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German Pages 120 Year 2018
Achim Geisenhanslüke Wolfsmänner
Literalität und Liminalität | Band 22
Achim Geisenhanslüke
Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur
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Inhalt
Einleitung | 7
I. Das Märchen vom bösen Wolf | 15 1. Der böse Wolf im Märchen | 15 2. Böse Wölfe in der Fabel | 20 3. Mythos Wolf | 24
II. Wölfe im Land der Literatur | 29 1. Goethe, die Zigeuner und die Wölfe. Götz von Berlichingen | 29 2. Schillers Wolfsmann. Die Geschichte des Sonnenwirtes | 31 3. Die Wölfe und die verletzte Ehre. Brentanos Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl | 34 4. Graue Wölfe – graue Häuser. Theodor Storms Aquis submersus und Zur Chronik von Grieshuus | 36 5. Wolfsjagd bei Adalbert Stifter. Brigitta | 41 III. Freud und die Wolfsmänner | 45 1. Wölfe und Hunde. Brehms Tierleben | 45 2. Der Wolfsmann | 48 3. Freud, die Wölfe und die Psychoanalyse | 53 4. Werwölfe im Film | 58 5. Unter Wölfen. The Wolf Man | 61
IV. Wolfsmänner bei Hesse und Canetti | 67 1. Arme Wölfe bei Hermann Hesse | 67 2. Canetti und Freud | 71
3. 4. 5. 6.
Der kleine Elias | 74 Schauergeschichten. Wölfe auf der Donau | 76 Die Wolfsmaske und der Vater | 81 Anthropologie des Kannibalismus. Masse und Macht | 83 7. Zeugenschaft der Wölfe | 87
V. Caput lupinum. Literatur und Politik der Wölfe bei Deleuze/Guattari, Kipling und London | 93 1. Wölfe und Hunde. Mille plateaux und die Kritik der Psychoanalyse | 93 2. Giorgio Agambens Homo Sacer und der Werwolf | 96 3. Kiplings Wolfsjunge | 98 4. Wölfe und Hunde bei Jack London. White Fang | 102 5. Politik der Literatur – Politik der Wölfe | 105 Epilog: Vom Glück der Wölfe | 109 Literaturverzeichnis | 113
Einleitung
In seinem Schelmenroman Satyricon lässt Petronius den ehemaligen Sklaven Niceros, der die Lust am Zechen verloren zu haben scheint, von einer unheimlichen Begegnung berichten. Gemeinsam mit einem Soldaten ist er auf dem Weg zu einem Gasthaus, als beide an einem Friedhof anhalten. Dort geschehen ungeheuerliche Dinge: Wie ich mich aber nach meinem Gefährten umsehe, da hat er sich ausgezogen und alle seine Kleider an den Straßenrand gelegt. Na, mir blieb beinahe die Puste weg: ich stand da wie eine Leiche. Der pißte um seine Kleider herum, und im Nu hatte er sich in einen Wolf verwandelt. Glaubt nicht, daß das ein Witz ist; um kein Geld der Welt möchte ich eine Lüge erzählen. Also, wie ich schon gesagt habe, er wurde ein Wolf, dann fing er an zu heulen und rannte in den Wald hinein.1
Die seltsame Geschichte ist damit noch nicht zu Ende. Als der Erzähler bleich vor Schrecken am Gasthaus ankommt, informiert ihn seine Freundin darüber, dass ein Wolf in den Gasthof gekommen sei und alles Vieh gerissen habe, dabei aber von einem Knecht am Hals verletzt worden sei. Zu Hause erwartet ihn eine weitere Überraschung: »Wie ich aber nach Hause komme, da liegt mein Soldat steif im Bett, steif wie ein Ochs, und ein Arzt behandelt seinen Hals. Ich sah also wohl, daß er ein Werwolf war, und konnte mit ihm danach nie wieder ein Stück Brot brechen,
1 | Petron, Satyricon. Ein römischer Schelmenroman. Übersetzt und erläutert von Harry C. Schnur, Stuttgart 1968, S. 72.
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selbst ums Verrecken nicht.«2 Petronius’ kurze Erzählung vom Werwolf zählt nicht allein zu den frühesten literarischen Berichten über die Verwandlung des Menschen in einen Wolf und die Rückverwandlung des Wolfes in einen Menschen. Er hat zugleich an den Mechanismen teil, die den Umgang mit den Wölfen in der Kulturgeschichte des Menschen über lange Zeit bestimmten. Als Werwolf legt der Soldat zunächst all seine Kleider und damit die Insignien des zivilisierten Lebens ab, um sich danach ganz seiner animalischen Gier nach Blut hinzugeben. Die Verletzung, die er als Wolf erhalten hat, behält er auch als Mensch und flößt gerade darum seinem Kameraden einen unüberwindbaren Schrecken ein. Fortan gilt er für ihn nicht mehr als Mensch, mit dem er das Brot teilen könnte, sondern als ein unheimliches Wesen, das aufgrund seiner hybriden Natur aus dem Bereich des Humanen herausfällt. Der Wolf im Menschen lässt eine soziale Gemeinschaft zwischen Wolf und Mensch nicht zu. Die Erzählung des Petronius deutet mit der Attacke des Knechts gegen den angreifenden Wolf bereits an, wie die europäische Zivilisation mit der verfemten Figur des Wolfes umgegangen ist. Die Geschichte der Wölfe in Europa, und nicht nur dort, ist die Geschichte einer lang anhaltenden Verfolgung, die beinahe bis zur vollständigen Ausrottung geführt hat. Wie hartnäckig der Impuls ist, den Wolf als einen Schädling zu betrachten, den es am besten umstandslos zu töten gilt, zeigt sich an seiner in den letzten Jahrzehnten zu beobachtenden allmählichen Rückkehr in den zentraleuropäischen Lebensraum. Sobald der Wolf in Deutschland, Frankreich, Italien oder Spanien wieder auftaucht, erheben sich Stimmen der Betroffenen, die seinen sofortigen Abschuss fordern. Die in den Feuilletons der großen Tageszeitungen häufig verbreitete Schlagzeile, dass der Wolf in Europa zurück sei, wird ebenso regelmäßig von Berichten über den ›versehentlichen‹ Abschuss eines Tieres begleitet. Die Bauern, die um ihr Vieh fürchten, sind sich einig, dass der Lebensraum des Wolfes mit dem des Menschen unvereinbar ist. Für den Menschen scheint der Wolf eine einzige Bedrohung darzustellen, gegen die sich die2 | Ebd., S. 73.
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ser nur durch entschlossene Gegenwehr wappnen kann. Gerade die europäischen Länder, die aufgrund ihrer traditionsreichen Geschichte für sich beanspruchen, Hüter der Zivilisation zu sein, sperren sich hartnäckig gegen den Wiedereinzug der Wölfe in ihren Lebensraum. Die Frage, die sich vor diesem Hintergrund stellt, ist die, wie es überhaupt zu dieser bemerkenswerten Situation kommen konnte. Sie ist sicher nicht leicht zu beantworten. Dennoch gibt es einige Hinweise auf die Gründe der lang andauernden Feindschaft zwischen Mensch und Wolf. Aus evolutionsgeschichtlicher Sicht sind sie zunächst Konkurrenten um die identischen Futterreserven gewesen. Das zeigt auch eine kleine Episode in Cervantes’ Tiernovelle Gespräch zwischen Cipión und Berganza, in der Berganza Cipión von seiner zeitweiligen Tätigkeit als Hirtenhund berichtet, der trotz gewaltiger Anstrengungen nichts gegen die Angriffe der Wölfe unternehmen kann, bis er entdeckt, dass nicht die Wölfe die Schafe reißen, sondern die Schäfer selbst: »Ich war betreten und sah mit Staunen, daß die Schäfer selbst die Wölfe waren, und daß die, die die Herde hüten sollten, sie zugrunde richteten.«3 In ihrer Funktion als Fleischfresser sind die Positionen von Mensch und Wolf austauschbar. Die Verfolgung des Wolfes setzt eine lange Zeit der Koexistenz voraus, die sich durch die bereits in der Eiszeit erfolgte Zähmung des Wolfes noch verkompliziert hat. Denn fortan existiert der Wolf in einer doppelten Gestalt: als gezähmtes Haustier und als wilder Räuber, der den Menschen bedroht. Die Spaltung des Urwolfes in Hund und Wolf hat dazu geführt, dass der eine Teil idealisiert, der andere Teil hingegen verteufelt wurde. Der Wolf ist zum Gegenstand einer simplen Projektion geworden: Alle schlechten Eigenschaften des Tieres sind auf ihn übertragen worden, die guten hingegen auf den häuslichen Freund, den beschützenden Hund. Die Positionen von Freund und Feind sind so eindeutig verteilt. Ausgeblendet werden konnte damit etwa das ausgeprägte Familienleben des
3 | Miguel de Cervantes, Novellen. Aus dem Spanischen von Konrad Thorer, Frankfurt a.M. 1987, S. 561.
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Wolfes, dessen Rudelverhalten wie Anpassungsfähigkeit in mehr als einer Hinsicht an das soziale Gefüge des Menschen erinnert.4 So kann es nicht verwundern, dass der Wolf in der Geschichte der europäischen Zivilisation zum Gegenstand einer erbarmungslosen Verfolgung geworden ist, die seinen Bestand bis aufs Äußerste dezimiert hat. Der evolutionäre Erfolg der Spezies Mensch ist an dieser Entwicklung nicht unschuldig: Nachdem der Mensch seinen Lebensraum erweitern konnte, sich vom konkurrierenden Jäger und Sammler zum Bauern und Hirten gewandelt hat, ist die Bedrohung durch den Wolf noch gewachsen. Denn in dem Maße, in dem ihm durch die Kultivierung des Landes weniger Wild zur Verfügung stand, konzentrierte sich das Jagdinteresse des Wolfes auf die von den Hirten und Hunden bewachten Herden. Die unmittelbare Folge war eine Verfeinerung der Wolfsjagd durch Fallgruben, Netze u.a., wie sie seit dem Mittelalter in vielen Texten und Darstellungen zu beobachten ist. In organisierten und immer mehr professionalisierten Wolfsjagden wurden die Tiere verfolgt und zu Tode gehetzt. In der Zeit um 1800 war der Bestand der Wölfe bereits so weit dezimiert, dass eine reale Bedrohung, ohnehin häufig eine Erfindung, die die Vertreibung der scheuen Tiere rechtfertigen sollte, von ihnen kaum noch ausgehen konnte. Die Geschichte der Konkurrenz zwischen Wolf und Mensch ist aber nur die eine Seite der Medaille. Ihre andere ist die bereits angedeutete kulturelle Nähe.5 Das Zusammenleben in einer Art Großfamilie, die gemeinsame Aufzucht der Jungen, die Anpas4 | Der Verhaltensforscher Erik Zimen spricht in diesem Zusammenhang von dem »endgültigen Sieg des Stärkeren bei dem jahrtausendealten Konkurrenzkampf zwischen Mensch und Wolf«. Erik Zimen, Der Wolf. Mythos und Verhalten, München 1978, S. 10. Er hebt dabei »die ähnliche soziale Organisationsform des Wolfes und des Menschen« hervor. Ebd., S. 33. Mit einer wachsenden Überschneidung der Lebensräume habe sich eine Konfrontation ergeben, innerhalb derer der Wolf zunehmend als »Objekt von Projektionen menschlicher Ängste« erschienen sei. Ebd., S. 274. 5 | Vgl. die Untersuchung von Petra Ahne, Wölfe. Ein Portrait, Berlin 2016.
Einleitung
sungsfähigkeit und ihre weite Verbreitung auf allen Teilen der Erde von der Wüste bis zur Arktis verbinden Wolf und Mensch viel eher, als dass sie sie voneinander trennen würden. Das hat dazu geführt, dass der Wolf in der Kulturgeschichte des Menschen nicht allein als Bedrohung auftaucht, sondern auch als dessen mächtiger Begleiter, am deutlichsten sichtbar vielleicht in der Geschichte von Romulus und Remus, den Gründern Roms, die dem Mythos zufolge von einer Wölfin gesäugt und aufgezogen worden sollen seien. Das Herz der europäischen Zivilisation scheint sich einer hybriden Familienbildung zu verdanken, die sich rhetorisch wie ein Chiasmus zu der Aufzucht und Zähmung des Wolfes zum Hund durch den Menschen verhält: So wie junge Wölfe durch das Säugen menschlicher Frauen zu zahmen Haustieren wurden, so finden die menschlichen Jungen in der Wölfin eine Ersatzmutter, die sie dazu befähigt, den Mythos Rom zu begründen. Der Wolf existiert in der europäischen Zivilisation so auf doppelte Art und Weise: am Rande und im Zentrum zugleich. Dieser doppelten Position des Wolfes entspricht seine gespaltene Wahrnehmung in der Geschichte. Auf der einen Seite erscheint er als wilder Räuber, der dem Menschen Angst einflößt, auf der anderen Weise als Verkörperung einer Ursprungsmacht, die dem Menschen Bewunderung abverlangt. Die Kulturgeschichte des Wolfes schwankt zwischen Angst und Faszination, zwei Affekten, die das ambivalente Bild des Wolfes für den Menschen spiegeln. »Wie kein anderes Tier in unserem Kulturkreis löst der Wolf gleichzeitig Angst und Schrecken wie Faszination und Bewunderung aus«, hält der Verhaltensforscher Erik Zimen fest.6 Die kulturellen Repräsentationen des Wolfes tragen dieser Ambivalenz Rechnung, indem sie das Raubtierhafte des Wolfes im Medium der Literatur oder des Horrorfilms mit beiden Eigenschaften ausstatten. Angst und Faszination gehen im Fall der literarischen oder filmischen Darstellung von Wolfsmännern Hand in Hand. Wo der Wolf als Naturwesen einen erbitterten Feind des Menschen darstellt, da fließen Mensch und Wolf in den kulturellen Figuren von Wolfsmännern bis zur Ununterscheidbarkeit 6 | Ebd., S. 279.
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ineinander. Die Geschichte des Ausschlusses des Wolfes aus der menschlichen Kultur wird von dem umgekehrten Prozess eines Einschlusses begleitet, der an kulturellen Figurationen wie Wolfsmännern, Werwölfen und anthropomorphisierten Wölfen in Märchen und Fabel deutlich wird. Die hier unternommene Studie geht dieser doppelten Geschichte des Wolfes in der Kultur im Folgenden nach, indem sie seine Repräsentation in der Literatur und im Film an einigen ausgewählten Beispielen näher untersucht. Das Ziel liegt nicht in einer möglichst vollständigen Erfassung der Darstellung von Wölfen in der Kulturgeschichte des Menschen.7 Die Studie legt den Schwerpunkt vielmehr historisch in den Bereich der Moderne und gattungspoetisch in den Bereich der erzählenden Literatur (und ergänzend den des Films), um der doppelten Manifestation des Wolfes zwischen den antagonistischen und zugleich miteinander vermittelten Extremen von Angst und Faszination nachzugehen. Die Prämisse der Untersuchung lautet dementsprechend, dass beides, Angst wie Faszination, strukturell zusammengehört und Teil eines kulturellen Archivs bildet, das es im Durchgang durch die Texte zu entschlüsseln gilt. Dass die Psychoanalyse in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle spielt, mag manchen Leser irritieren, verdankt sich jedoch der simplen Tatsache, dass in der Psychoanalyse nicht nur die wesentlichen Aspekte der Wolfsverfolgung- und verehrung thematisiert werden (etwa in den Begriffen der Projektion und des Totemismus), sondern dass es Sigmund Freud darüber hinaus gelungen ist, mit der Geschichte des Wolfsmannes selbst einen Mythos der Psychoanalyse im Zeichen des Wolfes zu begründen. Mit der Psychoanalyse und über diese hinaus stellt sich die Frage, inwiefern die Darstellungen des Wolfes in der Literatur und im Film ein kulturelles Unbewusstes verkörpern, das die Rationalisierungsprozesse der Moderne im Rahmen der Ausdifferenzierung von Politik, Ästhetik und Ethik begleitet. Dieser Problemstellung entsprechend fragt die Studie nach dem kulturellen Unbewussten, 7 | Vgl. Brian J. Frost, The Essential Guide to Werewolf Literature, Madison 2003 und Charlotte F. Otten, A Lycanthropy Reader. Werewolves in Western Culture, Syracuse 1986.
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das der Wolf verkörpert, im Medium des Märchens, der Fabel, der Erzählung, des Romans und des Films, darüber hinaus aber auch nach der Bedeutung, die der Wolf für Theoriebildungsprozesse in der Moderne gewinnen konnte – nicht nur bei Hobbes und Freud, sondern, in entschiedenem Widerspruch zur Psychoanalyse, auch bei Gilles Deleuze/Félix Guattari und Giorgio Agamben, Theoretiker, die sich mit dem Freudschen Phantasma der Urszene nicht zufriedengeben wollten. Die doppelte Verortung der Wolfsfiguren in Literatur, Film und politischer bzw. ästhetischer Theorie verbietet es der Studie zugleich, eine klare Grenzziehung zwischen Theorie und Literatur vorzunehmen. Die Wölfe zum Sprechen zu bringen, wie Freud es wenn auch mit zweifelhaftem Erfolg versucht hat, bedeutet keineswegs, selbst zum Wolf werden zu müssen, wie es Deleuze/Guattari im Rahmen ihrer Freudkritik fordern. Die hier unternommene Annäherung an den Wolf sucht die Mitte zwischen Angst und Faszination zu halten, um von dort aus einem kulturellen Phantasma nachzugehen, ohne dessen suggestiver Kraft zu verfallen.
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I. Das Märchen vom bösen Wolf 1. D er böse W olf im M ärchen Dem Wolf ergeht es im Märchen schlecht. Ihm wird der Bauch aufgeschnitten, er wird ertränkt, erschlagen und auf alle erdenkliche Art und Weise malträtiert. Gerade in der extrem vereinfachten Form des Märchens, das sich v.a. durch Eindimensionalität, Flächenhaftigkeit und abstrakten Stil auszeichnet,1 kann der Wolf – in ähnlicher Weise wie seine weiblichen Pendants die Hexe oder die böse Stiefmutter – gar nicht anders denn als Stereotyp erscheinen. Seine hervorstechenden Eigenschaften sind seine Gier und seine Dummheit. Der Wolf ist immer gefräßig, ein wahrer Nimmersatt, der nie zufrieden ist mit dem, was er hat. Seine Gier aber wird ihm stets zum Verhängnis: ein vollgefressener Wolf, so die Moral der Geschichte, lässt sich leichter erschlagen als ein hungriger. Zahllose Märchen können als Beispiel für die Geschichte des tumben verfressenen Wolfes dienen, der am Ende doch ausgetrickst wird. Seine Reinform stellt vielleicht das Märchen Der Wolf und die sieben jungen Geißlein dar, die Geschichte der armen Mutter, die ihre Kinder an den Wolf verliert und dann durch die eigene Tatkraft wiedergewinnt: »Eine Geiß hatte sieben junge Geißlein, die sie mütterlich liebte, und sorgfältig vor dem Wolf hütete«2, so lautet der erste Satz des Märchens, das von Anfang an eine räumliche Konstellation auf baut, derzufolge ein 1 | Vgl. Max Lüthi, Das europäische Volksmärchen. Form und Wesen. 7., durchgesehene Auflage, München 1981. 2 | Der Wolf und die sieben jungen Geißlein. In: Kinder- und Hausmärchen Gesammelt durch die Brüder Grimm. Vollständige Ausgabe auf der
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häuslich und mütterlich besetzter Raum gegen den männlichen Eindringling beschützt werden muss, den der Wolf repräsentiert. Die Geschichte entfaltet sich so als Bedrohung und schließlich Eroberung des mütterlichen Schutzraumes durch den männlichen Aggressor. Die Haustür dient weniger als Schwelle denn als Grenze, die das Innen eindeutig vom Außen trennt: Das Märchen präsentiert einen scheinbar in sich geschlossenen Innenraum, der sich durch das mütterliche Verbot konstituiert, den Wolf hineinzulassen. Ausgeschlossen wird der Wolf aus diesem Innenraum in seiner Funktion als räuberischer Eindringling. Das Märchen übersetzt eine aus der Realität als Bedrohung bekannte Situation – der Wolf, der eine Herde angreift und es vor allem auf die schwächeren Tiere, in diesem Fall die Kinder, absieht – in eine Szene, die sich vor dem Auge des Lesers abspielt. Auf dieser symbolischen Ebene lässt sich ein Szenario der Bedrohung durchspielen, das zunächst vom Erfolg des Wolfes und dann von seinem verdienten Ende berichten kann. Wenn das Bild des Wolfes das eines Räubers ist, dann ist es wesentlich von Bildern der Gewalt bestimmt. Das Märchen verlagert die Gewalt, die vom räuberischen Tier ausgeht, in den Bereich der List. Was die Handlung bestimmt, ist eine Abfolge von Stratagemen der List, die aufeinander folgen: Die List der Kinder, die sich vom Wolf nicht hereinlegen lassen wollen, die List des Wolfes, der sich mit der Hilfe von Krämer, Bäcker und Müller dem Anschein nach in die Mutter verwandelt, schließlich die List der zurückgekehrten Mutter, die ihn endgültig besiegt, indem sie die Kinder befreit und seinen Bauch mit Wackersteinen beschwert. Das ist um so überraschender, als es »einen entscheidenden Grundzug unserer Kultur gibt, der nicht nur ›listenblind‹, sondern zumindest ›listenskeptisch‹, im Grund aber ›listenfeindlich‹ ist«3, wie Ute Guzzoni herausgearbeitet hat. Während andere Kulturen die List oft positiv besetzt haben, neigt die abendländisch-christliche Grundlage der dritten Auflage (1837). Herausgegeben von Heinz Rölleke, Frankfurt a.M. 1985, S. 43. 3 | Ute Guzzoni, Das Philosophieren und die List, in: Harro von Senger (Hg.): Die List, Frankfurt a.M. 1999, S. 398-407, hier S. 402.
Das Märchen vom bösen Wolf
Tradition der Aufrichtigkeit dazu, die List als Trug, Täuschung, Hinterlist und Niederträchtigkeit zu verteufeln. Dass in der Konfrontation des Wolfes und der Geißlein dennoch zunächst die List und nicht die Gewalt aufgerufen wird, zeigt, dass es im Märchen nicht nur um den Wolf als Natur-, sondern zugleich als Kulturwesen geht, dem menschliche Eigenschaften zugesprochen werden, damit er um so sicherer von diesen in Schach gehalten werden kann. Der Erfolg seiner dreifachen List kann daher nicht dauerhaft sein. Die Kinder verwehren ihm zunächst erfolgreich den Zugang in das Haus. Einmal mit dem Eindringling konfrontiert, verstecken sie sich mit der Ausnahme des Jüngsten jedoch vergeblich: »Aber der Wolf fand sie alle, und verschluckte sie, außer das jüngste in der Wanduhr, das blieb am Leben.«4 Der Schutzraum des Hauses wird im Falle des jüngsten Geißleins, in seiner mythischen Funktion als Jüngstes der Mutter am nächsten, um einen weiteren Innenraum erweitert, den der Wanduhr, in der sich das Kind versteckt. Das Haus erscheint so als Folge in sich gefalteter Innenräume, die vor dem Eingriff von außen schützen. Umgekehrt aber ist die Aufnahme durch den Wolf, der die Geißlein verschluckt, wiederum als ein Innenraum gezeichnet, ein nicht mütterlich, sondern männlich bzw. väterlich besetzter Innenraum, der die sechs Kinder aufnimmt. Im Unterschied zum Schutzraum des Hauses erscheint dieser Raum in der Form eines »dunkeln Gefängnis«5, in das die Kinder eingesperrt werden. Die eigentümliche Raumstruktur des Märchens stellt somit in einer einfachen Schwarz-Weiß-Zeichnung einen positiv besetzten mütterlichen Schutzraum einem negativ besetzten männlichen Raum entgegen, der über die Geschlechterverteilung und Familienaufstellung zugleich einen ersten Aufschluss über das Phantasma gibt, das dem Mythos des Wolfes im Märchen zugrundeliegt: Es handelt sich offenkundig um eine Form der verbotenen Inkorporation (in diesem Fall zwecks Nahrungsaufnahme), für die derjenige, der sich ihr anheimgibt, bestraft werden muss. 4 | Der Wolf und die sieben jungen Geißlein, S. 44. 5 | Ebd., S. 45.
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Die Sanktion, die das Märchen ausspricht, richtet sich gegen eine männliche Figur, die mit dem Bild des in der Familie zunächst fehlenden Vaters verschmilzt und die sich schuldig gemacht hat, etwas zu verschlingen, was ihm nicht zusteht. Die Bestrafung folgt daher auf den Fuß. Auf die List des Wolfes antwortet die der Mutter, »die klug und listig war«6, wie es ausdrücklich heißt. Die strategische Antwort auf das Stratagem des Wolfes besteht in der Befreiung der Kinder und ihrer Ersetzung durch Wackersteine. Mit den typisch weiblichen Werkzeugen Zwirn, Nadel und Schere bewaffnet öffnet die Mutter den Bauch des Wolfes und verhilft den Kindern zu einer zweiten Geburt. »Damit ritzte sie dem Wolf den Bauch auf, und die sieben Geißerchen, die er in der Gier und Hast ganz verschluckt hatte, als sie Luft bekamen, sprangen heraus, hatten keinen Schaden genommen, und freuten sich daß sie aus dem dunkeln Gefängnis erlöst waren.« 7 Wieder einmal ist es die Gier, die dem Wolf zum Verhängnis geworden ist. Nicht nur hat er die Kinder als ganze verschluckt. Vollgefressen legt er sich mitten auf eine Wiese, wo ihn die alte Geiß ohne Probleme findet. Die Stellvertretung der Kinder durch die Wackersteine bedeutet zugleich sein trauriges Ende: Auf den unstattgemäßen Hunger folgt der Durst und mit ihm der unvermittelte Fall in den Brunnen, in dem er ertrinkt: »Wie er sich aber über das Wasser bückte, und trinken wollte, konnte er sich vor der Schwere der Steine nicht mehr halten, stürzte hinab und ertrank. Wie das sie sieben Geißerchen sahen, kamen sie herzu gelaufen, riefen ›der Wolf ist tot! der Wolf ist tot!‹ und tanzten vor Freud um den Brunnen.«8 Am Ende des Märchens fällt der Wolf selbst in ein dunkles Gefängnis, aus dem er sich nicht mehr befreien kann. Das Märchen endet nicht nur mit dem Triumph von Mutter und Kindern, sondern darüber hinaus mit der festlichen Zelebration dieses Triumphes: Sie tanzen um den Brunnen, das Grab des bösen Wolfes, um sein Ende zu
6 | Ebd., S. 44. 7 | Ebd., S. 45. 8 | Ebd.
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feiern. Der Ritus der Wolfstötung findet seinen Abschluss in einer Feier, die den Sieg über das Ungeheuer bestätigt. Das Märchen Der Wolf und die sieben jungen Geißlein ist ein in mehrerlei Hinsicht bemerkenswerter Text. Zunächst reproduziert er auf der symbolischen Ebene der literarischen Darstellung die in mancherlei Hinsicht rituell anmutende Tötung eines Wolfes, der als männlicher Aggressor einer weiblich konnotierten Innenwelt erscheint. Der Text errichtet damit zugleich einen scharfen Gegensatz zwischen Innen- und Außenräumen, die das Märchen bestimmen. Im Inneren des mütterlichen Hauses verkleinern sich die Schutzräume zu den kindlichen Verstecken Tisch, Bett, Ofen, Küche, Schrank, Schüssel und Wanduhr. Dass der Wolf die Kinder verschluckt, lässt nicht nur den Magen als einen weiteren Innenraum, dieses Mal in der negativen Form eines dunklen Gefängnisses, auftreten. Die magische Handlung, die dem Märchen zugrunde zu liegen scheint, ist die einer verbotenen Inkorporationen und der anschließenden Bestrafung für das von der Mutter ausgesprochene Verbot, die Kinder zu fressen, wobei die Inkorporation, der bereits in mythischen Zusammenhängen wie etwa der Geschichte von Gaia und Zeus bei Hesiod eine zentrale Rolle zukommt, zwischen Aggression und Liebe schwanken kann: Offenkundig hat der Wolf die Kinder zum Fressen gerne. Das Märchen bedient sich dagegen einfacher Gegensätze wie Innen und Außen, männlich und weiblich, um den Wolf als einen (letztlich dummen) Räuber zu diskreditieren, der an seiner eigenen Gier zugrunde geht.9 Vor diesem Hintergrund 9 | Die zweite Strategie, mit der das Märchen dem Wolf begegnet, ist die Verdummung, etwa in der stereotypen Gegenüberstellung von Wolf und Fuchs. In Der Wolf und der Fuchs erscheint der Wolf daher als tumber Narr, der sich dreimal vom Fuchs übertölpeln lässt und dafür am Ende mit dem Leben bezahlt: Als sie in einem Keller gesalzenes Fleisch fressen, sucht sich der listige Fuchs ein Schlupfloch, durch das der gierige Wolf, der nicht vom Fleisch lassen will, nicht mehr durchpasst: »Da kam der Bauer mit einem Knüppel, und schlug ihn tot. Der Fuchs aber sprang in den Wald, und war froh, daß er den alten Nimmersatt los war.« Ebd., S. 336.
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lässt sich ein erstes Fazit ziehen, das sich zugleich auf die magische Funktion des Märchens als Schutzzauber bezieht:10 Im Zentrum des Märchens steht der Zusammenhang zwischen einem kulturellen Tabu, das sich in dem Verbot ausdrückt, die Kinder zu fressen und angesichts der Anthropomorphisierung der Figuren auf einen ursprünglichen Akt des Kannibalismus hinweist. Die Verteufelung des Wolfes auf der manifesten Ebene des Textes erscheint so als nachträgliche Einkleidung einer latenten Urszene, die in der Aufnahme verbotener Nahrung besteht. Die scheinbare Unschuld des Kindermärchens verbirgt nicht nur eine kaum verhüllte Aggression gegen das Naturwesen Wolf, sondern zugleich eine viel besser verhüllte Aggression gegen einen kulturellen Frevel, der den Menschen in die Nähe des Wolfes rückt, da er sich verbotener Nahrung nähert. Die ideologische Rechtfertigung der Wolfstötung, von der das Märchen Zeugnis ablegt, verdeckt die Abwehr der mythischen Angst, zum Opfer und, im schlimmsten Fall, von seinesgleichen gefressen zu werden.
2. B öse W ölfe in der F abel Wie das Märchen, so zählt auch die Fabel zu den sogenannten ›einfachen Formen‹. In beiden stehen nicht-menschliche Akteure im Mittelpunkt, wobei der demonstrative Charakter die Fabel vom Märchen trennt: Entweder aus sich heraus oder durch einen voran- oder nachgestellten Lehrsatz vermittelt die Fabel ausdrücklich eine Form der Erkenntnis, die sie von vorneherein zu einer didaktischen Gattung macht.11 In der Fabel dominiert also anders als im Märchen ein im weitesten Sinne allegorischer Sinn das Geschehen. Das gilt auch für die Darstellung des Wolfes in der Fabel. In den bekanntesten Formen, bei La Fontaine wie bei 10 | Vgl. Vladimir Propp, Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens, München/Wien 1987. 11 | Zur Fabel vgl. Klaus Grubmüller, Fabel. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. von Klaus Weimar. Band I. A-G, Berlin/ New York 1997, S. 554-558.
Das Märchen vom bösen Wolf
Lessing, verkörpert der Wolf bestimmte menschliche Eigenschaften, die nicht von vorneherein schlecht sein müssen. In Le Loup et le Chien, der ersten Fabel, in der er bei La Fontaine begegnet, dient der Vergleich zwischen Wolf und Hund gerade der Aufwertung wölfischer Freiheitsliebe gegenüber hündischer Unterwerfung. Der abgemagerte Wolf trifft auf eine gutgenährte Dogge, die ihn dazu auffordert, seinem Leben im Wald zu entsagen und ihm zu folgen. Angesichts des verlockenden Versprechens, sich immer satt fressen zu können, ist der Wolf zunächst bereit, das Angebot anzunehmen. Das ändert sich erst, als er das Halsband des Hundes sieht. »Attaché? dit le Loup: vous ne courez donc pas/Où vous voulez?«12 Auf die Frage, ob das denn so wichtig sei, antwortet der Wolf: »Il importe si bien, que de tous vos repas/Je ne veux en aucune sorte,/Et ne voudrais pas même à ce prix un trésor./Cela dit, maître Loup s’enfuit, et cour encore.«13 Die Szene ist von einem doppelten Tauschszenario bestimmt: Zunächst tauscht der Wolf seine Armut gegen materielle Sicherheit ein. In einem zweiten Schritt gibt er die materielle Sicherheit zugunsten von Freiheit und Selbstbestimmung auf. Das Plädoyer der Freiheit, das La Fontaine in der Figur des Wolfes anstimmt, ist dabei durchaus in einem politischen Sinne zu verstehen. Denn Freiheit bedeutet Unabhängigkeit von der höfischen Etikette: als »maître«, Herr seiner selbst, bezeichnet die Fabel den Wolf. Auf die Frage, was er für seinen Herren zu leisten habe, antwortet der Hund: »Presque rien, dit le chien, donner la chasse aux gens/Portants bâtons, et mendiants;/Flatter ceux du logis, à son maître complaire«14. Die Fabel richtet sich ganz im Geiste der jansenistischen Kritik des Hofes gegen die Kunst der flatterie, die am Hofe unabdingbar ist. In der kritischen Perspektive, die die Fabel aufwirft, wird der arme Wolf erst im Rahmen der höfischen Ordnung zum Bettler,
12 | Jean de La Fontaine, Fables choisies mises en vers. Introduction, notes et relevé de variantes par Georges Couton, Paris 1962, S. 39. 13 | Ebd., S. 39. 14 | Ebd., S. 38.
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der er als freies Wesen in all seiner Dürftigkeit, »que les os et la peau«15, wie es eingangs heißt, nicht ist. Deutet sich schon in Le Loup et le Chien eine Verzahnung zwischen Fabel und Politik an, so bestätigt sich die politische Dimension bei La Fontaine in der vielleicht bekanntesten Fabel, in der es um einen Wolf geht, in Le Loup et l’Agneau. Das zeigt bereits das Promythion, das die ›fabula docet‹ explizit macht: »La raison du plus fort est toujours la meilleure«16, heißt es einleitend. Anders als in Le loup et le Chien steht der Wolf hier für das Naturrecht des Stärkeren ein: Als »bête cruelle«17 sucht er nur einen Vorwand, um das Lamm zu fressen, in diesem Fall den Vorwurf, das Lamm habe das Wasser beschmutzt, aus dem der Wolf trinken wolle. Alle wohlbegründeten Argumente zu seiner Verteidigung nützen dem Lamm letztendlich nichts: »Le Loup l’emporte, et puis le mange,/ Sans autre forme de procès.«18 Die Fabel stellt den Wolf in einer Kritik am Naturrecht nicht nur als gierigen Räuber dar, sondern zugleich als politischen Souverän, der über das Leben des Lammes frei verfügen kann: Ankläger und Richter fallen zusammen. Unabhängig von der positiven oder negativen Darstellungsform ist der Wolf bei La Fontaine stets auf die politische Frage nach Herrschaft und Freiheit bezogen. Das ändert sich bei Lessing. La Fontaines Le Loup et l’Agneau hat er aufgenommen und variiert. Sein Text ist eine direkte Antwort auf La Fontaine: Der Wolf und das Schaf Der Durst trieb ein Schaf an den Fluß; eine gleiche Ursache führte auf der andern Seite einen Wolf herzu. Durch die Trennung des Wassers gesichert und durch die Sicherheit höhnisch gemacht, rief das Schaf dem Räuber hinüber: ›Ich mache dir doch das Wasser nicht trübe, Herr Wolf? Sieh mich recht an; habe ich dir nicht etwa vor sechs Wochen nachge15 | Ebd. 16 | Ebd., S. 43. 17 | Ebd., S. 44. 18 | Ebd.
Das Märchen vom bösen Wolf
schimpft? Wenigstens wird es mein Vater gewesen sein.‹ Der Wolf verstand die Spötterei; er betrachtete die Breite des Flusses und knirschte mit den Zähnen. Es ist dein Glück, antwortete er, daß wir Wölfe gewöhnt sind, mit euch Schafen Geduld zu haben; und gieng mit stolzen Schritten weiter.19
Lessings Wolf ist nicht freundlicher als der La Fontaines, aber ohnmächtiger. Die verbale Rache des Schafes muss er erdulden und sich auf einen späteren, ihm günstigeren Zeitpunkt vertrösten. Sein Stolz ist nur die Kompensierung seiner realen Ohnmacht. Lessing sucht damit keine Politik, sondern eher eine Moral: »Es gefiel mir auf diesem gemeinschaftlichen Raine der Poesie und Moral«20, schreibt er in der Vorrede zu seinen Fabeln. Lessings Wölfe sind seltsam entkräftet. In Der Wolf und der Schäfer kondoliert der Wolf seinem Feind den Verlust der Herde durch eine Seuche, die ihm selbst die Nahrungsgrundlage nimmt. Der kriegerische Wolf rühmt durch die Stimme des Sohnes die zweihundert Siege des Vaters über Schafe und Esel und übergeht die Niederlage durch die Begegnung mit einem Stier, die ihn das Leben kostete. In Der Esel und der Wolf erlöst der hungrige Wolf einen alten Esel, der sich einen Dorn in den Fuß gelaufen hat, von seinen Schmerzen, indem er ihn zerreißt. In sieben Fabeln erzählt Lessing die Geschichte des alten Wolfes, der reihum zu den Schäfern geht, um von ihnen einen Tribut zu fordern, den er, müde und erschöpft, durch die Jagd nicht mehr einholen kann. Einer nach dem anderen weist ihn ab, am Ende greift er die Kinder der Schäfer an und wird von ihnen erschlagen: »Wir taten doch wohl Unrecht, daß wir den alten Räuber auf das Äußerste brachten, und ihm alle Mittel zur Besserung, so spät und erzwungen sie auch war, benahmen!«21 Der Wolf bleibt der Wolf. Schon La Fontaine
19 | Gotthold Ephraim Lessing. Werke und Briefe in zwölf Bänden. Band 4. Werke 1758-1759, herausgegeben von Gunter E. Grimm, Frankfurt a.M. 1997, S. 344. 20 | Ebd., S. 298. 21 | Ebd., S. 338.
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hatten in Le loup et les Bergers einen »loup rempli d’humanité«22 präsentiert, der sich von allen gehasst weiß und sein Räuberleben aufgeben will. Als er jedoch sieht, wie Schäfer ein Lamm verspeisen, gibt er seinen guten Vorsatz auf. Lessings Wölfe haben dagegen den Biss verloren. In der bürgerlichen Gemeinschaft scheinen sie kein rechtes Zuhause mehr finden zu können. In der Literatur des 18. Jahrhunderts bilden sie – zumindest auf den ersten Blick – nur noch marginale Erscheinungen. Gerade von diesem Rand her aber lässt sich ein Blick auf die politische und moralische Ordnung werfen, die mit den Figurationen des Wolfes bei Goethe, Schiller, Brentano, Stifter und Storm verbunden sind.
3. M y thos W olf Märchen und Fabel verkörpern nicht nur unterschiedliche literarische Gattungen. Wie sich gezeigt hat, lenken sie den Blick auf zwei unterschiedliche Themenkomplexe, die mit der poetischen Darstellung des Wolfes verbunden sind. So verweist das Märchen auf eine mythische Ursprungsdimension, die mit dem Wolf verbunden ist und in der es um ein noch genauer zu bestimmendes Phantasma der verbotenen Inkorporation geht. Im Mittelpunkt der Fabel stehen dagegen politische und moralische Fragen um die Natur des Menschen, die sich in der des Wolfes spiegelt. Beide Themenkomplexe verfügen über eine Tradition, die weit über die Gattungsform Märchen oder Fabel hinausweist. Dass dem Wolf im Kontext der politischen Frage nach dem Naturrecht eine besondere Bedeutung zukommt, zeigt Thomas Hobbes berühmte Formulierung aus der Widmung seiner Schrift Vom Bürger an den Grafen Wilhelm von Devonshire, die den Wolf in eine unmittelbare Nähe zum Menschen stellt: »Nun sind sicher beide Sätze wahr: Der Mensch ist ein Gott für den Menschen, und: Der Mensch ist ein Wolf für den Menschen; jener, wenn man die Bürger untereinander, dieser, wenn man die Staaten untereinander
22 | Jean de La Fontaine, Fables, S. 281.
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vergleicht.«23 Der Ursprung der Hobbeschen Formulierung, die den Menschen in einer doppelten Perspektive ganz im Geist des Christentums zwischen Gott und Tier ansiedelt, findet sich schon bei Plautus: »Ein Wolf ist der Mensch dem Menschen, nicht ein Mensch,/wenn man sich nicht kennt.« Denn wie Hobbes deutlich macht, »müssen selbst die Guten bei der Verdorbenheit der Schlechten ihres Schutzes wegen die kriegerischen Tugenden, die Gewalt und List, d.h. die Raubsucht der wilden Tiere, zu Hilfe nehmen.«24 Hobbes stellt den Menschen als ein grundsätzlich räuberisches Wesen dar, das angesichts der unhintergehbaren Schlechtigkeit der anderen Bürger gar nicht anders kann als zu Gewalt und List zu greifen. Die tierische Natur kann daher erst in dem gerechten Staat aufgehoben werden, in dem ein jeder sein Recht auf Gewalt an den Leviathan abgetreten hat. Hobbes’ Bürger ist ein Wolfsmann, der sich seiner tierischen Natur entkleidet, um »Gerechtigkeit und Liebe, die Tugenden des Friedens, der Ähnlichkeit mit Gott«25 zu finden. Hobbes’ Wolfsmann als Ausdruck der Auseinandersetzung mit der Natur und dem politischen Ort des Wolfes in der Philosophie reicht weit in die Antike zurück zu jenen mythischen Beständen, die sich noch im Märchen finden lassen und die schon bei Platon, Plinius und Plautus Thema sind.26 Was bei ihnen ins Blickfeld rückt, ist die symbolische Verwandlung des Menschen in einen Wolf, von der eine Bedrohung für die soziale Ordnung ausgeht, die um jeden Preis verhindert oder bekämpft werden muss. So berichtet schon Platon in der Politeia von einer Fabel, derzufolge derjenige, »wer menschliches Eingeweide gekostet hat, wenn dergleichen von anderen Opfertieren mit hineingeschnitten ist, 23 | Thomas Hobbes, Vom Menschen. Vom Bürger. Elemente der Philosophie II/III. Eingeleitet und herausgegeben von Günter Gawlick, Hamburg 1994, S. 59. 24 | Ebd. 25 | Ebd. 26 | Vgl. Richard Buxton, Wolves and Werewolves in Greek Thought, in: Jan Bremer (Hg.): Interpretations of Greek Mythology, Totowa 1986, S. 60-79.
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der notwendig zum Wolfe wird.« (Pol. 565d) Platon bezieht sich auf einen alten Mythos zurück, der jenes Phantasma betrifft, das sich auch im Märchen finden lässt, die Verwandlung in einen Wolf durch unreine Nahrungsaufnahme, die Inkorporation von etwas Verbotenem. Hinter dem Wolfsmann, den Platon präsentiert, verbirgt sich eine kannibalische Szene, die als Phantasma in literarischen Texten wiederauftaucht und dennoch zweifellos der Realität entlehnt ist. In seiner Untersuchung Homo necans hat Walter Burkert auf die reale Existenz von Werwölfen aufmerksam gemacht: »Es besteht kein Zweifel, daß es Werwölfe gegeben hat so gut wie Leoparden- und Tigermenschen, als geheimer Männerbund, als secret society, schillernd zwischen dämonischer Besessenheit und spaßiger ›Viecherei‹, wie es Maskenbündchen eigen ist.«27 Burkert erinnert an die mythische Überlieferung vom Mahl des Thyestes, die Jagd auf Aktaion und die Geschichte von Astyages und Harpagos, um den Wirklichkeitsgehalt des Kannibalismus festzuhalten. »Der Wölfische wird zum Fresser von Menschenfleisch, und dieses Mahl verwandelt auch ihn, wenngleich nur innerlich, unsichtbar: unter der Maske des ergebenen Dieners ist er fortan der unerbittliche Feind des Königs, der nicht ruht, bis Astyages gestürzt ist.«28 Die Verwandlung in einen Wolf versteht er dementsprechend als ein Initiationsritual im Sinne der von Arnold van Gennep herausgearbeiteten rites de passage. Die Verwandlung in den Wolf ist in jedem Fall an die Vorstellung des Kostens von Menschenfleisch gebunden, eine im psychoanalytischen Sinne des Wortes »unheimliche« Vorstellung des Kannibalismus, die sich weniger als reale denn als symbolische vielfach in literarischen Texten und Filmen erhalten hat. In dieser Form taucht der Wolf auch bei Ovid auf: Lycaon wird von Zeus bestraft, als er diesem das Fleisch einer Geisel vorsetzt: »Als auf den Tisch er sie setzt, laß ich die rächende Flamme/stürzen auf das Dach auf die ihres Herren werten Penaten./Da entflieht er erschreckt. Als er Feldes Stille erreicht hat,/heult er hinaus: zu reden versucht 27 | Walter Burkert, Homo necans. Interpretation altgriechischer Opferriten und Mythen, Berlin 1972, S. 103. 28 | Ebd., S. 125.
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er umsonst. Das Gesicht zieht/Wut aus des Mannes Natur. In gewohnter Begierde zu morden/stürzt er sich unter das Vieh und schwelgt auch jetzt noch im Blute./Borsten ergibt das Gewand, zu Schenkeln werden die Arme./Wolf wird er so und bewahrt die Spur seiner alten Erscheinung:/gleich ist des Haares Grau und gleich der grimmige Ausdruck,/ebenso stechend der Blick, das Bild von Wildheit das gleiche.«29 Die Geschichte der Wolfsmänner, wie sie sich aus Märchen und Fabel ableiten lassen, ist doppelt lesbar: als Erinnerung an rituelle Praktiken der Vergangenheit mit all ihren Implikationen und als politische Verortung des Menschen zwischen den unterschiedlichen Bereichen des Tieres und des Gottes. Was die Analyse der Wolfsmänner vor diesem Hintergrund leisten kann, ist die Rückführung der Faszination wie der Angst vor den Wölfen auf die mythische und politische Ordnung, die mit ihnen verbunden ist.
29 | Ovid, Metamorphosen. In deutsche Hexameter übertragen und mit dem Text herausgegeben von Erich Rösch, 10. Aufl., München und Zürich 1983, Liber I 230-252.
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II. Wölfe im Land der Literatur 1. G oe the , die Z igeuner und die W ölfe . G ötz von B erlichingen Während Wölfe in den kleinen Formen des Märchens und der Fabel – und darüber hinaus in der Kinder- und Jugendliteratur – allerorts begegnen, scheint im Land der klassischen Literatur kaum Platz für sie zu sein. »Mit dem weitgehenden Ausschluß von häßlichen oder beängstigenden Gegenständen aus den Darstellungsbereichen von Kunst und Literatur durch die puristischen Ästhetiken der Aufklärung und des Idealismus wurden Theorie- und Symboltraditionen abgebrochen, die nur in mündlichen und trivialen Formen, wenn auch entstellt, weiterlebten«1, hält schon Hans Richard Brittnacher fest. Der Wolf, insbesondere der Werwolf, zählt unzweifelhaft zu diesem aus der aufklärerischen und idealistischen Ästhetik ausgeschlossenen Bereich des Hässlichen und Unheimlichen. In den meisten Fällen begegnet er nur in der entstellten Form des Monströsen, ein hybrides Wesen zwischen Tier und Mensch, das brutale Gewalt und abseitiges sexuelles Begehren zu repräsentieren scheint. Dennoch spielt der Wolf – wenn auch oft am Rande – in einer Vielzahl von Texten der sogenannten ›klassischen‹ Literatur eine Rolle. Im Götz von Berlichingen berichtet ein Reiter zu Beginn, »wie wir so in die Nacht reiten, hüt’t just ein Schäfer da, und fallen fünf Wölf in die Herd und packten weidlich an. Da 1 | Hans Richard Brittnacher, Ästhetik des Horrors. Gespenster, Vampire, Monster, Teufel und künstliche Menschen in der phantastischen Literatur, Frankfurt a.M. 1994, S. 183.
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lachte unser Herr, und sagte: Glück zu, liebe Gesellen! Indem so kommt der Weislingen hergeritten mit vier Knechten.«2 Als gutes Zeichen deutet Götz das unvermittelte Auftauchen der fünf Wölfe, da sie ihm voraussagen, dass die Feinde bald in seine Hände fallen werden. Unklar bleibt aber, wer hier eigentlich Wolf ist und wer Lamm. »Du siehst die Fürsten an, wie der Wolf den Hirten«3, sagt Weislingen zu Götz, um ihn in die Nähe des räuberischen Tieres zu rücken. Dieser nimmt das Kompliment zunächst gerne an: »Ein Wolf ist einer ganzen Herde Schafe zuviel«4, meint er, sich seiner eigenen Stärke bewusst, zu seinem Verbündeten Sickingen. Aber der alte Wolf, als der er sich stilisiert, muss bald erkennen, dass er an seine Grenzen gekommen ist. Seine Wolfshaut möchte er gerne ablegen. Als er sich an den Landgrafen von Hanau und die Hoffnung auf eine gerechte Fürstenherrschaft erinnert, ändert sich auch die Einschätzung der Wölfe: »Wir wollten die Gebirge von Wölfen säubern, wollten unserm ruhig ackernden Nachbar einen Braten aus dem Wald holen, und dafür die Suppe mit ihm essen. Wär uns das nicht genug, wir wollten uns mit unsern Brüdern, wie Cherubim mit flammenden Schwertern, vor die Grenzen des Reichs gegen die Wölfe, die Türken, gegen die Füchse, die Franzosen lagern und zugleich unsers teuren Kaisers sehr ausgesetzte Länder und die Ruhe des Reichs beschützen Das wäre ein Leben«5. Wölfe, Türken, Füchse, Franzosen: Götz wird der Wolf zum Feind, den es aus dem Land zu jagen gilt. Ein Wolf ist Götz den Fürsten als ihr Gegner, der ihre Herrschaft in Frage stellt. Ein Wolfsjäger wäre er, würde er unter einer Herrschaftsform leben, mit der er einverstanden wäre. So aber – und das ist sein tragisches Schicksal – bleibt er der Wolf, der Unterschlupf bei denen finden muss, die selbst verfolgt werden, bei 2 | Johann Wolfgang Goethe, Götz von Berlichingen. Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 4. Dramatische Dichtungen II. Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Wolfgang Kayser, München 1990, S. 85.f. 3 | Ebd., S. 90. 4 | Ebd., S. 126. 5 | Ebd., S. 142f.
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den Zigeunern.6 Kein Wunder, dass einer von ihnen selbst Wolf heißt: »Wolf leise. Es ist Götze von Berlichingen./Hauptmann. Seid willkommen! Alles ist Euer, was wir haben.« 7 Bei den Zigeunern findet der alte Wolf anders als bei den Fürsten Gastrecht. Er selbst empfindet das zwar als Demütigung, nimmt die Hilfe aber gerne an. »O Kaiser! Kaiser! Räuber beschützen deine Kinder« 8, ruft Götz empört aus. Zigeuner, Wölfe, und mehr noch Zigeuner, die Wolf heißen, sind ihm ein nicht ganz geheurer Schutz, der nicht lange dauern kann. Die Zigeuner stehen Götz bei, bis ihr Hauptmann erschossen und Götz selbst gefangen wird: »Alles verloren«9, sind die letzten Worten des Zigeuners Wolf im Stück: »Geheul der Weiber und Flucht«10 notiert die Regieanweisung. Bei Goethe wechseln die Wölfe nicht nur die Seiten, werden, wie die Zigeuner, von Räubern zu Beschützern, oder, wie Götz, von Beschützern zu Räubern. Ihr trauriges Ende präludiert das des alten Wolfs Götz. Wenn dieser am Ende feststellen muss, »Du hast dich selbst überlebt, die Edeln überlebt«11 und seine letzten Worte »Freiheit! Freiheit«12 lauten, dann spricht er noch einmal als der alte Wolf, der erkennen muss, dass seine Zeit endgültig vorüber ist.
2. S chillers W olfsmann . D ie G eschichte des S onnenwirtes Nicht nur bei Goethe begegnet der Wolf in unverhoffter Gestalt. Den Protagonisten seiner Erzählung Verbrecher aus Infamie aus dem Jahre 1786 hat Friedrich Schiller nicht ohne Hintergedanken 6 | Vgl. Klaus-Michael Bogdal, Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung, Berlin 2011, S. 135f. 7 | Johann Wolfgang Goethe, Götz von Berlichingen, S. 166. 8 | Ebd. 9 | Ebd., S. 167. 10 | Ebd. 11 | Ebd., S. 175. 12 | Ebd.
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Christian Wolf genannt. Schillers Namensgebung ist in gewisser Weise selbst infam, rückt sie den kriminellen Wolf doch in ein denkbar schlechtes Licht. Das historische Vorbild des Verbrechers, dessen Lebensgeschichte Schiller in einer Vorform der Novelle erzählt, hieß Johann Friedrich Schwan und war unter dem Namen des Sonnenwirtes bis zu seiner Hinrichtung als Raubmörder 1760 zu einer lokalen Legende geworden. Von seinem Lehrer Abel, der selbst eine Lebensgeschichte des Räubers verfasst hat, konnte Schiller von dessen Verbrechen wie seiner Verhaftung und anschließenden Hinrichtung erfahren.13 Schiller geht jedoch einen anderen Weg als sein Lehrer. Indem er aus dem Schwan einen Wolf macht, verschreibt er sich zugleich einer Stigmatisierung des Bösen, die ihren beredten Ausdruck in der körperlichen Erscheinung des Verbrechers findet: »Die Natur hatte seinen Körper verabsäumt. Eine kleine unscheinbare Figur, krauses Haar von einer unangenehmen Schwärze, eine plattgedrückte Nase und eine geschwollene Oberlippe, welche noch überdies durch den Schlag eines Pferdes aus ihrer Richtung gewichen war, gaben seinem Anblick eine Widrigkeit, welche aller Weiber von ihm zurückscheuchte und dem Witz seiner Kameraden eine reichliche Nahrung darbot.«14 Schillers Darstellung der körperlichen Gestalt des späteren Räuberhauptmanns kommt einer Diffamierung gleich. Das hat Claudia Liebrand im Blick auf die körperliche Stigmatisierung des Verbrechers im Text herausgearbeitet: »Schiller transponiert – auch die Diffamierung wird damit zur Strategie, das Besondere Christian Wolfs, seine Subjekthaftigkeit zu konstruieren – das Äußere des Sonnenwirts ins Negroide, als ethnisch markiert und devi13 | Vgl. Jacob Friedrich Abel, Lebens-Geschichte Friedrich Schwans (1787), in: Jacob Friedrich Abel. Eine Quellenedition zum Philosophieunterricht an der Stuttgarter Karlsschule (1773-1782). Mit Einleitung, Übersetzung, Kommentar und Bibliographie herausgegeben von Wolfgang Riedel, Würzburg 1995, S. 333-363. 14 | Friedrich Schiller, Sämtliche Werke. Band V. Erzählungen. Theoretische Schriften. Herausgegeben von Wolfgang Riedel, München/Wien 2004, S. 16.
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ant weisen seine Figur die (unangenehmen) schwarzen krausen Haare, die plattgedrückte Nase und die wulstige Oberlippe aus«15. In der körperlichen Gestalt Christian Wolfs scheint allzu deutlich das Tierhafte durch. Die lehrreiche Darstellung der Geschichte des Raubmörders, die Schiller in seiner Erzählung zu geben verspricht, geht mit der körperlichen Abwertung des Verbrechers zusammen, die ihn in die Nähe des Räuberisch-Animalischen rückt, für die schon die Ersetzung seines Nachnamens einstand. Tierhaft ist Christian Wolf, da er sich von niedrigen Instinkten, insbesondere der sinnlichen Begierde, leiten lässt. »Er wollte ertrotzen, was ihm verweigert war; weil er missfiel, setzte er sich vor, zu gefallen.«16 Die körperliche Hässlichkeit, die Schiller ganz gegen die historische Überlieferung seinem Antihelden verleiht – von Abel wird Schwan geschildert als »von Natur mit ausserordentlichen Anlagen des Geistes ausgerüstet voll Verstand, Witz, Einbildungskraft und Gedächtniß, voll Thätigkeit und Feuer, Entschlossenheit und Kühnheit«17 –, ist nicht nur das äußerliche Zeichen für die wölfische Natur des kriminell veranlagten Menschen. Sie dient zugleich zur psychologischen Entdeckung der verworfenen Seele des Verbrechers, der sein abstoßendes Äußeres durch sexuelle Lust vergessen will. Die körperliche Deformation, so Schillers psychologischer Witz, ist zugleich der Grund für die Leidenschaft, die Christian Wolf zum Verhängnis wird. Um einem Mädchen aus dem Dorf zu gefallen, wird er zum Wilderer, drei mal gefasst, im Gefängnis endgültig zum Verbrecher, nach seiner Rückkehr wieder zum Wilderer und schließlich zum Mörder an einem Nebenbuhler um die Gunst des Mädchens, einem Jäger, den er anstelle des gesuchten 15 | Claudia Liebrand, ›Ich bin der Sonnenwirt.‹ Subjektkonstitution in Schillers Der Verbrecher aus verlorener Ehre, in: Roland Borgards/ Johannes Friedrich Lehmann (Hg.): Diskrete Gebote. Geschichten der Macht um 1800. Festschrift für Heinrich Bosse, Würzburg 2002, S. 117129, hier S. 122. 16 | Friedrich Schiller, V 16. 17 | Jacob Friedrich Abel, Lebens-Geschichte Friedrich Schwans (1787), S. 334.
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Wildes erlegt. Der Wolf siegt über seinen Rivalen, verliert damit aber sein moralisches Selbst und gibt sich ganz der wölfischen Natur des Räubers hin. Als Haupt einer Räuberbande kann er zwar kurzzeitig seine sinnliche Begierde befriedigen. Sein moralisches Selbst, der Christenmensch, der im Wolf lauert, kann jedoch nicht auf Dauer mit der schändlichen Existenz als Räuber leben. Christian Wolf löst sich von der Räuberbande und gibt sich am Ende der Erzählung durch ein Geständnis selbst in die Hände der Justiz, die seinen Tod beschließen wird: Der räuberische Wolf wird gehenkt, was Schiller jedoch nicht mehr zu erzählen braucht, da der Christ im Verbrecher bereits über den Wolf gesiegt hat. In Schillers dualistischer Anthropologie, die ganz von dem Kant entlehnten Widerstreit zwischen Sinnlichkeit und Vernunft bestimmt wird, kann der Wolf nur auf der Seite der diabolischen Sinnlichkeit auftreten, um umso sicherer sein verdientes Ende zu finden. Nur eines ist sicher: Am Ende stirbt immer der Wolf.
3. D ie W ölfe und die verle t z te E hre . B rentanos G eschichte vom braven K asperl und dem schönen A nnerl Dass Wölfe immer dort auftauchen, wo sie zunächst nicht erwartet werden, hat Maximilian Bergengruen anhand von Clemens Brentanos Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl gezeigt. Der Erzähler berichtet im Rückblick von seiner Begegnung mit einer achtundachtzigjährigen Frau, die ihm die unglückliche Geschichte von Kasperl und Annerl erzählt. Sie ergibt sich aus der verhängnisvollen Verknüpfung von Kasperls übersteigertem Ehrbegriff mit dem Schicksal Annerls. Männliche Ehre und weibliche Tugend, so zeigt der Text, wollen nicht so recht zusammengehen. Denn Kasperl »hatte doch mein Patghen sehr lieb, wie ich Ihm vorher sagte, und sprach der schönen Annerl, wie die Leute sie ihres glatten Spiegels wegen nannten, immer von der Ehre vor und sagte ihr immer, sie solle auf ihre Ehre halten und auch auf seine Ehre. Da kriegte das Mädchen etwas ganz Apartes in ihr
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Gesicht und ihre Kleidung von der Ehre«18. Die Ehre, die Kasperl an das schöne Annerl heranträgt, dient der Alten als Grund zur doppelten Klage. Denn während Kasperl gerade aufgrund seines übersteigerten Ehrbegriffs ins Unglück gestürzt ist, hat Annerl gegen den ihr von außen angetragenen Ehrbegriff verstoßen, sich auf eine Affäre mit einem Adeligen eingelassen und das aus der Verbindung hervorgegangene Kind kurzerhand ertränkt, was der Alten hart eingeht: »Wäre das Kind nur nicht stets so hinter der Ehre her gewesen und hätte sich lieber an unsern lieben Gott gehalten, hätte ihn nie von sich gelassen, in aller Noth, und hätte seinetwillen Schande und Verachtung ertragen, statt ihrer Menschenehre.«19 Die Geschichte von Kasperl und Annerl ist geprägt von der Überkreuzung eines männlich konnotierten Ehrbegriffs und eines weiblichen Begehrens, das diesem entgegensteht. Kasperl endet im Selbstmord, als er erkennen muss, dass sein Vater und Stief bruder Räuber sind, die einen Müller überfallen, bei dem er zufällig zu Gast ist. Auf dem Grab der Mutter bringt der verzweifelte Sohn sich um. »Auch ich kann meine Schande nicht überleben«20. Ganz anders, aber nicht minder tragisch, verläuft die Geschichte Annerls. Als dreijährige Waise kommt sie in das Haus eines Scharfrichters, dessen im Schrank hängendes Schwert sich vor ihr unvermittelt bewegt. Offenkundig traut der Text dem kleinen Mädchen einige Macht über die Gewalt des Phallischen zu. Der Richter will ihren Hals ritzen, um sie von der vorausbestimmten Schuld zu befreien, aber die anderen lassen eine so unmenschliche Handlung nicht zu. So nimmt das Schicksal seinen Lauf: Als der Jäger Jürge, der unter Umständen ihr Vater ist, hingerichtet wird, fällt ihr sein abgeschlagenes Haupt in den Schoß. 18 | Clemens Brentano, Die Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. Sämtliche Werke und Briefe. Band 19. Prosa IV. Historisch-Kritische Ausgabe, hg. von Jürgen Behrens/Konrad Feilchenfeldt/ Wolfgang Frühwald/Christoph Perels/Hartwig Schultz, Stuttgart/Berlin/ Köln/Mainz 1987, S. 413. 19 | Ebd. 20 | Ebd., S. 422.
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Der Jäger, das meint jedenfalls Bergengruen in einer gewagten Interpretation, tritt so als Werwolf auf, der seinen Fluch auf die symbolische Tochter überträgt: »Die Handlungen Annerls und Kasperls sind mit den Bissen eines Werwolfs oder eines Tieres, das von der ›Bisswut‹ so ein anderer zeitgenössischer Name für die tierische Tollwut) befallen ist, vergleichbar.«21 In den unglückseligen Handlungen der beiden Kinder erkennt er die Wiederholung eines archaischen Momentes von Sexualität und Gewalt, das im Kindesmord eskaliert: »Sie war zuschanden gekommen aus Ehrsucht, sie wurde verführt von einem Vornehmen, er hat sie sitzen lassen, sie hat ihr Kind erstickt in derselben Schürze, die ich damals über den Kopf des Jägers Jürge warf«22 . Die überdeutliche Darstellung eines verfluchten weiblichen Schoßes, vor dem Schwerter in Bewegung geraten und in den abgeschlagene Häupter zurückkehren, steht bei Brentano für eine Geschichte über »falsche und wahre Ehre«23, in der das Wolfshafte die von bürgerlichen Ehrbegriffen verdrängte Sexualität und Gewalt repräsentiert, die schicksalhaft in der Geschichte von Selbstmördern und Kindsmörderinnen wiederkehrt.
4. G r aue W ölfe – gr aue H äuser . Theodor S torms A quis submersus und Z ur C hronik von G rieshuus Dass der Wolf in der Novelle des 19. Jahrhunderts in ähnlicher Weise wie später in der Psychoanalyse vor allem auf ein verbotenes sexuelles Begehren bezogen wird, bestätigt sich bei Theodor 21 | Maximilian Bergengruen, Tollwut, Werwolf, wilde Jagd. Wie das Gebiss des Jägers Jürge Brentanos Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl verzahnt, in: Maximilian Bergengruen/Johannes F. Lehmann/ Hubert Thüring (Hg.): Sexualität – Recht – Leben. Die Entstehung eines Dispositivs um 1800, München 2005, S. 263-293, hier S. 271. 22 | Clemens Brentano, Die Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl, S. 428f. 23 | Ebd., S. 439.
Wölfe im Land der Literatur
Storm. In der Erzählung Aquis submersus findet sich der Erzähler vor einem Bild, das einen ertrunkenen Jungen und seinen Vater zeigt, der ihn in den Armen hält. Das Bild ist mit einer subscriptio verbunden, die nur aus den vier Buchstaben besteht: C.P.A.S. Die kunstvoll gerahmte Erzählung dient der Bestätigung der Vermutung, die der Erzähler zu Beginn anstellt und derzufolge die ersten beiden Buchstaben für die Schuld des Vaters, Culpa Patris, einstehen, die beiden letzten Buchstaben hingegen für den im Wasser Versunkenen, Aquis submersus. Durch die Schuld des Vaters ist das Kind umgekommen. Die Bilder, vor denen der Erzähler steht, strukturieren so den gesamten Verlauf der Erzählung. Als ihm das Bild in einem Zimmer, das er für den Sohn eines Verwandten sucht, wiederbegegnet, findet der Erzähler ein Manuskript, das von der traurigen Geschichte eines Malers namens Johannes berichtet, der im Jahre 1661 als Günstling des Herrn Gerhardus mit dessen Sohn, dem »Junker Wulf«24, aneinandergerät. Die Feindschaft zwischen dem Junker und Johannes eskaliert durch die Neigung, die sich zwischen der Tochter Katharina und dem Maler entwickelt. Als der Junker nach dem Tod des Vaters seine Hunde auf Johannes hetzt, Bluthunde »gleich den Wölfen«25, findet dieser Unterschlupf bei Katharina. Für die Liebesnacht müssen beide teuer bezahlen: Katharina durch die unglückliche Ehe mit einem Pastor, der das uneheliche Kind als seines anerkennt, Johannes durch ein langes Exil, das sich auch nicht mehr ins Glück wenden lässt, als der Junker »durch eines tollen Hundes Biß gar jämmerlichen Todes«26 stirbt. Johannes findet Katharina im Pfarrhaus zu einem letzten Gespräch, das sie ihm nicht verweigert, während dessen aber das alleingelassene Kind ertrinkt: C.P.A.S., Culpa Patris Aquis Submersus.
24 | Theodor Storm. Gesammelte Werke in zwei Bänden. Neu herausgegeben und mit einem Nachwort und Zeittafel von Walter Zimorski. Band I. Frühe Erzählprosa und Novellen, Düsseldorf und Zürich 2000, S. 788. 25 | Ebd., S. 793. 26 | Ebd., S. 844.
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Die Verbindung zwischen dem Wölfischen – der Junker hetzt seine Hunde auf den Wolf Johannes, der seine Schwester rauben will – und einem verhängnisvollen erotischen Begehren gestaltet Storm deutlicher noch als in Aquis submersis in der Novelle Zur Chronik von Grieshuus aus dem Jahre 1884. Der Erzähler übernimmt dort die Funktion eines Chronisten, der von den spärlichen Resten, die vom Hause Grieshuus in der Heidelandschaft übrig sind, seinen Ausgang nimmt, um den Leser über eine traurige Familiengeschichte zu informieren. Im Zentrum der Chronik stehen die beiden Zwillingsbrüder Hinrich und Detlev, die zugleich die gegensätzlichen Naturen des Tätig-praktischen und des Gelehrten verkörpern. Während Detlev in den Büchern zu finden ist, zieht es Hinrich, der dafür oft gescholten wird, von Anfang an in den Wald zu den Wölfen. »›Was ist? Du hast den Wolf gesehen!‹ und ›Komm mir so allein nicht wieder, Junker Hinrich‹. Dann hat der Bube nur gelacht: ›Brumme nicht, Owe Heikens! Komm und laß uns nun die Grube richten!‹ Und dann ist der Alte doch nur zu gern mit ihm gegangen.«27 Die Novelle präsentiert Hinrich als passionierten Wolfsjäger, der stets mit seinen Hunden in der freien Natur unterwegs ist. Die scheinbar gut geordnete Position von Mensch und Wolf erweist sich im Verlauf der Novelle jedoch als äußerst beweglich. Der Grund dafür ist der Krieg: »wie nach dem großen Krieg im Reiche draußen, so hatte auch hier das Raubzeug sich vermehrt, gar auf den Landtagen hatte man über die Ausrottung des grausamen Wolfes verhandelt und Beschluß gefasst; in den Eichen von Grieshuus aber fand das Gezüchte besonders seinen Unterschlupf, und Junker Hinrich und der alte Jäger Owe Heikens waren ihm mit Fallen wie mit Hunden auf dem Nacken.«28 Im Krieg vermehren sich nicht nur die Wölfe. Der Mensch wird selbst zum
27 | Theodor Storm. Werke in zwei Bänden. Neu herausgegeben und mit einem Nachwort und Zeittafel von Walter Zimorski. Band II. Späte Novellen, Märchen, Spukgeschichten, Gedichte und Prosa, Düsseldorf und Zürich 2000, S. 187. 28 | Ebd., S. 195.
Wölfe im Land der Literatur
Wolf.29 Was Hinrich auf seiner Jagd findet, sind polnische Soldaten, die einen alten Mann und seine Tochter martern. Hinrich hetzt die Hunde auf die Soldaten und setzt sie fest. Die Rettung der Tochter lässt die Positionen zwischen Mensch und Wolf ein weiteres Mal in Bewegung kommen. Denn nun wird Hinrich, der sich in die schöne Bärbe verliebt, selbst zum Wolf. Als er sie das erste Mal aufsucht, mag sie es nicht über sich bringen, ein Huhn zu töten. Hinrich übernimmt das, befleckt damit aber gleichzeitig das unschuldige Mädchen: »Dann aber tat das Mädchen gleichzeitig mit dem Huhn einen Schrei, denn ein Blutstrahl war emporgeschossen, gar ein paar Tropfen standen rot auf ihrer weißen Schürze.«30 Das Bild der roten Schürze lässt Bärbe zur unrechtmäßen Beute des Jägers Hinrich werden. Die Wolfsjagd, zu der er von ihrem Oheim aufgefordert wird, soll nur von der Menschenjagd ablenken: »›Lasset uns wie sonst den Wolf jagen, Junker, oder eine Wildsau, wenn wieder trotz des Grauhunds sich eine hier herüberwagt; aber lasset das Kind in Frieden, das itzt unter meinem Dach schläft.‹«31 Hinrich wird die Warnung jedoch nicht beachten. Er heiratet Bärbe und verliert daraufhin sein Recht als Erstgeborener auf den väterlichen Hof. Als seine Frau ihr erstes Kind erwartet, erreicht sie ein Schreiben des Landgerichts, dass auf Betreiben des Bruders die Ehe annulliert. Bärbe kann zwar einer Tochter das Leben schenken, stirbt aber bei der Geburt. Hinrich, durch die Intrige des Bruders außer sich, tötet ihn und verschwindet ins Unbekannte. Seine Wiederkehr ist mit der der Wölfe verbunden: »der Wolf, ›de grise Hund‹, wie ihn die Bauern nennen«32, kehrt in den 29 | Dass der Wolf insbesondere die beiden Varianten des Krieges und der Kriminalität als Angriff auf die menschliche Ordnung verkörpert, ist herausgestellt worden von Roland Borgards, Wolf, Mensch, Hund. Theriotopologie in Brehms Tierleben und Storms Aquis Submersus, in: Anne von der Heiden/Joseph Vogl (Hg.): Politische Zoologie, Zürich 2007, S. 131147, hier S. 133. 30 | Theodor Storm, Zur Chronik von Grieshuus, S. 201. 31 | Ebd., S. 203. 32 | Ebd., S. 223.
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Wald zurück, um dem Märchen entlehntes Unglück anzurichten. »Noch jetzt zeigt man die Stelle, wo eines Tagelöhners Kind, das Dohnen in den Wald gestellt hatte, von ihm zerrissen worden; denn einen Jäger hat es zu Grieshuus nicht mehr gegeben«33. Einmal mehr dient die Legende vom bösen Wolf, der Menschen frisst, als Grund für seine Verfolgung. Ruhe vor den Wölfen gibt es erst, als Hinrich in der unerkannten Gestalt eines Fremden in die Heimat zurückkehrt. Als sein Enkel Rolf auf dem Pferde von einem Wolf angegriffen wird, taucht ein Wildfänger auf, der verspricht, die Wölfe aus dem Wald zu vertreiben. Er veranstaltet eine systematische Ausrottung der Tiere, die ihren Höhepunkt in dem Fang des letzten Wolfes auf dem väterlichen Hof findet: »Aber endlich, als ich wieder hinsah, stand auf dem leeren Flecke eine Kreatur, einem dürren, hochbeinigen Hund vergleichbar, und schritt, fürsichtig um sich lugend, in den Hof, stand still, warf den Kopf empor und schritt dann wieder weiter.«34 Der letzte Wolf ist Hinrich in die Falle getappt, auf dem eigenen Hof – nicht umsonst heißt er Grieshuus, graues Haus – lässt er das Tier durch seinen Enkel erschießen: »Der Wildmeister legte die Büchse in des Knaben Hände. ›Das ziemet dir‹, sprach er; ›es ist der letzte Wolf in deinen Wäldern.‹«35 Doch auch damit sind die Wölfe noch nicht erledigt. Die Ausrottung ist erst vollständig, als auch die Welpen der Wolfsmutter erschlagen sind: »Aber die jungen Wölfe sollen nicht verkümmern; ich und Hans Christoph‹, sprach er wieder lauter, ›holen sie heute nacht, solange wir die Brut nicht haben, ist der Wald nicht rein.‹«36 Mit der Wolfsmutter und ihren Welpen tötet der Wildfänger, der selbst zum Wolf geworden ist, symbolisch aber auch die eigene Familie. Der Wunsch nach einer Wiederherstellung der Reinheit im Wald, die ihn von der eigenen Vergangenheit erlösen könnte, scheitert abermals am Krieg. Im Kampf gegen die Russen findet Rolf den Tod, auch sein Großvater vermag es nicht mehr, ihn zu retten und stirbt selbst, um am 33 | Ebd. 34 | Ebd., S. 250. 35 | Ebd., S. 251. 36 | Ebd.
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Ende neben seinem Enkel als rechtmäßiger Herr von Grieshuus im Haus aufgebahrt zu werden. Storms Erzählung berichtet von der prekären Nähe, die zwischen dem Jäger und dem Wolf besteht. Denn in der Figur Hinrichs wird der Jäger selbst zum Wolf. Die Vernichtung der Wölfe dient der symbolischen Reinigung von der eigenen Schuld. Der frühe Tod bewahrt den Enkel so zugleich vor einer schicksalhaften Wiederholung der Geschichte seines Großvaters: Die Dienstmagd Abel, die ihn heimlich liebt, heiratet der Magister, der ihn erzogen hat. Im Falle der Wölfe, so zeigt die Novelle, kann nur der Tod das Begehren beenden.
5. W olfsjagd bei A dalbert S tif ter . B rigit ta Nicht erst bei Storm dient die Wolfsjagd als Verschiebung eines verbotenen erotischen Begehrens. Schon Adalbert Stifters Novelle Brigitta endet mit einer Wolfsjagd. Zu Beginn berichtet der Erzähler von einem alten Major, den er auf einer Reise kennengelernt hat und auf seinem Gut in Ungarn besucht. Auf dem Weg zum Major begegnet er einer Frau von vierzig Jahren, die ihm den Weg weist. Beim Eintritt begrüßt ihn »der größte, schönste Hund, den ich in meinem Leben gesehen habe«37. Der schöne Hund wehrt den Wölfen, die in den ungarischen Wäldern lauern. Er lässt den Erzähler passieren, damit dieser das Rätsel um Brigitta und den Major lösen kann. Das Geheimnis, das den Major umwittert, ist mit dem Bild einer Frau verbunden, das Stifter auf geradezu diffamierende Weise in den Bereich des Hässlichen rückt: »es war nicht das Bild eines schönen, sondern eines häßlichen Wesens«, heißt es, »Stärke und Kraft« komme der Frau zu, »der Blick war wild«38. Als der Major und sein Freund zu Besuch bei Brigitta Maroshely und ihrem Sohn Gustav sind, einem schönen Jüngling, der ihm bereits im Hause des Majors aufgefallen war, da sieht sich der Erzähler dennoch überrascht von der »Leidenschaft, die 37 | Adalbert Stifter, Studien. Zweiter Band, Frankfurt a.M. 1989, S. 199. 38 | Ebd., S. 216.
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der Major zu der häßlichen und bereits auch alternden Brigitta gefaßt«39 hat. Wie und warum diese Leidenschaft entstanden ist und warum sie sich nicht verwirklichen lässt, bleibt zunächst unklar. Der Grund scheint in einer früheren Ehe der hässlichen Brigitta mit einem leichtsinnigen Mann namens Stephen Murai zu liegen, der sie verlassen habe. Die wahre Geschichte offenbart sich erst, nachdem Gustav vom Major vor den Wölfen gerettet wird. Als der Erzähler und der Major Schüsse hören, eilen sie ihren von Wölfen bedrohten Freunden zu Hilfe: Ehe ich etwas begreifen und fragen konnte, sprengte er schon die Allee entlang, so furchtbar, wie ich nie ein Pferd habe laufen gesehen, ich folgte ihm nach, weil ich ein Unglück ahnete, und als ich wieder zu ihm kam, traf ich auf ein Schauspiel, so gräßlich und so herrlich, daß noch jetzt meine Seele schaudert und jauchzt: an der Stelle, wo der Galgen steht und der Binsenbach schillert, hatte der Major den Knaben Gustav gefunden, der sich nur noch matt gegen ein Rudel Wölfe wehrte. Zwei hatte er erschossen, einen, der vorne an sein Pferd gesprungen war, wehrte er mit seinem Eisen, die andern bannte er für den Augenblick mit der Wut seiner vor Angst und Wildheit leuchtenden Augen, die er auf sie bohrte; aber harrend und lechzend umstanden sie ihn, daß eine Wendung, ein Augenzucken, ein Nichts Grund werden könne, mit eins auf ihn zu fallen – da, im Augenblicke der höchsten Not, erschien der Major. Als ich ankam, war er schon wie ein verderblich Wunder, wie ein Meteor, mitten unter ihnen – der Mann war entsetzlich anzuschauen, ohne Rücksicht auf sich, fast selber wie ein Raubtier warf er sich ihnen entgegen. Wie er von dem Pferde gekommen war, hatte ich nicht gesehen, da ich später ankam; den Knall seiner Doppelpistole hatte ich gehört, und wie ich auf dem Schauplatze erschien, glänzte sein Hirschfänger gegen die Wölfe, und er war zu Fuß. Drei – vier Sekunden mochte es gedauert haben, ich hatte bloß Zeit, mein Jagdgewehr abzudrücken, und die unheimlichen Tiere waren in den Nebel zerstoben, als wären sie von ihm eingetrunken worden. 40
39 | Ebd., S. 221. 40 | Ebd., S. 245f.
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Am Ende der Flucht werden die Jäger selbst zu Gejagten. Jäger und Hunde verfolgen das Rudel, um ihm endgültig den Garaus zu machen. Bei Stifter kommen die Wölfe nicht gut weg: »Eigentlich sind diese Tiere, wenn sie nicht von dem Hunger gespornt werden, feig.«41 Die Geschichte der Wolfsjagd, die mit der Diskreditierung der wilden Tiere einhergeht, dient zugleich als Auflösung des Rätsels um den Major und Brigitta. Zum ersten Mal nennt ihn Brigitta mit seinem Namen Stephan. Der tapfere Major Stephan Murai findet nach fünfzehn Jahren, »ein sanftes Gesetz der Schönheit«42 zieht sie, wieder zu der einstigen Gattin Brigitta und dem gemeinsamen Sohn Gustav. Der Sohn hat den Vater beschützt, die Wölfe, letztlich harmlose Teufel wie Goethes Mephistopheles, durch ihr Böses Gutes erzeugt. Die Wolfsjagd scheint jedenfalls für alle eine kathartische Wirkung gehabt zu haben. Oder, wie Stifter in der erhabenen Schlichtheit eines Märchenschlusses formuliert: »Alles war nun gut.«43 Außer, natürlich, für die Wölfe. Aber wer oder was ist der Wolf in den Erzählungen des 19. Jahrhunderts? Zwar scheinen die Wölfe in der erzählenden Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts jenseits der kleinen Formen des Märchens und der Fabel keine zentrale Rolle mehr zu spielen. Als Randfiguren aber übernehmen sie dennoch eine bedeutsame Funktion. Stets scheinen sie in die Nähe des Pathologischen, Anormalen gerückt zu werden: bei Goethe in die soziale Nähe zu den Zigeunern, die im Wald hausen, bei Schiller und Brentano in die Funktion der kriminellen Natur des Verbrechers, bei Storm und Stifter in die stellvertretende Repräsentation eines verbotenen erotischen Begehrens, das mit allen Mitteln eingedämmt werden muss. In den Erzählungen wie schon in Goethes Götz von Berlichingen tauschen Mensch und Wolf daher beständig die Rolle: So wie Götz im Rahmen der bestehenden Ordnung zum Wolf wird, so sieht er sich selbst als denjenigen, der das Land vor den Wölfen rettet. Schiller macht den Verbrecher zu einem Wolfsmann, der 41 | Ebd., S. 246. 42 | Ebd., S. 250. 43 | Ebd., S. 252.
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gegen die eigene tierische Natur kämpft und erst im christlichen Geständnis seiner Untaten späte Erlösung findet – nicht ohne dass ihm der Kopf abgehackt wird. Bei Brentano steht das Wölfische für die Gefahr einer sexuellen Kontamination ein, die sich in fortgesetzten Bildern der Gewalt entlädt. Bei Storm verkörpern die Wölfe eine Bedrohung, die von außen, von den Wäldern zu kommen scheint, zugleich aber zum Spiegel des eigenen Inneren wird: Von den Hunden gehetzt wie Aktaion lässt sich Johannes zu Katharina treiben, um ihr die Unschuld und das Lebensglück zu rauben, so wie Hinrich als Retter zugleich zum Verführer der schönen Bärbe wird, die er gegen alle Standesgesetze zur Frau nimmt, um sich und die Familie dem Unglück zu überantworten. Es ist nicht die stereotype Darstellung des Wolfes als letztlich schwacher und feiger Räuber, die in den Texten überrascht. Es ist die nicht minder stereotype Engführung von Mensch und Wolf, die in den Erzählungen aufscheint, eine Engführung, die von der symbolischen Präsenz der Wölfe in einer Welt zeugt, aus der sie faktisch fast verschwunden sind. Nach ihrer beinahe vollständigen Ausrottung scheint ihnen nur der Weg nach innen, in die Seele des Menschen selbst zu bleiben. Kein Wunder, dass sie dort von dem entdeckt werden, der das Studium der menschlichen Seele zu seiner wissenschaftlichen Aufgabe gemacht hat: dem Psychoanalytiker Sigmund Freud.
III. Freud und die Wolfsmänner 1. W ölfe und H unde . B rehms Tierleben Während sich die Psychoanalyse zu Beginn des 20. Jahrhunderts dem Wolf annähern wird, ist sein Status in den kulturellen Repräsentationen der Zeit mehr als fragil. Das Bild, das Brehms Tierleben vom Wolf präsentiert, ist jämmerlich. Das macht sich bereits in seiner äußeren Gestalt bemerkbar. »Der Wolf (Canis lupus) hat etwa die Gestalt eines großen, hochbeinigen, dürren Hundes, der den Schwanz hängen lässt.«1 Brehms Tierleben rückt den Wolf in die Nähe des Hundes, um ihn zugleich abzuwerten. Der hängende Schwanz ist das sprechende Bild eines Raubtieres, von dem kaum noch eine Gefahr auszugehen scheint: »Der Leib ist hager, der Bauch eingezogen; die Läufe sind klapperdürr und schmalpfotig; die langhaarige Lunte hängt bis auf die Fersen herab; die Schnauze erscheint im Verhältnis zu dem dicken Kopfe gestreckt und spitzig; die breite Stirn fällt schief ab; die Seher stehen schief, die Lauscher immer aufrecht.«2 Klapperdürr und schmal, schief und hager: Der Text gibt sich kaum Mühe, seine Anstrengungen zu verdrängen, den Wolf an den Rand des Raubtierhaften zu drängen. Zwischen ernst zu nehmenden Raubtieren wie dem Tiger und dem Löwen auf der einen und den domestizierten Hunden auf der anderen Seite bildet er ein Scharnier, in dem sich seine Gestalt allmählich auflöst. Von dem Tier, das den Lebensraum 1 | Brehms Tierleben. In Auswahl herausgegeben und bearbeitet von Carl W. Neumann. Zweiter Band. Raubtiere – Haushunde, Leipzig 1924, S. 188. 2 | Ebd., S. 188.
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des Menschen wie kaum ein anderes begleitet hat, heißt es nurmehr: »Der Wolf wird zwar allmählich mehr und mehr zurückgedrängt, doch ist der letzte Tag seines Auftretens im gesitteten Europa anscheinend noch fern.«3 Das »schädliche Raubtier«4, »der gefährliche Räuber«5 wird mit beeindruckenden Tötungszahlungen konfrontiert, die belegen, wie erfolgreich er an den Rand der europäischen Gesellschaft gedrängt wurde. Wenn der Wolf mit dem »gesitteten Europa« nicht vereinbar sein kann, dann rückt er in die Nähe anderer, nicht-zivilisierter Gesellschaften: So bilden »Wolfsgesellschaften lange Rotten, indem die einzelnen Tiere, wie die Indianer auf ihrem Kriegspfade, dicht hintereinander herlaufen und möglichst in die gleiche Spur treten«6. Wölfe sind wie Indianer, die klug die Anzahl der Krieger zu verbergen wissen, indem sie in die gleiche Spur treten. Außerhalb Europas oder an ihren weit in den Osten verlagerten Grenzen treiben die Wölfe so vielleicht noch ihr Unwesen. Im Herzen der abendländischen Kultur, der gesitteten Welt, haben sie jedoch nichts zu suchen. Die in Europa weit verbreitete Wolfsjagd rechtfertigt Brehms Tierleben dementsprechend auch umgehend mit dem Blutdurst nicht der Jäger, sondern des Gejagten: »Der Schaden, den er durch Jagd anrichtet, würde, obschon immer bedeutend, so hoch vielleicht zu ertragen sein, ließe er sich von seinem ungezügelten Blutdurst nicht hinreißen, mehr zu erwürgen, als er zu seiner Ernährung braucht. Hierdurch erst wird er zur Geißel für die Hirten und Jagdbesitzer, zum ingrimmig gehaßten Feinde von jedermann.« 7 Geißel und Feind ist der Wolf, da er sich in seiner Gier nicht zu beschränken weiß. Bilder ganzer tot gebissener Herden, durch Kehlbiss verbluteter Tiere, von denen meist nur die Eingeweide gefressen sind, bestärken bis heute das Bild eines Räubers, der sich bei der Jagd maßlos verhält und deshalb Unsitten verkörpert,
3 | Ebd., S. 189. 4 | Ebd. 5 | Ebd., S. 192. 6 | Ebd. 7 | Ebd.
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die »auch unter den Tieren Angst und Schrecken verbreiten« 8. Wo die Pferde aber vor dem Wolf scheuen, da freut sich der beste Freund des Menschen schon auf die Jagd: »Für gute Hunde aber scheint es kein größeres Vergnügen zu geben als die Wolfsjagd.«9 Selbst die klugen Schweine, deren Bedeutung als Kulturträger schon Oskar Panizza nachgegangen ist,10 wissen sich des Wolfes zu erwehren: »Die tapferen Borstenträger stehen mutig ein für das Wohl der Gesamtheit, alle für einen, und bearbeiten den bösen Wolf, der sich erfrechen sollte, unter ihnen einzufallen«11. Allein die Tiere, die schon Aristoteles für die dümmsten unter allen erachtete, die Schafe, ergeben sich dem Feind ohne Widerstand. »Nur die Schafe fügen sich mit der ihnen eigenen Ergebung widerstandslos in das Unvermeidliche.«12 Dabei haben auch sie eigentlich kaum einen Grund zur Angst, handelt es sich beim Wolf doch um »eines der feigsten und furchtsamsten Tiere, das es gibt«13. Zwar sei der Wolf durchaus schlauer als der Fuchs. Die Klugheit des Tieres, die ihn geradezu in die Nähe von Trickster-Figuren wie Odysseus zu rücken scheint – »In der Regel benimmt er sich den Umständen angemessen, überlegt, bevor er handelt, und weiß auch in bedrängter Lage noch den rechten Ausweg zu finden«14, gibt Brehms Tierleben zu – verlegt der Text jedoch ganz in den Bereich der Feigheit. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist eines klar: Von den Wölfen ist kaum noch eine Gefahr zu befürchten. Die »heitere Geschichte«15 über Wolfsgruben, in denen der schlimme Räuber früher gefangen wurde, ergänzt der Text durch den lakonischen Hinweis, dass der Tod des Feindes heute 8 | Ebd., S. 196. 9 | Ebd. 10 | Vgl. Oskar Panizza, Das Schwein in poetischer, mitologischer und sittengeschichtlicher Bedeutung. Mit einem Essay von Albrecht Koschorke. Hg. und Nachwort von Rolf Düsterberg, München 1988. 11 | Brehms Tierleben, S. 196. 12 | Ebd., S. 198. 13 | Ebd., S. 199. 14 | Ebd. 15 | Ebd., S. 201.
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meist durch Strychnin erfolgt. Was sollte dem feigen Räuber auch besser anstehen als der Tod durch Gift? Die Austreibung des Wolfes aus der europäischen Gesellschaft, von der Brehms Tierleben beredt Zeugnis ablegt, hat jedoch ihren Preis. Wenn die Wölfe nicht mehr als äußere Gefahrenvertreter auftreten, dann verlagert sich das Risiko, ihnen zu begegnen, ins Innere. Das gilt nicht allein für die seit der Antike bekannten rituellen Verwandlungen des Menschen in den Wolf, in der es letztlich um eine Veräußerlichung des Inneren geht, sondern ebenso für die psychoanalytische Entdeckung des Unbewussten, die den Wolf in einer großen Inversionsbewegung im Inneren des Menschen, in seinem Seelenleben, entdeckt. Die Verdrängung des Wolfes aus der zivilisierten Welt hat seine Rückkehr zur Folge, eine Rückkehr im Herzen der abendländischen Kultur, ihrem eigentlichen Zentrum, den Kaukasier Mensch. Vor dieser Gefahr kann keine Extermination schützen. Hier sind andere, subtilere Schutzmechanismen gefragt, gewitzte Umwege, die niemandem bekannter waren als dem symbolischen Herren der Wolfsmänner, als Sigmund Freud.
2. D er W olfsmann »Ich, ein russischer Emigrant, der ich heute dreiundachtzig Jahre alt bin und einmal einer von Freuds frühen psychoanalytischen Patienten war, will meine Kindheitserinnerungen erzählen.«16 Mit diesen Worten beginnt Sergej Konstantinowitsch Pankejeff seine autobiographischen Erinnerungen. Sie speisen sich aus dem Ruhm, den er als wohl berühmtester psychoanalytischer Fall erfahren hat. »L’Histoire d’une névrose infantile est un des écrits les plus intrinsigants de l’inventeur de la psychanalyse. Polémique dans son propos explicite, il reflète aussi un autre débat, le débat
16 | Der Wolfsmann vom Wolfsmann. Herausgegeben von Muriel Gardiner, Frankfurt a.M. 1972, S. 19.
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de l’auteur avec lui-même«17, halten Abraham/Torok in ihrer Weiterführung von Freuds Analyse einleitend fest. Eine einzigartige Bedeutung kommt dem aufsehenerregenden Fall des Wolfsmannes nicht nur als Gegenstand der psychoanalytischen Praxis zu, sondern zugleich als Zeichen einer Selbstkritik Freuds, die zu einer tiefen Zäsur in seinem Werk geführt hat. Auffällig an den Erinnerungen des Wolfsmannes ist allerdings die Tatsache, dass Sergej Konstantinowitsch Pankejeff den Namen des Wolfsmannes in seinen Erinnerungen vermeidet und so die zweite Taufe konterkariert, die er durch die Psychoanalyse erfahren hat. Mit der Publikation des Buches scheint er zwar die Umbenennung in den Wolfsmann zu akzeptieren. Indem er nicht nur den Namen Wolfsmann ablehnt, sondern darüber hinaus Freuds eigenen Namen einer signifikanten Verfremdung unterzieht, entzieht er sich ihr jedoch zugleich: »Als wir nach Odessa zurückgekehrt waren, ließ meine Mutter, ihrer Gewohnheit gemäß, eine Messe lesen, bei der auch Professor Freud nicht vergessen werden durfte; auch auf diese Weise wollte meine Mutter ihren Dank für meine erfolgreiche Behandlung abstatten. So betete der orthodoxe Pope feierlich auch für das Wohlergehen ›Sigismunds‹, hinter welchem Namen er wahrscheinlich einen Angehörigen unserer Familie vermutete.«18 Der berühmteste Sohn der Psychoanalyse macht den symbolischen Vater Freud durch einen orthodoxen Popen zum Bestandteil der eigenen Familie. Die List des Wolfmannes bestätigt, was Freud seiner Fallanalyse vorausschickte: Sie sei »technisch undurchführbar und sozial unzulässig«19. Die Abwehr, mit der sein schwieriger Patient auf die Analyse reagiert hat, wird von Freud erwidert. Von der Analyse 17 | Nicolas Abraham/Maria Torok, Cryptonymie. Le verbier de l’homme aux loups, Paris 1976, S. 85. Nicht nur die Herausgeberin seiner Erinnerungen, Muriel Gardiner, betont in diesem Zusammenhang die Einzigartigkeit des Wolfsmannes. Ebd., S. 7. 18 | Ebd., S. 120. 19 | Sigmund Freud, Aus der Geschichte einer infantilen Neurose, in: Gesammelte Werke. Zwölfter Band. Werke aus den Jahren 1917-1920, Frankfurt a.M. 1999, S. 27-157, hier S. 30.
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des Wolfsmannes gibt er mit großen Bedenken nur Bruchstücke wider. Freud führt die Geschichte des Wolfsmannes als Beispiel für eine infantile Neurose ein, die sich durch die Verbindung einer Angsthysterie mit einer Tierphobie auszeichnet. Beide Momente, Angsthysterie und Tierphobie, findet er in dem Bild des Wolfes vor, wie es ihm sein Patient in Kindheitserinnerungen mitgeteilt hat: »Es gab ein gewisses Bilderbuch, in dem ein Wolf dargestellt war, aufrecht stehend und ausschreitend. Wenn er dieses Bild zu Gesicht bekam, fing er an wie rasend zu schreien, er fürchtete sich, der Wolf werde kommen und ihn auffressen. Die Schwester wußte es aber immer so einzurichten, daß er dieses Bild sehen mußte, und ergötzte sich an seinem Schrecken.«20 Die Erinnerungen des Wolfsmannes scheinen Freuds Darstellung zu bestätigen. In der literarischen Konkurrenz zu Freud, in die sich die Lebenserinnerungen des Wolfmannes begeben, setzen sie jedoch zugleich einen anderen Akzent: Sie sagte einmal, sie werde mir ein schönes Bild zeigen, auf dem ein hübsches kleines Mädchen abgebildet sei. Nun war ich auf dieses Bild recht neugierig. Anna deckte aber das Bild mit einem Blatt Papier zu. Als sie dann das Blatt Papier wegzog, sah ich statt eines hübschen Mädchens einen Wolf, der aufrecht auf den Hinterbeinen stand und seinen Rachen weit aufriß, um das Rotkäppchen zu verschlingen. Nun begann ich zu schreien und bekam einen regelrechten Wutanfall. 21
Der Wolf erscheint als Symbol für eine erotische Form des Begehrens, das sich zunächst auf das hübsche kleine Mädchen bezieht, das der Erzähler zu sehen wünscht. Die Enttäuschung, die das Ich erfahren muss, verwandelt sich zunächst nicht in Angst, wie es der Hysterie entspräche, sondern in Wut. Nicht die Angst, vom Wolf verschlungen zu werden, scheint die ersten Erinnerungen zu bestimmen, sondern der Wunsch, selber das Mädchen zu verschlingen wie der Wolf das Rotkäppchen. Analog zu Freuds Ge20 | Ebd., S. 39. 21 | Der Wolfsmann, S. 22.
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danken über Märchenstoff in Träumen ist die Einführung der Figur des Wolfes in den Erinnerungen von Sergei Konstantinowitsch Pankejeff an die narrative Form des Märchens gebunden. »Unsere Lektüre bestand damals fast ausschließlich aus russischen Übersetzungen deutscher Kinderbücher. So las uns Fräulein Elisabeth die Grimmschen Märchen vor, die meine Nanja und ich sehr interessant und anregend fanden«22, weiß der Wolfsmann zu berichten, und so kommentiert Freud: »Er hörte die Geschichte (aus Reineke Fuchs) vorlesen, wie der Wolf im Winter Fische fangen wollte und seinen Schwanz als Köder benützte, wobei der Schwanz im Eis abbrach.«23 Rotkäppchen, Der Wolf und die sieben jungen Geißlein, Carlo Ginzburg zufolge aber auch das Freud unbekannte russische Märchen Der tumbe Wolf 24 und die Fabel von Reineke Fuchs erfahren in den Erinnerungen des Wolfsmannes eine Verdichtung, die den Bereich des Märchenhaften erst verlässt, als sie sich die Wunschversagung im Traum in Angst verwandelt: Ich habe geträumt, daß es Nacht ist und ich in meinem Bett liege (mein Bett stand mit dem Fußende gegen das Fenster, vor dem Fenster befand sich eine Reihe alter Nußbäume. Ich weiß, es war Winter, als ich träumte, und Nachtzeit). Plötzlich geht das Fenster von selbst auf, und ich sehe mit großem Schrecken, daß auf dem großen Nußbaum vor dem Fenster ein paar weiße Wölfe sitzen. Es waren sechs oder sieben Stück. Die Wölfe waren ganz weiß und sahen eher aus wie Füchse oder Schäferhunde, denn sie hatten große Schwänze wie Füchse und ihre Ohren waren aufgestellt wie bei den Hunden, wenn sie auf etwas passen. Unter großer Angst, offenbar, von den Wölfen aufgefressen zu werden, schrie ich auf und erwachte. 25
Das Motiv wie die Anzahl der Wölfe scheinen weiterhin auf den Märchenstoff zu verweisen, der im Traum verarbeitet ist. Die Wut, 22 | Der Wolfsmann, S. 23. 23 | Sigmund Freud, Aus der Geschichte einer infantilen Neurose, S. 49. 24 | Vgl. Carlo Ginzburg, Freud, der Wolfsmann und die Werwölfe, in: Zeitschrift für Volkskunde 82 (1986), S. 189-199. 25 | Der Wolfsmann, S. 54.
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nicht das von der Schwester versprochene Mädchen, sondern den Wolf zu sehen, ist jedoch der Angst gewichen, von ihm gefressen zu werden. Die narzisstische Identifikation mit dem Vater, für die der Wolf zunächst einstand, löst die ödipale Angst vor ihm ab. Im Kontext des Rotkäppchen-Märchens, auf das sich Freud bezieht, geht die Angst zugleich eine Effemination des Ich einher, in der Abraham/Torok zugleich den Grund für die phantasmatische Einverleibung der toten Schwester erkannten, die in der Krypta weiterlebt, nach Derrida ein »lieu introuvable«26, der sich noch der psychoanalytischen Deutungskunst entzieht. Aus dem Wolfsmann wird in den Darstellungen von Abraham/Torok eine Wolfsfrau, die als »Siesterka-Bouka (sœurette-loup)«27 im Inneren des Bruders in der Form einer »crypte au sein du Moi«28 existiert. Was die Krypta im Rahmen einer archaisierenden, auf der Ordnung des Fetisches beruhenden Magie der Sprache offenbart 29, die Wort und Ding gleichsetzt, ist nicht der ödipale Konflikt mit dem Vater, wie Freud vermutete, sondern die narzisstische Versagung, die das Ich erfahren musste, als es durch den Tod der Schwester der Möglichkeit beraubt wurde, der – imaginierten oder realen – Urszene der Verführung der Schwester durch den Vater beizuwohnen oder diese zu bezeugen. Als unmöglicher Zeuge konstituiert sich das Ich des Wolfsmanns, der sich noch in seinen Erinnerungen der neuen Zuschreibung seiner Identität als Wolfsmann zu entziehen versucht, in der Form eines »moi clivé«30, das im Text symbolisch im Bild des Krüppels weiter lebt, dem die Zunge abgeschnitten wurde: »Es gab in sehr früher Zeit, wahrscheinlich noch vor der Verführung (3 ¼ Jahre) auf dem Gute einen armen Tagelöhner, der das Wasser ins Haus zu tragen hatte. Er konnte nicht sprechen, angeblich weil man ihm die 26 | Jacques Derrida, Fors, in: Nicolas Abraham/Maria Torok, Cryptonymie. Le verbier de l’homme aux loups, Paris 1976, S. 9-82, hier S. 10. 27 | Nicolas Abraham/Maria Torok, Cryptonymie, S. 113. 28 | Nicolas Abraham/Maria Torok, L’écorce et le noyau, Paris 1987, S. 300. 29 | Nicolas Abraham/Maria Torok, Cryptonymie, S. 117. 30 | Jacques Derrida, Fors, S. 11.
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Zunge abgeschnitten hatte«31, notiert Freud in seiner Geschichte der infantilen Neurose. Für Freud ist der Tagelöhner »der erste bemitleidete Krüppel«32 im Leben des Wolfsmannes, wobei in Anknüpfung an Nietzsche der Zusammenhang von Mitleid und Narzissmus entscheidend sei: Der »narzißtische Ursprung des Mitleids, für den das Wort selbst spricht, ist hier übrigens ganz unverkennbar.«33 Mitleid scheint kein angemessener Affekt für den Umgang mit Wölfen zu sein.
3. F reud , die W ölfe und die P sychoanalyse Freuds Analyse hat viel Kritik aus ganz unterschiedlichen Richtungen auf sich gezogen. So hat Carlo Ginzburg aus einer ethnologischen Perspektive darauf hingewiesen, dass Freud bedeutsame Merkmale in der Geschichte des Wolfsmannes verschwiegen oder übersehen hat, weil er mit bestimmten russischen Traditionen nicht vertraut ist. Dazu zählen besondere Merkmale, die Pankejeff in die Nähe eines Werwolfes rücken: Er kommt mit Zähnen zur Welt, ist mit dem Hemd (Glückshaube) geboren, dazu in der heiligen Zeit der zwölf Tage zwischen Weihnachten und Epiphanias: »Aus dem von Freud veröffentlichten Bericht erfahren wir, daß der Patient Russe war, daß er mit dem Hemd, der Glückshaube zur Welt gekommen war; daß er am Weihnachtstag geboren war.«34 Ginzburg stellt daher fest, »daß im Traum des Wolfsmannes ein viel älterer mythischer Inhalt durchbricht, der auch in den Träumen (in den Ekstasen, in den Ohnmachten, in den Visionen) der Benandanti, der Táltos, der Werwölfe, der Hexen aufspürbar ist.«35 Dass Freud diese Zusammenhänge übersieht, scheint seine Analyse von Beginn an einzuschränken. Wie sehr 31 | Sigmund Freud, Aus der Geschichte einer infantilen Neurose, S. 120. 32 | Ebd. 33 | Ebd., S. 121. 34 | Carlo Ginzburg, Freud, der Wolfsmann und die Werwölfe, S. 191. 35 | Ebd., S. 198.
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die Unkenntnis der russischen Tradition an diesem Dilemma teilhat, hat Alexander Etkind herausgearbeitet. In seiner Geschichte der Rezeption der Psychoanalyse in Russland stellt er fest, dass Freud nicht nur manches übersieht, sondern insgesamt einem Klischeebild des Russischen aufsitzt: Überhaupt erinnern die speziellen Motive, die Freud in seiner Schilderung des Falles Pankejew herausarbeitet, deutlich an die Grundbausteine der ›russischen Idee‹, wie sie aus den von Pankejews Landsleuten just in den Jahren seiner Kindheit und Jugend verfaßten Romanen, Poemen und philosophischen Traktaten tönte: rationalistische Religionskritik, gepaart mit einem vagen Mystizismus; eine Fixierung auf das Thema Tod und Wiedergeburt; die auffällig ausdauernde Beschäftigung mit Homosexualität, Sodomie, Androgynie; schließlich ein für den Außenstehenden erstaunlich intensives geistiges Leben bei anhaltender Klage über einen Mangel an realen sozialen Interessen… 36
Die Kritik an Freuds Analyse geht jedoch nicht allein auf den Bereich der Ethnologie und der Kulturgeschichte zurück. Sie kommt aus der Psychoanalyse selbst. So haben Abraham/Torok in ihrer Wiederaufnahme des Falles darauf hingewiesen, dass der Wolfsmann über eine eigene kryptische Sprache verfüge, die sich Freud entzogen habe. Diese »langue cryptique«37, »des cryptonymes (des mots qui cachent)«38, habe eine Bewegung des Verbergens zum Grund, die in der zur Melancholie ausgeweiteten Trauer um den Selbstmord der Schwester ihr Geheimnis hat. Einer der Melancholie typischen Form der Inkorporation folgend beherbergt der Wolfsmann in seinem kryptischen Innenraum wie im Grab das Bild der toten Schwester, um es zugleich vor Zugriffen von außen zu schützen – kein Wunder, dass Pankejew sich zeit seines Lebens der Analyse zu entziehen versucht hat. Was die Analyse hervorgebracht habe, war dementsprechend gerade nicht die au36 | Alexander Etkind, Eros des Unmöglichen. Die Geschichte der Psychoanalyse in Russland, Leipzig 1996, S. 122. 37 | Nicolas Abraham/Maria Torok, Cryptonymie, S. 79. 38 | Ebd., S. 115.
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thentische Geschichte des Wolfsmannes, für die sie berühmt geworden ist, sondern seine listigen Weisen der Verstellung: »c’est que l’Homme aux loups ne pouvait rien offrir d’autre à l’analyse que ses divers modes de n’être pas lui-même.«39 Die durch eine Magie der Worte bewirkte Fetischisierung eines kryptischen Innenraums im Unbewussten sei Freud so notwendig entgangen. Freud ist der Wolf durch die Lappen gegangen. Abraham/Torok haben in ihrer subtilen Relektüre des Falles aber noch auf ein anderes Moment hingewiesen, das für Freuds Auseinandersetzung mit dem Wolfsmann von Bedeutung ist: »il reflête aussi un autre débat, le débat de l’auteur avec lui-même.«40 Freuds Fallgeschichte ist demnach zugleich ein selbstreflexiver Zug eingeschrieben, der die Geschichte der Psychoanalyse selbst betrifft und sich insbesondere in der kritischen Auseinandersetzung mit Adler und Jung zeige. Freud verteidigt sein Terrain gegen diejenigen, die seinen Anspruch als Leitwolf des Rudels der Psychoanalyse in Frage stellen. »Der Widerstand gegen die Ergebnisse der Psychoanalyse hat bekanntlich in der gegenwärtigen Phase des Kampfes um die Psychoanalyse eine neue Form angenommen«41, schreibt Freud zu Beginn seiner Fallgeschichte, um zu markieren, dass die Feinde der Psychoanalyse nun aus den eigenen Reihen kommen. Jung und Adler müssen sich daher eine scharfe Kritik von Seiten Freuds gefallen lassen: »Zurückgelassen, als Irrtum verworfen, wird aber gerade das, was an der Psychoanalyse neu ist und ihr eigentümlich zukommt.«42 Was aber ist das Neue und Eigentümliche, das der Psychoanalyse zukommt? Wie sich gezeigt hat, bereitet Freud die Analyse des Falles größte Schwierigkeiten. Gerade darin aber liegt der Reiz der Geschichte. »Neues kann man nur aus Analysen erfahren, die besondere Schwierigkeiten bieten, zu deren Überwindung man dann viel Zeit braucht.«43 Zu sich selbst findet Freud in ei39 | Ebd., S. 91. 40 | Ebd., S. 85. 41 | Sigmund Freud, Aus der Geschichte einer infantilen Neurose, S. 31. 42 | Ebd., S. 82. 43 | Ebd., S. 32.
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ner heroischen Selbstinszenierung erst wieder dort, wo ihn alle anderen, selbst seine frühen Weggefährten wie Adler und Jung, zu verlassen scheinen. Es muss »die Stelle sein, an der der Glaube der Leser mich verlassen wird«44, die zum Prüfstein der Analyse wird. Freud findet im Fall des Wolfsmannes das, was er die Urszene nennt und den eigentlichen Grund für die neurotische Erkrankung bildet: »Was in jener Nacht aus dem Chaos der unbewußten Eindrucksspuren aktiviert wurde, war das Bild eines Koitus zwischen den Eltern unter nicht ganz gewöhnlichen und für die Beobachtung besonders günstigen Umständen.«45 Den Traum führt Freud auf eine Urszene zurück, von der nicht einmal zu sagen weiß, ob sie wirklich stattgefunden hat. »Ich möchte selbst gerne wissen, ob die Urszene bei meinem Patienten Phantasie oder reales Erlebnis war, aber mit Rücksicht auf andere ähnliche Fälle muß man sagen, es sei eigentlich nicht sehr wichtig, dies zu entscheiden.«46 Nicht sehr wichtig ist für den Psychoanalytiker die Frage, ob die Urszene der Phantasie oder der Wirklichkeit entsprungen sei, da ihre Dynamik für den psychischen Apparat unbezweifelbar sei. Mit der Urszene führt Freud ein fiktionales Moment in seine Analyse in, das es ihm ermöglicht, seine Spekulationen um die neurotische Erkrankung des Patienten zu entfalten. Die Auflösung der Fallgeschichte durch die Einführung einer Urszene, die in der Kindheit des Wolfsmannes zu verorten sei, dient so als Rechtfertigung nicht nur dieses Falles, sondern der Psychoanalyse überhaupt: Im Streit steht also die Bedeutung des infantilen Moments. Die Aufgabe geht dahin, einen Fall zu finden, der diese Bedeutung, jedem Zweifel entzogen, erweisen kann. Ein solcher ist aber der Krankheitsfall, der durch den Charakter ausgezeichnet ist, daß der Neurose im späteren Leben eine Neurose in frühen Jahren der Kindheit vorhergeht. Gerade darum habe ich ja diesen Fall zur Mitteilung gewählt. Sollte jemand ihn etwa darum ablehnen wollen, weil ihm die Tierphobie nicht wichtig genug er44 | Ebd., S. 63. 45 | Ebd. 46 | Ebd., S. 131.
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scheint, um als selbständige Neurose anerkannt zu werden, so will ich ihn darauf verweisen, daß ohne Intervall an diese Phobie ein Zwangszeremoniell, Zwangshandlungen und Gedanken anschließen, von denen in den folgenden Abschnitten dieser Schrift die Rede sein wird. 47
Der Fall des Wolfsmannes wird Freud zum Prüfstein für die Annahme, dass alle neurotischen Konflikte des erwachsenen Menschen auf die Kindheit zurückgehen. Im Zuge dieser Erkenntnis verwandelt er erst den Patienten in einen Wolf, dann die Eltern – »Zur Würdigung der Wolfsphobie fügen wir noch hinzu, daß Vater und Mutter, beide, zu Wölfen wurden«48 –, um schlussendlich ein Verdikt über die individuelle Neurose von Pankejeff wie die kollektive Neurose der Religion zu sprechen: »Er war vom Traume an im Unbewußten homosexuell, in der Neurose auf dem Niveau des Kannibalismus; herrschend blieb die frühere masochistische Einstellung«49, so die unheilige Dreifaltigkeit des Wolfsmannes, anhand von dessen Geschichte die Ablösung der Angstsymptome durch Zwangssymptome lesbar wird, die für eine Religion typisch ist, in der ein sadistisch veranlagter Vater seinen masochistischen Sohn zu quälen ausreichend Gelegenheit findet. »Er wurde Christus, was ihm durch den gleichen Geburtstag besonders erleichtert war«50, lautet der knappe Kommentar zu der Engführung der Fallgeschichte des Wolfsmannes mit der Genese der christlichen Religion als neurotische Form der Erkrankung. Homosexualität, Kannibalismus und Masochismus lauten die Stichworte, die es Freud erlauben, mit Nietzsche den narzisstischen Ursprung des Mitleids zu entlarven und mit Pankejew »›Auf Gott scheißen‹, ›Gott etwas scheißen‹«51. Freuds Geschichte des Wolfsmann ist nicht nur die geradezu halluzinative Ausphantasierung eines neurotischen Falls aus der Praxis zum wackeligen Prüfstein der Psychoanalyse, sie ist zugleich die Geschichte einer Fiktion na47 | Ebd., S. 83. 48 | Ebd., S. 74. 49 | Ebd., S. 95. 50 | Ebd. 51 | Ebd., S. 116.
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mens Urszene als Grund von Übertragungen, in denen Mensch und Wolf ganz ineinander übergehen. Im Falle Pankejeffs wird so die ganze Familie zu Wölfen, im Falle der Psychoanalyse Freud zum Alphawolf, der sich der Angriffe der jungen Wölfe Adler und Jung erwehren muss, um sein Revier zu bewahren. Im Rahmen der Fiktion, die die Psychoanalyse bemüht, tritt mit dem Kannibalismus jenes Moment auf, das schon die Verdammung der Wolfsmänner in der Antike bestimmte. Verbotene Nahrung, insbesondere das Verspeisen der eigenen Kinder, das in der Welt des Mythos wie etwa der Geschichte der Tantaliden ein reiches Archiv gefunden hat, scheint das Trauma zu sein, das in der Kindheit der Menschheitsgeschichte zur Ursache ihrer neurotischen Erkrankung geworden ist, bis Erlösung gerade dadurch versprochen wird, dass im auf Ewigkeiten wiederholten Abendmahle alle am heiligen Sohn knabbern. Wo der Wolfsmann alles tut, um sich der Analyse zu entziehen, da hat Freud allen Grund, den Wolf auf Distanz zu halten. Die schwierige Analyse einer infantilen Neurose, von der Freud so ausführlich berichtet, ist ein Balanceakt, der nicht dadurch entschieden wird, dass Freud Fehler in der Analyse nachgewiesen werden, sondern durch die Frage, wie weit die Psychoanalyse zu gehen bereit ist, um den Wolf in Schach zu halten – offenbar sehr weit.
4. W erwölfe im F ilm Als Freud von der Urszene sprach, hatte er sicher nicht die zeitgleich mit der Psychoanalyse und nicht minder erfolgreiche Kunst der Kinematographie im Sinne – so wenig wie Platon, als er sein durchaus kinoaffines Höhlengleichnis entwarf. Dennoch: Psychoanalyse und Film weisen zahlreiche faszinierende intime Gemeinsamkeiten auf: beide haben sich im letzten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts entwickelt, beide haben direkt oder indirekt mit der Verletzlichkeit und der Ausdrucksfähigkeit von Frauen zu tun; dabei haben sie sich stärker auf die menschliche Selbstwahrnehmung im letzten Jahrhundert ausgewirkt als irgendeine andere Wissenschaft oder Kunst; und
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keine von beiden konnte die Respektibilität einer festen Position in der akademischen Welt erlangen, was vermutlich zum Teil an ihren noch unausgeschöpften subversiven Reserven liegt. 52
Wie immer es auch heute um die subversiven Reserven von Psychoanalyse und Film bestellt sein mag: Hinzuzufügen wäre, dass beide dem Wolf einen symbolischen Platz in ihrem Herzen gegeben haben. Während die Wolfsmänner für die bürgerliche Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts ein kaum literaturfähiges Greuel zu sein scheinen, hat sich der Film ihrer abscheulichen Gestalt gerne angenommen. Insbesondere die verfemte Figur des Werwolfes ist zum festen Bestandteil des Horrorfilms geworden. Unter den vielen monströsen Gestalten, die das Kino bevölkern, ist der Werwolf eine der spektakulärsten. Mit dem Monströsen steht die Frage im Raum, die schon Freud beschäftigt hat: das Verhältnis des Menschen zum Tier in ihm. »Wenn das Monstrum als eine ins Animalische pervertierte menschliche Existenz zu begreifen ist, so stellt der Werwolf den Idealfall eines solchen Wesens dar«53, hält Hans-Richard Brittnacher fest, um zugleich auf die Besonderheiten der Werwolf-Fabel im Film hinzuweisen. Brittnacher zufolge unterscheidet sich die Darstellung des Werwolfes deutlich von vergleichbaren Figuren wie etwa dem ungleich erfolgreicheren Vampir. »Anders als der Vampir, der Aristokrat unter den Kreaturen der Nacht, ist der Werwolf ihr Prolet.«54 Als Proleten kann Brittnacher den Werwolf bezeichnen, da die »Freilegung einer dumpfen, primitiven, erdnahen Sexualität«55 und »die Sehnsucht nach einer atavistischen Existenz vor den Zumutungen der Individuation, der Wunsch nach der Sicherheit einer instinktiv geleiteten Lebensführung statt einer immer wieder Reflexion abverlangenden Orientierung an den Werten
52 | Stanley Cavell, Cities of Words. Ein moralische Register in Philosophie, Film und Literatur, Zürich 2010, S. 268. 53 | Hans-Richard Brittnacher, Ästhetik des Horrors, S. 199. 54 | Ebd., S. 219. 55 | Ebd., S. 215.
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der Zivilisation«56 in seinen Figurationen zum Ausdruck komme. Wie sehr die Unterscheidung zwischen Vampir und Werwolf im Zeichen des Aristokraten und Proleten greift, zeigen noch aktuelle Verfilmungen wie die Underworld-Trilogie, in der Lykaner und Vampire in einem Jahrtausende dauernden Kampfe gefangen sind, der u.a. auf die lange Zeit währende Unterdrückung der Werwölfe durch die Vampire zurückgeht, oder ihre kaum ein Klischee auslassende Darstellung in Breaking Dawn. Aufgehoben werden kann der Kampf im Fall der Underworld-Trilogie daher auch nur durch die Einführung des Hybriden, durch eine Kreuzung nicht von Mensch und Wolf, sondern von Wolf und Vampir. Erst ihr ist es beschieden, den langen Kampf zwischen beiden zu beenden. Trotz der Hybridisierung der Genres, die das zeitgenössische Hollywoodkino auszeichnet,57 ist der klassische Werwolf-Film an Variationen arm. »Das starre Schema der Werwolf-Fabel – Fluch, Metamorphose zum monströsen Tier, Identifikation des Übeltäters und rituelle Tötung«58 – hat schon Brittnacher beklagt. Es liegt auch den meisten Filmen zugrunde. Seine idealtypische Ausprägung hat der Werwolf-Film in der amerikanischen Studioproduktion The Wolf Man aus dem Jahre 1941 unter der Regie von George Waggner gefunden. Für das Drehbuch verantwortlich war Curt Siodmak, der jüngere Bruder von Robert Siodmak, der in den dreißiger Jahren über die Schweiz, Frankreich und England nach Amerika emigriert ist und mit seiner Vorlage die Grundlage für alle späteren Variationen des Stoffes im Film geschaffen hat. Seine Leistung beschreibt Siodmak in seiner Autobiographie nicht unbescheiden folgendermaßen: »The werewolf legend can be traced as far back as ancient greece, with the first extant piece of werewolf fixation appearing in the Satyricon by Petronius. My screenplay for Universal gave The Wolf Man for the first time a sharply defined character that stuck to him and became 56 | Ebd., S. 219. 57 | Vgl. Claudia Liebrand/Ines Steiner (Hg.): Hollywood hybrid. Genre und Gender im zeitgenössischen Mainstream-Film, Marburg 2004. 58 | Hans-Richard Brittnacher, Ästhetik des Horrors, S. 200.
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the intrinsic part of that legend. I had added a third hairy ghost to American lore, after Dracula by Bram Stoker und Frankenstein by Mary Shelley. America, which is ghostless, has to import its own monsters from abroad.«59
5. U nter W ölfen . The Wolf M an The Wolf Man wird in den meisten Fällen als eine zwar historisch relevante, ansonsten aber von neueren Entwicklungen weitgehend überholte Begründung eines neuen Genres innerhalb des Horrorfilms gewürdigt.60 Im Zentrum des Interesses steht daher vor allem die heutzutage wenig abschreckende Darstellung der Verwandlung des Hauptdarstellers Don Chaney Jr. in einen Wolf – eine Szene, die den Fans des Genres kaum mehr als ein Lächeln abnötigt. Der Film leistet, nicht zuletzt aufgrund der Drehbuchvorlage von Curt Siodmak, aber weit mehr. Er lässt sich auf der einen Seite als autobiographische Reflexion auf die Unterschiede von Europa und Amerika lesen: Der Film erzählt die Geschichte von Larry, der nach achtzehn Jahren aus Amerika in seine Heimat Wales zurückkehrt, da sein älterer Bruder bei einem Jagdunfall ums Leben gekommen ist und er nun das Erbe des Hauses übernehmen soll. Im Mittelpunkt des Films steht das konfliktträchtige Verhältnis zwischen Larry und seinem Vater und damit das Thema, das die Psychoanalyse mehr als jedes andere interessiert hat. Anders als der Ödipus-Mythus wird die Geschichte jedoch mit dem Mord enden, den der Vater am Sohn begeht – einem Sohn, den er in der Gestalt des Werwolfes allerdings zunächst nicht erkennt und der sich erst nach seinem Tod wieder in den Larry verwandelt, den der Vater gekannt hat und mit dem er nun seinen letzten Erben verlieren wird. Vor diesem 59 | Curt Siodmak, Wolf Man’s Maker. Memoir of a Hollywood Writer. Revised Edition, Lanham, Maryland, London 2001, S. 261. 60 | Zur Filmgeschichte vgl. Uwe Schwagmeier, Werwolf, in: Hans Richard Brittnacher/Markus May (Hg.): Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2013, S. 500-510, hier S. 507f.
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Hintergrund kann es kaum darum gehen, den Film mit den Mitteln der Psychoanalyse zu interpretieren, als vielmehr darum, zu zeigen, wie er an demselben Phantasma partizipiert, an dem sich schon die Psychoanalyse abgearbeitet hat: an der Verwandlung des Menschen in einen Wolf und seiner anschließenden Bestrafung – für was eigentlich? Der Film beginnt mit einer bemerkenswerten Einstellung: Der Blick fällt auf einen Eintrag in einer Enzyklopädie. Unter dem Lemma der Lykanthropie, über das der Finger des Lesers gleitet, ist eine psychische Krankheit verzeichnet, derzufolge der Patient sich wahnhaft für einen Wolf hält.61 Der Werwolf-Mythos wird damit von Beginn an in den Kontext des Psychischen verschoben. Wie Walter Burkert im Rekurs auf Markellos von Side gezeigt hat, galt die Lykantropie schon in der Antike als eine spezielle Form der Melancholie,62 die vor allem junge Männer befällt. Der Film schließt an diese Tradition an und stellt die kritische Frage, ob sich die Verwandlung in einen Wolf wirklich allein als ein psychisches Phänomen fassen lasse. Die Idee, dass es wirklich Werwölfe gibt – kulturgeschichtlich ein unbestrittenes Faktum –, erscheint zunächst so absurd, dass der Leser – in diesem Fall Sir John Talbot – sie als Ammenmärchen abtut. Die Geschichte des eigenen Sohnes wird ihn eines Besseren belehren. Dass Larry Talbot nach achtzehnjähriger Abwesenheit zu seinem Vater zurückkehrt, nachdem der ältere Sohn bei einem Jagdunfall ums Leben gekommen ist, stellt beide vor Probleme. Schon die Flucht nach Amerika scheint etwas mit einem Familienzerwürfnis zu tun zu haben, das nie ausdrücklich benannt wird. Jedenfalls scheint der zweite Sohn die Erwartungen des 61 | Vgl. den Kommentar zur Eingangsszene des Films von Chantal Bourgault du Coudray, The Curse of the Werewolf. Fantasy, Horror and the Beast within, London/New York 2006, S. 11f, sowie Uwe Schwagmeier, Vom Heulen der Theorie. Überlegungen zum Werwolf in kulturanalytischen und philosophischen Diskursen, in: Sabine Kyora/Uwe Schwagmeier (Hg.): How To Make A Monster. Konstruktionen des Monströsen, Würzburg 2011, S. 249-266, zur Lykanthropie S. 250. 62 | Vgl. Walter Burkert, Homo necans, S. 103.
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Vaters nie erfüllt zu haben. Eine erste Vertrauensbasis entsteht, als es ihm gelingt, das im väterlichen Observatorium befindliche Horoskop zu reparieren. Der unkeusche Blick des Sohnes richtet sich jedoch nicht wie der des Vaters gen Himmel, er bleibt ganz auf der Erde. In einer voyeuristischen Szene erblickt er die junge Gwen Conliffe über dem Geschäft des Vaters. Das erste, was Larry in dem Dorf unternimmt, ist ein Besuch bei ihr, bei dem er zunächst auf nicht unaufdringliche Weise einen Ohrring kaufen möchte, bis er sich mit einem mit einem silbernen Wolf verzierten Stock begnügt. Damit ist bereits das Spannungsfeld aufgebaut, das den gesamten Film bestimmt: Auf der einen Seite steht das schwierige Verhältnis zum Vater, das zugleich auf eine geheime Konkurrenz zwischen den beiden Söhnen verweist, von denen der ältere bis zu seinem Tod den väterlichen Ansprüchen Genüge zu leisten vermochte, der zweite jedoch nicht. Auf der anderen Seite steht das der kühlen Wissenschaftlichkeit des Vaters ganz entgegengesetzte erotische Begehren des Sohnes, das ihn zugleich in eine Konkurrenz zu dem örtlichen Förster, dem Verlobten Gwins, stellt, die gleichwohl geschmeichelt ist, dass sich der Sohn Sir Talbots so offensichtlich um sie bemüht. Das Rotkäppchen scheint dem bösen Wolf abermals auf den Leim zu gehen. Der unausgesprochene Konflikt spitzt sich zu, als Larry mit Gwen und einer Freundin bei einem nächtlichen Spaziergang Zigeuner aufsucht. Wie schon in Goethes Götz sind die Zigeuner in Übereinstimmung mit der ursprünglichen Wortbedeutung diejenigen, die aus dem Wald kommen.63 Das harmlose Spiel um die Wahrsagerei, das Larry zugleich nutzt, um seine Chancen bei Gwen zu eruieren, findet jedoch ein abruptes Ende, als der Zigeuner auf der Hand der Freundin Gwens ein nur für ihn sichtbares Pentagramm erkennt – ein Zeichen, dass sie sein nächstes Opfer sein wird. Denn die Nähe zwischen Zigeunern und Wölfen, die schon bei Goethe eine so große Rolle spielte, bestätigt 63 | Damit besetzen sie zugleich »im Feld der sozialen Außenseiter die Position der Nicht-Integrierbarkeit am äußersten Rand der Zivilisation.« Klaus-Michal Bogdal, Europa erfindet die Zigeuner, S. 26.
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sich dadurch, dass sich in dem Zigeuner ein Werwolf verbirgt, der Gwens Freundin auf dem Rückweg attackiert und tötet, selbst aber von Larry mit dem Silberstock erschlagen wird, nicht ohne ihn in die Brust zu beißen, so dass der Fluch des Werwolfes nun an Larry weitergeben ist. Der nächtliche Spaziergang hinterlässt demnach eine gespenstische Szene: Am Tatort finden sich zwei Tote, ein Zigeuner und ein junges Mädchen, und die Frage, die sich stellt, lautet natürlich: Wer hat hier wen umgebracht? Dass Larry hartnäckig behauptet, einen Wolf getötet zu haben, macht die Sache für die Polizei wie den Arzt nicht einfacher, zumal von dem Wolfsbiss auf seinem Körper nichts mehr zu sehen ist. Aufgrund seiner offenkundigen psychischen Verwirrung wird Larry, wieder zum pflegebedürftigen Kind geworden, ins Bett geschickt. Es dauert einige Zeit, bis ihm dämmert, dass er derjenige ist, vor dem die Menschen im Dorf nun Angst haben müssen. Zwar begegnet er auf dem symbolträchtigen Boden des Friedhofes der Mutter des Zigeuners mit dem Namen Maleva. Ihren Ausführungen zum Fluch des Werwolfes, der zunächst ihren Sohn und dann Larry ereilt hat, schenkt er jedoch keinen Glauben, nimmt gleichwohl aber ein Schutzamulett an, das sie ihm schenkt. Aus psychoanalytischer Perspektive ist die Ausgangslange damit einigermaßen überschaubar. Die psychische Erkrankung Larrys scheint auf unbewusste Schuldgefühle zurückzugehen, die sich auf den Tod des älteren Bruders richten. Der Mord an dem Zigeuner, den Larry für einen Wolf hält, wiederholt den Jagd unfall, dem sein Bruder zum Opfer gefallen ist, ebenso wie der Versuch der Eroberung Gwens, die nicht zufällig mit einem Förster und professionellen Jäger verlobt ist. Kein Wunder, dass dessen Hunde anschlagen, als ihnen Larry zum ersten Mal begegnet. Als Mörder des Bruders, für den er sich hält, leidet der arme Larry an Halluzinationen, in denen der an Lykanthropie Erkrankte sich wahnhaft für einen Werwolf hält. Über die psychoanalytische Perspektive geht der Film aber zugleich hinaus, indem er im Medium der Fiktion Larrys Wahn Wirklichkeit werden lässt. Er findet damit zugleich zu den kulturgeschichtlichen Grundlagen zurück, die schon das Werwolf-Bild
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der Antike bestimmt haben. Denn Larry verwandelt sich im Medium der Fiktion wirklich in einen Werwolf, um sich umgehend an den Ort zu begeben, an dem es für Wölfe Nahrung zu geben scheint: den Friedhof. Die verbotene Nahrung der Toten scheint unwiderstehlich zu locken. Allein der Totengräber begegnet dem Werwolf Larry bei seinem nächtlichen Ausflug und wird sein erstes Opfer: Auf für den Wolf typische Weise springt er ihm an die Kehle. Der Vorwurf des Kannibalismus und der Nekrophilie, der fern jeder sexuellen Konnotation schon bei Platon an den Werwolf gerichtet wurde – derjenige, der verfluchtes Fleisch zu sich nimmt, verwandelt sich in einen Wolf, was umgekehrt heißt, dass sich Wölfe von tabuisierter Nahrung, eben von toten Menschen speisen –, bestätigt sich an dem scheinbar zufälligen Tatort des Friedhofes. Der dritte Mord, der innerhalb kurzer Zeit in dem Dorf zu verzeichnen ist, stellt die Bewohner vor nicht geringe Probleme. Die Zigeuner, die besser als andere wissen, dass hier ein Werwolf sein Unwesen treibt, reisen ab. Die Spuren, die auf ihn weisen, kann Larry zunächst verwischen. In einem letzten Gespräch mit dem Vater versucht er vergeblich, ihn von seiner Werwolf-Existenz zu überzeugen. Auf Anraten des Arztes wird er zwar zunächst stillgestellt. Eine erneute Verwandlung in den mörderischen Wolf kann dadurch aber nicht verhindert werden. Die Dorfgemeinschaft kann sich mit den komplexen psychischen Erklärungsmodellen von Vätern und Ärzten gleichwohl nicht zufriedengeben. Sie stellt in altbewährter Manier Wolfsfallen auf, um des Feindes habhaft zu werden. Als Larry in eine Falle tritt, taucht ein letztes Mal die mütterliche Zigeunerin auf, um ihn zu befreien und zugleich zu warnen. Die Situation verschärft sich, als Larry aufgrund des Pentagramms auf ihrer Hand erkennen muss, das Gwen sein nächstes Opfer sein wird. Auf dem Weg zu Gwen trifft er zugleich auf den Vater, der vorher ebenfalls der Zigeunerin begegnet ist und nun weiß, was zu tun ist. Als Larry Gwen angreift, tötet Sir John Talbot seinen letzten Erben, der sich vor seinen Augen wieder in einen Menschen zurückverwandelt. Der Film endet mit der Heroisierung Larrys als Retter Gwens und der späten Einsicht, dass sich hinter der Lyk-
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antropie vielleicht doch mehr verberge als ein bloßes psychisches Wahngebilde. The Wolf Man ist mehr als die etwas abseitige Begründung eines neuen Genres innerhalb des Horrorfilms, und auch mehr als ein beliebiges Phänomen der Trivialkultur, dass sich auf einfache Weise entschlüsseln lässt. Sicherlich lässt sich der Film sehr gut in der Begrifflichkeit der Psychoanalyse erklären. Er erzählt die unglückselige Geschichte einer Vater-Sohn-Beziehung, die aus der Perspektive des Vaters von dem Trauma um den Verlust des geliebten Erstgeborenen geprägt ist. Die Verwandlung in den Werwolf scheint so für eine Bestrafung einzustehen, die der sadistische Vater an seinem Sohn ausübt. Die Verwandlung in einen Wolf ruft aber darüber hinaus noch andere, tief in der menschlichen Kulturgeschichte verwurzelte Phantasmen auf, die sich vor allem im Bereich des Kannibalismus und der Nekrophilie bewegen. The Wolf Man partizipiert damit gerade in dem starren Schema der Verwandlung und rituellen Tötung des Wolfes an der kulturgeschichtlichen Tradition, um die es hier geht: dem Ausschluss des Wolfes aus der menschlichen Gesellschaft aufgrund des Verstoßes kultureller Reinheitsgebote und seinem Wiedereinschluss in der Form des entstellten Monströsen. Im Medium des Horrorfilms findet die verdrängte Vergangenheit wieder Eingang in die Alltagskultur – allerdings eben in der entstellten Form des Monströsen, die am Ende wieder einer Reinigung zum Opfer fällt. Auch im populären Genre des Horrorfilms stirbt zum Schluss immer der Wolf.
IV. Wolfsmänner bei Hesse und Canetti 1. A rme W ölfe bei H ermann H esse Nicht nur das neue Medium des Films hat sich mit der Figur des Wolfsmannes auseinandergesetzt. In der erzählenden Literatur des 20. Jahrhunderts wird die Novellen-Tradition des 19. Jahrhunderts weitergeführt. Allerdings erfährt die Darstellung des Wolfes eine Veränderung: Bei Autoren wie Hesse ist nicht länger der Wolf der Böse, sondern diejenigen, die ihn unbarmherzig jagen und keine Augen für die Schönheit der Tiere haben. Mit Hesse setzt eine Romantisierung der Wölfe ein, die sich bis heute fortgesetzt hat. In seiner Erzählung mit dem schlichten Titel Der Wolf aus dem Jahre 1903 berichtet Hermann Hesse von dem Schicksal dreier Wölfe, die sich in einem kalten Winter, von Hunger geplagt, in die Nähe der Menschen begeben. »Zu dreien kamen sie weit in den Jura hinein, erbeuteten am zweiten Tag einen Hammel, am dritten einen Hund und ein Füllen und wurden von allen Seiten her wütend vom Landvolk verfolgt.«1 Zwei der Wölfe werden von Bauern erlegt, der dritte entkommt zunächst. »Er war der jüngste und schönste von den Wölfen, ein stolzes Tier von mächtiger Kraft und gelenken Formen.«2 Aber auch er wird auf seiner Flucht in einem Dorf angeschossen. Der Wolf kann noch einen Berg erklimmen, einen letzten Blick auf den Mond werfen, bis ihn die Bauern finden. »Da kamen Lichter und Schritte nach. Bauern in dicken Mänteln, Jäger und junge Burschen in Pelzmützen und 1 | Hermann Hesse, Erzählungen I, Frankfurt a.M. 2001, S. 127. 2 | Ebd.
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mit plumpen Gamaschen stapften durch den Schnee. Gejauchze erscholl. Man hatte den verendenden Wolf entdeckt, zwei Schüsse wurden auf ihn abgedrückt und beide fehlten. Dann sahen sie, daß er schon im Sterben lag, und fielen mit Stöcken und Knüppeln über ihn her. Er fühlte es nicht mehr.«3 Im Triumphzug ziehen die Menschen den getöteten Wolf hinter sich her nach Hause. In seiner Erzählung ergreift Hesse eindeutig Partei für den Wolf: »Keiner sah die Schönheit des verschneiten Forstes, noch den Glanz der Hochebene, noch den roten Mond, der über dem Chasseral hing und dessen schwaches Licht in ihren Flintenläufen, in den Schneekristallen und in den gebrochenen Augen des erschlagenen Wolfes sich brach.«4 Das archaische Ritual der Wolfstötung deutet der Erzähler als unmenschliche Tat an einem Tier, dem als einzigem Wesen im Text menschliche Gefühle zuzukommen scheinen. Hesses frühe Erzählung steht damit ganz im Zeichen einer Romantisierung des Wolfes, die sich noch in seinem Roman Der Steppenwolf aus dem Jahr 1927 finden lässt. Mit dem Roman Der Steppenwolf hat Hermann Hesse einen modernen Mythos des Wolfsmannes geschaffen, der ganz auf der alten Antinomie von Mensch und Wolf fußt. In ähnlicher Weise wie bereits Schiller in seiner Erzählung vom Sonnenwirt begreift Hesse die beiden Seiten des Menschen und des Wolfes als entschiedene Gegensätze, die sich nicht miteinander versöhnen lassen. »Der Steppenwolf hatte also zwei Naturen, eine menschliche und eine wölfische, dies war sein Schicksal«5. Die Feindschaft zwischen Mensch und Wolf, die im Inneren von Harry Haller herrscht, versucht der Roman gleichwohl zu befrieden. Gibt der Held das zeittypische Bild der Zerrissenheit des modernen Menschen zwischen Natur und Kultur, dadurch »auf irgendeine Art geistes- oder gemüts- oder charakterkrank«6, so liegt die Heilung in der Überwindung der Gegensätze durch das dem Menschen 3 | Ebd., S. 128f. 4 | Ebd., S. 129. 5 | Hermann Hesse, Der Steppenwolf. Erzählung, Frankfurt a.M. 1977, S. 55. 6 | Ebd., S. 16.
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eigene Lachen. Im Magischen Theater, das nur für Verrückte sei, erfährt Harry Haller die Wahrheit über sich und seine vertrackte Doppelnatur. Wie im Märchen begegnet er sich selbst in der Form des Wolfes: »Es war einmal einer namens Harry, genannt der Steppenwolf. Er ging auf zwei Beinen, trug Kleider wie ein Mensch, aber eigentlich war er doch ein Steppenwolf.« 7 Wie Chantal Bourgault du Coudray gezeigt hat, nutzt Hesse die Darstellung des Tiers im Menschen zugleich zu einer Kritik Freuds, die sich enger an Jung anschließt: »Hesse turned instead to Jung’s model of the psyche as a cluster of subpersonalities in constantly changing an evolving relation to one another, sending Harry on a journey through the world of dream and fantasy.«8 Hesse skizziert den Steppenwolf als einen Außenseiter der bürgerlichen Gesellschaft, um gerade dessen subversiven Charakter zu mystifizieren. Hatte Hobbes in der Figur des Wolfes das Naturrecht und den Kampf aller gegen alle erkennen wollen, so baut Hesses utopischer Entwurf, darin Nietzsche verwandt, ganz auf die Kraft der Integration des Pathologischen in die menschliche Gemeinschaft. Die Frage nach Gesundheit oder Krankheit der bürgerlichen Gesellschaft lässt sich so leicht lösen: »Die Antwort lautet: Wegen der Steppenwölfe. In der Tat beruht die vitale Kraft des Bürgertums keineswegs auf den Eigenschaften seiner normalen Mitglieder, sondern auf denen der außerordentlich zahlreichen outsider, die es infolge der Verschwommenheit und Dehnbarkeit seiner Ideale mit zu umschließen vermag.«9 Den nicht unbedingt originell konzipierten Gegensatz zwischen gesellschaftlicher Normalität und individueller Abweichung löst Hesse zugunsten des Anormalen auf. In ähnlicher Weise wie in Goethes Faust übernimmt die nur scheinbar pathologische Figur des Wolfes oder Teufels damit eine tragende Rolle innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. Von ihr hängt das Wohl der Gemeinschaft ab.
7 | Ebd., S. 54. 8 | Chantal Bourgault du Coudray, The Curse of the Werewolf, S. 94f. 9 | Hermann Hesse, Der Steppenwolf, S. 70.
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Hesses Steppenwolf gibt damit eine letztlich sehr zahme Variante des Species Wolf ab. Letztlich ist er überhaupt kein Wolfsmann: »Wenn Harry sich selbst als Wolfsmenschen empfindet und aus zwei feindlichen und gegensätzlichen Wesen zu bestehen meint, so ist das lediglich eine vereinfachende Mythologie. Harry ist gar kein Wolfsmensch«10. Die »Zweiteilung in Wolf und Mensch, in Trieb und Geist«11, durchquert sein Inneres, weil sie allzumenschlich ist, der Wolf nur die andere Seite des Menschen, seine dunkle und verdrängte Triebnatur: »Harry findet in sich einen ›Menschen‹, das heißt eine Welt von Gedanken, Gefühlen, von Kultur, von gezähmter und sublimierter Natur, und er findet daneben in sich auch noch einen ›Wolf‹, das heißt eine dunkle Welt von Trieben, von Wildheit, Grausamkeit, von nicht sublimierter roher Natur.«12 Hesse überträgt die zwei Seelen, die in Fausts Brust schlagen, umstandslos in die Gleichung vom menschlichen und wölfischen Teil des Menschen. Existentiell scheint sie darauf hinauszulaufen, dass der eine Teil über den anderen siegt. Tod und Ichwerdung werden so zu zwei Seiten einer Medaille: »Dieser Steppenwolf mußte sterben, er mußte mit eigener Hand seinem verhaßten Dasein ein Ende machen – oder er mußte, geschmolzen im Todesfeuer einer erneuten Selbstschau, sich wandeln, seine Maske abreißen und eine neue Ichwerdung begehen.«13 Der angedrohte Selbstmord wird ausgesetzt durch die Begegnung mit Hermine, dem weiblichen Teil seiner selbst, der Mutter, Schwester und Geliebten, die ihm den Ausgang aus dem Dilemma weist, indem sie ihn mit sich selbst konfrontiert. Was Harry Haller im Spiegel der imaginären Verkennungen zu erkennen meint, ist alles andere als außerordentlich: »und ich sah, etwas zerflossen und wolkig, ein unheimliches, in sich selbst bewegtes, in sich selbst heftig arbeitendes und gärendes Bild: mich selber, Harry Haller, und innen in diesem Harry den Steppenwolf, einen scheuen, schönen, aber verirrt und geängstigt bli10 | Ebd., S. 75. 11 | Ebd. 12 | Ebd. 13 | Ebd., S. 88.
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ckenden Wolf, die Augen bald böse, bald traurig glimmend, und diese Wolfsgestalt floß in unablässiger Bewegung durch Harry«14. Hesses Wolf ist von einer eigentümlichen Trauer befallen. Den Schmerz, der dem Wolf eingebrannt zu sein scheint, weil er sich nicht ausleben darf, kann erst das Lachen auflösen: »ein erlösendes Gelächter«15 führt Harry Haller in die Freiheit, allerdings um den Preis der Tötung des Wolfes, der in ihm schlummert: »Nun hast du endlich den Steppenwolf umgebracht.«16 An die Stelle der ärgerlichen Dualität von Trieb und Geist treten multiple Ichs, die sich im Spiegel vervielfältigen, bis der eine Harry Haller sich herausschält: »Nochmals blickte ich in den Spiegel. Ich war toll gewesen. Kein Wolf stand hinter dem hohen Glas und rollte die Zunge im Maul. Im Spiegel stand Ich, stand Harry, mit grauem Gesicht, von allen Spielen verlassen, von allen Lastern ermüdet, scheußlich bleich, aber immerhin ein Mensch, immerhin jemand, mit dem man reden konnte.«17 Der Steppenwolf schildert das Purgatorium eines Mannes, der das Lachen lernen muss, damit es ihm gelingt, den Wolf in sich selbst zu töten. Man weiß nicht, mit wem man am Ende mehr Mitleid haben soll: mit Harry Haller oder dem armen Wolf.
2. C ane t ti und F reud Hesses Darstellung des Steppenwolfes kommt nicht ohne psychoanalytische Referenzen aus, die eher Jung denn Freud geschuldet sind. In Elias Canetti aber hat die Psychoanalyse einen erbitterten Gegner gefunden. Eine besondere Rolle kommt in diesem Zusammenhang seiner Autobiographie zu. Auf der einen Seite scheint die Autobiographie als symbolische Darstellung der Geschichte einer Selbstwerdung für psychoanalytische Deutungsansätze prädestiniert zu sein. Auf der anderen Seite sucht Canetti seine 14 | Ebd., S. 224. 15 | Ebd., S. 227. 16 | Ebd., S. 228. 17 | Ebd., S. 261.
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Autobiographie von allen psychoanalytischen Implikationen frei zu halten. In der Autobiographie nimmt die kritische Auseinandersetzung mit Freud unterschiedliche Formen an. Der erste Gegenstand von Canettis Kritik ist Freuds Begriff der Masse: »Was Freud dazu zu sagen hatte, war, wie ich selbst bald herausfinden sollte, völlig unzulänglich«18, stellt Canetti zu Beginn der Fackel im Ohr fest, um die eigenen Überlegungen zu Masse und Macht aus der grundsätzlichen Ablehnung der Psychoanalyse herzuleiten. »Die Abgrenzung gegen Freud stand am Anfang der Arbeit an dem Buch, das ich erst 35 Jahre später, im Jahre 1960, der Öffentlichkeit übergab.«19 Die harsche Kritik Freuds nutzt Canetti zur Selbstbehauptung durch die Genese des eigenen Hauptwerkes. Die Abwehr der Psychoanalyse dient der rückblickenden Versicherung des eigenen Ansatzes, der so als heroischer Akt der Auflehnung gegen einen scheinbar übermächtigen Gegner erscheint. Vor dem Hintergrund von Canettis Überlegungen zur Macht erweist sich die Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse, die sich im zweiten Band der Autobiographie mit der Geschichte der Hörigkeit und des Abfalls von Karl Kraus verbindet, als eine Form des Machtkampfes, den Canetti noch vierzig Jahre nach Freuds Tod für sich entschieden haben will. Die Kritik an Freuds Machtbegriff ist in Die Fackel im Ohr mit einem zweiten Thema verbunden: der Zurückweisung der psychoanalytischen Deutung der Geschichte des Königs von Theben. Den Ausgangspunkt für Canettis kritische Auseinandersetzung mit dem Ödipuskomplex bildet der Name Freuds. »Es gab kaum ein Gespräch, in dem der Name Freud nicht auftauchte, durch den dunkleren Diphthong und das ›d‹ am Schluß, aber auch durch seine Bedeutung anziehender.«20 Die Anziehung, die der Name Freud zunächst zu verkörpern scheint, legt eine Annäherung Canettis an die Psychoanalyse nahe. Das dunkle Schattenreich des 18 | Elias Canetti, Die Fackel im Ohr, S. 118. Alle Angaben zu Canetti beziehen sich auf die folgende Ausgabe: Elias Canetti, Werke. Dreizehn Bände und ein Begleitband, Frankfurt a.M. 1965. 19 | Ebd., S. 144. 20 | Ebd., S. 116.
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Traums scheint eine stärkere Faszination auszuüben als das intellektuelle Feuer, das Karl Kraus in seinen Vorlesungen versprühte. Was mit dem Vergleich von Freud und Kraus in der Fackel im Ohr auf dem Spiel steht, ist die Standortbestimmung des autobiographischen Erzählers zwischen den intellektuellen Autoritäten, die das Wien der zwanziger Jahre beherrschten. Die Annäherung an die Psychoanalyse nimmt Canetti im Blick auf Freuds Deutung des Ödipuskomplexes jedoch schnell zurück: Ich hatte meine Zweifel an der Sache, vielleicht weil ich mörderische Eifersucht von klein auf kannte und mir ihrer sehr unterschiedlichen Motivationen wohl bewußt war. Aber selbst wenn es einem der zahllosen Vertreter dieses Freudschen Gedankens gelungen wäre, mich von seiner allgemeinen Gültigkeit zu überzeugen, nie hätte ich den Namen für die Sache anerkannt. Ich wußte, wer Ödipus war, ich hatte Sophokles gelesen, das Ungeheure dieses Schicksals ließ ich mir nicht rauben. Zur Zeit meiner Ankunft in Wien war ein Allerweltsgeleier daraus geworden, von dem niemand sich ausnahm, auch der stolzeste Pöbelverächter war sich für einen ›Ödipus‹ nicht zu gut. 21
»Daß jeder zum ›König von Theben‹ werde, jeder das Ungeheure dieses Schicksals von Ödipus für sich beanspruchen dürfe, dünkt Canetti Gleichmeierei«22, kommentiert Michael Rohrwasser. Hatte sich Canetti einleitend mit der Autorität auseinandergesetzt, die der Name Freud verkörpert, so ist er nun nicht mehr dazu bereit, »den Namen für die Sache« anzuerkennen. Weil er das Schicksal des Ödipus besser zu kennen meint als Freud, verweigert sich Canetti dem Anspruch der Psychoanalyse, jedes Schicksal auf das des Ödipus zurückführen zu können. Das »Allerweltsgeleier« im Ohr, das durch die Straßen Wiens heult, will Canetti sich vom Pöbel unterschieden wissen. Die individuelle Lebensgeschichte, 21 | Ebd., S. 117. 22 | Michael Rohrwasser, Schreibstrategien. Canettis Beschreibungen von Freud, in: Thomas Anz (Hg.): Psychoanalyse in der modernen Literatur. Kooperation und Konkurrenz, Würzburg 1999, S. 145-166, hier S. 156.
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die die Autobiographie erzählt, schließt das Aufgehen des Selbst in der Masse aus. Die strikte Ablehnung, mit der Canetti dem Gesetzescharakter des Ödipuskomplexes begegnet, eine Verweigerung, die sich in ihrer Schärfe zunächst selbst als ödipal motivierter Widerstand gegen die intellektuelle Autorität Freuds zu erkennen zu geben scheint, verweist sprachlich jedoch auf einen Kontext, der nicht durch die mythische Figur des Ödipus abgedeckt wird, sondern durch die des Narziss. Das Bild, das er sich von Ödipus gemacht hat, möchte Canetti sich auch vom Vater der Psychoanalyse nicht nehmen lassen. Ich kenne den Ödipus besser als Freud, mein Ödipus ist wahrer. Das ist die Quintessenz von Canettis Kritik an Freud: »Ich habe meine Zweifel«, »ich kenne mörderische Eifersucht«, »ich bin mir über ihre Motivationen bewusst«, »ich erkenne den Namen für die Sache nicht an«, »ich weiß, wer Ödipus ist«, »ich habe Sophokles gelesen«, »ich lasse mir das Ungeheure dieses Schicksals nicht rauben«. Verpflichtet das autobiographische Schreiben Canetti in Die Fackel im Ohr zum beinahe hemmungslosen Ich-Sagen, so verschreibt sich die Abgrenzung von Freud einer Form des Narzissmus, die die Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse noch auf einer zweiten Ebene bestimmt.
3. D er kleine E lias »Während einiger Monate nach seinem Tod schlief ich im Bett des Vaters.«23 Mit diesem Satz beginnt der zweite Teil der Geretteten Zunge. Canetti lässt ihn unmittelbar auf den Fluch des Großvaters folgen, der seinen Sohn auf die Reise nach England begleitet hatte. Der magische Sprechakt, den der Fluch des Großvaters in grundsätzlicher Übereinstimmung mit Freuds Überlegungen zur Allmacht der väterlichen Gewalt in Totem und Tabu bedeutet,24 23 | Elias Canetti, Die gerettete Zunge, S. 49. 24 | Claudia Liebrand unterstreicht, dass Canettis Vater »Opfer eines Sprechakts« werde. Claudia Liebrand, Tod und Autorität. Fontanes ›Meine Kinderjahre‹ und Canettis ›Die gerettete Zunge‹, in: Hofmanns
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scheint sich unmittelbar erfüllt zu haben. Für den Tod des Vaters, nach Freud »das bedeutsamste Ereignis«25 im Leben eines Mannes, gibt Canetti drei Gründe an: den Fluch des Großvaters, den Streit mit der Mutter, die nur unwillig aus der Kur zurückkehrte, und den Ausbruch des Krieges, an dem der Vater verzweifelte. Dass der Tod des Vaters einem unbewussten Wunsch des Sohnes entsprechen könnte, scheint Canetti so absurd, dass er es nicht einmal erwähnt. In seiner autobiographischen Schreibstrategie verweigert er sich daher nicht nur den offenkundigen psychoanalytischen Auslegungsmöglichkeiten, denen die Darstellung vom Tod des Vaters unterliegt. Wie Michael Rohrwasser hervorgehoben hat, agiert Canetti darüber hinaus, »als wolle er Köder für den psychoanalytischen Interpreten auslegen«26, um diesen bloß zu stellen. In ähnlicher Weise wie sein zweiter symbolischer Vater Karl Kraus operiert Canetti, der sich nach dem Tod des Vaters ostentativ in das Bett der Mutter legt, mit den literarischen Mitteln der Travestie und der Satire, um die Psychoanalyse der Banalität zu überführen. Die Verwandlungskünste des Vaters beschreibt Canetti in seiner Autobiographie auf eine Weise, die ihn der Psychoanalyse ein für alle mal entreißen soll: Er war besonders lustig, wenn er noch im Bett lag, er schnitt Gesichter und sang komische Lieder. Er spielte mir Tiere vor, die ich erraten mußte, und wenn ich sie richtig erriet, versprach er zur Belohnung, mich wieder in den Tiergarten zu führen. Unter seinem Bett war ein Nachttopf, mit so viel gelber Flüssigkeit, daß ich staunte. Das war aber noch gar nichts, denn einmal stand er auf, stellte sich neben das Bett und ließ sein Wasser. Ich thal Jahrbuch. Zur Europäischen Moderne 2/1994, hg. von Gerhard Neumann/Ursula Renner/Günter Schnitzler/Gotthart Wunberg, Freiburg 1994, S. 287-307, hier S. 295. 25 | Sigmund Freud, Die Traumdeutung. Gesammelte Werke. Zweiter und dritter Band, Frankfurt a.M. 1999, S. X. 26 | Michael Rohrwasser, Elias Canettis Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse in seinem Roman ›Die Blendung‹. Anmerkungen zum Verhältnis von Literatur und Psychoanalyse, in: Convivium. Germanistisches Jahrbuch Polen 2000, S. 43-64, hier S. 48.
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sah dem mächtigen Strahl zu, es war mir unfaßbar, daß so viel Wasser aus ihm kam, meine Bewunderung für ihn stieg auf das Höchste. ›Jetzt bist du ein Pferd‹, sagte ich, ich hatte auf der Straße Pferden zugesehen, wenn sie ihr Wasser ließen, und Strahl und Glied erschienen mir ungeheuer. Er gab es zu: ›Jetzt bin ich ein Pferd‹, und unter allen Tieren, die er spielte, machte mir dieses den größten Eindruck. 27
Der psychoanalytisch infizierte Leser erkennt die Anspielung: Die Verwandlung des Vaters in ein Pferd, mit der Canetti Freuds Geschichte des kleinen Hans travestiert, setzt die ödipale Bedrohung, die der Vater nach Freud verkörpert, auf spielerische Weise außer Kraft. An die Stelle der Angst vor dem mächtigen Penis des Pferdes, von der der arme kleine Hans betroffen ist, tritt die Lust, die der kleine Elias aus der Identifikation mit dem Vater zieht. Die kindliche Freude an der Verwandlungskunst des Vaters überstrahlt den psychoanalytischen Subtext, der die Szene begleitet, und so erscheint noch die Bestimmung der selbst gewählten Aufgabe des Dichters als »Hüter der Verwandlung« in der Liebe zum Vater begründet, der dem Sohn den Weg zur Literatur ebnete, indem er ihm die ersten Bücher schenkte: Tausendundeine Nacht, Grimms Märchen, Robinson Crusoe, Die Reisen Gullivers, Shakespeare, Don Quijote, Dante und Wilhelm Tell. Ein ordentliches Pensum für ein siebenjähriges Kind, ein wunderbares Lesemärchen innerhalb der vielen Märchen, die die Autobiographie in einem Licht erstrahlen lässt, das nichts von der kindlichen Rivalität mit dem Vater zu verraten scheint, von der Freud erzählt. Wäre da nicht der Apfel auf dem Kopf des Kindes. Und die Wölfe aus den Märchen.
4. S chauergeschichten . W ölfe auf der D onau Dem kleinen Elias hat die Verwandlung des Vaters in ein Pferd »den größten Eindruck« gemacht. Von einer anderen, nicht minder beeindruckenden Verwandlung des Vaters in ein Tier ist zu 27 | Elias Canetti, Die gerettete Zunge, S. 69f.
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Beginn der Autobiographie die Rede. Die erste Erinnerung an den Vater ist mit dem Bild des Wolfes verbunden. »Wölfe waren die ersten wilden Tiere, über die ich erzählen hörte. In den Märchen, die mir die bulgarischen Bauernmädchen erzählten, kamen Werwölfe vor, und mit einer Wolfsmaske vorm Gesicht erschreckte mich eines Nachts mein Vater.«28 Im Rahmen der Erinnerung an den Vater, der die gesamte Autobiographie durchzieht, ist die fast beiläufige Erwähnung der Wölfe in mehrerlei Hinsicht aufschlussreich. Zum einen stellt sie das erste Mal dar, an dem vom Vater die Rede ist. Der Vater wird in der Autobiographie in der Gestalt des Wolfes eingeführt. Darüber hinaus verklammert Canetti die Wolfsmaske des Vaters mit der literarischen Form des Märchens, durch die ihm die erste Kenntnis von Wölfen vermittelt worden sei. So verbinden sich der Wolf und das Märchen zu dem Bild des nächtlichen Schreckens, der den kleinen Elias in der Maske des Vaters unvermittelt überfiel. Das Moment der Angst, das die Travestie der Fallgeschichte des kleinen Hans aus der Autobiographie ausblendete, führt die Geschichte der Wölfe wieder ein. Die literarische Form des Märchens, auf die Canettis Darstellung der Wölfe zurückgreift, nutzt der autobiographische Erzähler zugleich zur Schilderung seiner Heimatstadt Rustschuk: »eine wunderbare Stadt für ein Kind«29, wie es zu Beginn der Autobiographie heißt. Das Moment des Wunderbaren, das Canetti im Rückgriff auf die Bedeutung des Märchens für die Romantik zur Schilderung seiner Heimat in Anspruch nimmt, bezieht sich auf die orientalisch anmutende Vielfalt der Lebensverhältnisse, auf die Vielsprachigkeit der Bewohner, die eigene jüdische Herkunftsgeschichte in Bulgarien wie die Präsenz der Zigeuner in der Heimat. Rustschuk erscheint im Rückblick als ein im wahrsten Sinne wunderbarer und märchenhafter Ort, als Grenzbereich zwischen Orient und Okzident, in dem alle kulturellen Unterschiede aufgehoben sind. An zwei Stellen bricht die romantisierende Schilderung der bulgarischen Heimat als Ort 28 | Ebd., S. 11. 29 | Ebd., S. 10.
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des Wunderbaren jedoch auf. In beiden Fällen geht es um die Eltern und um die Bedrohung, die die Wölfe für sie verkörpern. Sie richtet sich zunächst gegen die Mutter: In seltenen Jahren fror die Donau im Winter zu, und man erzählte sich aufregende Geschichten darüber. Die Mutter war in ihrer Jugend öfters auf einem Schlitten nach Rumänien hinübergefahren, sie zeigte mir die warmen Pelze, in die sie dabei eingepackt war. Wenn es sehr kalt wurde, kamen Wölfe von den Bergen herunter und fielen ausgehungert über die Pferde vor den Schlitten her. Die Kutscher suchten sie mit Peitschenhieben zu vertreiben, aber das nützte nichts und man mußte auf sie schießen. Bei einer solchen Fahrt stellte es sich heraus, daß man nichts zum Schießen mitgenommen hatte. Ein bewaffneter Tscherkesse, der als Diener im Hause lebte, hätte mitkommen sollen, aber er war ausgeblieben und der Kutscher war ohne ihn losgefahren. Man hatte Mühe, sich der Wölfe zu erwehren, und geriet in große Gefahr. Wenn nicht zufällig ein Schlitten mit zwei Männern entgegengekommen wäre, die durch Schüsse einen Wolf töteten und die anderen vertrieben, hätte es sehr schlecht ausgehen können. Die Mutter hatte große Angst ausgestanden, sie schilderte die roten Zungen der Wölfe, die so nahe gekommen waren, daß sie noch in späteren Jahren von ihnen träumte. 30
Der Schrecken, den die väterliche Wolfsmaske auf den kleinen Elias ausgeübt hatte, verbindet sich mit der Angst, die die Mutter ausstehen musste, als die Wölfe den Schlitten anfielen. In Canettis Darstellung, die sich in die unzähligen Legenden um die angeblich aggressive und Menschen gefährdende Natur des Wolfes einreiht, resultiert die Angst aus der Nähe, die die Wölfe zur Mutter einnehmen, eine Nähe, die fast bis zur Berührung reicht. In der Begrifflichkeit von Masse und Macht, die in ihrer Tendenz zur Archaisierung bisweilen ebenfalls legendenhafte Züge annimmt, erscheint die Mutter als ein Beutetier, dem die Raubtiere zusetzen, um es zu ergreifen und einzuverleiben. Dass die Wölfe im Traum wiederkehren, beweist, dass die Wölfe selbst nach ihrer scheinbar erfolgreichen Abwehr den Aspekt des Unheimlichen 30 | Ebd., S. 16.
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behalten, den schon Freud zum Gegenstand der Analyse gemacht hat. In seinem Aufsatz Das Unheimliche aus dem Jahr 1919 unterstreicht Freud den Aspekt des »Schreckhaften, Angst- und Grauenerregenden«, der dem Unheimlichen zukommt, »so daß es eben meist mit dem Angsterregenden überhaupt zusammenfällt.«31 Die These, »das Unheimliche sei jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht«32, stützt Freud u.a. auf Daniel Sanders Wörterbuch der Deutschen Sprache aus dem Jahre 1860, in dem das Heimliche dem Bereich der Hausgenossen zugeordnet wird, zu denen zahme Tiere wie die Hunde zählen, die sich den Menschen anschließen. Im Gegensatz dazu stehen die wilden Tiere als diejenigen, die wie etwa die Wölfe aus dem Bereich des Hauses strikt ausgeschlossen sind. In Canettis Familienlegende verkörpern die Wölfe den Inbegriff des wilden Tiers, das auf dem Weg nach Rumänien, dem mythischen Land der Vampyre und Werwölfe, unvermittelt in den vertrauten Bereich des Heimlichen einbricht.33 Symbolisiert die Mutter im Schlitten durch die »warmen Pelze, in die sie dabei eingepackt war«, einen erotisierten Innenraum, so verweisen die Wölfe, die »ausgehungert« über die Pferde herfallen, zugleich auf eine Form des Begehrens, das sich auf die Mutter richtet und nur mit Mühe abgewehrt werden kann. Die Voraussetzung für die Konfrontation von Heimlichem und Unheimlichem, wie sie Canetti in der Autobiographie am Beispiel der Wölfe schildert, ist der Ausfall der Kontrollinstanz, die im Text von dem tscherkessischen Diener eingenommen wird, der aus unerfindlichen Gründen zu Hause geblieben war. Die rätselhafte Abwesenheit des bewaffneten Dieners verweist nicht nur erneut auf die märchenhaften Züge der Autobiographie. 31 | Sigmund Freud, Das Unheimliche, in: Gesammelte Werke. Zwölfter Band. Werke aus den Jahren 1917-1920, Frankfurt a.M. 1999, S. 227268, hier S. 229. 32 | Ebd., S. 231. 33 | Vgl. Hans Peter Duerr, Traumzeit. Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation, Frankfurt a.M. 1978.
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Sie erinnert zugleich an die Momente des scheinbar absichtslosen Vergessens und die Verschränkung von Kälte und Eros, wie sie bei Franz Kafka begegnen. In der Erzählung Ein Landarzt, die ebenfalls von einem gefährlichen Ritt über das Eis berichtet, taucht der Diener in der Figur des Pferdeknechtes auf, dessen Opfer das Dienstmädchen Rosa wird: »Doch kaum war es bei ihm, umfaßt es der Knecht und schlägt sein Gesicht an ihres. Es schreit auf und flüchtet sich zu mir; rot eingedrückt sind zwei Zahnreihen in des Mädchens Wange.«34 Was der Landarzt in Kafkas Erzählung in Kauf nehmen muss, um seinen nächtlichen Ritt unternehmen zu können, ist das Opfer des Dienstmädchens Rosa, in dessen Gesicht sich die Zähne des Knechts rot einprägen. Die Erfüllung der Pflicht, die zur Reise durch den Schnee zwingt, setzt im eigenen Haus einen Bereich der ungezügelten Triebhaftigkeit frei, die in Canettis Erzählung durch die Wölfe repräsentiert wird, die die Mutter anfallen. Das blutige Rot, mit dem sich der Pferdeknecht in Rosas Gesicht einschreibt, taucht in Canettis Erzählung in den »roten Zungen der Wölfe« auf. Das Bild der roten Zunge verweist zugleich auf den Prolog zurück, der Die gerettete Zunge einleitet: »Meine früheste Erinnerung ist in Rot getaucht«35, lautet der erste Satz der Autobiographie. In dem aggressiven Bild des Rot, das den Text leitmotivisch durchzieht, verbindet sich das Moment des Begehrens, das in Kaf kas Erzählung und Canettis Bericht von den Wölfen zum Tragen kommt, mit Freuds Begriff des Unheimlichen. Nicht nur geht die Angst des zum Schweigen verurteilten Kindes auf den Wunsch des Mannes zurück, mit dem Kindermädchen ungestört zu sein. Die Zahnreihen, die der Knecht in die Wange Rosas schlägt, verweist ebenso auf den Bereich der ungezügelter Triebhaftigkeit wie die roten Zungen der Wölfe, vor denen sich die Mutter gerade noch retten kann. Damit wird deutlich, dass die Schilderung vom Angriff der Wölfe in Canettis Erzählung die symbolische Abwehr eines Begehrens verkörpert, 34 | Franz Kafka, Ein Landarzt, in: Ein Landarzt und andere Drucke zu Lebzeiten, Frankfurt a.M. 1994, S. 201. 35 | Elias Canetti, Die gerettete Zunge, S. 9.
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das sich auf die Mutter richtet. Hatte Freud seinen Begriff des Unheimlichen aus dem Bild des Sandmannes gewonnen, der den Kindern die Augen ausreißt und in E.T.A Hoffmanns Erzählung zugleich die Erinnerung an den »rätselhaft erschreckenden Tod des geliebten Vaters«36 markiert, so ruft die gerettete Zunge zu Beginn der Autobiographie mit dem metonymisch verschobenen Bild der roten Zunge der Wölfe zugleich den Vater herbei, der Canetti in der Figur des Wolfes begegnet.
5. D ie W olfsmaske und der V ater Der Angriff der Wölfe auf den Schlitten der gut behüteten Mutter dient im Kontext der Erinnerung an den frühen Tod des Vaters zugleich als narrative Digression seiner Einführung in den Text als Wolf. Die Anspielung auf die Wolfsmaske, mit der der Vater den Sohn erschreckt, führt Canetti an späterer Stelle weiter aus: Eines Nachts, ich war schließlich doch eingeschlafen, weckte mich ein riesiger Wolf, der sich über mein Kinderbett neigte. Eine lange, rote Zunge hing ihm aus dem Mund und er fauchte fürchterlich. Ich schrie aus Leibeskräften: ›Ein Wolf! Ein Wolf!‹ Niemand hörte mich, niemand kam, ich schrie immer gellender und weinte. Da kam eine Hand hervor, griff an den Ohren des Wolfs und zog seinen Kopf herunter. Dahinter stand der Vater und lachte. Ich schrie weiter: ›Ein Wolf! Ein Wolf!‹ Ich wollte, daß der Vater ihn verjage. Er zeigte mir die Maske des Wolfes in der Hand, ich glaubte ihm nicht, er konnte lange sagen: ›Siehst du nicht, das war ich, das war kein wirklicher Wolf‹, ich war nicht zu beruhigen und schluchzte und weinte immer weiter. 37
Die Verwandlung des Vaters in ein Pferd hatte dem Sohn höchsten Respekt eingeflößt. Die Verwandlung in einen Wolf ruft jene 36 | Sigmund Freud, Das Unheimliche, in: Gesammelte Werke. Zwölfter Band. Werke aus den Jahren 1917-1920, Frankfurt a.M. 1999, S. 227268, hier S. 239. 37 | Elias Canetti, Die gerettete Zunge, S. 29.
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Angst hervor, die Freud mit dem Begriff des Unheimlichen in Verbindung gebracht hatte. Wie im Fall der Mutter, die noch lange von den Wölfen träumte, bedeutet die Verkleidung des Vaters für den Sohn eine traumatische Erfahrung, die dieser lange nicht abzuwenden weiß. Der Grund für die Angst, der das Kind anheim fällt, liegt nicht allein in der unheimlichen Wolfsmaske, sondern in der Tatsache, dass der Vater ihn nicht zu verjagen vermag, weil er selbst der Wolf ist. Was das Kind nicht zu begreifen vermag, ist die Tatsache, dass sich hinter der Maske der wirkliche Vater verbirgt. Dem Lachen des Vaters, nach Freud und Bergson die Abfuhr des Affektes durch Verwandlung in ein Nichts, steht auf der Seite des Kindes die Angst als unmittelbares Resultat der Verdrängung gegenüber, die die Szene provoziert, da das Kind nicht dazu bereit ist, den Vater und den Wolf zu identifizieren. In die Episode mit dem Wolfsmann, zu dem der Vater wird, schreibt sich die Konstellation ein, die Canettis Travestie der Fallgeschichte des kleinen Hans noch ironisch abgewendet hatte: die Angst vor der Übermacht des Vaters, der der Sohn weichen muss. So erscheint der Rückgriff auf das Motiv der Wölfe im Text jenseits der Märchenzusammenhänge, die die Autobiographie zu Beginn aufruft, selbst als Spur der Verdrängung, die die posthume Idealisierung des Vaters erst ermöglicht. Befreiung von dem traumatischen Erlebnis erfährt der kleine Elias erst durch das Vorüberziehen des Kometen, der das Ende der Welt bedeuten soll und nur dazu führt, dass der Erzähler einen Kirschkern verschluckt: »Ich hatte eine Kirsche im Mund und den Kopf hochgestreckt, als ich dem riesigen Kometen mit den Augen zu folgen suchte und über dieser Anstrengung und vielleicht auch über der wunderbaren Schönheit des Kometen vergaß ich die Kirsche und schluckte den Kern.«38 Im Rahmen der Verschiebung, die das Leitmotiv Rot in der Autobiographie erfährt, mündet das Vorüberziehen des Kometen, das mit einer Befreiung vom Wolfstrauma einhergeht, in einen Akt der körperlichen Einverleibung, den Canetti mit dem Freudschen Wolfsmann teilt.
38 | Ebd., S. 31.
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6. A nthropologie des K annibalismus . M asse und M acht Der Zusammenhang von Einverleibung, Narzissmus und Verkrüppelung, der bereits in der psychoanalytischen Geschichte des Wolfsmannes aufscheint, führt zu Canetti zurück. Auf die Bedeutung der Figur des Krüppels in Canettis Werk hat bereits Manfred Schneider hingewiesen, der nicht nur Die Blendung als die »epische Provinz der Krüppel«39 bezeichnet, sondern darüber hinaus ihre Präsenz in der Autobiographie anhand der Figur des gelähmten Philosophen Thomas Marek nachgewiesen hat, der die Zunge als »Organ seiner philosophischen Rede« und »zur Substitution der gelähmten Hände«40 benutzt. Das gekonnte Zungenspiel des Thomas Marek, der über »eine lange, spitze und auffällige rote Zunge«41 verfügt, die er wie ein riesiges Reptil zu handhaben weiß, um die Blätter seiner Bücher umzudrehen, erinnert nicht zufällig an den Beginn der Autobiographie, der von der symbolischen Rettung der Zunge handelt, der sich Elias Canetti in seinen Lebenserinnerungen anvertraut. Das Thema der Einverleibung erörtert Canetti ausführlich in seinem Hauptwerk Masse und Macht. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist »die Psychologie des Ergreifens und Einverleibens«42 in dem zentralen Kapitel »Die Eingeweide der Macht«. Um das Moment des Ergreifens zu erläutern, greift Canetti auf eine vierstufige Entwicklung zurück. Sie beginnt mit dem Belauern, das in einem zweiten Schritt zur Berührung der Beute wird und über das Ergreifen schließlich bis zur Einverleibung führt. Schon das Ergreifen durch die Hand versteht Canetti als eine Form der Einverleibung: »Der Raum innerhalb der gekrümmten Hand ist der Vor-Raum des Mauls und des Magens, durch den die 39 | Manfred Schneider, Die Krüppel und ihr symbolischer Leib. Über Canettis Mythos, in: Hüter der Verwandlung. Beiträge zum Werk von Elias Canetti, Frankfurt a.M. 1988, S. 22-41, hier S. 22. 40 | Ebd., S. 25. 41 | Elias Canetti, Die Fackel im Ohr, S. 306. 42 | Elias Canetti, Masse und Macht, S. 237.
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Beute dann endgültig einverleibt wird.«43 Kralle und Hand, bei Kafka Allegorie der sirenenhaften Macht der Musen, erscheinen Canetti nicht nur als »Sinnbild der Macht«44, sondern zugleich als Vorformen des Organs, das im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht: des Verdauungsapparats. Im Kontext des Vergleichs von Tier und Mensch, der Masse und Macht wie die anderen Schriften Canettis kennzeichnet, bezieht sich Canetti in seinen Ausführungen zunächst auf das Beispiel des Löwen: »Der Löwe muß sich nicht verwandeln, um seine Beute zu erlangen, er erlangt sie als er selbst.«45 Sich nicht verwandeln zu müssen, über eine eindeutige und unverwechselbare Identität verfügen zu können, rechnet Canetti dem Löwen zum Vorteil an. Lässt der politische Vergleich des Löwen mit dem Herrscher, der seine Ziele durch unmittelbare Gewaltanwendung durchzusetzen vermag, eigentlich das von Machiavelli eingeführte Gegenbeispiel des Fuchses erwarten, so blendet Canetti den damit verbundenen Zusammenhang der Verstellungskunst beinahe komplett aus. Stattdessen wendet er sich weiter den Techniken der Einverleibung zu, um über den beiläufigen Hinweis auf den Mythos der Drachensaat46, der auf die Gründungsgeschichte Thebens zurückführt, zu dem Verdauungssystem als einem gigantischen unterirdischen Machtkomplex zu gelangen: »Man neigt dazu, nur die tausendfachen Späße der Macht zu sehen, die sich oberirdisch abspielen; aber sie sind ihr kleinster Teil. Darunter wird tagaus, tagein verdaut und weiterverdaut.«47 Canetti, der explizit auf den von der Psychoanalyse herausgearbeiteten Zusammenhang von Einverleibung und Melancholie eingeht,48 vermeidet dennoch die direkte Auseinandersetzung mit Freud, um den gesamten Bereich der Kultur aus der Einverleibung durch die Technik der Verwandlung entstehen zu lassen: »Alles, was der 43 | Ebd., S. 239. 44 | Ebd. 45 | Ebd., S. 246. 46 | Ebd., S. 244. 47 | Ebd., S. 246. 48 | Ebd., S. 247.
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Mensch ist und kann, alles, was in einem repräsentativen Sinne seine Kultur ausmacht, hat er sich durch Verwandlungen erst einverleibt.«49 Der zentrale Begriff seiner Poetik, die Verwandlung, beruht auf Techniken der Einverleibung, die zugleich auf das Thema der Macht zurückführen: »Alles, was gegessen wird, ist Gegenstand der Macht.«50 Aller menschliche Verkehr ruht auf Beziehungen, die letztlich libidinöse Ursprünge haben, lautete Freuds Erkenntnis. Alle Macht beruht auf Vorgängen der Einverleibung, lautet Canettis nicht minder apodiktische Aussage. Die Psychologie der Einverleibung trägt er daher in jenen Bereich ein, in dem Freud die Quelle neurotischer Störungen erkannt hatte: in die Familie. Mann und Frau, so Canetti, verbinde nichts mehr als das Essen: »Daß er von ihrer Speise regelmäßig genießt, macht das stärkste Band zwischen ihnen aus.«51 Nicht nur die Beziehung von Mann und Frau aber führt Canetti auf das Moment des Essens zurück. Auch das Verhältnis von Mutter und Kind erläutert er im Rahmen einer Psychologie der Einverleibung: »Mutter ist die, die ihren eigenen Leib zu essen gibt.«52 Vom Wolfsmann hatte Freud behauptet, dass er sich »in der Neurose auf dem Niveau des Kannibalismus«53 bewege. Was Canettis Bestimmung des Verhältnisses von Mutter und Kind bestimmt, ist eine Form des Kannibalismus, die den Bildhauer Alfred Hrdlicka in Masse und Macht ein »Menschenfresserbuch«54 hat erkennen lassen. Die Selbstlosigkeit, mit der die Mutter sich um ihr Kind zu kümmern scheint, gerinnt Canetti zum Zeichen eines kannibalischen Aktes der Einverleibung, der auf einer Verdoppelung des Magens beruht: »In Wirklichkeit aber hat sich ihr Magen verdoppelt, und
49 | Ebd., S. 259. 50 | Ebd., S. 257. 51 | Ebd., S. 259. 52 | Ebd. 53 | Sigmund Freud, Aus der Geschichte einer infantilen Neurose, S. 95. 54 | Alfred Hrdlicka, Ein physiognomisches Porträt, in: Hüter der Verwandlung, Beiträge zum Werk von Elias Canetti, Frankfurt a.M. 1988, S. 42-47, hier S. 43.
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sie behält über beide Kontrolle.«55 Das Kind ist nichts anderes als eine Verdoppelung der Mutter, die ihren Leib zu essen gibt, um sich selbst zu genießen. Hatte schon Hegel in der Phänomenologie des Geistes das »stille Wesen der selbstlosen Natur« als ein System beschrieben, das sich zunächst »sich selbst zubereitend und verdaut«56 dem Leben darbietet und schließlich darin aufgeht, dass »das Selbst diesen ganzen Reichtum seiner Substanz zu durchdringen und zu verdauen hat«57, so gerinnt Canetti die absolute Macht wie Hegel das absolute Wissen zu einem gigantischen Verdauungssystem, das in der Figur der Mutter seine Vollendung findet: »Es gibt keine intensivere Form von Macht.«58 Dass er seine Ausführungen über die Eingeweide der Macht mit dem Hinweis auf das Lachen schließt, das als weite Öffnung des Mauls auf die Freude am Ergreifen der Beute zurückverweise und alles Lachen zuletzt als symbolische Stellvertretung des Essens erscheinen lässt, trägt in diesem Fall nur wenig zur Entspannung bei, greift Canetti selbst doch abschließend auf das Beispiel der Hyäne zurück, die einen bellenden Laut von sich gebe, der nicht nur dem menschlichen Lachen nahe komme, sondern sich darüber hinaus empirisch jederzeit nachweisen lasse, »indem man einer gefangenen Hyäne etwas zum Fressen vorsetzt und dann rasch entzieht, bevor sie Zeit zum Zupacken hat.«59 Das sadistische Spiel von Fütterung und Essensentzug setzt Canetti an den Anfang der menschlichen Kulturleistung, die mit einem Lachen beginnt, das dem der Hyäne nachempfunden zu sein scheint. In Canettis Augen ist der Mensch ein Tier, das zu fressen bekommt oder das lacht, weil ihm das Essen weggenommen wird. Wer nicht frisst, aber auch nicht lachen kann, ist zur Melancholie verurteilt. »In der Melancholie ist man das Ereilte und bereits Ergriffene«60, for55 | Elias Canetti, Masse und Macht, S. 260. 56 | Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Stuttgart 1956, S. 503. 57 | Ebd., S. 563. 58 | Elias Canetti, Masse und Macht, S. 261. 59 | Ebd., S. 262. 60 | Ebd., S. 410.
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muliert Canetti im Kontext seiner kannibalischen Anthropologie. Der Melancholiker, so Canetti, kann nicht essen, »weil er meint, daß er selber gegessen wird.«61 In Canettis Augen ist die Melancholie eine narzisstische Form der Selbstverzehrung, ein kannibalischer Akt im Rahmen einer Anthropologie der Einverleibung, die alle menschlichen Bezüge durchdringt: »Zwingt man ihn zu essen, so erinnert man ihn daran: sein Mund richtet sich gegen ihn, es ist, als hielte man ihm einen Spiegel vor. Er sieht darin einen Mund, und er sieht, daß gegessen wird. Aber das, was gegessen wird, ist er selber.«62
7. Z eugenschaf t der W ölfe Der Spiegel, vor dem das melancholische Selbst erstarrt stehen bleibt, verweist auf das Thema des Narzissmus zurück, das schon Canettis Auseinandersetzung mit Freud begleitete und die Geschichte des Wolfsmannes bestimmte. Was beide, den Wolfsmann und Canetti, verbindet, ist der Widerstand gegen die Psychoanalyse, der ihre Schriften durchzieht. Indem er sich in den eigenen Lebenserinnerungen dem Zentrum der Autobiographie, dem Namen, den er von Freud erhalten hat, konsequent verweigert, entzieht sich Sergei Konstantinowitsch Pankejeff gerade da dem Zugriff der Psychoanalyse, wo er ihr wichtigster Zeuge zu werden scheint. In ähnlicher Weise wie das Lesen der Bilder bei Canetti Gerhard Neumann zufolge um den Zusammenhang von »Blindheit, Blendung, Verblendung und Vision«63 kreist, schreibt sich der Widerstand gegen die Psychoanalyse in Masse und Macht und der Autobiographie in eine Abwehrstrategie ein, die weder die Geschichte des Ödipus noch die psychoanalytische Theorie des Begehrens anerkennen will. Im Spiegel der Selbstbetrachtung 61 | Ebd. 62 | Ebd. 63 | Gerhard Neumann, Vom Lesen der Bilder. Canettis imaginäre Lektüren zwischen Blendung und Vision, in: Canetti als Leser, hg. von Gerhard Neumann, Freiburg 1996, S. 193-209, hier S. 201.
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entsagt Canetti dem Zusammenhang von Liebe und Begehren, wie Freud ihn entworfen hat, um in der Abwehr der Psychoanalyse auf die Techniken der Einverleibung zu stoßen, die seine theoretischen Reflexionen in Masse und Macht bestimmt. Über die späte Bedeutung des Eros für die eigene Bildungsgeschichte schreibt Canetti in der Fackel im Ohr: »meine Initiation in Liebe war die Kleistsche ›Penthesilea‹«64, um dem hinzuzusetzen, sie käme ihm vor »wie eine der griechischen Tragödien, die ich damals las, ›Die Bakchen‹.«65 Unglaublich an Canettis später Selbstdarstellung ist nicht nur, dass er selbst die Initiation in die Liebe ganz in die Literatur verlegt. Unglaublich ist, auf welche Texte er rekurriert, um seinen Widerstand gegen und seine Einführung in die Liebe zu begründen. Die Bakchen des Euripides wie Kleists Penthesilea berichten von der Macht der Liebe als einem dionysischen Rausch, der den Liebenden ebenso zu zerstückeln droht wie den, der sich vergeblich der Macht des Eros zu widersetzen sucht. Wenn Küsse sich auf Bisse reimen wie bei Kleist, dann bestimmt die Anthropologie des Kannibalismus, die Masse und Macht kennzeichnete, auch die späte Autobiographie. Scheint selbst die Liebe bei Canetti durch den Akt des Lesens vermittelt zu sein, so geht es dem autobiographischen Schreiben um die Transformation von Leben in Schrift, die auf die archaischen Praktiken der Einverleibung zurückführt, die der psychoanalytischen Theorie zufolge die Melancholie im Zeichen von Trauer und Narzissmus kennzeichnet: »Sein Verehren war ein Verzehren. Sein Verabscheuen war ein Ausspeien«66, schreibt Peter von Matt über den Leser Canetti. Dass Canetti Freud zum Fressen gerne hatte, könnte die Pointe einer Geschichte sein, die das Überleben der Psychoanalyse in den Eingeweiden der Macht zu sichern versucht. Es geht hier jedoch weniger um eine Rückübersetzung der Machttheorie Canettis in die Begrifflichkeit der Psychoanalyse als vielmehr um eine Auseinandersetzung mit der literarischen Form der Auto64 | Elias Canetti, Die Fackel im Ohr, S. 51. 65 | Ebd. 66 | Peter von Matt, Nachwort, in: Elias Canetti, Über die Dichter, München/Wien 2004, S. 125-132, hier S. 125.
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biographie als einer Textform, deren Funktion darin besteht, das eigene Überleben im Text symbolisch zu sichern. Was das Symbol verspricht, ist die Wiederherstellung einer Einheit, die durch einen ihr vorausgegangenen Akt der Trennung verloren gegangen ist. »Le symbolique est ce qui met fin à ce code de la disjonction et aux termes séparés«67, hält Jean Baudrillard in seiner Studie zum symbolischen Tausch fest. Die ursprüngliche Form der Einheit, die Masse und Macht beschreibt, ist die Symbiose von Mutter und Kind, ein scheinbar unzertrennbares Band, das die Mutter herstellt, indem sie sich im Kind verdoppelt und selbst anschaut. »Es gibt Augen, die man fürchtet, weil sie auf Zerfleischen aus sind, sie dienen dem Erspüren von Beute«68, schreibt Canetti im letzten Band seiner Autobiographie, um im Blick auf Anna Mahler hinzuzufügen: »Ein Mythos ist auch das Auge, das nicht auf Zerfleischen aus ist, obwohl es nie losläßt, was es erblickt.«69 Nicht nur in Anna Mahler findet er die Macht der Augen, die ihn anziehen und vor denen er sich fürchtet, sondern, »tiefe schwarze Löcher statt der Augen« 70, auch in der sterbenden Mutter: Alles, was ihr an Leben blieb, war in die Augen gegangen, die schwerer waren vom Unrecht, das ich ihr angetan hatte. Sie blickte auf mich, um es zu sagen, ich hielt den Blick fest, ich ertrug ihn, ich wollte ihn ertragen. Es war nicht Zorn in diesem Blick, es war die Qual aller Jahre, in denen sie nicht von mir gelassen hatte. Um sich von mir zu lösen, hatte sie sich krank gefühlt, war zu Ärzten gegangen und an ferne Orte gefahren, in die Berge, ans Meer, es konnte überall sein, wenn ich nicht dort war, und hatte da ihr Leben geführt und mir’s in Briefen verborgen und hatte sich um meinetwillen krank geglaubt und war es nach Jahren wirklich geworden. Das hielt sie mir jetzt hin und es war ganz in den Augen. Dann wurde sie müde und sagte: Geh! und während ich nebenan wartete, ein falscher
67 | Jean Baudrillard: L’échange symbolique et la mort, Paris 1976, S. 205. 68 | Elias Canetti, Das Augenspiel, S. 70. 69 | Ebd. 70 | Ebd., S. 296.
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Büßer, schrieb ich an die, deren Name ihr nicht über die Lippen kam und gab Veza das Vertrauen, das ich der Mutter schuldete.71
In der Umkehr der autobiographischen Trauer um den Tod der Mutter, wie sie Augustinus in seiner Autobiographie überliefert, begegnet Canetti ihr als falscher Büßer, als Verräter, der noch auf ihrem Sterbebett Briefe an die Frau schreibt, die ihn aus den Fesseln der Mutter befreit hat. Masse und Macht hatte gezeigt, dass die Mutter das Kind zu verschlingen droht. Die Autobiographie zeigt, dass die Mutter, die sich ihr Kind nicht einzuverleiben vermag, krank wird und sterben muss. In ihrem Sohn aber lebt die Mutter weiter. »Ich sehe mich gehen, mit ihrer Stirn der Stadt Paris trotzend« 72, schreibt Canetti über den Leichenzug, der zum Père Lachaise führt: »Mit ihrer Stirn bahnte ich ihr den Weg durch die Stadt, torkelnde Menschen auf allen Seiten, und wartete der Beleidigung, die mich zwingen würde, für sie in die Schranken zu treten.« 73 Hatte der Text mit dem Angriff der Wölfe auf der Donau begonnen, um den Vater in der Maske des Wolfes einzuführen, der den Sohn aufzufressen droht, so endet die Autobiographie, wie die Geschichte des Wolfsmannes begann: Mit dem Phantasma einer Inkorporation, die offen lässt, ob sich die Mutter den Sohn oder der Sohn die Mutter einverleibt hat. Canetti ist/isst die Mutter, weil er sich von den Toten nicht zu trennen vermag und im Text an ihnen festzuhalten versucht. In dem Widerstand gegen den Tod, der sein Werk beseelt, übernimmt er die Funktion des Zeugen, die die Psychoanalyse dem Wolfsmann zusprach, als sie seinen Traum mit den Worten übersetzte: »Le temoin, c’est le fils.« 74 Die Geschichte des Wolfsmannes wie die Canettis ist die Geschichte des Sohns, der zum Zeugen wird: Zum Zeugen des Koitus der Eltern, wie der Wolfsmann, zum Zeugen ihres Todes, wie Canetti. Als Zeuge überlebt Canetti in der symbolischen Form der Autobiographie, im Netz der Worte, die um den 71 | Ebd., S. 301. 72 | Ebd., S. 303. 73 | Ebd. 74 | Nicolas Abraham/Maria Torok, Cryptonymie, S. 143.
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Tod des Vaters kreisen und mit dem der Mutter, der Darstellung der symbiotischen Mutter-Kind-Beziehung aus Masse und Macht zufolge also auch dem eigenen, enden. In der abschließenden Darstellung des Todes der Mutter vollzieht Canetti, was der Autobiographie aufgrund der ihr eigenen Gesetze verwehrt bleibt: den eigenen Tod zu erzählen und zugleich das eigene Überleben im Text zu sichern.
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V. C aput lupinum. Literatur und Politik der Wölfe bei Deleuze/Guattari, Kipling und London 1. W ölfe und H unde . M ille plateaux und die K ritik der P sychoanalyse Canetti und Deleuze/Guattari teilen die Ablehnung Freuds. Bei Deleuze/Guattari richtet sie sich unmittelbar auf die psychoanalytische Analyse des Wolfsmannes: »Manifestement Freud ignore tout de la fascination exercée par les loups, de ce que signifie l’appel muet des loups, l’appel à devenir-loup.«1 Mit diesen Worten fassen Deleuze und Guattari ihre Kritik an Freuds Analyse des Wolfmannes in Mille plateaux zusammen. Wie bereits im Anti-Ödipus, so scheint es ihnen darum zu gehen, das Verfahren zu kritisieren, das die Psychoanalyse anwendet, um den Neurotiker in seiner Einzigartigkeit zu verkennen: »comment la psychanalyse fait-elle pour réduire, cette fois le nevrosé, à une pauvre créature qui consomme éternellement du papa-maman, et rien d’autre?«2 . An die Stelle der Freudschen Verdrängungstheorie im Zeichen des Ödipus-Komplexes setzen sie eine affirmative Theorie des Begehrens, die ganz im Zeichen der Schizophrenie steht und die sich viel eher von Nietzsche als von Freud herleiten lässt: »Schizophréniser, schizophréniser le champ de l’inconscient, et aussi le champ social historique, de manière à faire sauter le carcan d’Œdipe et retrouver partout la force des productions 1 | Gilles Deleuze/Félix Guattari, Mille plateaux, Paris 1980, S. 41. 2 | Gilles Deleuze/Félix Guattari, L’Anti-Œdipe, Paris 1975, S. 27.
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désirantes, renouer à même le Réel le lien de la machine analytique, du désir et de la production,«3, so lautet das Gegenkonzept zu Freuds Neurosenlehre im Anti-Ödipus. Die These, das Begehren sei keine Instanz der Verdrängung oder Resultat eines psychischen und gesellschaftlichen Selbstentfremdungsprozesses, sondern eine lustbetonte Maschine, die unablässig produziere und reproduziere, führt zu einer Abwendung von Freud, die an die Stelle der kritischen Analyse des Unbewussten und des Kapitalismus, die Freud und Marx vorgebracht haben, eine positive Theorie der Schizophrenie als unendlicher Lustproduktion setzt, die sowohl die psychischen als auch die sozialen Prozesse der kapitalistischen Gesellschaft bestimme. Wenn Deleuze und Guattari in Mille plateaux dementsprechend behaupten, »Freud ne connaît le loup ou le chien qu’œdipianisé, le loup-papa castré castrateur, le chien à la niche, le OuaOua du psychanalyste«4, dann klingt das zunächst wie der bereits bekannte Tenor aus dem Anti-Ödipus. Im Vorwort zur italienischen Auflage haben Deleuze und Guattari jedoch selbstkritisch darauf hingewiesen, dass der Anti-Ödipus trotz oder vielleicht gerade wegen seines außerordentlichen Erfolgs ein Scheitern in der beabsichtigten Destruktion der Psychoanalyse bedeutete, wo hingegen Mille plateaux »uns unbekannte und von Ödipus unberührte Gebiete entdecken lassen«5. Frei nach Heideggers Einsicht, dass auch die Umkehrung der Metaphysik noch Metaphysik bleibe, bleibt die Kritik der Psychoanalyse bei Deleuze/Guattari jedoch noch abhängig von der Psychoanalyse. Den allzu destruktiv geratenen Ansatz aus dem Anti-Ödipus wendet Mille plateaux daher nun positiv. An die Stelle der Destruktion des Ödipalen tritt eine produktionsorientierte Lesart, die Deleuze und Guattari in Mille plateaux vehement einfordern. Zwar bleibt die Kritik der Psychoanalyse auch in Mille plateaux bestehen. Sie nimmt aber andere Züge an. Die Auseinandersetzung mit Freuds Analyse 3 | Ebd., S. 62. 4 | Gilles Deleuze/Félix Guattari, Mille plateaux, S. 41. 5 | Gilles Deleuze/Félix Guattari, Vorwort zur italienischen Ausgabe, in: Tausend Plateaus, Berlin 1992, S. I.
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des Wolfmannes ist ein signifikantes Beispiel für diese Wende. All die Begriffe, die Deleuze und Guattari für sich in Anspruch nehmen, um ihre Entfernung zur Psychoanalyse zu markieren, lassen sich mit der Figur des Wolfes verbinden. Nicht der Königswegs der einseitig am Ödipuskomplex orientierten Psychoanalyse bildet den Ausgang der Untersuchung, sondern die Multiplikation des einen Wolfmannes zu den vielen Wölfen, die sich aus ihm bilden lassen: »Les loups désignent une intensité, une bande d’intensité, un seuil d’intensité sur le corps sans organes de l’Homme aux loups.«6 An die Stelle des Eigennamens, der den Wolfsmann in seiner paranoiden Identität ausmacht, tritt dessen Vervielfältigung im Rahmen einer Deterritorialisierungsbewegung, die die personale Identität auflöst und neue Bezugnahmen auf die Wölfe erlaubt. Deleuze und Guattari bemühen sich daher auch kaum um eine im engeren Sinne kritische Lektüre des Freudschen Wolfmannes. Vielmehr verweisen sie in einem ebenso verwirrenden wie produktiven Spiel von Assoziationen auf so unterschiedliche Beispiele wie Prousts Charlus, Kafkas Schreiben und Elias Canettis Masse und Macht als Kritik an Freuds Individualismus, um unterschiedliche Wege anzudeuten, die alle von der Psychoanalyse in ein offenes Gelände wegführen. Im Zentrum der Kritik an der Psychoanalyse steht die Taufe, die der Wolfsmann durch die Psychoanalyse erhalten hat, um fortan als eindeutig identifizierbares Individuum durch die Geschichte der Wissenschaft und der Literatur zu geistern. Während Freud sich der Lesart von Deleuze/Guattari zufolge den Wolfsmann durch den Akt der Benennung aneignet, versteht sich der vierhändig geschriebene Text von Mille plateaux als ein fiktiver Ort der Begegnung, als ein liminaler Raum, der auf der Schwelle von Literatur und Philosophie unmittelbar zu Kipling führt: »le clan des loups se double d’un essaim d’abeilles contre la bande des Deulhs, sous l’action de Mowgli qui court en bordure (ah oui, Kipling comprenait mieux que Freud l’appel des loups)« 7. Dass Kipling den Ruf der Wölfe besser verstanden habe als Freud, mag zunächst als ungelenke 6 | Gilles Deleuze/Félix Guattari, Mille plateaux, S. 44. 7 | Ebd., S. 43.
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und bewusst naive Kritik an der Psychoanalyse durchgehen. Die suggestive Darstellung von der Überlegenheit Kiplings gegenüber Freud eröffnet im Prozess des eigenen Schreibens aber zugleich jenes liminale Feld, das Deleuze und Guattari in seiner Positivität aufzuweisen versuchen. In dem Maße, in dem die Wölfe bei Deleuze und Guattari als Schwellenfiguren zwischen Tier und Mensch begriffen werden, ergibt sich zugleich die Möglichkeit eines Vergleichs mit Giorgio Agambes Konzept des Homo sacer, das den Wolf ebenfalls als eine eigentümliche Schwellenexistenz anspricht.
2. G iorgio A gambens H omo S acer und der W erwolf In seiner Untersuchung zum Homo sacer hat Giorgio Agamben im germanischen Mythos des Werwolfs den »unzweifelhaften Bruder des römischen homo sacer«8 erkennen wollen. Für den Werwolf gilt daher, was Agamben für die Figur des homo sacer insgesamt herausgestellt hat: Er nimmt die Position des aus der Gemeinschaft Verbannten ein: »Der Werwolf, der sich im kollektiven Unbewußten als hybrides Monster, das, halb Mensch, halb Tier, halb in der Stadt und halb in der Wildnis lebt, niederschlagen sollte, ist also ursprünglich die Figur dessen, der aus der Gemeinschaft verbannt worden ist.«9 In der Position des eingeschlossenen Ausgeschlossenen, die aus der Verbannung resultiert, markiert der Werwolf eine Schwelle zwischen Tier und Mensch, Natur und Recht, der Agambens ganze Aufmerksamkeit gilt: Daß er als Wolfsmensch und nicht einfach als Wolf bestimmt wird (die Wendung des caput lupinum hat die Form eines rechtlichen Status), ist hier entscheidend: Das Leben des Verbannten ist – wie dasjenige des homo sacer [homo sacro] – kein Stück wilder Natur ohne jede Beziehung 8 | Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M. 2002, S. 114. 9 | Ebd., S. 115.
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zum Recht und zum Staat; es ist die Schwelle der Ununterschiedenheit und des Übergangs zwischen Tier und Mensch, zwischen phýsis und nómos, Ausschließung und Einschließung. Es ist das Leben des loup garou, des Werwolfs, der weder Mensch noch Bestie ist, einer Kreatur, die paradoxerweise in beiden Welten wohnt, ohne der einen oder der anderen anzugehören.10
Für Agamben markiert der Wolfsmensch eine Schwelle von Mensch und Tier, die zugleich die zwischen Natur und Recht markiert. Seiner Ausgangsunterscheidung von zoé und bíos als dem natürlichen und dem politischen Leben folgend, geht es Agamben nicht um die Frage nach der vielfältigen Darstellung, die der Wolf in der Literatur erfahren hat, als vielmehr um die nach der politischen Dimension des Rechtes, die sich anhand der Ausschlussmechanismen fassen lässt, denen zufolge der Wolf die Rolle eines Verbannten übernimmt, aus dessen exponierter Position heraus sich die politische Ordnung der Gemeinschaft zugleich dekonstruieren lässt. In der Position zwischen Tier und Mensch übernimmt der Wolf in seiner scheinbaren Natürlichkeit zugleich die Funktion einer Politisierung des nackten Lebens, die Agamben im Anschluss an Walter Benjamin und Michel Foucault nachzuzeichnen sucht. Agambens dekonstruktiver Geste zufolge konstituiert sich eine politische Gemeinschaft erst durch die Ausschließung des nackten Lebens, das im Akt der Ausschließung aber zugleich präsent bleibt und so den Ort einer Exteriorität markiert, der sich nicht mehr einholen lässt. Agamben orientiert sich an Hobbes’ Naturzustand, um die eigentümlich liminale Position des Wolfes zwischen Natur und Kultur herauszuarbeiten: »Er ist nicht einfach feria bestia und natürliches Leben, sondern vielmehr eine Zone der Ununterscheidbarkeit zwischen dem Menschlichen und dem Tierischen, Werwolf eben, Mensch, der sich in einen Wolf verwandelt, und Wolf, der zu einem Menschen wird: Er ist ein Verbannter, homo sacer.«11 Die Schwellenfigur des Wolfes bezieht Agamben mit Benjamin auf die Rechtsphilosophie und 10 | Ebd. 11 | Ebd., S. 116.
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die damit verbundene kritische Auseinandersetzung mit dem Naturrecht, derzufolge die originäre politische Beziehung auf einem Bann beruht, der zugleich eine Zone der Ununterscheidbarkeit zwischen Innen und Außen konstituiert. Zwar spielt die vielfältig variierte literarische Figur des Wolfes für Agamben zunächst keine Rolle. In seinem Dschungelbuch gibt Rudyard Kipling jedoch ein signifikantes Beispiel für den von Agamben postulierten Zusammenhang zwischen dem Werwolf und der Rechtstheorie einer sozialen Gemeinschaft, die sich durch wechselseitige Ausschlüsse konstituiert. Vor diesem Hintergrund stellt sich mit Deleuze und Guattari erneut die Frage, inwiefern Kipling im Unterschied zu Freud, vielleicht aber auch zu Agamben selbst, dem Ruf der Wölfe gefolgt ist. Im Folgenden wird es daher nicht nur darum gehen, Kiplings Wolfsjungen und Agambens Homo sacer miteinander in Verbindung zu bringen, sondern zugleich darum, die »Fluchtlinien der Philosophie«12 aufzuweisen, die die Geschichte des kleinen Mogli für den Leser bereithält.
3. K iplings W olfsjunge Schon die Tatsache, dass sich Deleuze und Guattari mit dem Dschungelbuch in Mille plateaux emphatisch auf einen Text beziehen, der heutzutage vor allem als Kinder- und Jugendbuch wahrgenommen wird, kann als Hinweis auf die »littérature mineure« verstanden werden, die Kipling und Kafka in ihren Augen verbindet. Der imperialistische Hintergrund von Kiplings Werk im Zeichen eines viktorianischen Zivilisationsbewusstseins, der in der fortgesetzten Rede von den »Gesetzen des Dschungels« aufscheint, interessiert Deleuze/Guattari dagegen kaum. Die rechtliche Dimension, die Agamben in die Figur des Wolfes als Schwelle von Tier und Mensch einträgt, spielt im Dschungelbuch jedoch eine zentrale Rolle. An der Geschichte Moglis lässt sich die Bewegung der Konstruktion und Dekonstruktion von Recht und 12 | Vgl. Friedrich Balke/Joseph Vogl (Hg.): Einleitung, in: Fluchtlinien der Philosophie, München 1996, S. 5-25.
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Gesetz ablesen, die Agamben im Blick auf die Figur des Homo sacer zu rekonstruieren versucht. Dass sich die Geschichte Moglis von Beginn an in den Kontext zwischen unterschiedlichen Rechtsauffassungen stellen lässt, zeigt die Darstellung seiner Aufnahme und Entlassung in das Wolfsrudel, der die Aufnahme und Verbannung aus der menschlichen Gesellschaft gleichgeordnet ist. Mit dem Tiger Shir Khan, lahmfüßig wie Ödipus, und seinem Begleiter, dem Schakal Tabaqui, führt Kipling eine pervertierte Form des Rechts ein, die sich durch das ihr zugrunde liegende Gefälle zwischen Tiger und Schakal von der genau strukturierten Ordnung des Wolfsrudels signifikant unterscheidet. Als Tabaqui den Wölfen einleitend mitteilt, dass der Tiger beabsichtige, nun in ihren Gründen zu jagen, entsteht ein Rechtskonflikt zwischen dem Tiger, der sich um die Gesetze des Dschungels nicht zu kümmern braucht, da er sich als Alleinherrscher sieht, und dem Anspruch der Wölfe, der in dem Streit um Mogli zum Tragen kommt. Mogli wird zum symbolischen Ort der Auseinandersetzung zwischen den unterschiedlichen Rechtsauffassungen von dem Einzelwesen des Tigers und der Gemeinschaft der Wölfe. Als der Junge nach dem gescheiterten Angriff des Tigers auf Vater Wolf trifft, um ihn wie im Märchen angstfrei anzulachen, wird er in die Gemeinschaft der Wolffamilie aufgenommen, obwohl Shir Khan seinen Anspruch auf ihn aufrechterhält. »›The Wolves are a free people, said Father Wolf. ›They take orders from the Head of the Pack, and not from any striped cattle-killer. The man’s cub is ours«13. Die gesamte Erzählung von Mogli wird fortan von den unterschiedlichen Rechtsansprüchen gekennzeichnet, die sich an ihm entzünden. Er selbst, Mogli, bewegt sich dabei in dem von Agamben herausgearbeiteten liminalen Raum, dessen Grenzen zum einen von dem unterschiedlichen Anspruch der Wölfe und des Tigers an ihn gestellt werden, zum anderen durch die Menschen, denen er durch seine Geburt eigentlich angehört. Wie eine Schachfigur gerät Mogli in immer neue Konstellation, die durch den Tod des
13 | Raymond Kipling, The Jungle Book, London 1967, S. 13.
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Tigers und die Verbannung aus der Gemeinschaft der Menschen zu einer neuen Form der Freiheit führen. Dass es sich um einen Rechtsstreit zwischen dem Tiger und den Wölfen um Mogli handelt, verdeutlicht die Versammlung des Wolfsrudels, die um die Zukunft des Menschenjungen zu entscheiden hat. In einem förmlichen Prozess, in dem es um die Aufnahme Moglis in das Rudel geht, vertreten Shir Khan und die Wolfsfamilie ihre unterschiedlichen Positionen. Nach der Intervention des Leitwolfes Akela, der die Freiheit der Wölfe gegenüber dem Tiger hervorhebt, und der Widerrede der jungen Wölfe, die schon auf den bevorstehenden Konflikt unter den Wölfen vorausdeutet, ist es erst die Patenschaft von Balu und Baghira, die die Aufnahme Moglis ermöglicht. Ganz im Sinne des Ethnologen A rnold van Gennep handelt es sich bei der Aufnahme Moglis in das Rudel um einen Übergangsritus, in dem nach der Trennung Moglis von den Menschen zunächst eine liminale Phase dominiert, die dann durch einen Angliederungsritus erfolgreich aufgelöst wird.14 Die liminale Phase erscheint in diesem Zusammenhang zugleich als ein krisenhafter Ort, an dem sich das Schicksal des Wolfsjungen entscheidet: Wird er aufgenommen, so gehört er der Gemeinschaft der Wölfe an, wird er es nicht, ist er dem Tiger überantwortet und zum Tode verurteilt. Die Aufnahme in das Rudel ist daher auch eine Verschiebung des Kampfes zwischen Mogli und Shir Khan, mit dem die erste Geschichte des Buches endet. Die Eingliederung des Menschenjungen in die Gemeinschaft der Wölfe erweist sich in der Folge der Erzählung durch die Interventionen des Tigers weiterhin als bedroht. Gerade hierin erweist sich Mogli als eine Schwellenfigur im Sinne Agambens: Zwar wird er in die Gemeinschaft der Wölfe aufgenommen und erhält dort seine Erziehung, die es ihm später ermöglicht, Shir Khan zu töten. An der Aufnahme des Menschen zerbricht das Rudel aber zugleich. Als der Leitwolf Akela von den jungen Wölfen unter dem Einfluss des Tigers auf einen Hirsch gehetzt wird, der sich zu wehren weiß, ist die Zeit seiner Herrschaft und damit die der 14 | Vgl. Arnold van Gennep, Les rites de passage, Paris 1981.
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Protektion Moglis beendet. Die liminale Position, die der Junge als Mensch unter den Wölfen wie als Wolf unter den Menschen einnimmt, ermöglicht es ihm jedoch wiederum, die Situation anders aufzulösen, als es das Gesetz der Wölfe vorsieht. Akela, der aufgrund der Verfehlung der Beute dem Tod überantwortet ist, wirft den jungen Wölfen vor, sich dem perversen Recht des Tigers anzuschließen und selbst zu Menschenfressern zu werden. In seinen wie in den Augen Moglis verlieren die Wölfe damit ihre Freiheit und werden ganz im Sinne Deleuze‹ und Guattaris zu Hunden: »Some of ye are eaters of cattle, and of others I have heard that, under Shere Khan’s teaching, ye go by dark night and snatch children from the villager’s doorstep. Therefore I knew ye to be cowards, and it is to cowards I speak.«15 Was mit der Auslieferung Moglis an den Tiger in Frage steht, ist die gesamte soziale Gemeinschaft der Wölfe, die sich nach der freien Existenz, die ihr bisheriges Leben bestimmte, wie der Tiger nun parasitär von den Menschen, ihrem Vieh und ihren Kindern, zu ernähren droht. Mit der Entscheidung gegen Akela zugunsten Shir Khans verlieren die Wölfe ihre Freiheit und ihren Namen. Für Akela und Mogli werden sie zu Hunden: »So I do not call ye my brothers anymore, but sag [dogs], as a man should. What ye will do, and what ye will not do, is not yours to say. That matter is with me; and that we may see the matter more plainly, I, the man, have brought here a little of the Red Flower which ye, dogs, fear.«16 Die liminale Position des Wolfsjungen erweist sich als entscheidender Vorteil: Rettung bringt das Feuer, das prometheische Symbol der menschlichen Kultur, zu der sich Mogli nun bekennt. Auf sich alleine gestellt, bleibt ihm zunächst nichts anderes als die Rückkehr zu den Menschen übrig. Die Aufnahme bei den Menschen erfolgt nach den gleichen rituellen Gesetzen wie die in das Wolfsrudel: »›By the Bull that bought me‹, said Mowgli to himself, ›but all this talking is like another looking-over by the Pack!«17 Zwar findet er bei seiner 15 | Raymond Kipling, The Jungle Book, S. 25. 16 | Ebd., S. 26. 17 | Ebd., S. 58.
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leiblichen Mutter Aufnahme. Auch in der Gemeinschaft der Menschen bleibt er aber ein Randwesen. Das zeigt sich nicht zuletzt an der Konfrontation mit dem Dorfjäger Buldeo, die eskaliert, als es um das Fell des getöteten Tigers geht. Zwar gelingt es Mogli, mit Hilfe der Wölfe Shir Khan zu töten. Als aber der Dorfjäger das Fell beansprucht und Mogli es ihm verwehrt, ist ihm auch die Rückkehr zu den Menschen versperrt: »›Sorcerer! Wolf’s brat! Jungle-demon! Go away‹«18, mit diesen Worten begegnen ihm die Menschen bei seiner Rückkehr. »›They are not unlike the Pack, these brothers of thine‹, said Akela, sitting down composedly.«19 Was die liminale Position des Wolfsjungen aufzeigt, ist nicht der Unterschied, sondern die grundlegende Gemeinsamkeit zwischen der sozialen Ordnung der Menschen und der der Wölfe, Hobbes’ These, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf sei. Da Mogli sich keiner Welt, weder der der Menschen noch der der Wölfe eindeutig zuordnen lässt, bleibt ihm zum Schluss der Erzählung nichts anderes übrig, denn als Erzieher der vier Wolfjungen seiner Mutter allein im Wald zu jagen. Liminalität und Exterritorialität gehen bei Kipling Hand in Hand: Auf der Schwelle von Mensch und Tier verkörpert der Wolfsjunge kein eigenes Gesetz, sondern die Grenzen der jeweiligen Rechtsformen, mit denen er in Berührung gerät. Ausgeschlossen aus der Gemeinschaft der Wölfe und der Menschen macht ihn Kipling zugleich zum Souverän seiner Geschichte.
4. W ölfe und H unde bei J ack L ondon . W hite Fang Was Kipling im Dschungelbuch vollzieht, ist eine symbolische Rehabilitierung des Wolfes im Rahmen einer Kritik der politischen und sozialen Ordnung der menschlichen Gemeinschaft. Eine ganz andere Darstellungsform als bei Kipling findet der Wolf in Jack Londons Roman White Fang aus dem Jahre 1906. 18 | Ebd., S. 71. 19 | Ebd.
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In ihm zelebriert London die freiwillige Unterwerfung der wölfischen Natur unter die Herrschaft des Menschen. Der Roman erzählt die Geschichte von Wolfsblut, einem hybriden Wesen, zu drei Vierteln Wolf, zu einem Viertel Hund, der zunächst unter Wölfen aufwächst, dann als Jungtier von Indianern zum Schlittenhund erzogen wird, um schließlich von skrupellosen Weißen zum Kampfhund abgerichtet zu werden. Erst die Intervention des Richters Scott rettet ihn aus seiner zunehmend desolaten Lage. Das Verhältnis von Wolf und Mensch wird von London von Beginn an als ein Herrschaftsverhältnis dargestellt. Der Beginn des Romans führt zwei Männer namens Henry und Bill vor, die auf ihren Schlitten in der Eiswüste Alaskas vergeblich gegen ein Wolfsrudel kämpfen, das sie nachts angreift. Ein Schlittenhund nach dem anderen fällt den Wölfen zum Opfer, schließlich auch Bill, während Henry im letzten Moment gerettet wird. Vor dem Hintergrund der Darstellung des Kampfes gegen die feindliche Natur, symbolisiert durch die Eiswüste Alaskas, erscheint der Wolf als natürlicher Jäger, dessen räuberische Natur auch vor dem Menschen nicht Halt macht. Der weitere Verlauf des Romans zeigt an Wolfsblut die sukzessive Unterwerfung des Wolfes unter den Menschen auf. Sie geht mit einer Verwandlung in einen Hund einher. London inszeniert die erste Begegnung von Wolfsblut mit den Indianern als Wiederholung der Urszene, die aus dem Wolf das Haustier Hund werden lässt: »he cowered down in a paralysis of fear, already half proffering the submission that his kind had proffered from the first time a wolf came in to sit by man’s fire and be made warm.«20 Die Unterwerfung des Tieres unter die ihm überlegene Macht des Feuers, an der sich der junge Wolf erst einmal die Schnauze verbrennt, stellt London als den beständigen Kampf gegen seine wölfische Natur dar, die ihn zugleich zu Leistungen befähigt, die über die der Hunde hinausgehen. Ihren Höhepunkt findet die Darstellung nicht in dem aussichtslosen Kampf gegen eine Bulldogge, die sich in ihm verbeißt, sondern in der völligen Unterwerfung unter die 20 | Jack London, The Call of the Wild, White Fang and Other Stories. Edited by Andrew Sinclair, London/New York 1986, S. 247.
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gerechte Herrschaft des Richters Scott, der den verletzten Wolf zu sich nimmt und in die kalifornische Heimat bringt. Zunächst ein Fremder in der häuslichen Umgebung, bestätigt sich die besondere Rolle von Wolfsblut, als er seinen neuen Herren vor der Rache eines entsprungenen Strafgefangenen namens Jim Hall rettet. In der stereotypen Darstellung des Romans erscheint der Sträfling als Tier und Bestie, Wolfsblut dagegen als Hüter des Rechts. »He was a beast – a human beast, it is true, but nevertheless so terrible a beast that can best be characterized as carnivorous«21, heißt es über Jim Hall, der als Räuber und Mörder selbst Wolf unter den Menschen wird.22 Seinen Meister findet er in dem wirklichen Wolf, der ihn am Eindringen in das Haus hindert und ohne Vorwarnung angreift. Wolfsblut tötet den entsprungenen Strafgefangenen durch den für Wölfe charakteristischen Kehlbiss, wird dabei aber selbst schwer verletzt. Ihm kommt daraufhin eine ärztliche Fürsorge zu, die eines Menschen würdig wäre. »He must be nursed as you would nurse a human being, a sick child.«23 Der Kampf mit Jim Hall vertauscht die symbolischen Positionen von Mensch und Tier miteinander: Der Sträfling erscheint als Tier, der Wolf als ein hilfsbedürftiges Kind, das geradezu eine Wiedergeburt als Hund und Schützer des Hauses erlebt. Vom Räuber wird er nach der langen Genesung endgültig zum lieben, guten Wolf, dem für sein heroisches Eintreten gedankt wird: Then came the day when the last bandage and the last plaster cast were taken off. It was a gala day. All Sierra Vista was gathered around. The master rubbed his ears, and he crooned his love-growl. The master’s wife called him the Blessed Wolf, which name was taken up with acclaim and all the women called him the Blessed Wolf. 24
21 | Ebd., S. 392. 22 | »Der Wolf wird so als Figur des Feindes und des Gesetzlosen etabliert, als innere wie äußere Gefahr, vor der es den Bürger zu beschützen gilt.« Roland Borgards, Wolf, Mensch, Hund, S. 135. 23 | Jack London, White Fang, S. 397. 24 | Ebd., S. 399.
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Kipling hatte seinen Helden zwischen die Menschen und die Wölfe gestellt, um beide Ordnungen gleichermaßen der Kritik zu unterziehen. Wo Mogli dem Rudel vorwirft, zu bloßen Hunden zu mutieren, da feiert London die symbolische Verwandlung des Wolfes in den Hund als freiwillige Unterwerfung der Natur unter die Herrschaft des Menschen. Wenn selbst die Frauenzimmer von dem »Blessed Wolf« sprechen, dann ist nichts mehr von ihm zu befürchten. Dass sich diese Transformation in der Abwehr der Kriminalität vollzieht, die der Sträfling Jim Hall verkörpert, zeigt, dass sich der Wolf quasi gegen die eigene Natur stellt, um endgültig in die menschliche Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Der Weg, den Mogli ging, den der eigenen Freiheit, bleibt ihm verwehrt.
5. P olitik der L iter atur – P olitik der W ölfe Die Bemerkung von Deleuze/Guattari, dass Kipling mehr über Wölfe wusste als Freud, steht mit der kurzen Lektüre des Dschungelbuches ebenso in Frage wie Agambens Analyse des Wolfes als Figur des Homo sacer. Im Rahmen der hier angestellten Überlegungen erscheint Mogli zunächst als Verkörperung einer Form der Liminalität, die zur Dekonstruktion von Rechtsformen taugt, die auf die Herausforderung des Anderen mit der Verbannung des Fremden aus dem eigenen Lebensbereich reagieren. Sicherlich ließe sich auch Freuds Wolfsmann einer Deutung im Kontext der Liminalität unterziehen. »Anstatt ein Werwolf zu werden, wurde er ein Neurotiker am Rande der Psychose«25, notiert Carlo Ginzburg kritisch über die Reduktion des Wolfsmannes auf einen neurotischen Fall. In seinen Augen legt die Geschichte des Wolfsmannes von »einem sehr viel reichhaltigeren mythischen Komplex«26 Zeugnis ab, als es Freud wahrhaben möchte. In ähnlicher Weise gehen Deleuze/Guattari von einem Überschuss aus, der die Geschichte des Freudschen Wolfsmannes kennzeichne, 25 | Carlo Ginzberg, Freud, der Wolfsmann und die Werwölfe, S. 192. 26 | Ebd., S. 197.
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ein Überschuss, der sich weniger durch eine in sich kohärente Theorie wie die des Ödipalen in der Psychoanalyse oder die des Homo sacer bei Agamben als vielmehr durch eine literarische Praxis begründen lasse. In ihrem Text gewähren Deleuze/Guattari dem Wolfsmann ein anderes Exil, als Freud es geboten hatte: Ce jour-là, l’Homme aux loups descendit du divan, particulièrement fatigué. Il savait que Freud avait un genie, de frôler la vérité et de passer à côté, puis de combler le vide avec des associations. Il savait que Freud ne connaissait rien aux loups, aux anus non plus d’ailleurs. Freud comprenait seulement ce que c’était qu’un chien, et la queue d’un chien. Ça ne suffisait pas, ça ne suffirait pas. L’Homme aux loups savait que Freud le déclarerait bientôt guéri, mais qu’il n’était rien, et qu’il continuerait à être traité pour l’éternité par Ruth, par Lacan, par Leclaire. Il savait enfin qu’il était en train d’acquérir un veritable nom propre, l’Homme aux loups, bien plus propre que le sien, puisqu’il accédait à la plus haute singularité dans l’appréhension instantanée d’une multiplicité générique: les loups – mais ce que ce nouveau, ce vrai nom propre allait être défiguré, mal orthographié, retranscrit en patronyme. 27
Im Mittelpunkt des Textes steht die Verwandlung von Theorie in Literatur: Deleuze und Guattari schreiben nicht philosophisch über Literatur, sie verwandeln die Philosophie in Literatur, in eine Kunst der Erfindung, die nicht länger den Gesetzen der Wahrheit, sondern denen der Lust gehorcht. So dient ihnen die Geschichte des Wolfsmannes als symbolischer Übergang für den Weg von der Neurose zur Psychose, der zugleich den Weg der Psychoanalyse zur Schizoanalyse kennzeichnet. An die Stelle der Taufe, die der Wolfsmann von Freud erfahren hat und die ihn auf einen Eigennamen festlegt, tritt die Vervielfältigung der Wölfe zum Rudel: »Il fallait faire l’inverse, il fallait comprendre en intensité: le Loup, c’est la meute, c’est-à-dire la multiplicité appréhendée comme telle en un instant«28. Mit den Begriffen der Intensität und der Mannigfaltigkeit geht es Deleuze und Guattari nicht darum, 27 | Gilles Deleuze/Félix Guattari, Mille plateaux, S. 39. 28 | Ebd., S. 44.
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über Wölfe zu schreiben, sondern darum, die Verwandlung zum Wolf selbst nachzuvollziehen: »Le loup comme appréhension instantanée d’une multiplicité dans telle région, ce n’est pas un représentant, un substitut, c’est un je sens. Je sens que je deviens loup, loup parmi les loups, en bordure des loups«29. Die Distanz zwischen Analyse und Gegenstand geben Deleuze/Guattari lustvoll auf. Was sie mit der Verwandlung in den Wolf bezwecken, ist ein Abbau von Angst zugunsten der Lust, die mit der Erfahrung der Intensitäten verbunden ist: »Devenir loup, devenir troup, c’est se déterritorialiser, d’après des lignes distinctes enchevêtrées.«30 Diese Linie auf eine zu reduzieren, sei der Kardinalfehler der Psychoanalyse, die Verwandlungen des Menschen in den Wolf zu multiplizieren, der Anspruch der Schizoanalyse. In diesem Punkt können Deleuze und Guattari an Elias Canettis Freud-Kritik aus Masse und Macht anschließen: Was sie interessiert, ist nicht der Einzelne, der im Mittelpunkt von Freuds Überlegungen zur Massenpsychologie gestanden hatte, sondern die Vielen, das Rudel, die Meute. Ob die Schizoanalyse den Kritiker notwendig selbst in einen Wolf verwandeln muss, ist allerdings gerade die Frage, deren Antwort Deleuze von Freud unterscheidet. Derrida hat auf sie wiederum eine andere Antwort gegeben. In seinem Seminar über La bête et le souverain aus dem Jahr 2001/2002 fragt er nach einem »bestiare d’ailleurs politique, riche de figures animales comme figures du politique«31, in dem das Tier und der politische Souverän die Position desjenigen teilen, der außerhalb des Gesetzes steht. Im Rahmen einer »étrange génélycologie«32 geht Derrida – unter anderem im Rahmen einer scharfen Kritik Agambens33 – 29 | Ebd., S. 45. 30 | Ebd. 31 | Jacques Derrida, Séminaire. La bête et le souverain. Volume I (2001-2002). Édition établie par Michel Lisse, Marie-Louise Mallet et Ginette Michaud, Paris 2008, S. 21. 32 | Ebd., S. 91. 33 | Zur Kritik, die Derrida an Agamben übt, vgl. Uwe Schwagmeier, Vom Heulen der Theorie, S. 260f.
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ausführlich auf den Wolf und sein Verhältnis zum Menschen ein. »Le loup, c’est, pour l’homme, l’homme même, mais tant qu’on ne le connaît pas, en tant qu’on ne le connaît pas. Le loup, c’est l’homme tant que et tant qu’on ne le connaît pas. Le loup, c’est l’homme tant que et en tant que, pendant le temps et pour autant qu’il reste inconnu et donc ne se fait pas savoir. Le loup, c’est pour l’homme l’homme (en) tant qu’il excède tout savoir et tout faire savoir.«34 Wenn der Wolf zugleich der Mensch ist, dann als derjenige, der sich zugleich dem Zugriff des Menschen entzieht. Der Wolf markiert für Derrida so auf der einen Seite den Feind des Menschen – »D’abord, l’ennemi, ici, l’ennemi juré, c’est toujours un loup. La bête à chasser, à refouler, à réprimer, à combattre, c’est le loup«35 –, auf der anderen Seite aber einen Bereich jenseits des Wissens, von dem aus sich das politische wie anthropologische Selbstverständnis des Menschen dekonstruieren lasse. Der Wolf, so lässt sich mit Derrida festhalten, ist der Mensch als ein Wesen, das sich in dem spiegelt, was er aus seinem Bewusstsein verbannt hat. Kein Wunder, dass der Wolf in den kulturellen Repräsentationen seiner Natur meist die Figur des Monströsen annimmt. Dass diese kulturellen Konstruktionen auf einer Folge von Projektionen beruhen, an denen Literatur und Philosophie gleichermaßen teilhaben, hat die Studie zu verdeutlichen gesucht, um den Wolf weder zu verteufeln noch zu heroisieren. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als zu lernen, mit den Wölfen zu leben.
34 | Ebd., S. 95. 35 | Ebd., S. 129.
E pilog: Vom Glück der Wölfe
Können Wölfe glücklich sein? Die Frage klingt ähnlich kompliziert wie die, ob Menschen überhaupt Glück erfahren können. Es geht hier nicht um die philosophische Frage, »wie sich ein gutes Leben zu einem moralisch guten Leben verhält.«1 In Frage steht vielmehr die ästhetische, sinnlich erfahrbare Form des Glücks. Sie, so scheint es zumindest, ist eine Gabe, die sich einer bestimmten Ordnung der Zeit verdankt. Glück ist nicht anders denkbar als in der Form des erfüllten Augenblicks. Solche Augenblicke sind selten, und noch schwieriger ist es, sie, wie Marcel Proust gezeigt hat, durch die Kraft der Erinnerung festzuhalten. Das Problem des Glücks liegt in der zeitlichen Dimension des Verschwindens, die mit der Kategorie des Augenblicks verbunden ist. Glück und menschliches Dasein aber hängen gerade durch diese Kraft des Verschwindens zusammen. Wenn die Menschen nach Pindar »Eintagswesen«2 ephemeroi, sind, dann, weil ihrem Dasein keine Dauer in der Zeit geschenkt ist. Das menschliche Dasein vergeht wie das der Zeit. Glück wäre dementsprechend nur denkbar als Transzendenz der eigenen Vergänglichkeit oder als blitzhaftes Aufscheinen einer Erfüllung im Hier und Jetzt. Letzteres kann für sich beanspruchen, die ästhetische Form des Glücks auszumachen. Aber können auch Wölfe diese seltene und fragile Form des Glücks erfahren?
1 | Martin Seel, Versuch über die Form des Glücks. Studien zur Ethik, Frankfurt a.M. 1995, S. 9. 2 | Pindar, 8. Pythische Ode, Vers 95, in: Oden. Übersetzt und herausgegeben von Eugen Dönt, Stuttgart 1986.
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Wie immer diese Frage philosophisch zu beantworten ist: In der Literatur ist so etwas natürlich möglich, und am meisten in der »littérature mineure«, der kindlichen, noch nicht erwachsenen Literatur, von der Deleuze im Blick auf Kafka gesprochen hat. Insbesondere im weitgesteckten Bereich der Kinder- und Jugendliteratur scheint alles möglich: Wölfe, die sich mit Lämmern und Schweinen befreunden und im Winter mit ihnen Schlitten fahren, statt sie zu verspeisen, die Pflaster für ihre verletzten Freunde suchen und überhaupt wenig von jener aggressiven Feindseligkeit verströmen, die ihnen der Mensch zugeschrieben hat. Und bisweilen können die derart anthropomorphisierten Wölfe auch Glück erfahren, besonders, wenn sie unter sich bleiben können wie Großer Wolf & kleiner Wolf.3 Von Kannibalismus und Nekrophilie, infantiler Neurose und dumpfer Sexualität ist hier keine Spur, außer, man möchte den Männerbund der beiden Wölfe als Ausdruck jener Homosexualität deuten, die Freud seinem Wolfsmann zugeschrieben hat. Entscheidender ist aber etwas anderes. Denn auch dem großen und dem kleinen Wolf entzieht sich das Glück zunächst. Es hängt an einem Baum und will nicht hinunter, ein letztes grünes Blatt, in dem sich der ganze Verlauf der Jahreszeiten spiegelt: »Im Frühling war es so grün, sein grün leuchtete so zart und sanft, dass der kleine Wolf es unbedingt essen wollte«, heißt es, dann weiter »Im Sommer war das Blatt so grün, sein Grün schimmerte so dunkel und glänzend, dass der kleine Wolf davon träumte, sich darin zu spiegeln«, und schließlich: »Im Herbst verfärbte sich das Blatt, es wurde allmählich braun, sein Braun war so warm und weich, dass der kleine Wolf am liebsten seine Schnauze daran gerieben hat.« Im Winter aber hängt das Blatt noch immer einsam auf seinem Ast, »so schwarz wie Kohle.« Anders, als der große Wolf es vorausgesagt hatte, fällt es nicht von alleine. Also muss er im tiefen Winter hinauf zu ihm, immer höher, bis er es berühren kann. Zum Glück aber kann man das Glück nicht besitzen: »Der große Wolf zog daran, und als das kleine Blatt sich löste, zerstäubte es ihm zwischen den Fingern 3 | Nadine Brun-Cosme/Olivier Tallec, Großer Wolf & kleiner Wolf. Das Glück, das nicht vom Baum fallen wollte, Hildesheim 2009, o. S.
Epilog: Vom Glück der Wölfe
in tausend Stücke.« Was so auf den kleinen Wolf herunterfällt, ist ein kleiner Sternenregen, der eben das Glück ausmacht: »Die Sterne tanzten an seiner Schnauze vorbei. Ein Stäubchen landete auf seiner Zunge, und der kleine Wolf schmeckte, wie zart das Blatt war. Ein Stäubchen schwebte vor seinen Augen, und der kleine Wolf sah, wie dunkel das Blatt glänzte. Ein Stäubchen kitzelte an seiner Schnauze, und der kleine Wolf spürte, wie weich das Blatt war. Und er zitterte vor Glück.« Als der große Wolf wieder unten angekommen ist, berichtet ihm der kleine Wolf noch immer ganz erfüllt, dass er noch nie etwas so Schönes gesehen habe. Im erfüllten Augenblick verschmelzen Glück und Schönheit miteinander. Das größte Glück für den kleinen Wolf ist offenkundig, dass er den großen Wolf hat, der für ihn in die Bäume klettert und sogar das Glück beinahe vom Himmel holt. Das kleine Lehrstück über das Glück, das da ist, sich aber nicht festhalten lässt, vielmehr gerade in seinem Verschwinden die ästhetische Form der Schönheit symbolisiert, die dem Glück wohl zukommen muss, enthält vielleicht nicht weniger Weisheit als die philosophischen Lehren über das glückliche Leben von Aristoteles bis zu Nietzsche, und die Frage nach dem Glück kann es wohl nicht vollständig beantworten. Wenn es aber solch ein Glück geben sollte – und was anderes macht den Zauber dieses Textes deutlich? –, dann wäre es auch den Wölfen zu wünschen.
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