim, Andrea/ Baasch, Stefanie/Gottschick, Manuel (Hg.): Partizipation und Klimawandel. Ansprüche, Konzepte und Umsetzung. München: Oekom: 21-35. WBGU (2011): Welt im Wandel. Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation. www.wbgu.de/hauptgutachten/hg-2011-transformation (10.06.2015).
Planetarische Grenzen Christoph Görg Vierzig Jahre nach der Buchveröffentlichung »Grenzen des Wachstums« beherrscht ein neuer Diskurs über natürliche Grenzen gesellschaftlicher Entwicklung die öffentliche Debatte. Anders als damals geht es nicht um die Erschöpfung natürlicher Ressourcen, sondern um globale Kipppunkte oder Schwellenwerte, für deren Überschreitung fatale Folgen prognostiziert werden. Doch der neue Diskurs teilt mit dem alten ein zentrales Defizit: den Glauben, die Grenzen würden »da draußen« in der Natur existieren. Dabei müssen sie letztlich politisch gesetzt werden.
Der neue katastrophische Ton — und seine Implikationen »Planetarische Grenzen: Ein sicherer Handlungsraum für die Menschheit«, so titelte die renommierte Fachzeitschrift »Nature« im September 2009, und viele deutsche wie internationale Institute, Zeitungen und Zeitschriften griffen die Botschaft auf. »Menschheit treibt Natur über Belastungsgrenzen«, titelte »Der Spiegel« am 15.01.2015, während »Das Parlament« 2013 gleich »Planetarische Grenzen für die Politik« ausmachen will. So überzeugend die Vorstellung von den Grenzen des Erdsystems ist – haben wir nicht alle seit knapp fünfzig Jahren das Bild von dem verletzlichen »Blauen Planeten« in der Weite des Weltalls vor Augen (vgl. Jasanoff/Martello 2004) – so unsicher ist bei genauerer Betrachtung jedoch die Botschaft. Zwar lassen sich Fortschritte beobachten beim Versuch, die Annahme von Grenzen mit wissenschaftlichen Argumenten zu untermauern. Es geht längst nicht mehr um einzelne dramatische Zuspitzungen, sondern um die Berücksichtigung einer Vielzahl unterschiedlicher, aber in Wechselwirkung miteinander stehender Prozesse, die zudem erst durch menschliches Handeln in eine krisenhafte Entwicklung gebracht werden. Gleichwohl werden die Folgen als potenziell katastrophisch ausgemalt. Trotz aller Parallelen: Die Unterschiede zu früheren Versuchen, natürliche Grenzen zu definieren, sind beträchtlich. Die Autor_innen von »Grenzen des Wachstums« (Meadows et al. 1972) versuchten Anfang der 1970er die Endlichkeit natürlicher Ressourcen zum ers-
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ten Mal anhand globaler Computermodelle zu bestimmen – und scheiterten an der Komplexität des Problems, wie an den Grenzen der Vorhersehbarkeit von sozialen Dynamiken. Seitdem sind viele Versuche hinzugekommen, die mit der Tragfähigkeit der Erde oder eines bestimmten Umweltraums, oder mit neo-malthusianischen Denkfiguren wie der »Bevölkerungsexplosion«, argumentieren. Die Diskussion um die »Planetarischen Grenzen« funktioniert anders, denn es wird versucht, die Belastungsgrenzen des Erdsystems zu ermitteln. Ziel ist es, Schwellenwerte zu definieren, für deren Überschreitung erhebliche Schädigungen prognostiziert werden. Zentral ist die Annahme von Kipppunkten (tipping points), jenseits denen sich das Verhalten von Systemen in schwer vorhersehbarer Weise ändert: »If these thresholds are crossed, then important subsystems, such as a monsoon system, could shift into a new state, often with deleterious or potentially even disastrous consequences for humans.« (Rockström et al. 2009: 472) Insgesamt werden neun Bereiche erfasst (in manchen Publikationen auch weitere), wobei die Grenzwerte in dreien bereits überschritten seien: Klimawandel, biologische Vielfalt und Stickstoffeintrag in die Biosphäre. Als weitere Bereiche mit problematischen Tendenzen identifizierten die Forscher_innen die stratosphärische Ozonschicht, Landnutzungsänderungen, Trinkwassernutzung, die Versauerung der Ozeane, den Eintrag von Phosphor in die Biosphäre und die Meere sowie die Aerosolbelastung und Verschmutzung durch Chemikalien. Betont wird eine systemische Betrachtungsweise: die Prozesse sind eng miteinander verknüpft, daher könnte ein überschrittener Grenzwert negative Auswirkungen auf andere Bereiche haben. Und zentral ist den Autor_innen die Verknüpfung mit menschlichem Handeln und politischen Reaktionen: sie wollen zum Handeln auffordern und »die Politik« angesichts der Enttäuschung nach dem Klimagipfel in Kopenhagen 2009 wachrütteln. Insofern ist es konsequent, dass sie die Planetarischen Grenzen als »intrinsische, nichtverhandelbare Rahmen (limits) bezeichnen, die nicht überschritten werden sollten« (Steffen et al. 2011, Übers. CG). Die Diskussion um Planetarische Grenzen ist eng verknüpft mit der These vom Anthropozän, von einem neuen Erdzeitalter, in dem »der Mensch« zum treibenden Faktor auf der Erde geworden sei (→ Anthropozän). Und wie auch dort sind es die diskursiven Implikationen, die die Rede von Planetarischen Grenzen so problematisch machen. Zwar mag es sinnvoll und vorausschauend sein, »natürliche« Grenzen der menschlichen Nutzung und der gesellschaftlichen Entwicklung in Rechnung zu stellen – aber wie sicher können Wissenschaftler_innen diese Grenzen benennen? Oder überschreiten sie damit den Bereich sicheren Wissens und legitimer Wissensansprüche? Sind ausschließlich globale Grenzen bzw. global aggregierte Prozesse zu berücksichtigen oder sieht die Botschaft ganz anders aus, wenn auch regionale Prozesse berücksichtigt werden? Und liegt den Debatten nicht eine problematische Vorstellung von ›Grenze‹ zu Grunde, als etwas ›da draußen‹ Gegebenes?
Planetarische Grenzen
Fallstricke des (natur-)wissenschaftlichen Diskurses Schon innerhalb der Naturwissenschaften ist die Definition von Planetarischen Grenzen hoch umstritten. In nahezu allen Bereichen sind die Kipppunkte wie auch ihr Zusammenspiel unsicher und umstritten und die Fokussierung auf global aggregierte Prozesse wird kritisiert. Nimmt man nur das bekannteste und am besten untersuchte Beispiel, die Anreicherung von Treibhausgasen in der Atmosphäre und die daraus folgende globale Erwärmung, dann bleibt der genaue Schwellenwert unumkehrbarer globaler Dynamiken weiterhin unklar. Vor allem aber steht hier ein politisch gesetztes Ziel im Vordergrund, das ZweiGrad-Ziel, das keineswegs ausschließlich auf wissenschaftlichen Fakten beruht, sondern auf einem Kompromiss zwischen wissenschaftlicher Diagnose und politischer Abwägung des Wünschenswerten wie Erreichbaren – und das als solches angesichts der Misserfolge der internationalen Klimapolitik immer öfter in Frage gestellt wird (Geden/Beck 2014). In anderen Bereichen ist die Gesamtdiagnose weitgehend unbestritten, wie beim Verlust der Biodiversität. Hier gehen jüngste Schätzungen von einem noch dramatischeren Artenverlust aus als bisher angenommen, trotz allen Unsicherheiten, die auch dort bestehen (Ceballos et al. 2015). Doch bleibt auch bei diesen Schätzungen völlig unklar, was der Verlust einzelner Arten für die Gesamtheit der Biodiversität oder die Belastbarkeit von Ökosystemen oder gar für die menschliche Entwicklung tatsächlich bedeutet. Solche Abschätzungen sind zudem auch nur auf regionaler Ebene sinnvoll: Der Verlust artenreicher Habitate wie dem tropischen Regenwald oder den Korallenriffen sagt noch gar nichts aus über die Resilienz von Ökosystemen in anderen Regionen der Erde und deren Folgen. Noch viel stärker sind andere Bereiche, wie der Landnutzungswandel oder die Trinkwasserversorgung, nur auf regionaler Ebene aussagefähig und es wird auch von Naturwissenschaftler_innen energisch bestritten, dass eine globale Aggregation dieser Daten sinnvoll sei. Vollends fragwürdig ist die Behauptung, dass sich mit der Definition von Planetarischen Grenzen »ein sicherer Handlungsraum für die Menschheit« (im Original: »a safe operating space for humanity«, Rockström et al. 2009) festlegen ließe. Angesichts der heute schon beobachtbaren Klimafolgen in vielen Teilen der Welt, von niedrig gelegenen Küstenregionen in Bangladesch oder Vietnam über trockene und halbtrockene Regionen in Äthiopien oder Mali sowie im Westen der USA bis zu den Opfern von extremen Hitzeperioden, Starkniederschlägen, Stürmen oder Sturmfluten weltweit, klingt das Versprechen nach Sicherheit geradezu zynisch. Hier verkehrt sich der Anspruch der Wissenschaften, sicheres Wissen und normativ belastbare Orientierung zu geben, in sein Gegenteil. Selbst dort, wo wir es mit globalen Prozessen wie dem Klimasystem zu tun haben, sind Schwellenwerte keineswegs nur global zu definieren, sondern müssten sich an der regionalen oder gar lokalen Verwund-
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barkeit (→ Klimavulnerabilität) orientieren. Diese ist jedoch weder »natürlich« bestimmt, noch ist sie einfach gegeben, sondern Ausdruck sozialer (Macht-) Verhältnisse und darum von Konflikten geprägt, was im regionalen Kontext noch als »sicherer« Handlungsspielraum akzeptiert, was als unzumutbar abgelehnt und was als krisenhafte Entwicklung bekämpft wird.
Politisierung der Grenzen Genau diese normativen Implikationen werden jedoch von den Protagonist_ innen des Diskurses um Planetarische Grenzen ignoriert. Von sozialwissenschaftlicher Seite werden ihnen daher nicht-legitime Machteffekte vorgeworfen (Pielke 2013). Wie auch die Debatte um den Klimawandel oder das Anthropozän ist die Debatte um Planetarische Grenzen ein Beispiel für »Post-Politik« (Swyngedouw 2011): In diesen Debatten beteiligen sich wissenschaftliche Expert_innen nicht nur an der Definition von Problemen, sondern sie wollen »der Politik« ganz direkt Vorgaben machen. Aber schon das wissenschaftliche Wissen, was in solche boundary negotiations (Grenzverhandlungen) zwischen Politik und Wissenschaft eingeht, ist faktisch immer unsicher, umstritten und vorläufig. Insofern wird nicht nur die Grenze sicheren Wissens überschritten, es findet auch eine Politik mit anderen Mitteln statt: Politische Auseinandersetzungen sollen mit Hilfe wissenschaftlicher Argumente entschieden werden. Insoweit ist der Begriff der Post-Politik auch wieder irreführend, denn gerade die Wissenschaft wird hier politisch, wird tendenziell zur Machtressource politischer Interessen. Was bei der These von den Planetarischen Grenzen nicht zufällig vergessen, sondern systematisch verleugnet wird, das sind die normativen Implikationen von Grenzen: Grenzen sind nicht einfach »da« oder gar ein Merkmal der Natur. Sie werden definiert, sind damit gesetzt und sollen respektiert werden. Letzteres kann Wissenschaft aber nicht liefern, denn jede Definition, sofern sie als Wissenschaft ernst genommen und nicht als Glaube hingenommen werden soll, muss per definitionem hinterfragt werden. Wissenschaft ist nur als kritische und selbst-kritische Instanz legitim, nicht als Machtressource für politische Zwecke, welcher Art auch immer. Gerade deshalb sind (natur-) wissenschaftliche Beiträge zur Problemdefinition als Input für politische Auseinandersetzungen aber auch unverzichtbar. Wissenschaft stellt Wissen um mögliche Folgewirkungen menschlichen Handelns zur Verfügung – und diese Beiträge sind angesichts des Stands der ökologischen Krise unverzichtbar! Aber da ihr Wissen immer unsicher und vorläufig ist, muss es methodisch wie sachlich kritisiert, seine Implikationen reflektiert und seine Aussagen weiterentwickelt werden. Das impliziert (Selbst-)Kritik an normativen Implikationen wissenschaftlicher Diagnosen, aber auch Kritik an den Machtverhältnissen und den diskursiven Schließungen von Grenzziehungsdiskursen. Gegen die
Planetarische Grenzen
Zuspitzung sozial-ökologischer Krisen hilft weder eine Katastrophenrhetorik noch eine autoritative Warnung vor der Überschreitung globaler Schwellenwerte, sondern allein die Politisierung der Natur. Was »wir« als »Natur« hinzunehmen bereit sind oder gar als wünschenswert erscheint, und was nicht mehr – und inwieweit dies auch nach dem Stand des wissenschaftlichen Wissens realistisch ist –, das muss in die politische Auseinandersetzung (im weiteren Sinne) überführt werden.
Weblinks Blog von Roger Pielke Jr. zur Kritik an demokratiepolitischen Implikationen des Konzepts Planetarische Grenzen: http://thebreakthrough.org/index. php/voices/roger-pielke-jr/planetary-boundaries-as-power-grab
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Raumschiff Erde Bettina Köhler Mit der Metapher ›Raumschiff Erde‹ wird angesichts zunehmender ökologischer Risiken und knapper werdender Ressourcen auf die Verletzlichkeit des Planeten Erde und zugleich auf dessen Begrenztheit hingewiesen. Daran wird zumeist normativ der dringliche Appell geknüpft, dass nur durch sofortiges Handeln das Überleben der Menschheit gesichert werden könne. In der Verwendung dieser Metapher überlagern sich auf widersprüchliche Weise sowohl kollektive als auch tendenziell autoritäre Forderungen nach einem gesellschaftlichen Umsteuern angesichts der ökologischen Krise sowie zugleich der Glaube an technologischen Fortschritt und die Beherrschbarkeit der Natur.
»Raumschiff Erde« als diskursiver Horizont der Umweltpolitik Der Begriff »Raumschiff Erde« erlangte ab Ende der 1960er Jahre mit dem Beginn des »Raumfahrtzeitalters« sowie im Kontext der Politisierung von Umweltkonflikten Bedeutung. Mediale Resonanzen erzeugten unter anderem Veröffentlichungen wie »Die Ökonomik des zukünftigen Raumschiffs Erde« (1966) des Ökonomen Kenneth Boulding und die »Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde« (1968) des Architekten und Philosophen Richard Buckminster Fuller. Die in der Metapher angelegten zentralen Botschaften wurden in der Nachhaltigkeitsdebatte der 1990er Jahre und in der heutigen Umweltund Klimapolitik immer wieder aufgegriffen. In der aktuellen AnthropozänDebatte, welche die menschlichen Aktivitäten seit der Industrialisierung als erdgeschichtlich prägend und zugleich überlebensgefährdend einstuft (→ Anthropozän), wird die geographisch globale Perspektive der Raumschiff-Metapher um eine historisch-erdgeschichtliche Perspektive erweitert (vgl. Jahn et al. 2015). Anknüpfend an das in westlichen Kulturen ältere Motiv des Bootes drückt die Raumschiff-Metapher zugleich Verletzlichkeit und Explorationsgeist aus, erweitert »um die moderne Vorstellung der technologischen Vorherrschaft des Menschen im Weltraum« (Höhler 2006: 47). In der Metapher laufen damit
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die konträren Gedanken Ohnmacht und Kontrollierbarkeit, »Triumph der Natur- und Technikwissenschaften einerseits und die Vorstellung von der Fragilität des Lebens andererseits« (ebd.: 44) zusammen. Die Metapher drückt aber nicht nur die Problemwahrnehmungen der jeweiligen Zeit aus, sondern strukturierte diese auch erfolgreich – sie »eröffnete einen diskursiven Horizont, vor dem bestimmte Wahrnehmungen und Lösungen der Umweltprobleme vernünftig schienen und vorherrschend wurden« (ebd: 47). Einige darin implizit angelegte Annahmen sind auch im Hinblick auf die aktuelle Klimadebatte problematisch.
»Wir sitzen alle in einem Boot«: kollektive Betroffenheit und Alarmismus Die in der Raumschiff-Metapher angelegte Annahme »wir sitzen alle in einem Boot« transportiert den zentralen Gedanken, dass alle Menschen kollektiv und gleichermaßen von ökologischen Risiken wie dem globalen Klimawandel betroffen seien und sofort handeln müssten, um ein weiteres Verschärfen der bevorstehenden Umweltkatastrophe zu verhindern. Im Anschluss an den Reaktorunfall von Fukushima 2011 wurde dies noch zugespitzter ausgedrückt mit der Metapher »das Raumschiff Erde hat keinen Notausgang« (Crutzen et al. 2011). Der kollektive Appell-Charakter dieser Perspektive kann als aufrüttelnd interpretiert werden, hat aber zugleich depolitisierende Implikationen. Die damit transportierte Konzeption von Klimawandel als ein globales Umwelt- und Menschheitsproblem, welches eine »gemeinsame Bedrohung für alle« darstellt und wovon ein universales und weltweites Interesse an Klimaschutz abgeleitet werden könne, ist irreführend. Bei eingehender Betrachtung ist der Klimawandel gerade kein »homogenes Interessenfeld«, sondern durchzogen von vielfältigen sozialen, politischen und ökonomischen Ungleichheiten – in den Nord-Süd-Verhältnissen, zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen und in den Geschlechterverhältnissen (vgl. Dietz 2011). Diese Ungleichheit bezieht sich sowohl auf die historische und aktuelle Problemverantwortung als auch auf die unterschiedlichen Betroffenheiten und Vulnerabilitäten sozialer Gruppen (→ Klimavulnerabilität, → Geschlechtsspezifische Verwundbarkeit). Und auch in der Bearbeitung des Klimawandels finden sich sowohl strukturelle Wissensasymmetrien hinsichtlich der Problemdefinition als auch unterschiedliche Möglichkeiten der Interessensdurchsetzung in der Klimapolitik (→ Klimagovernance). Die sozial homogenisierende Annahme einer »gemeinsamen Bedrohung« durch eine »externe Natur« führt gerade nicht dazu, dass »Verteilungskonflikte, soziale Ungleichheiten und politische Machtasymmetrien, die für den Klimawandel im Nord-Süd-Kontext konstituierend sind« (ebd.: 263) hinterfragt werden, sondern blendet diese eher aus.
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Zugleich lässt der aus der medial überwiegend alarmistischen und katastrophischen Rahmung der Klimadebatte abgeleitete Zeitdruck – wenn »wir« nicht »schnell« handeln, kommt die »globale Katastrophe« – die existierende Klimapolitik als Sachzwang erscheinen, dem zügig nachzukommen sei (vgl. Brand 2011; Swyngedouw 2010). Fragen danach, welche Lösungswege welche sozialen Gruppen begünstigen und welche alternativen Pfade auch denkbar und sinnvoll sind, können auf diese Weise kaum gestellt werden. Das führt zu der paradoxen Situation, dass Klimawandel zwar als großes Thema zunehmend politisiert wird, dass die damit verbundenen gesellschaftlichen Fragen aber zugleich depolitisiert werden – eine Entwicklung, die auch als post-politicization thematisiert wird (vgl. Swyngedouw 2010).
Global Stewardship und der Aufstieg globaler Ressourcenmanager Ein Raumschiff wirft zudem Fragen nach der Art und Weise seiner Steuerung auf. Aus dem offensichtlichen Fehlen einer »Gebrauchsanweisung für das Raumschiff Erde« folgerte Buckminster Fuller 1963, es gäbe keine separate Crew, sondern »wir alle seien Astronauten«. Das konnte auch als Aufforderung zum Erforschen und kollektiven Erlernen eines adaptierten Umgangs mit dem »Lebenserhaltungssystem« Erde interpretiert werden. Zugleich wurde immer wieder der Ruf nach einem globalen und damit auch zentralisierten »Stewardship« des Planeten formuliert – dies sei notwendig, um den drohenden Untergang abzuwenden. Angesichts der globalen und menschheitsgefährdenden Dimension könne die ökologische Krise nur auf globaler Ebene und durch internationale Institutionen gelöst werden. Ansätze hierfür finden sich seit den 1970er Jahren und verstärkt seit den 1990er Jahren sowohl auf der Ebene der wissenschaftlichen Wissensproduktion als auch jener der politischen Steuerung. Der konflikthafte ›Aufstieg‹ der internationalen Umweltpolitik lässt sich entlang von Kristallisationspunkten wie der UN-Umweltkonferenz 1972 in Stockholm oder der UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro nachzeichnen. Das aus heutiger Sicht inzwischen offensichtliche, weitgehende Scheitern der hier geschaffenen Institutionen und Regelwerke gemessen an ihren selbstgesteckten Zielen im Kampf gegen den Klimawandel wurde immer wieder als Frage der (in-)effizienten Steuerung diskutiert. Eine solche Interpretation suggeriert, dass es bei internationaler Klimaund Umweltpolitik vorrangig darum geht, im Sinne eines abstrakten Allgemeinwohls das Raumschiff Erde zu retten. Ausgeblendet wird dabei, dass darin – trotz des wachsenden Drucks zur kooperativen Bearbeitung grenzüberschreitender Umweltprobleme – immer auch sehr konkrete Interessen eingelagert sind. Mit Umweltpolitik wurde immer auch Geopolitik betrieben (vgl. Wissen 2010). So wurde durch die Institutionen der internationalen Umweltpolitik weniger der Klimawandel gebremst als vor allem erfolgreich das
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Betriebssystem des Raumschiffs neuprogrammiert: Durchgesetzt wurde ein managerieller Zugriff auf die globalen Ressourcen (Goldman 1998) (→ Umweltmanagement, → Klimagovernance).
Astronautenperspektive und globale Wissensproduktion Globales Umweltmanagement setzt ein Denken in planetarischen Kategorien und eine entsprechende globale Wissensbasis voraus – eine Perspektive, die erst geschaffen werden musste. Die mit Beginn der Raumfahrt von Astronauten übermittelten Weltraumbilder erzeugten einen Überblickseffekt, mit dem die Erde als ein im Weltall schwebender »blauer Planet« erschien und erst jetzt in seiner Ganzheit wahrnehmbar und damit in planetarischen Kategorien vorstellbar wurde. Dieses Bild wurde schnell zum Symbol für Umwelt- und EineWelt-Initiativen. Zugleich lenkte die Metapher »Raumschiff Erde« den Blick auf die Fragilität des Planeten und auf dessen spezifischen lebenserhaltenden Grundfunktionen, die kontrolliert, geschützt und verbessert werden sollten (vgl. Höhler 2006; 2015). Die »Rettung des Planeten« wurde fortan entscheidend aus einer Astronautenperspektive heraus konzipiert (vgl. Sachs 1997), wobei die gesamte biophysische Ausstattung der Erde zum Objekt globalen Umweltmanagements wurde. Gestützt durch technologische Entwicklungen in den Bereichen Messtechnik, satellitengestützter Fernerkundung, Datenbanken und Modellierung galt es, diese Funktionen zu inventarisieren, zu klassifizieren und zu analysieren, um eine Wissensbasis sowie entsprechende wissensverarbeitende Institutionen im globalen Maßstab zu schaffen. Gerade der globale Klimawandel ist ein Phänomen, welches durch globales wissenschaftliches Wissen überhaupt erst beschrieben werden konnte. Erst durch satellitengestütze Fernerkundungsdaten und die Berechnungen globaler Zirkulationsmodelle lassen sich die vielfältigen hochvariablen Wettererfahrungen zur Diagnose »globaler Klimawandel« verdichten (→ Klimawissenschaft, → Inwertsetzung von Natur). Dieses aus der Astronautenperspektive erzeugte Wissen, welches auch in die regelmäßigen Berichte des Weltklimarats einfließt, hat entscheidend die öffentliche Problemwahrnehmung ökologischer Belange geprägt, inklusive seiner implizierten Verkürzungen. Erstens homogenisiert der globale Blick die Mannigfaltigkeit gesellschaftlicher Naturverhältnisse. So kann ein als Pixel dargestelltes Stück Land, welches im Zuge einer Satellitenbildauswertung als degradiert eingestuft wird, für lokale Nutzer_innen vielfältige Funktionen haben. Zweitens impliziert der planetarische Fokus auf die für den Lebenserhalt relevanten biophysikalischen Grundfunktionen die Selektion einer überschaubaren Anzahl von Schlüsselparametern, was potenziell mit einer Ausgrenzung der als unwichtig erachteten Elemente einhergeht. Die konflikthafte soziale Vermittlung vielfältiger konkreter Umgangsformen mit Natur wird dabei aus-
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geblendet. Dies wird aktuell etwa in der Debatte zu Ökosystemdienstleistungen wieder relevant. Drittens geht ein solcher Zugang mit der Privilegierung von westlichem naturwissenschaftlich-technischen Wissen und der dieses Wissen verarbeitenden Institutionen einher. Andere Wissensformen, etwa lokales, erfahrungsbasiertes Wissen und die damit verbundenen Interessen, werden dabei tendenziell delegitimiert.
Rettungsboote und die Grenzen der Tragfähigkeit Angesichts der wahrgenommenen Gefährdung der Menschheit auf dem Raumschiff Erde wurden Fragen nach dessen natürlichen Grenzen immer wieder kontrovers diskutiert: erstens die Rolle absoluter Grenzen der Tragfähigkeit, zweitens das Ausweiten von Grenzen und drittens die Rettung innerhalb der bestehenden Grenzen (→ Planetarische Grenzen). Auf die globalen »Grenzen des Wachstums« (Meadows et al. 1972) hinsichtlich Bevölkerungsentwicklung und Ressourcenverbrauch verwies der Bericht des Club of Rome und setzte damit Impulse für die Umweltpolitik und Umweltbewegungen. In stärker neo-malthusianisch ausgelegten Varianten wurde mit der Metapher einer »Bevölkerungsexplosion« (Ehrlich 1968) die Hauptursache für die Tragfähigkeitsprobleme identifiziert und das inklusive Bild von »alle in einem Boot« vorschoben zum exklusiven Bild des »Rettungsboots«: Das Rettungsboot kann im Interesse des Überlebens nur eine tragbare Anzahl von Spezies an Bord zulassen. Dieses Bild appelliert an darwinistische Selektionsideen, nach denen etwa Hilfsprogramme für die ärmeren Länder der Welt keinen Sinn machen (Hardin 1974; vgl. Höhler 2006). Wenngleich neo-malthusianische Deutungen heute seltener in dieser extremen Form auftauchen, spielt die Figur von Bevölkerungswachstum als Tragfähigkeitsproblem nach wie vor eine wichtige Rolle in repräsentativen Darstellungen zu Ressourcenverknappung und Klimawandel. Auch in der aktuellen Debatte um Planetarische Grenzen wird hieran angeknüpft (→ Planetarische Grenzen). Insgesamt betont der Verweis auf »natürliche Grenzen« zwar die physisch-materiellen Bedingungen von Gesellschaft, transportiert jedoch oftmals problematische »Grenzregime« und vernachlässigt in der Regel, dass Grenzen auch sozial vermittelt werden, wobei unterschiedliche Naturverhältnisse und historisch entstandene Ungleichverteilungen unberücksichtigt bleiben (vgl. Dietz/Wissen 2009; Höhler 2006). Ein Raumschiff steht aber nicht nur für regressive Grenzen, sondern auch für Grenzverschiebungen (new frontiers). Es steht für technologische Machbarkeit und die Eroberung bisher unbekannter Räume. Und auch die ganz reale Frage des (Über-)Lebens auf fremden Planeten ist nicht nur eine beliebte Figur in Science Fiction-Produktionen, sondern war immer wieder Gegenstand großer Forschungsprogramme. Die bisherigen Ansätze der Ausweitung von
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ökologischen Grenzen basieren jedoch alle auf einem profunden Glauben an technologische Machbarkeit und reproduzieren Phantasien der vollständigen Beherrschbarkeit von Natur, wobei die damit verbundenen Effekte misslingender Kontrolle ausgeblendet werden. Angesichts zunehmender ökologischer Risiken und unwirtlicher Umstände wurden immer wieder ›Einkapselungspraktiken‹ oder Ersatzplaneten auf dem Raumschiff Erde selbst entwickelt. Dabei wurden auf begrenzten Territorien ökologisch intakte, meist private Refugien erschaffen, auf denen für privilegierte Bevölkerungsgruppen das Überleben, bzw. eine in ökologischer Hinsicht höhere Lebensqualität gesichert werden sollte. Frühe Versuche, eine ›Ersatzerde auf der Erde‹ zu schaffen, gelten als gescheitert, wie etwa das Projekt Biosphere 2. Hierfür ließ der amerikanische Milliardär Edward Bass in der Wüste von Arizona unter Glaskuppeln eine autarke Miniaturversion des Ökosystems der Erde nachbauen, in dem acht Menschen ab 1991 für zwei Jahre lebten (vgl. Höhler 2006). Im Kontext der aktuellen Klimaanpassungspolitik könnten viele der finanziell und technologisch aufwendigen Pilotprojekte für ressourceneffiziente sogenannte smarte Städte, Stadtteile, gated communities oder einzelne Gebäude in erster Linie eine solche ›Archen‹-Funktion erfüllen (→ Smart Cities). Im Gedanken der Arche bzw. des Rettungsbootes taucht wiederum der abstrakte Gedanke des »Überlebens der Menschheit« auf, es werden jedoch nicht mehr ›alle‹ ins Boot geholt, sondern nur das Überleben von als relevant erachteten reproduktionsfähigen Spezies wird gesichert. Eine Verbesserung der Lebensbedingungen aller Menschen ist damit nicht mehr im Blick. Womit Fragen nach einem guten Leben für alle und einer profunden sozial-ökologischen Transformation gar nicht erst gestellt werden müssen. Die Brisanz der Raumschiff-Metapher ergibt sich daraus, dass mit ihr zwar immer wieder plausibel und erfolgreich auf die Bedeutung ökologischer Belange hingewiesen werden konnte, dabei aber die Bearbeitung von globalen Umweltproblemen in Richtungen kanalisiert wurde, die problematische soziale Nebeneffekte haben. Stattdessen bräuchte es eine Verständigung über die grundlegenden Bedingungen einer Demokratisierung gesellschaftlicher Naturverhältnisse.
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Raumschiff Erde
Buckminster Fuller, Richard (1973 [1968]): Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde und andere Schriften. Reinbek: Rowohlt. Crutzen, Paul/Davis, Mike/Mastrandrea, Michael D. (2011): Das Raumschiff Erde hat keinen Notausgang. Energie und Politik im Anthropozän. Berlin: Suhrkamp. Dietz, Kristina (2011): Der Klimawandel als Demokratiefrage. Sozial-ökologische und politische Dimensionen von Vulnerabilität in Nicaragua und Tansania. Münster: Westfälisches Dampf boot. Dietz, Kristina/Wissen, Markus (2009): Kapitalismus und »natürliche Grenzen«. Eine kritische Diskussion ökomarxistischer Zugänge zur ökologischen Krise. In: Prokla 39(3): 351-369. Ehrlich, Paul R. (1968): The Population Bomb. New York: Bullantine. Goldman, Michael (1998): Allmacht und Allmende. Die Commons-Debatte und der Aufstieg der globalen Ressourcenmanager. In: Flitner, Michael/ Görg, Christoph/Heins, Volker (Hg.): Konfliktfeld Natur. Biologische Ressourcen und globale Politik. Opladen: Leske + Budrich: 87-119. Hardin, Garrett (1974): Lifeboat Ethics: The Case Against Helping the Poor. In: Psychology Today 8(4): 38-42. Höhler, Sabine (2006): Raumschiff Erde. Eine mythische Figur des Umweltzeitalters. In: Höhler, Sabine/Luks, Fred (Hg.): Beam us up, Boulding! 40 Jahre »Raumschiff Erde«. Hamburg: Vereinigung für Ökologische Ökonomie: 43-52. Höhler, Sabine (2015): Spaceship Earth in the Environmental Age, 1960-1990. London: Pickering & Chatto. Jahn, Thomas/Hummel, Diana/Schramm, Engelbert (2015): Nachhaltige Wissenschaft im Anthropozän. In: Gaia 24(2): 92-95. Meadows, Donella H./Meadows, Dennis/Randers, Jorgen/Behrens, William W. (1972): The Limits to Growth. New York: Universe Books. Sachs, Wolfgang (1997): Sustainable Development. Zur politischen Anatomie eines internationalen Leitbilds. In: Brand, Karl-Werner (Hg.): Nachhaltige Entwicklung: Eine Herausforderung für die Soziologie. Opladen: Leske + Budrich: 93-110. Swyngedouw, Erik (2010): Apocalypse Forever? Post-political Populism and the Spectre of Climate Change. In: Theory Culture & Society 27(2/3): 213-232. Wissen, Markus (2010): Klimawandel, Geopolitik und »imperiale Lebensweise«. Das Scheitern von Kopenhagen und die strukturelle Überforderung internationaler Umweltpolitik. In: Kurswechsel 2: 30-38.
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REDD+ Jutta Kill REDD+ (Verringerung von Emissionen aus Entwaldung und Waldschädigung), das zentrale Instrument internationaler Klimapolitik, liefert weder einen Beitrag zum Waldschutz noch zum Klimaschutz. Es schiebt die Verantwortung für Treibhausgasemissionen aus Waldzerstörung auf Kleinbauern im Globalen Süden und lässt die Ursachen für großflächige Waldvernichtung, insbesondere industrielle Landwirtschaft, unberührt.
REDD+ in der öffentlichen und politischen Debatte Die ursprüngliche Abkürzung RED steht für den im Rahmen der UN-Klimaverhandlungen diskutierten Ansatz zur Reduktion von Emissionen aus Waldzerstörung, im Englischen reducing emissions from deforestation in developing countries (UNFCCC 2007: 2). Der 2005 von zehn Staaten, der Coalition for Rainforest Nations, vorgeschlagene Ansatz zum gleichzeitigen Schutz von Wald und Klima wurde auf der 13. Vertragsstaatenkonferenz (COP13) der UN-Klimarahmenkonvention 2007 in Bali, Indonesien, um ein zweites D (Emissionen aus Degradierung von Wald) erweitert; ein Jahr später wurden auch Maßnahmen zum Schutz und zur nachhaltigen Bewirtschaftung von Wald sowie Aufforstungen in den Ansatz aufgenommen. Seitdem wird das Kürzel REDD+ verwendet, seit 2013 zunehmend synonym mit dem Begriff landscape REDD, für REDD auf Landschaftsebene. Hierbei soll die Reduktion von Emissionen aus der Landwirtschaft mit Waldschutz verbunden werden (CIFOR 2013). Ziel von REDD+ ist es, mittels finanzieller Anreize den Verlust von tropischen Wäldern und damit die durch Waldzerstörung verursachten Treibhausgasemissionen zu verringern. Nur wer nachweisen kann, wie viel Tonnen CO2 eingespart wurden, und dass die Reduktion der Emissionen ohne die REDDMaßnahme nicht stattgefunden hätte, soll unter REDD+ finanzielle Unterstützung erhalten. Im Englischen wird deshalb auch der Begriff results-based payment verwendet: REDD-Zahlungen werden erst geleistet, nachdem der Nachweis der Emissionsreduktion erbracht wurde.
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Potenzielle Emissionsreduktionen buchhalterisch berechnen und global vermarkten Die Studie »The Economics of Climate Change« des britischen Ökonomen Nicholas Stern (Stern 2007) spielte eine zentrale Rolle in der Entwicklung des marktbasierten Ansatzes von REDD+. Ausgehend von der Berechnung von Opportunitätskosten (→ ökonomische Bewertung von Natur) schätzt der Bericht, dass sich die Kosten für eine Halbierung der Emissionen aus Waldverlust bis zum Jahr 2030 auf 17 bis 33 Milliarden US-Dollar jährlich belaufen. Grieg-Gran geht in seiner Vorstudie für den Stern-Bericht von wenigstens 5 bis 10 Milliarden US-Dollar jährlich aus, die notwendig wären, um Emissionen durch Zerstörung von Tropenwäldern deutlich zu reduzieren (Grieg-Gran 2006). Dyer und Counsell beschreiben, wie die vom Unternehmensberater McKinsey ebenfalls auf der Basis von Opportunitätskosten erstellten »Kostenkurven« den im Stern Review bereits angelegten – falschen – Eindruck bestärken, dass (1) Kosten für REDD+ im Vergleich zu Emissionsreduktionen in anderen Sektoren sehr niedrig sind, (2) diese Reduktionen kurzfristig realisierbar sind und (3) Maßnahmen, die Wanderfeldbau (slash-and-burn agriculture) einschränken, besonders hohes Einsparpotential haben (Dyer/Counsell 2010). Die Veröffentlichung von McKinsey ging von zwei Gigatonnen kohlenstoffäquivalenter Emissionen (CO2e) als globalem Einsparungspotential für einen Preis von weniger als zwei Euro pro Tonne CO2e aus (McKinsey 2009: 120). Während diese Studien einerseits den Eindruck von REDD als »Schnäppchen« gerierten, mit dem schnell und billig Emissionen reduziert werden können, legten sie andererseits nahe, dass öffentliche Mittel allein für die notwendige Finanzierung – obwohl niedriger als in anderen Sektoren – nicht ausreichen würden. Investitionsmöglichkeiten für den Privatsektor zu konzipieren wurde somit zum zentralen Argument für marktbasierte Ansätze bei der Finanzierung von REDD+. Trotz jahrelanger Verhandlungen blieb bis zur UN-Klimakonferenz im Dezember 2015 in Paris (COP 21) weiterhin strittig, wie REDD-Maßnahmen langfristig finanziert werden. Zur Debatte stehen eine Finanzierung aus öffentlichen Geldern, insbesondere durch die Industrieländer (→ Klimagerechtigkeit) oder über den Handel mit Emissionsgutschriften. Der 2013 auf der UN-Klimakonferenz in Polen verabschiedete Warschau Accord spricht von marktbasierten und nicht-marktbasierten Ansätzen. Das Abkommen eröffnet auch die Möglichkeit einer Finanzierung von REDD+ über den Green Climate Fund (vgl. Pistorius 2012) (→ Green Climate Fund). Klar ist: Gezahlt werden soll langfristig nur, wenn ein Land nachweisen kann, dass Emissionen tatsächlich verhindert wurden. Viele Industrieländer argumentieren auch, dass REDD-Gutschriften nicht unbedingt handelbar sein müssten, sondern lediglich als Nachweis für die erbrachte Reduktion die-
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nen könnten. In diesem Fall bleibt jedoch offen, wie private Investoren in die Finanzierung des Waldschutzes einbezogen werden könnten – wurde doch zu Beginn der REDD-Debatte postuliert, dass öffentliche Gelder allein nicht ausreichen, um REDD+ zu finanzieren. Sind die Gutschriften jedoch handelbar, oder ist eine Anrechnung ganz oder teilweise auf eigene Pflichten zur Emissionsminderung zulässig, so können Industrieländer und auch Unternehmen, die REDD-Gutschriften in Entwicklungsländern erwerben, weniger Klimaschutz betreiben. Einsparungen infolge des Waldschutzes würden unter REDD+ anderswo zusätzliche Emissionen aus fossilen Brennstoffen erlauben, die das Klima auf Jahrhunderte beeinflussen. Offene Fragen bleiben: Für welchen Zeitraum muss der Wald erhalten und der Kohlenstoff darin gebunden bleiben? Was passiert, wenn der Wald irgendwann doch gerodet wird? Sind Nachweise über solch lange Zeiträume und in die Zukunft hinein möglich? Trotz fehlender Einigung über den Finanzierungsmodus auf UN-Ebene finanzieren Länder wie Norwegen, Deutschland, Großbritannien, die USA und Australien sowie die Weltbank das UN-Umweltprogramm UNEP und die UN Food and Agriculture Organisation (FAO), internationale Naturschutzorganisationen wie WWF, The Nature Conservancy, Conservation International seit Jahren nahezu ausschließlich Pilotinitiativen mit Hinblick auf REDD+ als marktbasiertem Instrument. Investitionen in den Carbon Fund der Forest Carbon Partnership Facility (FCPF), einer Initiative der Weltbank, sollen etwa in Form von Emissionsgutschriften aus REDD-Programmen abgegolten werden (IBRD 2010: 18). Hierzu will der Carbon Fund bis Ende 2015 Verträge über den Kauf von Emissionsgutschriften aus REDD-Programmen in vier bis fünf ausgewählten Ländern abschließen. Zu den Kandidaten gehören die Demokratische Republik Kongo, Guyana, Mexiko, Nepal und Costa Rica. Bereits 2007 erklärte die Weltbank in einer Pressemitteilung, das Ziel der FCPF sei der Auf bau eines Marktes für Emissionsgutschriften aus Waldprojekten (Weltbank 2007). Pavan Sukhdev, führender Autor der einflussreichen TEEB-Studie (The Economics of Ecosystems and Biodiversity), (→ Inwertsetzung von Natur) und ebenfalls ein Verfechter von REDD+ als marktbasiertes Instrument, präzisierte die Erwartung in einem Interview im Oktober 2014: »What we want at the end of the day is a terrestrial carbon market place.«1 Auch Consulting-Firmen beteiligen sich an der Vorbereitung von REDD+ als marktbasiertem Instrument, indem sie Methoden erarbeiten, mit denen der Kohlenstoffgehalt in den komplexen Waldökosystemen berechnet werden soll oder sie entwerfen Zertifizierungsverfahren, die eine besondere Umweltund Sozialverträglichkeit von Emissionsgutschriften aus REDD-Programmen bescheinigen. Oder sie agieren als Mittler zwischen Konzernen, die einen Teil 1 | CIFOR Interview, Jacob Phelps and Pavan Sukhdev on green growth in Southeast Asia. Forests Asia 2014 Conference. www.youtube.com/watch?t=959&v=a_0Knt5iHqY
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ihrer Emissionen kompensieren wollen, und Anbietern von REDD-Projekten, die Emissionsgutschriften am bereits existierenden freiwilligen Markt mit Gutschriften aus Waldschutz zum Verkauf anbieten. Auf diese Weise können etwa Energiekonzerne klimaneutrales Erdgas oder Reiseunternehmen klimaneutrale Flugreisen anbieten und gleichzeitig damit werben, dass sie Waldvölker unterstützen (→ Klimaneutralität).
REDD+ und der Mythos vom Wanderfeldbau als Hauptursache von Entwaldung 1985 stellten FAO und Weltbank das erste internationale Programm zum Schutz der Tropenwälder vor, den Tropical Forestry Action Plan (TFAP). Die Initiative scheiterte zehn Jahre später und die Waldzerstörung schritt ungebremst voran. Lohmann und Colchester legen in ihrer Analyse der Initiative dar, warum TFAP der Waldzerstörung keinen Einhalt gebot: Der Aktionsplan versäumte es, viele der Hauptursachen von Tropenwaldzerstörung wie industriellen Holzeinschlag, kommerzielle Baumplantagen, ungleiche Landverteilung, internationale Investitionen und ungerechte nationale Landnutzungspolitiken zu benennen. Darüber hinaus war TFAP »voreingenommen gegenüber einfachen Leuten aus ländlichen Regionen in der Dritten Welt, und machte sie fälschlicherweise für die Waldkrise verantwortlich« (Lohmann/Colchester 1990: 91, Übers. JK). Ersetzt man das Kürzel TFAP durch REDD+, liefert die Analyse von Lohmann und Colchester eine weitgehend treffende Beschreibung der strukturellen Schwächen von REDD+. Trotz der umfangreich dokumentierten Komplexität und der multiplen Ursachen von Waldzerstörung bestärkt REDD+ sowohl im Diskurs als auch in der Praxis den Mythos vom Wanderfeldbau (»Brandrodung«) als Hauptursache von Entwaldung. Ausgeblendet werden dabei der Kontext der Vertreibung der Waldbevölkerung von ihren traditionellen Territorien und Waldzerstörung durch illegalen Holzeinschlag, die großflächige Rodung für exportorientierte Viehzucht, die industrielle Landwirtschaft und Infrastrukturmaßnahmen wie Megastaudämme. Eine vielzitierte Studie von Hosonuma et al. (2012) beschreibt die Entwaldung in 46 tropischen und subtropischen Ländern und zeigt, dass in diesen Ländern kommerzielle Landwirtschaft mit 40 % die bedeutendste Ursache von Waldzerstörung darstellt und industrieller Holzeinschlag für 52 % der Degradierung von Wäldern verantwortlich ist. Geist und Lambin belegen bereits 2002 mit ihrer Studie, dass »entgegen der weitverbreiteten Meinung Untersuchungen von Fallbeispielen [zeigen,] dass Wanderfeldbau nicht die primäre Ursache von Waldzerstörung ist« (Geist/Lambin 2002: S. 146, Übers. JK). Auch die exzessiven Emissionen aus Verbrennung fossiler Brennstoffe in Industrieländern blendet REDD+ als Ursache für Klimawandel weitgehend aus, denn REDD+ lenkt das Augenmerk auf die Waldzerstörung im Globalen
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Süden. Als deren Ursache werden dabei nicht die Produktions- und Konsumzwänge eines kapitalistischen Wirtschaftssystems, sondern die Waldnutzung für Subsistenzwirtschaft von Kleinbauern und Waldvölkern identifiziert. Eine Studie des World Rainforest Movement (WRM 2015) dokumentiert anhand von 24 REDD-Beispielen, wie REDD+ in der Praxis systematisch die Landnutzung von Kleinbauern und Waldvölkern als Ursache von globaler Entwaldung darstellt und die Landnutzung der traditionellen Waldbevölkerung einschränkt, während großflächige Waldzerstörung für exportorientierte Viehzucht, industrielle Landwirtschaft, Soja- oder Palmölplantagen, Infrastruktur oder industriellen Holzeinschlag nicht Ziel von REDD-Maßnahmen sind und im REDDDiskurs oft unerwähnt bleiben. Auch internationale Naturschutzorganisationen bedienen im REDD-Diskurs den Mythos vom Kleinbauern als Waldzerstörer, während sie gleichzeitig REDD-Initiativen transnationaler Konzerne wie Cargill, Wilmar, Unilever oder Chevron unterstützen, deren Verantwortung für großflächige Waldzerstörung jedoch unerwähnt lassen. So schreibt Conservation International 2008 in einer Werbekampagne mit dem Schauspieler Harrison Ford »Wenn Brandrodung im Regenwald betrieben wird, betrifft das uns alle« (CI-Werbeplakat Lost There, Felt Here, Übers. JK) und suggeriert, dass die Hauptursache für die Zerstörung von Tropenwäldern der Wanderfeldbau von Kleinbauern sei. So ist es wenig verwunderlich, dass REDD+ von Beginn an auch auf Widerstand stieß, insbesondere dort, wo die Umsetzung von REDD-Projekten die traditionelle Nutzung von Waldvölkern, die über Generationen Wald bewahrt hatten, einschränkte. Die Beiträge des Online-Portals REDD-Monitor (s.u.) dokumentieren diesen Widerstand gegen eine Vielzahl von REDD-Projekten, die ohne Zustimmung der lokalen Bevölkerung umgesetzt wurden, oder wo die Zustimmung mit leeren Versprechungen erschlichen wurde. Im Dezember 2014 befasste sich in Lima, Peru, das International Rights of Nature Tribunal mit REDD+ als falschem Lösungsansatz in der Klimapolitik, der Landraub, Vertreibungen und Menschenrechtsverletzungen verursacht hat. Initiativen von Indigenen wie No REDD in Africa Network geben diesem Widerstand auch in den UN-Klimaverhandlungen eine Stimme. Mehr als 100 Organisationen und soziale Bewegungen unterzeichneten im Vorfeld der UN-Klimakonferenz in Lima, Peru, 2014 den »Aktionsaufruf gegen REDD+ und Ökosystemleistungen«.2
2 | Aktionsaufruf »To reject REDD+ and extractive industries to confront capitalism and defend life and territories«. http://wrm.org.uy/actions-and-campaigns/to-reject-reddand-extractive-industries-to-confront-capitalism-and-defend-life-and-territories (01.09. 2015)
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Weblinks Kritische Begleitung der REDD+ Debatte, aktuelle Informationen zu REDD+ Projekten und REDD+ in den UN-Klimaverhandlungen: www.redd-monitor.org World Rainforest Movement: Kritische Analyse von REDD+ als Instrument der Klimapolitik, Berichte über Auswirkungen spezifischer REDD-Projekte auf Waldvölker und Kleinbauern. http://wrm.org.uy/browse-by-subject/ mercantilization-of-nature/redd Public Political Ecology Lab: Literatur über REDD+ Projekte in Chiapas, Mexiko. http://ppel.arizona.edu/?cat=29 REDD+ Taskforce Secretariat Office, Cambodia: The Road from Bali to Warsaw: Collection of COP Decisions on REDD+. Cambodia, 2014 www.cambodia-redd.org/wp-content/uploads/2014/05/F8-COP-Decisions-forWeb.pdf
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Resilienz Sabine Höhler Resilienz bedeutet Flexibilität, Widerstandsfähigkeit und Anpassungsvermögen. In der Debatte um globale Klima- und Umweltveränderungen erlaubt es das Konzept der Resilienz, soziale, technische und ökologische Katastrophen nicht als vermeidbare gesellschaftliche Probleme aufzufassen, sondern als Chancen, als Generatoren des sozial-ökologischen Wandels umzudeuten.
An Krisen wachsen Resilienz bezeichnet das Vermögen von Menschen, sozialen Systemen, Infrastruktur- sowie Ökosystemen, flexibel auf Krisen und Störungen zu reagieren und katastrophische Ereignisse durch Entwicklung und Anpassung zu bewältigen. Das lateinische Wort resilire bedeutet federn, abprallen, zurückspringen. Der Begriff wurde zuerst in der Mechanik des 19. Jahrhunderts verwendet (ein Teilgebiet der Physik über die Lehre der Bewegung von Körpern und den dabei wirkenden Kräften), wo er die Elastizität eines Materialstücks bemaß, bevor es sich plastisch verformte und schließlich zerriss. Mitte des 20. Jahrhunderts wanderte Resilienz in die Psychologie. Hier beschrieb der Begriff die außergewöhnliche Fähigkeit mancher Menschen, psychotraumatischen Stress und Erschütterungen wie Naturkatastrophen, Kriegs- und Gewalterfahrungen ›abzufedern‹ bzw. ohne bleibende Schäden zu absorbieren. In den 1970er Jahren tauchte Resilienz in der Ökologie auf, wo der Begriff die Anpassungsfähigkeit eines Ökosystems an innere und äußere Stressoren und anthropogene Störungen durch toxische Materialien oder radioaktive Strahlung bezeichnete. Seit den 1990er Jahren expandiert Resilienz in alle erdenklichen gesellschaftlichen Felder und wurde zu einem Alltagsbegriff einer auf Optimierung getrimmten Gesellschaft, der die Fähigkeit bezeichnet, sich von akuten Stresssituationen nicht nur zu erholen, sondern Anpassungsstrategien auszubilden. Resilienz ist Leistung und Gebot zugleich, Widrigkeiten als Herausforderungen anzunehmen und an Krisen zu wachsen. Von makroökonomischer bis zu
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akademischer Resilienz, von der resilienten Stadt bis zur resilienten Ehe, betont der Begriff inzwischen weniger die Reversibilität, d.h. die elastische Rückkehr in einen ursprünglichen Gleichgewichtszustand, als den kreativen dynamischen Wandel. Statt nach einem katastrophischen Ereignis dem linearen Ideal der Erholung und Restabilisierung zu folgen, sollen sich der resiliente Mensch und das resiliente System reorganisieren und in neue stabile Konfigurationen übergehen. In der letzten Dekade stieg Resilienz zu einem Schlüsselbegriff in der Klimafolgenforschung auf (→ Klimaanpassung). Hier verspricht Resilienz einen neuen Umgang mit dem wachsenden Druck globaler Umweltveränderungen auf soziale, technische und ökologische Systeme. Neu ist vor allem der Gedanke, dass gegenwärtige und zukünftig vermehrt zu erwartende klimawandelinduzierte Katastrophen wie Überschwemmungen, Orkane, Dürren und Brände nicht mehr zu vermeiden, sondern zu verkraften seien. Im Resilienzdiskurs geht es nicht in erster Linie darum, die Klimakatastrophe (→ Klimakatastrophe) abzuwenden, sondern darum, sie zu überstehen und gestärkt aus ihr hervorzugehen. Resilienz bietet somit einen attraktiven Gegenentwurf zum Konzept der Vulnerabilität (→ Klimavulnerabilität). Sie legt das Augenmerk nicht auf die Verletzlichkeit sozialer, technischer und ökologischer Systeme, sondern auf deren Anpassungsvermögen, Lernfähigkeit und Fähigkeit zur Selbstoptimierung. Resilienz begründet ein Evolutionsmodell, das den Kollaps antizipiert, ihn gleichsam zum Motor der sozial-ökologischen Transformation (→ sozial-ökologische Transformation) macht.
Multistabilität in unsicheren Umwelten Wohl kaum eine andere Institution steht beispielhafter für die aktuelle Konjunktur der Resilienz in der Global Change Forschung als das Stockholm Resilience Centre (SRC). Das SRC wurde 2007 mit der Mission gegründet, die transdisziplinäre Forschung zum Management sozial-ökologischer Systeme voranzutreiben (→ Klima-Governance). Resilienz wurde in diesem Zusammenhang zunächst in allgemeiner Weise formuliert als die Fähigkeit, mit Veränderungen umzugehen und trotz Veränderungen Handlungsspielräume und Entwicklungsmöglichkeiten zu erhalten. Konkret geht es dem SRC um das ehrgeizige Programm, innovativere und produktivere sozial-ökologische Systeme zu gestalten, die auch mit nicht antizipierten, willkürlichen und diskontinuierlichen Veränderungen umgehen können. Resiliente sozial-ökologische Systeme, so die Vision, werden trotz ihrer zunehmenden Komplexität und Anfälligkeit lokale und globale Krisen abfedern und sie in nachhaltigere sozialökologische Lösungen transformieren können. Diese anvisierte systemische Überlebensfähigkeit ist nicht allen Menschen intrinsisch und allen Systemen integral. Die Resilienzforschung geht der Fra-
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ge nach, wie der Mensch vermitteln und eingreifen kann, um Systeme auf ihren gewünschten Zustand hin zu entwickeln. Neben den Selbstheilungskräften der Natur, wie sie im resilienten Ökosystem aufgerufen werden, treten neue Praktiken des adaptive management von Gesellschaften und des resilient engineering soziotechnischer Systeme. Diese Praktiken und Techniken sind nicht präventiv oder nachsorgend im Sinne des traditionellen Umwelt- und Zivilschutzes (vgl. Purtschert et al. 2008). Die Maßnahmen sollen vielmehr die Ermöglichungsbedingungen dafür schaffen, dass sozial-ökologische Systeme eine Katastrophe in Konfigurationen überleben, die für den Menschen wünschenswert sind. Der schwedische Systemökologe Carl Folke, Mitbegründer des SRC und dessen erster Direktor, und seine Kollegen, beschrieben diese neue Sichtweise im Jahre 2004 als »Wandel vom bestehenden Paradigma der Betriebsablaufsteuerung für die stabilisierte ›optimale‹ Produktion hin zu einem Paradigma des Resilienzmanagements in unsicheren Umwelten, mit dem Ziel, wesentliche Ökosystemdienstleistungen zu erhalten« (Folke et al. 2004: 558). Folke und Kollegen sprechen hier zwei zentrale Prinzipien der Resilienz an, wie sie zuerst in der Systemökologie der 1970er Jahre formuliert wurden. Zum ersten zielt Resilienz nicht auf die Stabilität eines Systems ab. Im Jahre 1973 bezeichnete der kanadische Ökologe Crawford Stanley Holling Resilienz als das Maß der Persistenz des Systems, also der Fähigkeit, akute und willkürliche Störungen zu absorbieren und dennoch dieselben Beziehungen zwischen den Zustandsvariablen aufrecht zu erhalten (Holling 1973: 14, 17). Hollings Begriff der Resilienz umfasste auch plötzliche Veränderungen wie sie zum Beispiel in der Populationsdynamik auftraten: beim Kollaps von Fischbeständen, bei der explosiven Vermehrung von Algen oder beim Ausbruch eines Virus. Danach konnten Ökosysteme stark fluktuieren, also wenig stabil sein, und sich dennoch als resilient bzw. überlebensfähig erweisen. Ökosysteme konnten Lernprozesse des systematischen Ausprobierens (»trial-and-error learning«) durchlaufen und von ihrem Versagen sogar profitieren (»survive and benefit from ›failures‹«) (Holling 1978: 104f., Übers. SH). Resiliente Systeme wollen ohne den steady state, das Fließgleichgewicht, und ohne die Vorstellung absoluter Systemgrenzen und maximaler ökologischer Tragfähigkeit auskommen. Im Jahr 2008 formulierte der Münchner Ökologe Josef Reichholf seine provokanten Thesen gegen die nach wie vor anzutreffende Sehnsucht der Menschen nach Balance und Harmonie in Natur und Umwelt. Eine solche Sehnsucht konserviere eine statische Weltsicht, die dauerhaft zur Erstarrung und zum Tod allen Lebens führe. In seiner »Ökologie der Zukunft« warb Reichholf für »stabile Ungleichgewichte« als Triebfedern der natürlichen, sozialen und technischen Evolution (Reichholf 2008). Ungleichgewichte dienen ihm als die Gefälle, die Veränderungen erst anstoßen und Systemverläufe nach einem Verfahren von Versuch und Irrtum gestalten.
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Zugespitzt formuliert hält das Versagen selbst den kreativen Lern- und Performanceprozess in Gang. Neben der Persistenz bzw. Multistabilität ist das zweite zentrale Prinzip der Resilienz das Wissen um Nichtwissen. Art, Ort und Zeitpunkt der Katastrophe bzw. des erwarteten Versagens bleiben unbestimmt. Um die Systemfunktionalität zu wahren, entwerfen sich resiliente Systeme stattdessen als permanent in Bereitschaft stehend, so Hollings Vision der frühen 1970er Jahre: »Das Rahmenwerk der Resilienz kann diesen Perspektivwechsel vollziehen, denn es benötigt die Fähigkeit nicht, die Zukunft präzise vorherzusagen, sondern allein die qualitative Fähigkeit, Systeme zu entwerfen, die zukünftige Ereignisse absorbieren und bewältigen können – ganz gleich, welche unerwartete Form sie annehmen.« (Holling 1973: 21, Übers. SH) Resilienz entsagt der Vorstellung einer deterministischen, vorhersagbaren oder ›naturgesetzlichen‹ Ereigniskette (→ Wissensunsicherheit). Das nicht-lineare dynamische Resilienzmodell rückt die systementscheidenden Schwellen (tipping points) in den Fokus von Forschung und Politik. Physikalisch bezeichnen solche Umschlagpunkte die Momente, an denen ein System von einem Zustand des stabilen Gleichgewichts in einen qualitativ neuen Gleichgewichtszustand kippt. In den Gesellschaftswissenschaften bezeichnet die Schwelle den Moment, an dem der Impuls, die Dynamik von Veränderungen unauf haltsam wird. Das bekannteste aktuelle Beispiel dürfte das drohende Überschießen des Zwei-Grad-Ziels in der Debatte um die globale Klimaerwärmung sein. Dabei ist die willkürlich gewählte globale Temperaturerhöhung von zwei Grad Celsius, die als kritische Schwelle diskutiert wird, kein Umschlagpunkt, sondern eine politische Marke, jenseits derer mögliche unkontrollierbare Umschlagphänomene bis hin zur Umkehr des Golfstroms antizipiert werden. Die Frage ist längst nicht mehr, ob diese Dynamik rational zu steuern oder durch Effizienzgewinne abzufedern sei. Die Frage ist nun, welche Konsequenzen der erwartete Umschlag zeitigen, welche Funktionen und Dysfunktionalitäten der neue Zustand für den Menschen bereitstellen wird. Der Moment wird sowohl als Katastrophe wie auch als Chance oder als Explosion neuer Möglichkeiten imaginiert.
Belastungsgrenzen und Umschlagpunkte Einerseits führt Resilienz das Projekt der Moderne – inklusive dessen Fortschrittsglauben – geradewegs fort. Die Schwelle, der drohende Umschlagpunkt durch übermäßiges Strapazieren von Mensch und Material, wird beständig als konkrete Belastungsgrenze verstanden, die der Mensch als Manager und als Ingenieur prüft oder in die er technisch eingreift (→ Geoengineering), um seine Umwelt als Infrastruktur, Dienstleistungs- und Lebenserhaltungssystem aufrecht zu halten (→ Raumschiff Erde). Andererseits trägt Resilienz post-
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modernistische Züge, wo sie das lineare modernisierungstheoretische Fortschrittsmodell – und dessen Erweiterung der »Ökologischen Modernisierung« (→ Ökologische Modernisierung) – durch die Vorstellung der spontanen Neuund Selbstorganisation ablöst. Resilienz normalisiert den Umgang mit Krisen und Katastrophen. Die Schwelle wird zum magischen Moment des Umschlags, an dem das System in einen neuen nicht vorhersehbaren Gleichgewichtszustand findet (vgl. Höhler 2014). Ungeachtet der Paradoxie der Resilienz als zugleich modern und postmodern ist ihre zentrale Prämisse zweifelhaft, Problembeschreibungen und anvisierte Lösungen auf naturwissenschaftliche Theorien komplexer Systeme aufbauen und sozial- und geisteswissenschaftliche Perspektiven ausblenden zu können. Die neuen als resilient gepriesenen Systemarchitekturen, die nicht klassische Hierarchien, sondern Dezentralität und größtmögliche Diversität präferieren, sind aus der Kybernetik durchaus vertraut als netzwerkförmige Strukturen, die Teilausfälle kompensieren oder das System nach Totalausfall von unten nach oben neu organisieren sollen. Solche selbstenthaltenden und selbsterhaltenden Systeme sind nicht notwendig demokratisch und gerecht organisiert (→ Partizipation) (vgl. Blum et al. 2014; Hornborg 2013). Vor allem aber beunruhigt die glatte Prämisse, nach der das resiliente System jegliche Krise, Belastung und Veränderung einspeisen und als Antrieb für seine Entwicklung und Perfektionierung nutzen wird. Auch Störungen durch Kritik von außen, wie in diesem Beitrag vorgebracht, werden dem System unverzüglich einverleibt. In diesem systemischen Metabolismus, der jeden Gedanken an Verlust und Scheitern aufzehrt, liegt die eigentliche Problematik des Resilienzkonzeptes. Resilienz verbindet sich nahtlos und weitgehend kritiklos mit einem neo-liberalen Denken und einer Ökonomie, in der Mensch und Natur tolerant, flexibel und anpassungsfähig sind und deren Versagen zum Antrieb ihrer Selbstoptimierung wird (vgl. Walker/Cooper 2011).
Entlastungsstrategien Mindestens vier Implikationen der Grundannahmen des Resilienzkonzeptes bedürfen einer weiteren und breiten kritischen Diskussion: (1) Resilienz ist nicht systembewahrend. Der Grundgedanke des Gegenmodells einer vorbeugenden, schützenden, erhaltenden oder nachsorgenden Politik zieht die Herausforderung nach sich, die »Klimakatastrophe« nicht zu verhindern, sondern zu akzeptieren und als Antrieb der Evolution zu begrüßen. Die Einigung auf eine solche Deutung des globalen Klimawandels droht andere mögliche Formen des Umgangs mit Umweltveränderungen zu verstellen, z.B. einen radikal emissionsreduzierenden Klimaschutz.
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(2) Resilienz verlagert Verantwortung. Die Prämisse der systemischen Selbstoptimierung quartiert die Zuständigkeit für die Krisenbewältigung in die betroffenen menschlichen Subjekte bzw. natürlichen Systeme. Krisenverursacher werden aus ihrer politischen, sozialen und ökonomischen Verantwortung entlassen. Die Aufgabe der Reorganisation bzw. Anpassung liegt nun allein bei den Betroffenen der Folgen des Klimawandels. (3) Resilienz entlastet den Menschen. Die Deutung von Krisen und Katastrophen als Optimierungsstrategie verschafft dem Menschen als Verursacher des globalen Klimawandels Entlastung. Anthropogene Umweltbelastungen lassen sich unter dem Schirm der Resilienz als kreative und notwendige evolutionäre Interventionen rekonzeptualisieren (→ Anthropozän). (4) Resilienz vertraut auf Kontingenz. Das Risikomanagement der Resilienz, sich stets auf das Schlimmste gefasst zu machen, mag als Abkehr von der Moderne begrüßt werden. Die erwarteten kontingenten, potenziell möglichen Mensch-Umwelt-Konstellationen werden freilich nicht allen Menschen in gleicher Weise bekömmlich sein. Obgleich sie sich in neuen Gleichgewichten wähnen, dürften postkatastrophale Systemzustände für erhebliche Teile der Systembewohner_innen noch weit dysfunktionaler sein als der präkatastrophale Zustand. Ein unkritisches Vertrauen in Resilienz droht globale Gerechtigkeitsprobleme noch zu verschärfen. Allen diesen Implikationen liegt zu Grunde, dass Handlungsmöglichkeiten aufgegeben oder ausgelagert wurden. Resilienz wird in systemischen Strukturen lokalisiert, nicht in verantwortlichen Akteuren, die ihre Umwelten in vielfältiger und oft widersprüchlicher Weise gestalten und verändern. Für soziale Ungleichheiten, Interessenkonflikte und Machtverhältnisse lässt das resiliente System keinen Platz.
Weblinks Informationen zu den Forschungsschwerpunkten, Begriffen und Debatten des Stockholm Resilience Centre: www.stockholmresilience.org Plattform einer Allianz aus Wissenschaft und Praxis zur Resilienzforschung sozial-ökologischer Systeme, Resalliance: www.resalliance.org Interdisziplinär geisteswissenschaftliche Zeitschrift zu Resilienz, Journal of the Environmental Humanities: www.resiliencejournal.org
Literatur Blum, Sabine/Kaufmann, Stefan/Wichum, Ricky (Hg.) (2014): Themenheft Resilienz. Behemoth. A Journal on Civilization 7(2). http://ojs.ub.uni-frei burg.de/behemoth/issue/view/64 (30.06.2015).
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Folke, Carl/Carpenter, Steve/Walker, Brian/Scheffer, Marten/Elmqvist, Thomas/Gunderson, Lance/Holling, Crawford S. (2004): Regime Shifts, Resilience, and Biodiversity in Ecosystem Management. In: Annual Review of Ecology, Evolution, and Systematics 35: 557-581. Höhler, Sabine (2014): Resilienz: Mensch – Umwelt – System. Eine Geschichte der Stressbewältigung von der Erholung zur Selbstoptimierung. In: Lea Haller/Sabine Höhler/Heiko Stoff (Hg.): Stress! Themenheft Zeithistorische Forschungen 11(3): 425-443. Holling, Crawford S. (1973): Resilience and Stability of Ecological Systems. In: Annual Review of Ecology and Systematics 4: 1-23. Holling, Crawford S. (1978): Myths of Ecological Stability: Resilience and the Problem of Failure. In: C.F. Smart/W.T. Stanbury (Hg.): Studies on Crisis Management. Montreal/Toronto: Butterworth: 97-109. Hornborg, Alf (2013): Revelations of Resilience. From the Ideological Disarmament of Disaster to the Revolutionary Implications of (P)Anarchy. In: Resilience. International Policies, Practices and Discourses 1(2): 116-129. Purtschert, Patricia/Meyer, Katrin/Winter, Yves (Hg.) (2008): Gouvernementalität und Sicherheit. Zeitdiagnostische Beiträge im Anschluss an Foucault. Bielefeld: transcript. Reichholf, Josef H. (2008): Stabile Ungleichgewichte. Die Ökologie der Zukunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Walker, Jeremy/Cooper, Melinda (2011): Genealogies of Resilience. From Systems Ecology to the Political Economy of Crisis Adaptation. In: Security Dialogue 42(2): 143-160.
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Smart City Bettina Köhler Der Begriff Smart City steht seit einigen Jahren für vielfältige Versprechen: »Smart City« ist eine Stadtvision der beschleunigten digitalen Vernetzung von Menschen und Prozessen, ein Planungsideal zur Bearbeitung des Klimawandels sowie multipler Krisen mit digitalen Technologien, eine Strategie, um neue Investitionsfelder zu erschließen und die Standortvorteile von Städten zu verbessern. Bestehende nichtnachhaltige Produktions- und Lebensweisen werden dabei nicht in Frage gestellt.
Klimawandel trifft auf wachsende Städte Zwar wurden Städte von Stadtplaner_innen traditionell als das Gegenteil von Land und Natur angesprochen, inzwischen wird jedoch zunehmend der enge Zusammenhang zwischen wachsenden Urbanisierungsraten und einer Verschärfung ökologischer Problemlagen thematisiert. In internationalen Flagship-Reports zu drängenden ökologischen Herausforderungen wie dem Klimawandel finden sich inzwischen regelmäßig Verweise auf den Megatrend einer Urbanisierung und die daher allein quantitativ bedeutsame Rolle von Städten in einer urbanizing world (vgl. IPCC 2014a; WBGU 2011; EEA 2014; NCE 2014). Zusätzlich wird in den prominenten Berichten zur Zukunft der Städte zunehmend auch die Bedeutung von Klimawandel und Ressourcenknappheit thematisiert (vgl. UN-Habitat 2011). Gefolgert wird, dass erstens in Städten zentrale Triebkräfte des Klimawandels liegen – so werden inzwischen etwa drei Viertel des globalen Energieverbrauchs urbanen Räumen zugeschrieben (vgl. WBGU 2011), dass sich zweitens in ihnen die Risiken und Betroffenheiten konzentrieren und dass drittens von Städten als den zentralen Orten von Innovationen auch am ehesten Lösungsansätze im Kampf gegen den Klimawandel ausgehen sollten. Auf der Ebene der Stadtpolitik werden die in der internationalen Klimapolitik verhandelten Problemstellungen und Lösungsstrategien in spezifisch städtische Leitbilder und Programme übersetzt. Der Auftrag, dem Klimawandel in Städten proaktiv entgegenzutreten, wird an vielen Orten mit dem Konzept der
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Smart City verknüpft. Die Herausforderungen durch Klimawandel und Ressourcenverknappung begreifen viele Stadtregierungen als Chance, verschiedene städtische Problemlagen gemeinsam zu bearbeiten und von Synergien zu profitieren (vgl. Magistrat Wien 2014). Climate-smart development strategies, also Maßnahmen für eine ressourcenschonende, emissionsarme, energieeffiziente Entwicklung sollen als Innovationsmaschine für die Wirtschaft dienen, Wachstum generieren und die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts sichern. Die Versprechen der Green Economy (vgl. UNEP 2011) konkretisieren sich damit auf der Ebene der Stadt. In weiter gefassten Konzeptionen kann Smart City darüber hinaus bedeuten, »eine hohe Lebensqualität und soziale Teilhabe aufrechtzuerhalten und weiter zu steigern« (Magistrat der Stadt Wien 2014). Mit dem Begriff smart wird im weiter gefassten Sinne auf Zukunftsfähigkeit verwiesen: »Eine Stadt ist schlau, wenn sie sich absehbaren Herausforderungen zeitgerecht stellt.« (Kuffner 2013: 11) Im Zentrum steht jedoch überwiegend ein Fokus auf digitale Technologien und Hightech-Strategien. Dieses Bestreben auf der Ebene der Stadt, Nachhaltigkeit, Innovation und Wachstum zu vereinen, knüpft an frühere Konzepte der nachhaltigen, grünen oder kreativen Stadt an; die Smart City trifft jedoch heute auf spezifische Bedingungen: ein fortgeschrittener technologischer Entwicklungsstand im Bereich von Informations- und Kommunikationstechnologien sowie erneuerbarer Energieträger, die Suche nach neuen Kapitalverwertungsstrategien im Kontext der multiplen Krise, eine durchgehend unternehmerisch ausgerichtete und von Austerität geprägte Stadtpolitik (vgl. Harvey 1989) sowie spezifische Akteurskonstellationen. Die vergleichsweise neue Smart City-Strategie wurde bislang ohne substanzielle demokratische Prozesse vorangetrieben, ist jedoch diskursiv und materiell bereits heute in vielen Bereichen etabliert – mit absehbaren problematischen Implikationen. Von Aktivist_innen der Recht auf Stadt-Bewegungen und kritischen Stadtforscher_innen wird unter anderem der starke Technologiefokus, die unternehmensgetriebene Stadtentwicklung und das dabei transportierte Bild urbaner Gesellschaften kritisiert.
It’s technolog y stupid! Im Kern aller Smart City-Konzepte steckt die Idee, dass mit vernetzten digitalen Technologien sowohl städtische Abläufe als auch die Nutzung von Ressourcen und Energie effizienter gestaltet werden können. Voraussetzung dafür sind die »substantial advances in the technological possibilities« der letzten Jahre (IPCC 2014b: 168): »[ N ]ew information and communication technologies (ICTs) can help reduce the energy needs and associated emissions to improve the efficiency measures as a result of better management of energy generation and end-use.« (Ebd.: 379) Perspektivisch sollen alle relevanten Prozesse städtischen Alltags von Sensoren, Kameras, Chipkarten sowie den Smart Phones
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der Stadtnutzer_innen erfasst und über zentrale Datenkontrollzentren ausgewertet, vernetzt und ressourceneffizienter optimiert werden. Anwendungsmöglichkeiten werden unter anderem in den Bereichen Energieversorgung, Transportinfrastruktur, Gebäudetechnologie aber auch bei Verwaltungsabläufen ausgemacht. So soll durch intelligente Stromnetze (Smart Grids) die Energieverteilung flexibler und effizienter gestaltet und in Kombination mit intelligenten Stromzählern (Smart Meter) der Energieverbrauch der Endnutzer_innen reduziert werden: »Smart meters and remote controls are key components of the so-called smart grid where information technology is used to improve the operation of power systems, especially with resources located at the distribution level.« (IPCC 2014b: 534) Städtische Verkehrsströme sollen mit Überwachungs-, Informations- und Kommunikationstechnologien flächendeckend und in Echtzeit erfasst, ausgewertet, überwacht und infolge effizienter gemanaged werden. Solche technologiebasierten Smart City-Konzepte, in denen die Stadt als eine Ansammlung optimierbarer Prozesse und als auswertbarer Datenpool begriffen wird, werfen Fragen nach den Implikationen dieses »new mode of data-driven urban governance« (Shelton et al. 2015: 16) auf. Eine der manifestesten Kritiken zielt auf die ungelösten Datenschutz- und Datensicherheitsprobleme der dabei erzeugten riesigen Datenvolumen (Big Data). Während die technischen Systeme an verschiedenen Orten bereits implementiert werden, sind die damit einhergehenden Überwachungsmöglichkeiten sowie die kommerzielle Nutzung des erzeugten Datenpools noch weitgehend ungeregelt. Die digitale Steuerung alltäglicher Prozesse wirft zugleich Fragen nach der Störungsanfälligkeit komplexer vernetzter technischer Systeme auf und wer diese kontrolliert (Kitchin 2014). Die Annahme, dass ökologische Probleme technologisch gelöst werden können, impliziert oftmals futuristische Stadtutopien, bei denen die Möglichkeiten der Technik und weniger die tatsächlich vorliegenden Problemstellungen und Bedürfnisse der urbanen Gesellschaft leitend sind (Laimer 2014). Und auch der Beitrag zu den formulierten ökologischen Zielen – den CO2-Ausstoß sowie den Ressourcen- und Energieverbrauch zu reduzieren – ist fragwürdig, solange energieintensive Produktions- und Lebensweisen fortgesetzt werden. So erhöhen die immer schnelleren Innovationszyklen digitaler Technologien mitunter den Ressourcenverbrauch (z.B. Lithium für Batterien) oder lagern den Ressourcenzugriff in andere Weltregionen aus (→ Agrartreibstoffe). Auch das für die Verbraucher_innen erhoffte Energieeinsparungspotenzial von Smart Metern wird als fragwürdig eingeschätzt, da »die Kenntnis der Verbrauchsdaten alleine noch zu keiner Verhaltensänderung« führt und die notwendigen Geräte neuen Strombedarf erzeugen (vgl. Rauth 2014). Aktuelle Entwicklungen im Bereich Elektromobilität reproduzieren das derzeitige platz- und energieintensive System von Individualverkehr, ohne ein grundsätzlich neues,
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zukunftsweisendes Mobilitätsverhalten und damit verbundene alternative Gestaltungen des Stadtraums und veränderte Alltagspraktiken zu entwerfen (vgl. Laimer 2014). Auf diese Weise werden mit heutigen Entscheidungen bisherige Entwicklungspfade fortgesetzt und in langlebige urbane Infrastruktur eingeschrieben.
Corporate Urbanism und Standortwettbewerb in der Green Economy Smart City ist nicht nur ein Modebegriff, sondern eine von konkreten Akteuren mit erheblichem Aufwand diskursiv und materiell hergestellte Strategie, die bereits heute orientierend wirkt. Ihre Relevanz wird von Stadtverwaltungen und internationalen Organisationen in Studien und Strategiekonzepten beworben. Zahlreiche, durchaus einflussreiche nationale und europäische regulatorische Vorgaben und Förderprogramme geben dem Projekt der Digitalisierung städtischer Infrastrukturen eine materielle Basis. Auf der Ebene der Europäischen Union empfiehlt etwa der Strategieplan für Energietechnologie (SETPlan) von 2009, der zur Reduktion der Abhängigkeit von fossiler Energie und von CO2-Emissionen beitragen soll, die Einführung von sogenannten intelligenten Stromnetzen (EU Kommission 2009). Als Instrument zur Erhöhung der Energieeffizienz bei den Endverbraucher_innen fordert die Energieeffizienz-Richtlinie der Europäischen Union von 2012 von den Mitgliedsstaaten, »mindestens 80 % der Verbraucher bis 2020 mit intelligenten Verbrauchserfassungssystemen« auszustatten – »falls die Einführung intelligenter Zähler positiv bewertet wird« (EU 2012). Dieser Nachsatz, der impliziert, dass der Nutzen der neuen Technologien bislang noch gar nicht eindeutig nachgewiesen ist, wird im Zuge des derzeit an vielen Orten eilig durchgeführten ersten globalen »Produkt-Rollout der Smart-City-Industrie in Zusammenarbeit mit den Kommunen« oftmals vernachlässigt (Rauth 2014; vgl. Raho 2014; Ryser 2014). Zahlreiche nationale und internationale Förderprogramme finanzieren den hohen Investitionsbedarf in Forschung und Entwicklung sowie bei der Umsetzung konkreter Projekte. Wissensproduktion und Lobbying zu Smart Cities wird jedoch auch proaktiv von den weltweit marktführenden Technologieunternehmen betrieben – schließlich werden sie die ›smarten‹ Technologien implementieren und in vielen Fällen anschließend betreiben. IT-Unternehmen wie Siemens, IBM, Cisco und SAP erschließen sich hier ein neues Geschäftsfeld und erwarten einen Wachstumsmarkt (vgl. Ryser 2014). Der zunehmende corporate urbanism, bei dem Unternehmen aktiv an der Planung, Gestaltung und Kontrolle künftiger Städte beteiligt werden, lässt eine Verschiebung planerischer Prioritäten erwarten und impliziert mögliche Demokratiedefizite – insbesondere hinsichtlich der Gestaltung künftiger urbaner Infrastruktur der privatwirtschaftlichen Datenkontrolle. Die Smart City-Strategie bietet dabei nicht nur einen urbanen
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Möglichkeitsraum für die green economy, sondern verkörpert auch eine »hightech variation of urban entrepreneurialism« (Hollands 2008: 305) – so wird mit smart city rankings bereits heute erfolgreich Standortwettbewerb betrieben (vgl. Siemens AG 2009; Cohen 2014).
Premium-Enklaven und normierte Smart Citizens Mit großer medialer Aufmerksamkeit werden seit einigen Jahren eine Reihe von am Reißbrett entworfenen Planstädten diskutiert, wie die südkoreanische Stadt Songdo oder Masdar City in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Daneben werden ›smarte‹ Technologien in bestehenden Städten im Bereich Verkehrs- und Siedlungsinfrastruktur installiert oder es werden einzelne sogenannte intelligente Gebäude errichtet. Zum Beispiel wurde im Rahmen der Internationalen Bauausstellung 2013 in Hamburg ein Smart Material House errichtet, das über eine Bioreaktorfassade verfügt, in der Algen gezüchtet werden, erneuerbare Energie erzeugt und gleichzeitig über digitale Sensoren die Lichtverhältnisse im Innenraum reguliert. Diese Pilotprojekte sollen als Zukunftslabore für ressourceneffiziente, vernetzte, intelligente Städte dienen. Auf Grund des damit verbundenen hohen finanziellen und technologischen Aufwands bezweifeln Kritiker_innen jedoch deren Verallgemeinerbarkeit für alle Bevölkerungsschichten und den gesamten Stadtraum (→ Raumschiff Erde): »These types of response appear to promote the construction of ecologically secure premium enclaves that by-pass existing infrastructure and build internalised ecological resource flows that attempt to guarantee strategic protection and further economic reproduction.« (Vgl. Hodson/Marvin 2010) Die aktuell vorherrschende nicht-nachhaltige Lebensweise in Städten und die damit verbundenen räumlichen Ungleichheiten und Umweltungerechtigkeiten werden durch diese Smart City-Technologien nicht in Frage gestellt. Sozial inklusivere Smart City-Konzepte betonen die Rolle von gesellschaftlicher Innovation und Partizipation (vgl. Magistrat der Stadt Wien 2014). Angedacht ist dabei der smart citizen, der, unterstützt durch digitale Technologien, intelligent, zukunftsweisend und nachhaltig handelt. Die technologiebasierten städtischen Abläufe setzen den smarten Bürger_innen jedoch einen definierten Rahmen. Zwar sollen sich die technischen Systeme an wechselnde gesellschaftliche Anforderungen anpassen. Zugleich sollen aber auch soziale Prozesse optimiert werden. Spezifische Vorstellungen von Normalität und erstrebenswerten Zuständen werden bei der Programmierung in ›smarten‹ Technologien immer impliziert (vgl. Greenfield 2014). Der optimale Betrieb dieser technischen Systeme setzt folglich normgerechte und störungsfreie Abläufe und kooperative Bürger_innen voraus, die sich an die einprogrammierten urbanen Abläufe halten und bereitwillig ihre Daten liefern. Abweichendes
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Verhalten – seien es andere Tagesrhythmen oder normabweichendes Verhalten im öffentlichen Raum – wird vom System als Störung identifiziert (vgl. Laimer 2014). So erlauben etwa die kurzgetakteten Aufzeichnungen des Stromverbrauchs durch »intelligente Stromzähler« detaillierte Rückschlüsse auf das Verhalten und die Vorlieben von Endnutzer_innen eines spezifischen Haushalts (vgl. Rauth 2014). Dieses Wissen auf Basis von Datenflüssen bietet Möglichkeiten der Kontrolle und auch der Disziplinierung (z.B. durch gestaffelte Strompreise zu bestimmten Tageszeiten oder ab bestimmter Mengen durch den Stromanbieter). Vorstellungen von Urbanität, nach denen Städte unübersichtliche Situationen und unerwartete Begegnungen ermöglichen sollen (vgl. Laimer 2014), sind mit solchen Eingriffen in Alltagspraktiken kaum kompatibel. Mit dem Verweis auf die drängenden Herausforderungen des Klimawandels ordnen Befürworter_innen von Smart City-Technologien, wie wettbewerbsorientierte Stadtregierungen und IT-Konzerne, sowohl städtische Akteurskonstellationen und Entscheidungsstrukturen als auch die räumlichen Strukturen und Abläufe in Städten langfristig neu. Ein Verständnis von ›smart‹ im Sinne inklusiverer, selbstbestimmter, sozial gerechter und nachhaltiger urbaner Alltagspraxis ist zwar vorstellbar, aber in der derzeitigen dominanten Rahmung des Smart City-Konzeptes eher unwahrscheinlich.
Weblinks Kooperationsförderung zwischen Kommunen und Unternehmen durch die Europäische Kommission, Smart Cities and Communities: The European Innovation Partnership on Smart Cities and Communities: ec.europa.eu/eip/ smartcities Laufend aktualisierte Seite des Fernsehsenders Arte zu Veranstaltungen und Dokumentationen zur Stadt der Zukunft: http://future.arte.tv/de/thema/ stadt-der-zukunft#article-anchor-6356 Pilot-Projekte digitaler Vernetzung in Wien: https://smartcity.wien.at Smart City-Vision des IT-Konzerns IBM als Videoclip: https://vimeo.com/ 125554861
Literatur Cohen, Boyd (2014): The 10 Smartest Cities In Europe. www.fastcoexist.com/ 3024721/the-10-smartest-cities-in-europe (22.08.2015). EEA – European Environment Agency (2014): The European environment. State and outlook 2015. Synthesis report. Kopenhagen: EEA.
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EU Kommission (2009): Investing in the Development of Low Carbon Technologies, SET-Plan. http://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/?uri=CELEX: 52009DC0519 (22.08.2015). EU (2012): Richtlinie 2012/27/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 zur Energieeffizienz. http://eur-lex.europa.eu/legalcontent/DE/TXT/?uri=CELEX:32012L0027 (22.08.2015). Greenfield, Adam (2012): The smart city is predicated on an inappropriate model of optimization. In: Dérive 56: 23-26. Harvey, David (1989): From Managerialism to Entrepreneurialism: The Transformation of Urban Governance in Late Capitalism. In: Geografiska Annaler 71(1): 3-17. Hodson, Mike/Marvin, Simon (2010): Urbanism in the anthropocene. In: City 14(3): 298-313. Hollands, Robert G. (2008): Will the real smart city please stand up? Intelligent, progressive or entrepreneurial. In: City 12(3): 303-320. IPCC (2014a): Climate Change 2014. Impacts, Adaptation, and Vulnerability. Part A: Global and Sectoral Aspects. Working Group II Contribution to the Fifth Assessment Report of the IPCC. New York: Cambridge University Press. IPCC (2014b): Climate Change 2014. Mitigation of Climate Change. Working Group III Contribution to the Fifth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change. New York: Cambridge University Press. Kitchin, Rob (2014): The real-time city? Big data and smart urbanism. In: GeoJournal 79(1): 1-4. Kuffner, Astrid (2013): Hohe Lebensqualität, intelligente Technologien und bewusste Bewohner. In: Widmann, Helmut (Hg.): smart city: Wiener KnowHow aus Wissenschaft und Forschung. Wien: Schmid: 10-21. Laimer, Christoph (2014): Smart Cities: Zurück in die Zukunft. In: Dérive 56: 4-9. Magistrat der Stadt Wien (2014): Smart City Wien. Rahmenstrategie. Wien: Magistrat der Stadt Wien. NCE – New Climate Economy (2014): Better Growth, Better Climate. The New Climate Economy Report. Synthesis Report. Washington: Global Commission on the Economy and Climate. Raho, Sebastian (2014): Die stille Politik der großen Utopie. Dérive 56: 27-31. Rauth, Elke (2014): Smart Tales of the City. In: Dérive 58: 40-44. Ryser, Judith (2014): Planning smart cities… sustainable, healthy, liveable, creative cities… Or just planning cities. In: Dérive 56: 10-18. Shelton, Taylor/Zook, Matthew/Wiig, Alan (2015): The ›actually existing smart city‹. In: Cambridge Journal of Regions, Economy and Society 8(1): 13-25. Siemens AG (2009): European Green City Index. Assessing the environmental impact of Europe’s major cities. München: Siemens AG.
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UN-Habitat (2011): Global Report on Human Settlements: Cities and Climate Change. London: Earthscan. UNEP (2011): Towards a Green Economy. Pathways to Sustainable Development and Poverty Eradication. Nairobi: UNEP. WBGU (2011): Globale Megatrends. Factsheet Nr.3/2011. Berlin: WBGU.
Sozial-ökologische Transformation Ulrich Brand Ökologische Fragen sind soziale Fragen und damit eng verbunden mit Macht und Herrschaft. Die Perspektive sozial-ökologischer Transformation thematisiert notwendige gesellschaftliche Veränderungen, um die ökologische Krise angemessen zu bearbeiten, sie berücksichtigt Verteilungsfragen, aber auch, was und wie in der Gesellschaft unter welchen sozialen und ökologischen Bedingungen produziert wird, um ein gutes Leben für alle zu ermöglichen.
Radikale Diagnosen, zahme Vorschläge: Große Transformation Seit einigen Jahren ist der Begriff der Transformation prominent. Für die deutschsprachige Diskussion zentral ist das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen mit dem Titel »Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation« (WBGU 2011). Im Zentrum des Gutachtens steht ein Gesellschaftsumbau, um dem Klimawandel und anderen Umweltproblemen zu begegnen. Hierfür müssten »Produktion, Konsumtionsmuster und Lebensstile so verändert werden, dass die globalen Treibhausgasemissionen im Verlauf der kommenden Dekaden auf ein absolutes Minimum sinken und klimaverträgliche Gesellschaften entstehen können.« (WBGU 2011: 5). Der WBGU formuliert die starke These, dass sich über globale Gesellschaftsverträge eine Art weltgesellschaftlicher Übereinstimmung hinsichtlich der vielfältigen Probleme und auch der Problembearbeitung herausbilden könne. Es wird konstatiert, dass »die technologischen Potenziale zur umfassenden Dekarbonisierung vorhanden [… und] die politischen Instrumente für eine klimaverträgliche Transformation wohlbekannt« seien (WBGU 2011: 1).1 Im Unterschied zu »Umbau« oder »Wandel« oder dem immer zahnloser werdenden Begriff der Nachhaltigkeit impliziert der Terminus »sozial-ökologische Transformation« eine radikale Semantik. Der Begriff stammt von 1 | Ein ausführlicher Überblick über die Debatte in Brand 2014 und weitere Diskussionsstränge in Adler/Schachtschneider 2010.
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Karl Polanyi, der in seinem vor siebzig Jahren publizierten Buch »The Great Transformation« den Übergang von einer integrierten Wirtschaftsweise in den Industriekapitalismus und die liberale Marktwirtschaft des 19. Jahrhunderts nachzeichnete (Polanyi 1944/1990). Die WBGU-Autor_innen benutzen den Begriff heute, um eine Transformation jenseits einer »fossilnuklearen Wirtschaftsweise« thematisieren zu können. Dieter Klein sieht die Gefahr, dass der Begriff »Große Transformation« zu einem »diffus-unverbindlichen Allerweltbegriff« wird, der neben einer radikalen Geste wenig besagt und bewirkt (Klein 2013: 30-33). Und in der Tat bleiben viele Vorschläge der aktuellen Transformationsforschung letztendlich hinter den eigenen Ansprüchen zurück. Ein Beispiel hierfür ist das erwähnte Gutachten des WBGU. Einer radikalen Diagnose der Problemlage folgen wenig radikale Lösungsvorschläge: Die Politik soll es richten. Apodiktisch wird festgestellt »It’s politics, stupid!« und daraus eine starke Steuerung auf nationalstaatlicher Ebene und intensivierte Global Governance auf internationaler Ebene als notwendig abgeleitet (WBGU 2011: 200, 68). Hoffnung wird auch in einen sich offensichtlich bereits vollziehenden Wertewandel gesetzt (dessen mögliches Ausbleiben allerdings auch problematisiert wird) (ebd.: 255). Die Diskussionen über Grenzen und Möglichkeiten von Staat und Politik im Zeitalter der kapitalistischen Globalisierung sowie über die im Globalen Norden intensivierte und sich zudem global ausweitende unnachhaltige Lebensweise, die in der sozialwissenschaftlichen Umweltforschung intensiv geführt wird, bleiben unberücksichtigt. Interessenkonflikte werden benannt, aber erst auf der Ebene politischer Konflikte und nicht als tief in der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise verankerte Interessen, Erfahrungen und Praktiken. Ungleichheitsfragen entlang von Klassen-, Geschlechter- oder rassifizierten Verhältnissen spielen nur am Rande, die Handlungsfähigkeit schwächerer Bevölkerungsgruppen und ihrer Organisationen, gar keine Rolle (vgl. zu geschlechterpolitischen Dimensionen der Transformationsdebatte Bauriedl/ Wichterich 2013).
Perspektiverweiterung: sozial-ökologische Transformation Für eine sozial-ökologische Transformation bräuchte es eine Perspektiverweiterung. Hierfür müssen Veränderungen grundlegender ausgerichtet sein, nämlich auch an den politischen Institutionen selbst sowie an den Produktions- und Lebensweisen eines Industriekapitalismus. Die dominante Logik dieser Wirtschafts- und Gesellschaftsform ist jene des Profitmachens, der Akkumulation von Kapital, der expansiven wirtschaftlichen Aktivitäten, die mit den uns bekannten Problemen einhergehen. Neben Umweltproblemen sind dies auch die Vernutzung und Übernutzung menschlicher Arbeitskraft, die vielfach zu Arbeitsverdichtung und zu Burnouts führt.
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In der von 2011 bis 2013 vom Deutschen Bundestag eingesetzten EnqueteKommission »Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität« haben die beteiligten Vertreter_innen der damaligen Oppositionsparteien (SPD, Die Linke, Bündnis 90/Die Grünen) zusammen mit den von ihnen berufenen Sachverständigen ein umfassenderes Verständnis skizziert: »Wir fassen mit dem Begriff der sozial-ökologischen Transformation jene Strategien, die auf eine bewusste gesellschaftspolitische Gestaltung zur Bearbeitung der multiplen Krise setzen und nicht zuvorderst auf den kapitalistischen (Welt-)Markt, der vermeintlich auf die ökologischen Probleme mittels Technologien und Knappheitssignalen reagiert. Wie im Adjektiv ›sozial-ökologisch‹ angezeigt, bedarf es grundlegender Veränderungen von Wirtschaft und Gesellschaft sowie ihrer Verhältnisse zu den geologischen, bio-physikalischen Lebensgrundlagen. Dieser Gestaltungsansatz orientiert sich […] am demokratischen, gerechten und solidarischen Umbau hin zu einer nachhaltigen Produktions- und Lebensweise, wobei die Prinzipien auf die eigene Gesellschaft, auf Europa und die Welt bezogen sind. Entsprechend geht es ebenfalls um den Abbau von sozialen Ungleichheiten sowie um die Umverteilung gesellschaftlicher, ökonomischer und politischer Macht hin zu mehr Gerechtigkeit, insbesondere für die schwächeren Bevölkerungsgruppen. Die Einhegung des kapitalistischen Marktes und der Dominanz des Profitprinzips über eine Ausweitung des Öffentlichen und – wo es sinnvoll ist – des Staates, über die Stärkung öffentlicher, genossenschaftlicher sowie solidarischer Ökonomie, die insgesamt die ökologische Tragfähigkeit der Erde beachten, sind Bestandteile einer solchen Transformation.« (Enquete-Kommission 2013: 484) Des Weiteren heißt es im Schlussbericht der Enquete-Kommission, dass die »Ausweitung von Demokratie und Partizipation und eine grundlegende Neuordnung von Wirtschaft und Gesellschaft unverzichtbar [sind]. Arbeit muss neu bewertet und umverteilt werden, Produktions- und Konsummuster wie auch die Dynamiken von Innovation und Effizienz, Konsistenz und Suffizienz verändert werden.« (Ebd.). Mit dieser Aussage wird deutlich gemacht: Die herrschende Logik des Wandels, der permanenten Selbstrevolutionierung der bürgerlichen Gesellschaft, wird langfristig zum Problem. Sie verursacht immer stärkere und immer unkontrollierbarere Krisen. Der Begriff der sozial-ökologischen Transformation und die damit verbundenen Strategien zur Umgestaltung von Produktions- und Lebensweisen haben Potenzial für ein progressives Gesellschaftsprojekt. Damit sollen eben jene Probleme und Krisen effektiv bearbeitet werden, die aufgrund des kapitalistischen – nicht nur des neoliberalen – Expansionsdrangs und der Profitorientierung entstehen, aber auch auf Grund herrschaftlicher internationaler, geschlechtlicher und rassifizierter Verhältnisse sowie der herrschaftlichen Formen der Subjektivierung.
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Umbau hin zu einer lebbaren, solidarischen und nachhaltigen Produktions- und Lebensweise Aus Sicht breiter, progressiver Bündnisse – die auch konservative oder kirchliche Kräfte einschließt – braucht eine sozial-ökologische Zukunft »rotes Grün« (Thie 2013). Also die Verbindung sozialer und ökologischer Fragen und nicht, wie bisher, ein gegenseitiges Ausspielen von »rot« (Verteilungsgerechtigkeit) gegen »grün« (Umweltgerechtigkeit). Notwendig hierfür ist ein alternatives Wohlstandmodell, das wir längst in Ansätzen kennen und das auf weitreichende nachhaltige Energie-, Mobilitäts- und Kommunikationssysteme, ressourcenschonende und emissionsarme Formen der Landwirtschaft und Ernährung, des Wohnens und Kleidens, die Verwendung langlebiger Produkte, zielt. Die Umsetzung dieses Wohlstandsmodells fängt nicht bei Null an, sondern kann auf vielfältige Diskussionen, Vorschläge und praktische Ansätze auf bauen (Felber 2012; Haug 2011; Brand et al. 2012). Transformationsprozesse bedürfen der öffentlichen Auseinandersetzung, um vermeintliche Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen. Doch gesellschaftliche und politische Hegemonie bedarf auch eines materiellen Kerns, wie das Antonio Gramsci formulierte (Gramsci 1991: 1567), das heißt neben öffentlichen Debatten geht es auch und gerade um lebbare, für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung attraktive Verhältnisse. Das bedeutet: Transformationsprozesse müssen von einer großen Mehrheit gestaltet und zunehmend gewollt werden; sie dürfen nicht auf dem Rücken der Menschen ausgetragen werden (am Beispiel der Konversion der Automobilindustrie: Candeias et al. 2011). Sie überlassen insbesondere jene Menschen mit weniger Macht und Einfluss nicht sich selbst und fordern von ihnen nicht »Verzicht«. Verzicht ist eine öko-libertäre, auf die Mittelschichten zielende Perspektive (mit dem weit verbreiteten und ernstzunehmenden Wunsch nach »Befreiung vom Überfluss«) oder ein konservativ wachstumskritisches Angebot. Menschen mit normalerweise geringeren Handlungsspielräumen und mit Erfahrungen der Machtlosigkeit muss die Angst vor Veränderung genommen werden. »Reform« ist für die meisten zu sehr mit erhöhter sozialer und ökonomischer Unsicherheit und einer Umverteilung von unten nach oben verbunden. Deshalb bleiben Verteilungsfragen wichtig: Verteilung von Vermögen und Einkommen, von Macht und Lebenschancen. Sie bleiben zentral im Sinne der Umverteilung vom gesellschaftlichen Oben zum Unten, die differentia specifica progressiver Politik, im Unterschied zu wirtschaftsliberaler und vieler konservativer Ansätze. Dazu bedarf es vieler Akteure mit progressivem Anspruch und Handeln, die dieses Umdenken vorantreiben. Diese sind oft an den Rändern der Gesellschaft zu finden, wie die meisten sozialen Bewegungen. Es sind aber auch in der gesellschaftlichen Mitte angesiedelte, progressive Verbände, wie Gewerk-
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schaften und Arbeitnehmervertretungen auf betrieblicher Ebene sowie NRO. Und es sind kritische Menschen und Gruppen in der Wissenschaft, in Denkstätten und den Medien, progressive Unternehmerinnen und Unternehmer. So spielt zum Beispiel das kirchliche Spektrum eine wichtige Rolle bei der Entwicklung von Energiegenossenschaften, der Entwicklung ökologischer Landwirtschaft und vielem andere. Und es sind einzelne Menschen, die sich unorganisiert auf andere Alltagspraxen des Lebens, Arbeitens und Konsumierens einlassen und dafür Angebote nutzen, die schon entwickelt wurden. Und auch die Parteien nehmen eine wichtige Rolle als Förderer oder Bremser alternativer Wohlstandsmodelle ein. Gerade die aktuelle Wirtschaftskrise und das Damoklesschwert steigender Arbeitslosigkeit und zunehmender Prekarisierung bietet die Chance, den sozial-ökologischen Umbau mit einer progressiven Arbeitszeitpolitik zu verknüpfen. Dabei geht es nicht nur um den Abbau steuerlich begünstigter Überstunden oder um attraktive Modelle der Wochen- und Lebensarbeitszeit. Über das Thema der Arbeitszeitpolitik geraten eben auch ökologische Fragen in den Blick: Jene des Produzierens und Konsumierens um ihrer selbst Willen, der unbedingten Exportorientierung, der Frage, welchen Stellenwert in unserer Gesellschaft Lohnarbeit hat und welchen Stellenwert andere Tätigkeiten haben, wie unbezahlte Sorgearbeit für Kinder und Pflegebedürftige oder gesellschaftliches Engagement. Frigga Haug hat das mit dem Begriff der »Vier-inEinem«-Perspektive gut auf den Punkt gebracht, mit dem sie eine gerechte Verteilung von Erwerbsarbeit, Familienarbeit, Gemeinwesensarbeit und Entwicklungschancen einfordert (Haug 2011). Im Zentrum steht die Sorge für sich selbst, für andere, für die natürlichen Lebensgrundlagen. Das sind Elemente, die feministische Ökonominnen schon längst formuliert haben und die in vielen konkreten Initiativen realisiert werden (Biesecker/Baier 2011). Sozialstaatliche Errungenschaften gesellschaftlicher Fürsorge sollten dafür eher ausgebaut als gekürzt werden. Es geht dabei aber nicht grundsätzlich um eine Rückkehr des Staates, vielmehr muss seine materielle Grundlage verändert werden, wozu es einer Finanztransaktions- wie auch Vermögenssteuer bedarf, der Unterbindung von Steuerbetrug, sowie höheren Erbschafts- und Spitzensteuersätzen. Jenseits von Markt und Staat bedarf es einer Absicherung der Gemeinschaftsgüter, für die sich die Gesellschaft verantwortlich fühlt. Das alles hat einen drängenden aktuellen Ausgangspunkt. Um ein solches Projekt zu realisieren, muss die gegenwärtige autoritäre Austeritätspolitik in Europa – die im Sommer 2015 im Verhältnis zwischen EU/deutscher Regierung und Griechenland neokoloniale Züge angenommen hat – gestoppt werden. Doch die Bevölkerung wird das europäische Projekt mehrheitlich nur unterstützen, wenn es für Demokratie und eine attraktive Lebensweise steht. Dieses Interesse muss mit progressiven Antworten auf die ökologische Krise verbunden werden.
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Weblinks Dialogreihe Gutes Leben für alle: www.guteslebenfueralle.org Institut Solidarische Moderne: www.solidarische-moderne.de Netzwerk Vorsorgendes Wirtschaften: www.vorsorgendeswirtschaften.de Movum – Online-Zeitschrift zu Themen sozial-ökologischer Transformation: www.movum.info
Literatur Adler, Frank/Schachtschneider, Ulrich (2010): Green New Deal, Suffizienz oder Ökosozialismus? Konzepte für gesellschaftliche Wege aus der Ökokrise. München: Oekom. Bauriedl, Sybille/Wichterich, Christa (2013): Gender, Nachhaltigkeit und kapitalistische Verwertung. Anknüpfungspunkte für sozial-ökologische Transformation. Berlin: Rosa-Luxemburg-Stiftung. Biesecker, Adelheid/Baier, Andrea (2011): Gutes Leben braucht andere Arbeit. Alternative Konzepte in der Diskussion. In: Politische Ökologie 125: 54-62. Brand, Ulrich/Lösch, Bettina/Opratko, Benjamin/Thimmel, Stefan (Hg.): ABC der Alternativen 2.0. Hamburg: VSA. Brand, Ulrich (2014): Transition und Transformation: Sozialökologische Perspektiven. In: Brie, Michael (Hg.): Futuring. Transformation im Kapitalismus über ihn hinaus. Münster: Westfälisches Dampfboot: 242-280. Candeias, Mario/Rilling, Rainer/Röttger, Bernd/Thimmel, Stefan (Hg.) (2011): Globale Ökonomie des Autos. Mobilität | Arbeit | Konversion. Hamburg: VSA. Enquete-Kommission (2013): Schlussbericht der Enquete-Kommission »Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität« des Deutschen Bundestages. Drucksache 13/300. Berlin: Deutscher Bundestag. Felber, Christian (2012): Die Gemeinwohl-Ökonomie. Wien: Deuticke. Gramsci, Antonio (1991): Gefängnishefte. Siebtes Heft. Hamburg: Argument. Haug, Frigga (2011): Die Vier-in-Einem-Perspektive. Eine Politik von Frauen für eine neue Linke. Hamburg: Argument. Klein, Dieter (2013): Das Morgen tanzt im Heute: Transformation im Kapitalismus und über ihn hinaus. Hamburg: VSA. Polanyi, Karl (1944/1990): The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Thie, Hans (2013): Rotes Grün. Pioniere und Prinzipien einer ökologischen Gesellschaft. Hamburg: VSA. WBGU – Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (2011): Welt im Wandel. Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation. Berlin: WBGU.
Suffizienz Uta von Winterfeld
Trifft der kritisch-analytische Blick auf »Suffizienz in der Klimadebatte«, so fällt zuerst auf, dass eine konsequente Auseinandersetzung mit Suffizienz nicht stattfindet. Wo er dennoch eingesetzt wird, stellt sich heraus, dass er falsch benutzt wird. Denn die Geschichte um Klimaschutz und Klimaanpassung würde in einer Suffizienzperspektive anders erzählt werden.
Suffizienz als Nachhaltigkeitsstrategie Der Suffizienzbegriff ist primär mit der Nachhaltigkeitsdebatte und erst sekundär mit der Klimadebatte verknüpft. Er wurde von Wolfgang Sachs in Anlehnung an den ökologischen Ökonomen Herman Daly in die deutsche Debatte eingebracht (Sachs 1993). Suffizienz steht für eine Reduktion des Ressourcen- und Energieverbrauchs durch veränderte Nutzungsweisen. Suffizienz führte im Vergleich zu Effizienz ein Schattendasein. Die Bedeutung von Effizienz wurde schnell erkannt. In Formeln wie der »Effizienzrevolution« wurde sie erfolgreich in den Mainstream integriert und in Maßnahmen zur Ressourceneffizienz, Energieeffizienz und Materialeffizienz umgesetzt (→ Effizienzrevolution). Effizienz war an die Ökonomie viel anschlussfähiger, weil auch ökonomisch angestrebt wird, mit möglichst wenig input möglichst viel output zu erzeugen. Suffizienz ist hingegen in der deutschen Sprache wenig gebräuchlich (anders als z.B. im Italienischen, wo das Adjektiv sufficiente oft benutzt wird; anders auch als im Französischen, wo Suffizienz eine Verbform hat und als »ça suffit!«, im Sinne von »es reicht!« ausgerufen wird) und tritt vor allem in negativer Form (z.B. in Herz-Insuffizienz) auf. Der geringe Beliebtheitsgrad und die geringe Verwendung des Begriffs Suffizienz haben zwei weitere Gründe. Zum einen ist Effizienz mit positiv besetzten Dynamiken des technischen Fortschritts, mit technischer Innovation und Revolution verknüpft. Dies trifft im Grunde auch für den Nachhaltigkeitszugang der Konsistenz zu, der mit einem Wechsel der Stoff basis bzw. des Energieträgers verbunden ist. Suffizienz hingegen setzt auf kulturelle Innova-
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tion und Revolution. Sie erfordert eine Auseinandersetzung über Werte und bekam schnell den Stempel der »Verzichtsethik« aufgedrückt. Dies kann als Indiz dafür gelten, dass der Streit um Werte vermieden werden sollte und soll. Zum anderen ist Suffizienz mit der Konsumseite und mit individuellem Verhalten verknüpft worden, während Effizienz der Produktionsseite zugeordnet worden ist. Die Asymmetrie von Produktion und Konsumtion spiegelt sich in den beiden Nachhaltigkeitsstrategien der Effizienz und Suffizienz wider. Damit wird Suffizienz entpolitisiert, auf die individuell-persönlich-moralische Ebene verbannt und zugleich verharmlost. Das grundlegende und kritische Potenzial der Suffizienz bleibt bis auf Ausnahmen (vgl. Voß 2003) verborgen, und ihre politische Dimension wird selten thematisiert. 2008 trat der Suffizienzbegriff im Kontext der neuen wachstumskritischen Debatte – in Deutschland Postwachstumsdebatte – aus seinem Schattendasein heraus. Konzepte für die Zukunft werden hier einer Postwachstumsgesellschaft zugeordnet (vgl. Seidl/Zahrnt 2010) und das Recht auf Suffizienz wird gegenüber der Pflicht zur Suffizienz betont (vgl. Winterfeld 2011). Bedingt durch Zweifel daran, ob sich Menschen individuell und von sich aus suffizient verhalten, wird mehr und mehr von einer Politik der Suffizienz gesprochen (vgl. Schneidewind/Zahrnt 2013; Linz 2015). Zeitgleich wird Suffizienz in der internationalen Debatte in Verbindung mit einer ökofeministischen und globalen Gerechtigkeitsperspektive aufgegriffen (Salleh 2009). Beispiele zum Gebrauch des Suffizienzbegriffs in der Nachhaltigkeitsdebatte: »Einer naturverträglichen Gesellschaft kann man in der Tat nur auf zwei Beinen näherkommen: durch eine intelligente Rationalisierung der Mittel wie durch eine kluge Beschränkung der Ziele. Mit anderen Worten: Die ›Effizienzrevolution‹ bleibt richtungsblind, wenn sie nicht von einer ›Suffizienzrevolution‹ begleitet wird. […] Bewußt ein Desinteresse für zuviel Konsum zu pflegen, ist eine recht zukunftsfähige Haltung, für einen selbst und auch für die Welt.« (Wolfgang Sachs 1993: 69) »Suffizienz schließt sicher Verzichte ein; aber diese sind nicht Oktroy, sondern eben Begrenzung aus Einsicht und Wahl und damit Teil eines gelingenden Lebens.« (Manfred Linz 2002: 13) »An embodied materialism encapsulates interactions between habitat, sex, race, governance, science, ethics – an uneasy complexity for stochastic processing! Economists are comfortable measuring what they call ›productivity‹ but have a hard time accounting for ›reproductivity‹. […] However, what is missing from that value equation is the role of reproductive or meta-industrial labour in mediating matter/energy transformations and minimising metabolic depletion. […] Meta–industrial provisioning is eco-sufficient because it does not externalise costs through debt.« (Salleh 2009: 300, 303) »Als kritische Kategorie analytisch angewandt versucht Suffizienz somit nicht, den individuellen Hunger nach Mehr normativ einzufangen, sondern
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die gesellschaftlich konstruierten Zwänge zur Grenz- und Sorglosigkeit zu problematisieren.« (Winterfeld 2011: 60) »Suffizienz als politisches Programm ist möglich und notwendig, um die Bedingungen für gutes Leben zu verbessern. Dabei hat Suffizienzpolitik viele Ansatzpunkte. […] Wir haben sie nach vier Bereichen strukturiert: Den Politiken des Ermöglichens, des Ordnungs-Rahmens, der Gestaltung in bedürfnisrelevanten Politikbereiche und nach den Orientierungslinien für ein suffizientes Leben: langsamer, näher, weniger und anders.« (Schneidewind/ Zahrnt 2013: 163)
Vager Suffizienzbegriff in der Klimadebatte Während der Suffizienzbegriff in der Nachhaltigkeitsdebatte seit Beginn der 1990er Jahre vorkommt und im Kontext der Postwachstumsdebatte an Bedeutung gewonnen hat, lässt sich dies für die Klimadebatte nicht sagen. In den Sachstandsberichten des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) kommt Suffizienz nicht vor. Allerdings gewinnt der Begriff implizit an Bedeutung. Während im zweiten Sachstandsbericht (IPCC 1995) Lebensstile, Konsummuster und Verhaltensweisen fast nicht erwähnt werden, hat sich dies im jüngsten, fünften Sachstandsbericht (IPCC 2014) verändert. Es wird jedoch sehr allgemein von nachhaltigen Lebensweisen oder Lebensstiländerungen gesprochen. Gegenüber den konkreten Berechnungen und Szenarien zu Energieverbräuchen, zum Energiemix, zu Effizienzpotenzialen und deren Kosten verbleiben Aussagen zu Lebensweisen und Verhaltensmustern im vagen. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Die Klimawandeldebatte ist stark naturwissenschaftlich geprägt, und die Ergebnisse des IPCC beruhen auf Prognosen, die aus Szenarienberechnungen abgeleitet werden. Diese sind hoch abstrakt. Sie sperren sich gegen das nicht quantitativ Messbare, gegen soziale, kulturelle und normative Aspekte. Der Klimaforscher und ehemalige Direktor des Max-Planck-Instituts für Meteorologie, Hartmut Graßl, hat überdies im Rahmen der Ringvorlesung »Herausforderung Klima: Natur- und Wissenschaftsforschung im Handlungsdruck« 2009 deutlich zum Ausdruck gebracht, dass Suffizienz klimapolitische Anliegen gefährden könne: Wenn die Politik überzeugt werden solle, dass es einen menschengemachten Klimawandel gebe, der einschneidende Maßnahmen erfordere, so sei der Verzichtsethos der Suffizienz gerade nicht förderlich. Ein anderer Grund liegt wie oben erwähnt darin, dass die Nachhaltigkeitszugänge der Effizienz und der Konsistenz sehr viel besser an vorhandene Rationalitätsmuster anschließen. Einen größeren Stellenwert hat der Begriff bzw. die Bedeutung von Suffizienz in der zivilgesellschaftlichen Debatte (vgl. BUND/Brot für die Welt 2008) und in der feministischen Debatte zum Klimawandel (vgl. Spitzner 2009).
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Während die Klimaschutzdebatte stark von Effizienz- und Konsistenzansätzen dominiert wird, stehen in der Klimaanpassungsdebatte Extremereignisse (Flutkatastrophen, Hitzewellen, Stürme), Klimarisiken und Wissensunsicherheiten im Vordergrund. Außerdem sind Klimaanpassungsstrategien häufig technisch-ingenieurswissenschaftlich geprägt, so dass auch hier von Suffizienz kaum gesprochen wird. Dies ändert sich, wenn der Klimawandel qualitativ, zivilgesellschaftlich und/oder lebensweltlich wahrgenommen wird (Winterfeld 2011). Beispiele zum Gebrauch des Suffizienzbegriffs in der Klimawandeldebatte: »Behaviour, lifestyle and culture have a considerable influence on energy use and associated emissions, with high mitigation potential in some sectors, in particular when complementing technological and structural change (medium evidence, medium agreement). Emissions can be substantially lowered through changes in consumption patterns, adoption of energy savings measures, dietary change and reduction in food wastes.« (IPCC 2014: 32) »Der Klimawandel lässt sich nicht mehr leugnen, und die Ölkrise macht sich über die Weltmarktpreise gebieterisch geltend. Das Ende der großen Maßlosigkeit verlangt eine Antwort – aber welche?« (Bund/Brot für die Welt 2008: 51) »[…] research shows that women in general are more able than most men to recognise the urgency of global warming and to adjust their personal energy consumption, for instance by changing shopping habits. On the other hand, sociological data from Europe suggests that many men appear to identify culturally with high-powered technologies. Trips taken by men are overwhelmingly by car.« (Spitzner 2009: 219) »All dies ist nur möglich geworden, weil sich unser Denken geändert hat. Beispielsweise macht unser […] System zur Müllentsorgung nur deshalb Sinn, weil sehr wenig Müll anfällt, seitdem der Gedanke der Kreislaufwirtschaft und der schonende und effiziente Umgang mit Ressourcen Wirklichkeit geworden ist. Am schwierigsten war die Geschichte mit der Suffizienz. Dass weniger mehr sein kann, dass es nicht Materielles und gleichwohl sehr Wertvolles gibt, und dass uns dies wirklich reich macht – diese Haltung ist nicht von alleine in den Vordergrund getreten. Sondern es bedurfte einer großen sozialen Bewegung, um die marktwirtschaftliche zugunsten einer gemeinwohlorientierten Ordnung zu relativieren. Hier haben viele schwarz gesehen. Der Mensch sei ein Nutzen- und Vorteilsmaximierer. Dass Menschen von sich aus sozial fähig sind und ihnen Gemeinschaft Spaß macht und sie dennoch auch eigensinnig und eigenständig sein können – ach, es war nicht leicht!« (Winterfeld et al. 2011: 4f.) Begriffe verändern sich. Sie lassen sich nicht in Beton gießen und mit feststehenden Bedeutungen versehen. Der Begriff Suffizienz wurde in der Klimadebatte zunächst und ganz überwiegend nicht verwendet; auch aktuell steht er eher als Ergänzung individuellen Verhaltens zu technischen und strukturellen
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Veränderungen, als etwas Wichtiges, das dennoch außerhalb der eigentlichen Vorgänge liegt. Doch auch wenn Suffizienz politischer gefasst wurde, hat die Sache der Suffizienzpolitik Haken: Erstens kann die Suffizienz, ebenso wenig wie das »Gute Leben«, verordnet und ›aufgeherrscht‹, das heißt den Bürgerinnen und Bürgern regulativ aufgenötigt, werden. Würde sie den Bürgerinnen und Bürgern aufgezwungen, würde einer widerstrebenden Gesellschaft politisch befohlen, wie gut zu leben sei, so bestünde die Gefahr, dass ›die Tugend mit Schrecken herrschen‹ würde. Wie in der französischen Revolution würden die sperrigen Menschen kopfgekürzt unterworfen (Narr 2015: 14). Zweitens gibt es in Deutschland besonders in Verbindung mit der reformierten Sozialpolitik, der Agenda 2010 von 2000 und den Arbeitsmarktgesetzen (Hartz-Gesetze) von 2002, viel an ›erzwungener‹ Suffizienz. Doch müsste im Grunde die Suffizienz gerade umgekehrt und als doppeltes Schutzrecht formuliert werden: als Recht, nicht immer mehr haben wollen zu müssen (Winterfeld 2002: 31) – wie auch als Recht, etwas (savings) übrig behalten zu dürfen. Dies ist ein Ansatz einer transnationalen sozialen Bewegung des Globalen Südens, der savings nicht individuell anlegt, sondern als gemeinschaftlich erbrachte und geteilte savings. Dies würde aber drittens für die Politik eine enorme Herausforderung bedeuten. Ihre allererste Aufgabe wäre nicht, Maßnahmen zur ›Regulierung von Suffizienz‹ zu ergreifen. Sondern ihre allererste Aufgabe wäre etwas ganz Neues und zugleich sehr Altes: Politik müsste über sich selber nachdenken und sich womöglich selbst in Frage stellen. Sie müsste ihre eigene Wachstumsabhängigkeit reflektieren und über die Wachstumsära hinaus denken.
Weblinks Suffizienzbegriff und Suffizienzpolitik des Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V., BUND: www.bund.net/index.php?id=21811 Blog zu Wachstumszwängen und Suffizienzperspektiven deutscher Umweltforschungsinstitute: http://blog.postwachstum.de Blog zu Suffizienz als Widerstand gegen Konsumgesellschaft vom Amt für Werbefreiheit und gutes Leben: http://amtfuerwerbefreiheit.org
Literatur BUND/Brot für die Welt (Hg.) (2008): Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten Welt. Frankfurt a.M.: Fischer. IPCC (2014): Climate Change 2014, Synthesis Report, Summary for Policymakers. www.de-ipcc.de/_media/SYR_AR5_SPM.pdf (01.04.2015).
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Linz, Manfred (2015): Suffizienz als politische Praxis. Ein Katalog. Wuppertal Spezial 49. http://epub.wupperinst.org/frontdoor/index/index/docId/5735 (27.05.2015). Linz, Manfred (2002): Warum Suffizienz unentbehrlich ist. In: Wuppertal Papers 125: 7-14. Narr, Wolf-Dieter (2015): Niemands-Herrschaft. Eine Einführung in Schwierigkeiten, Herrschaft zu begreifen: Winterfeld, Uta von (Hg.): Hamburg: VSA. Sachs, Wolfgang (1993): Die vier E’s. Merkposten für einen maßvollen Wirtschaftsstil. In: Politische Ökologie 11(33): 69-72. Salleh, Ariel (ed.) (2009): Eco-Sufficiency and Global Justice. Women Write Political Ecology. London: Pluto Press. Schneidewind, Uwe/Zahrnt, Angelika (2013): Damit gutes Leben einfacher wird. Perspektiven einer Suffizienzpolitik. München: Oekom. Seidl, Irmi/Zahrnt, Angelika (Hg.) (2010): Postwachstumsgesellschaft. Konzepte für die Zukunft. Marburg: Metropolis. Spitzner, Meike (2009): How Global Warming is Gendered. A View from the EU. In: Ariel Salleh (Hg.) (2009): Eco-Sufficiency and Global Justice. Women write Political Ecology. London: Pluto Press: 218-229. von Winterfeld, Uta (2002): Reflexionen zur Suffizienz als politischer Angelegenheit in sieben Etappen. In: Wuppertal Paper 125: 27-37. von Winterfeld, Uta (2011): Vom Recht auf Suffizienz. In: Rätz, Werner/von Egan-Krieger, Tanja/Muraca, Barbara/Passadakis, Alexis/Schmelzer, Matthias/Vetter, Andrea (Hg.): Ausgewachsen! Soziale Gerechtigkeit. Soziale Rechte. Gutes Leben. Hamburg: VSA. von Winterfeld, Uta /Gasser, Sarah/Reuter, Klaus (2011): So wollen wir leben. Erzählte Szenarien und ein Leitbild. Dokumentation der Zukunftsworkshops. www.lag21.de/fa/editor/Dokumente/Dynaklim/Dokumentation_ Szenarien-_und_Leitbildworkshop_dynaklim.pdf (27.05.2015).
Wachstum und Wohlstand Ulrich Brand Das enge Band zwischen Wirtschaftswachstum und Wohlstand ist in den frühindustrialisierten Ländern gerissen. Kapitalistisch betriebenes Wirtschaftswachstum führt zunehmend zu Problemen wie Klimawandel und Umweltzerstörung, wachsender Ungleichheit und potenziell zu Instabilität. Und es erschwert die Entwicklung gesellschaftlicher Alternativen. Ein anderes Verständnis von Wohlstand ist daher notwendig.
Unhinterfragtes Wirtschaftswachstum Wirtschaftswachstum, die in Geld gemessene Zunahme der jährlichen Produktion von Waren, wirkt weiterhin als verteilungspolitische Versöhnungsformel kapitalistischer Gesellschaften. Das zeigt sich in der aktuellen Krise deutlich und hat durchaus einen materiellen Kern: Denn damit wachsen nicht nur tendenziell die Profite der Unternehmen und Investor_innen, sondern unter Umständen auch die finanzielle Grundlage des Staates und die Einkommen der Beschäftigten. Besonders in Zeiten ökonomischer Krisen wird deutlich, was es bedeutet, wenn ökonomisches Wachstum nicht gesichert ist. Unter Bedingungen eines sich globalisierenden Kapitalismus sind Wachstumsfragen eng verbunden mit solchen der Wettbewerbsfähigkeit. Die historischen Kämpfe der Arbeiterbewegung haben dazu geführt, dass die wachstums-, wirtschafts- und verteilungspolitischen Dimensionen gesellschaftlicher Entwicklung stark politisiert sind. Auch die internationalen (imperialen) Voraussetzungen kapitalistischen Wirtschaftswachstums, d.h. die Tatsache, dass Menschen in Kolonien oder peripheren Ländern zu schlechteren Bedingungen arbeiten und durch den internationalen Handel zum Reichtum in den wohlhabenden Ländern beitragen, wurde bereits Mitte des 19. Jahrhunderts und dann insbesondere in der Imperialismus-Debatte vor 100 Jahren zum Thema (etwa Luxemburg 1913). Andere Aspekte wurden dabei an den Rand gedrängt und teilweise erst später wichtig: etwa Forderungen nach Geschlechtergerechtigkeit, die Politisierung der Umwelt-
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belastungen des Wachstums und des damit verbundenen Produktionsmodells. Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit werden von unterschiedlichen gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Schulen in ihren Grundlagen und Wirkungsmechanismen kaum hinterfragt. Neoklassische und neoliberale Ansätze wollen das Wachstum durch liberalisierte und deregulierte Märkte und gestärkte Investoreninteressen fördern. Entsprechend wird in der aktuellen Krise in vielen Ländern für Anpassungen der Staatsausgaben, Privatisierungen und die Deregulierung der Arbeitsmärkte plädiert (Austeritätspolitik). Demgegenüber weisen keynesianische Ansätze darauf hin, dass Ungleichheit eine zentrale Ursache für fehlendes Wachstum sei. Die Vermögensbesitzer_innen würden stärker sparen als konsumieren, was zu Problemen bei der effektiven Nachfrage führe. Deshalb müssten die Löhne steigen. Zudem sollte in Krisenzeiten die Rolle des Staates gestärkt werden, damit dieser antizyklische Konjunkturpolitik betreiben könne. Beiden Orientierungen ist aber gemeinsam, dass wirtschaftliches Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit gesichert bzw. gesteigert werden soll. Sie sind in gewisser Weise Grundvoraussetzung und Zielmarke wirtschaftspolitischen Handelns.
Ungebremstes Wirtschaftswachstum als Gesellschaftsmodell Beiden Ansätzen gemeinsam ist die Überzeugung, dass die Klima- und Umweltpolitik dem Wirtschaftswachstum nicht entgegenstehen sollte. Im Gegenteil: Geeignete politische Rahmensetzungen sollten das Wachstum und die Wettbewerbsfähigkeit fördern und im besten Fall nicht umweltschädlich sein (vgl. Brand 2012). Marktbasierte und sogenannte flexible Instrumente sollen Klimapolitik für Unternehmen und Finanzmarktakteure attraktiv machen und zu entsprechenden Investitionen anregen. Klimapolitik wird explizit als Politik eines »nachhaltigen Wirtschaftswachstums« verstanden, weil damit der Klimawandel besser bearbeitet werden könne (Art. 3 der Klimarahmenkonvention). Die neoklassisch/neoliberale Position wird von der Annahme getragen, mit zunehmendem technologischen Fortschritt können die Umwelt- und Klimaprobleme bearbeitet werden. Es hat sich in den letzten Jahren eine Debatte entwickelt, in der die mit einer engen Orientierung am Wirtschaftswachstum verbundenen Probleme durchaus anerkannt werden. Diese Diskussion wird auch in klimapolitischen Kommissionen von Regierungen, Parlamenten und internationalen Organisationen geführt (vgl. etwa OECD 2011; EU-Kommission 2009; Enquete-Kommission 2013). Es wird in der Debatte davon ausgegangen, dass Wohlstand eben nicht nur an der in Preisen ausgedrückten gesellschaftlichen Wirtschaftsleistung und individuellem Einkommen hängt, die wiederum auf zunehmender Erwerbsarbeit und Arbeitsproduktivität basieren. Andere Dimensionen sind
Wachstum und Wohlstand
Gesundheit und Bildung, Lebenserwartung bzw. die Länge eines gesunden Lebens, intakte soziale Kontakte, die Qualität der Arbeit sowie ein nicht schädigendes Verhältnis zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit (work-life-balance), Chancengerechtigkeit, persönliche Sicherheit und individuelle Freiheiten, politische Partizipationsmöglichkeiten und lebenswerte Umwelt. Initiativen wie Beyond GDP der EU-Kommission oder »Wachstum im Wandel« der österreichischen Bundesregierung sind wichtige Beiträge zur Diskussion um Wirtschaftswachstum auf europäischer und nationaler Ebene. In den letzten Jahren werden daher verstärkt die erwähnten Probleme einer Fixierung auf kapitalistisch getriebenes Wachstum zur Diskussion gestellt, die bisher öffentlich und politisch zu wenig thematisiert wurden. Und dennoch: Allen Kritiken zum Trotz wird Wirtschaftswachstum in der gesellschaftspolitischen Debatte und in den dominanten Politiken weiterhin mit steigendem Wohlstand gleichgesetzt. Ein ›Wachstumsbeschleunigungsgesetz‹ in Deutschland beruht eben auf jener Setzung, die historisch für eine gewisse Zeit durchaus den Erfahrungen großer Teile der Bevölkerung entsprach. Die Evidenz der Notwendigkeit von Wirtschaftswachstum wird alltäglich produziert. Das geschieht auch durch das Gegenbild, nämlich ausbleibendes kapitalistisches Wachstum, was unter den aktuellen ökonomischen, politischen und (alltags-)kulturellen Bedingungen zur Krise führen muss. Damit wird eine wichtige Entwicklung übergangen: Wirtschaftswachstum und dessen wirtschaftspolitische Orientierung schafft selbst vielfach Instabilität.
Soziale und ökologische Kosten ungebrochener Akkumulation Seit der neoliberalen Wende wird deutlich, dass sich Wachstum und Wohlstand entkoppeln. Der Finanzmarktkapitalismus führt zuvorderst zu steigenden Einkommen der Vermögensbesitzer_innen. Die Ergebnisse des Wirtschaftswachstums werden immer selektiver verteilt. Zudem werden nicht unbedingt neue Arbeitsplätze geschaffen ( jobless growth) oder Arbeitsplätze in flexibilisierten und Niedriglohnbereichen (vgl. Dörre et al. 2014). Die Verdichtung der Arbeitszeit und die zunehmend entsicherten Arbeitsverhältnisse führen zu Stress, Unsicherheit und Unzufriedenheit der Arbeitnehmer_innen, aber auch zu Druck auf die unbezahlte Sorgearbeit (Biesecker 2014). Ökonomische, politische und kulturelle Beschleunigung (Rosa 2012) wird immer weiter vorangetrieben und generiert Instabilität und Probleme. Richard Wilkinson und Kate Pickett zeigen mit dichtem empirischem Material: »Wirtschaftswachstum war für lange Zeit Motor des Fortschritts, doch in den reichen Ländern ist dieser Antrieb inzwischen weitgehend erschöpft. Das ökonomische Wachstum ist nicht mehr wie einst von Maßnahmen für das Wohlergehen und Wohlbefinden der Bürger begleitet. Schlimmer noch: Langfristig haben Ängste, Depressionen und andere soziale Probleme mit wachsendem Wohlstand zu-
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genommen.« (Wilkinson/Pickett 2010: 20) Wachstum erhöht die intra- und intergenerationelle Ungerechtigkeit, etwa durch zunehmenden Statuskonsum und positionalen Wettbewerb heute oder – auf die Zukunft bezogen – die Verschlechterung der Lebensbedingungen künftig lebender Menschen (Muraca 2014). Die Orientierung an kapitalistisch betriebenem Wachstum führt neben den sozialen Kosten zu enormen Umweltproblemen. Ausgehend von der Studie »Grenzen des Wachstums« (Meadows et al. 1972) entwickelte sich eine intensive wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Debatte über die zerstörerischen Implikationen auf zunehmender Ressourcennutzung basierender wirtschaftlichen Aktivitäten. Es gibt, so die zentrale Annahme der Debattenbeiträge, Grenzen des Ressourcenverbrauchs und Möglichkeiten der Energieumwandlung. Das weitere Wachsen der Produktion von Gütern und Dienstleistung, insbesondere von kurzlebigen Gütern, schafft eben auch potenzielle und reale soziale Instabilität. Ressourcen für den Akkumulationsprozess müssen beschafft werden, was immer weniger konfliktfrei und ausschließlich über den Markt abläuft. Diese Diskussion wird seit den 1990er Jahren ergänzt durch die Grenzen der Aufnahmefähigkeit von Emissionen in der Atmosphäre und Stratosphäre bzw. die Re-Absorption durch die sogenannten Kohlenstoffsenken, insbesondere Wälder und Meere (→ REDD). Der Klimawandel schafft zusätzliche Unsicherheiten inklusive der berüchtigten »Kipppunkte« des regionalen und globalen Klimas. Oder des Auftauens von Permafrostböden, womit unvorstellbare Mengen an Methangas freigesetzt werden (→ Unsicherheit). Seit einigen Jahren wird diese Perspektive ergänzt durch die als problematisch eingeschätzte Zerstörung zusammenhängender Ökosysteme und das Erreichen »planetarischer Grenzen« (Rockström et al. 2009; kritisch zur Metapher der ›Grenzen‹ Dietz/Wissen 2009). Neben den breit diskutierten sozialen und ökologischen Dimensionen wird ein Aspekt häufig übersehen: Wirtschaftliches Wachstum und die wirtschaftspolitische Fixierung darauf ist eng verbunden mit kapitalistischer Herrschaft (Brand 2014). Die kapitalistische Dynamik wird angefeuert durch die Dominanz des Tauschwerts über den Gebrauchswert. Das Kapital macht sich auf die rastlose Suche nach Verwertung, ob auf den Finanzmärkten, durch Investitionen in Industrie oder Dienstleistung und die damit verbundene Inwertsetzung der Arbeitskraft, durch den Kauf von Land oder die Ausbeutung von Ressourcen. Der kapitalistischen Wachstumsmaschinerie ist die Tendenz zur Überakkumulation und Überproduktion inhärent. Teil der Wachstumsmaschinerie sind aber auch die Abhängigkeit von Erwerbsarbeit sowie die Finanzierung des Staates durch Steuerabgaben. Die meisten Menschen erkennen weitgehend unfreiwillig und machtlos als Lohnabhängige nicht nur die kapitalistische Wachstumsmaschinerie an, sondern auch die darunter liegenden Herrschafts- und Eigentumsverhältnisse.
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Das im Denken und Handeln nicht Hinterfragbare sichert Verhältnisse von Dominanz und Unterwerfung, Reichtum und Armut, Einschluss und Ausschluss. Herrschaft ist auch eine bestimmte Form der Politik, nämlich eine an Staat und Parteien ausgerichtete, welche sich stark an der Etablierung politisch angemessener kapitalistischer Wachstumskonstellationen orientiert. Zugespitzt ausgedrückt: Die Menschen werden in der kapitalistischen Wachstumszange gehalten durch die Angst vor Verlust ihrer Lebensgrundlage, nämlich der Erwerbsarbeit, und dem damit verbundenen Statusverlust. Die herrschende Produktions- und Lebensweise hat viel mit Herrschaft zu tun. »Geiz ist geil« und »Kauf dich glücklich« sind falsche, aber Herrschaft sichernde Versprechen. Der Produktivismus unter dem Diktum globaler Wettbewerbsfähigkeit bedeutet kapitalistische Herrschaft im Betrieb und außerhalb führt zu Arbeitsverdichtung und burn-out. Diese kapitalistische Arbeitsform basiert neben der Klassendifferenzierung auch auf rassifizierter, geschlechtsspezifischer und internationaler Arbeitsteilung und reproduziert diese gleichzeitig permanent (→ Geschlechtergerechte Klimaanpassung).
Wohlstand und Verteilungsgerechtigkeit ohne Wachstum Während die genannten keynesianischen Ansätze mit geeigneten staatlichen Politiken die Macht der Vermögensbesitzer_innen einschränken und den Finanzmarktkapitalismus verändern wollen, argumentieren kritischere Ansätze, dass der kapitalistische Akkumulationsimperativ und die damit verbundenen Herrschaftsverhältnisse verändert werden müssen (Thie 2013). Das zweite Argument führt zu einem alternativen Wohlstandsbegriff, der auf politische Gestaltung, ökologisch verträgliche Produktion und ein attraktives Leben für alle Menschen setzt. Das bedeutet in seiner Konsequenz, dass die de-stabilisierenden Formen des kapitalistischen Wachstums und die damit verbundenen Interessen verändert werden müssen. Dieser Prozess wird von sozial-ökologischen Konflikten begleitet sein, die im Horizont einer sozial-ökologischen Transformation geführt werden (Brand/Pühl/Thimmel 2013) (→ sozial-ökologische Transformation). Immer mehr Menschen wehren sich gegen die Zumutungen aktueller Politik, sie wollen längst anders leben und arbeiten: sozial, ökologisch und gemeinsam. Die Kämpfe gegen Prekarisierung und für gute Arbeit, für selbstbestimmtes Wohnen und lebenswerte Städte, urban gardening, solidarische Ökonomie, die Commons-Bewegung und die Gründung von Energiegenossenschaften sind ihre unmittelbaren Antworten. Ihr Protest und ihre Ideen finden jedoch keinen Widerhall in den Talkshows und Expert_innenrunden. Das Versprechen »Wachstum gleich Wohlstand« wird immer weniger geglaubt und real erfahren. Und dennoch – das ist die Ambivalenz einer progressiven Position – bleibt steigender materieller Wohlstand eine wichtige Orientierung.
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Ein nachhaltiges Wirtschaftssystem bedarf politischer Rahmenbedingungen wie etwa einer ökologischen Steuerreform und strikter Obergrenzen für den Verbrauch von Ressourcen und den Ausstoß von Emissionen. Notwendig sind kulturelle Veränderungen wie etwa der Abbau des Konsumismus, Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit, der Abbau von Einkommensungleichheit, die Möglichkeit zu Selbstbestimmung für die Menschen sowie Unterstützung der Länder des Globalen Südens beim Umbau ihrer Ökonomien hin zu einer solidarischen Produktions- und Lebensweise (Jackson 2011: 175ff.; ähnlich Martínez Alier et al. 2010; Muraca 2014; Habermann 2009; Paech 2012). Ein progressives Wohlstandsverständnis muss den Wachstumstreiber des Kapitalismus, nämlich das tief in die ökonomischen und politischen Institutionen, aber auch in den Alltag und die Subjektivität der Menschen eingelassene kapitalistische Profit- und Konkurrenzprinzip, zurückdrängen.
Weblinks Blog von deutschen Umweltforschungsinstituten und dem NRO-Netzwerk DeGrowth zur Postwachstumsgesellschaft: blog.postwachstum.de Informationen der Initiative Beyond GDP der EU-Kommission zur Wachstums- und Wohlstandsdebatte: www.beyond-gdp.eu Informationen und Links der Initiative »Wachstum im Wandel« der österreichischen Regierung zur Wachstumsdebatte: www.wachstumimwandel.at Kommentierung der Enquete-Kommission »Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität« aus NRO-Perspektive: www.enquetewatch.de
Literatur Biesecker, Adelheid (2014): Die ganze Arbeit im Blick. Gutes Leben braucht Vorsorgen. In: Kurswechsel 2: 60-66. Brand, Ulrich (2014): Kapitalistisches Wachstum und soziale Herrschaft. Motive, Argumente und Schwächen aktueller Wachstumskritik. In: Prokla 175: 289-306. Brand, Ulrich/Puhl, Katharina/Thimmel, Stefan (Hg.) (2013): Wohlstand – wie anders? Linke Perspektiven. Berlin: Rosa-Luxemburg-Stiftung. Dietz, Kristina/Wissen, Markus (2009): Kapitalismus und »natürliche Grenzen«. Eine kritische Diskussion ökomarxistischer Zugänge zur ökologischen Krise. In: Prokla 159: 351-370. Dörre, Klaus/Jürgens, Kerstin/Matuschek, Ingo (Hg.) (2014): Arbeit in Europa. Marktfundamentalismus als Zerreißprobe. Frankfurt a.M./New York: Campus.
Wachstum und Wohlstand
Enquete-Kommission (2013): Schlussbericht der Enquete-Kommission »Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität« des Deutschen Bundestages. Drucksache 13/300. Berlin: Deutscher Bundestag. EU-Kommission (2009): Das BIP und mehr. Die Messung des Fortschritts in einer Welt im Wandel. KOM (2009): 433. Habermann, Friederike (2009): Halbinseln gegen den Strom. Anders leben und wirtschaften im Alltag. Königstein: Ulrike Helmer. Jackson, Tim (2011): Wohlstand ohne Wachstum. Leben und Wirtschaften in einer endlichen Welt. München: Oekom. Luxemburg, Rosa (1913): Die Akkumulation des Kapitals. In: Rosa Luxemburg. Gesammelte Werke. Band 5. Berlin: Dietz. Martínez Alier, Joan/Pascual, Unai/Vivien, Franck-Dominique/Zaccai, Edwin (2010): Sustainable de-growth. Ecological Economics 69(9): 1741-1747. Meadows, Donella H./Meadows, Dennis L./Randers, Jorgen/Behrens, William W. (1972): Die Grenzen des Wachstums. Stuttgart: DVA. Muraca, Barbara (2014): Gut leben. Eine Gesellschaft jenseits des Wachstums. Berlin: Wagenbach. OECD (2011): How’s Life? Measuring well-being. Paris: OECD. Paech, Niko (2012): Befreiung vom Überfluss. München: Oekom. Rockström, Johan et al. (2009): Planetary Boundaries. Exploring the safe operating space for humanity. In: Ecology and Society 14(2): 32-59. Rosa, Hartmut (2012). Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung. Umrisse einer neuen Gesellschaftskritik. Berlin: Suhrkamp. Thie, Hans (2013): Rotes Grün. Pioniere und Prinzipien einer ökologischen Gesellschaft. Hamburg: VSA. Wilkinson, Richard/Pickett, Kate (2010): Gleichheit ist Glück. Berlin: Haffmans & Tolkemitt.
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Weltbürgergesellschaft Malte Timpte Der Verweis auf das Potenzial der Welt(bürger)gesellschaft wird zunehmend lauter, da die Problemlösungsfähigkeit nationaler wie internationaler Politik in Frage gestellt wird. Bürger_innen sollen so in die Pflicht genommen werden, durch einen klimafreundlichen Lebenswandel, mehr Eigeninitiative und Unterstützung der etablierten Klimapolitik zum globalen Klimaschutz beizutragen. Dabei wird in Politik und Wissenschaft kaum berücksichtigt, dass der Prozess der Klimaverhandlungen erst durch das Engagement der Bürger(bewegungen) initiiert wurde bzw. am Leben gehalten wird und ebensowenig, dass die angesprochenen Bürger_innen dieser Welt sich unter ganz unterschiedlichen Voraussetzungen an den Klimawandel anpassen müssen oder Klimaschutz leisten können.
Die neue Verantwortung der (Welt-)Bürger? Der anthropogen verursachte Klimawandel gilt als belegt, seine Auswirkungen sind für alle Menschen weltweit in verschiedener Intensität und mit sehr unterschiedlichen, teils lebensbedrohlichen Folgen spürbar. Auch darüber, dass die Veränderung des Weltklimas und seine negativen Auswirkungen durch konkrete Maßnahmen verlangsamt bzw. aufgehalten werden muss, gibt es breiten wissenschaftlichen und politischen Konsens (IPCC 2014). Bei der UN-Klimakonferenz in Kopenhagen im Jahr 2009 erkannten bereits viele Staaten an, dass die Treibhausgasemissionen weltweit reduziert werden müssen, um den globalen Temperaturanstieg nicht über zwei Grad Celsius steigen zu lassen (UNFCCC 2009). Dieses Ziel wurde im Sommer 2015 von der Gruppe der sieben führenden Wirtschaftsnationen (G7) bekräftigt (Deutsche Bundesregierung 2015). Jedoch gibt und gab es bisher weder über die richtige Strategie, die Art und den Umfang der Maßnahmen, die nationalen Reduktionsziele, noch über die Zuständigkeit zur Umsetzung, eine Einigung im Rahmen eines rechtlich verbindlichen Klimaabkommens (Reimer 2015). Da sich die Regierungsvertreter_innen bei den zwischenstaatlichen Verhandlungen der UN-Klimakonventionen bisher nicht einigen konnten, wird
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von verschiedenen Akteuren vermehrt auf die globale Verantwortung, die Solidarität und den Veränderungswillen einer globalen (Bürger-)Gesellschaft gesetzt. In der Klimadebatte werden dabei verschiedene Begriffe wie Welt- oder auch Erdbürger_innen, globale Zivilgesellschaft oder Welt-(Bürger-)Gesellschaft synonym verwendet, um Menschen und Strukturen unabhängig von nationalstaatlichen Kontexten zu verorten. Im deutschsprachigen Raum hat zuletzt vor allem der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) in seinem Gutachten »Klimaschutz als Weltbürgerbewegung« die Weltbürger als wichtige Akteursgruppe für die Lösung der Klimaprobleme herausgestellt. Zur Weltbürgergesellschaft werden hier Akteure gerechnet wie Kirchen, Nichtregierungsorganisationen (NROs), Wissenschaft (z.B. Weltklimarat), soziale Bewegungen, Initiativen und Individuen, die gemeinsam mit transnationalen Netzwerken aus Vorreiterstaaten, Kommunen und Unternehmen die Umsetzung von freiwilligen nationalen Einsparungszielen kontrollieren und dem Klimaschutzprozess mehr Transparenz verleihen sollen (WBGU 2014). Die Akteure der Weltbürgergesellschaft spielen bei der »horizontalen Verteilung von Verantwortung« laut WBGU eine zentrale Rolle. Sie motivieren und ergänzen die bisherige internationale Klimapolitik der Nationalstaaten. In einem neuen, bei der Klimakonferenz in Paris im Dezember 2015 zu verhandelnden Klimavertrag sollten den Akteuren der Weltbürgergesellschaft darum mehr formelle Verantwortung und Teilhaberechte wie zum Beispiel das Verbandsklagerecht zugestanden werden (WBGU 2014: 55). Im Sondergutachten wird der Begriff der Weltbürgergesellschaft nicht klar definiert oder von sozialen Bewegung abgegrenzt (→ Klimabewegung). Es wird lediglich auf eine zunehmende individuelle Verantwortungsbereitschaft beim Klimaschutz und das Bekenntnis zu Dekarbonisierung und sozial-ökologischer Transformation verwiesen. Auch das gesellschaftliche Veränderungspotenzial einer Vielzahl von Initiativen und Projekten aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft wie zum Beispiel der Transition Town-Bewegung oder der Divestment-Bewegung (keine Investitionen in fossile Brennstoffe) wird als Teil einer globalen Lösung hervorgehoben. Für Hans Joachim Schellnhuber, Leiter des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung und WBGU-Mitglied, geht es sowohl um den Beitrag der Bürger_innen zum Klimaschutz, zum Beispiel durch individuellen Konsum oder eine Gleichverteilung von Emissionsrechten (Schellnhuber/Klingenfeld 2014), als auch um das »Mosaik aus Bewegungen, die sich zu einem globalen Bild zusammensetzen« (Schwarz 2014). Die innovative Kraft einer Weltklimabewegung soll die bei den Klimaverhandlungen an ihre Grenzen geratenen Regierungen unter Legitimationsdruck setzen, neue Handlungsmöglichkeiten aufzeigen und eine Dynamik hin zu einer von fossilen Energieträgern unabhängigen Gesellschaft erzeugen: »Eine Weltbürgerbewegung kann aufzeigen,
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dass Klimaschutz in und mit der Gesellschaft funktioniert und dabei auch ökonomische Vorteile bringt. In diesem Wechselspiel muss und kann globaler Klimaschutz gelingen.« (WBGU 2014: 2) Die Hoffnung, dass die internationale Zivilgesellschaft die treibende Kraft für eine nachhaltige gesellschaftliche Veränderung ist und dass jeder Mensch in der Verantwortung steht, zur Lösung von Umweltproblemen beizutragen, ist nicht neu. Bereits 1987 entwarf die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung in ihrem Bericht Our Common Future einen ähnlichen Ansatz, der als wegweisend für die späteren Umweltabkommen bei den sogenannten Erdgipfeln war (WCED 1987). Der WBGU-Bericht wurde von verschiedenen Seiten kritisch diskutiert. Achim Brunnengräber kritisiert den Bericht unter anderem für eine unzureichende Berücksichtigung der Weltklimabewegung und unterstellt ihm mangelnden Realitätsbezug, indem er anführt, dass sich die Autor_innen nicht ausreichend mit der Geschichte, den Herausforderungen und den Konflikten sozialer Bewegungen und NROs im Klimakontext auseinandergesetzt haben und die Aktivitäten, Erfolge sowie den Einsatz als Mahner und Antreiber bei den Klimaverhandlung nicht hinreichend würdigen (Brunnengräber 2014). Sybille Bauriedl zeigt auf, dass das Verständnis von Weltbürgergesellschaft, das dem Bericht zu Grunde liegt, nicht sehr differenziert ist und eine eurozentrische und wirtschaftsfreundliche Perspektive aufweist (Bauriedl 2015). Zudem würden die durch den Klimawandel verstärkten sozialen Ungleichheiten zwischen Industrienationen und Entwicklungsländern weiter verstärkt, da die Bürger_innen der westlichen Welt ihren ökologischen Fußabdruck, durch die marktbasierten Lösungsangebote des WBGU, in Regionen des globalen Südens verlagern. Die Autorin argumentiert, dass der Begriff der Weltbürgergesellschaft im WBGU-Bericht nicht alle Bürger_innen und auch nicht alle Organisationen der Bewegungen gleichermaßen mit einbezieht. So würden zum Beispiel nur NROs und Stakeholder als wichtige Akteure angesehen, die den Prozess der internationalen Klimaverhandlungen und seine Mechanismen und top down-Entscheidungsstrukturen anerkennen und ihn somit legitimieren. Zudem verweist der Bericht zwar auf den Begriff cosmopolitanism (vgl. Appiah, Benhabib, Beck in Bauriedl 2015; WBGU 2014), berücksichtigt dessen Definition aber nur begrenzt und zielt lediglich auf die Kriterien gemeinsamer globaler Ideale, Werte und Rechte. Einige Autor_innen des Sondergutachtens reagieren direkt auf diese Kritiken und legen dar, dass sie sich sehr wohl mit der Frage der Machtverhältnisse im Klimakontext, einem realistischen Status Quo der Klimaverhandlungen sowie mit der Rolle der Zivilgesellschaft befasst haben (Leggewie 2015). Sie verweisen darauf, dass sie in ihrem Bericht »Demonstrationsobjekte« vorstellen, die Beispiele für eine klimafreundliche und von Bürger_innen unterstütze Transformationen darstellen (z.B. Dekarbonisierungs- und lokale Energiewen-
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deprojekte): »Der WBGU erklärt die ›Weltbürgerbewegung‹ […] völkerrechtlich zum Subjekt […], das im Sinne des Klimaschutzes Partizipationsrechte erhält, um die Vertragsstaaten zu kontrollieren und zu geringe Ambitionsniveaus zu monieren.« (Ebd.: 11) Leggewie und seine Kolleg_innen weisen jedoch auch darauf hin, dass noch geklärt werden muss, welche anerkannten Organisationen und Akteure der Weltbürgergesellschaft den Klimaprozess kontrollieren sollen und wer über deren Auswahl und Legitimität zu entscheiden hat. Im Sondergutachten erwähnt werden etablierte kritische Organisationen und Bewegungen wie zum Beispiel Climate Justice Now! oder Via Campesina zumindest nicht. Da diese in der Vergangenheit immer wieder als Beobachter von den Klimagipfeln ausgeschlossen wurden oder sie freiwillig verlassen haben, um die Verhandlungen nicht länger durch ihre Anwesenheit zu legitimieren (CJN 2009), sind sie vermutlich mit dem Begriff der Weltbürgerbewegung nicht gemeint.
Massenbewegungen, digitaler Protest und globale Beteiligungsformate Im Vorfeld der Klimakonferenz in Kopenhagen 2009 (COP15), bei der ein Kyoto-Nachfolgeprotokoll verhandelt werden sollte, war eine nie dagewesene öffentliche Aufmerksamkeit für die Klimaproblematik und immenser Druck auf die Klimaverhandlungen durch zivilgesellschaftliche Gruppen zu beobachten. Etwa 25.000 Bürger_innen nahmen vor Ort an einer zentralen Kundgebung teil, auf einer zivilgesellschaftlichen Gegenkonferenz (Klimaforum09) informierten sich über 50.000 Besucher_innen über alternative Lösungsansätze (Van Der Zee/Batty 2009; Eriksen et al. 2010). Mit 13.482 registrierten Beobachter_innen verfolgten so viele nicht-staatliche Akteure wie noch nie die Verhandlungen in Kopenhagen, doch ein ambitioniertes verbindliches Abkommen haben die offiziellen Delegationen nicht ausgehandelt (UNFCCC 2013). Nach den enttäuschenden Ergebnissen von Kopenhagen und dem Verlust von Vertrauen in internationale Verhandlungen ging die Beteiligung zivilgesellschaftlicher Gruppen an Klimagipfeln zunächst zurück. Im September 2014 versammelten sich zuletzt wieder 300.000 Menschen in New York und in ca. 150 anderen Ländern zur, laut Veranstalter, größten Klimademonstration aller Zeiten, um die Staatengemeinschaft zum Handeln gegen den Klimawandel aufzufordern (z.B. Davey 2014). Nicht nur auf der Straße oder bei Konferenzen, sondern vor allem im Internet haben Netzwerke wie Avaaz oder die Kampagne 350.org, Individuen und Organisationen durch Online-Petitionen und Aufrufe grenzüberschreitend zusammengebracht. Beide Initiativen starteten in den USA und setzen auf die Veränderungskraft von digitalen Unterschriftenlisten, aber auch auf lokale, global koordinierte Aktionen. Ihre Kampagnen werden mittlerweile in 188
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Ländern (350.org 2015) bzw. von 41 Millionen Menschen in 194 Ländern (Avaaz 2014) unterstützt: »We are a global movement of citizens working to solve the climate crisis. We are global citizens organizing to transform our local communities. Working in solidarity across languages and continents, we form a powerful worldwide network united by our common humanity and our commitment to solving the climate crisis.« (350.org) Andere Ansätze, Bürger_innen weltweit im Kontext internationaler Politik zu Wort kommen zu lassen, sind zum Beispiel die World Wide Views-Bürgerkonsultationen oder der globale Fragebogen der UN zu den »Post2015-Entwicklungszielen« (UN 2015). Bereits im Jahr 2009 führte ein Konsortium unter Leitung der Danish Board of Technology Foundation zeitgleich Bürgerkonferenzen in 38 Ländern zum Thema Globale Erwärmung mit ca. 4.000 Teilnehmer_innen durch (Worthington et al. 2011). Die eingeladenen Bürger_innen diskutierten einen Tag lang Fragen, die auch auf der Agenda der kommenden UN-Klimakonferenz standen, und stimmten am Ende über verschiedene vorgegebene Aussagen ab. Dieses globale, wenn auch nicht repräsentative Meinungsbild wurde beim COP15 in Kopenhagen vorgestellt. Das Format wurde im Juni 2015 auf Einladung des Sekretariates der UN-Klimakonventionen und mit der Unterstützung der französischen Regierung zu den Themen Klima und Energie in 80 Ländern mit etwa 10.000 Teilnehmer_innen wiederholt. Hier wurden die Ergebnisse den Delegierten bereits bei den Vorbereitungskonferenzen zur UNFCCC-Konferenz COP21 präsentiert (WWViews 2015). Mit solchen Beteiligungsverfahren sollen Meinungen und Interessen der Weltgesellschaft in den internationalen Klimaprozess eingebracht werden. Jedoch werden die Ergebnisse solcher Prozesse bisher weder von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen noch von der Zivilgesellschaft oder der Klimabewegung aufgegriffen und unterstützt. Die angeführten Beispiele zeigen, dass es seit Jahren zu einer Mobilisierung und Vernetzung von Akteur_innen der Zivilgesellschaft zum Thema Klimawandel kommt und dass auch nicht-organisierte Individuen die Möglichkeit haben, ihre Forderungen durch Bürgerdialoge, weltweite Demonstrationen und Online-Petitionen zum Ausdruck zu bringen. Allerdings haben nicht alle Akteure und Organisationen den gleichen Zugang zu den Verhandlungen und bisher haben weder Massendemonstrationen, Petitionen oder deliberative Prozesse zu ambitionierten und gerechten Klimaverträgen geführt.
Welt(bürger)gesellschaft im Diskurs der Wissenschaft Ob es sich bei der beschriebenen Entwicklung um die Herausbildung einer Welt(bürger)gesellschaft handelt und welche Implikationen diese Veränderungen für nationale wie internationale Entscheidungsfindungsprozesse haben, darüber diskutieren Wissenschaftler_innen verschiedener Disziplinen schon
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seit etlichen Jahren. In der Politikwissenschaft wird zum Beispiel die Rolle der Zivil- oder Bürgergesellschaft (civil society), meist mit Fokus auf NichtRegierungsorganisationen und sozialen Bewegungen, im Verhältnis zu nationalstaatlicher Politik oder im Rahmen internationaler Foren untersucht (z.B. Young 1997; Walk/Brunnengräber 2000; Derman 2014). Die Soziologie befasst sich vor allem mit theoretischen Konzepten hinter dem Begriff der Weltgesellschaft und ihrer Entstehung. Besonders Niklas Luhmann, Jürgen Habermas und Ulrich Beck prägten nicht nur im deutschsprachigen Raum die Debatte. Neben der Herausbildung eines globalen Marktes wird auch eine Globalisierung der Politik, des Rechts, der Wissenschaft und sozialer Institutionen beobachtet (z.B. Luhmann 1986; Willke 2006; Höffe 1999). Globalisierung wird dabei nicht als gleichzeitige, lineare Entwicklung verstanden, sondern als asynchroner Prozess, der in verschiedenen Sektoren und Regionen unterschiedlich schnell verläuft (Becker et al. 2013). Dabei gibt es durchaus unterschiedliche Auffassungen, ob die Globalisierung zu mehr oder zu weniger Kooperationen von Nationalstaaten führt (z.B. Wobbe 2000). Durch die Schaffung internationaler Verhandlungsräume wie z.B. der UN oder der WTO wird auch eine Globalisierung von Werten und Menschen- bzw. Bürgerrechten beschrieben (z.B. Höffe 1999; Soysal 1996 in Wobbe 2000). Die verschiedenen Erklärungsmodelle und Verständnisse von Weltgesellschaft führen zu unterschiedlichen Ansätzen, wie die Gesellschaft und ihre Bürger_innen auf globale Bedrohungen wie den Klimawandel reagieren und wie sie in Lösungskonzepte eingebunden werden können. Auf die Eigeninitiative und die freiwilligen Beiträge einiger gesellschaftlicher Akteure zu setzen, wird der globalen Herausforderung jedoch nicht gerecht. Eine umfassendere Einbindung der Bürger_innen in Entscheidungsprozesse zu Klimafragen z.B. durch deliberative Prozesse wäre hier die Lösung, um den Abstand zwischen Entscheidern und Betroffenen zu verringern und ambitionierte wie nachhaltige Entscheidungen zu erzeugen. Diese Ansätze setzen jedoch sowohl Ressourcen und Transparenz voraus, den gleichen Zugang aller Beteiligten zum Prozess und zu Informationen, als auch die Möglichkeit, sich frei zu äußern. Zudem müssen sich die Entscheider dazu bereiterklären, die Ergebnisse demokratischer Prozesse und Mehrheitsentscheidungen mitzutragen. Ein Punkt, an dem die Klimaverhandlungen immer wieder gescheitert sind.
Weblinks Plattform zu internationaler Umwelt- und Klimapolitik aus Weltbürgerperspektive, World Wide Views: http://wwviews.org
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Weltklimarat Timmo Krüger Der Weltklimarat ist ein politikberatendes Wissenschaftsgremium, das auf technologische Innovationen und ihren flexiblen Einsatz innerhalb der gegebenen Rahmenbedingungen setzt. Damit wird die Suche nach möglichen Reaktionen auf die ökologische Krise eingeengt und entpolitisiert. Als realistisch (im Sinne von konsensfähig) und wissenschaftlich (im Sinne von prognostizier- und modellierbar) gelten nur noch Vorschläge, die sich ohne Infragestellung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse im Rahmen der bestehenden gesellschaftlichen Strukturen implementieren lassen.
Entstehung und Funktion des IPCC Der Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) wurde 1988 explizit als zwischenstaatlicher Sachverständigenrat vom UN-Umweltprogramm (UNEP) und der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) gegründet. Der intergouvernementale Charakter des IPCC, der für ein wissenschaftliches Gremium sehr ungewöhnlich ist, manifestiert sich in der Nominierung der mehr als 3.000 Expert_innen aus über hundert Ländern. Deren Rekrutierung erfolgt über die Regierungen bzw. Verwaltungen der Mitgliedsländer von UNEP und WMO. Das IPCC Bureau stellt aus den vorgeschlagenen Expert_innen das endgültige Autor_innenteam zusammen. Darüber hinaus entsenden die Regierungen auch politische Vertreter_innen ins IPCC-Plenum, dem obersten Entscheidungsgremium des IPCC. Die Hauptaufgabe des IPCC ist es, die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung in Bezug auf den Klimawandel und seine Folgen sowie darauf reagierende Vermeidungs- und Anpassungsstrategien zusammenzutragen. Diese Arbeit geschieht in drei Arbeitsgruppen und mündet in den regelmäßig (alle fünf bis sieben Jahre) erscheinenden Sachstandsberichten sowie in Sonderberichten zu spezifischen Themen. Die Arbeitsgruppe I (Science of Climate Change) besteht aus Naturwissenschaftler_innen unterschiedlicher Disziplinen und arbeitet zu den physikalisch-naturwissenschaftlichen Grundlagen des Klimasystems und der Klimaänderungen. In der Arbeitsgruppe II
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(Impacts, Adaption and Vulnerability), die vor allem aus Ökonom_innen und Ökolog_innen besteht, werden die daraus folgenden Auswirkungen, Anpassungsmöglichkeiten und Verwundbarkeiten beleuchtet. Ingenieur_innen und Ökonom_innen dominieren die Arbeitsgruppe III (Mitigation of Climate Change), in der die Möglichkeiten der Minderung des Klimawandels analysiert werden.
Der IPCC als Grenzorganisation zwischen Wissenschaft und Politik Das Spezifikum des IPCC ist seine Besonderheit als Grenzorganisation zwischen Wissenschaft und Politik. Die Verortung des IPCC an dieser Schnittstelle zeigt sich nicht nur in der Zusammensetzung des Plenums, sondern schlägt sich auch in der Arbeitsweise nieder. Einerseits orientiert sich der Prozess des Zusammentragens von Forschungsergebnissen an wissenschaftlichen Konventionen wie dem Verfahren des Peer-Reviews, d.h. der Begutachtung durch Wissenschaftler_innen aus dem gleichen Fachgebiet. Andererseits erfolgt die Ableitung der politikrelevanten Informationen in »Zusammenfassungen für politische Entscheidungsträger« (die den Berichten vorangestellt werden) in »hoch politisierten Verhandlungen« (Beck 2009: 138) des IPCC-Plenums, in denen der intergouvernementale Status des IPCC deutlich wird (ebd.: 131). Diese Zusammenfassungen werden Zeile für Zeile nach dem Konsensprinzip verabschiedet. Dabei ringen Regierungsvertreter_innen um die Berücksichtigung ihrer nationalen Interessen und sogenannte »Bremserparteien« nutzen das Konsensprinzip, um die Verhandlungen zu blockieren (ebd.: 138). Die Arbeitsweise des IPCC – insbesondere die konsensuelle Abstimmung der Zusammenfassungen für politische Entscheidungsträger – zielt auf die Herstellung von Autorität und Glaubwürdigkeit gegenüber der Politik. Der Versuch, die Wissenschaft mit einer Stimme sprechen zu lassen, soll die Akzeptanz in der Öffentlichkeit erhöhen und das Vertrauen der nationalen Regierungen in die internationale Forschung fördern. Dabei weist sich der IPCC die Rolle des privilegierten Sprechers der Wissenschaft zu. Der IPCC schafft sich somit ein Monopol in Bezug auf die Fütterung der UN-Klimaverhandlungen mit wissenschaftlicher Expertise (ebd.: 126). Der damit zusammenhängenden »Politik der Inklusion« (ebd.: 129) liegt ein im politischen System bekannter Mechanismus zu Grunde: die Erzeugung von Glaubwürdigkeit durch Repräsentation. Bei der Rekrutierung der Wissenschaftler_innen kommen zum einen wissenschaftsinterne Kriterien wie die Vertretung verschiedener Disziplinen und Standpunkte zum Tragen. Zum anderen gelten aber auch explizit wissenschaftsexterne Kriterien, die in politischen Prozessen üblich sind, wie die Vertretung verschiedener Nationen und ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis.
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Auch in Bezug auf den Auftrag des IPCC muss das Verhältnis von Wissenschaft und Politik austariert werden. So umfasste das Mandat des IPCC zu Beginn – neben der Zusammenfassung des Forschungsstandes – die Ausarbeitung konkreter politischer Handlungsempfehlungen. Im Dezember 1990 wurde allerdings von der UN-Vollversammlung das Intergovernmental Negotiation Committee (INC) als weiteres zwischenstaatliches Gremium zur Vorbereitung der Verhandlungen zur Klimarahmenkonvention eingerichtet und damit der Auftrag an den IPCC geändert. Bei diesem Versuch der Entkopplung wissenschaftlicher und politischer Verhandlungen strich man die Erarbeitung von Handlungsempfehlungen aus dem Mandat des IPCC (ebd.: 132f.). Dennoch ist der IPCC weiterhin – auf etwas indirektere Art und Weise – ein wichtiger Austragungsort politischer Verhandlungen. In der offiziellen Selbstdarstellung des IPCC wird allerdings – ganz im Sinne eines konventionellen Verständnisses linearer Politikberatung – von der Wertfreiheit und Neutralität der wissenschaftlichen Arbeit ausgegangen, welche politische Entscheidungen vorbereite, aber nicht vorentscheide (ebd.: 140). Diese Selbstbeschreibung deckt sich allerdings nicht mit den empirisch beobachtbaren Prozessen, wie beispielsweise die oben beschriebenen Verhandlungen über die Zusammenfassungen der IPCC-Berichte zeigen (ebd.: 141). Dort wird gerade deshalb um die Selektion der Inhalte und die konkreten Formulierungen gerungen, weil die Problemdeutungen und Konzepte sehr wohl Argumente für bestimmte politische Entscheidungen nahe legen bzw. bereits immer schon normative Setzungen beinhalten (vgl. Krüger 2015: 198ff.). Auf Grund seiner privilegierten Position, als von den Mitgliedsstaaten von UNEP und WMO ins Leben gerufener und somit besonders legitimierter Akteur des wissenschaftlichen Bereichs, fällt dem IPCC eine starke Definitionsmacht zu. Insofern ist der IPCC in der Lage, in einem relativ frühen Stadium der Verhandlungen Deutungsmuster zu prägen, auf die im weiteren Verlauf der politischen Auseinandersetzungen zurückgegriffen wird. Derart wird mit der Politikberatung des IPCC ein Rahmen vorgegeben, innerhalb dessen um politische Lösungen gerungen wird.
Die spezifische Bedeutung des IPCC in den UN-Klimaverhandlungen Die folgenden drei Beobachtungen basieren auf einer empirischen Analyse der Kontroverse um CCS-Technologien (→ CO2-Abscheidung und -Speicherung) in den UN-Klimaverhandlungen. Ich halte es aber für plausibel, dass sie allgemeine Tendenzen aufzeigen, die themenunabhängig charakteristisch sind für die Art und Weise, wie die Politikberatung des IPCC auf die Verhandlungen wirkt.
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(1) Aus den IPCC-Berichten werden in erster Linie konkrete Zahlenwerte und Wahrscheinlichkeitsaussagen zitiert. Die Regierungen und Beobachterorganisationen, die sich aktiv in die UN-Klimaverhandlungen einbringen, verwenden besonders häufig quantitative Aussagen und Prognosen des IPCC zur Untermauerung eigener Argumente. Dabei lässt sich beobachten, »dass konkrete Zahlenwerte als thematischer Anker für Begründungszusammenhänge und Argumentationen einen zentralen Stellenwert haben, weil sie Sachverhalte zuspitzen und dadurch ›Fakten schaffen‹« (Scheer 2013: 245f.). Über die regelmäßige Wiederholung sind solche mit Zahlen unterlegten Aussagen in der Lage, Bezugspunkte der Auseinandersetzung zu fixieren und die Verhandlungen zu strukturieren. Die Folge ist, dass über Grenznutzen und Grenzwerte – beispielsweise in Bezug auf maximal zulässige Risiken – verhandelt wird. Kategorische Ausschlüsse – beispielsweise eine strikte Vermeidung bestimmter Risiken auf Grund unvollständiger Wissensbasis – werden dagegen kaum diskutiert (Krüger 2015: 316) (→ Wissensunsicherheit). Insgesamt verlieren qualitative Argumente – die sich beispielsweise auf den Einfluss bestimmter Klimaschutzstrategien auf gesellschaftliche Verhältnisse beziehen – an Bedeutung. Die Politikberatung des IPCC fördert stattdessen die Argumentation mit konkreten Zahlenwerten und Wahrscheinlichkeitsaussagen, die als wissenschaftliche Basis – und damit vermeintlich unabhängig von politischen Entscheidungen – der Verhandlungen gelten. Schließlich vermitteln Zahlen »einen wissenschaftlichen Anspruch auf Neutralität, Objektivität und Exaktheit – und besitzen so eine große Überzeugungskraft« (Scheer 2013: 174). Dieser »Glaubwürdigkeitsvorsprung« (ebd.: 176) variiert allerdings je nach Perspektive des/der Rezipient_in und hängt von dessen eigener Überzeugung sowie von dessen Einschätzung der Vertrauenswürdigkeit der Urheberschaft ab (ebd.: 176f.). In diesem Zusammenhang ist die Autorität des IPCC eine entscheidende Größe. (2) Der IPCC genießt bei allen Akteur_innen des internationalen Klimaregimes Autorität. Tatsächlich ist der IPCC nur auf Grund seiner herausgehobenen Stellung in den UN-Klimaverhandlungen – als besonders legitimierter Akteur des wissenschaftlichen Bereichs – in der Lage, über Zahlen, Szenarien und Prognosen bestimmte Deutungsmuster zu prägen. So griff beispielsweise in der Debatte um CCS-Technologien sowohl die CCS-befürwortende Koalition als auch die CCS-kritische Koalition auf den IPCC als Legitimationsressource zurück (Krüger 2015: 312, 317). Dass dies eine Besonderheit darstellt, zeigt der Vergleich mit der Internationalen Energieagentur (IEA), die für die CCS-befürwortende Koalition ebenfalls eine wichtige Referenz darstellte, allerdings in keiner einzigen Stellungnahme der CCS-kritischen Koalition auftauchte. Der IPCC stellt für die Klimaverhandlungen einen Fundus wissenschaftlich sanktionierter Einschätzungen und Prognosen bereit. Auf ihn wird Bezug ge-
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nommen, um die Legitimität und Konsensfähigkeit der eigenen Position zu demonstrieren. (3) Die »Zusammenfassungen für politische Entscheidungsträger« des IPCC sind besonders relevant für politische Aushandlungsprozesse. In ihren schriftlichen Stellungnahmen verweisen die Regierungen und Beobachterorganisationen stets auf diese Zusammenfassungen. Es ist eine große Ausnahme, wenn Stellen aus den Hauptteilen der IPCC-Berichte zitiert werden (ebd.: 317). Für den Fall des IPCC-Sonderberichts zu CCS – und auch hier halte ich es für plausibel, dass diese Beobachtung auf alle Berichte des IPCC zutrifft – lässt sich allerdings auch konstatieren, dass die »Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger« in Bezug auf den allgemeinen Tenor und die relevanten Argumente keine wesentlichen Unterschiede zur technischen Zusammenfassung (Technical Summary) aufweist, an der keine Politiker_innen beteiligt waren und die auch keinem Konsensverfahren unterzogen wurde. Insofern liegt die Besonderheit der »Zusammenfassungen für politische Entscheidungsträger« nicht primär in ihrer inhaltlichen Ausrichtung, sondern in der starken Selektion der Inhalte und ihrer breiten Rezeption (ebd.: 198).
Re- und entpolitisierende Effekte der Politikberatung des IPCC IPCC-Berichte haben großen Einfluss auf die UN-Klimaverhandlungen. Die Folge ist eine bewusste politische Einflussnahme von verschiedenen Akteur_ innen auf die Arbeit des IPCC. Dies zeigt sich beispielsweise bei der Verabschiedung der ›Zusammenfassungen für politische Entscheidungsträger‹ und bei der Rekrutierung der Autor_innen: »Politische Konflikte werden auf diese Weise auf die Ebene der Rekrutierung von Experten transponiert und letztlich zwischen Experten ausgetragen.« (Beck 2009b: 132) Mit dieser Verschiebung politischer Konflikte aus den politischen Institutionen in den IPCC geht einher, dass die Arbeitsweise des IPCC Kriterien erfüllen soll, die aus dem politischen System stammen. Dabei gibt es in Bezug auf die »Politik der Inklusion« (ebd.: 129) eine Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. So wurden beispielsweise im Fall des Sonderberichts zu CCS die IPCC-Richtlinien für die Auswahl der Expert_innen nur sehr bedingt, wenn überhaupt, erfüllt (Krüger 2015: 196f.). Innerhalb der Gruppe der Coordinating Lead Authors waren Frauen, Expert_innen aus Ländern des Globalen Südens und CCS-skeptische Akteur_innen eindeutig in der Minderheit. Besonders häufig vertreten waren dagegen männliche Experten aus den Ländern des globalen Nordens, die häufig in Verbindung standen mit Organisationen, Unternehmen, Wirtschaftsverbänden, Forschungsinstituten und anderen Institutionen, die direkt oder indirekt von der Entwicklung der CCS-Technologien profitieren. De facto reproduziert die Arbeitsweise des IPCC asymmetrische Machtstrukturen.
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Was die Inhalte der Berichte betrifft, verzichtet der IPCC entsprechend seines eingeschränkten Mandats auf eine explizite Reflexion und Kritik politischer Ziele und Strategien. Dies hat die implizite Übernahme der politischen Setzungen des Status quo des internationalen Klimaregimes und der IPCCAutor_innen zur Folge. Die Politikberatung des IPCC baut also – teils implizit, teils explizit – auf den bisher geltenden Prinzipien der internationalen Klimapolitik auf. So liegt den IPCC-Berichten beispielsweise die Stabilität und der Ausbau von Marktmechanismen, wie sie im Kyoto-Protokoll festgelegt sind, zu Grunde (ebd.: 206ff.). Damit wird die Dominanz bestimmter Klimaschutzstrategien, die auf dem Konzept der ökologischen Modernisierung (→ ökologische Modernisierung) basieren, vorausgesetzt und verstärkt. Der IPCC setzt die im UN-Klimaregime vorherrschende Idee eines ökonomischen Wettbewerbs voraus, in dem die flexiblen Entscheidungen der Marktteilnehmer_innen zu möglichst kosteneffizienten Reduktionen der Treibhausgasemissionen führen sollen. Statt ganzheitlicher Lösungskonzepte, die eventuell bestimmte Maßnahmen und Technologien auf Grund ihrer strukturverändernden Eigenschaften präferieren, schlägt der IPCC die flexible Kombination verschiedener Technologien vor (ebd.: 211ff.). Im zweiten Sachstandsbericht aus dem Jahr 1995 verwendete der IPCC dafür zum ersten Mal die Bezeichnung des portfolio of options (IPCC 1996: 639). Seitdem wird der Begriff portfolio im Kontext der UN-Klimaverhandlungen von verschiedenen Akteur_innen zunehmend verwendet. Die Suche nach einem geeigneten Portfolio technologischer Optionen geschieht unter der Annahme, dass die bestehenden Rahmenbedingungen stabil bleiben (ebd.: 213). Dies birgt die Gefahr der Unterschätzung von Diskontinuitäten. Darüber hinaus wirkt die vom IPCC gewählte Beschränkung – auf die Bereitstellung von Informationen über technologische Optionen im Rahmen des Status quo gesellschaftlicher Strukturen – transformationshemmend. Sie stärkt die geronnenen Strukturen und verschleiert den prinzipiell denkbaren politischen Gestaltungsspielraum. Eine Politikberatung, in der nur Optionen aufgezeigt werden, die von einem sehr begrenzten Handlungsspielraum ausgehen, hat den Effekt, dass der Gestaltungsspielraum de facto tatsächlich gering wird. Schließlich gelten Optionen, die jenseits der wissenschaftlichen Expertise liegen, in der Regel als unrealistisch oder werden gar nicht erst thematisiert. Umgekehrt erhalten mit der Beschränkung Klimaschutzoptionen, die sich geschmeidig in die gegebenen Rahmenbedingungen einfügen, besondere Aufmerksamkeit.
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Literatur Beck, Silke (2009): Von der Beratung zur Verhandlung – Der Fall IPCC. In: Halfmann, Jost/Schützenmeister, Falk (Hg.): Organisation der Forschung. Der Fall der Atmosphärenwissenschaft. Wiesbaden: VS: 120-144. IPCC (1996): Climate Change 1995. Impacts, Adaptation and Mitigation of Climate Change: Scientific-Technical Analyses. Contribution of Working Group II to the Second Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change. Cambridge: Cambridge University Press. Krüger, Timmo (2015): Das Hegemonieprojekt der ökologischen Modernisierung. Die Konflikte um Carbon Capture and Storage (CCS) in der internationalen Klimapolitik. Bielefeld: transcript. Scheer, Dirk (2013): Computersimulationen in politischen Entscheidungsprozessen. Zur Politikrelevanz von Simulationswissen am Beispiel der CO2 Speicherung. Wiesbaden: Springer VS.
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Wissensunsicherheit Stefanie Baasch Unsicherheit kann im Zusammenhang mit Klimawandel sehr unterschiedliche Bedeutungen und Bezüge haben. So kann sich Unsicherheit beispielsweise auf die Vorläufigkeit oder Begrenztheit von (wissenschaftlichen) Wissensbeständen oder auf die Auswirkung von fehlenden Wissensbeständen in Entscheidungsprozessen beziehen, aber auch die aktive Verdrängung von Wissen in Debatten oder Verhandlungen meinen. Maßnahmen zur Anpassung an Klimawandelfolgen müssen unter den Bedingungen von Unsicherheit getroffen werden und beruhen daher auch auf wissenschaftlichem Nicht-Wissen und politischen Abwägungsprozessen.
Wissenschaftliche Unsicherheit Wissenschaftliches Wissen um die zukünftige Entwicklung des Klimas, der Erderwärmung, die Veränderung von Niederschlagsregimen und zunehmende Extremwetterereignisse etc. ist die zentrale Grundlage für politische Vereinbarungen über die Begrenzung von Treibhausgasemissionen und andere Maßnahmen zur Begrenzung des anthropogen verursachten Klimawandels und dessen Folgewirkungen. Vorhersagen über zukünftige Entwicklungen können per se keine sicheren Aussagen sein, erst recht nicht, wenn es sich um so komplexe Sachverhalte wie Klimawandel handelt: »Projektionen in die Zukunft sind seit jeher mit großen Unsicherheiten behaftet. Modelle, die die Klimadynamik der nächsten 100 Jahre darstellen sollen, setzen möglichst exakte Einschätzungen sozioökonomischer, technologischer und ökologischer Entwicklungen voraus.« (WBGU 2014: 18) Auf wissenschaftlicher Ebene sind die Wissensbestände über Klimawandelprozesse komplex und uneinheitlich. Beispielsweise werden unterschiedliche Verfahren zur Erstellung von Klimaszenarien angewendet, die durchaus zu unterschiedlichen Ergebnissen führen können (Bundesregierung 2008). Dies bedeutet unter anderem, dass Maßnahmen zur Anpassung an Klimawandelfolgen unter den Bedingungen von Unsicherheit getroffen werden müssen, denn die Vulnerabilitäten und Anpassungsbedarfe sind regional spezifisch;
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allerdings ist die wissenschaftliche Klimaforschung in absehbarer Zeit nicht in der Lage, entsprechende kleinräumige Daten über Klimaveränderungen bereitzustellen (vgl. Baasch et al. 2012). Weitere Unsicherheitsfaktoren bestehen in potentiellen Wechselwirkungen von einzelnen klimatischen Veränderungen sowie Wechselwirkungen von gesellschaftlichen und naturräumlichen Rahmenbedingungen. Neben klimatischen Veränderungen beeinflussen zusätzlich ökonomische und demographische Entwicklungen die Anpassungskapazitäten von Regionen und Ländern. Die Berichte des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) fassen jeweils den aktuellen Stand der Forschung zusammen und dienen in den internationalen Klimaverhandlungen als Wissensgrundlage. Der IPCC hat im Jahr 2000 Richtlinien für den Umgang mit Unsicherheit (Good Practice Guidance and Uncertainty Management in National Greenhouse Gas Inventories) veröffentlicht. In den Richtlinien werden unterschiedliche Quellen von Unsicherheit genannt und methodische Hinweise zum Umgang mit ihnen angeführt. Unsicherheit wird hier u.a. auf fehlerhafte oder unzureichende Datenbestände bezogen oder auf die Modelle, mit denen die Szenarien für zukünftige Entwicklungen des Klimas entworfen werden, sowie auf weitere Unsicherheitsfaktoren z.B. unbekannte Entwicklungen von Rahmenbedingungen wie Konsumverhalten oder technologische Entwicklungen: »Uncertainty estimates are an essential element of a complete emissions inventory. Uncertainty information is not intended to dispute the validity of the inventory estimates, but to help prioritise efforts to improve the accuracy of inventories in the future and guide decisions on methodological choice.« (IPCC 2000: 6.5)
Wissenschaftsverständnisse und Unsicherheitskommunikation In ihrer experimentellen Untersuchung zur Wirkung von Unsicherheit bei der Kommunikation von Risiken haben Anna Ravinovich und Thomas Morton gezeigt, dass Wissenschaftsverständnisse einen wichtigen Einfluss auf die Bewertung von Unsicherheitsinformationen haben. Die Autor_innen unterscheiden dabei zwischen dem klassischen Wissenschaftsverständnis, welches Wissenschaft als auf der Suche nach absoluten Wahrheiten begreift, und dem moderneren Wissenschaftsverständnis, das Wissenschaft als Debatte versteht. Während nach dem klassischen Ansatz Unsicherheit ein zu überwindender Zustand von (noch) nicht genug Wissen ist, versteht der modernere Ansatz Unsicherheit nicht nur als untrennbaren Bestandteil von Wissenschaft, sondern sieht ihn gar als dessen Triebfeder. Bei der Kommunikation von wissenschaftlichen Wissensbeständen für die Allgemeinheit ist Unsicherheit ein zentraler Aspekt: »Yet communicating uncertainty had become a central problem of translating scientific knowledge to the general public, sometimes resulting in public disengagement and mistrust […]. Uncertainty can be desirable and
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motivating when it fits people’s beliefs about science as debate (as opposed to the classical model of science as a search for the absolute truth).« (Ravinovich/ Morton 2012: 1001) Der Einfluss von unterschiedlichen Wissenschaftsverständnissen zeigt sich auch im Hinblick auf politische Entscheidungsfindungen: »We disagree about science because we have different understandings of the relationship of scientific evidence to other things: to what we may regard as ultimate ›truth‹, to the ways in which we relate uncertainty to risk, and to what we believe to be the legitimate role of knowledge in policy making.« (Hulme 2009: 106) Wissenschaftliches Wissen befindet sich im Spannungsfeld zwischen Entscheidungsgrundlage und Rechtfertigung für politische (z.B. Grenzwerte von Treibhausgasemissionen), administrative (z.B. Ausweisung von Hochwasserschutzgebieten) und unternehmerische Entscheidungen (z.B. Umstellung der Waldbewirtschaftung und Anpflanzung klimaangepasster Baumarten) und wissenschaftlicher Debatte. Auf wissenschaftlicher Ebene ist der Umgang mit Unsicherheit eher unproblematisch, denn diese ist ein immanenter Bestandteil von Wissenschaft, und es gehört zur guten wissenschaftlichen Praxis, Grenzen und Unsicherheiten und Widersprüchlichkeiten von Forschungsprozessen und -ergebnissen offenzulegen und zur Diskussion zu stellen. Wissenschaftliches Wissen als politische Entscheidungsgrundlage soll hingegen verlässlich, eindeutig und möglichst absolut sein. Diese unterschiedlichen Ansprüchlichkeiten lassen sich nicht gänzlich auflösen; allerdings können die Grenzen von Wissenschaft deutlicher kommuniziert werden. Mike Hulme, Gründungsdirektor des 2000 eröffneten Tyndall Centre for Climate Change Research und ein leitender Autor des dritten IPCC Reports von 2001, benennt drei Begrenzungen, die deutlich kommuniziert werden sollen: Erstens die Tatsache, dass wissenschaftliches Wissen über Klimawandel grundsätzlich unvollständig und mit Unsicherheiten behaftet ist. Zweitens, dass Wissensbestände in ihrer öffentlichen und politischen Rezeption auch von ihrem gesellschaftlichen Entstehungsprozess und der anschließenden Verbreitung geprägt werden. Aus diesem Grund ist Klimawandelwissen per se politisch, und wissenschaftliches Wissen über Klimawandel ist untrennbar verbunden mit Klimapolitik (politics of climate change). Drittens ist ein transparenter Umgang damit, was Wissenschaft leisten kann und was nicht, notwendig. Dies beinhaltet auch einen offenen Umgang mit kontroversen Wissensbeständen (Hulme 2009: 106f.). Nach den kontroversen Debatten um fehlerhafte Aussagen und intransparente Herleitungen im vierten Sachstandsbericht des IPCC 2007 wurden u.a. von Rob Swart und seinen Kollegen einige konkrete Vorschläge für eine verbesserte Kommunikation von Unsicherheiten in den IPCC Publikationen vorgelegt: »Make clear what parts of findings are based on observations, on models and on future scenarios including human choice; carefully explain definitions of indicators and assumptions underlying outcomes, including out-
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liers; for selected key indicators and findings, adopt a more extensive pedigree approach; avoid usage of probabilities for future scenarios without stressing subjectivity; use qualitative terminology for describing uncertainty related to costs and potentials of response options; further develop uncertainty guidance to structure communication methods according to diversity of uncertainty perspectives; develop a systematic way of communicating uncertainties related to human choice and intentionality; develop a more rigorous and comprehensive process of analysing uncertainties focussing on the key findings.« (Swart et al. 2009: 26)
Wirkung von Unsicherheit Aus psychologischer Perspektive hat Unsicherheit zwei Bedeutungen: Zum einen wird Unsicherheit verbunden mit einem Zustand von Gefahr und Bedrohung, zum anderen mit einem Zustand des Nicht- oder Nicht-GenauWissens. Beide Zustände werden in der Regel als unangenehm erlebt und können Vermeidungs- oder Reduzierungsbestrebungen auslösen, mit dem Ziel, wieder einen Zustand kognitiver oder emotionaler Sicherheit oder Verhaltenssicherheit zu erlangen (vgl. Lantermann et al. 2009). Kari Marie Norgaard hat ausführlich solche Verdrängungseffekte in Bezug auf Klimawandelthemen und -handeln am Beispiel der lokalen Bevölkerung einer norwegischen Kleinstadt analysiert (Norgaard 2011). Klimawandel wird oft assoziiert mit Schuld; dies gilt sowohl auf individueller Ebene, z.B. als Konsument_in, oder auch im gesellschaftlichen Kontext, beispielsweise als Bürger_in eines Landes, dessen wirtschaftlicher Wohlstand eng verknüpft ist mit einer stark erdölbasierten Wirtschaft. Ebenso ist Klimawandel mit Angst verknüpft vor lokalen negativen Auswirkungen von Klimawandelprozessen sowie mit Hilflosigkeit angesichts der globalen Dimension von Klimawandel und den als gering wahrgenommenen eigenen Einflussmöglichkeiten. Diese als unangenehm empfundenen Emotionen können Verdrängungsstrategien auslösen, die beispielsweise zur selektiven Wahrnehmung und Informationsaufnahme führen, wodurch negative Selbstzuschreibungen vermieden werden sollen und das eigene Verhalten legitimiert wird.
Handeln unter Unsicherheit Menschen stehen im Alltag ungenauen, mit Unsicherheiten behafteten Informationsbeständen oft skeptisch gegenüber und neigen dazu, unsichere Informationen im Entscheidungsprozess auszublenden. (Wissenschaftliche) Unsicherheit über die Auswirkungen von Klimawandel wurde oft als Hinderungsgrund für klimaschonendere Verhaltensweisen angesehen, insbesondere dann, wenn es sich um eher unliebsame Maßnahmen wie Aufforderungen
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zum Konsumverzicht oder um die Bereitschaft handelt, höhere Preise für Produkte zu bezahlen: »Scientific uncertainty about the impacts of climate change has been suggested to contribute to people’s unwillingness to sacrifice self-benefit to mitigate climate change.« (Rabinovich/Morton 2012: 993) Andererseits wird die Unsicherheit über das Ausmaß des zukünftigen Klimawandels auch als zentrales Argument zum (sofortigen) Ergreifen von Gegenmaßnahmen angeführt: »Gerade die verbleibende Unsicherheit über das Ausmaß des Klimawandels ist ein wesentliches Argument zum Handeln: Wären wir sicher, dass die Temperaturerhöhung bei 1,1 °C läge, könnte die Menschheit sich wohl anpassen. Aber 6,4 °C wären eine Katastrophe. Die beste Versicherung dagegen sind schnelle Maßnahmen zum Klimaschutz.« (Paeger 2010: o.S.) Unsicherheit kann aber auch strategisch eingesetzt werden, beispielsweise um die Glaubwürdigkeit von Forschungsergebnissen und Handlungsempfehlungen in Frage zu stellen und damit unliebsame Maßnahmen zu verhindern. Gängige Strategien sind hier, einzelne Ergebnisse aus dem Kontext zu reißen und deren Sinn zu verfälschen oder mittels der Heraushebung von einzelnen Fehlern das Vertrauen in sehr viel größere Forschungszusammenhänge und deren Ergebnisse zu erschüttern (vgl. Poortinga et al. 2011). Ein Beispiel hierfür sind die Aktivitäten des klimawandelskeptischen US-amerikanischen George C. Marshall Institutes (vgl. Oreskes/Conway 2008). Generell ist ein Umgang mit Unsicherheit weder im politischen noch im administrativen oder wirtschaftlichen Handeln neu oder auf Klimawandel beschränkt. Im Gegenteil existieren seit Jahrzehnten etablierte Verfahren von Risikomanagement z.B. zur Bewältigung von Naturgefahren wie Hochwasser oder zur Abwehr technisch-industrieller Risiken wie Atomunfälle. Klimawandel wird in der Risikoforschung als paradoxes Risiko definiert, da sowohl die Wahrscheinlichkeit des Eintretens als auch die potenzielle Schadenswirkung beide generell als hoch bewertet werden, aber mit langer Zeitspanne zwischen Verursachung und Auswirkungen (vgl. Renn 2008a). Die Besonderheit (und die besondere Herausforderung) bei der Bearbeitung von Klimawandelrisiken ist das Ausmaß der Unsicherheit (»deep uncertainties«), wann welche Effekte auftreten können: »Well-validated, trustworthy risk models giving the probabilities of future consequences for alternative present decisions are not available; the relevance of past data for predicting future outcomes is in doubt; experts disagree about the probable consequences of alternative policies – or, worse reach an unwarranted consensus that replaces acknowledgement of uncertainties and information gaps with groupthink – and policymakers (and probably various political constituencies) are divided about what actions to take to reduce risks and increase benefits.« (Cox 2012: 1) Eine zentrale Bedeutung bei der Reduzierung von Unsicherheiten in Entscheidungsprozessen wird in der Einbeziehung der Wissensbestände betrof-
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fener Akteure und in einer Beteiligung von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren im Gestaltungs- und Entscheidungsprozess gesehen (vgl. Renn 2008b). Unsicherheit ist per se kein »Störfaktor«, sondern ein Bestandteil wissenschaftlichen Wissens – gerade bei komplexen Thematiken wie Klimawandel. Entscheidend ist der Umgang mit Unsicherheit: Hierfür bedarf es einer transparenten Kommunikation von Grenzen und Interpretationsmöglichkeiten von Wissensbeständen und die Berücksichtigung von Kontexten, in dem Wissen erzeugt, verbreitet und rezipiert wird.
Literatur Baasch, Stefanie/Bauriedl, Sybille/Hafner, Simone/Weidlich, Sandra (2012): Klimaanpassung auf regionaler Ebene: Herausforderungen einer Regionalen Klimawandel-Governance. In: Raumforschung und Raumordnung 70(3): 191-201. Bundesregierung (2008): Deutsche Anpassungsstrategie an den Klimawandel – vom Bundeskabinett am 17. Dezember 2008 beschlossen. www.bmub. bund.de/service/publikationen/downloads/details/artikel/deutsche-anpas sungsstrategie-an-den-klimawandel (06.07.2015). Cox, Louis Anthony (2012): Confronting Deep Uncertainties in Risk Analysis. In: Risk Analysis 32(10): 1607-1629. Hulme, Mike (2009): Why we disagree about climate change. Cambridge: Cambridge University Press. IPCC (2000): Good Practice Guidance and Uncertainty Management in National Greenhouse Gas Inventories. www.ipcc-nggip.iges.or.jp/public/gp/ english (06.07.2015). Lantermann, Ernst-Dieter/Döring-Seipel, Elke/Eierdanz, Frank/Gerhold, Lars (2009): Selbstsorge in unsicheren Zeiten: Resignieren oder Gestalten. Weinheim: Beltz. Norgaard, Kari Marie (2011): Living in Denial: Climate Change, Emotions and Everyday Life. Cambridge: MIT. Oreskes, Naomi/Conway, Erik M. (2008): Challenging Knowledge: How Climate Science Became a Victim of the Cold War. In: Proctor, Robert N./ Schiebinger, Londa (eds.): Agnotology. The Making and Unmaking of Ignorance. Stanford: Stanford University Press: 55-89. Paeger, Jürgen (2010): Wie sicher ist unser Wissen über den Klimawandel? www.klimawandel-verstehen.de/html/unsicherheit.html (06.07.2015). Poortinga, Wouter/Spence, Alexa/Whitmarsh, Lorraine/Capstick, Stuart/Pidgeon, Nock F. (2011): Uncertain Climate: An Investigation into Public Scepticism about Anthropogenic Climate Change. In: Global Environmental Change 21(3): 1015-1024.
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Rabinovich, Anna/Morton, Thomas A. (2012): Unquestioned Answers or Unanswered Questions: Beliefs About Science Guide Responses to Uncertainty in Climate Change Risk Communication. In: Risk Analysis 32(6): 9921002. Renn, Ortwin (2008a): Concepts of Risk: An Interdisciplinary Review – Part 1: Disciplinary Risk Concepts. In: GAIA 17(1): 50-66. Renn, Ortwin (2008b): Risk Governance: Coping with Uncertainty in a Complex World. London: Earthscan. Swart, Rob/Bernstein, Lenny/Ha-Duong, Minh/Petersen, Arthur (2008): Agreeing to disagree: uncertainty management in assessing climate change, impacts and responses by the IPCC. In: Climatic Change 92(1): 1-29. WBGU – Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (2014): Klimaschutz als Weltbürgerbewegung. Sondergutachten. Berlin. www.wbgu.de/sondergutachten/sg-2014-klimaschutz (10.6.2015).
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Autorinnen und Autoren
Stefanie Baasch ist promovierte Geographin, Umweltpsychologin und Verwaltungswirtin. Sie arbeitet als freiberufliche Projektberaterin für Kommunen, Unternehmen und zivilgesellschaftliche Organisationen und ist Mitherausgeberin der wissenschaftlichen Fachzeitschrift ›Umweltpsychologie‹. Ihre Themenschwerpunkte sind Umweltkommunikation und -konflikte, Partizipation sowie Akteursvernetzungen. In Klimawandeldebatten liegt ihr Fokus auf klimarelevantem Handeln insbesondere auf lokalen und regionalen Ebenen, Wahrnehmung und Bewertung von Klimawandel und Klimagerechtigkeit. Sybille Bauriedl ist promovierte Geographin und arbeitet an der Universität Bonn im Bereich Geographische Entwicklungsforschung. Ihre Forschungsund Arbeitsschwerpunkte liegen in der politischen Ökologie, der Geschlechterforschung und Stadtforschung. Ihr Blick auf die internationale Klimadebatte richtet sich auf soziale und globale Herrschaftsverhältnisse und dabei insbesondere auf die Bedeutung post-kolonialer Rahmenbedingungen und Geschlechterverhältnisse. Sören Becker ist Geograph und Politikwissenschaftler. Er arbeitet am LeibnizInstitut für Regionalentwicklung und Strukturplanung in Erkner und beschäftigt sich mit Konflikten und neuen Organisationsformen in der Energiewende. Ihn interessieren dabei, wie technologische Veränderungen mit politischen Zielen verknüpft werden und welche räumlichen Kontextfaktoren einen Einfluss auf sozial-ökologische Transformationen haben. Philip Bedall ist Umwelt- und Politikwissenschaftler und arbeitet als Energiereferent für Robin Wood in Hamburg. Seit 2008 begleitet er die Klima(gerechtigkeits)bewegung aktivistisch im Rahmen der Klimacamps, bundesweiter Kampagnen und internationaler Mobilisierungen. Die klimapolitischen Aktivitäten von Verbänden, NROs und sozialen Bewegungen stehen zugleich im Fokus seiner wissenschaftlichen Arbeit und waren Gegenstand seiner Promotion an der Universität Kassel.
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Ulrich Brand lehrt und forscht als Professor für Internationale Politik an der Universität Wien, unter anderem zu Globalisierung und ihrer Kritik, internationaler Umwelt- und Ressourcenpolitik und Lateinamerika. Er war beteiligt an einem Forschungsprojekt zu Klimaskeptikern und leitet aktuell ein Projekt zu Gewerkschaften und sozial-ökologischer Transformation. Von 2011-2013 war er Mitglied der Enquete-Kommission ›Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität‹ des Deutschen Bundestages und ist Mitglied im Interdisziplinären Beirat der europäischen Joint Programming Initiative zur Koordinierung der Klimaforschung (www.univie.ac.at/intpol). Achim Brunnengräber ist Privatdozent am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der FU Berlin. Am Forschungszentrum für Umweltpolitik (FFU) beschäftigt er sich mit gesellschaftspolitischen Aspekten bei der Entsorgung radioaktiver Reststoffe. Seine weiteren Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind die Internationale Politische Ökonomie (IPÖ), die internationale Klimaund Energiepolitik sowie NROs und Neue Soziale Bewegungen. Kristina Dietz ist promovierte Politikwissenschaftlerin. Sie lehrt und forscht am Lateinamerika Institut der FU Berlin. Gemeinsam mit Bettina Engels leitetet sie die Nachwuchsgruppe ›Globaler Wandel – Lokale Konflikte? Landkonflikte in Lateinamerika und Subsahara-Afrika im Kontext interdependenter Transformationsprozesse‹. Ihre Perspektive auf die Klimadebatte ist verankert in den Forschungsfeldern Politische Ökologie, Demokratiepolitik und -theorie und Theorien sozialer Ungleichheit. Carsten Felgentreff ist als Geograph am Institut für Geographie sowie am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück tätig. Auf dem Feld der Gesellschaft-Umwelt-Forschung beschäftigt er sich mit Zurechnungen auf außergesellschaftliche Instanzen, die für gesellschaftliche Prozesse verantwortlich gemacht werden – etwa ›Naturkatastrophen‹ und ›Klimaflüchtlinge‹. Christoph Görg lehrt am Institut für Soziale Ökologie in Wien. Er hat sich 2001 mit einer Arbeit zur Regulation der Naturverhältnisse an der Universität Frankfurt a.M. habilitiert und lange Jahre am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung-UFZ sowie an der Universität Kassel gearbeitet. Seine Forschungsfelder umfassen Theorien gesellschaftlicher Naturverhältnisse, sozialökologische Transformationen, Forschungen zur Schnittstelle WissenschaftGesellschaft/Politik und Inter- und Transdisziplinäre Forschungsansätze und Methoden.
Autorinnen und Autoren
Sarah K. Hackfort ist promovierte Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlerin und Forschungsleiterin im Cluster Nachhaltigkeit und Transformation am IZT – Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung in Berlin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die sozialwissenschaftliche Klima- und Energieforschung, sozial-ökologische Transformationsprozesse, Politische Ökologie und Geschlechterforschung. Sabine Höhler arbeitet als Associate Professor für Science and Technology Studies an der Abteilung für Wissenschafts-, Technik- und Umweltgeschichte am KTH Royal Institute of Technology in Stockholm. Ihre Forschungen betreffen die Kulturgeschichte der modernen Erdwissenschaften mit einem Schwerpunkt auf der Geschichte der Systemökologie im 20. Jahrhundert. Sie untersucht, wie sich technowissenschaftliche Vorstellungen von globalen Umweltund Klimasystemen durchsetzen konnten. Harry Hoffmann ist Geograph und arbeitet am Institut für Sozioökonomie des Leibniz-Zentrums für Agrarlandschaftsforschung (ZALF) e.V. in Müncheberg bei Berlin. Sein Forschungsinteresse liegt in der ländlichen Energieversorgung, vorwiegend in Subsahara-Afrika im Bereich der Produktion und dem Konsum von traditioneller Biomasse, aber auch im Bereich der Ernährungssicherung durch Wertschöpfungskettenoptimierung. Jutta Kill ist Biologin und arbeitet freiberuflich als Autorin und Aktivistin. Sie verbindet aktions-orientierte Forschung mit Campaigning für die Rechte von Waldvölkern und Sicherung ihrer traditionellen Landnutzungsformen. Ihre aktuellen Arbeitsschwerpunkte liegen im Sichtbarmachen der Rolle von Kohlenstoffmärkten als Wegbereiter für eine Grüne Ökonomie, die Natur als Lieferant von Ökosystemleistungen definiert und einen paradigmatischen Wandel bestehender Umweltgesetzgebung signalisiert. Bettina Köhler ist Landschaftsplanerin und lehrt an der Universität Wien. Ihre Arbeitsbereiche sind Stadtentwicklung, urbane politische Ökologie, Umweltund Ressourcenkonflikte, Infrastrukturpolitik, internationale Wasserpolitik. Werner Krauß ist promovierter Ethnologe und derzeit Fellow am Exzellenzcluster CliSAP der Universität Hamburg, wo er zu Themen der interdisziplinären Klimaforschung arbeitet. Er hat zu Konflikten um Umwelt- und Naturschutz sowie zur Energiewende unter anderem in Portugal und Deutschland geforscht und publiziert. In den letzten Jahren war sein Forschungsschwerpunkt der Klimawandel, insbesondere das Verhältnis von Klimaforschung, Klimapolitik und Gesellschaft.
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Timmo Krüger ist promovierter Politologe und arbeitet an der Universität Bielefeld im Bereich Qualitative Methoden. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Politischen Ökologie sowie in der Diskurs- und Hegemonietheorie. In seiner Dissertation zur internationalen Klimapolitik fokussiert er auf die Entwicklung und Durchsetzung des Projekts der ökologischen Modernisierung sowie auf die Bedeutung von Carbon Capture and Storage (CCS) in den Kämpfen um die Hegemonie in der internationalen Umweltpolitik. Detlef Müller-Mahn ist Professor für Geographie in Bonn mit einem Schwerpunkt in der Geographischen Entwicklungsforschung, der Risikoforschung und der Politischen Ökologie. Er befasst sich unter anderem damit, wie Anpassung an den Klimawandel in Afrika gesellschaftlich verhandelt und in Projektaktivitäten übersetzt wird. Matthias Naumann ist promovierter Geograph und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung in Erkner. Dort arbeitet er zum Wandel von Energie- und Wasserinfrastrukturen im Zusammenhang mit Fragen von ungleicher Entwicklung und verschiedenen räumlichen Kontexten vor allem in Ostdeutschland. Melanie Pichler ist promovierte Politikwissenschafterin und arbeitet am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. Sie forscht zu (internationaler) Umwelt- und Ressourcenpolitik aus polit-ökologischer Perspektive, mit einem Fokus auf staats- und demokratietheoretischen Fragen. Regional liegt ihr Forschungsschwerpunkt auf Südostasien. Tilman Santarius ist promovierter Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler und arbeitet derzeit als freier Autor sowie Vorstandsmitglied bei Germanwatch e.V. Von 2001 bis 2009 hat er am Wuppertal Institut geforscht, von 2009 bis 2011 die Klimaarbeit bei der Heinrich Böll Stiftung geleitet. Er ist Ko-Autor mehrerer Bücher und hat zahlreiche Artikel zu den Themen internationale Klimapolitik, Handelspolitik, Globalisierung und Gerechtigkeit publiziert, die auf der Webseite www.santarius.de abruf bar sind. Jürgen Scheffran ist Professor an der Universität Hamburg im Bereich Integrative Geographie. Im Exzellenzcluster CliSAP leitet er die Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit, die zu den Sicherheitsrisiken des Klimawandels und damit verbundenen Konflikt- und Kooperationspotentialen forscht. Zu seinen Schwerpunkten im Centrum für Erdsystemforschung und Nachhaltigkeit gehört die Untersuchung von Energiesicherheit und Energielandschaften im Nexus von Wasser, Ernährung und Klimawandel.
Autorinnen und Autoren
Tobias Schmitt ist promovierter Geograph und arbeitet an der Universität Hamburg in der Arbeitsgruppe Kritische Geographien Globaler Ungleichheiten und in der Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit des Exzellenzclusters Integrated Climate System Analysis and Prediction (CliSAP). Darüber hinaus ist er Teil des Arbeitsschwerpunktes ›Gesellschaftliche Naturverhältnisse‹ des BUKO (Bundeskoordination Internationalismus), der im Vorfeld zur Vertragsstaatenkonferenz in Paris das Positionspapier »Still not loving COPs« veröffentlicht hat. Seine aktuellen Arbeitsschwerpunkte liegen vor allem im Bereich einer postkolonialen politischen Ökologie. Malte Timpte studierte Politikwissenschaft an der Universität Bielefeld und Umweltpolitik und Planung an der Universität in Roskilde. Er war an der Ausrichtung und Evaluation des zivilgesellschaftlichen Klimaforums während des UNFCCC COP15 in Kopenhagen beteiligt und arbeitete später für das Danish Board of Technology in einem Projekt zu Bürgerkonsultationen in der internationalen Umweltpolitik. Sein Forschungsinteresse gilt Beteiligungsprozessen an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik. Laura Weis ist Politik- und Sozialwissenschaftlerin. Ihr akademisches wie politisches Interesse gilt der internationalen politischen Ökonomie von Energieund Klimapolitik sowie der Frage nach Bedingungen und Möglichkeiten einer sozial-ökologischen Transformation. Im Rahmen ihrer Arbeit bei PowerShift e.V. in Berlin beschäftigt sie sich mit der Klima- und Ressourcengerechtigkeit der Energieversorgung. Ines Weller ist Professorin am artec Forschungszentrum Nachhaltigkeit der Universität Bremen. Ihre Forschungsschwerpunkte an diesem interdisziplinären Zentrum sind Fragen einer nachhaltigeren Gestaltung von Produktionsund Konsummustern sowie die Wechselbeziehungen zwischen Nachhaltigkeit und den Geschlechterverhältnissen. Aktuelle Forschungsprojekte befassen sich mit der Analyse von Genderperspektiven im Kontext Klimaschutz/Klimaanpassung. Thilo Wiertz ist Geograph und arbeitet an der Universität Freiburg. Von 2009 bis 2012 war er Stipendiat des Marsilius-Kollegs der Universität Heidelberg im Projekt The Global Governance of Climate Engineering und von 2012 bis 2015 Projektwissenschaftler am Institute for Advanced Sustainability Studies in Potsdam. Er forscht am Schnittfeld von Wissenschaft, Technik und Politischer Geographie und hat als Contributing Author der Arbeitsgruppe 3 zum fünften Sachstandsbericht des IPCC beigetragen.
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Uta von Winterfeld ist habilitierte Politikwissenschaftlerin. Sie arbeitet am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie und am Fachbereich Politikund Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin. Sie forscht zu Naturbeherrschung und gesellschaftliche Naturverhältnisse; Nachhaltigkeit und Gender; Partizipation, Governance und Demokratie; Anpassung an den Klimawandel.
Edition Kulturwissenschaft Stephanie Wodianka (Hg.) Inflation der Mythen? Zur Vernetzung und Stabilität eines modernen Phänomens Mai 2016, ca. 220 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3106-7
Gabriele Brandstetter, Maren Butte, Kirsten Maar (Hg.) Topographien des Flüchtigen: Choreographie als Verfahren März 2016, ca. 340 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2943-9
Richard Weihe (Hg.) Über den Clown Künstlerische und theoretische Perspektiven März 2016, ca. 340 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3169-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Edition Kulturwissenschaft Elisabeth Mixa, Sarah Miriam Pritz, Markus Tumeltshammer, Monica Greco (Hg.) Un-Wohl-Gefühle Eine Kulturanalyse gegenwärtiger Befindlichkeiten Januar 2016, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2630-8
Gudrun M. König, Gabriele Mentges, Michael R. Müller (Hg.) Die Wissenschaften der Mode Mai 2015, 222 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2200-3
Thomas Kirchhoff (Hg.) Konkurrenz Historische, strukturelle und normative Perspektiven April 2015, 402 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2589-9
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Edition Kulturwissenschaft Felix Hüttemann, Kevin Liggieri (Hg.) Die Grenze »Mensch« Diskurse des Transhumanismus Februar 2016, ca. 230 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3193-7
Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi, Kai van Eikels Szenen des Virtuosen Februar 2016, ca. 328 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1703-0
Andreas Bihrer, Anja Franke-Schwenk, Tine Stein (Hg.) Endlichkeit Zur Vergänglichkeit und Begrenztheit von Mensch, Natur und Gesellschaft Februar 2016, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2945-3
Marie-Hélène Adam, Szilvia Gellai, Julia Knifka (Hg.) Technisierte Lebenswelt Über den Prozess der Figuration von Mensch und Technik Januar 2016, ca. 280 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3079-4
Kathrin Ackermann, Christopher F. Laferl (Hg.) Kitsch und Nation Zur kulturellen Modellierung eines polemischen Begriffs Januar 2016, ca. 330 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2947-7
Jan-Henrik Witthaus, Patrick Eser (Hg.) Machthaber der Moderne Zur Repräsentation politischer Herrschaft und Körperlichkeit Dezember 2015, 346 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3037-4
Werner Hennings, Uwe Horst, Jürgen Kramer Die Stadt als Bühne Macht und Herrschaft im öffentlichen Raum von Rom, Paris und London im 17. Jahrhundert Dezember 2015, 424 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2951-4
Bernd Kracke, Marc Ries (Hg.|eds.) Expanded Senses Neue Sinnlichkeit und Sinnesarbeit in der Spätmoderne. New Conceptions of the Sensual, Sensorial and the Work of the Senses in Late Modernity Oktober 2015, ca. 380 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3362-7
Anke J. Hübel Vom Salon ins Leben Jazz, Populärkultur und die Neuerfindung des Künstlers in der frühen Avantgarde September 2015, 170 Seiten, kart., zahlr. Abb., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3168-5
Wiebke Ohlendorf, André Reichart, Gunnar Schmidtchen (Hg.) Wissenschaft meets Pop Eine interdisziplinäre Annäherung an die Populärkultur August 2015, 214 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3100-5
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Human- Animal Studies bei transcript Arianna Ferrari, Klaus Petrus (Hg.)
Lexikon der MenschTier-Beziehungen
Oktober 2015, 482 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2232-4 E-Book: 26,99 € ISBN 978-3-8394-2232-8 Unsere Beziehung zu den »anderen« Tieren gewinnt nicht bloß mehr und mehr an gesellschaftlicher Bedeutung, sie ist auch für die Wissenschaften wieder zum Thema geworden. Mit diesem Band widmet sich zum ersten Mal ein Lexikon umfassend den Mensch-Tier-Beziehungen. Im Gegensatz zu traditionellen Einführungen in die Tierethik beschränkt sich das groß angelegte Werk aber nicht auf moralphilosophische Themen, sondern beleuchtet die Mensch-Tier-Beziehungen u.a. auch aus historischer, soziologischer, ethologischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive.
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Sozialtheorie bei transcript Silke Helfrich, David Bollier, Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.)
Die Welt der Commons Muster gemeinsamen Handelns
Oktober 2015, ca. 400 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 19,99 €, ISBN 978-3-8376-3245-3 Die Logik des Kapitalismus heißt teilen. Nur teilen darin nicht die Menschen, sondern sie werden geteilt. Der britische Historiker E.P. Thompson befindet deshalb: »Es war immer ein Problem, Commons in kapitalistischen Kategorien zu erklären.« Wer die Welt der Commons betritt, begegnet einer anderen Logik, einer anderen Sprache und anderen Kategorien. Autor_innen aller Kontinente erkunden in diesem Band die anthropologischen Grundlagen der Commons und stellen sie zugleich als konkrete Utopien (E. Bloch) vor. Sie machen nachvollziehbar, dass alles Commons sein oder werden kann: durch Prozesse geteilter Verantwortung, in Laboratorien für Selbstorganisation und durch Freiheit in Verbundenheit. Commoners realisieren, was schon heute machbar ist und morgen selbstverständlich sein wird. Das zeigen über 40 Beispiele aus aller Welt. Mit Beiträgen u.a. von Nigel Gibson, Marianne Gronemeyer, Helmut Leitner, Étienne Le Roy, Andreas Weber, Rosa Luxemburg, Anne Salmond und David Sloan Wilson.
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X-Texte bei transcript Frank Adloff, Volker M. Heins (Hg.)
Konvivialismus. Eine Debatte
September 2015, ca. 250 Seiten, kart., 19,99 €, ISBN 978-3-8376-3184-5 E-Book: ca. 17,99 €, ISBN 978-3-8394-3184-9 Das »Konvivialistische Manifest« (2014 auf Deutsch erschienen) hat die globale Debatte um die Frage neu formatiert, wie wir das Zusammenleben angesichts von Klimakatastrophe und Finanzkrisen gestalten wollen und müssen. Die Beiträge dieses Bandes eröffnen nun die Diskussion um die Möglichkeiten und Grenzen des Manifests im deutschsprachigen Raum: Wo liegen seine Stärken, wo die Schwächen? Was hieße es, eine konviviale Gesellschaft anzustreben – in Politik, Kultur, Zivilgesellschaft und Wirtschaft? Welche neuen Formen des Zusammenlebens sind wünschenswert und welche Chancen bestehen, sie durchzusetzen? Ein Buch nicht nur für Sozial- und Kulturwissenschaftler_innen, sondern auch für zivilgesellschaftliche Akteure und die interessierte Öffentlichkeit. Mit Beiträgen u.a. von Micha Brumlik, Christian Felber, Naika Foroutan, Silke Helfrich, Claus Leggewie, Stephan Lessenich, Steffen Mau, Franz Walter und Gesa Ziemer.
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