Worttrennung am Zeilenende: Über die deutschen Worttrennungsregeln, ihr Erlernen in der Grundschule und das Lesen getrennter Wörter 9783484305182, 9783110969351

In the first part of his study, the author describes the rules for hyphenating German words in such a way that the surpr

147 9 3MB

German Pages 128 Year 2007

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Worttrennung am Zeilenende: Über die deutschen Worttrennungsregeln, ihr Erlernen in der Grundschule und das Lesen getrennter Wörter
 9783484305182, 9783110969351

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Linguistische Arbeiten

518

Herausgegeben von Klaus von Heusinger, Gereon Müller, Ingo Plag, Beatrice Primus, Elisabeth Stark und Richard Wiese

Jochen Geilfuß-Wolf gang

Worttrennung am Zeilenende Über die deutschen Worttrennungsregeln, ihr Erlernen in der Grundschule und das Lesen getrennter Wörter

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2007

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-30518-2

ISSN 0344-6727

© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2007 Ein Imprint der Walter de Gruyter G m b H & Co. K G http://www.nkmeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere f ü r Vervielfältigungen, Obersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck und Einband: A Z Druck und Datentechnik G m b H , Kempten

Vorwort

Dinge, die nicht perfekt sind, haben etwas Ergreifendes und Schönes. Nick Cave

Wenn man wie ich linguistisch mit den Lectures on Government and Binding aufgewachsen ist, ist die Orthographie kein wirklich naheliegendes Thema. Günther Ohlschläger gilt deshalb mein ganz herzlicher Dank dafür, dass er meine lang währende Annäherung an dieses Thema mit viel Geduld und Wohlwollen betrachtet hat. Nicht nur er, sondern auch Caroline Fery, Peter Gallmann, Manfred Kohrt, Gereon Müller und Martin Neef haben mir durch viele scharfsinnige Anmerkungen und Hinweise weitergeholfen, wofür ich ebenfalls sehr dankbar bin. Ohne Ralph Radach gäbe es das dritte Kapitel dieses Buches nicht, und das meiste von dem, was ich über die Augenbewegungen beim Lesen und die damit zusammenhängenden Experimente weiß, hat er mir erklärt; bei der Statistik haben mir neben ihm Johannes Schließer und Christian Vorstius auf die Sprünge geholfen. Das vierte Kapitel schließlich beruht auf Daten, die Renate Brehmer und Ingrid Höhle in ihren Grundschulen gesammelt haben. Auch ihnen mein herzlicher Dank, wie auch Paul Wolff für das schnelle, aber dennoch sorgfältige Korrekturlesen. Meine Familie erträgt mich liebenswerterweise auch dann, wenn ich mit meinen Gedanken ganz woanders bin, was nicht genug zu würdigen ist. Ihr sei dieses Buch gewidmet.

Inhalt

0 Einleitung 1 Die 1.1 1.2 1.3

1.4 1.5

1.6

1.7

amtliche Regelung Was sind orthographische Regeln? Wie können orthographische Regeln geordnet werden? Worttrennung und Silbengrenzen 1.3.1 Langsames Vorlesen 1.3.2 Welche Art von Silben? 1.3.3 Unklare Silbengrenzen Was sind einfache Wörter? Welche Verbindungen stehen für einen Konsonanten? 1.5.1 Buchstabenverbindungen, die für einen einfachen Laut stehen 1.5.2 Warum nicht einfacher? Folgen aus Obstruent und Sonorant 1.6.1 Eine bessere Formulierung 1.6.2 Wie steht es mit gm? Zusammenfassung

2 Eine theoretische Fundierung 2.1 Beschränkungen statt Regeln 2.2 Trennungen an Silbengrenzen 2.2.1 Die Grundregel 2.2.2 Verdoppeln und Tilgen ist keine Lösung 2.2.3 Trennung vor einem Konsonantbuchstaben 2.2.4 Buchstabe, feste Buchstabenverbindung und Graphem 2.2.5 Trennung von Konsonantgraphemen 2.2.6 Die Ränder der Trennsegmente 2.2.7 Wörter, die man nicht trennen kann 2.2.8 Wörter, die man unterschiedlich trennen kann 2.2.9 Trennung zwischen Vokalbuchstaben 2.2.10 Einzelne Vokalbuchstaben 2.3 Trennungen an Morphemgrenzen 2.4 Einige Schlussfolgerungen 2.4.1 Ist die Regelung der Worttrennung optimal? 2.4.2 Trennsegmente, Silben und Wörter

1 5 5 7 11 12 15 17 19 22 23 24 26 26 28 31 33 34 40 41 43 45 48 52 55 58 59 61 65 66 70 70 71

VIII 3 Wie getrennte Wörter gelesen werden 3.1 Die traditionellen Vorstellungen 3.2 Zwei Experimente 3.2.1 Augenbewegungen beim Lesen 3.2.2 Versuchspersonen 3.2.3 Testwörter 3.2.4 Versuchsdurchführung 3.2.5 Apparatur 3.2.6 Ergebnisse 3.2.7 Diskussion 3.3 Zusammenfassung Worttrennung in der Grundschule Warum sind Silben so wichtig? Können Kinder Silben zählen? Können Kinder Silbengrenzen bestimmen? Der Einfluss der Orthographie Wo liegt die Silbengrenze? Die Untersuchung 4.6.1 Versuchspersonen 4.6.2 Durchführung 4.6.3 Testwörter 4.6.4 Ergebnisse 4.6.5 Diskussion 4.7 Mögliche Konsequenzen für die Didaktik

75 75 78 78 79 80 80 80 81 85 88

4 Zur 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6

89 90 91 93 94 95 96 97 97 98 98 104 106

Literaturverzeichnis

109

Anhang Liste der Beschränkungen Testwörter im Augenbewegungsexperiment 1 Testwörter im Augenbewegungsexperiment 2 Trennungen in der Grundschule

119 119 120 121 122

0

Einleitung

Um die orthographische Worttrennung im Deutschen wird weder im Alltag noch in der Wissenschaft viel Aufhebens gemacht. Die gewöhnliche Annahme ist, dass die Worttrennung sehr einfach zu handhaben sei und kaum fehleranfällig, weshalb die Worttrennungsregeln in der amtlichen Regelung nur knapp eine Seite umfassen. Unter den nicht sehr zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen zur Worttrennung findet sich gerade einmal eine größere Arbeit (Hofrichter 1989), die anderen Publikationen wie etwa Kohrt (1988), Günther (1990, 1992) und Äugst (1990, 1997) sind Beiträge in Sammelbänden oder Zeitschriftenartikel. Der einzige Bereich, in dem der Worttrennung mehr Beachtung geschenkt wird, ist die automatische Worttrennung für die Textverarbeitung, die Erstellung von Wörterbüchern und Ahnliches. Einer der Gründe dafür, dass der Worttrennung so wenig Beachtung geschenkt wird, ist sicherlich, dass die Worttrennung beim Schreiben anders als die anderen Bereiche der Schreibung übergangen werden kann. Wenn wir im Deutschen Texte schreiben, bestehen die Wörter, die wir schreiben, aus Buchstaben, und die Wörter sind entweder groß- oder kleingeschrieben und von den anderen Wörtern des Textes durch Leerzeichen und Interpunktionszeichen getrennt. Die Bereiche, die in der amtlichen Regelung unter Laut-Buchstaben-Zuordnungen, Getrennt- und Zusammenschreibung, Groß- und Kleinschreibung und Zeichensetzung zusammengefasst sind, spielen beim Schreiben immer eine Rolle. Der einzige andere Bereich neben der Worttrennung, der beim Schreiben ebenfalls übergangen werden kann, ist bezeichnenderweise die Schreibung mit Bindestrich. Wir können beim Schreiben der meisten Texten sehr gut ohne Trennstriche und Bindestriche auskommen. Zu den wenigen Textsorten, in denen wir nicht ohne Trennstriche und Bindestriche auskommen können, gehören Zeitungstexte, die gewöhnlich in sehr kurzen Spalten gesetzt sind, und Liedertexte, bei denen Wörter auf Noten verteilt werden müssen. Man vergleiche etwa den kleinen Ausschnitt aus der Süddeutschen Zeitung vom 14. Juni 2004 in (1), in dem man sechs Worttrennungen in acht Zeilen findet, und die erste Strophe des Liedes Ich geh mit meiner Laterne in (2), in der alle mehrsilbigen Wörter durch Bindestriche getrennt sind. (1)

Ein volles Jahr lang hat diese Fußnote der Verfassung niemand in Berlin interessiert. Erst jetzt will die Bundesregierung die Passage plötzlich kippen. Wenige Tage, bevor das europäische Grundgesetz verabschiedet werden soll. Es geht ums Prinzip. Berlin will nicht, dass Brüssel auch nur ein wenig mehr in die natio-

2 (2)

Ich geh mit mei—ner La—ter—ne Und mei-ne La-ter-ne mit mir. Dort o-ben leuch—ten die Ster—ne, Hier un—ten, da leuch—ten wir.

Auch wenn die Worttrennung im alltäglichen Schreiben nur am Rande eine Rolle spielt, halte ich dennoch eine gründlichere Untersuchung der Worttrennung für sinnvoll und aufschlussreich, und zwar unter anderem aus den Gründen, die Kohrt (1988, 126f.) anführt: „[...] zum einen scheint die geltende Regelung bei nur flüchtigem Hinsehen sehr einfach und ist in ihrer Kodifikation doch außerordentlich problematisch, zum anderen beherrschen die erwachsenen Sprachteilhaber diese orthographische Teilnorm relativ problemlos, obwohl sie sich bei genauerer Betrachtung als eher kompliziert erweist, und schließlich spielen hier viele verschiedene sprachliche Faktoren eine Rolle, deren Miteinander keinesfalls einfach zu beschreiben ist und das dennoch beim normalen Sprecher/Schreiber kaum zu gravierenden Irritationen führt." Das war auf die alte Regelung gemünzt, gilt aber, wie wir sehen werden, in weiten Teilen auch für die neue Regelung. Meine Untersuchungen zur Worttrennung, über die ich in dieser Arbeit berichten will, bestehen grob gesagt aus zwei Teilen. In dem ersten eher theoretischen Teil werde ich zuerst untersuchen, ob die Kodifizierung der Worttrennungsregeln in der neuen amtlichen Regelung wirklich so einfach ist, wie sie zu sein scheint; es wird sich dabei zeigen, dass sie auch nach der Reform immer noch eine Reihe von problematischen Formulierungen enthält und deshalb verschiedene Schwierigkeiten entstehen, wenn man die Worttrennungsregeln wortgetreu anwendet. Für einige dieser Worttrennungsregeln werde ich Umformulierungen vorschlagen, die präziser und auch einfacher sind. Im Anschluss daran unternehme ich eine systematische Analyse der Worttrennungsregeln, die unter anderem das überraschend komplizierte Zusammenspiel der Worttrennungsregeln erfassen soll. Es wird sich als eine charakteristische Eigenschaft der Worttrennung erweisen, dass die Worttrennungsregeln nicht gleichgewichtet sind, sondern stärker und schwächer gewichtete Worttrennungsregeln zu unterscheiden sind, zu denen es eine mehr oder weniger große Anzahl von Verstößen gibt. Ich will damit eine Forderung einlösen, die Äugst (1990, 214) erhoben hat, der schreibt: „Erforderlich ist [...] eine wissenschaftliche, d.h. linguistische Beschreibung und Aufarbeitung des Problembereichs. Das gilt für den Bereich der Worttrennung am Zeilenende wie für alle anderen Bereiche auch." Hintergrund dieser Forderung ist die Frage, wie viel Theorie die Orthographie braucht. Äugst (1990, 210) meint zu Recht, dass es für den normalen Benutzer keine Rolle spielt, ob sich hinter den orthographischen Regeln, wie sie in der amtlichen Regelung festgehalten sind, eine Theorie verbirgt oder nicht. Denn für den normalen Benutzer ist vor allem wichtig, dass ihn die orthographischen Regeln so, wie sie formuliert sind, auf möglichst einfache Weise zu orthographisch korrekten Schreibungen führen. Diesen orthographischen Regeln zugrunde liegt aber eine orthographische Norm, und bezüglich dieser orthographischen Norm ist natürlich die Frage berechtigt, ob sie durch systematische theoretische Überlegungen gerechtfertigt werden kann. „Eine Theorie sollte erkennbar und für die Deutung der Problemfälle nutzbar bzw. in der Tat haftbar zu machen sein," so Günther (1992, 244).

3 Dass es der deutschen Orthographieforschung außerhalb der Sprachdidaktik an empirischen Untersuchungen mangelt, ist verschiedentlich beklagt worden, und die Forschung zur Worttrennung ist da leider keine Ausnahme. Das ist um so ärgerlicher, als gerade zu Fragen des Lesens und der Lesbarkeit zahlreiche Behauptungen aufgestellt werden, ohne sie durch empirische Evidenz zu stützen. So findet sich im Kompromissvorschlag der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung von 2003 zum Beispiel folgender Kommentar zu Wörtern wie Balletttänzer: „Die Verdreifachung von Konsonantenbuchstaben anstelle der bisherigen Beschränkung auf zwei Buchstaben ist nicht nur überflüssig, sondern sie führt auch zu teilweise grotesken, die Lesbarkeit störenden Wortbildern (Schlammmasse, Schwimmmeister). Sie erweckt den unschönen Eindruck von Schreibpedanterie. Da die Fälle häufiger vorkommen und zum großen Teil das Auge verletzen, sollte diese Regel nicht übernommen werden." (13f.) Das mag durchaus eine sinnvolle Hypothese sein, die sich auf alltägliche Erfahrungen stützt, doch wir müssen empirisch nachprüfen, ob diese Hypothese auch korrekt ist; andernfalls haben wir nur ungeprüfte Behauptungen, die zwar plausibel sein mögen, aber nicht durch empirische Befunde belegt werden können. 1 Im zweiten empirischen Teil dieser Arbeit werde ich einige solche Hypothesen zur Worttrennung überprüfen. Die eine Hypothese betrifft das Lesen von getrennten Wörtern und besagt, dass erstens getrennte Wörter nicht so schnell gelesen werden können wie ungetrennte Wörter und zweitens morphologisch komplexe Wörter wie Ruhetage der besseren Lesbarkeit wegen an der Morphemgrenze getrennt werden sollten (Ruhe—tage) und nicht an einer Silbengrenze vor oder hinter der Morphemgrenze (Ru—hetage oder Ruhetage). Die andere Hypothese betrifft das Lernen der Worttrennungsregeln in der Grundschule. Wenn Kinder lernen, Wörter so zu trennen, wie man ihre Lautformen in Silben zergliedern kann, ist zu erwarten, dass sie Wörter wie Fenster, deren Lautformen auf unterschiedliche Weise in Silben zu zergliedern sind, auch unterschiedlich trennen und nicht immer der orthographischen Norm entsprechend. Wir werden sehen, dass das auch der Fall ist, weshalb man vielleicht für die Worttrennung besser auf den Bezug auf die Silbengrenzen verzichten sollte. Zum Schluss dieser einleitenden Bemerkungen noch ein Wort zur Terminologie und Notation. Ich bezeichne die sprachlichen Einheiten, die getrennt werden, als orthographische Wörter, auch wenn wir genau genommen nicht Wörter trennen, sondern Wortformen, und ich markiere sowohl die orthographischen Wörter als auch die Buchstaben, aus denen sie zusammengesetzt sind, kursiv (Zahl, Z, a, h, l). Mir scheint, dass man nicht viel gewinnt, wenn man die Buchstaben mit ( ) notiert, zumal diese Notation gewöhnlich für Grapheme und nicht für Buchstaben verwendet wird. Die Teile, aus denen getrennte orthographische Wörter bestehen, nenne ich Trennsegmente, da sich der Begriff graphisches Wortsegment' von Hofrichter (1989) nicht durchgesetzt hat und darüber hinaus auch recht unhandlich ist.

1

Engl (2005) zeigt, dass der lexikalische Zugriff erleichtert worden ist und zum Beispiel Balletttänzer mit dreifachem t schneller als Wort erkannt wird als Ballettänzer mit zweifachem t.

1

Die amtliche Regelung

Beginnen wir, bevor wir genauer auf die einzelnen Regeln zur Worttrennung am Zeilenende zu sprechen kommen, mit einigen eher grundsätzlichen Bemerkungen zu orthographischen Regeln und zu orthographischen Regelkomplexen, die an die Überlegungen von Gallmann und Sitta (1997) anknüpfen. Ich will dabei einerseits klären, welchem Zweck eine orthographische Regel dient, und andererseits, wie unterschiedliche orthographische Regeln, die sich auf denselben Gegenstand beziehen, geordnet werden können. 1

1.1

Was sind o r t h o g r a p h i s c h e Regeln?

Man kann eine orthographische Regel als eine Art Handlungsanweisung verstehen: Was muss man tun, um ein Wort orthographisch korrekt zu schreiben? Oder bezogen auf die Worttrennung: Was muss man tun, um ein Wort, das nicht komplett in eine Zeile passt, orthographisch korrekt zu trennen? Fasst man das ungetrennte Wort als Eingabe der orthographischen Trennregeln auf, als das, worauf die orthographischen Trennregeln angewendet werden, und das getrennte Wort als Ausgabe, kann man die orthographischen Trennregeln so beschreiben wie andere Regeln auch: „Rules are input oriented. They take an input and tell you what changes to make: whatever results is the output." (Hammond 1997, 39). Nehmen wir zum Vergleich die phonologische Regel der Auslautverhärtung. Nach der mehr oder weniger traditionellen Auffassung werden im Deutschen die stimmhaften Obstruenten, wenn sie in der Silbenkoda stehen, nicht stimmhaft, sondern stimmlos realisiert." Das kann man mit folgender Regel beschreiben, in der [son] für sonorantisch, [sth] für stimmhaft, K* für eine Folge von einem oder mehreren Konsonanten und ) σ für die rechte Silbengrenze steht: (1)

Auslautverhärtung·. [-son +sth] [-sth] / _ (Κ*) ) σ

Wendet man diese Regel auf die phonologische Form /hund/ an, wird der stimmhafte Plosiv stimmlos, so dass /hund/ als [hunt] realisiert wird.

Die bislang gründlichsten Überlegungen zum Begriff der o r t h o g r a p h i s c h e n Regel, die über meine Zwecke weit hinausgehen, finden sich in Kohrt (1987). Es gibt wohl nur wenige Gegenstände der deutschen Phonologie, zu denen d e r a r t viele unterschiedliche Beschreibungen zu finden sind; aktuell sind neben anderen Jessen u n d Ringen (2002) u n d Fery (2003a), eine ausführliche Ubersicht ist in Brockhaus (1995) zu finden.

6 (2)

/hund/

[hunt]

Entsprechend können wir dann die Trennung eines ungetrennten Wortes wie Hunde so beschreiben, dass die Trennregeln auf dieses Wort Hunde angewendet werden und festlegen, an welcher Stelle man den Trennstrich korrekt einfügen darf. Resultat der Anwendung der Trennregeln ist dann das getrennte Wort Hun|de.' (3)

Hunde ^ H u n j d e

Ein wesentlicher Unterschied zwischen orthographischen Regeln und anderen Regeln wie der Auslautverhärtung ist allerdings, dass orthographische Regeln präskriptiv sind und nicht deskriptiv. Die orthographischen Trennregeln sind keine Generalisierungen darüber, wie Wörter in schriftlichen Texten tatsächlich getrennt werden, sondern legen fest, wie Wörter getrennt werden sollen. Diesen Unterschied kann man sehr schön an Beispielen illustrieren, auf die Kohrt (1988) aufmerksam gemacht hat, und zwar an Wörtern, die den Buchstaben β enthalten. Es gibt eine ganze Reihe von durchaus kompetenten deutschen Schreiberinnen und Schreibern, die Wörter wie beißen, Straßen, Füßen und stoßen nicht wie in (4a) trennen, sondern wie in (4b): (4)

(a) (b)

bei | ß en, Strajß en, Fü|ßen, sto|ßen beis|sen, Strassen, Füs|sen, stos|sen

Die Trennungen in (4b) sind nur dann korrekt, wenn wie in der Schweiz kein β geschrieben wird und die Ausgangsformen entsprechend nicht beißen, Straßen, Füßen und stoßen lauten, sondern beissen, Strassen, Füssen und stossen, und zwar auch nur nach der neuen Regelung. In den anderen deutschsprachigen Gebieten sind nur die Trennungen in (4a) korrekt, sowohl nach der alten Regelung als auch nach der neuen. Wir haben hier also einen Fall, in dem Schreiberinnen und Schreiber systematisch einer internen Norm folgen, die nicht der externen orthographischen Norm entspricht, wie sie in den Trennregeln ausgedrückt wird. 4 Solche Fälle, in denen die deskriptiven Trennregeln, die man aus beobachtbaren Trennungen gewinnen kann, von den präskriptiven Trennregeln abweichen, sind in zweierlei Hinsicht interessant: Zum einen ist es eines der Ziele einer jeden Rechtschreibform, den vorgeschriebenen Sprachgebrauch dem tatsächlichen Sprachgebrauch so weit wie möglich anzupassen, zum anderen kann man an diesen Fällen die Anwendung von Regeln entdecken, die so zumindest nicht explizit Teil der präskriptiven Trennregeln !

Mit markiere ich im Folgenden mögliche Trennstellen, mit ,—' realisierte Trennstellen. Ob eine Wortform wie Hunde in einem Text an diesen möglichen Trennstellen auch tatsächlich getrennt wird, ist keine Frage, die von den Trennregeln zu beantworten ist. Allgemeine Trennregeln, die dasselbe Format haben wie die oben angeführte Regel für die Auslautverhärtung, haben Wester (1985, 182) und Nunn (1998, 104-108) für das Niederländische formuliert.

4

Ein anderer vergleichbarer bekannterer Fall, in dem die zu beobachtbaren Trennungen nicht mit den vorgeschriebenen Trennungen übereinstimmten, waren vor der Neuregelung Wörter wie warum und hinauf, die oft fälschlicherweise vor dem wortinternen Konsonantbuchstaben getrennt wurden. Korrekt waren nach der alten Regelung nur die Trennungen war-um und hin-auf.

7 sind. Gemeint ist damit Folgendes: Wenn die Wörter beißen, Straßen, Füßen und stoßen wie in (4a) getrennt werden, beginnen die Trennsegmente hinter dem Trennstrich mit dem Buchstaben ß. Mit diesem Buchstaben kann aber im Deutschen kein Wort beginnen, und zwar ausnahmslos. Wenn es nun eine Regel gibt, nach der die Ränder von Trennsegmenten mögliche Wortränder sein sollen, stellen Trennungen wie bei\ßen und Stra\ßen deshalb einen Regelverstoß dar.5 Diesen Regelverstoß kann man vermeiden, wenn man Wörter wie beißen und Straßen analog zu nassen, Kissen und Flossen trennt. Denn 5 ist sowohl ein möglicher Wortanfangsrand als auch ein möglicher Wortendrand.

1.2

Wie können orthographische Regeln geordnet werden?

Orthographische Regeln kommen selten allein, sondern bilden meistens zusammen mit anderen orthographischen Regeln so genannte Regelkomplexe. So besteht, wenn wir die Paragraphen der amtlichen Regelung mit Regeln gleichsetzen, der Regelkomplex für die Worttrennung am Zeilenende aus sechs Regeln. Solche Regelkomplexe sind keine eigentümliche Eigenschaft der Rechtschreibung, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, sondern finden sich in allen Bereichen der Sprache. Sie sind uns nur in den anderen Bereichen der Sprache anders als bei der Rechtschreibung nicht bewusst. Nehmen wir wieder ein Beispiel aus der Phonologie, um uns diesen Punkt klar zu machen. Im Deutschen werden Wörter wie ewig und König von vielen Sprecherinnen und Sprechern am Ende nicht mit einem Plosiv realisiert ([e:vik] und [komik]), sondern mit einem Frikativ ([ε:νις] und [ko:n^]). Die dafür verantwortliche Regel, die aus dem stimmhaften Plosiv /gl nach einem unbetonten ungespannten hl einen Frikativ macht und traditionell g-Spirantisierung genannt wird, kann man etwas vereinfacht so beschreiben: (5)

g-Spirantisierung: [-son —kont +sth +dorsal] —• [+kont] / [—kons +hoch +vorn —gspt]



Hier steht [kont] für kontinuierlich und [gspt] für gespannt. Man kann sehr einfach zeigen, dass die Regel der g-Spirantisierung bei den Sprecherinnen und Sprechern, die Wörter wie ewig und König mit [ς] realisieren, vor der Regel der Auslautverhärtung angewendet werden muss: Wendet man zuerst die Auslautverhärtung an, wird aus dem stimmhaften Plosiv ein stimmloser, doch auf diesen stimmlosen Plosiv kann die g-Spirantisierung nicht mehr angewendet werden. (6)

e:vig e:vik e:vik

Λ

Ausgangsform Auslautverhärtung g-Spirantisierung Resultat

Diese Regel hat Kohrt (1988, 146) als einen graphotaktischen Filter eingeführt. Dass sie auch Teil der präskriptiven Trennregeln sein muss, werde ich im nächsten Kapitel zeigen.

8 Wechselt man die Reihenfolge der beiden Regeln und wendet die g-Spirantisierung vor der Auslautverhärtung an, erhält man das gewünschte Resultat: (7)

e:vig

Ausgangsform

ε:νις

g-Spirantisierung Auslautverhärtung

ε:νις

Resultat

Die beiden Regeln g-Spirantisierung und Auslautverhärtung können also nicht unabhängig voneinander angewendet werden, sondern müssen nacheinander angewendet werden, in einer bestimmten Ordnung. 6 Während uns derartige phonologische Regelinteraktionen nicht bewusst sind, nehmen wir orthographische Regelinteraktionen manchmal sehr bewusst wahr. Denn die Entscheidung, ob eine bestimmte Schreibung orthographisch korrekt ist oder nicht, lässt sich in solchen Fällen nicht anhand einer einzelnen orthographischen Regel treffen, sondern nur anhand mehrerer Regeln, die noch dazu in komplexer Weise zusammenhängen und in einer bestimmten Reihenfolge anzuwenden sind. Man vergleiche dazu etwa die Darstellung des Regelkomplexes zur Groß- und Kleinschreibung flektierter Adjektive bei Gallmann und Sitta (1997, 98—101). Dass auch die Trennregeln in geeigneter Weise geordnet werden müssen, lässt sich schon an den ersten beiden Trennregeln demonstrieren: (8) (9)

§107 (vereinfacht): Mehrsilbige Wörter trennt man nach Silben. §110 (vereinfacht): Mehrsilbige einfache und suffigierte Wörter mit einem oder mehreren wortinternen Konsonantbuchstaben trennt man so, dass genau ein Konsonantbuchstabe hinter dem Trennstrich steht.

Wendet man bei einem suffigierten Wort wie knusprig,

bei dem die Silbengrenze zwischen

[s] und [p] liegt, die Regel in §110 an, erhält man die korrekte Trennung knusp\rig: (10) knusprig

Ausgangsform

knuspjrig

§110

knusp|rig

Resultat

Wendet man hingegen die Regel in §107 an, erhält man die falsche Trennung (11) knusprig

*knus\prig:

Ausgangsform

knusjprig

§107

*knus|prig

Resultat

Eine klassische Einführung zu Regelinteraktionen und Regelordnungen in der Phonologie ist Kenstowicz und Kisseberth (1979, 2 9 1 - 3 3 0 ) , verschiedene Fälle von bisweilen sehr komplexen Regelinteraktionen im Deutschen sind unter anderem in Hall (1992) und Wiese (2000) zu finden.

9 Wie kann man sicherstellen, dass auf knusprig §110 angewendet wird und nicht §107? Eine Möglichkeit ist, Gallmann und Sitta (1997, 96) zu folgen und die Regel in §110 zu einer Unterregel der übergeordneten Regel in §107 zu machen: „Nicht selten gibt es für einen bestimmten Bereich der Rechtschreibung eine Regel, die nicht uneingeschränkt gilt. Für den Teilbereich, für den sie nicht gilt, muss dann eine zusätzliche Regel formuliert werden - eine Unterregel." Die Regel in §107 fungiert dann als eine Grundregel oder Defaultregel, die nur zur Anwendung kommt, wenn die Bedingungen für die Anwendung ihrer Unterregeln nicht gegeben sind. Da knusprig mehrere wortinterne Konsonantbuchstaben enthält und so die Anwendungsbedingungen von §110 erfüllt, kommt nur die untergeordnete Regel in §110 zum Zug und nicht die übergeordnete Regel in §107. Auch diese Art von Regelordnung ist aus der Phonologie bekannt, und zwar als Elsewhere-Bedingung (man vergleiche dazu etwa Kiparsky 1982). Die Elsewhere-Bedingung regelt Fälle, in denen zwei Regeln angewendet werden können, die zu unterschiedlichen Resultaten führen. Sie legt vereinfacht gesagt fest, dass die weniger allgemeine Regel Vorrang vor der allgemeineren Regel hat und die allgemeinere Regel nur zum Zug kommt, wenn die weniger allgemeine Regel nicht angewendet werden kann. Das scheint genau zuzutreffen auf die Regeln in §107 und §110. Beide Regeln können auf knusprig angewendet werden. Da aber die Regel in §107 die allgemeinere Regel ist (sie ist nicht auf einfache und suffigierte Wörter beschränkt), hat die weniger allgemeine Regel in §110 Vorrang. Die Elsewhere-Bedingung regelt nicht nur die Anwendung von §107 und §110, sondern erfasst unter anderem auch das Beispiel, an dem Gallmann und Sitta (1997, 96) den Unterschied zwischen Grund- und Unterregel demonstrieren, nämlich die Großschreibung von Ableitungen geographischer Eigennamen. (12) (a) (b)

Ableitungen von geographischen Eigennamen schreibt man klein (die schweizerischen Berge). Ableitungen von geographischen Eigennamen mit dem Suffix —er schreibt man groß (die Schweizer Berge).

Da die Ableitungen von geographischen Eigennamen auf —er eine Teilmenge der größeren Menge der Ableitungen von geographischen Eigennamen sind und die Resultate der beiden Regeln verschieden sind (Großschreibung oder Kleinschreibung), ist die allgemeinere erste Regel nach der Elsewhere-Bedingung die Grundregel und die weniger allgemeine zweite Regel die Unterregel. In der aktuellen Fassung der amtlichen Regelung, wie sie 2006 vom Rat für deutsche Rechtschreibung verabschiedet worden ist, ist allerdings noch eine kleine Änderung vorgenommen worden, die die Grundregel komplett überflüssig macht. Und zwar ist für Wörter wie Mauer, Spion und freuen, die wortinterne Vokalbuchstabenfolgen enthalten, ein eigener Paragraph eingeführt worden. In der früheren Fassung, die 1998 in Kraft getreten ist, wurden diese Wörter mit von §107 erfasst. (13) §109: Zwischen Vokalbuchstaben, die zu verschiedenen Silben gehören, kann getrennt werden.

10 Aufgrund dieser Änderung werden alle W ö r t e r von § § 1 0 8 - 1 1 3 erfasst, weshalb §107 in der aktuellen Fassung gar nicht mehr zur Anwendung k o m m e n kann, sondern als eine Art übergeordnetes Prinzip fungiert, das § § 1 0 8 - 1 1 3 zugrundeliegt. G e n a u g e n o m m e n kann m a n also auf §107 verzichten. M ü s s t e man nur §107, §109 und §110 in eine Ordnung bringen, wäre der Regelkomplex zur Worttrennung noch recht übersichtlich. D o c h es gibt auch Unterregeln zu Unterregeln oder, wie es bisweilen auch formuliert wird, Ausnahmen von den Ausnahmen. So gibt es zur Regel in §110 zwei Unterregeln in §111 und §112, die bestimmte Verbindungen von Konsonantbuchstaben von der Trennung ausnehmen. Auch wenn es in der amtlichen Regelung nicht ersichtlich wird, gilt auch hier die Elsewhere-Bedingung: Die beiden weniger allgemeinen Regeln in §111 und §112 haben Vorrang vor der allgemeineren Regel in §110. (14)

§111 (vereinfacht): Stehen die Konsonantbuchstabenverbindungen ch, ck, sch, ph,

rh,

sh oder th für einen Konsonanten, trennt man sie nicht. (15)

§112 (vereinfacht): In Fremdwörtern muss man die Verbindungen aus Buchstaben für einen Konsonanten und /, η oder r nicht trennen.

Vorrang vor §110 hat aber auch §108, der das Pendant zu §109 und §110 ist und die Trennung von zusammengesetzten und präfigierten W ö r t e r n regelt: (16)

§108: Zusammensetzungen und W ö r t e r mit Präfix trennt man zwischen den einzelnen Bestandteilen.

Dieser Paragraph muss deshalb vor §109 und §110 angewendet werden, weil sonst Wörter wie Blumenvase

nur zwischen den Bestandteilen getrennt werden könnten

{Blumen\vase).

Getrennt werden können sollen aber auch die einzelnen Bestandteile (Blu\menvase oder Blumenva\se),

die für die amtlichen Regelung mehrsilbige einfache oder suffigierte Wörter

sind und deshalb unter §109 und §110 fallen. 7 M a n vergleiche (17) und (18): (17)

(18)

Blumenvase

Ausgangsform

Blumenjvase

§108

Blu | men |va|se

§110

Blu men va se

Resultat

Blumenvase

Ausgangsform

Blumenvase

§110

Blumenjvase

§108

Blumen | vase

Resultat

Nicht erfasst werden übrigens mehrsilbige Präfixe wie unter in untermalen, ge einfache Wörter noch suffigierte Wörter sind.

die weder mehrsilbi-

11 In (17) wird Blumenvase zuerst nach §108 in die beiden Wörter Blumen und Vase getrennt, die dann weiter nach §110 in Blu und me und va und se getrennt werden können. In (18) hingegen kann §110 nicht auf Blumenvase angewendet werden, weil Blumenvase ein zusammengesetztes Wort ist. Insgesamt ergibt sich damit folgende Hierarchie: (19)

§108 §lll|§112

§109!§110 In den Erläuterungen im Rechtschreibduden (2006, 97ff.) werden die Worttrennungsregeln allerdings überraschenderweise ganz anders geordnet: „Für die Trennung der Wörter am Zeilenende gibt es zwei Grundprinzipien: Man trennt einfache Wörter nach Sprechsilben, wie sie sich beim langsamen Vorlesen ergeben, und man trennt zusammengesetzte Wörter und Wörter mit Vorsilben nach ihren erkennbaren Bestandteilen." Das Pendant zu §108, der die Trennung zusammengesetzter und präfigierter Wörter regelt, wären demnach nicht §109 und §110, sondern §107. Diese Diskrepanz zwischen den Erläuterungen und den amtlichen Regeln ist darauf zurückzuführen, dass die Erläuterungen die neu eingeführte Unterteilung zwischen der Trennung zusammengesetzter und präfigierter Wörter einerseits und der Trennung einfacher und suffigierter Wörter andererseits schlicht nicht berücksichtigen. Das führt leider auch dazu, dass in den Erläuterungen in K164 immer noch Wörter wie Männer, Müllerin, fordern, kalkig und Besserung als einfache Wörter angeführt werden, die offensichtlich komplex sind; diese Ungenauigkeit, die sich noch in der Fassung der amtlichen Regeln von 1998 findet, ist glücklicherweise in der aktuellen Fassung beseitigt worden. Ich werde weiter unten noch darauf zurückkommen.

1.3

Worttrennung und Silbengrenzen

In den beiden vorangehenden Abschnitten bin ich eher allgemeinen Fragen nachgegangen und habe ein wenig zu klären versucht, was unter einer orthographischen Regel zu verstehen ist und wie man orthographische Regeln ordnen kann, damit sie in der richtigen Reihenfolge angewendet werden. In den folgenden Abschnitten dieses Kapitel will ich nun gründlicher auf die einzelnen Trennregeln eingehen und verschiedene Probleme und Mängel in der Formulierung dieser Regeln aufzeigen. Ich werde mit der grundlegenden Regel in §107 beginnen und dann die Regeln in den anderen Paragraphen besprechen. Dass die Worttrennung am Zeilenende in der alltäglichen Redeweise gewöhnlich als Silbentrennung bezeichnet wird, ist sehr unglücklich, aber verständlich. Denn die grundlegende Regel für die Worttrennung am Zeilenende besagt, dass sich die Trennung eines orthographischen Wortes danach richtet, aus welchen Silben die entsprechende Lautform

12 besteht. Da diese grundlegende Regel in §107 auch einen großen Teil der Fälle mit erfasst, für die eigentlich die Unterregeln in §§108—112 zuständig sind, wird sie oft für die einzige Trennregel gehalten und nicht selten so missverstanden, dass Silbengrenzen mit möglichen Trennstellen identisch sind und man Silbengrenzen ermitteln kann, indem man überlegt, wo man ein Wort trennen kann. Man kann deshalb nicht deutlich genug betonen, dass mögliche Trennstellen nicht immer mit Silbengrenzen zusammenfallen und Worttrennung in der schriftlichen Sprache von der Silbifizierung in der gesprochenen Sprache zu unterscheiden ist. Worttrennung in der schriftlichen Sprache und Silbifizierung in der gesprochenen Sprache ist zweierlei und man sollte das eine nicht mit dem anderen verwechseln.8 Wenn ich es recht sehe, stellen sich, wenn man die Grundregel für die Worttrennung so formuliert wie in §107 oder in K164, mindestens drei Fragen. Diese drei Fragen sind nicht so leicht zu beantworten, weshalb ich mich ihnen in den drei folgenden Abschnitten genauer widmen will. Was ist unter langsamem Vorlesen zu verstehen? In welche Art von Silben zerlegt man eine Lautform beim langsamen Vorlesen? Und lassen sich auf diese Weise wirklich alle Wörter klar und eindeutig in Silben zerlegen?

1.3.1 Langsames Vorlesen Zu der ersten Frage findet man eine Erläuterung bei Eisenberg (2002, 73): „Die Grundregel der Silbentrennung bezieht sich nicht auf das Gesprochene allgemein, sondern auf das Vorlesen. Damit wird ein Bezug zum Geschriebenen hergestellt. Das ist für viele Trennungen von Bedeutung, z.B. in so|zi'|a|/es, Le\gu\a\ne. Das α ergibt sich als Einzelsilbe nicht einfach beim Sprechen, sondern beim langsamen Vorlesen." Langsames Vorlesen ist allerdings noch nicht hinreichend. Denn ich kann das Wort soziales durchaus langsam vorlesen, ohne dass es viersilbig wird, also so, wie in (20a) transkribiert. Viersilbig wie in (20b) wird soziales nur dann, wenn man für das Vorlesen nicht die deutliche Lentoaussprache wählt, sondern eine überdeutliche Aussprache, die sich noch stärker als die deutliche Lentoaussprache an der Schreibung orientiert und den Vokalbuchstaben i als vokalisches [i] ausspricht.9 (20) (a) (b)

[zo.tsja:.lss] [zo.tsi.ai.lss]

M a n mag einwenden, dass die Teile, in die man ein orthographisches W o r t trennt, so etwas wie orthographische Silben und deshalb Worttrennung und Silbifizierung durchaus vergleichbar sind (so etwa Nunn 1998 und Primus 2003). Ich werde im nächsten Kapitel noch ausführlicher darauf zu sprechen k o m m e n . Was ich hier unter deutlicher Lentoaussprache und überdeutlicher Aussprache verstehe, wird in der Dudengrammatik als Explizitlautung und Uberlautung unterschieden. Für die Uberlautung finden

sich auch die Bezeichnungen Schriftaussprache, Buchstabenaussprache oder, aus dem

Englischen ü b e r n o m m e n , ,Spelling Pronunciation'.

13 Dass Eisenberg bei seiner Erläuterung das überdeutliche Vorlesen im Sinn hat, wird deutlich, wenn man sich die Beispiele ansieht, die er für die Grundregel anführt (Eisenberg 2002, 73): (21) Bau|er, steu|ern, na|iv, Mu|se|um, eu|ro|pä|i|sches, na|ti|o|nal, dre|hen, neh|men, Hausjtür, Bejfund, ehrjlich Wörter wie drehen, Ruhe und rohes, die ein silbeninitiales h enthalten, kann man nur dann nach der Grundregel trennen, wenn man sie wie in (22a) überdeutlich ausspricht und das h dann nicht wie in (22b) ,stumm' ist, sondern eine lautliche Entsprechung hat.10 (22)

(a)

[dRe:hsn], [Ru:hs], [Ro:hss]

(b)

[dRe:an], [RU:3],

[RO:SS]

Hier gibt es einen bemerkenswerten Unterschied zwischen den angeführten Beispielen in Eisenbergs Erläuterungen im Wahrig Universalwörterbuch Rechtschreibung und den Erläuterungen im Rechtschreibduden. Eisenberg führt bei der Grundregel wie in (21) oben zu sehen zwar dre\hen an, aber kein Beispiel mit doppeltem Konsonantbuchstaben wie Män\ner. Der Duden hingegen führt bei der Grundregel in K164 zwar mehrere Beispiele mit doppeltem Konsonantbuchstaben an (Män\ner, Mül\l er, Mül\le\rin, Bes\se\rung und El\lip\se), aber kein Beispiel mit silbeninitialem h. Gerade das Beispiel El\lip\se zeigt, auf welch abseitige Wege einen die überdeutliche Aussprache führen kann. Denn das doppelte II in Ellipse ist anders als das doppelte II in Müller und Müllerin und das doppelte ss in Besserung nicht auf einen vorangehenden kurzen betonten Vokal oder ein Silbengelenk zurückzuführen. Der Vokal vor [1] in Ellipse ist unbetont, egal, ob man [e.lip.sa] oder [s.lip.ss] sagt. Eine Aussprache wie [el.lip.ss], in der man zwei [1] spricht, macht dementsprechend keinen Sinn. Wie verhängnisvoll überdeutliche Aussprachen besonders für Schreibanfängerinnen und Schreibanfänger sind, zeigen falsche Schreibungen wie spatzieren und kauhen, die man über [fpats.tsi:.Ran] und [kau.hsn] herleiten könnte. 11 Ich halte deshalb überdeutliche Aussprachen, in denen das silbeninitiale h eine lautliche Entsprechung hat und doppelte Konsonantbuchstaben auch zweimal gesprochen werden, für nicht nützlich. Nicht so leicht zu entscheiden ist die Frage, wie Wörter wie national und soziales auszusprechen sind. Es gibt sicherlich Wörter wie Spanien, Lilien, Union oder Radius, in denen dem i entweder ein silbisches [i] entspricht oder aber ein unsilbischer Glide (hier als [j] notiert) und die demgemäß zweisilbig oder dreisilbig ausgesprochen werden können:

10

Eine ganz andere Frage ist es, ob der Buchstabe h in Formen wie drehen in einer zugrundeliegenden Form eine lautliche Entsprechung hat oder nicht; diese Frage wird in Ossner (2001a, 2001b), Neef und Primus (2001) und Fery (2003b) höchst unterschiedlich beantwort.

11

Man vergleiche dazu unter anderem Thielen (2002, 149) und die verschiedenen Arbeiten von Christa Röber-Siekmeyer, in denen sie sich nachdrücklich gegen die so genannte Pilotsprache ausspricht, die wie ein Pilot das Schreiben der Kinder steuern soll und eine deutliche Lentoaussprache ist.

14 (23)

(a)

[fpai.ni.jsn], [lii.li.jan], [uni.jom], [Ra:.di.jus]

(b)

[fpa:n.jsn], [lid.jsn], [un.jo:n], [Ra:.djus]

Es gibt aber auch Wörter, in denen dem i kein silbisches [i] entsprechen kann, sondern nur ein unsilbisches [j]. Dass zu diesen Wörtern ausgerechnet die von Eisenberg angeführten Beispiele national und soziales gehören, zeigen recht eindrucksvoll die Experimente in Mücke (1997), die meines Wissens die einzigen gründlicheren empirischen Untersuchungen zu diesem Thema sind. Eines der Experimente, die Mücke durchgeführt hat, betraf die Frage, ob Hörer bei Wörtern wie Linie, Ferien, Nation und Mission eher die Variante mit silbischem [i] bevorzugen oder die Variante mit unsilbischem [j]. Die beiden Wörter Nation und Mission fungierten dabei als Kontrollwörter, da schon vorangehende Experimente gezeigt hatten, dass es bei Nation und Mission keine silbischen Varianten gibt. In die Auswertung gingen insgesamt 151 Testbögen ein und eines der Ergebnisse war, dass bei den beiden Kontrollwörtern Nation und Mission die dreisilbigen Varianten zu 9 5 % abgelehnt wurden (man vergleiche ausführlich Mücke 1997, 68-70). Das heißt, bei Wörtern wie Nation und Mission gibt es in der gesprochenen Sprache keine dreisilbigen Varianten, über die man die Trennungen Na\ti\on, Mis\si\on und so\zi\al herleiten könnte. In dem Vorschlag von Gallmann (1985, 237) zur Worttrennung wird denn auch die Trennung solcher Wörter grundsätzlich ausgeschlossen: „Zwischen Vokalbuchstaben darf in den folgenden Fällen nicht getrennt werden: [...] wenn ein unsilbisches i, u, y vor einem anderen Vokalbuchstaben steht: Na—tion, prin—zi—piell, Stu-dium, gra—ziös, Ma—nual, ak—tuell, eva— kuieren, Erin—nyen, Li-byen." Nimmt man noch weitere Beispiele wie Million und Version hinzu, so scheint mir, dass nicht nur der vorangehende Konsonant eine Rolle spielt für die Frage, ob das i silbisch oder unsilbisch ist. Laut Mücke gibt es kein silbisches i nach einem stimmlosen Obstruenten wie in (24a—b), doch für mich kann auch das i in Beispielen wie Explosion und Version nach stimmhaftem Frikativ oder in Beispielen wie Million und Rebellion nach Lateral nicht silbisch sein. Diese Beispiele zeichnen sich dadurch aus, dass sie ein betontes Fremdsuffix oder —pseudosuffix enthalten; ich denke, dass nur über weitere empirische Untersuchungen zu ermitteln sein wird, welches die entscheidenden Faktoren bei dieser Varianz zwischen silbischem und unsilbischem i sind.12 (24) (a)

Nation, Portion, Funktion, Kaution, Inspektion, Fiktion, Fraktion, Redaktion, Produktion

(b) (c)

Portier, Metier, Pleitier, Rentier, Privatier, Collier, Atelier Explosion, Kommission, Version, Passion, Prozession, Mission, Aggression, Depression, Vision Million, Rebellion, Batallion

(d)

12

Bei M ü c k e (1997, 66) ist auch eine schöne Übersicht darüber zu finden, wie die verschiedenen Aussprachewörterbücher mit dieser Varianz umgehen. Es ergibt sich insgesamt, wie eigentlich zu erwarten, ein alles andere als einheitliches Bild.

15 Wichtiger als diese empirische Frage ist aber eine andere: Müssen wir denn für die Worttrennung am Zeilenende überhaupt entscheiden, ob das i in Nation, soziales, Explosion und Rebellion silbisch ist oder nicht? Eine der wesentlichen Eigenschaften der Orthographie ist es, aus ganz unterschiedlichen möglichen Schreibungen eine bestimmte Schreibung als die orthographisch korrekte auszuwählen und als Norm zu setzen. Man könnte etwa die Wörter, die man als [feiRsn] und [beiRsn] ausspricht, unter anderem so schreiben: (25) (a) (b)

Scheren, Scheeren, Schehren Beren, Beeren, Behren

Die Orthographie legt fest, dass von diesen möglichen Varianten nur jeweils eine Variante richtig ist und die beiden anderen Varianten falsch. Wenn wir diese Leitidee, dass durch die Orthographie unterschiedliche mögliche Schreibungen eingeschränkt werden, auch in der Worttrennung verfolgen, scheinen wir tatsächlich entscheiden zu müssen, ob nun Nation und sozial drei- oder zweisilbig sind und entsprechend zwischen i und ο getrennt werden können oder nicht. Wie wir oben gesehen haben, hat sich die amtliche Regelung dafür entschieden, die Trennung zwischen i und ο durchgehend zuzulassen, während Gallmann (1985) die Trennung zwischen i und ο durchgehend ausschließt. Wenn wir allerdings noch einmal genauer nachdenken, sehen wir, dass wir uns doch nicht entscheiden müssen. Trennung ist optional und nicht obligatorisch. Das heißt, ob wir ein Wort, das nicht mehr komplett in die Zeile passt, trennen oder nicht, ist unsere Sache. Es führt zu keiner falschen Schreibung, wenn wir das Wort komplett an den Anfang der nächsten Zeile schreiben. Wenn wir etwa das Wort Nation nicht mehr als Ganzes in eine Zeile schreiben können, können wir zwischen i und ο trennen (Nati\on), aber wir müssen es nicht. Wir könnten auch zwischen α und t trennen oder einfach Nation komplett in die nächste Zeile übernehmen. Das bedeutet, dass eine zweisilbige Aussprache von Wörtern wie Nation, sozial, Version, Million und Portier nicht zu einer falschen Trennung führt, sondern nur dazu, dass man nicht trennt. Nicht zu trennen ist aber immer erlaubt. Wir können also ruhig Nation, sozial, Version, Million und Portier zweisilbig mit unsilbischem i aussprechen, ohne dass diese Aussprache falsche Trennungen zur Folge hat. Wenn wir solche Wörter trennen wollen, müssen wir sie keineswegs überdeutlich und entgegen unseren Intuitionen mit silbischem i aussprechen.

1.3.2 Welche Art von Silben? Wenn man ein mehrsilbiges Wort langsam vorliest, kann man entdecken, aus welchen Silben sich das Wort, genauer seine Lautform zusammensetzt. Das ist die grundlegende Idee hinter der Regel, dass man orthographische Wörter so trennen kann, wie sich die entsprechenden Lautformen in Silben zerlegen lassen. Doch welcher Art sind die Silben, in die man ein Wort beim langsamen Vorlesen zerlegt? Laut Hofrichter (1989) darf man die durch langsames Vorlesen ermittelten Silben nicht mit den Silben verwechseln, aus denen Lautformen bestehen. Das langsame Vorlesen ist laut Hofrichter keine natürliche alltägliche Aussprache, sondern eine künstliche Aussprache, die zu speziellen Silben führt, zu so

16 genannten Skansionssilben. Werner (1972, 57), auf den sich Hofrichter (1989) bezieht, ist etwas vorsichtiger: „ D e m möchte ich noch hinzufügen, d a ß bei diesen künstlichen/künstlerischen Abweichungen von der N o r m a l s p r a c h e keineswegs nur die vorhandenen Eigenschaften verdeutlicht werden. Es k o m m t auch Neues hinzu: Im Interlude 1 ' wird e i n e p h o n e tisch hörbare Grenze, also eine J u n k t u r geschaffen; die so entstehenden Einsilbler bekommen Starkdruck; sie passen sich den allgemeinen phonotaktischen Regeln der Einsilbler (weitgehend) a n . " Wenn man ein W o r t langsam und deutlich vorliest, neigt m a n dazu, alle Silben zu betonen, und zwar auch die Silben, die bei normaler Aussprache (was immer das genau ist) unbetont oder sogar unbetonbar sind. D a s kann man sehr gut bei denjenigen beobachten, die lernen, wie man W ö r t e r transkribiert, und dabei versuchen, die zu transkribierenden W ö r t e r möglichst deutlich und genau auszusprechen. Schwas werden dann oft als Vollvokal transkribiert, also nicht als [s], sondern als [e] oder [ε]. Von dieser Art ist auch Werners Beispiel bessere,

das bei langsamer deutlicher Aussprache zu ['bes.'se.'Re] wird.

Eine der grundlegenden Beobachtungen zu betonten Silben ist, dass sie ein gewisses Gewicht haben müssen, eine gewisse Schwere. Das kann man so ausdrücken, dass betonte Silben aus zwei Gewichtseinheiten, zwei M o r e n bestehen müssen, oder auch so, dass in betonten Silben hinter der V-Position für den Silbengipfel noch eine weitere Position besetzt sein muss. 1 4 D a Schwa kein Gewicht hat, nicht morig ist, muss es dementsprechend ersetzt werden, wenn die Silbe doch betont wird. In ['bes.'se.'Re] zum Beispiel werden beide Schwas durch ein zweimoriges [e] ersetzt. Auf diese Bedingung, dass betonte Silben zweimorig sein müssen, lässt sich dann auch Werners B e o b a c h t u n g zurückführen, dass beim langsamen deutlichen Vorlesen einem betonten Kurzvokal ein Konsonant folgen muss wie in ['bes.'se.'Re]. D a der betonte Kurzvokal, im Beispiel [ε], einmorig ist, die betonte Silbe aber zweimorig sein soll, wird der Konsonant eingefügt, um der betonten Silbe so die fehlende M o r e hinzuzufügen. Die andere Lösung, dass der Konsonant hinter dem betonten Kurzvokal ambisyllabisch ist wie in ['besa.Ra], ist ausgeschlossen, wenn man beim langsamen deutlichen Vorlesen eine Pause zwischen den Silben macht. M a n kann noch einen Schritt weiter gehen. Auch wenn es in der Literatur gewöhnlich nicht ausdrücklich erwähnt wird, gehört zu den M e r k m a l e n von phonologischen Wörtern,

1!

Interlude meint einen oder mehrere intervokalische Konsonanten.

14

Das ist Prokoschs Gesetz in Vennemann (1986, 39). Die Annahme, dass betonte Silben zweimorig sein müssen, ist allerdings nicht umumstritten (man vergleiche etwa Kohrt 1988 und Hall 1999b). Zu zeigen, dass die Konsonanten in Wörtern wie Sommer, Klappe und waschen tatsächlich ambisilbisch sind, ist alles andere als trivial, und wir werden im vierten Kapitel sehen, dass Kinder, die noch nicht schreiben können, solche Wörter sehr oft vor dem Konsonanten silbifizieren und dass die Silbifizierung mit ambisilbischem Konsonanten davon beeinflusst wird, dass man solche Wörtern mit doppelten Konsonantbuchstaben schreibt. Eines der besten Argumente für die Annahme, dass betonte Silben zweimorig sein müssen, ist meines Erachtens die Beobachtung, dass es im Deutschen keine Wörter wie etwa [res] gibt, in denen einer betonten offenen Silbe mit einem einmorigen Vokal einer unbetonten nackten Schwasilbe vorangeht. Bisweilen wird die Annahme auch so generalisiert, dass nicht nur die betonten, sondern auch die unbetonten Silben einer solchen Bedingung unterliegen (etwa der MMOR-Beschränkung in Fery 1995, 51 oder der Nukleusbedingung in Wiese 1988, 67).

17 dass sie sich über Pausen hinweg erstrecken können. 1 3 W o Pausen sind, sind auch Grenzen von phonologischen Wörtern. M a c h t m a n also beim langsamen Vorlesen, das ja eigentlich ein langsames Vorsprechen ist, eine Pause zwischen den einzelnen Silben, um so die Silbengrenzen deutlicher erkennen zu können, zerlegt m a n das W o r t nicht in Silben, sondern in phonologische Wörter. ['bes.'se.'Re] bildet somit anders als ['besa.Ra] nicht ein p h o n o logisches W o r t , sondern besteht aus drei phonologischen W ö r t e r n , die m a n mit (

fol-

gendermaßen markieren kann: (26)

(a)

(bess.Rs)^

(b)

(bssUseUReL,

N u r weil phonologische W ö r t e r die D o m ä n e n sind, innerhalb derer Silben gebildet werden, und deshalb Grenzen von phonologischen Wörtern zugleich Silbengrenzen sind, kann m a n orthographische W ö r t e r durch langsames Vorsprechen mehr oder weniger gut in Silben zerlegen.

1.3.3 Unklare Silbengrenzen Es wird zwar mitunter behauptet, dass die Gliederung eines Wortes in Silben dem Sprecher intuitiv zugänglich sei (so etwa im G r a m m a t i k d u d e n , 37), und es wird auch oft angen o m m e n , dass die Silbe so etwas wie die Grundeinheit der Sprachproduktion und der Sprachwahrnehmung sei (so schon Gleitman und Rozin 1977). D o c h es besteht Einigkeit darin, dass es in vielen Fällen keineswegs einfach ist, die Silbengrenzen zu bestimmen, und dass es eine ganze Reihe von Fällen gibt, in denen die Silbengrenzen variieren. Das hat schon Pulgram (1970, 12) angemerkt: „ T h e layman always knows that his language has syllables, but o f course he c a n n o t define the syllable; and if he can tell with some assurance how many syllables there are in an utterance, he c a n n o t , if put to it, say always exactly between what neighboring sounds he would place a syllable boundary, n o r would all speakers agree on this boundary [ . . . ] " U n d ganz ähnlich auch Clark und Yallop (1995, 61f.): „It does not follow that all utterances in all languages can be unambiguously segmented, nor that the location of boundaries between units is easily agreed. Given the continous nature of speech and the overlap between successive articulatory events, it is usually easier to say how many segments or syllables an utterance has than to determine where exactly each unit begins and ends. [ . . . ] Language users may or may not impose a sharp boundary, and may locate the boundary differently depending on the criteria to which they give priority." Kohrt (1988, 129) bezeichnet dieses Problem sehr treffend als Randbereichsunschärfe.

13

Wie im Deutschen die Grenzen von phonologischen Wörtern bestimmt werden können und welche Eigenschaften phonologische Wörter im Deutschen haben, ist nicht völlig geklärt. Einen allgemeinen Uberblick geben Hall (1999a) und Wiese (2000, 6 5 - 7 4 ) , einschlägig für das Deutsche sind neben anderen Hall (1999b) und (2002), Raffelsiefen (2000) und Smith (2002).

18 Nehmen wir zur Illustration ein viel zitiertes Beispiel aus einer größeren Gruppe von Wörtern, deren Silbenstruktur in der deutschen Phonologieliteratur schon oft und ausführlich beschrieben worden ist, und zwar das Beispiel Radier.16 Die Wörter dieser Gruppe zeichnen sich dadurch aus, dass sie wortintern eine Folge aus Plosiv und Sonorant enthalten, also etwa wie Radler die Folge [dl]. Das Bemerkenswerte an diesen Wörtern ist, dass ihre Aussprache variiert. So kann Radler mit stimmhaftem [d] ausgeprochen werden, aber auch mit stimmlosem [t]. Man hat angenommen, dass diese Variante dialektal bedingt sei, doch scheint diese Annahme zu einfach zu sein. Denn es gibt Sprecherinnen und Sprecher, die manche Wörter dieser Gruppe mit stimmhaftem Plosiv artikulieren und andere Wörter dieser Gruppe mit stimmlosem Plosiv.17 Das muss uns hier nicht weiter interessieren. Was uns hier interessiert, ist die Lage der Silbengrenze und der Zusammenhang zwischen der Silbengrenze und der Stimmhaftigkeit des Plosivs. Wenn die Annahme richtig ist, dass im Silbenendrand nur stimmlose Obstruenten stehen können, aber keine stimmhaften, muss in der Variante [Raidlß] der stimmhafte Plosiv [d] zum Anfangsrand der zweiten Silbe gehören. Andernfalls müsste der Plosiv stimmlos sein. Wenn wir einmal die Silbenstruktur mit einem ambisilbischen [d] ignorieren, liegt demnach in [Raidlß] die Silbengrenze vor [d], Diese Silbifizierung [Rai.dlß] erfüllt zwar verschiedene Bedingungen, die für die Struktur deutscher Silben gelten (so ist die erste betonte Silbe zweimorig), aber eine Bedingung erfüllt sie nicht. Und zwar die Bedingung, nach der Silbenränder mögliche Wortränder sein sollen (das ist das Initial- und Finalgesetz in Vennemann 1986). Es gibt im Deutschen keine Wörter, die mit der Folge [dl] beginnen. Diese Bedingung, nach der Silbenränder mögliche Wortränder sein sollen, wird von der Silbifizierung [Rait.lß] erfüllt, wo der stimmlose Plosiv im Endrand der ersten Silbe steht. Denn [t] ist sicher ein möglicher Wortendrand und [1] sicher ein möglicher Wortanfangsrand. Doch auch diese Silbifizierung verstößt gegen bestimmte Bedingungen. Zum einen ist nun die erste betonte Silbe nicht zwei-, sondern dreimorig und zum anderen ist [t.l] ein schlechter Silbenkontakt, weil der erste Laut [t] nicht sonorer ist als der zweite Laut [1], Ganz im Gegenteil, [1] ist sonorer als [t]. Superschwere dreimorige Silben soll es im Deutschen eigentlich nur an den Rändern phonologischer Wörter geben. Man sieht, dass man Radler nicht so in Silben einteilen kann, dass sämtliche Bedingungen für die Struktur deutscher Silben erfüllt werden können und deshalb bei Radler die Einteilung in Silben schwieriger ist als etwa bei Nase oder Auto, und das gilt auch für vergleichbare Wörter wie etwa Fenster und Wüste, auf die ich in Kapitel 4 noch genauer zu sprechen kommen werde. Für all diese Fälle, bei denen es schwer zu entscheiden ist, wo genau die Silbengrenze liegt, oder die Silbengrenze variiert, gibt es aber in der Worttrennung glücklicherweise eine einfache Lösung. Denn §110 legt fest, dass Radler, egal, wie es silbifiziert wird, nur zwischen d und / getrennt werden kann, aber nicht vor d. Das heißt, Beispiele wie Radler sind zwar problematisch für die Grundregel in §107, nach der man

16

E t w a in V e n n e m a n n ( 1 9 7 2 ) , H a l l ( 1 9 9 2 , 8 1 - 2 0 0 ) , B r o c k h a u s ( 1 9 9 5 , 3 7 - 8 8 ) , N o s k e ( 1 9 9 9 ) , J e s s e n

l/

M a n vergleiche B r o c k h a u s ( 1 9 9 5 , 185) und J e s s e n und R i n g e n ( 2 0 0 2 , 214f.) und die d o r t g e n a n n -

und R i n g e n (2002) und vor dem H i n t e r g r u n d der W o r t t r e n n u n g in K o h r t ( 1 9 8 8 , 1 2 9 - 1 3 4 ) . te Literatur.

19 sich bei der Worttrennung an die Silben halten soll, aber nicht problematisch für die Worttrennungsregeln insgesamt.

1.4

Was sind einfache Wörter?

Ich habe oben darauf hingewiesen, dass es in der überarbeiteten Auflage des Rechtschreibdudens von 2006 eine Differenz gibt zwischen der aktuellen Formulierung von §107 und seiner Darstellung in K164. Die Differenz besteht darin, dass §107 nur von mehrsilbigen Wörtern spricht, K164 hingegen von mehrsilbigen einfachen Wörtern: (27) §107: Mehrsilbige Wörter kann man am Ende einer Zeile trennen. Dabei stimmen die Grenzen der Silben, in die man die geschriebenen Wörter bei langsamem Vorlesen zerlegen kann, gewöhnlich mit den Trennstellen überein. K164: Mehrsilbige einfache Wörter trennt man so, wie sie sich beim langsamen Vorlesen in Silben zerlegen lassen [...]. Was ist hier unter einfachen Wörtern zu verstehen? In der Morphologie gibt es die gut etablierte Redeweise von einfachen Wörtern, die anders als die komplexen Wörter keine morphologische Struktur besitzen, nicht aus kleineren morphologischen Einheiten bestehen. Und in der Wortbildung werden die Wörter als einfache Wörter, als Simplizia bezeichnet, die weder Komposita noch Ableitungen sind. Doch in K164 kann weder die eine noch die andere Redeweise gemeint sein, weil unter den Beispielen, die zur Illustration angeführt werden, unter anderem die folgenden zu finden sind, die ein Flexions- oder Ableitungssuffix enthalten: (28) Freun|de, Mänjner, Mül|le|rin, for|dem, kaljkig, Bes|se|rung, Brau|e|rei, fe|en|haft, po|e|tisch Die Redeweise, die hier in K164 gemeint ist und die schon in sehr frühen Auflagen des Rechtschreibdudens wie etwa der von 1902 zu finden ist, ist die von einfachen und zusammengesetzten Wörtern, wobei die Präfixableitungen dann zu den Zusammensetzungen zu zählen sind. Diese Redeweise ist offensichtlich nicht die gewöhnliche, fand sich aber auch noch in der amtlichen Regelung von 1998, wo es in §108 hieß: „Steht in einfachen Wörtern zwischen Vokalbuchstaben [...]". Das ist jetzt glücklicherweise verbessert worden, denn in §110, der dem früheren §108 entspricht, heißt es nun: „Steht in einfachen oder suffigierten Wörtern zwischen Vokalbuchstaben [...]." Was in K164 eigentlich mit einfachen Wörtern gemeint ist, ist Folgendes. Suffixe können sich mit Stämmen vereinfacht gesagt mehr oder weniger eng verbinden. Verbindet sich ein Suffix mit einem Stamm eng, dann wird es zusammen mit dem Stamm silbifiziert, was dazu führt, dass wie in (29) die Silbengrenzen nicht mit den morphologischen Grenzen zu-

20 sammenfallen. Das kann man mit Hilfe des Begriffs des phonologischen Wortes so etwas genauer formulieren, dass in (29) die Suffixe mit den Stämmen zusammen ein phonologisches W o r t bilden. Die morphologisch komplexen W ö r t e r in (29) unterscheiden sich in phonologischer Hinsicht nicht von den morphologisch einfachen W ö r t e r n in (30). (29)

(30)

S c h l e i m + e r (flai.mE)

l a c h + e n (laxsn)^

g a n z + e r (gan.tse)^

r e g + e n (Rei.gan)^

m i s s + t (mist)^ s c h a l l + t (falt) u

n a s s + e r (nase)^

w a g + e n (vai.gsn)^

i r r + s t (iRst)^·

Eimer (ai.mE)^,

R a c h e n (Raxsn)^,

M i s t (mist),

Panzer (pan.tsB)^

Regen (Rei.gan)^.

kalt (kalt)^·

Wasser (vase)^.

Wagen (vai.gsn)^

First (fiRst) u

Wenn wir uns noch einmal die Beispiele in (28) genauer ansehen, sehen wir, dass bis auf das Beispiel feenhaft

tatsächlich alle angeführten Beispiele zwar morphologisch komplexe

W ö r t e r sind, aber ein phonologisches W o r t bilden. In diesem Sinne handelt es sich bei den meisten Beispielen in (28) um einfache Wörter. Z u den Suffixen, die sich eng mit ihren Stämmen verbinden und zusammen mit ihnen ein phonologisches W o r t bilden, gehören vokalisch anlautende Suffixe wie -er

und —en

und konsonantische Suffixe wie -t und —st, die nur aus Konsonanten bestehen. Konsonantisch anlautende Suffixe wie -lieh,

—los und — nis, Präfixe und S t ä m m e hingegen verbinden

sich nicht so eng miteinander, was man gut an Beispielen wie täglich,

lieblos

und

Zeugnis

erkennen k a n n , bei denen jeweils der S t a m m und das Suffix ein phonologisches W o r t bilden und die Silbengrenze hinter dem stimmlosen Plosiv und dem Sonoranten liegt. Läge die Silbengrenze vor dem Plosiv, sollte er stimmhaft sein. 1 8 (31)

f r e u n d + l i c h (fRDint)^(l^)^ l i e b + l o s (li:p)^,(lo:s)^, Z e u g + n i s (tsDik)^(nis)^

Hinter Präfixen, zwischen Stämmen und vor konsonantisch anlautenden Suffixen hegen also anders als vor vokalisch anlautenden und konsonantischen Suffixen Grenzen von phonologischen W ö r t e r n . Wir können somit nicht nur §110 noch etwas genauer, sondern auch §108 sehr viel einfacher formulieren (man vergleiche auch Primus 2 0 0 3 , 36):

Es sei hier dahingestellt, ob diese konsonantisch anlautenden Suffixe wirklich selbst ein phonologisches Wort bilden oder nicht. Wichtig ist nur, dass links von ihnen die Grenze eines phonologischen Worts liegt. Meines Wissens hat Dixon (1977) als erster solche Unterschiede zwischen Klassen von Affixen beschrieben und dafür die Begriffe ,cohering' und ,noncohering' eingeführt. Smith (2000, 60) verweist aber auch auf Bloomfield (1930): „This is an idea that ultimately goes back to Bloomfield (1930) who writes that the phonetic system treats the stem of compounds and the consonant-initial suffixes as separate words." M a n vergleiche auch die Fußnote 15 oben.

21 (32) §110 (neu): Steht in einem orthographischen Wort, das einem phonologischen Wort entspricht, zwischen Vokalbuchstaben ein einzelner Konsonantbuchstabe, so kommt er bei der Trennung auf die neue Zeile. Stehen mehrere Konsonantbuchstaben dazwischen, so kommt nur der letzte auf die neue Zeile. (33) §108 (neu): Grenzen von phonologischen Wörtern sind mögliche Trennstellen. Haben wir damit alle Unklarheiten in §110 beseitigt? Leider noch nicht. Denn wir müssen noch klären, welche Buchstaben zur Klasse der Konsonantbuchstaben zählen. Das scheint auf den ersten Blick einfach zu sein: Die Buchstaben, die einem Konsonanten entsprechen, bilden die Klasse der Konsonantbuchstaben. Bei den Buchstaben wie u, y und w, die sowohl Vokalen als auch Konsonanten entsprechen können, können wir unterscheiden zwischen einer typischen Entsprechung, die man auch als unmarkierte, häufige, primäre oder Default-Entsprechung bezeichnen kann, und einer untypischen Entsprechung. So hat in deutschen Wörtern typischerweise u einen Vokal als Entsprechung und w einen Konsonanten, weshalb u zu den Vokalbuchstaben gezählt wird und w zu den Konsonantbuchstaben. Konsonantbuchstabe ist u> auch dann, wenn es gar keine lautliche Entsprechung hat wie in dem Wort Teltower,

das jetzt anders als früher unter §110 fällt und nur vor w getrennt

werden kann und nicht dahinter (Telto\wer). illustriert, ist das Verb schwoien, schwoien

Ein anderes Beispiel, das denselben Punkt

das man auch schwojen

schreiben kann. Die Variante

kann man nur zwischen den Vokalbuchstaben i und e trennen (scbwoi\en), die

Variante schwojen

nur vor dem Konsonantbuchstaben;

(schwo\jen).

Zum deutschen Wortschatz gehören aber auch Fremdwörter wie Tower, loyal und Player. Sind w und y in Tower,

loyal und Player Vokalbuchstaben oder Konsonantbuchstaben?

Bei Wörtern wie Tower lassen das Wahrig Universalwörterbuch Rechtschreibung und der Rechtschreibduden sowohl die Trennung hinter w als auch die Trennung vor w z u . " (34)

(a)

Tow | er, Flow|er|pow|er

(b)

To|wer, Flo|wer po|wer

Doch bei Wörtern wie loyal und Player gibt es keine Ubereinstimmung mehr. Das Wahrig Universalwörterbuch lässt sowohl in französischen Fremdwörtern vom Typ loyal als auch in englischen Fremdwörtern vom Typ sprayen

Trennung hinter y und Trennung vor y zu.

Das macht Sinn, wenn y in allen Fremdwörtern als Vokalbuchstabe oder Konsonantbuchstabe klassifiziert werden kann. (35)

19

(a)

loy|al, roy|al, Voy| eur, Fay|ence, Play | er, spray |en

(b)

lojyal, ro|yal, Vo|yeur, Fajyence, Plajyer, spra|yen

Eisenberg (2002, 74) merkt zu den Trennung hinter w an: „Zwischen Vokalbuchstaben, die zu verschiedenen Silben gehören, darf getrennt werden (im Beispiel Tower gilt das w als Bestandteil eines Diphthongs und damit als Vokalbuchstabe)."

22 Der Rechtschreibduden hingegen lässt nur bei loyal und royal (und zwar sowohl bei dem französischen royal als auch beim englischen Royal) Trennung hinter y zu und schließt bei sprayen und Displayer Trennung vor y aus.20 (36)

(a) (b)

loy | al, roy |al,* Voy |eur, Fay |ence, Play |er, spray |en lojyal, rojyal, Vo|yeur, Fa-yence, *Pla|yer, *spra|yen

Hier wäre noch genauer zu untersuchen, ob der Glide, der y in der Aussprache zu entsprechen scheint und y so zu einem Konsonantbuchstaben macht, ein phonetisches Phänomen ist oder nicht. Wir sprechen Mayer und neues mit einem Glide aus, der bei dem Ubergang zwischen der Artikulation des vorangehenden Diphthongs zur Artikulation des folgenden Vokals entsteht; genau genommen ist der Glide der zweite Teil des Diphthongs. Diese Entsprechung zu einem Glide darf das y in Mayer und das u in neues aber nicht zu einem Konsonantbuchstaben machen, weil wir sonst auch Ma\yer und ne\ues trennen können sollten. Ich denke, dass es sich auch bei dem Glide, der in sprayen und Player zu hören ist, um ein solches Koartikulationsphänomen handelt und deshalb auch sprayen und Player wie neues nur vor dem e getrennt werden sollten.

1.5

Welche Verbindungen stehen für einen Konsonanten?

Eine der Regeln, die sich in der neuen Regelung der Rechtschreibung gravierend von der alten Regelung unterscheidet, ist die Regel in §111, die festlegt, welche Verbindungen von Konsonantbuchstaben nicht getrennt werden dürfen. Denn zu diesen Verbindungen gehören jetzt nicht nur ch, sch, ph, sh, rh und th, sondern auch ck. Wörter wie backen und Zucker fallen jetzt wie lachen und wischen unter diese Regel und werden vor ck getrennt: ba\cken, Zu\cker. Dennoch gibt es auch bei dieser Regel eine ganze Reihe von Punkten, die bedenklich sind und mit der Art und Weise zusammenhängen, wie die Regel formuliert ist. Sehen wir uns den Wortlaut der Regel genauer an: (37) §111: Stehen Buchstabenverbindungen wie ch, sch-, ph, rh, sh oder th für einen Konsonanten, so trennt man sie nicht. Dasselbe gilt für ck. Dass zwischen sch und ph in dieser Auflistung ein Semikolon steht und kein Komma, ist damit zu erklären, dass der Rechtschreibduden davon ausgeht, dass die Buchstabenverbindungen ph, rh, sh und th nur in Fremdwörtern wie Strophe, Myrrhe, Cashewnuss und katholisch für einen Konsonanten stehen. Wenn ein deutsches Wort eine dieser Buchstabenverbindungen enthält, stehen die beiden Buchstaben wie in Schürhaken, Weisheit, boshaft 20

Skurrilerweise kann Royal als Bezeichnung für ein Mitglied der englischen Königsfamilie nur vor y getrennt werden, während Royal als Bestandteil von Royal Air Force sowohl vor als auch hinter y getrennt werden kann. Hier liegt wohl ein Fehler vor.

23 oder Knethaken für zwei Konsonanten, zwischen denen eine morphologische Grenze liegt. In den Erläuterungen zu den amtlichen Regeln wird das auch entsprechend formuliert: (38) K165: Die Konsonantenverbindungen ch, ck und sch, in Fremdwörtern auch ph, rh, sh und th, bleiben ungetrennt, wenn sie für einen einfachen Laut stehen. Problematischer als dieser Punkt sind aber zwei andere Punkte, die sich daraus ergeben, dass zum einen die Liste der untrennbaren Buchstabenverbindungen in §111 eine offene Liste ist und keine geschlossene („Buchstabenverbindungen wie") und zum anderen das Kriterium für die Zugehörigkeit zu dieser Liste („stehen für einen Konsonanten") auch auf andere Buchstabenverbindungen wie ng in Zunge und dt in Gesandter zutrifft, die getrennt werden können. Die folgende Formulierung von Eisenberg (2002, 73) macht wohl am besten klar, dass die Liste der untrennbaren Buchstabenverbindungen in §111 wirklich als offene Liste gedacht ist und die Aufzählung nicht vollzählig ist: „Folgen von Konsonantbuchstaben, die mit genau einem Laut korrespondieren (z.B. ch, ck, sch), trennt man generell nicht."

1.5.1 Buchstabenverbindungen, die für einen einfachen Laut stehen Zu den Buchstabenverbindungen, die in §111 nicht genannt sind, aber dennoch bei der Worttrennung wie ch, sch, ck, ph, rh, sh und th behandelt werden sollen, gehört sicherlich auch gh in Beispielen wie Joghurt (jetzt auch Jogurt) oder Spaghetti (jetzt auch Spagetti), aber auch qu wie in Clique. In diesen Beispielen stehen gh und qu für einen Konsonanten und bleiben ungetrennt, zwischen g und h und q und u zu trennen ist orthographisch nicht korrekt.21 (39) Jojghurt Spa|ghetti Cli|que

*Jog|hurt *Spag|hetti *Cliq|ue

Die Frage, warum nicht auch Buchstabenverbindungen wie ng und dt ungetrennt bleiben müssen, wenn sie für einen Konsonanten stehen, lässt der Rechtschreibduden offen und auch andere Darstellungen der Worttrennung wie etwa die in Nerius (2000, 140) sind in diesem Punkt nicht erhellender. Es gibt, wenn ich es recht sehe, mindestens zwei mögliche Erklärungen dafür, warum Wörter wie Lunge und Gesandte nicht vor ng und vor dt getrennt werden dürfen. Nach der einen Erklärung entsprechen die Buchstabenverbindungen ng und dt nur in der ober-

Dass gh hier tatsächlich zusammen für einen Konsonanten steht, ist keineswegs so offensichtlich, wie ich es hier darstelle. Man könnte durchaus, wie es unter anderem Neef (2005) macht, das h als ein ,stummes' h deuten, das keine lautliche Entsprechung hat; dann würde nur g mit einem Konsonanten korrespondieren. Ich werde darauf im nächsten Kapitel zurückkommen.

24 flächlichen

Form einem Konsonanten; in der Form hingegen, die dieser oberflächlichen

Form zugrundeliegt, entsprechen sie zwei Konsonanten: 22 (40)

Lunge

[lugs]

/lungs/

Gesandte

[gasants]

/ga/ + /sand/ + Itl +

hl

Ich denke, zwei Gründe sprechen gegen eine solche Erklärung. Der eine eher theoretische Grund ist, dass sich die Worttrennung auf Oberflächenformen bezieht. Sprecherinnen und Sprecher orientieren sich, wenn sie herausfinden wollen, aus welchen Lauten und Silben eine Lautform besteht, nicht an der zugrundeliegenden Lautform, sondern an der Oberflächenform, weil sie keinen bewussten Zugang zur zugrundeliegende Form haben (vgl. Mohanan 1986, 186—195). Deshalb kann sich auch die Worttrennung, bei der es auf das Segmentieren von Lautformen in Silben ankommt, nicht auf zugrundeliegende Formen beziehen. Der andere empirische Grund ist, dass es zumindest für die Verbindung dt Fälle gibt, in denen sie nicht mehr auf zugrundeliegendes [dt] zurückgeführt werden kann, jedenfalls nicht synchron. Dazu zählen Wörter wie Städte und

Verwandter.

Die andere Erklärung dafür, warum Wörter wie Lunge und Gesandte

nicht vor ng und

vor dt getrennt werden dürfen, macht von dem graphotaktischen Filter Gebrauch, den Kohrt (1988, 146) eingeführt hat und den ich oben schon kurz erwähnt habe: (41) Ein graphotaktischer

Filter:

Worttrennungen sollen zu Buchstabensequenzen führen, deren Ende am Schluss der ersten Zeile bzw. Anfang am Beginn der zweiten Zeile mit den End- bzw. Anfangsrändern orthographischer Wortrepräsentationen übereinstimmt. Da weder ng noch dt mögliche Anfangsränder von deutschen Wörtern sind, filtert diese Bedingung wie gewünscht die falschen Trennungen *Lu\nge und *Gesan\dte

aus. Ver-

wendet man einen solchen graphotaktischen Filter, muss man allerdings sicherstellen, dass man nicht zuviel ausfiltert. Denn es werden nicht nur falsche Trennungen wie *Lu\nge und "'Gesan\dte ausgefiltert, sondern auch korrekte Trennungen wie knusp\rig

und

Zu\cker,

da weder sp ein möglicher Wortendrand noch ck ein möglicher Wortanfangsrand ist.2® Dieser graphotaktische Filter kann also noch nicht die ganze Erklärung sein.

1.5.2 Warum nicht einfacher? Bleibt noch ein letzter Punkt, der auffällt, wenn man die amtliche Regelung in §111 mit der Darstellung in K165 im Duden Rechtschreibung vergleicht. In §111 wird die Trennung Die genauen Details der zugrundeliegenden Form sind hier irrelevant, relevant ist nur, dass ng und dt in der zugrundeliegenden Form zwei Konsonanten entsprechen und nicht einem. M o r phemgrenzen sind wie üblich mit + markiert. D e r Ehre halber muss man sagen, dass der graphotaktische Filter von Kohrt auch nur für die alte Regelung vorgesehen war, in der Zuk\ker

und nicht Zu\cker die korrekte Trennung war.

25 von ck in einem angehängten Satz ausgeschlossen („dasselbe gilt für ck"),

während in

K165 und auch bei Eisenberg (2002) einfach die Liste der untrennbaren Buchstabenverbindungen um ck ergänzt wird. Warum ist nicht auch in §111 die einfachere Lösung gewählt worden, ck hinter ch und sch einzufügen? Wenn man Munske (1992), der die Trennung —ck vorgeschlagen hat, genau liest, stößt man auf einen interessanten Dissens, die in einer Fußnote versteckt ist. Munske schlägt vor, einfach ck bei den anderen untrennbaren Verbindungen einzufügen, also so, wie in K165: „Im Mannheimer Reformvorschlag heißt es: Verbindungen aus verschiedenen Buchstaben wie ch, sch, ph, rh, th werden nicht getrennt, wenn sie für einen einzigen Konsonanten stehen.' [...] Hier ist lediglich ck einzufügen." (Munske 1992, 43) Diesen Vorschlag begründet er damit, dass ck wie unter anderem auch ch ein Digraph sei, der aus zwei verschiedenen Buchstaben besteht. 24 Allerdings verhält sich ck nicht wie ch und sch, sondern wie mm, f f , II usw., die Munske als Digraphen aus zwei gleichen Buchstaben klassifiziert. Wenn man einmal von Eigennamen wie Finck absieht, tritt ck nur dann auf, wenn das entsprechende [k] einem kurzen betonten Vokal folgt, während die Konsonanten, die ch und sch entsprechen, auch langen Vokalen, Diphthongen und Konsonanten folgen können. Die Verbindung ck hat also, so Munske, einerseits die Verteilung und Funktion, die auch die Einheiten mm, f f , II usw. haben, ist aber andererseits von der Form her vergleichbar mit ch, sch, ph usw. und wie diese Verbindungen eine Einheit, die aus zwei verschiedenen Buchstaben besteht. 25 (42) Nach kurzem

betontem

Vokal:

(a)

Sommer, hoffen, Schnecke

(b)

hecheln, mischen, Zither

(43) Nach langem

Vokal, Diphthong

oder

Konsonant:

(a)

*Traumm, *schnauffen, >:'paucken, >: 'Helmme, >:'helffen, >:'Falcke

(b)

riechen, tauschen, Strophe, manche, falsche, Morphium

Der Dissens liegt darin, dass nicht alle wie Munske der Meinung sind, dass ck eine komplexe Einheit ist, die aus zwei verschiedenen Buchstaben besteht. So haben neben anderen Peter Eisenberg und Hartmut Günther in verschiedenen Arbeiten dafür argumentiert, Folgen wie mm, f f , II und ck nicht als komplexe Einheit aus zwei gleichen Buchstaben zu 24

Es ist alles andere als leicht, eine erhellende Erläuterung von ,Digraph' zu finden. So schreibt etwa Rogers (2005, 16) Folgendes: „A polygraph is a sequence of graphemes, which represents a linguistic unit normally represented by a single symbol; typically, in an alphabet, a polygraph consists of two letters which represent a single phoneme. In English, the sequence (sh) is a polygraph since it represents the single phoneme /[/; we might also call it a digraph, a special case of polygraphy, consisting of only two graphemes. In French chaque 'each', (ch) and (que) are both polygraphs since they each represent a single phoneme: /[/ and /k/, respectively." Ist ein Digraph nun eine Folge von zwei Buchstaben oder eine Folge von zwei Graphemen? Munske übersieht meines Erachtens allerdings, dass, wenn seine Argumentation richtig ist, dann eigentlich auch tz, das dieselbe Distribution wie ck hat und genau wie ck als Digraph aus verschiedenen Buchstaben zu klassifizieren wäre, ungetrennt bleiben müsste.

26 deuten, sondern als Folgen von zwei einfachen Einheiten oder, etwas genauer, als Kombination von zwei einfachen Graphemen. D a n n wären mm, f f , II, ck wie auch tz tatsächlich Verbindungen anderer Art als etwa ch, sch und ph, und ck sollte dann auch nicht in die Liste der komplexen G r a p h e m e a u f g e n o m m e n werden, sondern wie in §111 gesondert angefügt werden. Die beiden unterschiedlichen Formulierungen in §111 und K 1 6 5 sind also nicht nur einfach Notationsvarianten. 2 6

1.6

Folgen aus O b s t r u e n t und S o n o r a n t

Eigentlich ist das, was §112 im Sinn hat, richtig, aber er ist leider so formuliert, dass er zu falschen Trennungen führt, wenn man seinem Wortlaut folgt. D a s ist aber leicht zu ändern. Sehen wir uns wieder den Wortlaut an: (44)

§112: In Fremdwörtern können die Verbindungen aus Buchstaben für einen Konsonanten + l, η oder r entweder entsprechend §110 getrennt werden, oder sie k o m m e n ungetrennt auf die neue Zeile.

1.6.1 Eine bessere Formulierung M u t h m a n n (2000, 234) hat überprüft, o b dieser Paragraph in den Wörterbüchern wirklich in all den Fällen angewendet wird, in denen er angewendet werden könnte. Er k o m m t zu dem Ergebnis, dass es eine ganze Reihe von Fremdwörtern gibt, die eigentlich unter diesen Paragraphen fallen, bei denen aber dennoch nur eine Art der Trennung zugelassen ist. Z u diesen Fremdwörtern gehören unter anderem die folgenden, bei denen nur zwischen den beiden wortinternen Konsonantbuchstaben getrennt werden darf:

Hermann Unterstöger hat auf einige schöne Fälle aufmerksam gemacht, in denen ck nicht einem Konsonanten entspricht, sondern zwei (Süddeutsche Zeitung, 21.8.1999, 14): Ein kurioser Fall ereignete sich eben jetzt hier in der SZ, indem es sich bei der Besprechung von Marcel Reich-Ranickis Buch als nötig erwies, den Namen des Autors zu trennen. Unser Rechtschreibprogramm hielt Ranicki für etwas Ähnliches wie Zucker und trennte folglich „Rani-cki". Da der Mann indessen weder Zucker ist noch so ausgesprochen wird, hätte man dem Programm mit einem Befehl zur Seite springen und den Namen in „Ranic-ki" trennen müssen. Trotz aller „Erleichterung" durch die ck-Trennung muß man also immer noch wissen, wie der Eigenname ausgesprochen wird. Der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki (Lippenbekenntnis als CDU-Gastredner: „die Rechtschreibreform gehört abgeschafft", Kieler Nachrichten v. 13.01.01) spricht sich mit reinem „k" aus, müßte folglich Kubi-cki getrennt werden. Allein Ekkehard Klug, auch ein Kieler FDP-Politiker, der den Volksentscheid gemeuchelt hat, darf sich richtig Ek-kehard trennen.

27 (45)

(a)

Am|nestie, Gym|nasium, Glas|nost, Hyp|nose

(b)

But|ler, eng|lisch

Warum? In Amnestie

und Gymnasium

haben wird zwar eine Verbindungen aus einem

Konsonantbuchstaben und n, doch der Konsonant [m], der dem Konsonantbuchstaben m entspricht, ist kein Obstruent, sondern ein Sonorant. Was §112 im Sinn hat, sind nicht einfach Verbindungen aus Konsonantbuchstabe und /, η oder r, sondern Verbindungen aus Obstruentbuchstabe und /, η oder r. In K166 in den Erläuterungen werden diese Verbindungen als offene Liste angeführt (in der Regel R179 der alten Regelung übrigens als geschlossene Liste) und dort sieht man, dass tatsächlich nur solche Verbindungen in Frage kommen: (46) K166: In Fremdwörtern können Konsonantengruppen wie die folgenden ungetrennt bleiben: bl, cl, fl, kl, phl, pl; br, er, dr, fr, gr, kr, phr, pr, thr, tr, vr, gn, kn. Auch bei englisch

ist dann klar, warum nur zwischen g und l getrennt werden darf und

nicht zwischen η und g. Die beiden Buchstaben η und g bilden eine Einheit und stehen für den velaren Nasal [η], der wie der bilabiale Nasal [m] ein Sonorant ist und kein Obstruent. Also ist auch g in englisch kein Obstruentbuchstabe. Bleiben noch die anderen Beispiele Glasnost, grenze anders als in Beispielen wie Magnet,

Hypnose

Hydrant

und Butler, in denen die Silben-

und Livree nicht vor, sondern hinter

dem Obstruenten liegt. Man vergleiche: (47) Glasnost [glaz.mst]

Magnet [ma.gne:t]

Hypnose [hYp.no:.zs]

Hydrant [hy.dRant]

Butler [bat.1b]

Livree [li.vRe:]

Obwohl sowohl die Wörter in der linken Spalte als auch die Wörter in der rechten Spalte eine Folge aus zwei Obstruent- und Sonorantbuchstaben enthalten, dürfen nur die Wörter in der rechten Spalte vor dem Obstruentbuchstaben getrennt werden (Ma\gnet, Li\vree).

Hy\drant,

Die Wörter in der linken Spalte dürfen nicht vor dem Obstruentbuchstaben

getrennt werden (*Gla\snost, *Hy\pnose,

*Bu\tler). Dieser Unterschied kann nicht darin

begründet sein, dass sn, pn und tl keine möglichen Anfänge deutscher Wörter sind (Beispiele wie Snob und Pneu sind Fremdwörter). Denn vr in Li\vree ist auch kein möglicher Wortanfang im Deutschen, wenn man von Eigennamen wie Vroni absieht. Der Grund ist vielmehr die Silbifizierung: In den Wörtern in der linken Spalte liegt die Silbengrenze nicht vor dem Obstruenten, sondern dahinter. Liegt die Silbengrenze zwischen dem Obstruenten und dem Sonoranten, kann man also nicht vor dem Obstruentbuchstaben trennen. Dem wird die folgende Umformulierung gerecht, die alle Beispiele in (45) abdeckt: (48) §112 (neu): In Fremdwörtern können die Verbindungen aus Buchstaben für einen Obstruenten + l, η oder r entweder entsprechend §110 oder entsprechend §107 getrennt werden.

28 Sind damit auch Trennungen wie Ko\gnak, Champa\gner, Kampa\gne und Lasa\gne zulässig? Das kommt darauf an, ob g auch in diesen Beispielen als Buchstabe für einen Obstruenten klassifiziert wird. Wenn wir wie bei der Klassifizierung nach Vokal- und Konsonantbuchstaben verfahren und g nach seiner unmarkierten Entsprechung in deutschen Wörtern klassifizieren, so ist g sicherlich ein Buchstabe für einen Obstruenten. Denn [g] und [k] als unmarkierte lautliche Entsprechungen zu g sind Plosive und somit Obstruenten. Wenn wir uns aber nach dem konkreten Vorkommen richten, ist g kein Buchstabe für einen Obstruenten, da die lautliche Entsprechung von g in Kognak, Champagner, Kampagne und Lasagne kein Obstruent ist. Denn gn entspricht in diesen Wörtern [nj]. Die Trennungen Ko\gnak, Champa\gner, Kampa\gne und Lasa\gne sind demnach nur dann durch §112 abgedeckt, wenn g nach seiner unmarkierten und nicht nach seiner tatsächlichen Entsprechung klassifiziert wird.

1.6.2 Wie steht es mit gm? Die Konsonanten, die /, η und r entsprechen, haben eine gemeinsame Eigenschaft: Sie sind Sonoranten. Doch es gibt neben dem alveolaren Nasal, der η entspricht, noch zwei weitere Nasale im Deutschen, und zwar den bilabialen Nasal, der m entspricht, und den velaren Nasal, der η oder ng entspricht. Warum sollen nur Verbindungen aus Obstruentbuchstabe und /, η oder r ungetrennt bleiben können und nicht auch Verbindungen aus Obstruentbuchstabe und ng oder m? Der eine Fall ist schnell erledigt: Verbindungen aus Obstruent und velarem Nasal gibt es wortintern nicht. Doch es gibt wortinterne Verbindungen aus Obstruent und bilabialem Nasal, und zwar unter anderem diese, die alle eine wortinterne gm-Folge enthalten und nach der amtlichen Regelung nur zwischen g und m getrennt werden dürfen, aber nicht vor g: (49) Dog|ma Phleg|ma Fragjment Pig|ment Segjment

*Do|gma >:'Phle|gma

*Fra|gment *Pi|gment *Se|gment

Warum können nur Buchstabenverbindungen wie bl, kl, gn, br, dr oder ihr ungetrennt auf die neue Zeile kommen, aber nicht die Buchstabenverbindung gm ? Wenn wir uns an den graphotaktischen Filter oben erinnern, liegt eine graphotaktische Antwort auf der Hand: Fremdwörter wie Dogma und Segment können anders als Fremdwörter wie Magnet nicht vor g getrennt werden, weil gm im Deutschen kein möglicher Anfangsrand eines orthographischen Wortes ist. Doch was zählt als möglicher Anfangsrand? Wenn wir uns an Pulgram (1970, 90) halten, heißt „möglich" so etwas wie „kommt vor" und „nicht möglich" so etwas wie „kommt nicht vor". Von Eigennamen wie Gmund abgesehen kommt die Folge gm im Deutschen tatsächlich nicht als Anfangsrand eines orthographischen Wortes vor. Nach Kohler (1995, 180) zeigen allerdings fehlende Belege keineswegs, dass eine solche Folge ausgeschlossen

29 ist: „Fehlende oder zahlenmäßig schwache Belege, die darüber hinaus oft aus Dialekten {Gmund)

oder anderen Sprachen {Khmer)

stammen, sind kein Einwand gegen die struktu-

relle Möglichkeit dieser Verkettungen im Deutschen entsprechend den geltenden phonotaktischen Regeln." So zählt Wiese (2000, 266) auch [SR] ZU den möglichen Silbenanfangsrändern im Deutschen und führt als Beleg Sri Lanka

an. Fundiert beantworten lässt sich

die Frage, was ein möglicher Anfangsrand ist und was nicht, wohl nur experimentell, indem man Sprecherinnen und Sprecher nach ihren Urteilen über so genannte ,Nonwords' befragt, also über Wörter, die es aktuell in der Sprache nicht gibt. Wir können aber auch so zeigen, dass die graphotaktische Antwort nicht die richtige sein kann. Denn es gibt Wörter wie Puzzle,

Shuttle,

Gentleman

und Kevlar,

die man so

trennen kann, dass hinter dem Trennstrich mit zl, tl und vi ein ausgeschlossener Wortanfangsrand steht. Entsprechend sollte man dann auch aus graphotaktischer Sicht Wörter wie Dogma

und Segment

vor g trennen können. Puz | zle

(50) Puzz|le Shutt|le

Shutjtle

Gent|l eman

Gen|tleman

Kev lar

Ke vlar

Vielleicht führt eine phonotaktische Antwort der folgenden Art weiter: Fremdwörter wie Dogma

und Segment

können anders als etwa Magnet

nicht vor g getrennt werden, weil

[gm] nur nach kurzem Vokal vorkommt und die Silbengrenze immer zwischen [g] und [m] liegt. Wir finden zwar Wörter wie Zyklus

und Februar,

in denen [kl] und [bR] nach lan-

gem Vokal stehen, aber keine Wörter, in denen [gm] einem langen Vokal folgt. Ausnahmen sind, wie üblich, Eigennamen wie

Siegmund.

Die Aussprachewörterbücher sind sich allerdings nicht einig, ob die Silbengrenze wirklich zwischen [g] und [m] liegt. Die Silbifizierung von Formen wie Dogma,

in denen [gm]

einem betonten Vokal folgt, ist anhand der Aussprachewörterbücher nicht zu entscheiden, weil dort keine Silbengrenzen angegeben werden. Man muss sich deshalb an die Formen wie Segment

halten, in denen [gm] einem betonten Vokal vorangeht und bei denen die

Aussprachewörterbücher die betonten Silben markieren. Bei diesen Formen liegt die Silbengrenze nach dem Großen Wörterbuch der deutschen Aussprache hinter [g] und nach dem Ausspracheduden vor [g]. Denselben Unterschied findet man allerdings auch bei [gn] vor betontem Vokal. (51)

Großes

Wörterbuch

der deutschen

Aussprache·.

prägnant [pReg.nant]

Prognose [pRog.no:.zs]

Fragment [fRag.msnt]

Magnet [mag.ne:t]

Pigment [pig.ment]

Signal [zig.na:l]

(52) Duden

Aussprachewörterbuch:

prägnant [pRe.gnant]

Prognose [pRo.gno:.zs]

Fragment [fRa.gment]

Magnet [ma.gne:t]

Pigment [pi.gment]

Signal [zi.gnad]

30

Wenn die Silbengrenze allerdings tatsächlich hinter [g] liegt, sollte [g] unter die Auslautverhärtung fallen und stimmlos sein; in vergleichbaren Fremdwörtern tritt ein stimmloser Obstruent auf. (53) prägnant [pRek.nant]

Prognose [pRok.no:.zs]

Fragment [fRak.ment]

Magnet [mak.ne:t]

Pigment [pik.ment]

Signal [zik.na:l]

(54) Smog [smok]

Quiz [kvis]

Snob [snop]

Gag [gek]

J o b [d3Dp]

Bagdad [bakdat]

Diese Aussprachevariante mit stimmlosem [k] hat Laeufer (1995) nachgewiesen, deren Versuchspersonen bei langsamer Aussprache Siegmund

und Egmont

als [zi:k.munt] und

[ek.mont] ausgesprochen haben. Nur bei schneller Aussprache waren neben diesen stimmlosen Varianten auch die Varianten mit stimmhaftem [g] zu hören. Das heißt, sowohl das Große Wörterbuch der deutschen Aussprache als auch der Ausspracheduden notieren beobachtbare Aussprachen. Laeufer (1995, 229) erklärt diesen Unterschied so, dass die langsame Aussprache sprachspezifischen phonotaktischen Bedingungen folgt, die [gm] als Silbenanfangsrand ausschließen, während die schnellere Aussprache nur den allgemeineren Sonoritätsbeschränkungen unterliegt, nach denen [gm] durchaus ein möglicher Silbenanfangsrand ist. Ähnliche Probleme wie den Aussprachewörterbüchern bereiten Wörter wie Dogma auch der Phonologie. Sehen wir uns zuerst Dogma

Fragment

und

an: Der Vokal [D] in der

ersten Silbe ist kurz, einmorig. Zweimorig wird diese erste betonte Silbe dadurch, dass der folgende Konsonant [g] den Endrand der ersten Silbe bildet. Doch dieser Konsonant kann nur dann stimmhaft sein, wenn er auch zum Anfangsrand der zweiten Silbe gehört. Mit anderen Worten: [g] in [dogma] muss ambisilbisch sein, wie Yu (1992, 190f.) und Smith (2002, 184) vorgeschlagen haben. (55) ο

g

m

Das ist insofern ungewöhnlich, als solche ambisilbischen Konsonanten ansonsten nur allein vorkommen wie etwa [m] in Sommer Anders bei Formen wie Fragment,

und nicht in einer Konsonantenfolge.

in denen die erste Silbe unbetont ist und deshalb

nicht zweimorig sein muss. In diesen Formen ist [g] nicht ambisilbisch, sondern nur Teil des Anfangsrands der zweiten Silbe. (56) R

a g

M

31 Ich schließe aus alledem, dass es keine gute Begründung dafür gibt, dass gm in Fremdwörtern wie Dogma und Segment anders als etwa gn in Magnet und pl in Diplom getrennt werden muss. Trennungen wie Do\gma und Se\gment lassen sich graphotaktisch nicht ausschließen, ohne dass man zugleich auch Trennungen wie Puz\zle und manö\vrieren ausschließt, und es gibt Aussprachevarianten dieser Wörter, in denen [g] zusammen mit [m] den Ansatz der zweiten Silbe bildet. Entsprechend kann die Neuformulierung von §112 noch stärker vereinfacht werden: (57) §112 (neu): In Fremdwörtern können die Verbindungen aus einem Obstruentbuchstaben und einem Sonorantbuchstaben nach §110 oder nach §107 getrennt werden.

1.7

Zusammenfassung

„The usual ground rules of linguistic analysis: explicitness, consistency, exhaustiveness, and simplicity, are not easy to apply in the study of the English writing system," so Carney (1994, 33). Ich habe in diesem Kapitel versucht, diese Kriterien auf die deutschen Regeln für die Worttrennung anzuwenden, wie sie in der amtlichen Regelung zu finden sind. Es hat sich dabei gezeigt, dass nicht alle Trennregeln so explizit sind, wie es wünschenswert wäre, dass die Trennregeln nicht immer mit den im Wörterbuchteil festgelegten Trennungen vereinbar sind, dass nicht alle dieser im Wörterbuchteil festgelegten Trennungen aus den Trennregeln ableitbar sind und die Formulierungen dieser Trennregeln nicht immer so einfach sind, wie sie sein könnten. Deshalb habe ich auch eine Reihe von Umformulierungen vorgeschlagen, die den genannten Kriterien besser gerecht werden. Im nächsten Kapitel werde ich diesen Faden wieder aufnehmen, allerdings unter einer gänzlich anderen Perspektive als der der amtlichen Regelung.

2

Eine theoretische Fundierung

Wir haben im vorangehenden Kapitel gesehen, dass man unter einer orthographischen Regel eine Art Handlungsanweisung verstehen kann, die bei richtiger Anwendung zu orthographisch korrekten Schreibungen führt. So enthält der Abschnitt zur Worttrennung am Zeilenende in der amtlichen Regelung eine Liste von Regeln, die man in einer bestimmten Reihenfolge anwenden muss, wenn man ein gegebenes Wort orthographisch korrekt trennen will. Welche dieser Regeln man wann anwenden darf oder muss, hängt offensichtlich von dem Wort ab, das man trennen will. Handelt es sich zum Beispiel um ein morphologisch einfaches Wort mit einem wortinternen Konsonantbuchstaben wie Segel, muss man die Regel in §110 anwenden und erhält als Resultat die Trennung Se-gel. Bei einem morphologisch komplexen Wort wie Vergleich hingegen, das aus einem Präfix und einem Stamm besteht, darf man nicht die Regel in §110 anwenden, sondern man muss die Regel in §108 anwenden. Denn Vergleich wird zwischen Präfix und Stamm getrennt (Ver\gleich) und nicht vor dem letzten wortinternen Konsonantbuchstaben ^Verg\leich). Ich werde nun in diesem Kapitel eine Analyse der Worttrennung vorschlagen, die nicht wie die amtliche Regelung auf einem System von Regeln basiert, sondern auf einem System von Beschränkungen. Diese Beschränkungen legen fest, ob ein getrennter Wortteil, ein Trennsegment, wohlgeformt ist oder nicht. Ich werde zeigen, dass diese Beschränkungen verschiedene bemerkenswerte Eigenschaften haben, die mit den Beschränkungen für Silben vergleichbar sind, und wie diese in zwei große Klassen eingeteilt werden können. Es gibt eine Art von Beschränkungen, die die Struktur der Trennsegmente regeln, also strukturelle Bedingungen für Trennsegmente, und es gibt eine andere Art von Beschränkungen, die die Beziehungen der Trennsegmente zu anderen Einheiten des Sprachsystems regeln. Sehen wir uns zum besseren Verständnis einige Beispiele an, die von der amtlichen Regelung der Worttrennung nicht erfasst werden können, und zwar Dirndl, Radi und Hendl. Diese Wörter stammen zwar aus dem Bairischen und nicht aus der Standardsprache (wobei Dirndl sicherlich schon Teil der Standardsprache geworden ist), doch macht das für die Worttrennung keinen Unterschied. Dialektwörter werden wie Wörter der Standardsprache getrennt. Die Regel in §110 kann man hier nicht anwenden, weil in Dirndl, Radi und Hendl kein Konsonantbuchstabe zwischen zwei Vokalbuchstaben steht. Also greift die Grundregel in §107, nach der orthographische Wörter so getrennt werden können, wie sie sich bei langsamem Sprechen in Silben zerlegen lassen. Die Lautformen von Dirndl, Radi und Hendl sind sicher zweisilbig, so dass die Trennungen *Dirn\dl, *Ra\dl und *Hen\dl eigentlich orthographisch korrekt sein sollten. Das sind sie aber nicht. Die amtliche Regelung führt also bei Dirndl, Radi und Hendl zu falschen Trennungen. Vergleicht man Dirndl, Radi und Hendl mit Formen wie Tadel und Handel, wird klar, woran es liegt, dass *Dirn\dl, *Radl und ''Hen\dl falsche Trennungen sind: Im zweiten Trennsegment hinter dem Trennstrich fehlt ein Vokalbuchstabe. Bei den richtigen Trennungen Ta\del und Han\del enthält sowohl das erste als auch das zweite Trennsegment ei-

34 nen Vokalbuchstaben. Es gibt offensichtlich für die Teile, aus denen ein getrenntes Wort besteht, eine Beschränkung folgender Art:1 (1)

Keine Trennung ohne Vokalbuchstaben (= νοκ): Ein Trennsegment muss einen Vokalbuchstaben enthalten.

Diese νοκ-Beschränkung schließt wie gewünscht Trennungen wie *Dirn\dl, ''Ra\dl und *Hen\dl aus und ist offensichtlich eine Beschränkung für den Aufbau, die Struktur von Trennsegmenten. Wir haben hier also eine erste starke strukturelle Beschränkung für Trennsegmente, die von jedem getrennten Wort im Deutschen erfüllt wird. Wenn wir die νοκ-Beschränkung mit den Regeln für die Worttrennung aus der amtlichen Regelung vergleichen, sehen wir einen grundlegenden Unterschied: Während sich die Regeln an ungetrennten Wörtern orientieren (am Input), und festlegen, wie man vorgehen muss, um ungetrennte Wörter korrekt zu trennen, orientiert sich die νοκ-Beschränkung an möglichen Trennungen (am Output) und legt fest, welche von diesen möglichen Trennungen korrekt sind und welche nicht. Das ist offensichtlich eine andere Herangehensweise. Ich werde im nächsten Abschnitt zuerst ein kleines System von Worttrennungsbeschränkungen vorstellen, das in Munske (1992) zu finden ist, und in den folgenden Abschnitten dann ein komplettes System von Worttrennungsbeschränkungen entwickeln, das alle Trennungen im Deutschen erfassen soll.

2.1

Beschränkungen statt Regeln

Beginnen wir mit Munske (1992), der überlegt, wie man Wörter wie Zucker, hacken und Säcke trennen soll, und folgende drei Möglichkeiten diskutiert:2 (2)

(a) (b) (c)

Zuk|ker, hak|ken, Säk|ke Zuc|ker, hac|ken, Säc|ke Zu|cker, hajcken, Sä|cke

Nach der alten Regelung sind die Trennungen mit k\k in (la) die richtigen Trennungen, nach der neuen Regelung trennt man hingegen wie in (lc) vor ck. Zwischen c und k zu trennen wie in (lb) ist weder nach der alten noch nach der neuen Regelung richtig. Wenn man diese drei möglichen Trennungen miteinander vergleicht, so Munske, tut sich ein Dilemma auf: „Das Dilemma der ck-Trennung liegt offensichtlich darin, daß jede der drei Trennungsmöglichkeiten der Sondergraphie ck für /k/ nach Kurzvokal einigen Regel des Schreibsystems entspricht, andere aber verletzt. Es kann darum keine befriedigende Tren1

M a n vergleiche für eine genauere Fomulierung dieser Beschränkung Primus (2003, 33). D o r t heißt es, dass jeder graphematische Silbengipfel mit einer V-Position assoziiert ist. D a z u auch Gallmann (1985, 235f.).

35 nungsregel für ck geben." Die Regeln, die Munske heranzieht, kann man als Beschränkungen für getrennte Wörter verstehen und vereinfacht so formulieren:3 (3)

Gleichschreibung von Morphemen ( = MORPHEM): Morpheme sollen immer gleich geschrieben werden.

(4)

Trennung von Geminaten ( = TR-GEM): Graphische Geminaten sollen getrennt werden.

(5)

Übereinstimmung der Ränder ( = RÄNDER) : Die Ränder eines Trennsegments sollen denen von Wörtern entsprechen.

(6)

Keine Trennung von Di- und Trigraphen ( = ZUS-DIGR) : Mehrgraphe sollen nicht getrennt werden.

Stellen wir diese vier Beschränkungen zusammen, sehen wir, dass keine der drei oben genannten möglichen Trennungen von ck alle vier Beschränkungen erfüllt. Die erste Trennung k\k erfüllt zwar TR-GEM und RÄNDER, verstößt aber gegen MORPHEM und ZUS-DIGR, weil c bei der Trennung zu k wird und der Digraph kk getrennt ist. Die zweite Trennung c\k erfüllt zwar MORPHEM und TR-GEM, verstößt aber gegen ZUS-DIGR und auch gegen RÄNDER, weil c kein möglicher Wortendrand im Deutschen ist. Die dritte Trennung, |ck, erfüllt zwar MORPHEM und ZUS-DIGR, verstößt aber wie c\k gegen RÄNDER und auch gegen TR-GEM, weil ck als graphische Geminate getrennt werden soll. Um die Sache etwas übersichtlicher zu machen, können wir das auch wie Munske in einer kleinen Tabelle festhalten, in der ich jedoch die Verstöße nicht wie Munske mit einem Minuszeichen, sondern mit einem Stern gekennzeichnet und die ungetrennte Buchstabenfolge ck in der Zelle links oben als Vergleichsform oder Input notiert habe. (7)

ck

MORPHEM

TR-GEM

RÄNDER

ZUS-DIGR

k|k c k | ck

Graphische Geminaten sind bei Munske die Konsonantbuchstabenverdopplungen wie mm, II und f f in Summe, Rolle und Koffer, die ambisilbischen Konsonanten entsprechen; ck wie in Zucker ist eine besondere Art der Konsonantbuchstabenverdopplung. Die zweite Bedingung kann man auch als eine Antigeminations-Bedingung verstehen, die gleiche Buchstaben am linken Rand von Trennsegmenten ausschließt und eine Art ,Obligatory Contour Principle' der Schrift ist; die dritte Bedingung ist Kohrts graphotaktischer Filter, den wir schon im vorigen Kapitel kennen gelernt haben. Es sei hier erstmal dahingestellt, ob ck tatsächlich ein Digraph ist, wie Munske meint.

36 Wie kann man einen Ausweg aus dem Dilemma finden, dass keine der drei Trennungen k\k, c\k und |ck alle Bedingungen erfüllt? Munske (1992, 41ff.) schlägt vor, durch eine unterschiedliche Gewichtung: „Die Graphik zeigt, dass bei Gleichgewichtung [...] alle drei Lösungen gleich gut oder gleich schlecht sind. Eine solche Gleichgewichtigkeit liegt aber nicht vor. [...] Die Gewichtung der vier Regeln beziehungsweise der entsprechenden Regelverletzungen führt zu dem Schluss, daß von den drei Lösungen —ck die relativ beste (beziehungsweise für Pessimisten: die drittschlechteste) ist." Das hat sehr große Ähnlichkeit mit zentralen Annahmen der Optimalitätstheorie, wie sie von John McCarthy, Alan Prince und Paul Smolensky Anfang der neunziger Jahre entwickelt worden ist. 4 Denn zu den zentralen Annahmen der Optimalitätstheorie gehört, dass die Grammatik ein System von gewichteten verletzbaren Beschränkungen ist und dass von allen möglichen Formen die Form grammatisch ist, die diese gewichteten verletzbaren Beschränkungen am wenigsten verletzt. Wir können Munskes Annahmen entsprechend in etwas allgemeinerer Form so festhalten (Müller 2000, 9ff.): (8)

(a)

Verletzbarkeit: Die Beschränkungen können verletzt werden.

(b)

Geordnetheit: Die Beschränkungen sind geordnet.

(c)

Wettbewerb: Ob eine Form grammatisch ist, kann man nur entscheiden, indem man sie mit anderen in Frage kommenden Formen vergleicht. Eine Form ist grammatisch, wenn sie die Beschränkungen besser erfüllt als die anderen Formen.

(d)

Begründbarkeit: Die Beschränkungen sind funktional begründbar. 3

Munske hat eine solche funktionale Begründung im Blick, wenn er schreibt, dass die Lösung |ck die Schreiber- und leserfreundlichste sei. Wenn wir nun entscheiden wollen, welche der Trennungen k\k, c\k und ck die beste ist und deshalb die orthographisch richtige sein soll, müssen wir unter diesen Annahmen zuerst die Beschränkungen ordnen und dann die Trennungen miteinander vergleichen und prüfen, welche dieser Trennungen am wenigsten gegen die Beschränkungen verstößt. Welche Verstöße sind nach Munske am ehesten in Kauf zu nehmen? MORPHEM hat als eine grundlegende Beschränkung für die deutsche Orthographie ein sehr großes Gewicht und ist von den vier Beschränkungen oben sicher die wichtigste, ZUS-DIGR gilt laut Munske in der Worttrennung, wenn man vom umstrittenen Fall n\g einmal absieht, ausnahms-

4

D i e grundlegende Arbeit ist Prince und S m o l e n k s y (2004). Umfangreiche und detaillierte Einführungen sind Archangeli und L a n g e n d o e n (1997), Kager (1999), M c C a r t h y (2002) und speziell für die S y n t a x M ü l l e r (2000).

3

So schreiben B e r n h a r d t und Stemberger (1998, 153): „We also believe that constraints need to be grounded in c o g n i t i o n , a r t i c u l a t i o n , perception, and c o m m u n i c a t i o n . N o t h i n g should be mysterious. If it is impossible to provide a reasonable e x p l a n a t i o n for the existence o f a particular c o n s t r a i n t , it is a suspect c o n s t r a i n t . "

37 los, während die Beschränkung TR-GEM einen eingeschränkteren Geltungsbereich hat, weil nur einfache Konsonantbuchstaben wie m, l und f zu Geminaten verdoppelt werden können und nicht feste Konsonantbuchstabenverbindungen wie ch oder seh-, auch RÄNDER hat wegen Trennungen wie bei\ßen oder Li\vree nur eine eingeschränkte Gültigkeit. Das ergibt dann diese Rangfolge: (9)

MORPHEM

ZUS-DIGR

TR-GEM, RÄNDER

Das Zeichen ist hier aus der Optimalitätstheorie übernommen und so zu lesen, dass die 2> vorangehende Beschränkung wichtiger ist als die ^ folgende Beschränkung. Das Komma trennt Beschränkungen, die im Verhältnis zueinander ungeordnet sind. Man kann nun die Tabelle (7) oben, in der die vier Beschränkungen noch nicht geordnet sind, entsprechend so verändern, dass die Rangfolge der Beschränkungen und die relativ beste Trennung aus ihr ablesbar sind: (10)

ck

MORPHEM

ZUS-DIGR

TR-GEM

RÄNDER

k k c|k m-

ck

In solchen Tabellen stehen die relevanten Beschränkungen in der oberen Zeile und die Formen, die überprüft werden sollen, die so genannten Kandidaten, in der linken Spalte. Die Rangfolge der Beschränkungen wird so notiert, dass die Beschränkung, die jeweils links von einer durchgezogenen Tinie steht, wichtiger ist als die Beschränkung, die rechts von dieser Linie steht. Die Tabelle in (10) enthält in der linken Spalte drei Kandidaten, und zwar die Trennungen k\k, c\k und ck. Der erste Kandidat k\k verstößt anders als die beiden anderen Kandidaten c\k und |ck gegen die ranghöchste Beschränkung MORPHEM und ist damit aus dem Rennen. Solche fatalen Verstöße werden mit *! markiert. Sowohl c\k als auch ck erfüllen die erste Beschränkung MORPHEM, SO dass die nächste Beschränkung in der Rangfolge, zus-DIGR, entscheidet. Da c\k anders als ck gegen diese Beschränkung verstößt und deshalb ebenfalls ausscheidet, ist \ck der Gewinner, der mit der zeigenden Hand markiert wird. Dass der Gewinner ck gegen TR-GEM und RÄNDER verstößt, ist belanglos, da diese Beschränkungen weniger wichtig sind als die Beschränkungen MORPHEM und ZUS-DIGR. Man kann auch noch einen Schritt weiter gehen und die Beschränkungen mit einem numerischen Gewicht versehen.6 Die Rangfolge der Kandidaten ergibt sich dann einfach aus der Summe der numerischen Gewichte. M a n vergleiche dazu Burke und Wells-Jensen (2003, 165), die eine solche Gewichtung kurz an der englischen Worttrennung vorführen, und Keller (2000, 250ff.), der so eine ganze Reihe von syntaktischen P h ä n o m e n e n wie Wortstellung, Auxiliarwahl und E x t r a k t i o n aus NPs beschreibt.

38 (11)

ck

MORPHEM

ZUS-DIGR

TR-GEM

RÄNDER

-3

-2

-1

-1

k|k

-4

c k

-3

|ck

-2

Wenn ein Kandidat gegen eine Beschränkung verstößt, erhält er Minuspunkte; ist diese Beschränkung wichtiger, erhält er mehr Minuspunkte, ist sie weniger wichtig, erhält er weniger Minuspunkte. Es gewinnt dann der Kandidat mit den wenigsten Minuspunkten, also der am wenigsten schlechte. Dieser Kandidat ist in (11) die Trennung | ck, die nur zwei Minuspunkte für die Verstöße gegen T R - G E M und R Ä N D E R erhält. Ich werde im Folgenden für meine Überlegungen eine Tabellenform verwenden, die von Prince (2003) genauer entwickelt worden ist. In diesen vergleichenden Tabellen („comparative tableaux") wird der optimale, grammatische Kandidat jeweils mit einem anderen Kandidaten verglichen und geprüft, ob der optimale Kandidat gegen den anderen Kandidaten gewinnt. Solche vergleichenden Tabellen haben den Vorteil, dass man nicht alle Kandidaten zusammen vergleichen muss, sondern nur jeweils zwei Kandidaten und dass man direkt ablesen kann, ob der optimale Kandidat auch tatsächlich gegen alle anderen Kandidaten gewinnt. Das sieht dann so aus: (12)

ck | ck ~ k k |ck

c|k

MORPHEM

ZUS-DIGR

W

W W

TR-GEM

RÄNDER

L L

Links von ~ steht jeweils der optimale Kandidat, der Gewinner, und rechts von ~ ein anderer Kandidat, ein Verlierer. Nehmen wir das erste Kandidatenpaar, das aus dem Gewinner ck und dem Verlierer k\k besteht. Die beiden wichtigeren Beschränkungen MORPHEM und Z U S - D I G R bevorzugen den Gewinner ck, was mit W wie „Winner" notiert wird, während die weniger wichtigen Beschränkungen T R - G E M und R Ä N D E R die Verlierer k\k und c\k bevorzugen, was mit L wie „Loser" notiert wird. Etwas anders gesagt: ck gewinnt gegen k\k bei den wichtigeren Beschränkungen M O R P H E M und Z U S - D I G R und verliert gegen k\k nur bei der weniger wichtigen Beschränkung RÄNDER. Man sieht hier, dass ein Kandidat nur dann der Gewinner sein kann, wenn man bei jedem Vergleich mit einem anderen Kandidaten ein W findet, dem kein L vorangeht. Beim zweiten Kandidatenpaar, das aus dem Gewinner | ck und dem Verlierer c\k besteht, entscheidet ZUS-DIGR, und zwar so, dass ck bevorzugt wird. Man kann die Wirkungsweise solcher Beschränkungen für die Schreibung auch an ganz anderen Phänomenen als der Worttrennung vorführen. So verwendet etwa Jacobs (2002)

39 drei geordnete Beschränkungen, um den Unterschied zwischen der Getrenntschreibung in (13a) und der Zusammenschreibung in (13b) zu beschreiben. 7 (13) (a) (b)

dass wir das zusammenschreiben Zusammen schreiben wir das nie.

Die drei Beschränkungen, die Jacobs einführt, sind etwas vereinfacht folgende: (14) Zusammenschreibung von Wortbildungen ( = Z U S - W B ) : Ausdrücke, die durch einen wortbildenden Prozess miteinander verbunden wurden, werden zusammengeschrieben. (15) Getrenntschreibung von Nicht-Schwestern ( = GETR-NS): Ausdrücke, die keine syntaktischen Schwestern sind, werden getrennt geschrieben. (16) Getrenntschreibung von Teilausdrücken Ausdrücke werden getrennt geschrieben.

( = GETR-AUSDR):

Wenn man diese drei Beschränkungen in die Rangfolge GETR-NS, ZUS-WB und GETR-AUSDR bringt, muss zusammenschreiben in (13a) zusammen und in (13b) getrennt geschrieben werden. Das zeigen die folgenden Tabellen: (17) dass wir das zusammenschreiben zusammenschreiben

In (13a) dass die vorzugt schreiben sammen

GETR-AUSDR

w

L

GETR-NS

ZUS-WB

GETR-AUSDR

w

L

W

zusammen schreiben

Zusammen schreiben wir das nie. zusammen schreiben

ZUS-WB

GETR-NS

zusammenschreiben

sind die beiden Ausdrücke zusammen und schreiben syntaktische Schwestern, so Beschränkung GETR-NS irrelevant ist. Die nächsttiefere Beschränkung ZUS-WB beden Gewinner zusammenschreiben, weil die beiden Ausdrücke zusammen und Teil einer Wortbildung sind. In (13b) hingegen sind die beiden Ausdrücke zuund schreiben keine syntaktischen Schwestern, und GETR-NS wird aktiv.

Munske (1992) hat seine Überlegungen zur Gewichtung der Worttrennungsregeln nur auf die Trennung von ck beschränkt und merkt selber an, dass es möglicherweise Probleme gibt, wenn man andere Fälle wie zum Beispiel die Trennung von ng mit hinzunimmt. Ich werde in den folgenden Abschnitten daran anknüpfen und versuchen, nicht nur I ck, sondern auch n\g und alle anderen Trennungen mit Beschränkungen zu beschreiben, die '

D i e s e A n a l y s e soll h i e r n u r d a z u d i e n e n , das Z u s a m m e n s p i e l von B e s c h r ä n k u n g e n in der O r t h o g r a p h i e zu illustrien, u n d ist i n z w i s c h e n d u r c h J a c o b s ( 2 0 0 5 ) ü b e r h o l t .

40 verletzbar, unterschiedlich gewichtet und möglichst funktional begründbar sind. Ich werde beginnen mit der grundlegenden Beschränkung, die mögliche Trennstellen auf Silbengrenzen bezieht.

2.2

Trennungen an Silbengrenzen

Wenn wir ein orthographisches Wort trennen wollen, so gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten, wie wir vorgehen können. Wir können uns entweder nur am orthographischen Wort orientieren oder wir können vergleichen, wie dieses Wort lautlich und morphologisch strukturiert ist. 8 M a n kann mehrsilbige Wörter in Silben segmentieren und morphologisch komplexe Wörter in Morpheme. Es ist nahe liegend, sich beim Segmentieren von orthographischen Wörtern (nichts anderes macht man beim Trennen) an solchen Segmentierungen in anderen Bereichen des Sprachsystems zu orientieren, zumal sich die Schreibung im Deutschen auch sonst in verschiedener Weise auf die Silbenstruktur und die morphologische Struktur bezieht. 9 Wir haben im vorangehenden Kapitel gesehen, dass es eine Reihe von Wörtern gibt, bei denen die Sprecherinnen und Sprecher des Deutschen unterschiedliche Intuitionen darüber haben, wie die Wörter in Silben zu segmentieren sind und wo genau die Silbengrenzen liegen. Bei den meisten Wörtern wie etwa Auto oder Ofen haben die Sprecherinnen und Sprecher aber durchaus verlässliche Intuitionen, die nicht variieren. Wir können deshalb auch bei den meisten Wörtern durch langsames deutliches Vorsprechen gut erkennen, wo die Silbengrenzen und dementsprechend auch die Trennstellen liegen. 10 Bei der morphologischen Segmentierung ist das anders. Die Gliederung eines morphologisch komplexen Wortes in Morpheme ist den Sprecherinnen und Sprechern nur sehr bedingt intuitiv zugänglich (wohl nur dann, wenn die Morpheme mit Silben zusammenfallen) und man kann selbst bei denjenigen, die das Segmentieren in Morpheme geübt haben und damit vertraut sind, beobachten, dass Morpheme, die eigentlich leicht zu erkennen sein sollten, übersehen werden (etwa -er in Briefträger). Es gibt also gute Gründe, warum sich die Grundregel für die Worttrennung auf Silben bezieht und nicht auf Morpheme.

Vergleiche dazu die Debatte zwischen Äugst und Günther in Äugst (1990, 1997) und Günther (1990, 1992). M a n denke an die verschiedenen Regularitäten, die in den Arbeiten von Eisenberg unter dem silbischen und dem morphologischen Prinzip zusammengefasst werden. 10

Goslin und Frauenfelder (2000) und Goslin (2002) haben erstaunlich genaue Übereinstimmungen gefunden zwischen der Art und Weise, wie französische Sprecherinnen und Sprecher in bestimmten Experimenten Silben segmentieren, und den Vorhersagen, die verschiedene Theorien der Silbifizierung im Französischen dazu machen. D a s s könnte allerdings, wie Caroline Fery angemerkt hat, seinen Grund darin haben, dass es im Französischen anders als im Deutschen keine ambisyllabischen Konsonanten gibt und die französische Prosodie silbenbasiert ist.

41 2.2.1 Die Grundregel Bei der genauen Formulierung der Grundregel müssen wir etwas aufpassen. Wenn wir diese Grundregel so formulieren, dass Silbengrenzen mögliche Trennstellen sind, müssen wir darauf achten, was unter Silbengrenzen verstanden wird. In der üblichen Art und Weise des Transkribierens werden Silbengrenzen mit einem Punkt notiert, also Auto als [au.to], Ofen als [o:.fan] und Summe

als [zums], Das ist unproblematisch, solange man diesen

Punkt nicht für eine Einheit hält, sei es ein Segment oder eine Junktur; der Punkt soll nur markieren, dass die beiden Silben in Auto und Ofen aus [au] und [to] beziehungsweise [o:] und [fan] bestehen und [m] in Summe

zu beiden Silben gehört, ambisilbisch

ist.

Der Trennstrich in der Schreibung hingegen ist ein Segment, wenn auch ein Hilfszeichen wie :, ? und ). Da somit dem Trennzeichen in getrennten orthographischen Wörtern nichts in der lautlichen Form entspricht, müssen wir die Grundregel für die Worttrennung auf die Grenzen der Silben beziehen, etwa so: (18) Die Trennung

richtet sich nach den

Silbengrenzen:

Die Ränder der Trennsegmente fallen mit den Rändern von Silben zusammen. Solche Entsprechungen zwischen den Rändern von Kategorien aus ganz verschiedenen Bereichen findet man sehr häufig, wie neben vielen anderen die klassischen Arbeiten von McCarthy und Prince (1993) und (1995) vorgeführt haben. So kann man die Beobachtung, dass Suffixe wie —lieh in freundlich,

—los in lieblos

und —nis in Zeugnis

nicht zusammen

mit den Stämmen ein phonologisches Wort bilden, so beschreiben, dass der linke Rand dieser Suffixe mit dem rechten Rand eines phonologischen Wortes zusammenfallen soll (McCarthy und Prince 1995, 300). Bei dieser ALIGN-SFX-Beschränkung, die zu einer großen Klasse von „Alignment"-Beschränkungen gehört, geht es um die Beziehung zwischen dem linken Rand einer morphologischen Kategorie (,Suffix') und dem rechten Rand einer phonologischen Kategorie (,phonologisches Wort'). Da gewissermaßen die Ränder der Trennsegmente mit den Rändern von Silben verankert sind, können wir die Beschränkung oben aber auch mit Hilfe einer so genannten „Anchor"-Beschränkung formulieren, die nur jeweils gleiche Ränder aufeinander beziehen kann, also linke Ränder auf linke Ränder und rechte Ränder auf rechte Ränder. (19)

Trennsegmente

sind mit Silben verankert

( = VERANKER-TRS) :

Der linke und der rechte Rand eines Trennsegments sollen mit dem linken und dem rechten Rand einer Silbe zusammenfallen. Das ist natürlich ungleich aufwändiger formuliert und sehr viel weniger anwenderfreundlich als die einfache Lösung „Silbengrenzen sind mögliche Trennstellen". Mir geht es in diesem Kapitel aber auch nicht um die Frage, wie man die Trennregeln für die Anwenderinnen und Anwender formulieren sollte, sondern darum, wie man diese Regeln möglichst genau und explizit fassen kann. Sehen wir uns einige Beispiele an, um zu prüfen, was diese so aufwändig formulierte Beschränkung leistet.

42 (20)

( p o ) „ (R A),

I Po

I r e

(t

oi)ff(b3n)c

I I t o

(zu

I A I

I I ben

Bei den ersten beiden Beispielen Po\re und to\ben

(m)CT 3) σ

Sum

m e

ist es offensichtlich, dass die Ränder der

Trennsegmente und Silben einander entsprechen. Nehmen wir das erste Beispiel,

Po\re.

Den linken und rechten Rand des ersten Trennsegments bilden Ρ und o. Ihre lautlichen Entsprechungen [p] und [o] bilden den linken und rechten Rand einer Silbe, so dass VERANKER-TRS erfüllt ist. Den linken und rechten Rand des zweiten Trennsegments bilden r und e. Da ihre lautlichen Entsprechungen [R] und [s] den linken und rechten Rand einer Silbe bilden, wird auch hier VERANKER- TRS erfüllt. Dass VERANKER-TRS auch von Sutn\me erfüllt wird, ist nicht so trivial. Wenn [m] ambisilbisch ist und sowohl den rechten Rand der ersten Silbe als auch den linken Rand der zweiten Silbe bildet (hier als (m) s notiert), hat das erste m vor dem Trennstrich eine Entsprechung am rechten Rand einer Silbe und das zweite m hinter dem Trennstrich eine Entsprechung am linken Rand einer Silbe. Es ist ja nicht verlangt, dass die beiden Buchstaben unterschiedliche Entsprechungen haben müssen. Wenn man allerdings nicht annimmt, dass [m] ambisilbisch ist und in Summe

auch den rechten Rand der ersten Silbe bildet, er-

gibt sich ein Problem. Denn dann kann VERANKER-TRS nur erfüllt werden, wenn wie in zwischen u und mm getrennt wird.

Su\mme

Ist die Beschreibung von Sum\me

in (20) richtig, können wir mit VERANKER-TRS nicht

nur Wörter wie in (21a—b) korrekt trennen, die wortintern einen oder zwei Konsonanten enthalten, sondern auch Wörter wie in (21c), die einen ambisilbischen Konsonanten enthalten. (21)

(a)

Do|se, mü|de, Ka|mel, leijder

(b)

Kan|te, Win|del, Am|pel, hal|ten, war|nen

(c)

Wanjne, klap|pen, Rob|be, Kis|sen, Ril|le, Rog|gen, Sakjko

Den umgekehrten Fall zu Summe,

dass zwei Lauten ein Buchstabe entspricht, finden wir

im Deutschen auch, und zwar wenn der Lautfolge [ks] der Buchstabe χ entspricht wie in Hexe,

mixen

und Taxi. Unter der Annahme, dass die Silbengrenze bei Hexe,

Taxi zwischen [k] und [s] liegt, verstoßen die Trennungen He\xe,

mi\xen

mixen

und Ta\xi,

und wo

vor χ getrennt wird, gegen VERANKER-TRS. 11 (22)

(h E k ) f f ( s s ) f f I V Η e |χ e

Hier entspricht der rechte Rand des ersten Trennsegments, e, nicht dem rechten Rand einer Silbe, da [k] den rechten Rand der ersten Silbe bildet und nicht [ε]. Das Niederländi11

M i r scheint es keineswegs so klar zu sein, dass die Silbengrenze zwischen [k] und [s] liegt. D a s k a n n ich hier aber nicht weiter ausführen.

43 sehe verfährt in diesen Fällen interessanterweise anders als das Deutsche. Denn im Niederländischen können Wörter wie taxi nicht getrennt werden und der Grund dafür scheint genau das Problem in (22) zu sein, dass die Silbengrenze zwischen den beiden Lauten [k] und [s] liegt, mit denen χ korrespondiert. Im Übrigen verstoßen nicht nur He\xe, mi\xen und Ta\xi gegen VERANKER-TRS, sondern auch wa\schen und la\chen. Der Grund dafür ist derselbe wie bei x. (23) ( v a

(ί)σ3η)σ

I I II w a | sch e η Der rechte Rand des ersten Trennsegments, a, entspricht, wenn [f] wie hier angenommen ambisilbisch ist, nicht dem rechten Rand einer Silbe, denn den bildet [f] und nicht [a]. Wir könnten hier einen Verstoß gegen VERANKER-TRS nur vermeiden, wenn [f] nicht ambisilbisch ist. Doch dann folgt, wie oben gezeigt, ein Verstoß bei Sum\me. Wie man es also auch dreht und wendet, wir benötigen noch weitere Beschränkungen, die die richtigen Trennungen He\xe und wa\schen, die gegen VERANKER-TRS verstoßen, legitimieren. Den Fall, dass der linke Rand eines Trennsegments gegen VERANKER-TRS verstößt, finden wir beim so genannten silbinitialen h, das Vokalbuchstaben voneinander trennt, die nicht als ein Vokal gelesen werden sollen, und das keine lautliche Entsprechung hat. (24)

(R

u:) a

( 3 η) σ

r u | h e η Offensichtlich hat das h in Worttrennungen wie Ru\he, dre\hen und na\he am linken Rand des zweiten Trennsegments keine lautliche Entsprechung, die den linken Rand einer Silbe bildet; der Silbenrand der zweiten Silbe ist [s], das nicht h, sondern e entspricht.

2.2.2 Verdoppeln und Tilgen ist keine Lösung Die Lösung, die einem vielleicht als erste in den Sinn kommen könnte, ist die Verdopplung von χ und sch und die Tilgung von h, so dass dann in den getrennten Wörtern Hex\xe und wasch\schen sowohl vor als auch nach dem Trennstrich ein χ beziehungsweise ein sch steht und in ru\en das h fehlt. Eine solche ,Buchstaben-Epenthese' war nach der alten Rechtschreibregelung bei Wörtern wie Schiffahrt und Ballettanz möglich, bei denen das fehlende dritte f und t bei der Trennung wieder auftauchte ( S c h i f f f a h r t und Ballett\tanz), um die gleiche Schreibung der Morpheme zumindest bei den getrennten Wörtern zu sichern. Im Niederländischen finden wir auch den umgekehrten Fall der Buchstabentilgung: Bei der Trennung des Wortes extraatje, das aus extra und dem Diminutivsuffix tje besteht, fällt bei der Trennung ein α wieder weg, so dass extraatje nur als extra\tje getrennt werden kann. Bei ru\en wäre eine Tilgung des h insofern zu verschmerzen, als seine Funktion, die beiden Vokalbuchstaben u und e voneinander zu trennen, vom Trennstrich übernommen

44 wird; wenn u und e getrennt sind, kann man die beiden Vokalbuchstaben nicht zusammen als einen Vokal lesen. Eine der leitenden Ideen bei der Rechtschreibreform war, dem morphologischen Prinzip, das wir oben als MORPHEM-Beschränkung kennen gelernt haben, noch mehr Geltung zu verschaffen, weshalb man nicht nur in Schiffahrt eingefügt ( S c h i f f f a h r t und Balletttanz), gelassen hat (nass statt naß).

und Ballettanz

das fehlende f und t

sondern unter anderem auch ss am Wortende zu-

Beide Fälle verstießen in der alten Regelung gegen das

morphologische Prinzip. Damit sind aber auch Trennungen wie Hex\xen,

wasch\schen

und ru\en ausgeschlossen, bei denen Buchstaben eingefügt oder getilgt werden. Denn die Morpheme

H E X E , WASCH

getrennt als Hexxe,

und

waschsch

RUH

würden dann ungetrennt als Hexe,

wasch und ruh und

und ru geschrieben. Verdoppeln und Tilgen ist also keine

Lösung. Ich halte allerdings die MORPHEM-Beschränkung, auf die Munske sich bezieht, für eine Beschränkung, die bei der Worttrennung keine Rolle spielt. Der Grund dafür, warum c bei der Trennung von ck nicht zu k und Zucker

nicht als Zuk\ker

getrennt werden können

soll, ist eine so genannte Treuebeschränkung. Sie besagt, dass ein getrenntes Wort dem ungetrennten Wort treu bleiben und deshalb vom Trennstrich abgesehen identisch mit dem ungetrennten Wort sein soll: (25) Getrennte

Wörter sollen treu sein

( = IDENT-TRS) :

Getrennte und ungetrennte Wörter sollen aus denselben Buchstaben bestehen. Bei der Trennung darf man also keine Buchstaben hinzufügen, tilgen oder durch andere Buchstaben ersetzen. Wenn man die MORPHEM-Beschränkung, die in anderen Bereichen der Schreibung gilt, für die Worttrennung verwirft, sollte man allerdings gute Argumente haben. Ich halte die Trennungen in (26c) für ein gutes empirisches Argument. Nach der MORPHEM-Beschränkung sollten die Wörter in (26a) wie in (26b) getrennt werden, um zumindest bei den getrennten Wörtern die gleiche Schreibung der Morpheme zu gewährleisten. Die korrekten Trennungen sind aber nicht die Trennungen in (26b), sondern die Trennungen in (26c). Die korrekten Trennungen in (26c) erfüllen die Treuebeschränkung IDENT-TRS, die das Einfügen von Buchstaben wie in (26b) ausschließt. (26)

(a)

Knien, Seen, Feen, geschrien, sechzig

(b)

*Knie|en, *See|en, >:'Fee|en, *geschrie|en, >:'sechs|zig

(c)

Knijen, Se|en, Fe|en, geschri|en, sech|zig

So weit ich sehe, wird diese Beschränkung

IDENT-TRS

nach der neuen Regelung anders als

nach der alten Regelung von keinem Wort mehr verletzt, das heißt, von keiner anderen Beschränkung dominiert.

45 2.2.3 Trennung vor einem Konsonantbuchstaben Wenn das Verdoppeln und Tilgen von Konsonantbuchstaben keine Lösung ist, was machen wird dann? Erinnern wir uns an die Diskussion im vorangehenden Kapitel über das Zusammenspiel zwischen der Grundregel in §107 und der Unterregel dazu in §110. Unsere Beobachtung war, dass nach der Elsewhere-Bedingung zuerst die Unterregel anzuwenden ist und nur dann, wenn die Unterregel nicht angewendet werden kann, die Grundregel zum Zug kommt. Wenn wir ein System von Beschränkungen benutzen, wie ich es in diesem Kapitel vorschlage, haben wir keine Möglichkeit, die Reihenfolge der Anwendung von Beschränkungen festzulegen. Was wir machen können, ist, die Beschränkungen zu ordnen. Führen wir also folgende Beschränkung ein, die allerdings noch ein wenig umformuliert werden wird: (27) Ein Konsonantbuchstabe am linken Rand ( = KONS-L) : Ein Trennsegment soll mit einem Konsonantbuchstaben beginnen. Ordnen wir KONS-L und V E R A N K E R - T R S so, dass KONS-L wichtiger ist als V E R A N K E R - T R S , erhalten wir für Taxi, waschen und ruhen das gewünschte Resultat, dass die Trennungen Ta\xi, wa\schen und ru\hen gegen die Trennungen Tax\xi, wasch sehen und ru\en gewinnen und deshalb die optimalen Kandidaten sind, auch wenn sie gegen V E R A N K E R - T R S verstoßen: (28)

Taxi Ta|xi ~ Taxjxi

W

waschen

ru hen ~ ru en

VERANKER-TRS

L

IDENT-TRS

KONS-L

W

wa sehen ~ wasch sehen ruhen

KONS-L

IDENT-TRS

VERANKER-TRS

L

IDENT-TRS

KONS-L

VERANKER-TRS

w

w

L

Wenn wir uns allerdings die Regel in §110 noch einmal genau ansehen, stellen wir fest, dass wir mit der Beschränkung KONS-L nur den ersten Teil der Regel erfasst haben („ein einzelner Konsonantbuchstabe im Wortinneren kommt auf die neue Zeile"), jedoch noch nicht den zweiten Teil („von mehreren Konsonantbuchstaben kommt nur der letzte auf die neue Zeile"). So, wie unsere Beschränkungen bisher geordnet sind, sollten zum Beispiel widrig und knusprig, bei denen die Silbengrenze vor [d] beziehungsweise vor [p] liegt, auch vor d und p getrennt werden können. (Ich lasse in den folgenden Tabellen die Beschränkung I D E N T - T R S der Übersichtlichkeit halber weg, wenn sie nicht von Belang ist.)

46 (29) widrig

KONS-L

wi drig ~ wid|rig

VERANKER-TRS

W

Da sowohl wi\drig als auch wid\rig mit einem Konsonantbuchstaben beginnen, gewinnt keine der beiden Trennungen bei KONS-L. Doch die Ränder der Trennsegmente bei wi\drig stimmen mit den Silbenrändern überein ([vii-dm?]) und bei wid\rig nicht, weshalb die falsche Trennung wi\drig von VERANKER-TRS präferiert wird und korrekt sein sollte. Was wir hier als zweiten Teil der Regel in §110 haben, ist offenbar eine Komplexitätsbeschränkung, nach der Trennsegmente nicht mit Folgen von Konsonantbuchstaben beginnen sollen: (30) Keine Konsonantbuchstabenfolgen am linken Rand ( = *KOMPLEX-L): Ein Trennsegment soll nicht mit mehreren Konsonantbuchstaben beginnen. Wenn wir diese Beschränkung für die Struktur von Trenn Segmenten höher ordnen als VERANKER-TRS, erhalten wir wid\rig als optimalen Kandidat. Man vergleiche die folgende Tabelle : (31) widrig wid rig

*KOMPLEX-L

wijdrig

KONS-L

w

VERANKER-TRS

L

Wir haben oben bei den zentralen Annahmen gefordert, dass die Beschränkungen nicht nur einfach stipuliert, sondern wenn möglich funktional begründet sein sollten. Was für eine funktionale Begründung könnte es für KONS-L und *KOMPLEX-L geben? Wenn wir uns beim Trennen der orthographischen Formen an den Silbengrenzen der entsprechenden lautlichen Formen orientieren, diese Silbengrenzen sich aber aus gewissen Beschränkungen für die Silbenstrukturen ergeben, brauchen wir eigentlich gar nicht den Umweg über die Silbengrenzen zu nehmen. Wir sollten stattdessen versuchen, die Beschränkungen für die Silbenstrukturen als Beschränkungen für die Struktur der Trennsegmente zu übernehmen. Das heißt, die Worttrennung sollte sich nicht an den Silbengrenzen orientieren, sondern an den Beschränkungen, aus denen sich die Silbengrenzen ergeben. Das geht natürlich nur bedingt, weil die Beschränkungen für die Silbenstrukturen unter anderem auf die Merkmale der Konsonanten und Vokale Bezug nehmen, was bei den entsprechenden Konsonant- und Vokalbuchstaben keinen Sinn macht. So gibt es zwar mehr oder weniger sonore Konsonanten und eine dazugehörige Sonoritätshierarchie, aber keine mehr oder weniger sonoren Konsonantbuchstaben. 12 Nehmen wir zur Illustration die typischen Eigenschaften von Silben, wie sie bei Archangeli (1997, 7) aufgelistet sind: 12

Ich halte es mit Kohrt (1992) für nicht sehr erhellend, die Struktur von o r t h o g r a p h i s c h e n Silben oder Schreibsilben über so etwas wie die ,Schwere' der Buchstaben herzuleiten, wie es Eisenberg (1989) und Butt und Eisenberg (1990) vorgeschlagen h a b e n .

47 (32) Typical properties of syllables: (a) Syllables begin with a consonant ( = ONSET). (b) Syllables have one vowel ( = PEAK). (c) Syllables end with a vowel ( = NOCODA). (d) Syllables have at most one consonant at an edge ( = ""COMPLEX) (e) Syllables are composed of consonants and vowels ( = ONSET & PEAK) Aus diesen typischen Eigenschaften ergibt sich, dass die bevorzugte Silbe CV offen ist und aus einem Konsonant und einem Vokal besteht. Es ist unschwer zu sehen, dass unsere Beschränkungen νοκ und KONS-L den beiden Beschränkungen PEAK und ONSET entsprechen und unsere Beschränkung * K O M P L E X - L einem Teil von ^COMPLEX. Da auch im Deutschen die bevorzugte Silbe die Form CV hat, erreichen wir so, dass die Form der bevorzugten Trennsegmente der Form der bevorzugten Silben entspricht. Primus (2003) geht so weit, dass die Trennsegmente nichts anderes sind als orthographische Silben, doch ich werde unten noch ein wenig ausführlicher diskutieren, warum man zwischen Trenn Segmenten einerseits und orthographischen Silben oder Schreibsilben andererseits unterscheiden sollte. Die Trennsegmente beziehen sich zwar auf Silben, sind aber keine Silben. Wir haben uns allerdings mit der Beschränkung >:'KOMPLEX-L so, wie sie in (30) formuliert ist, ein neues Problem eingehandelt. Wenn ein Trennsegment nicht mit einer Folge von Konsonantbuchstaben beginnen soll, sollten wasc\hen und lac\hen die richtigen Trennungen sein und nicht wa\schen und la\chen, weil die Trennsegmente sehen in wa\schen und eben in la\chen mit Folgen von Konsonantbuchstaben beginnen (sch und ch) und nicht mit genau einem Konsonantbuchstaben. Wir können dieses Problem aber elegant lösen, indem wir KONS-L und * K O M P L E X - L umformulieren: (33) Ein Konsonantgraphem am linken Rand ( = KONS-L): Am linken Rand eines Trennsegments soll ein Konsonantgraphem stehen. (34) Keine Folgen von Konsonantgraphemen am linken Rand ( = * K O M P L E X - L ) : Am linken Rand eines Trennsegments soll keine Folge von Konsonantgraphemen stehen. Die zweiten Trennsegmente in wa\schen und la\chen beginnen zwar mit einer Folge von mehreren Buchstaben, doch diese Buchstaben bilden zusammen ein komplexes Graphem, so dass beide Trennsegmente sehen und chen nur mit einem Konsonantgraphem beginnen und nicht gegen *KOMPLEX-L verstoßen. Entsprechend ist auch die Beschränkung νοκ so umzuformulieren, dass ein Trennsegment ein Vokalgraphem enthalten soll. Ist der Anfangsrand eines Trennsegments der Teil, der diesem Vokalgraphem vorangeht, und der Endrand der Teil, der ihm folgt, ergibt sich, dass der Anfangsrand eines Trennsegments wie in Du\sche mit genau einem Konsonantgraphem besetzt sein soll.

48 2.2.4 Buchstaben, feste Buchstabenverbindungen und Grapheme Der Begriff ,Buchstabe' ist in weiten Teilen der theoretischen Literatur zu Schriftsprache und Orthographie nicht wohl gelitten. So hält Venezky (1970, 50) den Begriff ,Graphem' zwar nicht für ideal, aber für immer noch besser als den Begriff ,Buchstabe' und führt zur Begründung die Vorbehalte von Mcintosh (1956, 43) an: „The word 'letter' in everyday use is ambiguous. It may be employed in the sense of 'grapheme' as when we say that the word swilk begins with 'the letter 5'; at other times it is used of the particular allographic form a grapheme may have in a given context; e.g., when we speak of 'the s used in final position in Greek'; again, it may be used of a single instance of an allograph, as when we say 'that's a badly formed letter' [...]" Wenn ich es recht sehe, kann man all diese Vorbehalte allerdings auch gegen die Verwendung des Begriffs ,Laut' ins Feld führen, der je nach Kontext unter anderem ein konkretes lautliches Ereignis sein kann oder aber eine Abstraktion über solche konkreten lautlichen Ereignisse, ein Lautsegment. Da es bei den theoretischen Überlegungen zu Schriftsprache und Orthographie nicht auf die konkreten Vorkommen der Buchstaben, auf die materiellen Buchstaben auf dem Papier, dem Bildschirm oder einer sonstigen Oberfläche ankommt, halte ich die Verwendung des Begriffs ,Buchstabe' in solchen theoretischen Kontexten nicht für bedenklich. 13 Wenn sich Buchstaben zu Folgen von mehreren Buchstaben verbinden, müssen wir zwei Arten von Buchstabenverbindungen unterscheiden (Venezky 1970, 50f.) Es gibt auf der einen Seite Buchstabenverbindungen wie mb in Bombe, deren Form und lautliche Entsprechung sich aus der Kombination der einzelnen Buchstaben ergeben und deshalb vorhersagen lassen. So ergibt sich etwa die lautliche Entsprechung von mb in Bombe, die Lautfolge [mb], aus der Kombination der lautlichen Entsprechungen der beiden Buchstaben m und b, [m] und [b]. Es gibt aber auf der anderen Seite auch Buchstabenverbindungen wie sch in waschen, deren Form und lautliche Entsprechung sich nicht auf der Basis der enthaltenen Buchstaben vorhersagen lassen. Dass sch in waschen [f] entspricht, kann nicht auf die Entsprechungen von s, c und h zurückgeführt werden; s entspricht gewöhnlich [s], h entspricht [h] oder überhaupt kein Laut und c hat nur in Fremdwörtern wie Clown und Eigennamen wie Calw eine lautliche Entsprechung. Solche Buchstabenverbindungen wie sch in waschen, deren Form und lautliche Entsprechung sich nicht aus Regeln für die enthaltenen Buchstaben ergeben, sondern idiosynkratisch sind, werden auch als feste Buchstabenverbindungen bezeichnet. Mitunter werden nur die Buchstabenverbindungen zu den festen Buchstabenverbindungen gezählt, die komplett idiosynkratisch sind, also sch wie in waschen, ch wie in lachen und qu wie in Quelle. Sollen nur die Buchstabenverbindungen als fest bezeichnet werden, deren Form und lautliche Entsprechung komplett unvorhersagbar sind, oder sind auch die Buchstabenverbindungen fest, deren Eigenschaften nur teilweise unvorhersagbar sind? Nehmen wir die Buchstabenfolge th in Fremdwörtern wie Theater, Methode oder Mythos, die dem Laut [t] entspricht. Es scheint, dass diese lautliche Entsprechung kein Zufall ist, sondern sich aus den Korrespondenzregeln für die beiden Teile t und h ergibt. Die eine Regel ist die Defaultregel für t, nach der t [t] entspricht, die andere Regel ist die Regel für 1!

M a n vergleiche jetzt auch die Überlegungen dazu in Neef (2005, Kap. 2.2).

49 das ,stumme' h, nach der h in gewissen Kontexten keine lautliche Entsprechung hat; deshalb könnte auch das h in Theater, Methode und Mythos problemlos entfallen. 14 Dass th in Theater, Methode und Mythos [t] entspricht und nicht [n] oder [k], scheint also auf der Basis der Korrespondenzregeln für t und h vorhersagbar zu sein. Wenn man sich nur auf diese eine Eigenschaft beschränkt, dass Buchstaben lautliche Entsprechungen haben, zählt th dann wie in Neef (2005) nicht zu den festen Buchstabenverbindungen. In der amtlichen Regelung gehört th zwar in §111 zu den Buchstabenverbindungen, die für einen Konsonanten stehen und deshalb ungetrennt bleiben, doch es bleibt offen, warum th, aber nicht dt oder ng für einen Konsonanten steht. Beschränkt man sich nur auf die Korrespondenzregeln, liest man Theater, Methode und Mythos richtig. Doch das h hat eine bestimmte Funktion in Theater, Methode und Mythos, wir erkennen an h, dass es sich um Fremdwörter handelt. Und zwar genau genommen nicht einfach am h (das finden wir auch in sehen oder Kahn, die keine Fremdwörter sind), sondern an der Kombination aus Konsonantbuchstabe + h. Die Kombination aus Konsonantbuchstabe + h finden wir nicht morphemintern in deutschen Wörtern; wenn in deutschen Wörtern einem Konsonantbuchstaben ein h folgt wie in Flughafen oder Beliebtheit, liegt zwischen ihnen eine Morphemgrenze. Diese Eigenschaft, dass th ein Fremdwort markiert, ist offensichtlich nicht aus den beiden einzelnen Teilen t und h herleitbar, weil weder t noch h allein Fremdwörter markieren. Eine weitere spezifische Eigenschaft von th ist seine Distribution. Wenn th tatsächlich eine Kombination aus t und h wäre, sollte th wortinitial nicht vor r stehen können wie in Thron und Thrombose, denn h kann im Deutschen nur dann wortinitial vor r stehen, wenn es Teil einer festen Buchstabenverbindung ist (schreien, Chrom, Phrase). Es gibt also gute Gründe dafür, th zu den festen Buchstabenverbindungen zu zählen, auch wenn die lautliche Entsprechung von th vorhersagbar ist; th ist dann eine feste Buchstabenverbindung, bei der zwar gewisse Eigenschaften vorhersagbar sind, aber andere Eigenschaften nicht, also eine feste Buchstabenverbindung, die nicht komplett idiosynkratisch ist. 13 Wir können somit Folgendes festhalten: sch in waschen ist zwar wie mb in Bombe eine Buchstabenfolge, doch es gibt einen grundlegenden Unterschied zwischen diesen beiden Buchstabenfolgen, wenn wir uns ihre verschiedenen Eigenschaften genauer ansehen. Die eine Buchstabenfolge, mb in Bombe, ist auch systematisch gesehen nur eine Folge von zwei Buchstaben, die andere Buchstabenfolge, sch in waschen, ist systematisch gesehen keine Folge von drei Buchstaben, sondern eine feste Buchstabenverbindung mit besonderen Eigenschaften. Für die Unterscheidung dieser beiden Arten von Buchstabenfolgen hat sich der Begriff ,Graphem' als nützlich erwiesen. Wir können dann sagen, dass die Buchstaben mb in Bombe einfache Grapheme bilden, (m) und (b), und die Buchstaben sch in waschen ein komplexes Graphem, (sch). Da der Unterschied nur an den systematischen Eigenschaften der Buchstabenfolgen festgemacht werden kann (man vergleiche die zwar formal, aber nicht systematisch identischen Buchstabenfolgen sch in Mäuschen und sch in täuschen), 14

Die vergleichbaren Fälle Joghurt werden.

und Spaghetti

können jetzt auch tatsächlich ohne h geschrieben

13

Es gibt ja auch halbidiomatische Ausdrücke wie Bahnhof

verstehen

oder spanisch

vorkommen.

50 sind Grapheme also gewissermaßen Buchstaben systematisch betrachtet. Auch der Begriff ,Graphem' hat allerdings seine Tücken. Denn es gibt kein Einverständnis darüber, welcher Art die Beziehung zwischen Graphemen und Buchstaben ist und nach welchen Kriterien man einen Buchstaben oder eine Buchstabenfolge als ein Graphem klassifizieren kann. Für die Beziehung zwischen Graphemen und Buchstaben gibt es mindestens zwei unterschiedliche Vorstellungen. Nach der einen Vorstellung, die Äugst (1986) ausführlicher entwickelt hat, sind Grapheme und Phoneme abstrakte Einheiten, aus denen die schriftlichen und lautlichen Repräsentationen bestehen, die wir in unserem Gedächtnis, unserem mentalen Lexikon gespeichert haben; diese abstrakten Repräsentationen nennen Äugst und Dehn (1998) Schreib- und Lautschemata. Die abstrakten gespeicherten Schreibschemata, die Folgen von Graphemen sind, werden durch Schreibregeln in konkrete Schreibungen verwandelt, die aus Buchstaben bestehen. Buchstaben sind nach diesem Modell also die konkreten Realisierungen abstrakter Grapheme. (35)

/tRo:n/

(Thron)

I Lautregeln

I Schreibregeln

I [t h Ro:n]

4 Thron

Die Vorstellung von Weingarten (2004), Weingarten (2005) und Weingarten et al. (2004) hingegen ist eine grundlegend andere. Sie schlagen vor, Grapheme und Buchstaben nicht als Einheiten unterschiedlicher Repräsentationen zu behandeln, sondern als Einheiten derselben Repräsentation. Nach ihrem Modell sind Buchstaben die Einheiten, aus denen die Grapheme zusammengesetzt sind, und somit nicht konkrete Repräsentanten abstrakter Grapheme, sondern Einheiten, aus denen Grapheme bestehen. So, wie Silben Folgen von Lauten sind, sind Grapheme Folgen von Buchstaben. Die entsprechende graphische Repräsentation für Thron sieht dann vereinfacht so aus (,G C ' steht für Konsonantgraphem und ,G V ' für Vokalgraphem, ,W' für orthographisches Wort):

Auch bei der Frage, welche Eigenschaft Grapheme auszeichnet und als Kriterium für die Zuordnung von Buchstaben zu Graphemen verwendet werden sollte, können zwei grundlegende Ansätze unterschieden werden.16 Nach dem einen Ansatz zeichnen sich Grapheme dadurch aus, dass sie mit Phonemen korrespondieren, Phoneme repräsentieren, weshalb Gründliche und umfangreiche Darstellungen und Vergleiche der verschiedenen Graphemdefinitionen finden sich unter anderem bei Heller (1980), Henderson (1985) und Kohrt (1985a, 1986, 2000).

51 sie bei Heller (1980) als Phonographeme bezeichnet werden (so auch Nerius 2000 und andere). Diesem Ansatz, den Günther (1988, 72ff.) treffend Repräsentanzkonzeption nennt, folgt auch die amtliche Regelung in §111 wo es heißt: „Stehen Buchstabenverbindungen [...] für einen Konsonanten, so trennt man sie nicht." Nach dem anderen Ansatz, den neben Günther und anderen auch Eisenberg (1988, 142ff.) mit Nachdruck vertreten hat, ist nicht der Bezug zu den Phonemen die charakteristische Funktion der Grapheme, sondern ihre bedeutungsunterscheidende Funktion. Nach dieser Distinktivitätskonzeption ermöglichen es die Grapheme in der Schriftsprache wie die Phoneme in der gesprochenen Sprache, Formen von Ausdrücken zu unterscheiden, die unterschiedliche Bedeutungen haben. Grapheme sind dann die kleinsten bedeutungsunterscheidenden Einheiten der Schriftsprache, aus denen orthographische Wörter zusammengesetzt sind. Die Diskussion um den Repräsentanzansatz und den Distinktivitätsansatz erinnert an die Diskussionen, die lange Zeit um die verschiedenen Wortarten geführt worden sind und bei denen man versucht hat, für jede Wortart Eigenschaften zu ermitteln, die Wörter dieser Wortart systematisch von Wörtern anderer Wortarten unterscheiden. Es hat sich herausgestellt, dass die Ansätze, in denen nicht eine Eigenschaft als Kriterium verwendet wird, sondern eine Reihe unterschiedlicher Eigenschaften, Wortarten besser beschreiben können. Und zwar unter anderem deshalb, weil Wortarten anders als oft angenommen keine homogenen Klassen von Wörtern sind. Es gibt sehr viele Wörter, die alle charakteristischen Eigenschaften einer Wortart aufweisen, doch es gibt auch Wörter, die nur wenige oder sogar nur eine dieser charakteristischen Eigenschaften aufweisen und dennoch zu der Wortart gezählt werden. So findet man in der Umgangssprache in Sätzen wie Das war wirklich ein riesen Erlebnis oder So ein riesen Spiel habe ich noch nicht gesehen den Ausdruck riesen, den man nur aufgrund seiner syntaktischen Position zwischen Artikel und Nomen und aufgrund seiner attributiven Funktion zu den Adjektiven zählen kann; riesen ist anders als die typischen Adjektive nicht flektierbar und es kann anders als die typischen Adjektive auch nicht prädikativ stehen. Dass auch die Klasse der Grapheme nicht homogen ist und wir eigentlich verschiedene Arten von Graphemen unterscheiden sollten, legen auch die verschiedenen Experimente in Rey et al. (2000), Weingarten (2005) und Weingarten et al. (2004) nah, bei denen sich signifikante Unterschiede zwischen phonologisch transparenten und phonologisch opaken Graphemen ergeben haben.17 Phonologisch transparente Grapheme wie (oa) in (float), bei denen die lautliche Entsprechung sich aus einem der Bestandteile des Graphems ablesen lässt (bei (oa) aus o), werden anders verarbeitet als phonologisch opake Grapheme wie (ou) in (cloud), bei denen sich die lautliche Entsprechung nicht aus einem der Bestandteile ablesen lässt. Rey et al. (2000) stellen unter anderem fest, dass es länger dauert, dass ο in cloud zu entdecken als in float. Ich gehe im Folgenden davon aus, dass Grapheme die kleinsten systematischen Einheiten der Schrift sind und ziehe als Kriterium für die Frage, ob eine Folge von Buchstaben in kleinere Einheiten segmentierbar ist oder nicht, also mehreren Graphemen entspricht oder Weingarten et al. (2004, 553ff.) unterscheiden ,phonologisch kompositionelle' und ,phonologisch nicht-kompositionelle' Grapheme, Carney (1994, 40f.) spricht von ,endozentrischen' und ,exozentrischen' Buchstabenverbindungen.

52 einem Graphem, das Auftreten der Buchstaben heran. Wenn das Auftreten mehrerer aufeinander folgender Buchstaben nicht unabhängig voneinander herzuleiten ist, handelt es sich um ein Graphem, andernfalls um eine Folge von Graphemen. Nehmen wir, um wieder zum Deutschen zurückzukehren, die doppelten Konsonantbuchstaben wie mm in Sommer oder II in Keller. Nach der einen Auffassung, die neben vielen anderen auch Munske (1992) vertritt, bilden solche doppelten Konsonantbuchstaben komplexe Grapheme, weil sich beide Buchstaben auf dieselbe lautliche Einheit beziehen. Nach der anderen Auffassung, die zum Beispiel in Eisenberg (2004) zu finden ist, handelt es sich nicht um die Verdopplung eines Buchstabens, sondern um die Verdopplung eines Graphems; auch nach dieser anderen Auffassung hängt jedoch das Auftreten des einen Teils vom Auftreten des anderen Teils ab. Entsprechend klassifiziere ich die doppelten Konsonantbuchstaben als komplexe Grapheme. 18 In Methode lässt sich zwar das Auftreten von t über die lautliche Entsprechung [t] herleiten, das Auftreten von h jedoch lässt sich nicht herleiten, sondern hängt vom vorangehenden Konsonantbuchstaben ab. Deshalb bildet auch die Buchstabenfolge th in Methode ein komplexes Graphem (th). Insgesamt ergibt sich dann folgende Liste von komplexen Konsonantgraphemen, wobei ich in (37b) die Grapheme mit doppelten Konsonantbuchstaben mit den bekannten Ausnahmen (ck) und (tz) und in (37c) die Fremdgrapheme aufgelistet habe: (37) Komplexe (a) (ch), (b) (bb), (c) (gh),

Konsonantgrapheme im Deutschen·. (dt), (ng), (qu), (sch), (tz) (ck), (dd), (ff), (gg), (11), (mm), (nn), (pp), (rr), (ss), (tt), (tz), (zz) (gn), (ph), (rh), (sh), (th), ...

Wenn man diese Liste der komplexen Konsonantgrapheme in (37) mit der Ubersicht in Nerius (2000, 120ff.) vergleicht, stellt man fest, dass von (37c) abgesehen dieselben Konsonantbuchstabenfolgen als Grapheme klassifiziert werden. Es gibt aber einen wichtigen Unterschied. In Nerius (2000, 120ff.) werden die Grapheme einheitlich über ihren Bezug auf die Phoneme als Phonographeme definiert, während ich hier als Kriterium für das Segmentieren in systematische Einheiten die Unabhängigkeit der Buchstaben herangezogen habe.

2.2.5 Trennung von Konsonantgraphemen Doch wir sind noch nicht fertig mit waschen. Wir könnten waschen ja auch zwischen 5 und c trennen (was\chen) oder zwischen c und h (wasc\hen). Diese Trennungen würden :: KOMPLEX-L Genüge tun, weil das jeweilige zweite Trennsegment mit dem komplexen Konsonantgraphem (ch) oder dem einfachen Konsonantgraphem (h) beginnt. In der amt18

D a s s es auch gute empirische Evidenz dafür gibt, dass solche doppelten K o n s o n a n t b u c h s t a b e n Einheiten sind, zeigen die D a t e n von schriftsprachgestörten Patienten in B a d e c k e r (1996) und Tainturier und C a r a m a z z a (1996) und die Verschreibe!·, die Berg (2002) diskutiert.

53 lichen Regelung werden Trennungen wie was\chen und wasc\hen mit Hilfe der Regel in §111 ausgeschlossen. Diese Regel verlangt, dass Buchstabenverbindungen wie sch, die für einen Konsonanten stehen, nicht getrennt werden sollen. Dem entspricht bei Munske die Beschränkung ZUS-DIGR, nach der Mehrgraphe nicht getrennt werden sollen und die ich folgendermaßen formuliere: (38) Keine Trennung von komplexen Konsonantgraphemen ( = ZUS-K): Ein komplexes Konsonantgraphem soll nicht getrennt werden. Auch diese Beschränkung ist offensichtlich eine Treuebeschränkung, die sicherstellen soll, dass Konsonantgrapheme bei der Trennung nicht auf zwei Zeilen verteilt und auseinander gerissen werden.15' Etwas genauer gesagt gehört zus-κ ZU den so genannten „Contiguity"Beschränkungen, die verhindern sollen, dass bestimmte zusammenhängende Folgen von Segmenten im Input durch ein eingefügtes Segment im Output getrennt werden (McCarthy und Prince 1995, 371). Wir werden noch sehen, dass zus-κ oft verletzt wird, aber bei waschen erfüllt die Beschränkung ihren Zweck: (39) waschen

*KOMPLEX-L

KONS-L

ZUS-K

VERANKER-TRS

|sch ~ s|ch

W

L

|sch ~ sc|h

W

L

Die ungetrennte Form waschen besteht aus den vier Buchstaben w, a, e und n, die einfache Grapheme bilden, und den drei Buchstaben sch, die zusammen das komplexe Graphem (sch) bilden. Wird vor sch getrennt wie in der korrekten Trennung wa\schen, bilden die drei Buchstaben dieses komplexen Graphems auch in der getrennten Form eine zusammenhängende Folge und sind so wieder auffindbar. Bei den falschen Trennungen was \ chen und wasc\hen hingegen wird diese feste Verbindung gelöst, weil enweder zwischen s und c oder zwischen c und h ein Trennstrich steht. So, wie ich die Beschränkung in (38) formuliert habe, liegt auch eine funktionale Erklärung auf der Hand. Wenn man eine Wortform liest, die man noch nicht oder bisher sehr selten gelesen hat, muss man aus dieser geschriebenen Wortform die entsprechende Lautform ableiten, um ihre Bedeutung zu verstehen. Da man die geschriebene Wortform noch nicht gespeichert hat, kann man andernfalls den richtigen lexikalischen Eintrag für diese Wortform nicht finden. Nehmen wir an, wir kennen noch nicht die Wortform Euphuismus und lesen am Ende der Zeile das Trennsegment Eup—. Da wir, wenn wir Eup— lesen, noch nicht wissen, was am Anfang der nächsten Zeile folgt (huismus), und deshalb auch nicht wissen, dass p eigentlich ein Teil eines komplexen Graphems ist, lesen wir p mit Hilfe der Korrespondenzregeln für Buchstaben. Das heißt, wir lesen p fälschlicherweise als [p] und nicht mit h als [f]. Die richtige Lautform aber ist [Difuismus] und nicht [Diphuismus]. Allgemeiner gesagt: Wenn wir komplexe Grapheme am Zeilenende trennen, kann es passie-

19

W i e sagt d e r K ö l n e r : „ E c h t e F r ü n d e s t o n z e s a m m e " .

54 ren, dass die so getrennten Buchstaben falsch gelesen werden.20 Um das zu vermeiden, sollen feste komplexe Grapheme so getrennt werden, dass sie auch in den getrennten Formen zusammenhängend wiederzufinden sind. Dazu passt auch die Annahme von Rey et al. (2000, B2), das beim Lesen Grapheme und nicht Buchstaben die relevanten Verarbeitungseinheiten sind: „The purpose of the present study is to test the opposite assumption that graphemes, not letters, are the functional units of the reading system." Sind Grapheme und nicht Buchstaben die funktionalen Einheiten bei der Verarbeitung geschriebener Sprache, sollte es schwieriger sein, einen Buchstaben in einem komplexen Graphem zu entdecken als wenn er allein ein einfaches Graphem bildet. Wird etwa sch in waschen automatisch als ein komplexes Graphem (sch) gelesen, sollte es schwieriger sein, das s in waschen zu entdecken als in lesen. Die Experimente in Rey et al. (2000) zeigen, dass das zumindest im Englischen zutrifft: Buchstaben sind tatsächlich schwerer zu finden, wenn sie Teil einer festen Buchstabenverbindung sind. Vergleicht man meine Formulierung von zus-κ oben mit der entsprechenden Regel in Gallmann (1985, 237), wie sie unten wiedergegeben ist, fällt ein kleiner Unterschied auf. Gallmann muss die Folge gn gesondert hinzufügen, weil gn nicht einem Konsonanten entspricht, sondern zwei. (40) Die folgenden Buchstabenverbindungen gelten als einfache Buchstaben und bleiben ungetrennt, wenn sie einen einfachen Laut bezeichnen: ck, ch, sh, sch, th, ph, rh, gh, ferner gn, wenn es nj ausgesprochen wird: Zu—cker, fli-cken, Fran—cke, bismar— ckisch, Sa—che, Ra—che, Washington, wa—sehen, Me—than, So—phie, Myr—rhe, Joghurt, Ko—gnak Da ich sowohl gn, wenn es [nj] entspricht, als auch qu zu den komplexen Konsonantgraphemen zähle, sollten sowohl gn als auch qu nach meiner bisherigen Darstellung ungetrennt bleiben. Für qu trifft das ausnahmslos zu (li\quide, Reli\quie, Antiquität), bei gn haben wir ein Problem: Neben der Trennung vor gn ist auch die Trennung zwischen g und η erlaubt. (41) (a) (b)

Ko|gnak, Champa |gner, Kampa |gne, Lasa|gne Kogjnak, Champag|ner, Kampag|ne, Lasag|ne

Man sieht an der folgenden Tabelle, dass nach den bisher eingeführten Beschränkungen die Trennungen in (41b) gegen die Trennungen in (41a) verlieren, weil g\n anders als gn gegen KONS-L verstößt. Ich habe hier auch die falschen Trennungen *K\ognak, v'Kogn\ak und *Kogna\k und die Beschränkungen ΝΟΚ und KONS-L aufgenommen, um zu demonstrieren, welche Art Trennungen wir jetzt ausschließen können. Bei νοκ („ein Trennsegment muss ein Vokalgraphem enthalten") gibt es im Deutschen keine Ausnahme, νοκ steht deshalb wie IDENT-TRS in der Rangfolge der Beschränkungen ganz oben.

20

Ich will hier keineswegs b e h a u p t e n , dass wir beim Lesen i m m e r p h o n o l o g i s c h rekodieren. U n b e k a n n t e W ö r t e r aber können wir gar nicht anders lesen.

55 (42) Kognak

VOK

Ko gnak

*KOMPLEX-L

KONS-L

ZUS-K

VERANKER-TRS

w

L

W

Κ ognak

Ko gnak ~ Kog nak Ko gnak

W

Kogn ak W

Ko gnak ~ Kogna k Dass Kognak,

Champagner,

Kampagne

und Lasagne

auch zwischen g und η getrennt wer-

den können, hängt offensichtlich damit zusammen, dass die Silbengrenze zwischen den entsprechenden Lauten liegt und so in (41b) die Trennstelle mit einer Silbengrenze zusammenfällt. D o c h die relevante Beschränkung VERANKER-TRS, die die Trennung g|η bevorzugt, wird von der Beschränkung zus-κ dominiert, die die Trennung \gn bevorzugt. Wir werden im Abschnitt zu den Fremdwörtern weiter unten sehen, wie dieses Problem gelöst werden kann.

2 . 2 . 6 Die R ä n d e r der Trennsegmente Eine der Beschränkungen, die M u n s k e bei seinen Überlegungen zur Trennung von

ck

berücksichtigt hat, haben wir bisher ignoriert, und zwar die RÄNDER-Beschränkung, nach der die R ä n d e r der Trennsegmente mögliche Wortränder sein sollen. Diese Beschränkung benötigen wir, um falsche Trennungen wie

e, *Ka\tze,

*si\ngen und *Stä\dte,

die von

zus-κ bevorzugt werden, ausschließen zu können. M i t den Beschränkungen in (42) können wir, wie in (43) zu sehen, diese Trennungen noch nicht ausschließen, was insofern sehr unbefriegend ist, als W ö r t e r mit doppelten Konsonantbuchstaben sehr häufig sind. (43) ""KOMPLEX-L i | i ~ |n t

ζ ~ |tz

KONS-L

ZUS-K

VERANKER-TRS

L

W

L

W

η g ~

ng

L

W

d t ~

dt

L

w

Wenn RÄNDER die falschen Trennungen * I I , *\tz, *\ng und *\dt ausschließen soll, muss es stärker gewichtet sein als zus-κ.

56 (44) RÄNDER

ZUS-K

VERANKER-TRS

i|i~ |n

W

L

W

t z ~ |tz

W

L

W

η g ~ ng

W

L

W

d t ~ dt

W

L

W

::

KOMPLEX-L

KONS-L

Dass RÄNDER nicht stärker gewichtet sein darf als KONS-L und * K O M P L E X - L , zeigt die Tabelle in (45) mit der umgedrehten Rangfolge RÄNDER KONS-L, * K O M P L E X - L . Wäre diese umgedrehte Reihenfolge die richtige, sollte knusprig zwischen 5 und p und nicht zwischen p und r getrennt werden (knus\prig) und beißen hinter und nicht vor β (beiß\en). Denn sp ist ja kein möglicher Wortendrand im Deutschen und β kein möglicher Wortanfang. (45)

sp r

s|pr

|ß ~ ß|

RÄNDER

* KOMPLEX-L

L

W

L

KONS-L

ZUS-K

VERANKER-TRS

L W

W

Wie man sieht, wird hier in beiden Zeilen ein W von einem L dominiert, so dass die korrekten Trennungen sp\r und \ß bei dieser Rangordnung nicht gewinnen können. Ist die Rangfolge KONS-L, * K O M P L E X - L RÄNDER, steht in jeder Zeile ganz links ein W und nur rechts davon ein L, so dass tatsächlich sp\r und \ß die optimalen Kandidaten sind. (46) *KOMPLEX-L sp r ~ |ß~ß|

s|pr

KONS-L

w w

RÄNDER

ZUS-K

VERANKER-TRS

L

L

L

W

Wir stehen also, wenn wir trennen wollen, nicht nur bei Zucker vor einem Dilemma, sondern auch bei Halle, Katze, singen, Verwandter, knusprig, beißen usw. All diese Wörter können nicht so getrennt werden, dass alle Beschränkungen erfüllt werden; mindestens eine Beschränkung wird immer verletzt. Und wir können auch bei Halle, Katze, singen, Verwandter, knusprig, beißen usw. das Dilemma nur lösen, indem wir, wie Munske es vorgeschlagen hat, die Beschränkungen gewichten und prüfen, welche Beschränkungen wichtiger sind und welche weniger wichtig. Vergleicht man meine Gewichtung der Beschränkungen mit der von Munske, gibt es allerdings einen überraschenden Unterschied: RÄNDER steht bei mir über zus-κ, bei Munske hingegen steht umgekehrt ZUS-DIGR über RÄNDER. Dass auch meine Gewichtung bei Zucker zur richtigen Trennung Zu\cker führt, zeigt die Tabelle (47).

57 (47) Zucker |ck

c|k

::

KOMPLEX-L

KONS-L

RÄNDER

ZUS-K

VERANKER-TRS

W

L

Wenn wir Zucker als Zuc\ker trennen, beginnt das zweite Trennsegment mit dem Konsonantbuchstaben k, der dann ein einfaches Graphem bildet, wenn wir es als Zu \ cker trennen, beginnt das zweite Trennsegment mit der Buchstabenfolge ck, die ein komplexes Graphem bildet. Bei beiden Trennungen beginnt also das zweite Trennsegment mit genau einem Konsonantgraphem, so dass KONS-L und *KOMPLEX-L keine der beiden Trennungen bevorzugen. Beide Trennungen verstoßen gegen die Beschränkung RÄNDER: Entweder ist der Anfangsrand des zweiten Trennsegments kein möglicher Wortanfangsrand (kein deutsches Wort beginnt mit ck) oder der Endrand des ersten Trennsegments ist kein möglicher Wortendrand (kein deutsches Wort endet mit c). Auch RÄNDER bevorzugt also keine der beiden Trennungen. Die Entscheidung bringt erst zus-κ. Da ck in Formen wie Zucker ein komplexes Graphem ist, das nicht getrennt werden soll, erfüllt nur die Trennung Zu\cker die Beschränkung zus-κ. Im schönen Beispiel Ranicki, das ich im vorangehenden Kapitel erwähnt habe und in dem ck anders als in Zucker kein komplexes Graphem ist (c entspricht [ts] und k entspricht [k]), macht erst VERANKER-TRS den Unterschied. Denn trennt man Ranicki als Rani\cki, entsprechen die Ränder der Trennsegmente nicht den Rändern von Silben. Bleiben noch Fremdwörter wie Pathos, Myrrhe und Joghurt. Damit bei diesen Wörtern die Trennungen Pa\thos, Myr\rhe und ]o\ghurt gewinnen, müssen wir die Beschränkung RÄNDER so auslegen, dass auch die Anfangs- und Endränder von Fremdwörtern mit berücksichtigt werden. Die Folgen th, rh und gh sind zwar keine möglichen Anfangsränder heimischer Wörter, aber wir finden Fremdwörter, die mit th, rh und gh beginnen. Wenn wir überlegen, wie man die Fremdwortgrapheme trennt, können wir uns also bei RÄNDER nicht auf heimische Wörter beschränken, sondern müssen auch Fremdwörter berücksichtigen. Zu der Frage, wie RÄNDER funktional zu begründen ist, gibt es, wie so oft, unterschiedliche Überlegungen. Kohrt (1988, 133f.) begründet die phonologische Entsprechung dieser Beschränkung so, dass bedeutungstragende Einheiten vor Einheiten ohne Bedeutung rangieren und die Form der bedeutungstragenden Einheiten als Vorbild für die Formen der bedeutungslosen Einheiten dient. Wenn die Wörter die wichtigsten bedeutungstragenden Einheiten sind, folgt dann unter anderem, dass sich die Form der Silbenränder nach der Form der Wortränder richtet.21 Dass die Wörter als die wichtigsten bedeutungstragenden Einheiten aufgefaßt werden, gilt natürlich erst recht für die Schriftsprache, wo die orthographischen Wörter anders als die phonologischen Wörter in der Lautsprache durch klare Grenzen hervorgehoben werEine andere Begründung, die auf F i s c h e r - J 0 r g e n s e n zurückgeht, findet sich in Pulgram (1970, 43): „It has been suggested that in m o s t languages syllables are so constituted that they could o c c u r as whole u t t e r a n c e s . " Silbenränder sollen also deshalb mit W o r t r ä n d e r n ü b e r e i n s t i m m e n , weil wir in den meisten Sprachen W ö r t e r finden, die aus nur einer Silbe bestehen.

58 den. Ich denke aber, dass es bei der Trennung auch noch andere Gründe für diese RÄNDERBeschränkung gibt, die damit zusammenhängen, wie getrennte W ö r t e r gelesen werden. D a r a u f werde ich unten noch zurückkommen.

2.2.7 Wörter, die man nicht trennen kann Bevor wir zur Trennung zwischen Vokalbuchstaben k o m m e n , müssen wir noch ein kleines technisches Problem lösen. Wenn wir nur getrennte Formen als Kandidaten vergleichen, sollten W ö r t e r wie Charme

getrennt werden können. 2 2 Hier ist die Tabelle, die das demon-

striert: (48) IDENT-TRS

C h a r me ~ C h j a r m e

VOK

*KOMPLEX-L

W

KONS-L

W W

C h a r me ~ Cha|rme C h a r me ~ C h a r m e

W

Eine der zentralen Annahmen der Optimalitätstheorie ist, dass es immer einen optimalen Kandidaten gibt, egal, wie gut oder schlecht er ist. Auch wenn man ν ο κ so verschärft, dass ein Trennsegment ein ,nicht-stummes' Vokalgraphem enthalten soll, also ein Vokalgraphem mit einer lautlichen Entsprechung, ist Char\me Trennungen Chjarme, ßen. D o c h Charme

Cha\rme

und Charm

immer noch besser als die anderen

je, die gegen KONS-L oder >:'KOMPLEX-L versto-

ist überhaupt nicht trennbar. 2 3 Wir haben hier somit einen Fall von ab-

soluter Ungrammatikalität, bei der kein Kandidat grammatisch ist. 24 Es gibt, wenn ich es recht sehe, zwei Auswege. Wir könnten zum einen stipulieren, dass es gewisse unverletzbare Beschränkungen gibt, gegen die keine Trennung verstoßen darf. Das ist kein guter Ausweg, weil er nichts erklärt, sondern nur einfach festsetzt, was nicht sein darf. D e r andere Ausweg ist, die ungetrennte Form mit als Kandidaten aufzunehmen und festzulegen, dass dann, wenn die ungetrennte Form der optimale Kandidat ist, nicht getrennt werden kann. Z u den Kandidaten, die wir vergleichen müssen, gehören dann bei

22

Man findet solche falschen Trennungen sehr häufig in Zeitungen und Zeitschriften, die, so weit ich weiß, mehr oder weniger strikt graphisch basierte Worttrennungsprogramme verwenden.

23

Minimalpaare wie Pa\ge und Page, bei\ge und beige, No\te und Notebook, Ba\se und Baseball, Homma\gen und Hommage sprechen gegen die Lösung, me, ge usw. als Konsonantgrapheme zu deuten. Denn dann hätte man entweder in den getrennten Formen Trennsegmente, die kein Vokalgraphem enthalten, oder aber einen Wechsel zwischen einfachen Konsonantgraphemen in den getrennten Formen und komplexen Konsonantgraphemen in den ungetrennten Formen.

24

Perlmutter macht in Lapointe et al. (1998, 259) auf dieses Problem mit folgender Bemerkung aufmerksam: „I think hidden in the background there lurks a monster." Eine Ubersicht über weitere Fälle, in denen dieses Monster auftaucht, und mögliche Lösungen bieten Fanselow und Fery (2002).

59 Charme nicht nur die getrennten Formen C\harme, Ch\arme, Cha\rme, Ckar\me und Charmje, sondern auch die ungetrennte Form Charme selbst. Damit der ungetrennte Kandidat aber auch wirklich gewinnt, muss es eine Beschränkung geben, die ihn gegenüber den anderen getrennten Kandidaten bevorzugt. Die folgende Beschränkung leistet das: (49) Anzahl der Trennsegmente und Silben ( = ANZAHL) : Die Anzahl der Trennsegmente soll der Anzahl der Silben entsprechen. Diese Beschränkung ANZAHL muss tiefer als νοκ geordnet sein, da andernfalls die ungetrennte Form Hendl gegen Hen\dl verlieren würde, doch sie muss höher geordnet sein als KONS-L, damit naiv gegen na\iv verliert (dazu unten mehr). Das ergibt dann für Charme folgende Tabelle: (50) Charme

IDENT-TRS

VOK

ANZAHL

Charme ~ C| härme

W

Charme ~ Ch|arme

W

Charme ~ Cha|rme

W

Charme ~ Char me Charme ~ Charm e

w w

*KOMPLEX-L

KONS-L

W W

W

Mit dieser Beschränkung ANZAHL können wir nicht nur herleiten, dass Charme nicht getrennt werden kann, sondern auch erzwingen, dass Wörter wie Puzzle getrennt werden können. Denn Puzzle enthält zwar wie Charme ein wortfinales e ohne lautliche Entsprechung, ist aber anders als Charme zweisilbig, weshalb ANZAHL bei Puzzle die getrennten Formen bevorzugt.

2.2.8 Wörter, die man unterschiedlich trennen kann Die Wörter wie Magnet, bei denen es unterschiedliche Trennoptionen gibt, zeichnen sich durch zweierlei aus: Zum einen sind sie Fremdwörter, zum anderen enthalten sie eine morpheminterne Folge aus einem Buchstaben für einen Obstruenten und einem Buchstaben für einen Sonoranten. Das eine hängt mit dem anderen zusammen, denn man findet im Deutschen Folgen aus Obstruent und Sonorant morphemintern nur in Fremdwörter (und, natürlich, in Eigennamen). In vergleichbaren heimischen Wörtern wie neblig oder eklig oder Handlung steht die Folge aus Obstruent und Sonorant stets morphemfinal (nebl+ig, ekl+ig, Handl+ung). Wir haben es also hier mit einer Optionalität zu tun, die nur einen bestimmten Bereich des Lexikons betrifft, nur eine bestimmte lexikalische Schicht. Solche lexikalischen Schichten, für die unterschiedliche Bedingungen gelten, sind keine Besonderheit der Worttrennung, wie unter anderem Fery (2003a) ausführlicher zeigt.

60 Ito und Mester (1995, 183) haben vorgeschlagen, solche lexikalischen Schichten, für die unterschiedliche Bedingungen gelten, so herzuleiten, dass die Bedingungen je nach lexikalischer Schicht unterschiedlich gewichtet sind: „Lexical stratification is a consequence of constraint (re)ranking." Diesen Vorschlag können wir in etwas modifizierter Form übernehmen, und zwar so, dass die Beschränkung VERANKER-TRS, die gewährleisten soll, dass nach Silbengrenzen getrennt wird, bei Wörtern wie Magnet unterschiedlich gewichtet wird. Wenn wir VERANKER-TRS stärker als >: 'KOMPLEX-L und KONS-L gewichten, erhalten wir die Trennung Ma\gnet: (51) Magnet

VERANKER-TRS

*KOMPLEX-L

W

L

gn ~ g n

KONS-L

RÄNDER

ZUS-K

Wir wollen allerdings neben der Trennung Ma\gnet auch die Trennung Mag\net als optimalen Kandidaten herleiten können. Das kann nur funktionieren, wenn für Magnet zwei verschiedene Beschränkungshierarchien gelten, wie es ja auch die Formulierung in §112 nahelegt. In der einen Hierarchie, (52a), die nur für Fremdwörter vom Typ Magnet und entsprechende Eigennamen gilt, ist VERANKER-TRS höher geordnet als * K O M P L E X - L und KONS-L, in der anderen Hierarchie, (52b), die für den gesamten Wortschatz gilt, sind umgekehrt * K O M P L E X - L und KONS-L höher geordnet als V E R A N K E R - T R S . Da Fremdwörter wie Magnet und entsprechende Eigennamen auch zum Gesamtwortschatz gehören, zeichnen sie sich somit dadurch aus, dass sie nach zwei unterschiedlichen Ordnungen von Beschränkungen getrennt werden können. (52)

(a)

...

VERANKER-TRS

(b)

...

* K O M P L E X - L , KONS-L

* K O M P L E X - L , KONS-L RÄNDER

RÄNDER

ZUS-KV

ZUS-KV

VERANKER-TRS

Das gilt übrigens auch für Wörter wie Kognak, die auch Folgen aus Obstruent- und Sonorantbuchstaben enthalten, auch wenn gn in diesen Wörtern [nj] entspricht. Für diese Wörter erhalten wir allerdings ein überraschendes Ergebnis. Wenn wir VERANKER-TRS stärker gewichten, gewinnt die Trennung Kog\nak gegen die Trennung Ko\gnak, weil die Silbengrenze in [kan.jak] zwischen [n] und [j] liegt. Das heißt, wir leiten durch die Umordnung von VERANKER-TRS bei Kognak nicht wie bei Magnet die Trennung vor gn ab, sondern die Trennung zwischen g und n. (53) Kognak g η ~ gn

VERANKER-TRS

*KOMPLEX-L

W

L

KONS-L

RÄNDER

ZUS-K

Das ist aber ein durchaus erwünschtes Resultat, da wir die andere Trennung Ko\gnak oben mit der Ordnung * K O M P L E X - L , KONS-L RÄNDER zus-κν VERANKER-TRS herge-

61 leitet haben. Wir erhalten also auch bei Wörtern wie Kognak, Lasagne

Chamagner,

und

Kampagne

durch Umordnung von VERANKER-TRS die beiden Trennoptionen vor oder nach g.

Man könnte überlegen, wie Gereon Müller vorgeschlagen hat, auf VERANKER-TRS gänzlich zu verzichten und statt der Beschränkung KONS-L, die ein Konsonantgraphem am linken Rand verlangt, die Beschränkung *KONS-R zu verwenden, die ein Konsonantgraphem am rechten Rand ausschließt. Der Vorteil wäre, dass man dann die beiden Trennvarianten Mag\net und Ma\gnet durch eine geeignete Kopplung der Beschränkungen >:'KONS-R und *KOMPLEX-L

herleiten könnte (notiert als *KONS-R Ο * K O M P L E X - L ) . Bei einer global hierar-

chischen Kopplung, die zwei vollständige Beschränkungsordnungen zusammenfasst, ergäben sich dann die beiden Beschränkungsordnungen (54a) und (54b), die für Magnet

wie

gewünscht die beiden Trennmöglichkeiten Mag\net und Ma\gnet herleiten würden:23 (54)

(a) (b)

*KOMPLEX-L ...

* KONS-R

*KONS-R

RÄNDER

ZUS-KV

*KOMPLEX-L

RÄNDER

ZUS-KV

Nicht vereinbar damit sind jedoch Wörter wie Hypnose,

in denen zwischen dem Obstru-

enten und dem Sonoranten eine Silbengrenze liegt ([hYp.no:.zs]) und die deshalb nur zwischen p und η getrennt werden können. Die Beschränkungsordnung in (54b) würde für diese Wörter fälschlicherweise auch die Trennung vor pn erlauben. Eisenberg (2002, 74) schlägt vor, die mögliche Trennung vor dem Obstruentbuchstaben in Fremdwörtern wie Magnet Gablung

auch auf heimische Wörter wie niedrig,

knusprig,

neblig,

und Gegner auszudehnen, die nach der amtlichen Regelung nur nach dem Plosiv-

buchstaben getrennt werden dürfen (nied\rig, knusp\rig,

neb\lig, Gab\lung,

Geg\ner).26

Das scheint insofern naheliegend, als diese heimischen Wörter bevorzugt so silbifiziert werden, dass die Silbengrenze vor dem Plosiv liegt. Man müsste allerdings, wenn man Eisenbergs Vorschlag folgt, so konsequent sein, diese Trennung dann auch bei Wörtern wie schmuggle Scrabble

und paddle

zuzulassen, die dann wie ihre Fremdwortpendants Puzzle,

Mufflon,

und Shuttle auch zwischen den doppelten Konsonantbuchstaben getrennt werden

könnten (schmug\gle, pad\dle).

2.2.9 Trennung zwischen Vokalbuchstaben Wir haben bisher noch nichts dazu gesagt, wie Wörter wie naiv, Poet oder Mauer

getrennt

werden, die keinen wortinternen Konsonantbuchstaben enthalten. In der amtlichen Regelung werden diese Beispiele durch die Grundregel §109 erfasst, nach der man zwischen Vokalbuchstaben, die zu verschiedenen Silben gehören, trennen kann. Prüfen wir, ob die vorgeschriebenen Trennungen na\iv, Po\et und Mau\er auch wirklich die optimalen Trennungen sind. Bei na\iv und Po\et gibt es keine Schwierigkeiten, wie die folgende Tabelle zeigt. E i n e detaillierte D i s k u s s i o n verschiedener A r t e n von K o p p l u n g e n ist in M ü l l e r ( 2 0 0 0 , 200ff.) zu finden. 26

K o h r t ( 1 9 9 2 , 2 0 4 ) weist d a r a u f hin, dass diese Forderung schon in Freyer (1735) zu finden ist.

62 (55) IDENT-TRS

VOK

na|iv

η aiv

W

na|iv ~

nai ν

W

na|iv

n a tiv

na|iv ~

naiv

ANZAHL

*KOMPLEX-L

KONS-L

L

W

L W

Bei n\aiv und nai\v erhalten wir Trennsegmente, die kein Vokalgraphem enthalten und gegen ΝΟΚ verstoßen, Einfügen von Buchstaben wie in na\tiv wird durch I D E N T - T R S verhindert. Doch was verhindert, dass wir Mauer zwischen α und u trennen, also als Ma\uer? Es wird in Ma\uer kein Buchstabe getilgt oder eingefügt und sowohl Ma als auch uer enthalten ein Vokalgraphem, Mauer ist zweisilbig, so dass Ma\uer auch A N Z A H L erfüllt. Die erste Beschränkung, gegen die Ma\uer verstößt, ist K O N S - L , doch gegen KONS-L verstößt auch die korrekte Trennung Mau\er. Die Beschränkung, die den Wettbewerb schließlich entscheidet und die korrekte Trennung Mau\er präferiert, ist hier die am tiefsten geordnete Beschränkung VERANKER-TRS: Bei der Trennung Mau\er stimmen die Trennsegmentränder mit den Silbenrändern überein, bei der falschen Trennung Ma\uer offensichtlich nicht. Bei Wörtern wie Knien, Feen, Seen, Alleen und geschrien, die nach der neuen Regelung zwischen i und e bzw. den beiden e getrennt werden können, entscheidet bereits A N Z A H L den Wettbewerb. Die Schwierigkeit bei der Trennung dieser Wörter ist, dass einerseits das zweite e zum vorangehenden Vokalbuchstaben gehört, weil ie in Knie und schrie und ee in Fee, See und Allee komplexe Vokalgrapheme bilden, andererseits aber auch nicht, weil dem e bei deutlicher Aussprache ein Schwa entspricht, das der Kern der zweiten Silbe ist ([kni:.an], [fe:.sn] usw.). A N Z A H L entscheidet den Fall. Weil die Formen Knien, Feen, Seen, Alleen und geschrien zweisilbig sind, können sie vor e getrennt werden, auch wenn so ein Vokalgraphem getrennt wird. (56)

Knien

IDENT-TRS

Kni en ~ Knie η Kni en

Knien

VOK

ANZAHL

W

*KOMPLEX-L

KONS-L

L W

Etwas verzwickter ist die Trennung von Fremdwörtern wie Nationen, Fortier und speziell, die uns schon im vorigen Kapitel beschäftigt haben. Wenn wir uns nur auf die deutliche Aussprache, also auf explizite Lautformen stützen und nicht auf überdeutliche Lautformen, ist, wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben, i in Nationen und Fortier unsilbisch: [na.tsjo:.nan] und [pDR.tje:]. Das heißt, Nationen ist dreisilbig und Fortier zweisilbig. Die Beschränkung A N Z A H L würde dann eine Trennung zwischen i und Ο bei Nationen und eine Trennung zwischen i und e bei Portier ausschließen; korrekt sein sollten dann die Trennungen Na\tio\nen und Por\tier und nicht die Trennungen Na\ti\o\nen und Por\ti\er.

63 Will man überdeutliche Lautformen als Bezugsformen für die Worttrennung vermeiden und sich auf deutliche Lautformen beziehen, wofür ich im vorangehenden Kapitel plädiert habe, bleibt nur die Möglichkeit, eine Beschränkung einzuführen, die Folgen von Vokalgraphemen in einem Trennsegment ausschließt und gewissermaßen das Gegenstück zu der B e s c h r ä n k u n g *KOMPLEX-L i s t . 2 '

(57) Keine Vokalgrapbemfolgen ( = *KOMPLEX-K): Ein Trennsegment soll keine Folge von Vokalgraphemen enthalten. Wenn wir diese Beschränkung *KOMPLEX-K der Beschränkung ANZAHL überordnen, erhalten wir die Trennungen Na\ti\on\en und Por\ti\er als die optimalen Kandidaten. Denn die zwei Trennsegmente tio und tier der nicht-optimalen Kandidaten Na\tio\nen und Por\tier enthalten mit io und ie zwei Vokalbuchstaben, die Folgen von einfachen Vokalgraphemen bilden. (58) Portier

IDENT-TRS

VOK

* KOMPLEX-Κ

ANZAHL

w

L

Por ti er ~ Por|tier

Auf den ersten Blick sieht es so aus, als hätten wir uns mit *KOMPLEX-K bei Wörtern wie klein ein neues Problem eingehandelt, für die Gallmann (1985, 237) folgende Regel vorgesehen hat: 28 (59) Wenn Vokalbuchstaben für einen einfachen Laut oder einen Diphthong stehen, darf nicht zwischen ihnen getrennt werden: Waa—ge, See—le, sie-ben, Tau—fe, Coif—feur, Ni—veau Da ei in klein für den Diphthong [ai] steht, darf nach dieser Regel zwischen e und i nicht getrennt werden. Bilden die Folgen von Vokalbuchstaben, die für einen einfachen Laut oder einen Diphthong stehen, komplexe Vokalgrapheme, können wir auf Gallmanns Regel verzichten, da diese Folgen von Vokalbuchstaben dann nicht gegen >:'KOMPLEX-K verstoßen. So bildet etwa ei in klein das komplexe Graphem (ei). Doch es ist umstritten, ob wirklich alle Buchstabenverbindungen, die für einen Diphthong stehen, komplexe Vokalgrapheme sind. Bei den Folgen ai und au scheint man die lautlichen Entsprechungen [ai] und [au] auch über die

Gänzlich anderer Meinung ist in diesem Punkt Primus (2003, 4 0 - 4 7 ) , die kein Verzweigungsferbot des Kerns formuliert, sondern ein Verzweigungsgebot. Ich sehe keinen Grund, warum man wie Primus etwa für Tag einen verzweigenden Kern annehmen sollte. 28

In der alten amtlichen Regelung stand der folgende Wortlaut, hier zitiert nach der 16. Auflage des Großen Duden von (1967): „Vokale mit zwei oder mehr als zwei Lautzeichen, die eine Klangeinheit bilden (einläufige Vokalgruppen in Fremdwörtern, Doppelvokale, Diphthonge oder Vokal + Dehnungs-/?) dürfen in sich nicht getrennt werden."

64 Korrespondenzregeln für die einzelnen Buchstaben a, i und u herleiten zu können, so dass ai und au dann Verbindungen von zwei einfachen Vokalgraphemen wären und keine komplexen Vokalgrapheme. Dagegen kann man jedoch Verschiedenes einwenden. Der erste Einwand ist, dass es nicht so klar ist, ob wirklich [i] und [u] die zweiten Bestandteile dieser Diphthonge sind. Systematisch passt das sehr gut, doch werden zum Beispiel im Großen Wörterbuch der deutschen Aussprache diese beiden Diphthonge mit [e] und [o] als zweitem Bestandteil notiert. Schon Sievers hat davor gewarnt, dass man hier nicht dem Einfluss der Schreibung unterliegen sollte. Eine gründliche Diskussion dieses Problems findet man in Becker (1998, 139-152), der sich aus systematischen Gründen für einen hohen Vokal als zweiten Bestandteil entscheidet, auch wenn die tatsächliche Realisierung dieses zweiten Bestandteils breit streut. Ein zweiter Einwand betrifft den Status der Diphthonge: Sind Diphthonge Vokale oder Folgen von zwei Vokalen? Es scheint, dass Phonetiker eher die erste Position vertreten und Diphthonge als Vokale mit wechselnder Qualität beschreiben. So schreibt etwa Ladefoged (2001, 27): „The vowels in the last three rows are diphthongs — sounds that have a change in vowel quality during the course of the syllable. They each count as a single vowel because each of these words is a single syllable." Ahnlich auch Kohler (1995, 169) und andere Phonetiker, die annehmen, dass Diphthonge artikulatorisch und akustisch nicht trennbar sind. Phonologen vertreten gewöhnlich die zweite Position, auch hierzu findet sich in Becker (1998, 126—139) eine ausführliche Erörterung der Argumente. Selbst wenn man Diphthonge als Folgen von Vokalen beschreibt, stellen sie insofern eine Besonderheit dar, als sie markierte Silbengipfel sind. Unmarkierte Silbengipfel sind einfache Vokale. Ein dritter Punkt betrifft die Sprecherinnen und Sprecher: Nehmen sie einen Diphthong als ein Lautsegment wahr oder als zwei? Die Untersuchungen in Liberman et al. (1974) zeigen, dass Kinder Diphthonge als ein Lautsegment wahrnehmen; wenn sie aufgefordert werden, die Laute in einer Lautform zu zählen, zählen sie Diphthonge als einen Laut. Und wir sprechen auch bei überdeutlicher Aussprache die beiden Vokalbuchstaben, die einem Diphthong entsprechen, nicht als zwei Vokale aus. Eimer wird nie als [a.i.me] ausgesprochen, auch nicht bei überdeutlicher Aussprache. Folgen von zwei gleichen Vokalbuchstaben wie aa in Waage stellen ein ähnliches Problem dar. Auch bei ihnen ist umstritten, ob sie ein komplexes Graphem bilden oder Folgen von einfachen Graphemen. Man kann die unterschiedlichen Beschreibungen so einander gegenüberstellen: (60)

Links und in der Mitte haben wir eine Folge von zwei identischen einfachen Graphemen, die sich nur darin unterscheiden, dass entweder die ganze Folge oder nur das erste der beiden Grapheme einem Laut entspricht; in der Mitte hat das zweite einfache Graphem keine lautliche Entsprechung. Rechts haben wir ein komplexes Graphem, das aus zwei identischen Buchstaben besteht und einem Laut entspricht. Ich habe oben gesagt, dass ich eine

65 Folge von mehreren Buchstaben nicht weiter segmentiere und als ein komplexes Graphem klassifiziere, wenn das Auftreten der Buchstaben nicht unabhängig voneinander herzuleiten ist. Das trifft auf die Folgen von zwei identischen Vokalbuchstaben wie aa in Saal auch dann zu, wenn der zweite Vokalbuchstabe keine lautliche Entsprechung hat. Denn das a und e oder ein anderer Vokalbuchstabe auftritt, hängt offensichtlich davon ab, dass ein a vorangeht. Oder anders gesagt: Das zweite α entsteht durch Verdopplung des ersten a. Ich klassifiziere entsprechend diese Folge aus zwei identischen Vokalbuchstaben als komplexe Grapheme, weshalb dann zum Beispiel aa in Saal keine Folge von Vokalgraphemen bildet und nicht gegen *KOMPLEX-K verstößt. Zusammenfassend erhalten wir somit die folgende Ordnung von Beschränkungen, die im nächsten Abschnitt noch um eine Beschränkung erweitert werden wird: (61)

IDENT-TRS, VOK,

>: 'KOMPLEX-K

ANZAHL

*KOMPLEX-L, KONS-L

RÄNDER

ZUS-K

VERANKER-TRS

2.2.10 Einzelne Vokalbuchstaben So, wie die Beschränkungen oben formuliert worden sind, sollten Wörter wie Abend oder Kleie so getrennt werden können, dass ein einzelner Buchstabe dem Trennstrich vorangeht oder folgt. Solche Trennungen werden jedoch in §107 der amtlichen Regelung explizit ausgeschlossen, wo es heißt: „Einzelne Vokalbuchstaben am Wortanfang oder -ende werden nicht abgetrennt, auch nicht bei Komposita, zum Beispiel: Abend, Kleie, Ju-li-abend, Biomüll." Man könnte eine entsprechende Beschränkung formulieren, die einzelne Vokal grapheme an den Worträndern ausschließt, doch bin ich mir nicht sicher, ob das sinnvoll ist. Nimmt man die zweite Einschränkung in §107 hinzu, nach der irreführende Trennungen wie Urin—stinkt vermieden werden sollen, liegt es nahe, hier etwas genauer zu unterscheiden zwischen möglichen Trennstellen einerseits und konkreten Trennstellen andererseits. Ich habe oben gesagt, dass die eingeführten Beschränkungen systematisch die Stellen festlegen sollen, an denen Wörter getrennt werden können; ob die Wörter auch tatsächlich an diesen Stellen getrennt werden, wird durch die Beschränkungen nicht festgelegt. Denn Worttrennung am Zeilenende ist ja, wie in der Einleitung betont, optional und nicht obligatorisch, das heißt, wir können Wörter am Zeilenende trennen, wir müssen es aber nicht. Die zweite Einschränkung, die irreführende Trennungen wie Urin—stinkt betrifft, ist nun sicherlich eine Einschränkung für tatsächliche Trennungen, die in Texten vorgenommen werden, systematisch gesehen ist die Trennung Urin—stinkt ebenso korrekt wie die Trennung Ur—instinkt. Entsprechendes gilt meines Erachtens auch für die erste Einschränkung, die einzelne Vokalbuchstaben am Ende der ersten Zeile oder am Beginn der zweiten Zeile ausschließt, auch sie ist eine Einschränkung für tatsächliche Trennungen. Systematisch ist gegen eine mögliche Trennung A\bend nichts einzuwenden, vermeiden sollte man nur Α-bend ebenso wie Klei-e oder Urin—stinkt.29 Ich verstehe nebenbei b e m e r k t nicht, w a r u m m a n ο zwar nicht im K o m p o s i t u m Biomüll nen dürfen soll, aber in der Ableitung

Maoist.

abtren-

66 2.3

T r e n n u n g e n an M o r p h e m g r e n z e n

Wie wir im vorangehenden Kapitel gesehen haben, respektiert die Worttrennung die meisten Morpheme. Ausnahmen sind Suffixe, die nur aus Konsonanten bestehen, und Suffixe, die mit einem Vokal anlauten. Dass die konsonantischen Suffixe und vokalisch anlautenden Suffixe von der Trennung nicht respektiert werden, liegt an den Beschränkungen νοκ, *KOMPLEX-L

und

KONS-L.

νοκ verhindert, dass konsonantische Suffixe wie —st in

denkst

abgetrennt werden. Denn da konsonantische Suffixe keine Vokalgrapheme enthalten, können sie auch keine Trennsegmente bilden. *KOMPLEX-L und KONS-L hingegen fordern, dass Wörter wie melden

oder Leser,

die die vokalisch anlautenden Suffixe —en und —er enthal-

ten, so getrennt werden, dass der Trennstrich vor dem letzten Konsonantgraphem des Stamms steht, also vor d und s. Andernfalls würde das zweite Trennsegment hinter dem Trennstrich nicht mit einem Konsonantgraphem beginnen. Diese Ausnahmen sind also gar keine Ausnahmen. Da es im Deutschen keine Suffixe gibt, die mit mehr als einem Konsonanten anlauten (auf eine mögliche Ausnahme kommen wir gleich noch zu sprechen), gibt es bei der Trennung von Wörtern mit konsonantisch anlautenden Suffixen keinerlei Konflikte zwischen den Beschränkungen. Nach strafbar,

*KOMPLEX-L

und

KONS-L

können Wörter wie bläulich

oder

die die beiden konsonantisch anlautenden Suffixe —lieh und —bar enthalten, nur

so getrennt werden, dass das erste Konsonantgraphem des Suffixes auf die nächste Zeile kommt, also als bläu\lich und strafbar.

Bei konsonantisch anlautenden Suffixen fällt da-

her automatisch die Trenngrenze mit einer Morphemgrenze zusammen. Etwas schwieriger ist die Trennung von Hundertstel

und anderen Ableitungen mit dem

Suffix —stel. Eine einfache Regel wie „Man kann vor einem konsonantisch anlautenden Suffix trennen" macht die falsche Vorhersage, wie (62) zeigt. (62)

(a)

*Hun|dert|stel, *Zwanzig|stel, *Vier|zig| stel

(b)

Hun|derts|tel, Zwan|zigs|tel, Vier|zigs|tel

Es ist allerdings die Frage, ob wirklich —stel zusammen ein Suffix bildet. Der Vergleich mit den entsprechenden Ordinalzahlen in (63) legt nah, dass —stel in Wirklichkeit eine Kombination von zwei Suffixen ist, und zwar —st, das mit —t alterniert, und —el. (63)

dritte

Drittel

vierte

Viertel

siebte

Siebtel

achte

Achtel

zwanzigste

Zwanzigstel

hundertste

Hundertstel

67 Wenn —stel tatsächlich eine Kombination zweier Suffixe ist, gibt es im Deutschen wirklich kein Suffix, dass mit mehr als einem Konsonanten anlautet.' 0 Präfixableitungen und Komposita können systematisch gegen man Wörter wie Finanzamt

verstoßen. Würde

KONS-L

KONS-L

verstoßen,

müsste man sie vor 2 und r trennen können, doch das ist offensichtlich falsch.

Finanzamt

und verachten

und verachten

so trennen, dass sie nicht

können nur nach ζ und r getrennt, also an den Grenzen zwischen den bei-

den Stämmen Finanz und amt und zwischen dem Präfix νer und dem Stamm acht. Daher bedarf es der Regel in §108, nach der man Komposita wie Finanzamt gen wie verachten

und Präfixableitun-

zwischen den einzelnen Bestandteilen trennen soll.

Will man die Trennung aller Wörter, und zwar sowohl der morphologisch einfachen als auch der morphologisch komplexen, mit einer einheitlichen Ordnung von Regeln oder Beschränkungen erfassen, gilt es eine Beschränkung zu finden, die und so etwa bei Finanzamt

KONS-L

übergeordnet ist

die Trennung vor 2 verhindert. Ein erster Vorschlag dazu ist in

Primus (2003, 36) zu finden, wenn man in ihrer Formulierung „Silbengrenze" durch „mögliche Trennstelle" ersetzt: (64) Grenzen phonologischer Wörter sind mögliche Trennstellen. Da die Bestandteile von Komposita (genau genommen die unmittelbaren Bestandteile) phonologische Wörter bilden und auch hinter Präfixen immer die Grenze eines phonologischen Wortes liegt, erhält man für Finanzamt,

verachten

und Arbeitsamt

richtige Trenn-

stellen. Das ist natürlich kein Zufall, denn die Grenzen der phonologischen Wörter richten sich nach den Morphemgrenzen. (65)

Finanz | amt ver|achten

(fi.nants)^(amt)u,, fsE(axt3n)^

Arbeits | amt

(aRbaits)u,,(amt)u,,

Es gibt aber Fälle, die man mit einer Regel wie (64) nicht erfassen kann, und zwar all die Wörter, die in §113 aufgelistet sind und die optional entweder nach §109 bis §112 getrennt werden können oder nach §108. Hier ist eine kleine Auswahl:31 (66)

30

(a)

hinauf, heran, darum, Hektar, Helikopter, interessant, Linoleum

(b)

hi|nauf, he | ran, da | rum, Hek|tar, Helikop|ter, inte|ressant, Li|no|leum

(c)

hinjauf, her|an, darjum, Hektjar, Helikojpter, interessant, Linjoleum

In dem KompromißVorschlag der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung findet sich auf der Seite 15 folgende Bemerkung: „Wir schlagen allerdings vor, das Superlativ-Suffix -ste,

-sten

nicht zwischen s und t zu trennen, sondern genauso zu lassen wie es für Präfixe vorgesehen ist (am schönsten

statt des störenden am schöns-ten).

Es ist im übrigen das einzige Suffix, das mit

einem Doppelkonsonanten anlautet." D a s ist es nicht: -ste

und -sten

sind Kombinationen aus

dem Superlativsuffix —st und den Suffixen —e und —en, wie man unter anderem auch in Eisenberg (2004) nachlesen kann. 31

D a z u ausführlich Gallmann (1985, 224ff.) und Kohrt (1985h, 80ff.).

68 Die Trennungen in (66b) kann man über §109 bis §112 herleiten und die Trennungen in (66c) über §108, wenn man die Morpheme überhaupt erkennt.' 2 Da aber die Wörter einem phonologischen Wort entsprechen, kann die Regel in (64) die morphologischen Trennungen in (66c) nicht ableiten. Die Regel sagt nur etwas zu Trennungen an den Rändern von phonologischen Wörtern, jedoch nichts zu Trennungen in phonologischen Wörtern, hilft also hier nicht weiter. Besser funktioniert die folgende Trennregel, die Neef (2005, 50) einführt: (67) Vor einem potentiellen Wortbeginn kann ein Trennstrich eingefügt werden. Was ist ein potentieller Wortbeginn? Die morphologischen Einheiten, die am Beginn eines Wortes stehen können, sind nach Neef Präfixe, Stämme und Wurzeln, aber nicht Suffixe (sonst wären sie ja keine Suffixe). Der linke Rand von Präfixen, Stämmen und Wurzeln bildet also den potentiellen Beginn eines Worts. Und vor solchen Rändern, die der Beginn eines Worts sein könnten, darf ein Trennstrich eingefügt werden. Man vergleiche die folgenden Trennungen in (68), in denen der potentielle Wortbeginn mit pw( markiert ist. (68) Finanz|amt ver|achten Arbeits |amt

pw(Finanzpw(amt pW(verpW (achten pw(Arbeitspw(amt

Ich übernehme diese Regel als eine Beschränkung, die potentielle Wortanfänge mit den linken Rändern von Trennsegmenten verankert: (69) Trennung vor Fräfixen, Stämmen und Wurzeln ( = V E R A N K E R - P W ) : Potentielle Wortanfänge, das heißt die linken Ränder von Präfixen, Stämmen und Wurzeln, sollen mit linken Rändern von Trennsegmenten zusammenfallen. Damit diese Beschränkung zum Zuge kommen kann, muss sie, wie oben gesagt, KONS-L übergeordnet sein. Andernfalls könnten Beispiele wie Finanzamt und verachten fälschlicherweise als Finan\zamt und ve\rachten getrennt werden. Mir scheint es bei dieser Beschränkung allerdings genau genommen um etwas anderes zu gehen als um potentielle Wortanfänge, und zwar um das Erkennen von Lexemen. Das Problem bei Hektar ist nicht, dass wir nicht den wortinternen potentiellen Wortbeginn erkennen; das Problem ist, dass wir in Hektar nicht die Lexeme HEKT und A R erkennen. Wenn wir ein Wort lesen, das wir noch nicht kennen, das neu für uns ist, versuchen wir, dieses Wort wenn möglich in kleinere morphologische Einheiten zu zerlegen, aus denen wir dann die Bedeutung dieses neuen Wortes ableiten könnten. Das heißt, wir versuchen

32

Hierzu gibt es eine hübsche Bemerkung in Kohrt (1992, 216): „Wer sein Bildungsbürgertum unbedingt beweisen will, der soll auch fürderhin ein Wort wie Diphthong als (Di-phthong) trennen können und es nicht als (Diph-thong) auf zwei Zeilen verteilen - aber allen anderen sollte zugleich ausdrücklich auch die andere Lösung gestattet sein." Das ist jetzt glücklicherweise der Fall.

69 in diesem neuen Wort uns bekannte Lexeme zu entdecken. Auf diese Weise können wir ein Wort wie farbbedisplayter in die Morpheme färb, be—, display, -t und -er zerlegen und auf die Lexeme FÄRB und DISPLAY zugreifen. Mit Hilfe der Bedeutung dieser Lexeme und der Bedeutungsveränderung, die be— zusammen mit -t vornimmt, können wir daraus die richtige Bedeutung (,mit einem Farbdisplay versehen') ableiten. Da visuelle Worterkennung im Deutschen von links nach rechts abläuft, sollten somit die linken Ränder der Wortbestandteile, die auf Lexeme verweisen, gut zu erkennen sein. Das sind aber die Ränder von Präfixen, Stämmen und Wurzeln. Wenn wir display in farbbedisplayter erkennen wollen und dabei von links nach rechts vorgehen, genügt es, färb und be abzutrennen; die beiden Suffixe —t, das mit fee—kombiniert ist, und -er sind dafür belanglos. Wie hilft uns das nun weiter bei Fällen wie in (66a)? In (66a) ist offensichtlich schwer zu erkennen, ob das Wort morphologisch komplex ist und wenn ja, wo die Morphemgrenzen liegen; diese Morphemgrenzen sind unter anderem deshalb so schwer zu erkennen, weil sie nicht mit Silbengrenzen zusammenfallen. Für die meisten Sprecherinnen und Sprecher des Deutschen sind etwa Hektar und Linoleum morphologisch einfache Wörter, Simplizia. Erkennt man aber die Morphemgrenzen nicht, kann man auch nicht erkennen, ob es einen wortinternen potentiellen Wortbeginn gibt. Die Wörter in (66a) werden nur dann wie in (66c) getrennt, wenn man die wortinterne Stammgrenze erkennt und etwa bei Hektar weiß, dass α auch der Beginn eines Wortes sein könnte. (70) dar|um Hektjar Lin| oleum

pw(darpw(um P W (Hekt P W (ar pw(Lin pW(oleum

Gibt es keinen wortinternen potentiellen Wortbeginn, kommt die Beschränkung in (69) natürlich nicht zum Zuge und die Wörter werden nach den Beschränkungen für einfache Wörter getrennt, also so: (71) da | rum Hek|tar Li|noleum

pw (darum Pw (Hektar pw (Linoleum

Wir haben hier somit ein Phänomen, das Müller (2000, 192ff.) als Pseudo-Optionalität bezeichnet. Die Pseudo-Optionalität zeichnet sich dadurch aus, dass die zu beobachtende Optionalität zwischen zwei optimalen Formen nur scheinbar existiert. In Wirklichkeit unterscheiden sich die beiden Formen und können genau genommen nicht miteinander verglichen werden. Den in (66) relevanten Unterschied haben wir schon gesehen: Entweder enthält das zu trennende Wort einen potentiellen Wortbeginn oder nicht. Wenn die Ausgangsform, das ungetrennte Wort, einen potentiellen Wortbeginn enthält, ist die Trennung davor optimal; enthält sie keinen potentiellen Wortbeginn, ist eine andere Trennung optimal.

70 (72) hinp W (auf

VERANKERPW

KONS-L

W

n|a ~ i|n

hinauf

*KOMPLEX-L

RÄNDER

ZUS-K

VERANKERTRS

L

VERANKERPW

*KOMPLEX-L

KONS-L

i|n ~ n a

L

RÄNDER

ZUS-K

VERANKERTRS

W

W

Insgesamt benötigen wir also für die morphologisch einfachen und morphologisch komplexen Wörter zehn Beschränkungen, die folgendermaßen geordnet sind: (73)

IDENT-TRS, VOK, * KOMPLEX-K

ANZAHL

* K O M P L E X - L , KONS-L

RÄNDER

ZUS-K

VERANKER-TRS

Vier dieser Beschränkungen,

IDENT-TRS, VOK, * K O M P L E X - K

und

VERANKER-PW,

werden von

keinem optimalen Kandidaten verletzt.

2.4

Einige Schlussfolgerungen

2.4.1 Ist die Worttrennung am Zeilenende optimal? Ich habe in den vorangehenden Abschnitten zu zeigen versucht, wie man das System der Worttrennung im Deutschen mit Hilfe einer Reihe von Beschränkungen herleiten kann, die in bestimmter Weise gewichtet sind. Damit wollte ich zum einen nachweisen, dass das System kohärent ist und sich die verschiedenen Mängel in den Formulierungen der amtlichen Regeln, die ich in Kapitel 1 moniert habe, beseitigen lassen. Zum anderen wollte ich aber auch zeigen, dass die beiden weitreichendsten Änderungen, die bei der Reform der Rechtschreibung im Bereich der Worttrennung vorgenommen wurden, nämlich die Trennung von st und ck, weder neue Beschränkungen noch eine Umordnung der Beschränkungen erforderlich machen. Bedeutet das, dass die Worttrennung am Zeilenende jetzt optimal ist? Nein. Es bedeutet nur, dass man eine einheitliche Ordnung von Beschränkungen finden kann, die in der Mehrzahl funktional gut zu motivieren sind und die orthographisch korrekten Trennungen als die optimalen Trennungen ableiten. Dass die Kandidaten optimal sind, heißt nicht, dass die Beschränkungen und ihre Ordnung optimal sind. Dass [Re:.ds] die optimale Silbifizierung für rede ist, heißt ja auch nicht, dass die Ordnung

ONS 2 > A L I G N - R

optimal ist,

nach der ein Silbenansatz wichtiger ist als das Zusammenfallen des rechten Stammrands mit einer rechten Silbengrenze.

71 Nehmen wir zur Illustration die beiden Beschränkungen KONS-L und > : 'KOMPL-L, die für Wörter wie Wüste und Fenster, Radler und Segler nur die Trennung vor dem letzten wortinternen Konsonantbuchstaben zulassen, also etwa Fens\ter. Bei diesen Wörtern sind sich die Sprecherinnen und Sprecher nicht sicher, wo die Silbengrenze liegt, woraus dann auch, wenn sie der Regel „Silbengrenzen sind Trennstellen" folgen, Unsicherheiten beim Trennen dieser Wörter resultieren (man vergleiche die Diskussion der unklaren Silbengrenzen im vorangehenden Kapitel und in Äugst 1997, 263ff.). Die beiden Beschränkungen KONS-L und *KOMPLEX-L schaffen hier normative Eindeutigkeit, das heißt, sie legen eine der möglichen Trennungen als die optimale und somit orthographisch korrekte fest. Ihre funktionale Begründung liegt also darin, dass sie mehrdeutige Fälle eindeutig entscheiden. Ob diese Lösung aber die beste ist oder nicht, hängt davon ab, ob man hier überhaupt normative Eindeutigkeit schaffen will, also von einer sehr grundlegenden Frage, die eigentlich nicht nur die Worttrennung betrifft, sondern so gut wie alle Bereiche des deutschen Schriftsystems. Entsprechendes gilt auch für Wörter wie Nation, Portier und speziell, bei denen die Beschränkung *KOMPLEX-K die Trennung hinter dem i ermöglicht.

2.4.2 Trennsegmente, Silben und Wörter Fassen wir ein wenig zusammen. Der Grundgedanke, der meinen Überlegungen in diesem Kapitel zugrunde lag, war, dass man die Worttrennung so beschreiben kann, dass man Beschränkungen für die abgetrennten Bestandteile links und rechts vom Trennstrich formulieren kann. Diese Beschränkungen für Trennsegmente sind mit den Beschränkungen für Silben vergleichbar (sie sind grundsätzlich verletzbar und bilden eine Ordnung) und können wie die Beschränkungen für Silben in zwei Gruppen eingeteilt werden. Zum einen gibt es Beschränkungen für die Struktur der Trennsegmente (ΝΟΚ, * K O M P L E X - K , KONS-L, *KOMPLEX-L) und zum anderen Korrespondenzbeschränkungen für die Beziehungen zwischen den Trenn Segmenten und anderen Einheiten (IDENT-TRS, VERANKER-PW, ANZAHL, R Ä N D E R , ZUS-K, V E R A N K E R - T R S ) .

Ist dieser Grundgedanke richtig, liegt es nahe, Trennsegmente als schriftliche Gegenstücke zu den Silben aufzufassen, das heißt als orthographische Silben oder Schreibsilben. Diese Auffassung, dass Worttrennung im Grunde nichts anderes ist als Trennung zwischen orthographischen Silben, findet sich schon in Nunn (1998) und auch in Primus (2003). Man muss dann jedoch achtgeben, dass man eine orthographische Silbe nicht einfach als eine Folge von Buchstaben definiert, die abgetrennt werden darf. Wenn es so etwas wie orthographische Silben gibt, muss man zeigen, dass orthographische Silben ohne Bezug auf die Worttrennung definiert werden können und dass es neben der Worttrennung auch andere Phänomene in der Schriftsprache gibt, die sich auf orthographische Silben beziehen. In Badecker (1996), Ward und Romam (2000), Ventura et al. (2001) und Nottbusch et al. (2005) finden sich unterschiedliche Daten aus der Schriftsprachverarbeitung und -produktion, die die Annahme von othographischen Silben empirisch zu stützen scheinen. Dass orthographische Wörter wie phonologische Wörter aus Silben bestehen, ist unter anderem deswegen attraktiv, weil wir dann die Wohlgeformtheit orthographischer Wörter wie die Wohlgeformtheit phonologischer Wörter über die Wohlgeformtheit ihrer Silben

72 herleiten könnten und diese orthographischen Silben die Domäne der graphotaktischen Regeln bildeten. 3 ' Das hat schon Badecker (1996, 60) so formuliert: T h e n o t i o n o f o r t h o g r a p h i c syllable that I a m enlisting here derives from the observation that the o r t h o g r a p h i c well-formedness o f a word can be stated in terms o f the organization o f the graphemes within a f o r m . In particular, I a m suggesting that c o n s o n a n t s (or c o n s o n a n t clusters) are grouped with a d j a c e n t vowels to form representational units analogous to p h o n o l o g i c a l syllables, and that a well-formed o r t h o g r a p h i c word is any sequence o f well-formed o r t h o g r a p h i c syllables. W h i c h sequences o f c o n s o n a n t s and vowels make up well-formed syllable-initial (or syllablefinal) sequences can be determined by e x a m i n i n g the allowable word-initial C*V :: " (or word-final V*C : : ") sequences.

Doch die Daten in den Experimenten von Nottbusch et al. (2005) zeigen auch, dass man sich davor in Acht nehmen sollte, die orthographischen Silben mit Trennsegmenten gleichzusetzen. Wie unter anderem in Will et al. (2003) ausführlich gezeigt wird, ist beim Tippen von Wörtern in eine Tastatur vor einer Silbe eine größere Verzögerung zu beobachten, und Nottbusch et al. (2005) haben dieselben Muster wie bei Hörenden auch bei Gehörlosen nachweisen können. Da es unplausibel ist anzunehmen, dass Gehörlose dieselben phonologischen Repräsentationen haben wie Hörende, liegt es nahe, dass es sich nicht um die Verzögerung vor einer phonologischen Silbe handelt, sondern um die Verzögerung vor einer orthographischen Silbe. Man findet allerdings, wie mir Guido Nottbusch mitgeteilt hat, bei Pseudowörtern wie Moste, die Hörende unterschiedlich silbifizieren, dieselben Unterschiede auch bei Gehörlosen: Bei einem Teil findet man die Verzögerung vor st (Mo | ste), bei einem anderen Teil zwischen st (Mos\te). Wenn alle orthographischen Silben mit höchstens einem Konsonantgraphem beginnen sollen, sollte eine Verzögerung vor st eigentlich nicht zu beobachten sein. Etwas anders gesagt: Die Beschränkung *KOMPLEX-L, die wir oben eingeführt haben, ist wohl tatsächlich eine Beschränkung für die Worttrennung und keine Beschränkung für orthographische Silben. Worttrennung ist nicht einfach Trennung von orthographischen Silben. Dass man die Worttrennung nicht auf die orthographischen Silben reduzieren kann, zeigt aber auch schon ein Beispiel, das Badecker selbst erwähnt, und zwar page. Dieses Wort, das phonologisch einsilbig ist (jedenfalls nach traditionellen Vorstellungen), besteht aus zwei orthographischen Silben, pa und ge. Wenn man zwischen orthographischen Silben trennen kann, sollte also die Trennung pa—ge korrekt sein. Das ist sie aber nicht. Das heißt, bei page entsprechen die orthographischen Silben nicht Trennsegmenten. Man kann die Trennung von page auf verschiedene Arten verhindern, zum Beispiel durch eine Beschränkung wie ANZAHL oder durch eine Beschränkung, die verhindert, dass Marker von dem getrennt werden, was sie markieren (Carney 1994, 78). Doch das sind genuine Trennungsbeschränkungen und keine Beschränkungen für orthographische Silben. Auch wenn

In der P h o n o l o g i e ist inzwischen übrigens verschiedentlich vorgeschlagen worden, dass m a n mögliche und u n m ö g l i c h e Lautfolgen auch o h n e den Bezug auf Silben beschreiben k a n n (dazu neben anderen L a m o n t a g n e 1 9 9 3 , Steriade 1999 und Blevins 2 0 0 3 ) .

73 man die Worttrennung auf orthographische Silben basiert, kommt man um weitere Worttrennungsbeschränkungen also nicht herum. Es gibt aber noch einen stärkeren Einwand gegen die Gleichsetzung von Trennsegmenten und orthographischen Silben. Gibt es orthographische Silben, dann unterliegen sie Beschränkungen, die wie die Beschränkungen für phonologische Silben nicht explizit festgehalten sind und nur eine interne, unbewusste Norm darstellen. Wie wir Wörter trennen sollen und welche Form entsprechend die Trennsegmente haben sollen, hängt hingegen von kodifizierten Regeln ab, von einer expliziten Norm, die schriftlich in der amtlichen Regelung und im dazugehörigen Wörterbuchteil festgelegt ist. Bei der Rechtschreibreform ist diese explizite Norm für die Worttrennung verändert worden, aber nicht die Struktur der orthographischen Silben. Die Struktur orthographischer Silben können wir nicht verändern. Wenn überhaupt kann man also die Worttrennung nur indirekt auf die orthographischen Silben beziehen, derart, dass die Worttrennungsregeln so formuliert werden sollen, dass die Trennsegmente möglichst orthographischen Silben entsprechen (von Ausnahmen wie page und verschiedenen anderen abgesehen). Wenn wir noch einmal auf die beiden Beschränkungen νοκ und R Ä N D E R zurückkommen, ist jedoch eigentlich eine andere Bezugnahme naheliegender, und zwar eine Bezugnahme auf orthographische Wörter. Die beiden Beschränkungen νοκ und R Ä N D E R sollen sicherstellen, dass die Trennsegmente orthographischen Wörtern entsprechend, die im Deutschen alle ein Vokalgraphem enthalten und bestimmte wohlgeformte Ränder haben. Dass nach der letzten Änderung der amtlichen Regelung von 2006 Wörter wie Abend und Ofen nicht hinter mehr hinter Α und Ofen getrennt werden sollen, hat nichts mit orthographischen Silben zu tun, sondern mit orthographischen Wörtern, die im Deutschen aus mindestens zwei Buchstaben bestehen. Anders als beispielsweise im Englischen gibt es im Deutschen keine orthographischen Wörter, die aus nur einem Buchstaben bestehen (man vergleiche Kohrt 1988, 146f. und ausführlicher Ramers 1998). Es scheint, dass Trennsegmente nicht mögliche orthographische Silben, sondern mögliche orthographische Wörter sein sollen, was zu der Beobachtung passt, dass getrennte Wörter so gelesen werden, als seien der Teil vor dem Trennstrich am Ende der einen Zeile und der Teil am Anfang der anderen Zeile zwei Wörter (dazu im nächsten Kapitel mehr).

3

Wie getrennte W ö r t e r gelesen werden

Die Worttrennungsregeln sind wie die Regeln in den anderen Bereichen der O r t h o g r a p h i e als Regeln für Schreiberinnen und Schreiber konzipiert, nicht als Regeln für Leserinnen und Leser. Sie legen fest, welchen Regeln m a n folgen muss, um W ö r t e r im Deutschen orthographisch korrekt zu trennen. Deshalb nehmen die Worttrennungsregeln auch auf die Silben Bezug, die von den Schreiberinnen und Schreibern vergleichsweise einfach zu identifizieren sind, jedenfalls einfacher als etwa M o r p h e m e . Allerdings werden getrennte Wörter nicht nur geschrieben, sondern auch gelesen.

3.1

Die traditionellen Vorstellungen

M a n findet zwar verschiedene Annahmen über das Lesen von getrennten W ö r t e r n . Die Korrektheit dieser Annahmen wird jedoch gewöhnlich ohne genauere Uberprüfung stillschweigend vorausgesetzt, man verlässt sich auf intuitive Einschätzungen, nicht auf empirische Untersuchungen. 1 So scheint es auf den ersten Blick zwar sehr plausibel zu sein, dass man W ö r t e r so trennen soll, dass das Lesen durch die Trennung so wenig wie möglich behindert wird und ihre Bedeutung trotz der Trennung eindeutig und möglichst schnell erfasst werden k a n n . D o c h m a n weiß bisher nur sehr wenig darüber, wie das Lesen durch die Worttrennung beeinflusst wird und wie sich unterschiedliche Arten der Trennung auf das Lesen und die weitere Verarbeitung der getrennten W ö r t e r auswirken. Empirische Befunde zum Lesen getrennter W ö r t e r gibt es k a u m . Wenn die Erfassung der Bedeutung durch die Trennung möglichst wenig behindert werden soll und die M o r p h e m e die kleinsten Einheiten der Sprache sind, die eine Bedeutung haben, liegt es nahe, dass Trennungen an M o r p h e m g r e n z e n am besten zu lesen sind. D e n n wird an M o r p h e m g r e n z e n getrennt, bleiben die M o r p h e m e , aus denen sich die W o r t bedeutung ergibt, ungetrennt und gut erkennbar. Diese Überlegung, dass die Trennung an einer M o r p h e m g r e n z e am wenigsten stört, ist ganz geläufig und findet sich unter anderem auch in einem früheren Vorschlag zur Neuregelung der Worttrennung, wo es heißt: „Bei zusammengesetzten Wörtern und W ö r t e r n mit Präfix sind im allgemeinen die Trennstellen zwischen den bedeutungstragenden Einheiten zu bevorzugen." (Die Rechtschreibung des 1

So behauptet Munske (2005, 115): „Trennungen wie a-bendlicb, inte-res-sant, ei-nan-der, hinab, vol-lenden [...] stören das Verständnis, da der Leser aus diesen abgehackten ersten Wortstücken keine sinnvolle Hypothese für die Vervollständigung des Wortes auf die nächste Zeile bilden kann. Anders wäre dies bei folgenden Trennteilen: abend-lich, inter-essant, ein-ander, hin-ab, voll—enden." Leider bleibt auch er einen Nachweis schuldig. Und wenn man wie Munske die Reform der Worttrennung am Zeilenende als „beispielhafte Fehlorientierung" bezeichnet, sollten wenigstens die Fakten stimmen: Ga-blung und knus-prig sind, anders als Munske meint, falsche Trennungen, sowohl nach der alten als auch nach der neuen Regelung.

76 Deutschen 1985, 143). Es ist allerdings zu bedenken, dass eine solche Trennung nur bei morphologisch komplexen Wörtern in Frage kommt; morphologisch einfache Wörter können ja per definitionem nicht nach Morphemen, sondern nur nach Silben getrennt werden. Wenn man eine durchgängig morphologische Worttrennung will, müsste man dann solche morphologisch einfachen Wörter ungetrennt lassen. Man beachte, dass in dem zitierten Vorschlag zur Neuregelung nur von zusammengesetzten Wörtern und Wörtern mit Präfix die Rede ist, nicht aber von Wörtern mit Suffix. Von besonderem Interesse bei den Wörtern mit Suffix ist immer das Superlativsuffix —st gewesen. Kohrt (1992, 217ff.) hat dafür plädiert, morphologische Grenzen bei der Trennung zu berücksichtigen und reiste zwischen s und t als reis—te und schönste vor st als schön—ste trennen zu dürfen (vergleiche dazu auch Äugst 1997, 264). Abgesehen davon, dass auch Kohrt keinerlei empirische Befunde anführt, die belegen, dass morphologische Trennungen vorzuziehen sind, zeigt der Blick auf den Komparativ, dass möglicherweise auch andere Faktoren eine Rolle spielen. Wenn es für das Lesen so wichtig ist, das Superlativsuffix —st nicht zu trennen, warum ist es dann nicht genau so wichtig, das Komparativsuffix —er wie in schöneren nicht zu trennen (schön-er—en) ? Oder anders gefragt: Wenn es anscheinend überhaupt keine Schwierigkeiten macht, das Komparativsuffix in schö—ne— ren zu erkennen, warum sollte es dann Schwierigkeiten machen, das Superlativsuffix in schöns—te zu erkennen? Was für die Trennung des Superlativsuffixes —st relevant ist, ist meines Erachtens die Graphotaktik. Wenn wir schöneren vor r trennen und schönsten vor st, sieht das erste Trennsegment (schöne bzw. schön) wie eine Adjektivform aus. Trennen wir hingegen schönste hinter s, erhalten wir keine Adjektivform als erstes Trennsegment, denn 5 in schöns ist kein Suffix in der Adjektivflexion. Der Grund dafür, warum Trennungen wie schöns—ten und kühls—ten so befremdlich sind, ist dann nicht die schlechte Erkennbarkeit des Superlativsuffixes st, sondern der Endrand des ersten Trennsegments. Meines Wissens ist bisher nur von Nas (1988) an niederländischen Beispielen systematisch untersucht worden, ob nach Morphemen getrennte Wörter wirklich schneller gelesen werden als nach Silben getrennte Wörter. In seinem zweitem Experiment mussten die Versuchspersonen Wörter auf einem Monitor identifizieren, die entweder ungetrennt waren oder getrennt. Die getrennten Wörter waren dabei so über den Monitor verteilt, dass der erste Wortteil in der rechten Monitorhälfte erschien und der zweite Wortteil kurz danach eine Zeile weiter unten in der linken Monitorhälfte. Die Trennstelle war eine Morphemgrenze (und dann oft auch eine Silbengrenze) oder nur eine Silbengrenze. Aufgabe der Versuchspersonen war es, das jeweilige Wort zu lesen und die Leertaste zu drücken, sobald sie es erkannt hatten. Nas konnte in diesem Experiment zwar einen signifikanten Unterschied zwischen dem Lesen von ungetrennten und getrennten Wörtern beobachten, aber keinen signifikanten Unterschied zwischen beiden Trennungsarten, etwa derart, dass Wörter, die an Morphemgrenzen getrennt sind, schneller erkannt werden als Wörter, die an Silbengrenzen getrennt sind. Es scheint also für die Worterkennung wider Erwarten keine Rolle zu spielen, ob ein morphologisch komplexes Wort nach Morphemen getrennt wird oder nach Silben. Äugst (1997) hat allerdings darauf aufmerksam gemacht, dass man bei der Frage, wie getrennte Wörter gelesen werden, unterscheiden sollte zwischen dem Lesen von isolierten einzelnen Wörtern und dem Lesen von Texten, weil die Worttrennung normalerweise nur

77 in Texten auftritt. Ich habe deshalb ein Experiment konzipiert, in dem anders als bei Nas die getrennten Wörter nicht isoliert zu lesen waren, sondern in größeren Texten, also in einer normalen Umgebung. Um die Leseverzögerungen, die durch die Trennung verursacht werden, möglichst genau erfassen zu können und gleichzeitig den Versuchspersonen eine natürliche Aufgabenstellung zu bieten, habe ich dieses Experiment als Augenbewegungsexperiment konzipiert, bei dem die Bewegungen der Augen beim Lesen getrennter Wörter gemessen wurden. Wie sich die Augen bewegen, wenn sie getrennte Wörter lesen, ist meines Wissens bisher noch nicht untersucht worden. Es gibt noch ein anderes Phänomen bei der Worttrennung, bei der die Untersuchung von Blickbewegungen beim Lesen Aufklärung bringen kann, und zwar die so genannten irreführenden Trennungen wie in (1). (1)

Altbauer—haltung, bein—halten, beste—hende, Elbe-bene, Fahrer-laubnis, Spargel— der, Nonnenklo—ster, Sprecher-ziehung, Textil—lustration

Zu solchen Trennungen heißt es explizit in §107 der amtlichen Regelung: „Irreführende Trennungen, die beim Lesen die Sinnerfassung stören, sollten vermieden werden". Es wird bisweilen moniert, dass es sich dabei nur um eine Empfehlung handelt und nicht um eine verbindliche Regel und irreführende Trennungen deshalb nicht als orthographische Fehler zu bewerten sind. Das kann aber gar nicht anders sein. Orthographische Fehler sind falsche Schreibungen, beziehen sich also auf das Schreiben. Bei den irreführenden Trennungen geht es hingegen nicht um das Schreiben, sondern um das Lesen. Deshalb können irreführende Trennungen auch nicht orthograpische Fehler sein, sondern, wenn überhaupt, nur Störungen des Leseprozesses. Empirische Untersuchungen zu den irreführenden Trennungen gibt es überhaupt noch nicht; die Behauptung, dass solche Trennungen den Leseprozess behindern, stützt sich bisher lediglich auf Selbstbeobachtungen beim Lesen. Äugst (1997) merkt an, dass diese Trennungen in Texten vielleicht gar nicht so irreführend sind, weil durch den Kontext, in dem die Trennung dann steht, die abwegige Lesart nicht in Betracht kommt. Die irreführenden Trennungen erinnern an die Garden-Path-Effekte in der Syntax, bei denen eine erste syntaktische Analyse revidiert werden muss zugunsten einer anderen syntaktischen Analyse. So wird in dem Satz Since Jay always jogs a mile seems like a short distance to him die Phrase a mile fälschlicherweise zuerst als Objekt von jogs verstanden, bevor dann seems gelesen wird und sich herausstellt, dass a mile nicht das Objekt von jogs, sondern das Subjekt von seems ist. Es könnte sein, dass etwa bei der Trennung Fahrer-laubnis in vergleichbarer Weise zuerst fälschlicherweise das Nomen Fahrer gelesen wird, dann aber, wenn in der nächsten Zeile laubnis gelesen wird, eine Revision erforderlich ist. Irreführende Trennungen wären dann nichts anderes als Garden-Path-Effekte in der Schreibung. Für die syntaktischen Garden-Path-Effekte haben Frazier und Rayner (1982) gezeigt, dass die erste Fixation auf dem Wort seems, das zur Revision der Analyse führt, signifikant länger ist als etwa auf dem Wort this im Satz Since Jay always jogs a mile this seems like a short distance to him. Entsprechend liegt die Annahme nahe, dass bei irreführenden Trennungen wie Fahrer-laubnis die erste Fixation auf dem zweiten Teil laubnis signifikant

78 länger ist als auf dem zweiten Teil erlaubnis bei der nicht-irreführenden Trennung Fahrerlaubnis. Um diese Annahme zu überprüfen, habe ich ein zweites Experiment konzipiert, in dem irreführende und nicht-irreführende Trennungen in größeren Texten zu lesen waren.

3.2

Zwei Experimente

Bevor ich genauer auf die beiden Experimente zu sprechen komme, will ich zuvor noch einige wichtige Begriffe einführen, die grundlegend sind für die Beschreibung der Augenbewegungen beim Lesen. Ich werde mich dabei auf die Aspekte beschränken, die für das Verständnis der folgenden Ausführungen unabdingbar sind (siehe Radach und Kennedy 2004 und Rayner 1998 für einen sehr gründlichen und ausführlichen Uberblick).

3.2.1 Augenbewegungen beim Lesen Die Augen bewegen sich beim Lesen nicht gleichmäßig, sondern in ruckartigen Bewegungen über die Zeile. Diese sehr schnellen ruckartigen Bewegungen werden Sakkaden genannt und sind etwa 20 bis 80 ms lang; sie erstrecken sich im Durchschnitt über 7 bis 9 Buchstaben. Während der Sakkaden wird keine neue Information aufgenommen, die Verarbeitung bereits aufgenommener Informationen geht aber weiter. Die Sakkaden dienen dazu, die Sehachse so auszurichten, dass neuer Text in den Bereich des schärfsten Sehens gelangt, in den fovealen Bereich. Man unterscheidet gewöhnlich zwischen progressiven Sakkaden, die im Deutschen von links nach rechts laufen, und regressiven Sakkaden, die im Deutschen entgegen der Leserichtung von rechts nach links laufen. Diese regressiven Sakkaden sind kürzer und erstrecken sich im Durchschnitt über 4 bis 5 Buchstaben, ihr Anteil liegt je nach Leser, Aufgabe und Text bei 10 bis 15 Prozent oder höher. Eine besondere Art von regressiver Sakkade, die im Zusammenhang mit der Worttrennung wichtig ist, ist der Zeilenrücksprung. Der Zeilenrücksprung ist eine lange Sakkade vom Ende einer Zeile zum Beginn der nächsten Zeile. Solche Zeilenrücksprünge sind oft zu kurz und landen nicht an der richtigen Position, so dass weitere regressive Korrektursakkaden notwendig werden (Heller 1982, Hofmeister et al. 1999). Unterbrochen werden die Sakkaden durch so genannte Fixationen, bei denen sich das Auge so gut wie nicht bewegt und Informationen aus dem Text aufnimmt. Die Dauer der Fixationen liegt zwischen 70 und 600 ms mit einem Durchschnittswert von 220 bis 250 ms. Sie machen etwa 80 bis 90 Prozent der Lesezeit aus. Die jeweils erste Fixation auf einem Wort wird auch als initiale Fixation bezeichnet. In einem Text werden beim Lesen nicht alle Wörter fixiert, vor allem Funktionswörter werden häufig übersprungen. In den beiden folgenden Abbildungen, die aus dem ersten Experiment stammen, sind die Fixationen mit einem Punkt markiert und die Sakkaden mit einem Strich.

79 ES LSp^rftew.'n-fttei.i-MJit., ufflESü¥tÖfri"iirt.-6~5.ihi. agr-tng-'ins

"•wtftfrirv-cfrr~TfenTrt&r ärV^^efr-rte,'-*ΐΒαι t ände

ä^tRjri .r^iirTiiäliTträ^S'täciTeii 'McniijiP jjiJltUJümag^^fe}iitä»a)g3gtJIrtp-rm jjx« But.. iSt

£TTSFrPlii3* Letter ^atHTr^iierPLi^rrir "fiJV Scpt'gs.

Diese Abbildung zeigt, dass Zeilensprüngen oft Korrektursakkaden an den Zeilenanfang folgen. Die lange Sakkade vom Ende der dritten Zeile hin zum Anfang der vierten Zeile landet auf dem vierten Buchstaben des zweiten Wortteils von But—terbrot, b. Es folgt eine kleine regressive Sakkade an den Zeilenanfang, bevor nach einer weiteren Refixationssakkade dieser zweite Wortteil verlassen wird. Nach der Fixation von und folgt dann noch ein zweiter Blick auf diesen zweiten Wortteil, so dass das getrennte Kompositum But—terbrot insgesamt fünfmal fixiert wird. In der folgenden zweiten Abbildung, die das Lesen eines Textes ohne Worttrennungen zeigt, gibt es am Anfang der vierten Zeile keine regressiven Sakkaden. E s i

ä»®'. Ι üftian ^ ΐΐΛί-π.έτΗτ-π-Γι^

tin Hah. -wrm κ WKfc« - •fjeUfrban. ^ un

ur, TtcsS^jjpAf. ^ ι ^ ^ ^ & Ρ ^ Γ ^ ^ Μ ^ ^ ' - ί ^ . · - - ^ itefe·! «st-, jh^jjaft^haa-SS&dteB Φ 4.ri:ciB ι u e o a n J G a e e i s « ä i d ^ f

mc