Wissenschaftsgeschichte als Begriffsgeschichte: Terminologische Umbrüche im Entstehungsprozess der modernen Wissenschaften [1. Aufl.] 9783839411841

Entgegen anderslautenden Prognosen ist die Begriffsgeschichte heute aktueller denn je. Ihre Relevanz verdankt sie, so di

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German Pages 274 Year 2015

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Inhalt
Die Begriff sgeschichte ist tot, es lebe die Begriff sgeschichte! Einleitung
»Genommen auß den Comoedien«. Katastrophenbegriff e der neuzeitlichen Geologie
Zur Konjunktur des Begriff s ›Experiment‹ in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften
›Organisation‹ und ›Organismus‹ – von der Gliederung zur Lebendigkeit – und zurück? Die Karriere einer Wortfamilie seit dem 17. Jahrhundert
Das ›Treibhaus‹ als Metapher für eine widernatürliche Erziehung im Kontext der sich im 18. Jahrhundert herausbildenden Pädagogik als Wissenschaft
Das Spannungsverhältnis von Wissenschaft und Mythologie in Deutschland um 1800 und in Großbritannien um 1850-1900
Triebfeder und Maschine in der politischen Theorie Johann Heinrich Gottlob von Justis (1717-1771)
Geteilte ›Landschaften‹. Rückverweisende Ausblicke auf einen Begriff im 18. Jahrhundert
Transfer wissenschaftlicher Funktionsbegriff e in die Architekturtheorie des 18. Jahrhunderts
Dialektik des Pfropfens - Metamorphosen und Metaphorisierungen einer Kulturtechnik
Transgressive Semantiken. Zur erkenntnistheoretischen Umwertung von ›Biographie‹ im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert (Abbt, Wiggers, Droysen)
Autorinnen und Autoren
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Wissenschaftsgeschichte als Begriffsgeschichte: Terminologische Umbrüche im Entstehungsprozess der modernen Wissenschaften [1. Aufl.]
 9783839411841

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Michael Eggers, Matthias Rothe (Hg.) Wissenschaftsgeschichte als Begriffsgeschichte

2009-04-21 16-28-59 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 009f208226393648|(S.

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Michael Eggers, Matthias Rothe (Hg.)

Wissenschaftsgeschichte als Begriffsgeschichte Terminologische Umbrüche im Entstehungsprozess der modernen Wissenschaften

2009-04-21 16-28-59 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 009f208226393648|(S.

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Gedruckt mit Unterstützung der Ludwig Sievers Stiftung Hannover

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Michael Eggers, Matthias Rothe Satz: Frank Schöne, www.macgarage.de, Berlin Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1184-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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Inhalt Michael Eggers, Matthias Rothe Die Begriffsgeschichte ist tot, es lebe die Begriffsgeschichte! − Einleitung − ......................................................................................... 7 Olaf Briese »Genommen auß den Comoedien«. Katastrophenbegriffe der neuzeitlichen Geologie ............................ 23 Gunhild Berg Zur Konjunktur des Begriffs ›Experiment‹ in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften .................................................... 51 Georg Toepfer ›Organisation‹ und ›Organismus‹ – von der Gliederung zur Lebendigkeit – und zurück? Die Karriere einer Wortfamilie seit dem 17. Jahrhundert ................ 83 Kristin Heinze Das ›Treibhaus‹ als Metapher für eine widernatürliche Erziehung im Kontext der sich im 18. Jahrhundert herausbildenden Pädagogik als Wissenschaft ................................ 107 Angus Nicholls Das Spannungsverhältnis von Wissenschaft und Mythologie in Deutschland um 1800 und in Großbritannien um 1850-1900 .......................................................... 133 Ere Pertti Nokkala Triebfeder und Maschine in der politischen Theorie Johann Heinrich Gottlob von Justis (1717-1771) ................................ 157

Nils Plath Geteilte ›Landschaften‹. Rückverweisende Ausblicke auf einen Begriff im 18. Jahrhundert ................................................ 175 Ute Poerschke Transfer wissenschaftlicher Funktionsbegriffe in die Architekturtheorie des 18. Jahrhunderts .................................. 193 Falko Schmieder Dialektik des Pfropfens − Metamorphosen und Metaphorisierungen einer Kulturtechnik ....................................... 213 Falko Schnicke Transgressive Semantiken. Zur erkenntnistheoretischen Umwertung von ›Biographie‹ im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert (Abbt, Wiggers, Droysen) .......................... 235 Autorinnen und Autoren ........................................ 267

Die Begriffsgeschichte ist tot, es lebe die Begriffsgeschichte! − Einleitung − Michael Eggers, Matthias Rothe 1. Bemerkungen zum Zustand der Begrif fsgeschichte In einer Sammlung eigener begriffsgeschichtlicher Arbeiten der letzten Jahrzehnte diagnostiziert Hans Ulrich Gumbrecht eine am Ende des 20. Jahrhunderts einsetzende »Versteinerung der lebhaften begriffsgeschichtlichen Arbeit in Monumenten der Vergangenheit« und ein »Abebben« der begriffsgeschichtlichen Bewegung.1 Diese Einschätzung steht in einem lebhaften Gegensatz zu den tatsächlichen Aktivitäten, der Vielzahl von Konferenzen, Buchprojekten und Veröffentlichungen ebendieser Bewegung.2 Vielleicht ist es ja nur die be1 | Gumbrecht (2006), S. 9 u. 35. 2 | Vgl. etwa die Konferenzen: »Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften − die historische Dimension naturwissenschaftlicher Konzepte«, Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Berlin, 9.-10.2.2007; »Begriffs-, Problem- und Ideengeschichte im digitalen Zeitalter«, Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, 7.-8.2.2008; »Tropen und Metaphern im wissenschaftlichen Diskurs im Bereich der Geisteswissenschaften im 18. Jahrhundert«, 8.-9.10.2009, Bergamo; »Ideengeschichte und ihre Nachbardisziplinen«, Deutsches Literaturarchiv Marbach a. N., 26.-28.9.2008; außerdem das von Ernst Müller und Falko Schmieder am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung organisierte Projekt, wo ein elektronisches Wörterbuch disziplinen- und diskursübergreifender Begriffe entsteht; ganz zu schweigen von den zahlreichen Buch und Aufsatzpublikationen der letzten Jahre zu

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griffsgeschichtliche Theoriediskussion, die zum Stehen gekommen ist und die derzeit (oder wieder einmal) bilanziert wird. Seit Beginn der großen Wörterbuchprojekte in den 60er Jahren (Koselleck, Brunner et. al. und Ritter3) kreist die methodische Debatte um eine Reihe von Problemen, die – darauf deutet ihr Beharren – nie gelöst werden konnte und zu der mittlerweile wirklich alles zu Sagende auch oft genug ausgesprochen wurde. Dazu gehört die Frage nach der Rolle, die geschichtswissenschaftliche bzw. geschichtsphilosophische Voraussetzungen spielen: Wie sehr hängen die begriffsgeschichtlichen Untersuchungen daran? Welche sind in welchem Maße konstitutiv für das Unternehmen, welche verzichtbar?4 Auf eine ähnliche Problemlage zielt die hermeneutische bzw. methodische Frage nach der Art und Weise, wie Text (die den Begriff enthaltende Passage) und Kontext (nicht Ko-Text) in Beziehung gesetzt werden müssen, um nicht schon mit den jeweiligen Voraussetzungen die Ergebnisse zu produzieren. Schließlich sind die begriffsgeschichtlichen Schlüsselkonstellationen nie hinreichend aufgeklärt worden: Wie genau verhalten sich Wort unterschiedlichen Begriffen. S. auch die Literaturangaben am Schluss der Einleitung. 3 | Ritters Projekt kann bis in die Nachkriegszeit bzw. die frühen 50er Jahren zurückverfolgt werden. Sein Historisches Wörterbuch der Philosophie war ursprünglich, unter der Leitung von Erich Rothacker, als eine bearbeitete Neuausgabe von Rudolf Eislers Wörterbuch der philosophischen Begriffe geplant (zwischen 1899 bis 1930 in mehreren Neuauflagen erschienen). Die Zeitschrift Archiv für Begriffsgeschichte sollte dazu Bausteine liefern. Ab 1964 geht Ritter, mit Verweis auf Gadamer, auf Distanz zu diesem Projekt. Eisler, so Ritter, würde die Geschichte zugunsten des begrifflichen Systems vernachlässigen und versuchen, einen aktuellen Bestand gegen die Geschichte zu sichern (vgl. Gumbrecht (2006), S. 12). Das Historische Wörterbuch der Philosophie ist, im Gegensatz zu Kosellecks et. al. Geschichtlichen Grundbegriffen, eher geistesgeschichtlich geprägt, d.h., es bezieht weit weniger historische und soziale Kontexte ein und nimmt, so Melvin Richter, die vorrangig philosophieintern wirkenden ›formierenden und vereinheitlichenden Prozesse‹ in den Blick, vgl. Richter (1995), S. 13-16. 4 | Koselleck selbst hat in den 90er Jahren bestritten, dass etwa die Annahme einer Sattelzeit konstitutiv für die begriffsgeschichtliche Methode ist: »[...] this concept has come to obscure rather than to advance the project [...]. In any case, hypotheses about the existence of such a period play no part in the method used in Begriffsgeschichte« (zit. nach Bödeker (2002), S. 80). Gumbrecht scheint dies zu bestreiten, vgl. Gumbrecht (2006), S. 22f.

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und Begriff zueinander? Kann man sich, um Begriffe, Gegen- und Parallelbegriffe etc. zu finden, überhaupt an Titelworten bzw. Lexemen orientieren oder sind sie an diese gar nicht gebunden?5 Was genau sind eigentlich Begriffe oder gar Grund- bzw. Leitbegriffe, und woran erkennt man sie?6 Und nicht weniger zentral: Welches Verhältnis von Sprache und Welt ist bei all dem vorausgesetzt? Inwiefern muss Sprache als an der Konstitution der Sachwelt beteiligt verstanden werden und wie ließe sich davon ausgehend Sprache, die nur innerhalb einer Sachwelt funktioniert, unterscheiden? Eines scheint aber bei all dem nicht infrage zu stehen, nämlich dass die begriffsgeschichtlichen Projekte deutscher Provenienz sich von der Tradition der Ideengeschichte absetzen: Man legt Strukturgeschichte zugrunde, man geht vom Sprachgebrauch in konkreten historischen und sozialen Kontexten aus und verfolgt nicht bloß den 5 | In diesem Kontext spricht dann auch Koselleck von ›Semantik‹, offensichtlich um unterhalb der Begriffe eine sie immer aufs Neue ermöglichende Bedeutungsschicht zu finden und die Begriffe selbst nah am Wort zu halten, mithin sie damit methodisch kontrollierbarer zu machen, vgl. Koselleck (2002), S. 40f. Damit antwortet er zugleich auf die Kritik von Busse, der der Begriffsgeschichte vorgeworfen hatte, sich zu sehr an Titelwörtern zu orientieren und die Konstitutionsprozesse von Begriffen zu übersehen und zugleich vorschlug, sich statt an Begriffen an ›diskursiven Grundfiguren‹ (wie z.B. Eigenes – Fremdes) zu orientieren, vgl. Busse (2000), S. 4, 11. 6 | Koselleck hat eine Vielzahl konkurrierender Definitionsvorschläge dazu unterbreitet: »Ein Wort wird – in unserer Methode – zum Begriff, wenn die Fülle eines politisch-sozialen Bedeutungszusammenhanges, in dem – und für den – ein Wort gebraucht wird, insgesamt in das eine Wort eingeht«, heißt es etwa im Vorwort zu den Geschichtlichen Grundbegriffen (XII). In späteren Schriften versteht er Begriffe dann über ihre Funktion im Diskurs: Sie seien Argumentationszentren, Konzepte, um die alle Argumente kreisen würden (zit. nach Bödecker (2002), S. 120). Gerade die erstgenannte Definition legt die Vermutung nahe, dass Kosellecks Begriff nichts mehr und nichts weniger meint als ›Wort im Gebrauch‹ (im Wittgensteinschen Sinne, Philosophische Untersuchungen § 43) . Unter den Worten bzw. Wortgebräuchen gäbe es dann einige, zu deren Verständlichkeitsbedingungen komplexe politisch-soziale Kenntnisse gehören (Grundbegriffe). Die Aufmerksamkeit für solche ›Sprachspiele‹ steht auch im Zentrum des Projektes einer Intellectual History. Die Ähnlichkeiten zwischen Koselleck und der Schule der Intellectual History, für die vor allem Quentin Skinner und John G. A. Pocock stehen, wurden vielfach bemerkt, vgl. u.a. Skinner (2002), S. 177, Richter (1995).

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Wandel bzw. die Geschicke von Konzepten auf Augenhöhe mit den ›großen Denkern‹ der Weltgeschichte.7 Und die Vielzahl der oben aufgeworfenen offenen Fragen scheint darüber hinaus noch allemal harmlos im Vergleich zu jener fundamentalen Infragestellung, die aus den eigenen Reihen gewachsen ist und die unter dem Titel Metaphorologie firmiert.8 So jedenfalls sieht es Anselm Haverkamp,9 der die Begriffsgeschichte insgesamt »als einen äußerst beschränkten historischen Kompromiss« ansieht und davon spricht, dass Blumenbergs Metaphorologie »dieses Unternehmen [gemeint ist hier Ritters Wörterbuch, ME/MR] nicht [...] gesprengt«, sondern »erledigt« hätte.10 Er bezieht sich dabei auf einen ganz bestimmten Metapherntyp bzw. -gebrauch, der von Blumenberg diskutiert worden ist, den so genannten absoluten Gebrauch von Metaphern. Nicht mehr ihre heuristische Kraft bei der Wissensfi ndung oder ihr Wert in der Wissensvermittlung stehen in diesem Fall zur Debatte – verstände man sie über solche Leistungen, würden sich Metaphern entweder überflüssig machen, sobald der richtige Begriff gefunden ist oder hätten einen rein instrumentellen Wert –, sondern ihre unaufhebbare Konstitutionsfunktion in Bezug auf begriffliche Erkenntnis. Vor allem der späte Blumenberg entwickelte die Metaphorologie hin zu einer Theorie der Unbegrifflichkeit 11 oder wie Haverkamp12 es formuliert, 7 | Als Ideengeschichte werden gemeinhin sowohl die amerikanische History of Ideas von A.O. Lovejoy als auch die durch Friedrich Meinecke in 30er Jahren des 20. Jahrhunderts gegründete gleichnamige deutsche Schule bezeichnet. Kosellecks politische Strukturgeschichte setzt sich davon ab: Sie akzeptiert keine überzeitliche Gültigkeit von so genannten unitideas (Lovejoy) bzw. eine »über allen Begriffen dahinströmende Macht der Ideen« (Meinecke (1918), S. 62). 8 | Hans Blumenberg, dessen Name mit dem Projekt einer Metaphorologie unmittelbar verbunden ist, war ein Mitarbeiter Ritters. Obwohl er im Archiv für Begriffsgeschichte veröffentlichte, wurde seine Arbeit schließlich ins Historische Wörterbuch der Philosophie – der erste Band erschien 1971 – nicht mehr aufgenommen. 9 | Haverkamp (2005), S. 3. 10 | Auch Gumbrecht (2006, S. 35) sieht in der Metaphorologie das erfolgversprechendere Unternehmen. 11 | Blumenberg selbst hat vieles unausgearbeitet bzw. im Unentschlossenen gelassen. Es ist für seinen Leser nicht immer einfach zu entscheiden, welche Art des Gebrauchs einer Metapher jeweils diskutiert wird, vgl. etwa das Kapitel zum genetischen Code in Die Lesbarkeit der Welt (1986). 12 | Haverkamp (2005), S. 4.

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er ›legte sie tiefer‹. Denn der Terminus der Unbegrifflichkeit verweist schließlich auf das, was »sich der Anstrengung des Begriffes entzieht, dennoch seiner Genese zu Grunde liegt und seine ›lebensweltliche‹ Motivation bezeichnet.«13 Absolute Metaphern erscheinen dann als Versuche, eine solche unauflösbare Unbegrifflichkeit zu kompensieren. Die Metaphorologie rekonstruiert diese Versuche, und versteht sie dabei als Akte oder Vollzüge und nicht etwa als gelungene Feststellungen des Seins bzw. begrifflich gewonnene Erkenntnis. Aber selbst wenn Blumenberg und Haverkamp, oder genauer, Haverkamp mit Blumenberg hier die ›tiefste‹ Schicht, den Mutterboden der Begriffe sozusagen, freigelegt hätte, warum würde dies Begriffsgeschichte ›erledigen‹? Man müsste vielleicht zugeben, dass Begriffe, eben weil sie nur auf Metaphern ›gepfropft‹ sind, selbst nur Metaphern wären. Dennoch blieben Unterschiede zwischen absoluten Metaphern, Metaphern und Begriffen bestehen. Die Formen der Sprachverwendung, für die diese Termini stehen, haben unterschiedliche Funktionen, mithin lohnte vielleicht eine Untersuchung auf allen diesen Ebenen dennoch. Vorsichtiger formuliert es denn auch Ernst Müller, der, eine zunehmende Bedeutung der Metaphorik in den Debatten um die Begriffsgeschichte konstatierend, in Aussicht stellt, dass »der Blick auf die figurale und tropische Verfaßtheit der Sprache zugleich die traditionelle, von ihr zunächst getrennt behandelte Begriffsgeschichte verändert.«14 Ob man die Begriffe von den Metaphern her denken muss oder die Metaphern von den Begriffen her, wird dann von Fall zu Fall zu entscheiden sein. Und in diesem Sinne orientiert auch Ralph Konersmann sein Wörterbuch der philosophischen Metaphern, wenn er bereits in der Einleitung klarstellt, dass es nicht darum geht, Metaphern gegen Begriffe auszuspielen.15 Auch wenn Thesen von solch ›erdrückender‹ Art (alles ist Metapher) erst einmal dazu geeignet scheinen, das Feld der Gegenstände ganz einzuebnen und selbst als einzig mögliche Einsicht zurückbleiben (die es variantenreich zu bestätigen gilt), enden sie doch zumeist als Dekoration. Glücklicherweise aber nicht, ohne eine gründliche Sensibilisierung bzw. Erschütterung aller Gemeingüter geleistet zu 13 | So die Formulierung aus der Ankündigung eines Workshops zu Blumenberg in Konstanz im Jahre 2002, im Rahmen des SFB Literatur und Anthropologie, vgl. www.kakanien.ac.at/mat/S5111.pdf (zuletzt aufgerufen am 22.07. 2008). Im Anschluss an den Workshop ist der Sammelband Todorow u.a. (2004) zu diesem Thema erschienen. 14 | Müller (2004), S. 17. 15 | Konersmann (2007), S. 13.

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haben. So kann das Wörterbuch der philosophischen Metaphern wohl als ein Unternehmen gelten, dass ohne die Infragestellung des begrifflichen Privilegs auf Orientierungswissen nicht denkbar gewesen wäre. Zugleich wird hier die in der Vergangenheit häufig unversöhnlich und dogmatisch diskutierte Frontstellung produktiv aufgelöst und, ganz unaufgeregt, dem begrifflichen Wissen ein metaphorisches an die Seite gestellt: »Die Metapher ist, mit einem Wort, eine Figur des Wissens«, so Konersmann.16 Statt Begriffsgeschichte also zu ›erledigen‹ (das Wort verrät den Jagdinstinkt) oder ihr bevorstehendes Ende zu diagnostizieren, wäre es allemal besser zu fragen, warum sie so hartnäckig und trotz all der theoretischen Unschärfe produktiv und attraktiv bleibt. Und zum Glück versucht Gumbrecht auch darauf zu antworten: Zentrale Unschärfen, so heißt es bei ihm, seien über eine lange Zeit nichts weniger als die Bedingung ihres Erfolges gewesen. Das ungeklärte Verhältnis von Sprache und Welt nennt er beispielsweise eine »zur Institution gewordene Unentschiedenheit«,17 sie hätte die Begriffsgeschichte vor dem Relativismus bzw. Perspektivismus bewahrt. Sicher nicht nur das, denn was in der theoretischen Grundanlage der Begriffsgeschichte nicht ein für allemal gelöst ist, wird dann der konkreten Studie angetragen, sie darf hoffen, auch dieses Problem zu lösen. In anderen Worten: Jeder Forscher konnte vor Ort, an seinem Material, das Verhältnis Sprache-Welt im Sinne der zu erlangenden möglichst besten Einsichten klären, d.h. die Legitimation seines Vorgehens gegen die überhaupt möglichen Ergebnisse ausbalancieren. Auf diese Weise mag auch die zweite institutionalisierte Unschärfe gewirkt haben. Sie betriff t, so Gumbrecht,18 das Problem des Erkenntniswerts von Geschichtlichkeit. Begriffsgeschichte habe, so argumentiert er, obwohl sie sich so sehr auf die zu gewinnenden Einsichten aus der Geschichte beruft, nie klar formuliert, welchen Erkenntniswert die Vergangen-

16 | Ebd., S. 8. Dass die Artikel dieses Wörterbuchs das Konzept nur recht uneinheitlich einlösen können (so Dirk Werle (2008) in seiner Rezension), mag zunächst als ein weiterer Ausweis des Hauptarguments dieser Einleitung gewertet werden, dass nämlich die konkrete begriffs(bzw. metaphern-)geschichtliche Arbeit von der Theorie nie ganz einholbar ist und sich zu einem nicht unerheblichen Maß vom jeweiligen Gegenstand leiten lassen muss. Allerdings wird dieser Umstand im Lexikon leider nicht dementsprechend ausgewiesen. 17 | Gumbrecht (2006), S. 27. 18 | Ebd., S. 28.

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heit überhaupt habe.19 Genau diese Aufgabe einer Bestimmung des Erkenntniswertes von Geschichte aber, so könnte man ausführen, wird dann wiederum in die Einzelstudien verlagert und fungiert dort als wichtige Motivation.20 Genauer: fungierte, denn all diese Momente, die als Mängel produktiv waren, hätten ihre Kraft mittlerweile eingebüsst, und zwar weil sich eine »neue epistemologische Konfiguration« herausgebildet habe (Gumbrecht 2006: 32). Deshalb also sei die Begriffsgeschichte schließlich ›versteinert‹. Was macht diese neue Konfiguration aus? Die Vergangenheit vergeht nicht und die Zukunft beginnt nicht mehr, stattdessen würden alle Handlungs- und Denkmöglichkeiten in einer 19 | Zumindest diesen Vorwurf könnte man bestreiten. Koselleck etwa

hat den Sinn seiner Unternehmung sehr genau beschrieben: Er will die historische Forschung orientieren, indem er ihr Vokabular aufklärt, genauer: indem er aufzeigt, wie dieses selbst von Geschichte eingenommen ist – unabdingbare Voraussetzung dafür, die Projektion des modernen Selbstverständnisses auf historische Sachlagen zu vermeiden. Vielleicht zielt Gumbrecht ja auf die Frage ab, wozu wir die unter Umständen dann richtig verstandene Geschichte benötigen. Fragen von solcher Allgemeinheit aber sind kein Privileg der historischen Forschung, sondern das von Ökonomen in Anschlag gebrachte Damoklesschwert, das über den Geisteswissenschaften schwebt. Sie reproduzieren zudem das Paradox, dass sich eine Forschung mittels des Werts ihrer Ergebnisse zu legitimieren habe, bevor sie zu diesen überhaupt gelangen kann. 20 | Nicht verschwiegen werden soll die von Gumbrecht angeführte dritte Erfolgsbedingung der Begriffsgeschichte bzw. ihr drittes Manko: die Konzentration auf das sprachliche Überlieferungsgeschehen, die, so Gumbrecht (2007, S. 30) mit Haverkamp, »eine bequeme Versöhnungsmöglichkeit mit der deutschen Geschichte eröffnet habe.« Man versichert sich einer ungebrochenen und guten Tradition, wenn der Anspruch eines semantischen Verstehens selbst noch die Geschehnisse während der Nazizeit zu erfassen sucht − für die aber die Kategorie des Verstehens, gar eines rein sprachlichen, unzureichend bleiben muss. In mehreren Aufsätzen macht Reinhard Blänkner an Otto Brunner – einem der Herausgeber der Geschichtlichen Grundbegriffe – und dessen These von einer Traditionslinie Alteuropa den schwierigen Umgang der deutschen Geschichtsschreibung mit ihren historisch kontaminierten Begriffen deutlich, vgl. u.a. Blänkner 1999. Der besonderen Herausforderung der historischen Begriffsforschung durch die Folgen der 30er und 40er Jahre stellt sich der Sammelband von Carsten Dutt (2003). Zum Umgang der Kulturwissenschaften der Nachkriegszeit mit der nationalsozialistischen Vergangenheit s. auch Haverkamp (2004).

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nahezu endlosen Gegenwart präsent gehalten. Die Gegenwart – eine »Zone der Simultaneitäten« (ebd. 33). Ein wohl klassischer kulturpessimistischer Topos wird von Gumbrecht bemüht, wenn er den Verlust von Außenperspektiven konstatiert und den Konstruktivismus zum »epistemologische(n) Äquivalent des alternativlos gewordenen Habitus der Selbstfindung und Selbststilisierung« erklärt (ebd. 34). Vielleicht sollte man eher davon sprechen, dass allgemein anerkannt worden ist – und hier hat der Dekonstruktivismus einen Beitrag geleistet –, dass Theoriebildung immer auf der Ausblendung von Kontingenzen beruht. Dies, so könnte man weiterdenken, setzt eben wichtige Rechenschaftspflichten außer Kraft, die für begriffsgeschichtliche Studien starke Motivationen abgaben. Man hat sich nicht mehr zwischen den Polen einer Sach- und Sprachgeschichte zu situieren, muss sich nicht entscheiden bzw. dieses Verhältnis im Sinne einer richtigen, wahren Herangehensweise klären. Und weil (unter Umständen) die Vergangenheit tatsächlich an Gewicht verliert, muss auch ihr möglicher Erkenntniswert theoretisch nicht mehr umständlich ausgewiesen werden. Nun scheint die Diagnose einer ›Versteinerung‹ bzw. eines ›Abebbens‹ der begriffsgeschichtlichen Bewegung nicht zu stimmen.21 Einmal vorausgesetzt, Gumbrecht läge trotzdem nicht vollkommen falsch mit seiner Beschreibung der (post) modernen epistemologischen Konfiguration, könnte man diese Sachlage dennoch erklären? Vielleicht ist es ja gerade dieses Aussetzen von Rechenschaftspflichten, in anderen Worten: das Aussetzen des Zwanges, sein eigenes Unternehmen in einer Theorie der Begriffsgeschichte verankern zu müssen, was die Begriffsgeschichte mittlerweile beflügelt. Sie kann sich nun ohne Rückhalt ihrem Material widmen und die Probleme und Lösungen lokal entwickeln. Niemand muss seine Arbeit überhaupt noch mit einer großen Theorie versöhnen wollen, damit die Forschung funktioniert. Und Gumbrecht käme dann zu seinen Annahmen, weil er davon ausgeht, dass eine kohärente Theorie der Begriffsgeschichte die Praxis nach wie vor zu legitimieren hat und zugleich die Motivation, sich dieser Aufgabe zu stellen, entfallen ist. Die einzelnen Studien aber haben diese Bürde schon abgeworfen und sich in die Klugheit der Praxis gerettet, immerhin eine alte aristotelische Tugend. Und jetzt darf es auch offiziell gemacht werden. Die Theorie, das wird wohl allgemein geahnt, kommt dabei immer zu spät, d.h. sie operiert immer schon und unaufhebbar im Rücken der Klugheit.

21 | Vgl. die Hinweise in Fn. 2.

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2. Zu den Ar tikeln dieses Bandes Die Artikel dieses Bandes stellen einmal mehr unter Beweis, dass die Stärke der begriffsgeschichtlichen Bewegung nicht darin liegt, dass sich über die Einzelstudien eine globale Theorie ihres universalen Anspruchs versichert, sondern Begriffsgeschichte arbeitet hier konkreten Fragestellungen zu, die sich sehr unterschiedlichen disziplinären Herkünften und Perspektiven verdanken. Den Autoren war lediglich ein Thema vorgegeben: Die untersuchten Begriffe sollten im Zusammenhang mit der Ausdifferenzierung des modernen Systems der Wissenschaften, der institutionalisierten Zweiteilung Geistes- vs. Naturwissenschaften in Zusammenhang stehen. »Wissenschaftsgeschichte als Begriffsgeschichte: Übertragungen, Wechselwirkungen, Parallelen«, so lautete die Orientierung. Besonderes Interesse war damit angemeldet für die Geschichte von Begriffen, deren Karriere mehrere, im modernen Wissenschaftssystem auf unterschiedliche Fachgebiete verteilte Wissensbereiche durchlaufen hat. Dem Buch, wie es nun vorliegt, ist eine Tagung vorangegangen, im Juni 2007 in Frankfurt/Oder, die den Charakter eines intimen und hochkonzentrierten Workshops hatte und den Autoren bereits Gelegenheit bot, sich im Vorausblick auf das Buchprojekt miteinander abzustimmen. Der Verzicht auf eine methodisch programmatische Klammer und die bewusst hergestellte Vielfalt der thematischen und disziplinären Bezüge haben im Ergebnis dazu geführt, dass eine Rubrizierung der Textbeiträge nur mit großem Aufwand möglich gewesen wäre. Allenfalls mit Blick auf die gewählte Perspektive ließen sie sich gruppieren. Die Autoren wählen entweder einen engeren historischen Ausschnitt, in dem eine entscheidende semantische Weichenstellung oder ein interdisziplinärer Transfer auszumachen ist oder aber holen weit aus, verfolgen die Geschichte eines Begriffs von seinen Anfängen bis hin zu aktuell noch vorherrschenden Bedeutungsschichten. Diese Differenzen sind nicht unwesentlich dem Forschungsstand geschuldet. So entsprechen die Aufsätze von Briese, Toepfer, Schmieder und Berg eher der zweiten, erschöpfenden Vorgehensweise, wobei Berg ihr Thema am Leitfaden der dazu vorliegenden Forschungen diskutiert < eine Entscheidung, die gerade für den wissenschaftsgeschichtlich hochaktuellen Begriff ›Experiment‹ einleuchtet. Die Beiträge von Heinze, Nokkala, Plath, Poerschke, Nicholls und Schnicke haben dagegen einen jeweils wohlbegründeten, begrenzten Zugriff gewählt, der es erlaubt, bereits existierende Darstellungen um Vernachlässigtes zu ergänzen. Denn unterhalb der großen begriffsgeschichtlichen Lexika gibt es eine unendlich komplexe Ebene der historischen Begriffssemantik, der in-

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dividuellen, idiosynkratischen, lokal begrenzten, metaphorischen oder strategischen Gebrauchsweisen, die dem komprimierten und kanonisierenden Blick der Enzyklopädien notwendig entgehen muss.22 Darüber hinaus kommentieren einige Autoren vor allem den Wortgebrauch im unmittelbaren, auch sprachlichen Kontext, andere interpretieren die Begriffe im jeweiligen umfassenderen Theoriekontext bzw. im größeren sozialen und historischen Rahmen. Schließlich fallen die Bezugnahmen auf die begriffsgeschichtliche Theorie sehr unterschiedlich aus. Eines aber, so scheint es, haben diese Referenzen gemeinsam – und dies stützt die eingangs gemachten Bemerkungen – : Eine Theorie der Begriffsgeschichte ist nicht (mehr) konstitutiv für die jeweiligen Untersuchungen, das heißt, weder steuert sie unmittelbar das Vorgehen, noch muss gerechtfertigt werden, dass dies nicht der Fall ist. Jeder Autor denkt von der Problemstellung her und führt allenfalls gelegentlich die Überlegungen der Autoritäten an, zum Beispiel um auf Korrespondenzen aufmerksam zu machen, – ein Akt der Reverenz. Die Praxis ist ungleich besser als ihre Theorie. Zum Schluss sei gedankt: dem im Juli 2008 viel zu früh verstorbenen Heinz Dieter Kittsteiner für seine Unterstützung des Buchprojekts, Frank Schöne für die Formatierungsarbeiten und der Ludwig Sievers Stiftung für die finanzielle Beihilfe.

22 | Gerade an den Anfängen des erfolgreichsten dieser Lexika, des Historischen Wörterbuchs der Philosophie, lässt sich ablesen, dass die Textsorte des Lexikon- oder Handbuchartikels keineswegs das Paradigma der begriffsgeschichtlichen Forschung ist. Das Archiv für Begriff sgeschichte hat auf dem Weg zu einem zu erarbeitenden philosophischen Wörterbuch (s. Fn. 3) von Anfang an eine Pluralität der Textformen − selbst Monographien wurden in den ersten Jahren publiziert- und im Laufe seiner Entwicklung auch zunehmend eine Pluralität der erforschten Disziplinen ermöglicht.

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3. Abstracts Olaf Briese »Genommen auß den Comoedien«. Katastrophenbegriffe der neuzeitlichen Geologie. Der Artikel verfolgt den Transfer des Begriffs Katastrophe aus der Rhetorik/Poetik in die Astrologie, von dort in die theologisch gestützte Astronomie und schließlich in die Geowissenschaften. Die Übernahmen und zugleich Modifi kationen des Begriffs vollziehen sich im Kontext der Christianisierung und schließlich im 17. und 18. Jahrhundert im Rahmen der Entstehung säkularer Wissenschaften. Dabei kann Olaf Briese zeigen, wie sich die anfangs noch schwachen Naturwissenschaften durch die begriffl iche Anleihe bei den artes liberales abzusichern suchen. Gunhild Berg Zur Konjunktur des Begriff s ›Experiment‹ in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften. Der Experimentbegriff erweist sich als hart umkämpft, denn das Experiment wird im 18. Jahrhundert zum Maßstab für Wissenschaftlichkeit. Nicht nur differenzieren sich die naturwissenschaftlichen Einzeldisziplinen über Experimente aus, auch die Geschichts-, Sozial- und Literaturwissenschaften erkennen den Erfolg der naturforschenden Experimentalwissenschaften an, wenn sie sich deren Standards zu unterwerfen scheinen, indem sie Begriff und Praxis des Experiments für sich reklamieren. Mit Blick auf Strategien der Begriffsverwendung rekonstruiert Gunhild Berg diese Prozesse und zeigt, wie sich in ihnen Umbrüche im Wissenschaftsverständnis der ›zwei Kulturen‹ spiegeln. Georg Toepfer ›Organisation‹ und ›Organismus‹ – von der Gliederung zur Lebendigkeit – und zurück? Die Karriere einer Wortfamilie seit dem 17. Jahrhundert. Die Konstituierung der Biologie als Wissenschaft lässt sich anhand der hier diskutierten Begriffe deutlich nachvollziehen. Erst während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird ›Organisation‹ zum charakteristischen Begriff für Lebewesen: Nicht mehr Anorganisches, z.B. Steine, gelten nun als organisiert, sondern das Lebendige, und nur dieses. In der Folge setzt sich dann ›Organismus‹ als Fachterminus für Lebewesen durch < und wird im Zuge seiner Erfolgsgeschichte zugleich attraktiv als Metapher für das Soziale. Toepfer erläutert die entscheidende Phase des Bedeutungswandels um 1800, geht aber auch auf die antiken Anfänge und das 20. Jahrhundert ein. Kristin Heinze Das ›Treibhaus‹ als Metapher für eine widernatürliche Erziehung im Kontext der sich im 18. Jahrhundert herausbildenden Pädagogik als Wissenschaft. Die Geschichte der Treibhausmetapher ähnelt je-

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ner der im Beitrag von Schmieder behandelten Pfropfmetapher. Auch das Treibhaus ist eine hochgeschätzte kulturelle Errungenschaft, die darauf fußende Metapher wird jedoch abwertend gebraucht. Kristin Heinze sucht diesen Tatbestand aufzuklären, indem sie das Naturkonzept der sich herausbildenden pädagogischen Wissenschaften analysiert. Die begriffliche Opposition natürlich vs. künstlich orientiert die Verwendung der Metapher bis ins 18. Jahrhundert hinein. Im 19. Jahrhundert, so lautet der Befund, verändert sich dann zwar nicht ihre Gebrauchsweise, wohl aber diese Leitbegrifflichkeit. Angus Nicholls Das Spannungsverhältnis von Wissenschaft und Mythologie in Deutschland um 1800 und in Großbritannien um 1850-1900. Die Bestimmung der Mythologie vollzieht sich im Kontext einer Auseinandersetzung um den richtigen Begriff von Wissenschaft. Mythologie erscheint dabei wahlweise als das Andere der Wissenschaft oder wird ihr Gegenstand, und damit zugleich als rationaler Weltzugang verstanden und aufgewertet. So stellt sich dem Projekt einer empirischen Wissenschaft von der Mythologie (Feder, Meiners, Herder) in Deutschland eine durch Kant angestoßene, transzendental begründete Wissenschaft entgegen. In Großbritannien unternimmt Friedrich Max Müller den gewagten Versuch, seine »sciences of language and mythology« zwischen Kant und Darwin zu positionieren. Diese, zugleich wissenschaftspolitischen Konstellationen zeichnet der Artikel nach und stützt sich dabei auf die Bedeutungsverschiebungen der Begriffe ›Wissenschaft‹ und ›Mythologie‹. Ere Nokkalas Beitrag Triebfeder und Maschine in der politischen Theorie Johann Heinrich Gottlob von Justis (1717-1771) ist ein Plädoyer für einen vorsichtigen Umgang mit jener historisch so beliebten Differenz mechanisch vs. organisch, und er schreibt am Beispiel von Justis Gebrauch der Begriffe ›Triebfeder‹ und ›Maschine‹ zugleich die Geschichte dieser Differenz. Justis Verwendung der Uhrmetapher für das Funktionieren des Staates entwirft den Staat nämlich keineswegs, so die These, als mechanisches Zwangsgebilde. Vielmehr wird er vom mechanisch konzipierten Körper her gedacht, der zu einer reinen, nicht körperlichen Mechanik in Opposition steht. Justi nimmt damit die Metaphorisierung des Staates als Organismus, deren Herkunft der Beitrag von Georg Toepfer nachzeichnet, vorweg. Nils Plath: Geteilte ›Landschaften‹. Rückverweisende Ausblicke auf einen Begriff im 18. Jahrhundert. Seit dem 17. Jahrhundert war Landschaft etwas, das bewundert, begangen und genossen werden konnte < kurz:

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Landschaft wurde ästhetisiert. Schon zu dieser Zeit wird aber zugunsten des ästhetischen Objekts von seiner kulturellen Konstruiertheit abgesehen. Dass auf diese Weise ›Landschaft‹ zur Konstitution ihres kulturell konditionierten Betrachters dient, erhält im frühen 18. Jahrhundert eine handfestere Komponente: Nun bezeichnet der Begriff zudem ein Kreditinstitut für den verarmten Landadel. Plath fragt nach den Zusammenhängen zwischen diesen Phänomenen, und dem, was in der ›Landschaft‹ verschwindet: Arbeit und Eigentumsverhältnisse. Ute Poerschke Transfer wissenschaftlicher Funktionsbegriffe in die Architekturtheorie des 18. Jahrhunderts. Der Artikel diskutiert die erstmalige Verwendung des Begriffes ›Funktion‹ in einem architekturtheoretischen Kontext bei Carlo Lodoli. Die sich gerade erst herausbildende wissenschaftliche Semantik des Begriffs erschließt sich jedoch erst im Vergleich mit seinen Verwendungsweisen in scheinbar wesenfremden Wissensbereichen wie Naturgeschichte oder Mathematik. Lodoli erweist sich damit als seiner Zeit weit voraus. Er entwirft das Verhältnis von Funktion und Repräsentation auf ganz ähnliche Weise wie etwa die vergleichende Anatomie (Cuvier), nur eben ein halbes Jahrhundert früher: Der Zusammenhang von Teilen und Ganzem wird jenseits der Sichtbarkeit, in einem aktiven Gesamtverhältnis gesucht. Falko Schmieder Dialektik des Pfropfens − Metamorphosen und Metaphorisierungen einer Kulturtechnik. Dieser Beitrag geht den geschichtlichen Veränderungen der Pfropfmetapher nach. Im Mittelpunkt steht ihre Negativisierung und Umfunktionierung zu einem polemischen Instrument, die sich seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts beobachten lässt und die im auffallenden Kontrast zur allzeit positiven Bewertung der botanischen Kulturtechnik steht. Diese Metapherngeschichte, so wird argumentiert, verweist auf die negative Dialektik der Auf klärung: Die Schattenseiten eines neuen Gesellschafts- und Naturverständnisses werden problematisiert, aber in einer Form, die äußerst regressive Implikationen hat. Falko Schnicke Transgressive Semantiken. Zur erkenntnistheoretischen Umwertung von ›Biographie‹ im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert (Abbt, Wiggers, Droysen). Am Wandel des Begriffes Biographie ist ablesbar, wie sich die frühe Geschichtswissenschaft progressiv eines literarischen Gegenstandsbereiches bemächtigt. Parallel zu dieser Aneignung vollzieht sich auch ihre fachliche Entstehung. Die Biographie war der Universal- und Ereignisgeschichte des 18. Jahrhunderts

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lange entgegengesetzt, wurde schließlich partiell für sie in den Dienst genommen und gewann, über diverse Zwischenschritte bis zum 19. Jahrhundert, bei Droysen den Status eines eigenständigen historiographischen Erkenntnismittels. Historische Erkenntnis ist jetzt am Einzelfall des Individuums möglich geworden.

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»Genommen auß den Comoedien«. Katastrophenbegrif fe der neuzeitlichen Geologie Olaf Briese 1. Forschungsgeschichtlicher Befund Der Befund ist eindeutig: »Katastrophe« ist nicht nur zu einem publizistischen, sondern auch zu einem wissenschaftlichen Schlüsselbegriff geworden. In fast allen Wissenschaftsdisziplinen und bezogen auf fast alle Sphären von Natur und Gesellschaft werden Katastrophen analysiert, diagnostiziert und wird an ihrer Prävention gearbeitet. Forschungsnetzwerke und ganze Forschungsdisziplinen, wie etwa die zunehmend an Bedeutung gewinnende Katastrophensoziologie, widmen sich diesem Gegenstand. Dem ubiquitären Gebrauch, den das Wort in den letzen dreißig Jahren auch in der Wissenschaftslandschaft gewonnen hat, entspricht die Analyse begrifflicher Herkünfte und Wandlungen jedoch in umgekehrtem Maß. Eine begriffsanalytische Aufarbeitung dieses Schlüsselterminus’ ist, wie jüngst mit Recht festgestellt wurde, bisher ausgeblieben: »Es ist bisher nicht genau zu sagen, welchen Weg das Wort ›Katastrophe‹ in den europäischen Sprachen genommen hat«1. So, wie renommierte Fachlexika wie Historisches Wörterbuch der Philosophie, Ästhetische Grundbegriffe, Historisches Wörterbuch der Rhetorik oder Der Neue Pauly, denen eine Vielzahl anderer nationaler und internationaler aus Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften an die 1 | Trempler (2005), S. 209.

24 | O L AF B RIE SE Seite gestellt werden kann, das Lemma »Katastrophe« übergehen, fehlen begriffsanalytische Spezialarbeiten auch zu kleinsten Segmenten des aus der griechischen Antike stammenden Begriffs »Katastrophe« bisher gänzlich2. Auch infolge dessen ermangelt historischen Spezialarbeiten zu Themen wie »Naturkatastrophen in der Antike« oder ähnlichen fast durchgehend das Methodenbewusstsein, dass sie mit einem terminus post quem operieren (also ein antiker Begriff genutzt 2 | Dieses gravierende Forschungsdefizit zeigt sich überraschenderweise auch in bezug auf das antike Begriffsfeld. Die Erlanger Dissertation von Hans Fiedler: Die Darstellung der Katastrophe in der griechischen Tragödie. Ein Beitrag zur Technik des Dramas (1914) unterstellt stillschweigend, offenbar bezogen auf Gustav Freytags schulbildende Abhandlung Die Technik des Dramas (1863), als »Katastrophe« den Schluss und Abschluss eines Dramas. Die Studie von Anne Pippin Burnett Catastrophe survived. Euripides’ plays of mixed reversal, Oxford 1971, stützt sich wie selbstverständlich, und ohne auf den titelgebenden Terminus ihrer Studie überhaupt einzugehen, auf Aristoteles‘ Begriff der »Peripetie« (S. 4-8). Eine weitere Studie unter dem Titel Katastrophe und Zeit im klassischen Drama bekennt freizügig, bei der Analyse der Dramen von Aischylos bis Racine »die eingeengte, im modernen Sprachgebrauch geläufige negative Bedeutung« von Katastrophe zu benutzen (Claudia Burckhardt: Katastrophe und Zeit im klassischen Drama, Münster 1973, S. 7), was nur bedingt sinnvoll ist, denn all diese Autoren stützten sich, in der Regel sogar explizit und ausdrücklich, in ihren Arbeiten auf einen poetologisch-dramatischen Begriff von Katastrophe, der mitnichten diese Negativbedeutung trug. Richtigerweise einräumend, dass begriffsgeschichtliche Befunde diese Analyse nicht stützen, behandelt eine neuere Studie die poetologisch-dramatischen Katastrophenbegriffe von Aristoteles, Goethe und Hegel (also von Autoren, in deren Ästhetiken und Poetiken »Katastrophe« explizit gar nicht vorkommt), vgl.: Hélène Kuntz: La catastrophe sur la scène moderne et contemporaine, Louvain-la-Neuve 2002, S. 11-33 (Études théatrales, 23/2002). Der Aufsatz des Gräzisten und Latinisten Erich Segal »The Comic Catastrophe« [1995], in: ders.: The Death of Comedy, Cambridge, London 2001, S. 124-152 u. 503-512, ist Ausdruck des aktuellen Forschungsstands. Er stützt seine Untersuchung lediglich auf den vagen Hinweis, dass katastrophĒ »an early critical term for the dénouement of a comedy” sei (S. 126), verweist in diesem Zusammenhang nur auf den römischen Grammatiker Donatus (Fn. 13, S. 505) und leistet selbst keinen kritisch-historischen Beitrag zur Analyse von »Katastrophe«. Die Dissertation von Paul Grady Moorhead: The comments on the content and form of the comic plot in the Commentum Terenti ascribed to Donatus, Chicago 1923, war mir leider nicht zugänglich.

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wird, der in der Antike nur äußerst selten in Verbindung zur Natur gebracht worden ist, und wenn, dann als wertfreier Veränderungsbegriff ). Selbst philologischen Detailstudien, die etwa antike Katastrophentopoi untersuchen, scheint das Fehlen der heute geläufigen, mit dem Begriff »Katastrophe« verbundenen Konnotationen in der Antike gar nicht aufzufallen3. Katastrophe als solche – der Nichtforschungsstand übertriff t alle Erwartungen – ist eine gravierende theorie- und begriffsgeschichtliche Leerstelle. Dass noch 1561 der französische Renaissance-Humanist Iulius Caesar Scaliger in seiner für die Renaissance bzw. die Frühe Neuzeit schulbildenden Regelpoetik mit »catastrophe« ausschließlich einen positiven Ausgang einer dramatischen Dichtung (Komödie), d.h. die Rückkehr eines erregten Geschehens in einen unerwarteten Friedenszustand bezeichnete (»Catastrophe conversio negotii exagitati in tranquillitatem non expectam« 4), ist ebenso überraschend wie der Umstand, dass der Topos nach äußerst vereinzelten Versuchen in der Antike erst wieder seit dem 17. Jahrhundert vereinzelt zur Kennzeichnung von Naturvorgängen gebraucht wurde (und anfangs gleichfalls in einem überwiegend positiven Sinn). Wie bewirkten Transfers zwischen unterschiedlichen Wissensgebieten vor allem im 17. und 18. Jahrhundert – noch 1609 brandmarkte Johannes Kepler die zweifelhafte Begriffsherkunft als »genommen auß den Comoedien«5 – einen deutlichen Bedeutungswandel? Wie mündete das in den semantischen Kern von »Katastrophe«, der gegenwärtig wissenschaftlich dominiert?

2. Antike: Wachsende Fokussierung auf das Theater Für die Wissenschafts- und für die poetisch-dramatische Sprache der griechischen Antike ergibt sich – wenn man Vereinfachungen im Rahmen dieser auf das 17. und 18. Jahrhundert konzentrierten Darstellung in Kauf nimmt – bezogen auf »Katastrophe« folgendes begriffsgeschichtliche Bild.6 Das Substantiv ƽƴDžƴDŽDžǂǁLJƱ, soviel wie Wendung oder Umsturz (aus der Präposition katá, die eine Umkehr3 | Als Beispiel sei genannt der Aufsatz von Gerhard J. Baudy (1992). 4 | Scaliger (1994), S. 154. 5 | Kepler (1941), S. 136. 6 | Für wertvolle Hinweise und Kritiken, besonders zum Antike-Teil, danke ich herzlich Timo Günther (Berlin). Ein gemeinsamer, vertiefender begriffsgeschichtlicher Aufsatz zu »Katastrophe« befindet sich in Vorbereitung.

26 | O L AF B RIE SE oder Abwärtsbewegung anzeigt, und dem Verb stréphein, das soviel wie »wenden« bedeutet), wird bei den Geschichtsschreibern Herodot und Thukydides ebenso verwendet wie bei den Dramatikern Aischylos und Sophokles (von Aristophanes und Euripides sind keine Nachweise überliefert). Ein Erstverwendungsprädikat dafür lässt sich nicht vergeben; nach Lage der Überlieferung taucht es erstmals bei Aischylos auf. Aber die zeitlich dicht beieinanderliegenden Quellen deuten darauf hin, dass keiner von diesen Autoren das Wort geprägt haben wird, sondern dass es, bei der anzunehmenden Dauer der Durchsetzung neuer Wortprägungen, einen sprachlich-schriftlichen Vorlauf gab. In Aischylos’ Die Schutzfl ehenden (um 463) kommt das Substantiv vor im Sinn der Unmöglichkeit, einem Konflikt auszuweichen, es weist auf den Abschluss einer Handlung oder auf ein heroisches Ende. In den Eumeniden (uraufgeführt 458 v.u.Z.) charakterisiert derselbe Autor mit Katastrophentermini den – verwerflichen – Umsturz von Rechtsvorstellungen. In Herodots Geschichtswerk bedeutet ƽƴDžƴDŽDžǂǁLJƱ soviel wie militärische Unterwerfung, Unterjochung und Herabsetzung einer gegnerisch-politischen Gruppierung. Sophokles rekurriert in Oedipus auf Kolonos (nach 427) gleichfalls auf den Gehalt des heroischen Abschlusses einer Handlung oder eines Lebens, und Thukydides bezieht sich in Der Peloponnesische Krieg ebenso auf diese Bedeutung (heroisches Ende menschlichen Lebens in militärischem Widerstand), wie er »Katastrophe« auch im bereits genannten Sinn von Unterwerfung oder Unterjochung verwendet (aber, sich im Bündnis mit den entsprechenden Siegern wissend, ausdrücklich legitimatorisch). Damit sind abrisshaft wesentliche Bedeutungsgehalte von »Katastrophe« genannt, die von nachfolgenden griechischen und römischen Historikern, Dichtern und Philosophen variiert wurden: Erstens bedeutet »Katastrophe«, bis auf bestimmte Ausnahmen, in Substantiv- und Verbverbindungen eine militärisch-politische Unterjochung (wobei der Terminus je nach der Perspektive von Besiegern oder Besiegten einen Positiv- oder einen Negativgehalt trägt). Und zweitens bedeutet »Katastrophe« das Ende einer Handlung (auch einer theatralen Handlung) oder eines Lebens. Für letzteres ließen sich Belegstellen u.a. auch bei späteren Historikern wie Diodor oder Polybios finden. In beiden Fällen gilt – wiederum abgesehen von abweichenden Passagen – »Katastrophe« keinesfalls immer als etwas Unerwünschtes oder gar Negatives7. »Katastrophe« war kein Substanzbegriff. Eher ist 7 | Vgl. der Einfachheit halber die Quellenangaben im begriffsgeschichtlichen Standardwerk zur antiken griechischen Sprache: Liddell/Scott (1961), S. 915.

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von einem relationalen Begriff, einem Funktionsbegriff auszugehen, von einem Prozess- und Veränderungsbegriff mit ganz unterschiedlichen Bezügen. Selbst im Zusammenhang mit dem menschlichen Tod trug er durchaus nicht die Negativbedeutung, die sich aus heutiger Perspektive erwarten lässt. »Katastrophe« war der Prozess oder das Resultat einer autonomen Selbstbestimmung, entsprang der Integrität einer Persönlichkeit, die, um ihrer Bewahrung willen, auch heroisch den Tod suchen konnte. Ohne, dass sich die facettenreiche Wortbedeutung in der griechischen Antike darauf reduzierte, fand dieser Begriff, möglicherweise im Anschluss an Aischylos und Sophokles, Eingang in dramaturgische Theorien und wurde damit konzeptionell folgenreich. »Katastrophe« avancierte, wenn die Befunde nicht täuschen, von einem in ganz verschiedenen Zusammenhängen relational gebrauchten Beschreibungsbegriff zu einem theoretisch konturierten Strukturbegriff. Bezeichnete der attische Komödiendichter Antiphanes (408/04-334/30 v.u.Z.) in seinem Komödienfragment Poiesis mit Dž݅ƿ ƽƴDžƴDŽDžǂǁLJƱƿ (im Akkusativ) ausdrücklich und programmatisch-selbstreflexiv den vierten, letzten Teil einer Komödie8 (in der Forschung wird angenommen, das betreffende überlieferte Fragment ist ein Abschnitt des Prologs, den die personifizierte Poesie selbst spricht9), und nannte der Ingenieur Heron (1. Jhd. v.u.Z. oder u.Z.) in seiner Beschreibung von antiken Automatentheatern den gelungenen Abschluss und das befriedigende Ende einer solchen Automatenvorführung ausdrücklich »Katastrophe«,10 standen sie damit für eine Richtung, die für die Entwicklung des Terminus »Katastrophe« äußerst folgenreich wurde. »Katastrophe« war, vermittelt über römische Poetiken, seit der Renaissance ein ästhetischer, dramentheoretischer terminus technicus, der im regelpoetologischen Sinn formal Handlungsabläufe fi xierte, genauer: den des letzten Teils einer dramatischen Dichtung (ob »Katastrophe« in den betreffenden Poetiken einen Prozess oder das Ergebnis eines Prozesses bezeichnete; einen Umschlagpunkt oder eine Phase; einen inhaltlichen Vorgang innerhalb der Dichtung oder ein poetisches Form- und Strukturprinzip, muss Gegenstand zukünftiger Arbeiten und Darstellungen bleiben). Zwar hatte sich bereits in der Antike, beispielsweise beim hellenistischen Historiker Polybios, bei römischen Schriftstellern wie Petronius, Iuvenalis und Sidonius Apollinaris eine

8 | Antiphanes (MCMXCI), S. 418. 9 | Konstantakos (2003/04), S. 12f. 10 | Vgl.: Heron (1899), S. 414.

28 | O L AF B RIE SE recht vielschichtige Verwendung von »Katastrophe« ergeben 11, und frühchristliche Autoren wie Hieronymus und Ambrosius knüpften zum Teil an den Gebrauch in der »Septuaginta« an, der dezidiert negativierend ausfiel.12 Aber in der Rezeption der Renaissance und Frühen Neuzeit setzte sich die rein dichtungsbezogene und vorerst tendenziell positive Konzeptualisierung durch. Ausschlaggebend dafür waren poetologische Analysen des byzantinischen Grammatikers Euanthius (4. Jhd.) und seines fast unmittelbaren römischen Zeitgenossen Aelius Donatus (dessen »Ars grammatica« später die Schulgrammatik des lateinischen Mittelalters und des Humanismus werden sollte).13 Euanthius ging, auf Basis einer Terminologie, die sich auf heute verlorene Quellen anderer Autoren stützen soll,14 von der Existenz von vier Teilen einer Komödiendichtung aus: »prologus«, »protasis«, »epitasis«, »catastrophe«15 (wie er das mit der auf Aristoteles zurückgehenden Vierteilung eines Dramas bzw. mit der auf Horatius zurückgehenden Fünfteilung vereinbarte, muss gleichfalls in künftigen Arbeiten analysiert werden). Direkt an Euanthius anknüpfend, schrieb Donatus dieses Viererschema in ausführlicher Weise fort,16 und zusammenfassend lassen sich, fokussiert auf Komödien, insgesamt mindestens drei Ebenen des antiken poetischen Katastrophenbegriffs unterscheiden: Ebene des poetologischen Strukturbegriffs (letzter Teil eines Dramas); Ebene des dramatischen Veränderungsbegriffs (Umschlag zum Schlechten oder zum Guten); Ebene des intentionalen Wirkbegriffs (beruhigende und friedvolle Wirkung auf die vorgeführten Akteure des Dramas sowie auf das Publikum, also Gegenstands- und Rezeptionsintention). An diese antiken Vorlagen wurde, wie bereits erwähnt, durch Scaliger, aber nicht nur durch Scaliger, wieder angeknüpft, und zwar auf zweifach miteinander verbundene, den Begriffsgehalt erwei11 | Vgl.: Passow (1847), S. 1655f.; Thesaurus Linguae Latinae

(1906/1912), Sp. 598. 12 | Vgl.: Hieronymus: Interpretatio Chronicae Eusebii Pamphili (beendet 378); Ambrosius: De Helia et Ieiunio (nach 387). Zum Negativgebrauch innerhalb der Septuaginta (Katastrophe als Strafe), der aber, perspektivabhängig, indirekt auch ein Positivgebrauch zweiter Instanz sein kann (Katastrophe als gerechte Strafe), vgl. aus der Vielzahl der Textbelege: Septuaginta. Vetus Testamentum Graecum (1982), S. 247, 278, 306, 327. 13 | Vgl. zu Euanthius und Aelius Donatus insgesamt: Schmidt (1989). 14 | Vgl.: Leo (1966), S. 232ff. 15 | Evanzio (1979), S. 147f. 16 | Vgl.: Klien (1948), S. 40.

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ternde Weise. Erstens: Katastrophe ist ein innerdramaturgischer Vorgang; zweitens: sie bringt, wie in Lexika bis ins 18. Jahrhundert hinein unermüdlich wiederholt wurde17, Komödien und explizit auch Tragödien zu einem der Tendenz nach erfreulichen Ende, sie führt zu Stille und Ruhe.

3. Neuzeit: Erneuter Sprung zurück ins »Leben« Sprachgeschichtliche Lexika datieren die Übernahme des Begriffs »Catastrophe« aus dem Französischen oder Lateinischen ins Deutsche auf das beginnende 17. Jahrhundert.18 Aber nicht nur in der entstehenden französischen Schriftsprache – Stichwort François Rabelais – hatte Katastrophe sich eingebürgert; auch im Englischen – so bei Edmund Spenser – findet er sich.19 Im Deutschen, wie in anderen Nationalsprachen auch, lassen sich zu dieser Zeit zwei wesentliche Neuerungen verzeichnen. Einerseits erfolgt der Sprung zurück ins »Leben«. Katastrophen wirken nicht nur innerhalb von Kunstwerken, sondern auch in der Lebenswelt, nicht zuletzt in der politisch-militärischen Wirklichkeit. Andererseits sind diese Katastrophen in langsam wachsendem Maß negativ konnotiert. Eine erste Welle begrifflicher Reduktion beschnitt Katastrophe um ihren generell friedvollen Ausgang; eine zweite, spätere Welle um die Option einer immerhin möglichen überraschend positiven Wendung. Das heißt, das allmähliche Schwinden der poetischen teleologischen Resultate »Ruhe« und »Stille« (also des generellen Positivzustands) und der Wegfall der Bedeutung eines plötzlichen positiven dichterischen Umschlags (also des partiellen Positivzustands) transformierte Katastrophe über ein Stadium »kategorialer Ambivalenz« – Katastrophe als erfreulicher oder leidvoller Umschlag ohne einen friedvollen Endzustand – in einem mehrere Jahrhunderte währenden Prozess zu dem, als was sie partiell bereits in der Septuaginta galt und als was sie heute gilt: bad case bzw. worst case. Vorerst zur ersten Neuerung, zum Gebrauch von »Katastrophe« für Prozesse politisch-militärischer Realität (den es ja bereits in der Antike gegeben hatte). Dieser Sprung zurück ins »Leben« war nicht 17 | Vgl.: »Catastrophe«, in: Chambers (1728), S. 171; »Catastrophe«, in: Diderot/d‘Alembert (1751), S. 772; »Catastrophe«, in: [de Chamfort u.a.] (1776), S. 222. Der Autor des betreffenden Lemmas der Encyclopédie, das bleibt anzumerken, unterlegt in einer offenbar ungenauen Lesart bereits Scaliger diese Ausweitung des Katastrophenbegriffs auch auf die Tragödie. 18 | Vgl.: Kluge (1995), S. 432; Paul (2002), S. 525. 19 | Vgl.: Dixon/Dawson (1992), S. 121; Spenser (1989), S. 102.

30 | O L AF B RIE SE selbstverständlich, denn in kunstwissenschaftlich-ästhetischen Diskursen der Renaissance bzw. der Frühen Neuzeit – federführend war hier Scaliger mit seiner monumentalen Poetik von 1561 – galt »Katastrophe« fraglos als Signatur von Dichtung. Diesen Weg ins Leben scheint »Katastrophe« seit Mitte des 16. Jahrhunderts genommen zu haben. Als exemplarisch dafür kann das Vorgehen des Praeceptor Germaniae Philipp Melanchthon gelten. Bereits in frühen poetologischen Studien von 1516 lehnte er sich ausdrücklich und eng an die antiken Vorgaben Euanthius‘ an und bezeichnete ƽƴDžƴDŽDžǂǁLJƱ (nach ›ǂóDžƴDŽƼǃ und Ƹ›íDžƴDŽƼǃ) als den jeweils dritten Teil einer Komödie.20 Von dieser poetologischen Basis ausgehend, transferierte Melanchthon catastrophe bzw. ƽƴDžƴDŽDžǂǁLJƱ um 1530 in ganz verschiedene Diskursebenen, z.B. Pädagogik und Astrologie.21 Zeitgleich verwendeten Reformatoren wie Huldrych Zwingli, Heinrich Bullinger sowie Martin Luther »catastrophe« in ihren Theologien.22 Am deutlichsten zeigte diese Eingemeindung ins Leben sich jedoch im englischen Sprachfeld. Bereits 1656 vermerkte ein Wörterbuch unter dem Lemma »Catastrophe«: »last part of a Comedy or any other thing […] as Vitae humanae catastrophe, the end of a mans life«.23 Das heißt, nicht nur die Komödie (hier möglicherweise auch ein Sammelbegriff für Schauspiele als solche), sondern auch die Vorgänge des menschlichen Lebens sind von Katastrophen geprägt; historiographische Arbeiten wie Edward Peytons bekannte Geschichte der Stuarts von 1652, die den Katastrophentopos bereits im Titel führte, waren diesem Wechsel vorausgegangen.24 Im Französischen wurden diese Neuerungen zu dieser Zeit kaum aufgenommen. Hier stand, geprägt von Scaliger und von den Poetologien des Klassizismus – zu nennen wäre etwa die Poetik d‘Aubignacs von 1657, die sich ausdrücklich auf Scaligers Katastrophenbegriff stützte –, 20 | Vgl.: Melanchthon (1853), Sp. 694. 21 | Vgl.: Melanchthon (1843), Sp. 128; ders., Briefe an Hieronymus Baumgartner; an Vitus Theodorus; an Joachim Camerarius (alle aus dem Jahr 1530), in: Melanchthon (1835), Sp. 58, 336, 439. 22 | Vgl. reformatorisch-theologische Schriften, in denen der Katastrophenbegriff bezogen auf Realvorgänge ganz verschiedener Art, zum Teil noch im Sinn einer rein glücklichen Katastrophe, mehrfach gebraucht wird: Huldrych Zwingli: Complanationis Isaiae Prophetae (1529); Heinrich Bullinger: In Acta Apostolorum (1533); Martin Luther: In Primum Librum Mose Enarrationes (1544/53). 23 | T.B., Catastrophe, in: T.B. (1656), unpaginiert; ähnlich: Philipps (1658), unpaginiert. 24 | Vgl.: Peyton (1652).

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nach wie vor Dichtung im Begriffszentrum, so bei Racine (1664, 1667, 1670).25 Das prägte u.a. auch die Encyclopédie« Diderots und d‘Alemberts (1751), und noch 1758 sprach Diderot wie selbstverständlich von der »catastrophe« als dem letzten Teil eines Dramas.26 Die Begrenzung von »Katastrophe« auf einen poetologischen Gehalt war in diesem Sprachfeld offenbar am längsten wirksam; statt dessen gewann im Französischen der Begriff »désastre« für Naturvorgänge an Einfluss. Im Deutschen ist der konkurrierende Bedeutungsgebrauch – »Katastrophe« als poetisches Prinzip oder als Lebensattribut – anhand von Lexikoneinträgen relativ deutlich belegbar. Poetologische Nachschlagewerke Gottscheds (1760), Sulzers (1771) bis hin zu denen von Jeitteles (1839) und Hebenstreit (1843) konzipierten den Topos im indirekten oder direkten Anschluss an Scaliger nach wie vor als rein innerpoetischen,27 ebenso und ausdrücklich allgemeinbildende Lexika, unter denen Hederichs Reales Schul-Lexikon von 1717 oder die Deutsche Encyclopädie von 1781 zu nennen wären.28 Parallel zu dieser poetologisch geprägten Linie vollzogen bestimmte Lexigraphen die sich ergebenden Sprachneuerungen, d.h. den Gebrauch von »Katastrophe« für Lebensvorgänge, lexikalisch allerdings mit. In der Zeit des Großen Welttheaters (Calderon) stützten Topoi aus der Welt der Dichtung und des Theaters performativ bestimmte Wirklichkeitsmodelle.29 Einer der ersten Belege dafür im deutschen Sprachraum ist der kurze, sich für verschiedene Bedeutungsvarianten offenhaltende Eintrag unter 25 | Vgl.: d’Aubignac (1996), S. 136ff. Racine rekurrierte u.a. in den Vorreden zu La thébaȥde (1664), zu Andromaque (1667) und zu Bérénice (1670) programmatisch auf den Begriff »catastrophe«, vgl.: Racine (1960), S. 4, 116, 301. Zum Begriff »Katastrophe« im französischen Klassizismus (nach der Zeit Racines) vgl.: Scherer (1950), S. 125-128. 26 | Vgl.: »Catastrophe«, in: Diderot/d‘Alembert (1751), S. 772f.; vgl. auch: »Catastrophe«, in: Ménage (1750), S. 322; Diderot (1980), S. 372. 27 | Vgl.: »Catastrophe«, in: Handlexicon oder Kurzgefaßtes Wörterbuch der schönen Wissenschaften und freyen Künste (1760), Sp. 350; »Auflösung«, in: Sulzer (1771), S. 86-89; »Katastrophe«, in: Jeitteles (1839), S. 394f.; »Katastrophe«, in: Hebenstreit (1843), S. 380. 28 | Vgl.: »Catastrophe«, in: Hederich (1717), Sp. 723; »Catastrophe«, in: Deutsche Encyclopädie oder Allgemeines Real-Wörterbuch (1781), S. 311. Ähnlich, also weiterhin rein innerpoetisch, wird der Terminus lexikalisch noch 1845 bestimmt, vgl.: »Katastrophe«, in: Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände (1845), S. 141f. 29 | Vgl.: Alewyn (1959).

32 | O L AF B RIE SE »Catastrophe« in Nehrings Manuale Juridico-Politicum von 1690: »Catastrophe, Ital. catastrofe, eine geschwinde Veränderung«, also eine Veränderung, die offenbar alle Seinsbereiche betreffen könne (diese Definition findet sich dann u.a. auch in Zedlers Universal Lexicon von 1733: »eine geschwinde, jählinge Veränderung«30). Prägte diese abwartende semantische Offenheit und Unentschiedenheit die Diskurse der nächsten Jahrzehnte, hatte sich rund einhundert Jahre später der Transfer ins »Leben« verfestigt, und Krugs Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften vermerkte 1827 apodiktisch, Katastrophe bedeute »eine plötzliche Umkehrung der Dinge, besonders im menschlichen und gesellschaftlichen Leben. Auch wird der Tod, vornehmlich ein schneller, unerwarteter oder gewaltsamer, so genannt«.31

4. Verspätete Entdeckung der Naturkatastrophe 4.1 Scheiternde und ver spätete Begrif fseinführung Die Einbürgerung (bzw. Nichteinbürgerung) von »Catastrophe« ins Deutsche erfolgte mit einem öffentlichen Streit. Die bisher erste Prägung von »Katastrophe« in deutscher Schriftsprache ist in einer astrologischen Abhandlung von 1597 über Kometeneinflüsse nachzuweisen. Ihr zufolge wäre eine radikale, positive apokalyptische Transformation, »ein Catastrophen« aller menschlichen Angelegenheiten vom Jahr 1604 an zu erwarten.32 Diese heilsgeschichtlich-eschatologische Prognose stammte vom Arzt und Astrologen Helisaeus Roeslin, einem Freund Johannes Keplers. Ein öffentlicher Streit um »Katastrophe« ergab sich dann, als Kepler 1604 seinen Gründtlichen Bericht über eine Supernova vorlegte. Denn ein Nachdruck des Gründtlichen Berichts von 1605 veröffentlichte Roeslins überarbeitete Untergangsprognose (die diese Nova mit einem nochmals unheilvollen Kometen von 1580 in Verbindung brachte) in dessen Anhang (»Catastrophe seyn werde aller Sa30 | »Catastrophe«, in: Joh[ann] Christoph Nehrings Manuale JuridicoPoliticum (1690), S. 172; »Catastrophe«, in: Zedler (1733), Sp. 1457. 31 | Vgl.: »Katastrophe«, in: Krug (1827), S. 508. 32 | Roeslin (1597), zit. nach: Granada (2005), S. 315. Granada weist auf Vorläufer des lateinischen Begriffsgebrauchs hin. Schon 1578 sprach Roeslin von üblen Katastrophen mit gutem Ausgang (»malorum Catastrophen bonam secuturam«); er könnte dabei u.a. auf Cornelius Gemmas Kometenprognose von 1577 (»catastrophen bonam«) zurückgegriffen haben (vgl. Granada, S. 317f.).

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chen«33). Da Kepler – über dessen eigene astrologische Arbeiten in der Forschung kontroverse Auffassungen bestehen – dieses astrologische Vorgehen zurückwies, ergaben sich wechselseitige Polemiken. Diese zogen sich mehrere Jahre hin, und der Katastrophenbegriff spielte dabei eine nicht unerhebliche Rolle. Von Roeslin wurde der Topos affi rmativ gebraucht, von Kepler mit ironisierendem Spott über das neue, dem Griechischen (und eigentlich theologischen und astrologischen Diskursen) entlehnte Wort: »Dann mir hat das Wörtlein Catastrophe so wolgefallen / weil D. Röslin so vil davon prognosticirt, das ich nit gnueg drauff hab alludiren könden / und gar Griechisch reden müssen«. Noch mehr: Kepler brandmarkte die zweifelhafte Begriffsherkunft: »Catastrophe ist ein Wort / genommen auß den Comoedien«34. Diese Distanz scheint die neuen Wissenschaftsdiskurse in toto geprägt zu haben. »Katastrophe« kam in den Naturwissenschaften nicht an, wurde zurückgewiesen. Der Begriff blieb geächtet. Erst im 18. Jahrhundert gelangte er, vermittelt aus England und Frankreich, in die deutsche Naturwissenschaftssprache, in die Terminologie der Geognosie bzw. Geologie. Drei Gründe waren für diesen nunmehrigen Transfer ausschlaggebend. Erstens führten naturwissenschaftliche Verzeitlichungstendenzen ab ca. 1650 zu einem Aufschwung von Arbeiten, die den Beginn der Geologie im heutigen Sinn darstellen. Zweitens waren diese Arbeiten noch stark schöpfungstheologisch geprägt und adaptierten aus dieser Perspektive den Begriff »catastrophe«, der mittlerweile auch in theologische Sintflutvorstellungen Eingang gefunden hatte. Und drittens mussten Theatralisierungsdiskurse nach wie vor so verbreitet und attraktiv sein, dass sie als terminologische Muster auch für die neuen Geowissenschaften wirkten. Auf welche ambivalente Weise – als Verheißung, aber auch als Verhängnis – »Katastrophe« in theologisch geprägte Geologien Ende des 17. Jahrhunderts einging, soll im folgenden mit Blick auf drei fast zeitgleich veröffentlichte englischsprachige Abhandlungen verdeutlicht werden, die »Katastrophe« im geologischen (und mithin im naturwissenschaftlichen) Diskurs verankerten.

4.2 Burnets Duplizierung und Woodwards Singularisierung Der bekannteste und einflussreichste Anhänger von Thesen einer natura lapsa in England – aber bei weitem nicht der radikalste – war 33 | Bedenken Helisei Roeslini (1605), Anhang, S. II. 34 | Kepler (1941), S. 135f.

34 | O L AF B RIE SE der Hof beamte, Naturphilosoph und Kaplan Thomas Burnet. Seine Telluris theoria sacra (1681) und die folgenden englischen Übersetzungen unternahmen eine deistisch-rationalistische Interpretation des biblischen Geschehens, um seinen »wahren« historischen Gehalt zu erkennen. Die ursprünglichen biblischen Aussagen seien allegorisch gehalten und dem damaligen Erkenntnisstand angepasst gewesen. Entgegen diesen vereinfachenden Aussagen vollzog sich die Schöpfung streng in den Bahnen gültiger Naturgesetze, und sie sei nur vor dem Horizont moderner Naturwissenschaft tatsächlich erklärbar. Dennoch brachte Burnet das mit einem göttlichen Heilsgeschehen in Einklang: Die Erde habe einen klar rekonstruierbaren Anfang und ein klar vorherbestimmtes, apokalyptisches Ende. Ein Jüngstes Gericht und ein damit verbundener Weltbrand führe zur Auslöschung der Erde und vollende den göttlich-heilsgeschichtlichen Plan. Einen gravierenden Einschnitt auf diesem Weg zu einem Ende der Erde hatte die Sintflut bedeutet. Bis zu diesem Ereignis habe naturhafte Harmonie geherrscht: eine Erde ohne Jahreszeitenwechsel, ohne Stürme, ohne Erhebungen, ohne Meere und Seen, glatt und perfekt. Die Menschen lebten in moralischer Unschuld und erreichten ein Lebensalter von fast eintausend Jahren. Aufgrund der Sintflut, die durch Wassermassen einer erdumspannenden Wasserschicht unterhalb der Oberfläche bewirkt wurde, sei die Erde zu einer gigantischen Ruine geworden. Alle Erfahrung belege das: Sie sei unregelmäßig, zerklüftet, von extremen Disharmonien geprägt. Auf dieser zerstörten Erde hätten sich Menschen – gleichsam wie nach einem zweiten Sündenfall – zu bewähren, und mittels Erfahrung und Vernunft sei es durchaus gelungen, annehmbare Lebensbedingungen zu schaffen. Der prädiluviale Ausgangszustand sei nie wieder erreichbar. Glücklicherweise aber steure der göttliche Heilsplan nach der ersten Sintflut-Katastrophe unweigerlich, wie bei einem ablaufenden Uhrwerk, auf eine letzte Umwälzung zu. Dies bedeute den Anbruch des Millenniums, das Kommen des neuen Himmels, der neuen Erde, des erneuerten Paradieses, des himmlischen Jerusalem: »From the Creation to this Age hath undergone but one Catastrophe, and Nature hath had two different faces; The next Catastrophe is the CONFLAGRATION, to wich a new face of Nature will accordingly suceed, New Havens and a New Earth, Paradise renew’d«.35 Dieser eindeutig positive Katastrophenbegriff ist nominell im Singular gehalten, strukturell aber in einem unausgesprochenen Plural. Und tatsächlich spricht Burnet an anderer Stelle (in eher moralisch-theologischer Perspektive) von 35 | Burnet (1684), S. 316.

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»Fatal Catastrophes«.36 Zusammengefasst: Er kennt ausdrücklich zwei Katastrophen, eine vorbereitende und eine abschließende, Sintflut und Jüngstes Gericht. Darüber hinaus führt er bereits den Begriff im Plural in die Naturwissenschaftssprache ein, und schließlich zeigt sich bereits bei Burnet die Ambivalenz von Katastrophe: Auf den Heilsplan als ganzen bezogen, ist Katastrophe eine eindeutig positive, letzte Wendung. Auf das Schicksal von Menschen bezogen, kann sie aber auch als Strafe erscheinen. Es sind nur Vermutungen möglich, wie der Topos in Burnets sich ausdrücklich als naturwissenschaftlich verstehendes Wissensgebäude gelangte. Einerseits adaptierte er – wobei Vorgänger gar nicht auszuschließen sind – auf damals übliche Weise theatralisierende Topoi und Metaphern. Auffassungen vom großen Welttheater (Calderon) prägten, wie bereits hervorgehoben, mehr oder weniger alle Wissensbereiche und auch Burnet, einen homme de lettre mit engen Verbindungen zu den Cambridge Platonists. Wenn er an einer anderen Stelle seiner Theory of the Earth von einer generellen »Tragicomedy of the World« spricht,37 steht er genau in diesem theatralischen Diskursmuster, das ihm offenbar auch den Katastrophenbegriff bereitstellte. Andererseits rekurrierte er offenbar auf theologische Vorlagen seit der Zeit der Reformation, die den Katastrophenterminus verwendeten. Burnet könnte sich direkt auf den positiven Katastrophenbegriff Thomas Goodwins bezogen haben, des Cromwellschen »Beichtvaters«, dessen Bibelkommentare 1681 und 1683 veröffentlicht wurden (und die ihrerseits ganz explizit theatralische Interpretamente transformierten38). Denkbar wären aber auch – zumindest für das kurzzeitige krisenhafte Zwischenstadium Sintflut – Anleihen bei der seit Reformation und Humanismus wieder stärker rezipierten Septuaginta, die »Katastrophe« negativ figurierte. John Woodward knüpfte an diese Vorlagen Burnets an. Die Differenzen sind aber unübersehbar. Einerseits nimmt sein An Essay toward a Natural History of the Earth: and Terrestrial Bodies (1695) Abstand von der geschichtstheologisch-apokalyptischen Radikalität Burnets. Andererseits will Woodward die Erdgeschichte präziser und empirienäher erklären und sich darüber hinaus enger an den Wortlaut der biblischen Genesis halten. Der Londoner Mediziner, Univer36 | Burnet (1690), S. 12. 37 | Burnet (1684), S. 246. 38 | Vgl.: Goodwin (1861a), S. 121: »happy catastrophe«; Goodwin (1861b), S. 27: »endeth in a glorious visible kingdom [...] as the catastrophe of all«.

36 | O L AF B RIE SE salgelehrte und Fellow der Royal Society – insbesondere erwarb er sich Verdienste als einer der ersten englischen Gelehrten, der systematisch Mineralien sammelte und Klassifi kationsversuche unternahm – weist Burnets Annahme einer völlig harmonischen Urerde zurück. Vielmehr sei sie, auch vor der Sintflut, der heutigen im Prinzip gleich gewesen. Durch direkten göttlichen Eingriff – hier ist der Unterschied zu Burnets Uhrmachergott unübersehbar – sei wegen der menschlichen Sünden die Sintflut gekommen, sie habe die Erde fast völlig in Chaos aufgelöst. Danach wäre sie, gewissermaßen in Wiederholung, der ersten harmonisch-disharmonischen gleichend, neu entstanden (mit dem Unterschied der Läuterung Noahs und seiner Gefährten, die dieses Chaos ebenfalls durch Wunderkraft überlebten). Sie sei nunmehr ein zuträglicher, stabiler Ort für geläuterte Wesen und moralische Lebensgestaltung. Wissenschaft und Künste wären die geeigneten Mittel, ein gottgefälliges Leben zu führen. Eine neue Flut sei durch die nach wie vor unter der Erde ruhenden Wassermassen zwar möglich, aber apokalyptischer Spekulationen enthielt Woodward sich. Das heißt: »the most horrible and portentous Catastrophe that Nature ever yet saw«, »this grand Catastrophe«39 war und sollte ein einmaliges Ereignis bleiben. »Katastrophe« blieb für die Sintflut reserviert; eine abschließende kosmische Katastrophe und das apokalyptische Ende aller Dinge thematisierte Woodward nicht. Im expliziten Sinn einer oeconomia naturae hatte sich einige Jahre zuvor, 1692, der Botaniker und Zoologe John Ray – gleichfalls Fellow der Royal Society – in einer Abhandlung über das Ende aller Dinge noch optimistischer gegeben und zuversichtlich versichert, dass »the World‘s Catastrophe« die Welt nicht vernichte; statt »Abolition or Annihilation« ereigne sich lediglich eine »Renovation or Restitution«. 40

4.3 Whistons vehementer Millenarismus Isaak Newtons apokalyptische Prognosen – wie jüngste Quellenfunde belegen, errechnete er mittels allegorischer Bibelauslegungen das Jahr 2060 als Anbruch des Millenniums (allerdings erwartete er keine Einschnitte wie Naturkatastrophen, sondern eher dramatische geschichtliche Einschnitte, die ein tausendjähriges Reich des Friedens einleiten würden 41) – standen neben seinen naturwissenschaftlichen 39 | Woodward (1695), S. 82, 96. 40 | Ray (1692), S. 180, 191. 41 | Vgl.: Snobelen (2003). Zu Newtons Theologie und Eschatologie vgl. u.a.: Force/Popkin (1990); Force/Popkin (Hg., 1999).

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Erkenntnissen, sie befanden sich mit ihnen in keinem direkten Zusammenhang. Diesen direkten Zusammenhang herzustellen, blieb dem engen Vertrauten Newtons und von ihm 1701 als Nachfolger auf dem Lehrstuhl für Mathematik in Cambridge eingesetzten William Whiston vorbehalten. 42 Dieser legte mit seinem scholastisch-umständlichen Werk A New Theory of the Earth von 1696 eine Theorie der Erdentstehung vor, in der neue kosmologische Vorstellungen, durchaus im Sinne Newtons, in eine schöpfungsgeschichtliche Lesart gebracht wurden. Das apokalyptische Ende aller Dinge werde durch die folgenreiche Rückkehr desjenigen Kometen bewirkt, der bereits auf seinem Hinweg durch die Kraft seiner Gravitation am 27. November 2349 vor Christi die Sintflut verursacht hatte. 43 Diese Wiederkehr, über deren Zeitpunkt Whiston sich widersprüchlich äußerte, würde die Erde aus ihrer angestammten Bahn treiben und sie in Sonnennähe drängen. Ein Ende in Feuer und Flammen sei unvermeidlich: ebenso das Kommen des Millenniums, das nunmehr ausdrücklich naturhaft erwiesen war. Das war eine Prognose – und das macht sie zu einer genuin frühauf klärerischen – die naturwissenschaftliche Innovationen zur Voraussetzung hatte. Denn Tycho Brahes endgültiger Beweis von 1577, dass Kometen extraterrestrische Gebilde sind, und nicht, wie es seit Aristoteles kanonisch überliefert wurde, atmosphärische gasförmige Erscheinungen, hatte sie überhaupt erst zu einem Gegenstand der Astronomie statt der Meteorologie gemacht. Die Folge war ein bemerkenswerter Aufschwung von Kometentheorien, 44 und mit Newtons 1687 erschienener Philosophiæ naturalis principia mathematica galten Kometen als feste Körper mit regelmäßigem Umlauf. Damit zeigten sie sich als kosmisch gleichberechtigt. Edmond Halley formte die Theorie gekrümmter Bahnen in eine von geschlossenen Bahnverläufen um und sagte schließlich 1705 dem später nach ihm benannten Kometen eine periodische Wiederkehr etwa alle 75 Jahre vorher. Das waren die naturwissenschaftlichen Vorraussetzungen für Whistons Untergangsprognosen, der sich in seiner New Theory vor allem auf Newton und Woodward berief, aber Woodward apokalyptischmillenaristisch überbot. Von Woodward schien er auch den Katastrophenbegriff entlehnt zu haben, wobei Whiston diesen, im Zusammen42 | Zum engen Verhältnis Newtons and Whistons schon während der Fertigstellung von Whistons A New Theory und auch später vgl.: Force (1977); Force (1985); Snobelen/Stewart (2003). 43 | Vgl.: Whiston (1696), Book II, S. 123ff. 44 | Vgl.: Schechner Genuth (1997); Olson/Pasachoff (1998); Briese (1998).

38 | O L AF B RIE SE hang mit seiner apokalyptischen Intensivierung, auf ganz spezifische Weise transformierte. Denn auch er gebrauchte Katastrophe terminologisch explizit im Plural. Einerseits verdeutlichte das seine Annahme der Vielheit der Welten und der Vielheit bewohnter Planeten, die gleichfalls »Catastrophes« ausgesetzt seien. Andererseits verdeutlichte das die ausführliche phasenweise Gliederung des einstigen Sinflutvorgangs, von der Whiston ausging. Anfänglich nämlich seien die im Kometenschweif befindlichen Wassermassen in Unmengen von Regen auf die Erde gefallen; die Gravitationskraft dieses vorbeiziehenden Kometen hätte gleichzeitig die unterirdischen Wassermassen zum Ausbruch gebracht; hinzugekommen seien Vermengungen von Wasser und unterirdischem Feuer, was nicht nur einen steigenden Wasserspiegel, sondern auch plötzliche Erderuptionen ausgelöst hätte. 45 Folge all dessen sei die Neigung der Erdachse und eine veränderte, nunmehr elliptische Umlauf bahn um die Sonne. Bezogen auf diese Serie von Ereignissen sprach Whiston von »great Catastrophes«. Parallel dazu bezeichnete er aber auch, den bisherigen Usancen folgend, dieses Flutereignis im Singular als »most Noted Catastrophe of the Old World«. 46 Aber nur der alten Welt? Wird der kommende, finale Untergang explizit gar keine Katastrophe sein? In der Tat hat in der Terminologie Whistons dieser Untergang und sein millenaristisch-paradiesisches Ergebnis nichts Katastrophales an sich. Er setzt andere Begriffe dafür ein: »Consummation«, »Conflagration«, »Purgation«, »Renovation«, »Restitution«. Katastrophen sind – anders als bei Burnet, aber im Einklang mit Woodward – bei Whiston ausschließlich für die Vergangenheit reserviert. War Katastrophe im Wortgebrauch bereits zu dieser Zeit schon so sehr zur »Katastrophe« geworden, zum erschreckenden Destruktionsbegriff im heutigen Sinn, dass Whiston das von ihm ersehnte Millennium nicht mit diesem ambivalenten Topos belasten wollte? War das, was einst als »Katastrophe« (im Singular oder im Plural) religiös-moralisches Fehlverhalten und seine Folgen bezeichnete – nämlich die Sintflut – gar kein geeigneter Begriff mehr, die kommende millenaristische Erlösung zu charakterisieren? Hatte Whiston die eine der zwei sehr unterschiedlichen Stellen des christlichen Neuen Testaments vor Augen, in der von ƽƴDžƴDŽDžǂǁLJƱ im negativen, nicht-eschatologischen Sinn von Zerstörung und Untergang die Rede war?47 45 | Vgl.: Whiston (1696), Book IV, S. 370f. 46 | Whiston (1696), Book III, S. 163; Book IV, S. 300. 47 | 2 Petr. 2,6. Der zweite explizite Katastrophen-Terminus des Neu-

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4.4 Scheiternde und ver spätete Einführungsver suche im Deutschen Trotz der sehr intensiven Wirkung Woodwards auf den Züricher Naturforscher und Naturphilosophen Johann Jakob Scheuchzer scheint der Katastrophenbegriff auch Anfang des 18. Jahrhunderts noch nicht ins Deutsche Eingang gefunden zu haben. Soweit zu sehen ist, enthalten sich die umfassenden Naturgeschichten Scheuchzers dieses Begriffs; lediglich sein Bruder Johann scheint ihn gelegentlich, so beispielsweise 1708, auf lateinisch benutzt zu haben, und von da gelangte er, als lateinischer Auszug, in nicht veröffentlichte Texte des Berühmteren der Geschwister. 48 Weitere Rezeptionsversuche im 18. Jahrhundert in Deutschland blieben ebenfalls von nur kurzer Dauer, obwohl der englische Religions-, Kulturtheoretiker und Philosoph David Hume dafür nicht unwichtige Impulse gegeben hat. Zwei verschiedene, acht Jahre auseinanderliegende Auflagen seiner Abhandlung An Enquiry concerning Human Understanding verdeutlichen, wie er den Terminus »Katastrophe« neu in den Wissenschaftsdiskurs trägt. Gegenüber der Erstauflage von 1748 enthält die spätere von 1756 einen neu eingefügten Abschnitt mit einer längeren Passage über Wundererscheinungen: »The decay, corruption, and dissolution of nature, is an event rendered probable by so many analogies, that any phaenomenon, which seems to have a tendency towards that catastrophe, comes within the reach of human testimony«. 49 Das war möglicherweise die Vorlage Immanuel Kants, der, ein nachweislicher Hume-Rezipient, in einer seiner Abhandlungen zum Erdbeben von Lissabon, den Begriff »Katastrophe«, bezogen auf dieses verheerende Erdbeben von 1755, im Jahr 1756 zweimal verwendete (und dann aber, in seinem gesamten späteren Schaffen, nie mehr50). »Katastrophe« setzte sich noch nicht durch. Zwar fiel bereits 1755 in der privaten, auf Französisch geführten Korrespondenz zwischen Johann Georg Zimmermann und Albrecht von Haller die en Testaments (2 Tim. 2,14) lässt einen weiten Deutungsspielraum zu. Die »Katastrophe«, vor der sich der Hörer schützen soll, ist hier die Ablenkung durch unnütze Wortstreitigkeiten, ist ein Abweg vom rechten Glauben; Katastrophe hat auch hier eine relativ deutliche Raumdimension, sie bezeichnet einen Ab- und Irrweg, vgl.: Vollständige Konkordanz zum griechischen Neuen Testament (1983), S. 683. 48 | Vgl. Scheuchzer (1708), S. 196f. 49 | Hume (2000), S. 97, vgl. auch: S. 262. 50 | Kant (1910), S. 454, 459.

40 | O L AF B RIE SE Bezeichnung »catastrophe« in bezug auf dieses Erdbeben,51 und möglicherweise ließen sich weitere vereinzelte Beispiele finden. Aber erst 1780 schien, und zwar aus zwei divergierenden Richtungen, der Katastrophenbegriff endgültig in den geologischen Debatten Deutschlands angekommen zu sein. In diesem Jahr 1780 trugen sowohl der Berliner Lehrer, Prediger und spätere Preußische Oberkonsistorialrat Johann Esaias Silberschlag als auch der Göttinger Naturhistoriker und Universalgelehrte Johann Friedrich Blumenbach den Begriff »Katastrophe« in die geologischen Diskussionen – der eine schöpfungstheologisch, der andere naturalistisch. Silberschlags Argumentation war so entschieden wie schlicht. Er verwarf die Vorlagen Burnets und Woodwards als nicht bibeltreu. Im Sinn einer streng skripturalen Geognosie bzw. Geogonie behandelte er ausführlich die moralischen Ursachen der Sintflut, deren Folge die durch Gottes Ratschluss bewirkte »Catastrophe« gewesen sei.52 Der noch junge Blumenbach hingegen, zu der Zeit noch nicht bekannt als einflussreicher Epigenesie-Theoretiker, verwandte den Begriff auf der Höhe der modernen Geologie. Geprägt von den Auffassungen des englischen Naturforschers und königlichen Vorlesers Jean-André de Luc, mit dem er einige Jahre zuvor in Göttingen Freundschaft geschlossen hatte, unterschied er anhand von fossilen Pflanzen- und Tierresten in seinem Handbuch der Naturgeschichte (1779/80) verschiedene, gewaltsam aufeinanderfolgende erdgeschichtliche Perioden (de Luc postulierte entsprechend den sechs Schöpfungstagen freizügig-allegorisch sechs erdgeschichtliche Perioden). Auffallend aber war, dass de Luc für erdgeschichtliche Umwälzungen ausgiebig den Revolutionsbegriff benutzte, den Terminus »Catastrophe« jedoch nach wie vor nur für die Sintflut reservierte. Ebenso behielt sich Blumenbach den Katastrophenbegriff ausschließlich für die »grosse Catastrophe« der Flut vor.53 Katastrophe war eine der Natur, war aber immer noch an theologisch geprägte Sintflutvorstellungen gebunden (selbst wenn diese in eine geologisch-naturalistische Lesart gebracht wurden). Es brauchte noch einmal zwanzig Jahre, bis sich um 1800 innerhalb romantischer Diskurse in Deutschland der universalisierende und von dieser theologischen Folie abgelöste Begriff einer Katastrophe der Natur einbürgerte (der sich dann erst Mitte und Ende des 19. Jahrhunderts in den

51 | Johann Georg Zimmermann an Albrecht von Haller, 15. Dezember 1755, zit. nach: Stuber (2002), S. 53. 52 | Silberschlag (1780), S. XV. 53 | De Luc (1780), S. 648; Blumenbach (1780), S. 474.

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einer Naturkatastrophe transformierte54). Friedrich Wilhelm Joseph Schellings Rede von einer denkbaren »Katastrophe unsers Luftkreises« (1797) belegt das ebenso wie Joseph Görres‘ analogisierende Verknüpfung wiederkehrender »Katastrophen«, die, wie sie die Naturwelt heimsuchten, auch die Menschenwelt immer wieder betreffen würden (vor 1803).55 Der Schelling-Schüler Gottfried Reinhold Treviranus sprach 1805 von »grossen Catastrophen der Erde«; Jean Paul, der auch als Romantikkritiker hervortrat, 1804 in seiner Vorschule der Aesthetik kurz und bündig von einer denkbaren »Katastrophe der Natur«.56 Hatte es für diese – nichttheologische – Ausweitung wiederum Vorlagen aus dem englischen Sprachfeld gegeben?

5. Aufklärerische Geowissenschaf ten: Multiplizierung der Katastrophe Ab ca. 1770 kam es zu einem Aufschwung empirisch orientierter Arbeiten auf dem Gebiet der Geologie; die in vielen Regionen Europas beobachteten geologischen Schichtenfolgen rückten in den Fokus der Forschung. Die vorerst plausibelste Erklärung des Bestehens dieser Schichten war die sogenannte »neptunistische«. Der Freiberger Geologe Abraham Gottlob Werner war der einflussreichste Vertreter dieser Richtung. Schichtenfolgen seien die Folge allmählicher Ablagerungen eines einst bestehenden Urozeans. Sediment hätte sich über Sediment gelegt. Durch das anschließende Zurückweichen des Wassers sei das Festland entstanden. Einstürze von Hohlräumen, allmähliche chemische Reaktionen, mechanische Einwirkungen des Klimas sowie Wirkungen des Inlandwassers hätten anschließend die unübersehbaren Zerklüftungen der Erdoberfläche bewirkt. Gewaltsamen und relativ kurzzeitigen vulkanischen Veränderungen räumte Werner damit ein möglichst geringes Maß ein. Das tat er mit einer derartigen Konsequenz, dass er erstens fälschlicherweise allen Gesteinsarten einen Sedimentcharakter zusprach und zweitens die nicht zu übersehende Vulkanaktivität zu einem reinen Oberflächenphänomen der Erde erklärte. James Huttons Theorie von 1795 – von einigen Geologiehistorikern wird der schottische Arzt und Landwirt als der eigentliche Begründer des Fachs angesehen – arbeitete an einer theoretischen Alternative. 54 | Zur Herausbildung des Kompositums »Naturkatastrophe« im 19. Jahrhundert vgl.: Groh/Kempe/Mauelshagen (2003), S. 16f. 55 | Schelling (1994), S. 138; Görres (1911), S. 79. 56 | Treviranus (1805), S. 226; Jean Paul (1935), S. 87.

42 | O L AF B RIE SE Sein Modell, manchmal als Plutonismus, manchmal als Vulkanismus, manchmal als zyklischer Aktualismus bezeichnet, sah ein noch immer wirkendes inneres Erdfeuer als konstitutive Kraft für Erdveränderungsprozesse an. Auch dem Wasser maß Hutton eine nicht unbedeutende Rolle bei, denn Erderosionen würden sich darin allmählich ablagern. Aber ein unterirdisches Zentralfeuer, das Hutton als Haupttriebkraft ansah, würde diese Schichten schmelzen, neu konfigurieren und mechanisch heben. Neue Festländer entstehen, und der Prozess klimatischer Erosion kann aufs Neue einsetzen. Der ewig wiederkehrende Zyklus von Erosion, Ablagerung, Schmelzung und Hebung (er hat sich bereits mehrmals ereignet) geschieht erstens in unermesslichen Zeiträumen, zweitens hat er keinen Anfang und kein Ende, drittens bleibt er sich zyklisch ewig gleich aufgrund unveränderlicher Naturkräfte und Naturgesetze. Wie eine Maschine – das von Hutton bevorzugte Bild – laufe dieser Kreislauf erneut und erneut ab, die irdischen Kräfte regulieren sich selbst. Das kann, in der Terminologie Huttons, aber durchaus katastrophisch geschehen. Es gebe Theoretiker, die von plötzlichen, gewaltsamen und weitreichenden »great catastrophes« ausgehen. Sein Modell hingegen »is founded upon the greatest catastrophes which can happen to the earth, that is, in beeing raised from the bottom of the sea, and elevated to the summits of a continent”.57 Katastrophe ereignet sich erstens unendlich langsam und zweitens im Plural. Der bisherige, an die Sintflut gebundene Katastrophenbegriff ist damit unterlaufen. Gott ist eine vollends deistische Instanz, die einen ewigen, regelhaften Prozess in Gang gesetzt hat, ohne darin einzugreifen. Die Heilsgeschichte ist der Erdprozess selbst. Die Kapitel VI und VII des zweitens Bandes von Huttons Theory of the Earth (1795) handeln explizit und ausdrücklich von einer »Oeconomy of Nature«. Zweck des teleologisch-ewigen Kreislaufs der Erde sei es, Leben zu ermöglichen und eine optimale menschliche Wohnstatt zu sein. Werners Neptunismus hier, Huttons zyklischer Aktualismus dort: Es fehlte nicht an orthodoxen Einwänden, die die mosaische Auslegung der Erdgeschichte gefährdet sahen. So hob, mit direktem Blick auf Hutton, der vor allem als Chemiker bekannt gewordene (und bald an die Spitze der »Royal Irish Academy« tretende) Richard Kirwan 1796 hervor, wie fatal diese Huttonschen Vorstellungen bezüglich Moral und christlicher Religion seien. Die Erde habe ein aus den heiligen Schriften bestimmbares, kurzes Alter, und sie sei von Gott erschaffen. Erstens habe sie als »catastrophe« die Sintflut erlitten; zweitens habe 57 | Hutton (1795), S. 445.

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sie – hier findet sich bereits ein terminologisches Zugeständnis an die Moderne – »subsequent catastrophes« erlebt; drittens stehe eine letzte, göttliche »dreadful catastrophe« noch aus.58. Wohl auch dieser orthodoxe Angriff wird veranlasst haben, dass ein einflussreicher Schüler Huttons, John Playfair, der 1802 eine weite Verbreitung findende Bearbeitung von Huttons Opus vorlegte, diesen Katastrophenbegriff wieder demonstrativ mied. Playfair, ein Mathematiker und enger Vertrauter Huttons, hatte Huttons voluminöses Werk – unter anderem enthielt es mehrfach seitenlang Forschungszitate – in ein leserfreundliches Format gebracht. Die unendlich langsamen Erdumwälzungen, die Hutton noch als Katastrophen bezeichnet hatte, wurden in dieser Bearbeitung Playfairs ausschließlich wieder zu Revolutionen. Playfair stellte sich noch einmal gegen den Versuch, den Katastrophenbegriff auf diverse Naturvorgänge auszuweiten. Er sollte reserviert bleiben für Ereignisse, die die Menschen beträfen, und zwar in religiös-theologischer Perspektive. Auch Playfair, ursprünglich protestantischer Kleriker, wollte ihn für ein rein göttliches Geschehen vorbehalten. Sein Eintreten für eine von religiösen Bevormundungen freie naturwissenschaftliche Forschung und sein vehementer Einsatz für Hutton führten ihn dann zu folgender Lösung: Eine göttlich bewirkte Sintflut war geologisch nicht akzeptabel, also ließ sich auf dieses Ereignis ein Katastrophenbegriff nicht applizieren. Ein natürliches Ende der Welt war, Huttonschen Prämissen zufolge und eingedenk ewiger Kontinuität des Naturgeschehens, ebenfalls nicht denkbar. Denkbar jedoch war ein Ende der Welt durch einen wunderhaften göttlichen Eingriff, der jenseits aller Naturgesetze erfolge. Das sei die durch Gott höchstselbst bewirkte positive, d.h. Heilskatastrophe im Singular: »He may put an end, as he no doubt gave a beginning, to the present system, at some determinate period; but we may safely conclude, that this great catastrophe will be not brought about by any of the laws now existing, and that it is not indicated by any thing which we perceive«.59 Dieser klar strukturierte, implizite Unterscheidungs- und Standardisierungsversuch Playfairs, der beiden Sphären ihre Autarkie wahren sollte (»Revolution« und »Revolutionen« für das Erdgeschehen, »Katastrophe« für den finalen wundergöttlichen Eingriff ), blieb nicht von Bestand. Verfechter universeller geologischer Katastrophen (Cuvier) und Verfechter von der Reichweite her beschränkter geologischer Katastrophen (Lamarck, von Hoff, Lyell) trugen entscheidend zur Einbürgerung des Katastrophenbegriffs (im Singular und im Plural) in 58 | Kirwan (1797), S. 284, 293, 291. 59 | Playfair (1802), S. 119f.

44 | O L AF B RIE SE die Geowissenschaften bei. Im Anschluss daran wurde der Begriff durch William Whewell zu einem generellen Theoriekonzept erhoben (»Catastrophists«60), und er prägte und prägt geologische Debatten als positiv oder negativ besetztes Schlagwort bis heute. Diese extensive Bedeutungserweiterung korrespondiert mit der in anderen Wissensfeldern, in die »Katastrophe« in der zweiten Hälfte des 19. und vor allem im 20. Jahrhundert wanderte, – eine Bedeutungserweiterung, die präzise Kennzeichnungen eines semantischen Kerns mittlerweile kaum noch möglich macht.

6. Katastrophisches Double: Versuch eines Fazits Begriffsgeschichte ist kein Königsweg der Forschung, aber auch keine wissenschaftliche Sackgasse. Zum Verständnis von Theoriegeschichte und wissenschaftlicher Gegenwart können begriffsgeschichtliche Analysen durchaus produktive Beiträge leisten. Mindestens drei Möglichkeiten lassen sich unterscheiden, wie neue wissenschaftliche Sachverhalte neue sprachliche Form finden: Erstens bekommen alte Begriffe neue Inhalte, zweitens werden für neue Inhalte neue Begriffe geprägt, und drittens werden verfügbare Begriffe aus anderen Wissens- und Wissenschaftszweigen oder anderen Sprachfeldern adaptiert (wie es exemplarisch am Beispiel des Katastrophenbegriffs zu sehen war). Das führt auf generelle Fragen wissenschaftlicher Begriffsbildung: Begriffe haben nicht nur Erkenntnisfunktion, nicht nur Kommunikationsfunktion, nicht nur Sozialisationsfunktion, sondern auch Hegemonialfunktion. Auch aus dieser Perspektive ließe sich das teilweise überraschende Wandern von Begriffen zwischen verschiedenen Wissensfeldern erschließen, und mit Pierre Bourdieus Theorie sozialer Felder, in denen um symbolisches und ökonomisches Kapital gerungen wird, könnte herausgearbeitet werden, wie sozial »schwache« Wissensfelder sich Begriffe aus »starken« und sozial sanktionierten Feldern aneignen. Im Verlauf der europäischen Frühen Neuzeit war das exemplarisch der Fall. Die jungen und aufstrebenden Naturwissenschaften bedienten sich in nicht geringem Maß des anerkannten Arsenals der artes liberales. Begriffe wie »Gesetz«, »Vererbung« oder »Metamorphose« belegen das gleichfalls. Auch der Begriff »Katastrophe« wurde Wandlungen unterzogen, die diesen Transfer unter dem Vorzeichen des Ringens um Wissenshegemonie verdeutlichen. In der Frühneuzeit wanderte er aus der Leitdisziplin Rhetorik in die Astrolo60 | Erstmals traf Whewell die generalisierende Unterscheidung von »Uniformitarians« und »Catastrophists« in: [Whewell] (1832), S. 126.

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gie, von da in sich astronomisch legitimierende Sintfluttheorien. Über mehrere Transformationswellen, die schließlich zur Pluralisierung »Katastrophen« führten, wurde er Gemeingut der Geowissenschaften, die, als »späte« Wissenschaften, die im Wissensfeld dominierende Astronomie begrifflich beerbten. Als Folge der hier umrissenen Entwicklungen ist »Katastrophe« mittlerweile Eigentum vieler Wissensfelder und vieler Wissenschaften: Natur-, Technik-, Menschen-, Kultur-, Sozial- und Geisteswissenschaften. Das erzeugt aber Begriffskonkurrenz auf neue Weise: nämlich Überbietungsmechanismen. Wissenschaften ganz unterschiedlicher Art überbieten sich in Krisen- und Katastrophendiagnosen. Katastrophenkompetenz ist – so scheint es – gegenwärtig ein untrügliches Merkmal von wissenschaftlicher Sozialkompetenz. Das führt in eine paradoxe Situation: Durch diese Überbietung wird eine inhaltlichrhetorische Klimax erreicht, die sich selbst subvertiert. Ist alles Katastrophe, ist nichts mehr Katastrophe; Entwertung von Katastrophe durch ihre begriffliche Verallgemeinerung. Die Apostrophierung von sich wandelnden Bevölkerungsstrukturen, von Klimaveränderungen, von militärischen und sog. terroristischen Bedrohungen als »Katastrophe«, als »katastrophal« oder als »katastrophisch« dementiert sich zunehmend selbst. Äußerlich-kommunikativ entwertet sie ein zunehmender inflationärer Gebrauch; erkenntnisintern verlieren diese Bezeichnungen, da sie inhaltlich nicht mehr intensivierbar sind, ihren Wert. Gerade auf Basis weiterer denkbarer quantitativer Bedeutungsausweitungen kassiert sich die hypertrophierende Rede von Katastrophe. Kategoriale Bedeutungsgehalte kippen. Der sich nunmehr auszehrende Begriff bzw. die sich auszehrende Metapher der Katastrophe scheint also nach wie vor ein vorausweisender semantischer Stellvertreter, ein sich voranfliehendes katastrophisches Double zu sein. Fortlaufend dementiert dieses Double seinen aktuell scheinbar selbstverständlich gegebenen katastrophischen Gehalt und steht (als Katastrophe im ursprünglichen griechischen Wortsinn von »Wendung«) nicht zuletzt auch für die Veränderung und für den Wandel des Topos sui generis.

Literatur verzeichnis Erst nach der Erstellung des Druckspiegels wurde der Autor auf den Aufsatz von Mischa Meier »Zur Terminologie der (Natur-)Katastrophe in der griechischen Historiographie – einige einleitende Anmerkungen« (in: Historical Social Research, Vol. 32 – 2007 – No. 3, 44-56) aufmerksam. Für den Sprachgebrauch griechischer Historiker kommt er zu ähnlichen Befunden, u.a., daß es »›Naturkatastrophen‹ in der Anti-

46 | O L AF B RIE SE ke nicht gab« (46) und daß ›Katastrophe‹ auch »für wertneutrale oder gar positive Bestimmungen von Geschehnissen« stand (55). Alewyn, Richard (1959): Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste in Dokument und Deutung, Hamburg. Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände. Conversations-Lexikon (1845), Neunte Originalauflage, Bd. 8, Leipzig. Antiphanes (MCMXCI): »[Poiesis]«. In: Poetae comici Graeci, ed. R. Kassel et C. Austin, Vol. II, Berolini, Novi Eboraci. d’Aubignac, François Hédelin (1996): La pratique du théâtre [1657], par Pierre Martino, Genève. B. T. (1656): Glossographia: Or a Dictionary, Interpreting all such Hard Words [...] as are now used in our refined English Tongue, London. Baudy, Gerhard J. (1992): »Die Wiederkehr des Typhon. KatastrophenTopoi in nachjulianischer Rhetorik und Annalistik: Zu literarischen Reflexen des 21. Juli 365 nC.«. In: Jahrbuch für Antike und Christentum, Bd. 35, S. 47-82. »Bedenken Helisei Roeslini […]«, in: Gründlicher Bericht vnd Bedenkken/ Von einem Newen Stern/ welcher im October deß 1604. Jahrs erstmals observirt vnd gesehen worden/ Gestelt durch Johann Khepplern […] Vnd Heliseum Roeselinum […], Amberg 1605. Blumenbach, Johann Friedrich (1780): Handbuch der Naturgeschichte. Zweyter Theil, Göttingen. Briese, Olaf (1998): Die Macht der Metaphern. Blitz, Erdbeben und Kometen im Gefüge der Auf klärung, Stuttgart. Burnet, Thomas (1684): The Theory of the Earth: Containing an Account of the Original of the Earth and of all the General Changes [...]. The two first Books [...], London. Burnet, Thomas (1690): The Theory of the Earth: Containing an Account of the Original of the Earth and of all the General Changes [...]. The two last Books [...], London. Chambers, Ephraim (1728): Cyclopædia, or, An universal dictionary of arts and sciences […], London. [de Chamfort, Sébastien-Roche-Nicolas, u.a.] (1776): Dictionnaire Dramatique, Contenant L’Histoiré des Théâtres, les Régles du genre Dramatique [...], Bd. 1, Paris. Deutsche Encyclopädie oder Allgemeines Real-Wörterbuch aller Künste und Wissenschaften […] (1781): Fünfter Band, Frankfurt am Mayn. Diderot/d’Alembert (1751): Encyclopédie, ou dictionnaire raisonné des sciences [...], Tome Second, Paris.

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Zur Konjunk tur des Begrif fs ›E xperiment‹ in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaf ten Gunhild Berg

Kaum ein anderer Begriff erfährt in der jüngeren kulturwissenschaftlichen Forschung, aber auch in der wieder erwachten Diskussion über die ›zwei Kulturen‹ eine solche Konjunktur wie der Begriff des ›Experiments‹.1 Konkurrenzfähig ist in der Forschungslandschaft des vergangenen Jahrzehnts allein der Begriff ›Wissen‹, einschließlich seiner Komposita und Derivate, den die Geisteswissenschaften fächerübergreifend produktiv wie expansiv fokussieren. Die diversen Wortschöpfungen mit ›Experiment‹ erscheinen als das plakative Aufgreifen weniger von etablierten Definitionen, vielmehr von (Natur-) Wissenschaftlichkeit suggerierenden Konnotationen des Experimentbegriffs. Denn seine Distribution aus den Naturwissenschaften transferiert nicht zugleich eine in allen ihren Bestandteilen konsensfähige Definition. Die diskursive Ausbreitung des Experimentbegriffs seit der Frühen Neuzeit erfasst die verschiedenen Disziplinen nicht ohne − zum Teil erhebliche − Umgewichtungen und Neufassungen seiner semantischen Komponenten. Diese mögen zum einen aus Sprecherintentionen resultieren, zum anderen sind sie durch Materialität, Metho1 | Einen Überblick über die historische Erforschung des Experiments in der naturwissenschaftlichen Praxis durch den New Experimentalism bietet Hentschel (2000). Zur Zwei-Kulturen-Debatte bzw. dem Verhältnis von Literatur und (Natur-)Wissenschaft vgl. Pethes (2003); sowie zuletzt Welsh/ Willer (Hg.) (2008).

52 | G UNHILD B ERG dik und Funktionalität der jeweiligen für das Experimentalparadigma neu hinzugewonnenen Diskursfelder bedingt. Darüber hinaus mag es Rückwirkungen zwischen dem umgangssprachlichen Gebrauch und den metaphorischen Anleihen an nicht-naturwissenschaftliche Verwendungen des Experimentbegriffs geben, die von den naturwissenschaftlichen Definitionsgehalten oft unberührt bleiben. Signifikant ist jedenfalls im Ergebnis, dass das ›Experiment‹ in der Mehrheit der modernen Wissensfelder und -disziplinen präsent ist. Doch soll hier nicht die semantische Ausweitung und Aufweichung durch die Verwendung des Wortes im alltagssprachlichen Bedeutungshorizont als mögliches Indiz für mangelnde Sprachkritik und -reflexion, forcierte Bedeutungsbeliebigkeit oder gar unwissenschaftliches Vorgehen kritisiert werden. Vielmehr stellt der Beitrag die Frage nach dem Problem hinter diesem Befund, nach den wissenschaftshistorischen und wissenssoziologischen Sprachfunktionen. Lediglich den Ausgangspunkt für diese Frage stellt daher eine Skizze der vielfältigen Verwendungsweisen des Begriffs und der dazugehörigen kritischen Argumente dar, denen sich diese Verwendungen ausgesetzt sehen. Doch können weder alle Einwände, durch die eine naturwissenschaftliche Methoden- zur puristischen Sprachkritik avanciert, noch ihre Entkräftung hier umfassend abgehandelt werden. Denn der Merkmalskatalog des Experimentbegriffs ist sowohl variations- als auch insbesondere selektionsfähig und bietet dadurch breite Anschlussfähigkeit. Deshalb kann für die Aufarbeitung der historischen Nuancen und Modifi kationen dieses Begriffs in den verschiedenen Feldern seiner Verwendung nur auf eine künftige Arbeit verwiesen werden.2

Natur- kontra geisteswissenschaf tliche Ver wendungen des E xperimentbegrif fs Die naturwissenschaftlichen Bestimmungen des Experiments umgreifen seit der Frühen Neuzeit neben seiner explorativen wenigstens auch Verifikations-, Beweis- und Demonstrationsfunktionen.3 Die modernen Sozialwissenschaften definieren ›Experiment‹ als Instrument der Überprüfung vorgängiger Theoriebildung und als Instrument 2 | Zur Wortgeschichte vgl. bereits Kranzhoff (1965). Die historische Bedeutungsvielfalt des Experimentbegriffs um 1800 reißt Schmidt (2005) an. – Vf.in dieses Beitrags arbeitet derzeit an einer noch ausstehenden wissens- und kultursoziologischen Geschichte der Begriffe ›Experiment‹ und ›Experimentator‹ seit dem 17. Jahrhundert. 3 | Vgl. Steinle (2006).

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der Erkenntnisvermehrung entlang prototheoretischer Erfahrungen. 4 Dabei verweisen sie oft explizit auf das paradigmatische Begriffsverständnis der modernen Naturwissenschaften. Die Kunst-, Kultur- und Literaturwissenschaften dagegen selegieren in ihren Verwendungen des Experimentbegriffs in der Mehrzahl der Fälle nur einen seiner semantischen Aspekte: den eines einmaligen Aktes des Ausprobierens neuartiger (künstlerischer) Techniken. Sie konturieren ›Experimentieren‹ als sowohl innovativen als auch singulären (nicht-reproduzierbaren) Akt der Erfindung, Entdeckung oder Schöpfung.5 Damit scheinen sie die Prägungen des naturwissenschaftlichen Experimentierverständnisses zu reduzieren. Doch blenden sie die naturwissenschaftlich dominierte Definitionsmacht des Begriffs durchaus nicht aus, die als expliziter oder impliziter Referenzpunkt stets erhalten bleibt. Dies exemplifiziert der Artikel »Experimentell« (hier zitiert anstelle des nicht vertretenen Lemmas ›Experiment‹) von Georg Jäger im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (1997): »Expl[ikation]: Allgemein wird ein erkundendes, probierendes, ungewohntes Vorgehen in der Literatur als experimentell bezeichnet, […].«6 Unter der folgenden Rubrik »Begriffsgeschichte/Sachgeschichte« kontrastiert Jäger die kunstbezogene mit der naturwissenschaftlichen Bedeutung des Begriffs: In den exakten Wissenschaften bezeichnet das Experiment ein methodisches Vorgehen zur Gewinnung bzw. Überprüfung von Erkenntnissen im Rahmen von Theorien. Bei der Rede vom Experiment im Kunstzusammenhang […] bleibt der Begriffsgebrauch zumeist metaphorisch, da wesentliche Definitionsmerkmale fehlen: der theoretische Rahmen, das methodische Vorgehen und folglich die Möglichkeit der Überprüfung durch Wiederholung. Das […] künstlerische Experiment […] ist nicht funktional ausgerichtet auf Erkenntnisgewinn oder Naturbeherrschung. Häufi g sind

4 | Vgl. etwa die Artikel »Experiment« in Hillmann (Hg.) (1994), S. 207; Reinhold/Lamnek/Recker (Hg.) (2000), S. 162-163; Laabs et al. (Hg.) (1987), S. 121-122. 5 | »In den bildenden Künsten gibt es handwerklich-technische Experimente und solche mit neuartigen, gewagten Ausdrucks- und Formvorstellungen und Gestaltungsversuchen.« (Olbrich et al. (Hg.) (1989), 2. Bd., S. 404, [Art.] Experiment) Dieselbe Formulierung findet sich auch in der digitalen Neuauflage Berlin 2001 (= Digitale Bibliothek, 43). 6 | Vgl. Jäger (1997), S. 546.

54 | G UNHILD B ERG künstlerische Experimente selbstbezüglich auf Erfahrungen der mitwirkenden Aktanten bezogen.7

Jäger stellt heraus, dass das künstlerische Experiment 1. eines theoretischen Rahmens, 2. systematischer Methodik, 3. Überprüf barkeit und Wiederholbarkeit, 4. der Intention des Gewinns allgemein zugänglichen Wissens sowie 5. der Kontrollfunktion natürlicher Phänomene ermangele. Das künstlerische Experiment zeichnet sich demzufolge dadurch aus, dass ihm »wesentliche Defi nitionsmerkmale«, genauer: alle Merkmale der naturwissenschaftlichen Experiment-Definition, die hier angelegt wird, fehlen. Ein solcher Befund provoziert die Fragen danach, inwiefern, warum und wozu ein naturwissenschaftlicher Experimentbegriff, der als unerlässliche Vergleichsfolie auch von Jäger zitiert wird, überhaupt auf Literatur und Kunst angewandt wird. Denn dieser Rekurs legt offen, dass die Geisteswissenschaften die naturwissenschaftliche Deutungshoheit über den Experimentbegriff anerkennen, indem sie sie in ihrer Bedeutungsexplikation kolportieren. Die metaphorische Verwendung des Begriffs für die schönen Künste insistiert auf das (unbestrittene) Recht zur Übernahme des Wortes. Doch als Metapher erforderte diese Verwendung einen gemeinsamen semantischen Referenzpunkt, den bislang die Naturwissenschaften bestimmen. So überrascht es nicht, dass sich die geisteswissenschaftlichen Verwendungen des Begriffs, die von der naturwissenschaftlich geprägten Bedeutung abweichen, kritischen Argumenten ausgesetzt sehen, die die Bedeutungen aus dem naturwissenschaftlichen Definitionsrahmen ins Feld führen. Das literaturwissenschaftliche Verständnis von ›Experiment‹ beschränkt sich oft auf den motivischen Aspekt in literarischen Produkten und den formalen Aspekt des regellosen Ausprobierens literarischer oder essayistischer Techniken, von Worten und Sprache durch den Schriftsteller, der ggf. der literarischen Epochen- oder Gattungscharakterisierung dienstbar gemacht wird (Episches Theater, Konkrete Poesie).8 In diesen Deutungen fungieren meist Autoren oder literarische Figuren als Experimentatoren. Die Literatur- und Kunstwissenschaften könnten sich daher dem Vorwurf ausgesetzt fühlen, dass sie den naturwissenschaftlichen Aspekt des Explorativen am Experiment für den kreativen Aspekt der Kunstproduktion hielten. Zwar schaff t der Experimentator im Labor Versuchsbedingungen, die nicht den in der Natur vorfindlichen gleichen, doch bedeutet sein Segmentieren 7 | Ebd., S. 546f. 8 | Vgl. u.a. Wilpert (1989); oder Wiegerling (2000).

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und Isolieren eines Wirklichkeitsausschnitts nicht dessen freie Gestaltung. Ablauf und Resultat des Forschungsexperiments bleiben immer den Naturgesetzlichkeiten unterworfen; im Unterschied zum Kunstexperiment, dessen Materialität zwar auf dieselbe Weise gebunden ist, dessen eigentliches Ergebnis, das sinnhaft-ästhetische Kunstprodukt in seiner spezifischen Form, aber nicht auf die Einhaltung dieser Grenzen festgelegt, vielmehr daraufhin angelegt ist, sie zu überschreiten. Der Schluss vom wissenschaftlichen auf den ästhetischen Versuchsvorgang verwechselte also ›künstlich‹ mit ›künstlerisch‹. Ähnlich wie die Kunst wird der Essay als geschriebenes Experiment betrachtet. Das zeitnahe Aufleben von Essay und Experimentalmethode (Michel de Montaigne, Francis Bacon) legt die Annahme der Gleichursprünglichkeit oder gar Vorgängigkeit der literarischen vor der wissenschaftlichen Methode im Empirismus der Frühen Neuzeit nahe.9 Diese Annahme ist hinsichtlich eines experimentellen Handelns durchaus einsichtig, das ohne das schriftliche Festhalten seiner Ergebnisse letztlich wirkungslos und unbekannt bliebe.10 Das sukzessive, indefinite Vorgehen des experimentellen Forschens wie des essayistischen Nachdenkens erscheint als Umsetzung einer auf Empirie aufruhenden bzw. auf die Praxis bezogenen Form des Philosophierens. In der Folge von Induktions- und Empirismus-Forderung bildeten sich die neuzeitlichen Disziplinen und Fächerhierarchien aus und lösten die disziplinäre Philosophie ab, die bis zum Barock als Einheitswissenschaft für Naturerforschung wie -reflexion zuständig gewesen war. Innerhalb dieser Veränderung des Baus der neuzeitlichen Wissenschaften reüssiert das Experiment als disziplinenübergreifendes Instrumentarium. Im Unterschied dazu verlor der Essay an Bedeutung, da die Naturwissenschaften ihre eigenen Mess- und Protokollsprachen ausbildeten, die sich nicht (mehr) in der korrigiblen essayistischen Wiedergabe, sondern mit um Eindeutigkeit bemühten, mathematischen, tabellarischen oder graphischen Darstellungen ihrer experimentell gewonnenen Resultate versichern. Aufgrund seiner Textsortenmerkmale aber ist der Essay nicht interpretationsresistent; er intendiert nicht die eindeutige Repräsentation von Wirklichkeit oder Wahrheit.11 Die Nähe von experimentellem Spiel und essayistischer Gattungsfreiheit suggeriert eine beiden Formen gemeinsame Tendenz zur 9 | Anhand des neuzeitlichen Konzepts der Erfahrung vgl. Gamper

(2007). 10 | Vgl. zur Rhetorizität des Experiments Bazerman (1988). 11 | Vgl. Ostermann (1994).

56 | G UNHILD B ERG Ergebnisoffenheit: »Experimentieren ist ein radikal ergebnisoffenes Unternehmen«, spitzen Birgit Griesecke und Werner Kogge zu.12 Die frei flottierende schöpferische Potenzialität, die dem Experiment zugesprochen wird, ist jedoch von den Konditionen gerichteter Beobachtung durch das experimentierende Subjekt restringiert. Zum einen muss der Naturforscher Annahmen über den Experimentverlauf und -ausgang hegen, denn ihnen, so vage sie auch immer sein mögen, gibt er mit Experimentierplanung und -anordnung Ausdruck. Dies impliziert keine gänzliche ›Offenheit‹, allenfalls Ungewissheit über den Ausgang des Experiments.13 Ein unerwarteter Ausgang wäre für ihn schlicht das Scheitern des Versuchs, nämlich die Enttäuschung seiner Erwartung, die seltener zur Erklärung des Nichtergebnisses, als vielmehr zur Modifi kation des Experimentverlaufs führt. Denn Mängel werden zuallererst dem Versuchsauf bau, Messfehlern und anderen Fehlerquellen zugeschrieben, bevor die Theorie verändert oder eine neue aufgestellt würde. Das ›falsche‹ Ergebnis, das aus einer ›falschen‹ Theorie resultiert, liefert ja gerade nicht die Erklärung seines Zustandekommens mithilfe derjenigen Versuchsanordnung, aus der es resultiert. Problembewältigung besteht in der Wiederholung des Experiments unter gleichen und veränderten Bedingungen, bis das gewünschte Ergebnis erreicht oder das Unternehmen abgebrochen wird. In den vielleicht spektakulärsten, zugleich aber auch seltensten Fällen führt ein Misserfolg zu einer Entdeckung oder zu einer neuen Theorie.14 Zum anderen bleibt auch in der Folge der transzendentalphilosophischen Urteilskritik nicht subjektiv gebundene Wirklichkeitsprätention, sondern Wahrheit das Ziel der Forschung.15 Naturwissenschaftliche Erkenntnis strebt nicht nach möglichen Wahrheiten, sondern nach wahrer Wirklichkeit. Daran ändert auch die Kopenhagener Deutung der Quantentheorie nichts,16 in deren Folge es bei Experimenten nicht um das beliebige, wahrscheinliche oder mögliche Denkbare geht, sondern um die Wahrscheinlichkeit des Eintreffens eines Ergebnisses aus einem vorhersagbaren Ergebnisfeld. Die ›nur‹ stochastische Prognose12 | Griesecke/Kogge (2005), S. 43. 13 | Vgl. u.a. Daiber (2001), S. 11-30. 14 | Vgl. generell Kuhn (1991). 15 | Das Ziel der Wahrheitssuche in der frühneuzeitlichen Naturphilosophie ignoriert Venus gegenüber dem der Wirklichkeitsprätention, die nur die Künste erfüllen könnten; vgl. Venus (2005), S. 25-27. 16 | Zu deren wissenschaftshistorischen Folgen vgl. etwa Oexle (2004), S. 35 ff.

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fähigkeit der modernen Physik bedeutet in deren Sicht keine Relativierung des Objektivitäts- oder Realitätsgrades ihrer Erkenntnisse.17 Zum dritten widerspricht die Annahme unbegrenzter Kreativität im Experiment der generellen Beschränktheit des Intellekts, der Wirklichkeitswahrnehmung sowie der technisch-operativen Fähigkeiten des Menschen. Der Experimentator wird vom Ergebnis seiner Arbeit selten überrascht, denn sähe er etwas ihm gänzlich Unbekanntes und zugleich Unerwartetes, würde er es mit bekannten Theorien nicht interpretieren können. Ludwik Fleck entwickelt seine Theorie von »Denkstil« und »Denkkollektiv« exemplarisch aus der Praxis naturwissenschaftlicher Laborarbeit. Fleck zeigt die geringe Denkfreiheit des Forschers, die am Konstrukt der wissenschaftlichen Tatsache als Zeichen des »größte[n] Denkzwang[s] bei kleinster Denkwillkürlichkeit« aufscheint,18 bei der es sich also um den größten Widerstand gegen freies Denken und gegen abweichlerisches Erkennen handelt. Solcher möglicher Einwände ungeachtet wird der Experimentbegriff in der kultur- und literaturwissenschaftlichen Forschung flexibel eingesetzt, semantisch erweitert und aufgeladen. Peter McLaughlin registriert diesen Trend schon in den frühen 1990er Jahren. Er konstatiert, dass das Thema ›Experiment‹ bereits seit zehn Jahren in »Mode« gekommen sei. »Das Stichwort ›Experiment‹ ist so populär geworden, daß man […] nicht mehr von dem Wort ›Experiment‹ im Titel einer Schrift auf deren Inhalt schließen darf.« 19 Auch Klaus Hentschel begrüßt in seinem Forschungsbericht aus dem Jahr 2000 einerseits die Öffnung des Untersuchungsgegenstandes, warnt aber andererseits vor der »Gefahr eines Verlusts an Auflösungsschärfe durch zu breite Begriffsbildung«.20 Zu einem ähnlichen Befund semantischer Aufweichung gelangen Griesecke und Kogge 2005 bezüglich des ›Gedankenexperiments‹. Sie diagnostizieren, dass sich in Philosophie, Literaturund Kulturwissenschaften »ein sehr allgemeiner Gebrauch« dieses Begriffs ausgebreitet habe. »Vom naturwissenschaftlichen Terminus ›Experiment‹ wird in erster Linie das Element der fingierenden Konzeption übernommen […].«21 Ohne Überlegungen zur ›Laborarbeit‹ (Ablauf und Testmaterial) aber könne »jeder Entwurf eines Szenarios 17 | Aufgrund des »Primat[s] der Empirie«; vgl. dazu Berg (2007), bes.

S. 390f. 18 | Vgl. Fleck (1980), bes. S. 124. 19 | McLaughlin (1993), S. 208. 20 | Hentschel (2000), S. 19. 21 | Vgl. Griesecke/Kogge (2005), S. 44. – Auf die Begriffsgeschichte von »Gedankenexperiment« kann hier nicht eingegangen werden. Zum

58 | G UNHILD B ERG als ›Experiment‹ gelten und der Begriff ›Experiment‹ wird letztlich zum Synonym für ›Fiktion im allgemeinen‹«.22 Für den Gebrauch des Experiment-Begriffs in der Kunst halten Michael Lentz und Martin Maurach fest, dass ›Experiment‹ »ein stets umstrittener, heute praktisch nicht mehr analytisch verwendbarer Begriff« sei.23 Der gegenwärtige Rückgriff der Geisteswissenschaften auf naturwissenschaftliche Terminologie führt zum inflationären Gebrauch von Experimentbegriff und -komposita unterschiedlicher semantischer wie funktionaler Bandbreite und methodischer Reflexionstiefe.24 Nicht selten werden seine naturwissenschaftlichen und/oder seine verschiedenen historischen Bedeutungsnuancen zugunsten einer reduzierten, ahistorischen oder metaphorischen Verwendung ausgeblendet.25 Derartige Begriffsverwendungen und -bildungen sollen hier weder katalogisiert, noch kategorisiert oder bewertet werden, vielmehr wird im Folgenden nach ihrer wissenschaftsstrategischen Funktion gefragt. Festzuhalten aber bleibt trotz der Hausse zum Forschungsthema das Defizit einer Geschichte des Experimentbegriffs. Lorraine Daston moniert das noch gegenwärtig weit verbreitete ahistorische Experimentierverständnis, das annimmt, dass seit dem 17. Jahrhundert die Schlüsselmerkmale des Experiments ein für alle Mal festgelegt wissenschaftsphilosophischen Aspekt vgl. ebd.; zum wissenschaftshistorischen Aspekt vgl. Weigel (2004). 22 | Vgl. Griesecke/Kogge (2005), S. 44. In solch vagem Sinne (»An die Stelle der Referenz auf Empirie tritt dann im Modus der Fiktion der Versuch, eine nicht erfahrbare Welt dennoch mit dem Index der Stimmigkeit zu versehen.«) übertragen den Experimentbegriff auf die Literatur z. B. Krause/ Pethes (2005), S. 17. 23 | Lentz/Maurach (2000), S. 142. 24 | Krause und Pethes setzen sich in ihrer Einleitung zur begrifflichen Schärfung von »Experimentalkultur« mit Karin Knorr-Cetina, Hans-Jörg Rheinberger einerseits und Joseph Vogls Wissenspoetologie andererseits auseinander, doch können nicht alle Beiträge des Sammelbandes dieses Programm umsetzen, das einer »unverbindliche[n] metaphorische[n] Vereinnahmung« des Experimentbegriffs für Literatur entgegenwirken sollte; vgl. Krause/Pethes (2005), S. 10-12, Zitat auf S. 10. 25 | Dafür seien nur zwei Beispiele genannt, deren Auswahl aus der Menge jüngerer Arbeiten zum Thema zwangsläufig willkürlich erscheinen muss: Den innovativen Aspekt des Experimentbegriffs fokussieren etwa Schmidgen/Geimer/Dierig (Hg.) (2004), S. 14. Ein modernes Experimentierverständnis legt beispielsweise – allerdings in systematischer Absicht − Pethes (2007) auf sein historisches Quellenmaterial an.

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seien, und das deshalb seine »überraschende und produktive Weiterentwicklung« gänzlich vernachlässige.26

Die Entstehung wissenschaf tlicher Disziplinen aus dem Begrif f ›E xperiment‹ Verfolgt man die historischen Verwendungen des Begriffs ›Experiment‹ nicht in erkenntnistheoretischer, sondern in wissenssoziologischer Sicht, zeigt sich, dass der Transfer von Experimentbegriff und -methode Praktiken legitimieren und neue akademische Disziplinen begründen konnte. Denn die Übertragung des neuzeitlichen Experiments der Physik auf die übrigen Felder der Natur- und Soziallehre lässt deren Gegenstandsbereiche zum Teil erst methodisch modifizierbar, sichtbar, darstellbar und somit erforschbar werden. Dazu zählen insbesondere die Naturlehren von »Luft und Licht« im 17. Jahrhundert, die durch Experimente mit Prisma und Luftpumpe vorangebracht werden,27 oder die Lehren von Elektrizität und Magnetismus im 18. Jahrhundert.28 Aus der Untersuchung der verschiedenen »Luftarten« im Labor entsteht die moderne »Experimental-Chemie« als eigenständige Disziplin.29 Die Debatte über die Rolle der Empirie setzt sich bereits um 1750 mit der Anwendung der experimentalphysikalischen Methode in den um die Anthropologie erweiterten Geltungsgebieten auseinander. Jean Le Rond d’Alembert lobt im Discours Préliminaire de l’Encyclopédie John Locke, der die moderne wissenschaftliche Methode des Experiments auf die Psychologie übertragen habe: »Kurz, er führte die Metaphysik auf ihre wirkliche Seinsbestimmung zurück, auf eine Experimentalphysik der Seele, […].«30 Damit stellt er Locke in eine Reihe mit Francis Bacon, den er als den Begründer der modernen Wissenschaften und ihrer Ordnung ehrt, weil er auf die Notwendigkeit einer Experimentalphysik aufmerksam gemacht habe, und mit Robert Boyle, den »Vater der Experimentalphysik«.31 Diese Übertragung 26 | Daston (2001), S. 12. Ausnahmen bietet die traditionell philosophisch verstandene Begriffsgeschichte z.B. mit Frey (1972); Röseberg/Psarros (1999) oder der Studie von Gloy (2005). 27 | Zur Geschichte der Institutionalisierung der Experimentalphysik an kontinentaleuropäischen Universitäten vgl. Wiesenfeldt (2002). 28 | Vgl. Hochadel (2003). 29 | Vgl. u.a. Klaproth (1993); Liebig (1852). 30 | d’Alembert (1955), S. 157. 31 | Vgl. ebd., S. 139, 161.

60 | G UNHILD B ERG auf die Seelenkunde wird als psychologia empirica mit Christian Wolff namhaft; Johann Gottlob Krüger baut sie zur »ExperimentalSeelenlehre« der gerichteten Beobachtung aus.32 Bezeichnenderweise spricht Georg Friedrich Meier aber zur selben Zeit noch von der »Kunst« und nicht der Wissenschaft der (Selbst-)Experimentation im psychologischen Erfahrungsfeld.33 Der Unterschied zwischen der Physik der Körper und der Physik der Seele besteht für d’Alembert in der (Nicht-)Identität von Beobachtungsobjekt und -subjekt bei physikalischen und psychologischen Experimenten.34 Dieser Unterschied wird für Immanuel Kant zur methodologischen Crux. Kant definiert die Verschiedenheit der (später so genannten) Natur- und Geisteswissenschaften, indem er exemplarisch Chemie und Seelenkunde/Psychologie einander gegenüberstellt. Entscheidend dafür, dass aber »eine historische, und, als solche, so viel möglich systematische Naturlehre des inneren Sinnes, d. i. eine Naturbeschreibung der Seele, aber nicht Seelenwissenschaft, ja nicht einmal psychologische Experimentallehre werden« könne, sei die unhintergehbare Subjektivität der äußeren Wahrnehmung respektive die mangelnde Objektivierbarkeit der inneren Wahrnehmung.35 Indem Kant den Experimentator als transpersonales Subjekt der Wissenschaft bestimmt, legt er den konstruierenden und operationalisierenden Charakter des Experiments offen.36 Doch wider den erkenntnistheoretischen Widerstand, den die Seelenwissenschaftler, die experimentell verfahren wollen, etwa in Kants rationalistischer Urteilskritik finden, werden im späten 18. Jahrhundert Pädagogik (Ernst Christian Trapp), Erfahrungsseelenkunde (Karl Philipp Moritz), die Vorgängerin der später disziplinären Psychologie, und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Experimentelle Psychologie (Gustav Theodor Fechner) gegründet.37 Die Operationalisierbarkeit des Experiments als Methodenreservoir ermöglicht es, nicht allein auf Beobachtung und damit auf eine nicht erzwingbare, nur zufällige Datensammlung angewiesen zu sein. Der genetische Begriffstransfer von ›Experiment‹ bietet den neuen Erfahrungswissenschaften Legitimität. Genauer: Die moderne Ausprä32 | Vgl. Wolff (1968); Krüger (1756). 33 | Vgl. Meier (1754), § 422, S. 434. 34 | Vgl. d’Alembert (1955), S. 157. 35 | Kant (1786), Vorrede, S. XI. 36 | Vgl. Gloy (2005). 37 | Zu psychologischen Experimenten mit Menschen im 18. Jahrhundert vgl. jüngst Pethes (2007).

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gung der Disziplinen kann erst infolge der ›Experimentalisierung‹ der Naturlehre entstehen. Neben dieser Ausdifferenzierung neuer (natur-)wissenschaftlicher Teilbereiche fallen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Experimentbegriffe auf, bei denen es sich um rein sprachliche Analogiebildungen handelt, die unabhängig von konzeptionellen Ähnlichkeiten mit den kontemporären wissenschaftlichen Experimentiervorstellungen als ›Experimental‹-Komposita operieren. Gerade diese Neubildungen, die oft als okkasionelle Wortschöpfungen den Begriff in neuen Konstellationen erproben, indizieren die fortschreitende diskursive Expansion des Begriffs. Experimentbegriff und -methode werden dabei nicht nur auf seelische und gedankliche Vorgänge, sondern auch auf gesellschaftliche Phänomene angewandt, die mithilfe des Bestimmungswortes analog zum naturwissenschaftlichen Erfahrungsbereich diagnostiziert und klassifiziert werden können. Für eine solche Bestimmung nutzt ihn Georg Christoph Lichtenberg, wenn er die Französische Revolution als »Experimental-Politik« bezeichnet.38 Während Lichtenberg damit die Folgen eines historischen Ereignisses in die Zukunft verfolgen will, wendet Novalis den Blick zurück: Er betrachtet »das Gegenwärtige« als »Resultat des langen historischen Experiments oder Factums«. Dies sei »Geschichte an sich«; im Unterschied zur »pragmatische[n] Geschichte« zum statistischen Zwecke,39 die wohl als eine rein mathematisch-numerische Geschichtsschreibung aufzufassen ist, die ihre Zahlen nicht interpretiert. Methodenanalogie zwischen Physik und Philosophie extrapoliert Claude-Adrien Helvétius, der sich »une Morale comme une Physique experimentale« zu entwickeln zum Ziel setzt. 40 Er geht von der Annahme aus, dass die sittliche Welt wie die natürliche mechanisch verfasst sei, und glaubt daher, »man müsse die Sittenlehre ebenso behandeln wie alle anderen Wissenschaften und eine neue Moral ebenso entwickeln wie eine experimentelle Physik.« 41 Novalis kombiniert die Begriffe »Experimentalreligion und Philosophie« miteinander und prägt darüber hinaus in einem isolierten Eintrag den Begriff »Experimentalreligionslehre«. 42 Nicht nur auf die Religion, auch auf die Poesie überträgt Novalis, der beim Lichtenberg-Schüler Wilhelm August 38 | Lichtenberg (1968), LI 322. 39 | Novalis (1978), 2. Bd., S. 494. 40 | Helvétius (1988), S. 9. 41 | Helvétius (1973), S. 75. 42 | Novalis (1988), 2. Bd., S. 650; 3. Bd., S. 565.

62 | G UNHILD B ERG Lampadius studierte, die experimentelle Methode der Physik: »Wort und Zeichenmalerey« sei die »Experimentalphysik des Geistes«. 43 Physikalische Experimentation mit philosophischer Selbstbeobachtung verbindet Novalis’ Sentenz: »Experimentalphysik des Gemüths. (Gedanken sind vom Ich durchdrungne, angeschaute, Bewegungen und Actionen.)« 44 Allen Transfers dient das naturwissenschaftlich-physikalische Experiment als gemeinsamer Referenzpunkt. Dies belegen die präzisen Formulierungen einer »Experimentalphysik« der »Seele«, des »Geistes« und des »Gemüths« des Menschen. Der Experimentbegriff der klassischen Naturwissenschaften der unbelebten Natur wird zur Beschreibung und Erkundung von seelischem und sozialem Leben des Menschen, Erkenntnispsychologie und Philosophie übernommen. Auff ällig ist an diesen Übertragungen, dass im zeitgenössischen Sprachgebrauch unter den bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts gebildeten Zusammensetzungen noch keine Grundwörter aus den Bereichen Kunst und Literatur zu finden sind. In dieser diskursiven Ausbreitungsbewegung setzt sich das ›Experiment‹ als eine Leitmethode spätestens im 19. Jahrhundert in den natur- und sozialwissenschaftlichen Fächern durch. Seine Expansion folgt aus den Bemühungen, Wissensfelder zu ver(natur)-wissenschaftlichen, an die sich wissenschaftspolitisch disziplinäre Neugründungen bzw. Einrichtungen anschließen. So wird der experimentalwissenschaftliche Kanon um Experimentalgeologie, -chemie, -biologie, Experimentelle Morphologie und Experimentalphonetik erweitert, 45 außerdem um Experimentelle Psychologie (Gustav Theodor Fechner, Wilhelm Wundt) und Experimentalmedizin. Zwar kann der Begriff »Experimental-Medicin« schon Albrecht von Haller zugeschrieben werden, doch blieb eine solche Bezeichnung für die von ihm vorgeschlagene Form der Medizinerausbildung nominell wie institutionell vorerst ohne Folgen für den akademischen Fächerkatalog. 46 Die Experimentalkomposita des 19. Jahrhunderts belegen die Tragweite des Experiments in den Wissenschaften, das als grundsätzliches Erkenntnisprinzip wie als Disziplinenbezeichnung universitär verankert wird. Unter den vielen Neubildungen fällt der Begriff »Experimental43 | Ebd., 3. Bd., S. 387. Vgl. hierzu Schöne (1993), S. 133 f.; und Daiber

(2001). 44 | Novalis (1988), 3. Bd., S. 595. 45 | Vgl. die entsprechenden Lemmata in Dittler/Joos (Hg.) (1932). Vgl. auch Jäger (1997), S. 547. 46 | Vgl. Zimmermann (1755), S. 273.

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magie« auf, der mit den begrifflichen Anleihen an die Experimentalmethode einerseits und die als nicht- oder vorwissenschaftlich verpönte Magie andererseits gewissermaßen größtmögliche Gegensätze der frühneuzeitlichen Gelehrsamkeit wieder zusammensetzt. Im 18. Jahrhundert hatten sich in leidenschaftlich geführten Polemiken Akademiker, die die neuen experimentellen Disziplinen vertraten, gegen die intellektuelle wie ökonomische Konkurrenz der reisenden Experimentatoren, die zumeist nicht über universitäre Ausbildung und Anbindung verfügten, zu behaupten versucht, indem jene den Status der Wissenschaftlichkeit allein für ihr experimentelles Vorgehen beanspruchten und sich darüber von diesen abgrenzten, die sie als »Zauberer« mit »Ein-Talerkünste[n]« brandmarkten. 47 Eine Wiedervereinigung des esoterischen Wissens mit den exoterischen Wissenschaften aber strebt um 1900 etwa Ludwig Staudenmaier an, der die »Experimentalmagie« als »besondere Wissenschaft« neben der experimentellen Psychologie, Psychophysik und Physiologie begründen will. 48 Schon Arthur Schopenhauer postuliert, dass die Magie und der animalische Magnetismus als ihr zugehörig »die empirische oder Experimental-Metaphysik« bildeten. Deren Experimente bewiesen als »praktische Metaphysik« nun unumstößlich nicht nur die Richtigkeit der ›alten‹ Lehren der Magie, sie verifizierten auch die »theoretische Metaphysik«, als die Schopenhauer sein Werk Die Welt als Wille und Vorstellung (1818) ansieht. 49 Während Schopenhauer aber zwischen theoretischem Lehrgebäude einerseits und dessen experimentellem Nachweis andererseits unterscheidet, will Staudenmaier die Experimentalmethode als Erkenntnismittel in der Magie einsetzen. Er verteidigt nicht die Superiorität oder Alterität des Okkultismus gegenüber der Wissenschaft, um die wissenschaftliche Psychologie zu diskreditieren, vielmehr wolle er aus der Magie »eine regelrechte exakte und experimentelle Naturwissenschaft« machen.50 Voraussetzung dafür sind die naturwissenschaftlichen Verfahren der gerichteten Beobachtung und des Experiments. Sie hätten längst den Status der »beiden Schwesternwissenschaften« der Magie im akademischen Feld der Disziplinen erhöhen können, »indem aus einer Astrologie eine Astronomie und aus einer Alchemie eine Chemie geworden ist«.51 Das (Selbst-) 47 | Lichtenberg (1968), S. 253. Vgl. zu diesem Gelehrten-Laien-Streit der Experimentatoren des 18. Jahrhunderts Hochadel (2003), bes. 5. Kap. 48 | Staudenmaier (1912), S. 35, 174, 177. Vgl. dazu Pethes (2002). 49 | Schopenhauer (1988), S. 104f., 127. 50 | Staudenmaier (1912), S. 177. 51 | Ebd., S. 181.

64 | G UNHILD B ERG Experiment erobert nun also auch esoterische Wissensfelder des Okkultismus, Spiritismus u. Ä., um diese wissenschaftlich-akademisch respektiert zu sehen.52 Das Experimentalparadigma aus Physik und Chemie hält Einzug in die Lebenswissenschaften sowie in den Okkultismus und schließlich in die Psychoanalyse.53 Der diskursiv wirkungsvolle Transfer von Experimentmethode und -begriff, überwiegend in den grammatischen Formen des Bei- oder Bestimmungsworts »experimentell«/ »Experimental-«, beginnt in den Naturwissenschaften. Aus deren Verständnis heraus begründet der Experimentbegriff innerhalb des akademischen Feldes die Selbstdefinition neuer wissenschaftlicher Disziplinen, die sich seit dem späten 18. Jahrhundert, vermehrt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablieren können. Als imitierte naturwissenschaftlich-experimentelle Methodik dringt der Begriff außerdem in die Bereiche von Literatur und Kunst, Ästhetik und Poetik ein. Fechner begründete nicht allein die Psychophysik, sondern erarbeitete zudem mehr als hundert Jahre nach Alexander Gottlieb Baumgartens Aesthetica eine »experimentale Aesthetik«.54 Vielfältige Versuche, die experimentelle Methode auch für literarische Produkte anzuwenden, repräsentieren in programmatischer Weise die Autoren des Naturalismus. Prominenter Höhepunkt für diese Entwicklung der Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts ist Emile Zolas Roman expérimentale, dessen »Konzept einer explorativen Literatur« gesellschaftliche Phänomene im literarischen Versuchsablauf durchexerziert.55 So wie Claude Bernard den Paradigmenwechsel hin zum Experiment für die Medizin durch die disziplinäre und institutionelle Ablösung der Physiologie von der Anatomie vollzog, intendiert Zola die Erweiterung des experimentellen Untersuchungsobjekts vom physischen auf das sensitive, geistige und soziale Leben im literarischen Versuchsfeld.56 Der Dichter müsse Beobachter und Experimentator zugleich sein, ein provozierender Beobachter, um inhaltlich neue Erkenntnisse zu gewinnen. Einflussreich für die Umsetzung dieses Programms in der deutschsprachigen Literatur werden Wilhem Böl-

52 | Vgl. die Zielsetzung Staudenmaiers: »Selbstverständlich träume ich dabei bereits von Professuren der Magie an den Universitäten.« (ebd., S. 177). 53 | Vgl. Pethes (2002), S. 294. 54 | Baumgarten (2007); Fechner (1871). 55 | Vgl. Zola (2006). Vgl. dazu u. a. Gamper (2005), S. 150. 56 | Bernard (1865); vgl. dazu Gamper (2005), S. 151.

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sches »Prolegomena einer realistischen Ästhetik«.57 Zu diesem Programm ist etwa auch Arno Holz’ Bemühen zu zählen, auf induktive, von ihm als (natur-)wissenschaftlich erachtete Weise das Kunst- als ein Kausal- und Naturgesetz zu finden, das er mithilfe »unendliche[r] Proben« für alle Einzelfälle zu verifizieren suchte.58 Spätestens über seinen Gebrauch in den bildenden und schreibenden Künsten sowie in Poetik und Ästhetik dringt der Experimentbegriff nach der Wende zum 20. Jahrhundert dann auch vermehrt in diejenigen Wissenschaften ein, deren Gegenstand Kunst und Literatur sind.59 In den einschlägigen Lexika werden überwiegend inhaltliche und Formexperimente unterschieden: So lasse etwa der Experimentalroman Empirismus und Beobachtung hinter sich, indem er als literarisch generierte Anthropologie und Soziologie agiere.60 Die Auffassung vom Experimentalcharakter der Kunst, insbesondere durch Technikwechsel und Formversuche, dominiert (Experimentelles Theater). Das Kunstverständnis des 20. Jahrhunderts sei die »Experimentalästhetik der Moderne«, die die Autonomisierung von künstlerischem Subjekt und Material radikalisiere.61 In der programmatischen Ästhetik nach 1945 wird ›Experiment‹ zum kämpferischen Begriff, mit dem der Kult um den autonomen subjektiven ›Schöpfer‹ entlarvt werden soll. Experimentelle Kunst gestaltet sich als eine Theorie und Praxis, die konventionalisierte Rezeptionsmuster und -handlungen unterläuft und verändert.62 Im 20. Jahrhundert bedienen sich die verschiedenen Disziplinen, Kunst- und Wissensfelder des Experimentbegriffs nur unter stark reduzierten Aspekten. Diese Rudimente des historisch vielfältigen Begriffs innerhalb der Disziplinen der Gegenwart geben Auskunft über die semantischen Bedingungen ihrer historischen Entstehung, Herausbildung, Etablierung sowie über ihre moderne Selbstdefinition. Die metasprachlichen, sozial- und wissenschaftsstrategischen Funktionen 57 | Bölsche (1887). 58 | Vgl. Möbius (1980), S. 33-35. Es erscheint als symptomatisch, dass Holz Bölsche eine ungenaue Verwendung des Experimentbegriffs vorwarf; vgl. ebd., S. 33. 59 | Zur Verwissenschaftlichung von Literatur, Poetik und Literaturwissenschaft um 1900 vgl. Streim (2003). 60 | Vgl. Gamper (2005), S. 151. 61 | Vgl. Vietta/Kemper (1998), S. 31. 62 | Vgl. Lentz/Maurach (2000), S. 140. Der Artikel bietet den Versuch, moderne Kunstexperimente zu typisieren, und damit einen Beitrag zur dringend notwendigen Differenzierung.

66 | G UNHILD B ERG dieses Begriffstransfers wie programmatische (wissenschaftliche) Innovation, Selbstlegitimation, Wissenschaftlichkeitsausweis, Empirizität, Schein-Gegründetheit, Glaubwürdigkeit, Modernitätsausweis, Aufmerksamkeitsgewinn o. Ä. müssen am jeweiligen Einzelfall des zeit- und diskursspezifischen Schnittfeldes der disziplinären Kontexte nachgezeichnet werden.

Die wissenssoziologische Ver wendung des Begrif fs ›E xperiment‹ Das ›Experiment‹ gerät zu einem Hauptgradmesser für Wissenschaftlichkeit, so dass alle diejenigen Disziplinen, die ohne empirische Beobachtungen und Versuche auskommen müssen, Statusprobleme im akademischen wie gesellschaftlichen Feld haben. Zu den wenigen Ausnahmen unter den geschichtlich forschenden Wissenschaften, die materielle Experimente im Sinne der Naturwissenschaften durchführen können, gehören Experimentelle Archäologie und Experimentelle Wissenschaftsgeschichte, die historische Materialien, Herstellungsverfahren, Versuchsauf bauten u. Ä. imitieren.63 Die Geisteswissenschaften befleißigen sich neuer, die mathematisch-naturwissenschaftlichen adaptierender Methoden, die wenigstens Empirizität reklamieren, wenn ihr Gegenstand Experimentierung behindert (z. B. Empirische Rezeptionsästhetik, Empirische Literaturwissenschaft), oder die Mathematisierung ihres Faches anstreben (z. B. Mathematische Texttheorie, Topologische Strukturanalyse, Stilstatistik, Stochastische Sprachmodelle, Linguistische Datenverarbeitung). Schließlich war es den Lebens- und Sozialwissenschaften nach Gründungsversuchen im 18. Jahrhundert auf vermeintlich vorbildlichem Verfahrenswege zumeist spätestens im 19. Jahrhundert gelungen, sich mittels empirisch-experimenteller Methodik den Naturwissenschaften und vor allem auch deren Status wieder anzunähern. Statussignale sind die Einrichtung von Lehrstühlen, die Berechtigung zur akademischen Graduierung und Ausbildung in den jeweiligen Fächern.64 Ein weiteres Signal für diesen Statuszugewinn setzt Ende des 20. Jahrhunderts die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina, die erstmals auch nicht klassisch naturwissenschaftliche Disziplinen aufnahm. Sie erweitert ihre traditionsreichen naturwissenschaftlichen und medizinischen Sektio63 | Vgl. Rieß (1998). Programmatisch zu dieser Methode als performativer Historiographie vgl. Sibum (2000). 64 | Zum Status- und Hierarchiesystem im wissenschaftlichen Feld vgl. Fröhlich (2003), S. 118 ff.

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nen um solche geistes- und sozialwissenschaftlichen Sektionen wie ›Empirische Psychologie und Kognitionswissenschaften‹, ›Ökonomik und empirische Sozialwissenschaften‹ sowie ›Kulturwissenschaften‹, deren geisteswissenschaftlich ausgebildete Mitglieder das Methodenideal der Naturwissenschaften für sich anzuerkennen bereit sind. Die Leopoldina wird künftig – im Zusammenwirken mit den Länderakademien – als Nationale Akademie die deutsche Politik beraten und die Interessen der (Gesamtheit der) deutschen Wissenschaftler im Ausland vertreten.65 Trotz dieses generellen Repräsentationsanspruchs schließt sie nicht-empirisch arbeitende Wissenschaftler von einer Mitgliedschaft aus. Das entscheidende Kriterium für die öffentliche Wahrnehmung wissenschaftlicher Disziplinen also sind die, wenn nicht experimentellen, so doch wenigstens empirischen Arbeitsmethoden ihrer Vertreter. Geisteswissenschaften, die traditionell eher hermeneutischen Verfahren verpflichtet sind, sind in dieser Hinsicht wenig konkurrenzfähig. Einerseits befördern ihre semantischen Adaptions-, Selektionsund Umdeutungsverfahren den Begriffstransfer, andererseits verliert der Begriff dadurch, wie eingangs gezeigt, an semantischer Eindeutigkeit. Seine stärker metaphorischen als historisch oder naturwissenschaftlich basierten Verwendungen zeigen, dass er weniger übertragen denn funktionalisiert, dass er zum umkämpften Begriff wird. Diese Instrumentalisierung des Begriffs unterscheidet sich sowohl von der Funktionsweise der »Erwartungsbegriffe« im Sinne Reinhart Kosellecks als auch von den historischen »Kampfideen«, die Norbert Hinske untersucht hat, die beide auf die positive oder negative ideologische Aufladung bestimmter Bedeutungen zielen, auf die Verteidigung oder gemeinsame Frontstellung sowie auf die zukünftige Realisation von Ideen oder Programmen.66 Die Verwendung des Experimentbegriffs aber strebt weniger die semantische Vereinnahmung denn die Usurpation des Begriffs einschließlich seiner bereits festgeschriebenen Konnotationen an, etwa mithilfe der Verwendungsmaximierung des 65 | Vgl. Pressemitteilung der Leopoldina vom 19.02.2008; www.leopoldina-halle.de/cms/de/pressemitteilungen/einzelansicht-pressemitteilung/article/268/leopoldina-ue.html, 20.02.2008. 66 | Vgl. Koselleck (2003), S. 9 f.; Hinske (1990), S. 412, 426f. – Im Unterschied zu diesen politik- und ideengeschichtlichen Bewertungen drückt sich für Fleck das dezidiert »soziale Gepräge des wissenschaftlichen Betriebes« in »Schlagworte[n]« und »Kampfrufe[n]« aus, die eine erkenntnispraktische, sozial konstitutive über ihre emotionale Wirkung entfalten; vgl. Fleck (1980), S. 59.

68 | G UNHILD B ERG Worts. In ihrem Streit, den sie untereinander in Diskussionen über Methoden, Wissenschaftlichkeit und Nützlichkeit austragen, ringen die verschiedenen Disziplinen um akademische Anerkennung und damit um symbolisches kulturelles und ökonomisches Kapital.67 Einen von der naturwissenschaftlichen Definitionsmacht abhängigen Affekt zeigt etwa Hans Magnus Enzensberger, der insistierte, dass der Begriff ›Experiment‹ im Verständnis der klassischen Physik gebraucht werden müsse. Eine Übertragung des Begriffs auf die Dichtkunst sei deshalb aus seiner Sicht unwissenschaftlich, ein »›simple[r] Bluff‹«.68 Enzensberger will damit das Vorgehen der Geisteswissenschaften im Umgang mit dem naturwissenschaftlich dominierten Experiment(-Begriff ) als unwissenschaftlich entlarven, weil es nicht naturwissenschaftlich sei. Diese Tautologie ignoriert die historische und kulturelle Veränderlichkeit der Semantik des Worts. Enzensberger übernimmt damit die distinktive Rhetorik, die bereits jene Experimentatoren an den Universitäten des 18. Jahrhunderts verfolgten, die ihren fahrenden Kollegen ›Bluff‹, Trickbetrug und Zauberei vorwarfen. Diese rhetorische Taktik zieht mithilfe semantischer Okkupation und strategischer Verwendung des Begriffs eine sprachliche Demarkationslinie, entlang derer sich die Natur- gegenüber den Nichtnaturwissenschaftlern positionieren, und zwar sowohl gegenüber der anfänglichen Konkurrenz durch die Magier und Dilettanten als auch gegenüber der aktuellen Konkurrenz durch die Geisteswissenschaftler. Über Wissensspezialisierung bildete sich das gesellschaftliche Teilsystem ›Wissenschaft‹ in der Frühen Neuzeit heraus, das die Funktionen der Politikberatung und Herrschaftslegitimierung übernahm. Dank seines Wissensvorsprungs kann sich der Gelehrte zum einen nach unten sozial abgrenzen, zum anderen seine sozialen Aufstiegschancen verbessern.69 Das Experiment begründet die szientifische Weltsicht der Moderne, die von apparativer Beobachtung und Experimentation geprägt ist, und erlaubt die superiore Stellung der Naturwissenschaften unter den Disziplinen.70 Mit dem Experiment als Methode wird der Naturforscher zum Naturwissenschaftler, indem es ihn befähigt, Ursachen anzugeben und Vorhersagen zu treffen. Damit 67 | Zur distinktiven Macht der Begriffe als Instrumente sozialer Gruppierung, Klassifikation und Ordnung vgl. Bourdieu (1982), bes. S. 748. 68 | Vgl. Enzensberger (1962), S. 309f.; zit. n. Schwerte (1968), S. 401. 69 | Zur Entstehung des modernen Wissenschafts- als Sozialsystem vgl. grundlegend Stichweh (1991). 70 | Zu dieser Überlegenheit vgl. auch Meinel (2000), S. 9.

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kann er dem Kausalitätsparadigma in überzeugender, nachvollziehbarer Weise gerecht werden. Erklärungskompetenz als Form des kulturellen Kapitals sichert ihm das sozioökonomische Kapital des Expertenstatus. Dessen Symbolkraft bindet Wissenschaftlichsein an Experimentation und Empirizität (durch Wirklichkeitsbezug, Erfahrbarkeit, Reproduzierbarkeit usw.). Als Exklusionskriterium für Wissenschaftlichkeit setzt sich die naturwissenschaftliche Definitionsvorgabe für das ›Experiment‹ durch. Den soziokulturellen ›Kampf ums Wort‹ beschreibt Pierre Bourdieu als »jene symbolischen Strategien, deren Ziel es ist, sich die Diskrepanz zwischen Nominellem und Realem zunutze zu machen, sich der Wörter zu bemächtigen, um in den Besitz der Dinge zu kommen, oder auch der Dinge in der weiteren Hoffnung, bald auch die sanktionierenden Wörter zu erhalten; […].«71 Im Falle des Experimentbegriffs sind mit seinem Besitz zwar keine sozialen Funktionen oder Titel, aber wenigstens indirekt kulturelles Kapital verbunden. Begriffsverwendungen, die die »Diskrepanz zwischen Nominellem und Realem« durch nicht konventionalisierten Gebrauch ausnutzen, fasst Bourdieu ebenfalls als vorsätzliche Erschleichung eines Signifi kanten durch Inbesitznahme des Signifikats. Mit den folgenden Strategien wolle sich der Sprecher entweder des sozial distinktiven Titels (Wortebene) oder des damit verbundenen kulturellen Kapitals (Bedeutung auf der Ebene des Wirklichkeitskorrelats) bemächtigen: »Funktionen zu bekleiden, ohne im Besitz der entsprechenden Titel zu sein (die ›Erfüllungsgehilfen‹), um so wenigstens Ansprüche auf legitime Titel geltend machen zu können oder […] sich zur eigenen Kennzeichnung des vorteilhaftesten Markenzeichens zu bedienen – wenn es sein muß, dabei bis hart an die Grenze des Betrugs zu gehen wie jene Töpfer, die sich Kunsthandwerker nennen oder wie die als Ingenieure sich titulierenden Techniker […].«72 Übertragen auf die Verwendung des Experimentbegriffs bedeutete das also, dass die Geisteswissenschaften versuchen, das Wort zu vereinnahmen, semantische Aspekte des Begriffs und darüber semantische Felder seiner Verwendung zu besetzen. Dass es sich dabei nach Bourdieu um Strategien handelt, »die wie jedes Konkurrenzverhalten, die entscheidenden Abstände aufrechtzuerhalten suchen, letzten Endes aber nur der fortlaufenden Inflation der Titel Vorschub leisten […],«73 bestätigen die andauernde Rivalität der beiden Kulturen um finanzielle Ressourcen sowie die häufige Verwendung 71 | Vgl. Bourdieu (1982), S. 750. 72 | Vgl. ebd., S. 751. (Hervorhebg. von mir; GB). 73 | Ebd.

70 | G UNHILD B ERG eines semantisch diff usen Experimentbegriffs als Stellvertreter-Begriff dieses Kampfes. Es greift also zu kurz, die ›Unrichtigkeit‹ der Begriffsverwendung zu monieren, vielmehr deutet die Aneignung des Experimentbegriffs durch die Geisteswissenschaften auf einen metasprachlichen Mechanismus mit strategischen, wissenschaftspolitischen Funktionen hin. Die historische Semantik von ›Experiment‹ zeigt auf, dass in der wissenssoziologischen Dimension der Geschichte dieses Begriffs eine Konnotation seine Verwendung dominiert, die die Trophäe dieses Kampfes um den Begriff zu sein scheint: Der Experimentbegriff wird als ›Versuch‹ mit zweifelsfreier Wissenschaftlichkeit konnotiert – insbesondere in der gegenwärtigen nicht-naturwissenschaftlichen Verwendung und im allgemeinsprachlichen Verständnis.74 Trotz aller Proteste ist die naturwissenschaftliche Definitionsmacht über das ›Experiment‹ ungebrochen, die noch in Abgrenzungsbemühungen stets referierte Bezugsebene bleibt, denn auch unausgesprochen bleiben nicht verwendete Inhaltselemente des Referenzpunktes als metaphorische Konnotationen wirksam.75 Es hat den Anschein, als ob die Geisteswissenschaften über die Teilhabe am Begriff (gleichgültig, ob via Definition, Verwendung, Methodik o.a.) für ihren Anspruch kämpfen, am gesellschaftlich respektierten und prämierten (Natur-)Wissenschaftsdiskurs teilzuhaben.

Abgrenzung und Annäherung mittels des E xperimentbegrif fs Die symbolische Bedeutung des Begriffs ›Experiment‹ plausibilisiert seine verstärkte Indienstnahme in der (erneut) intensivierten Diskussion über die ›zwei Kulturen‹ im vergangenen Jahrzehnt. Beiden Parteien dient der Begriff (neben Naturgesetz, Wissen u. Ä.) als Argument in der Diskussion über das Verhältnis von Natur- zu Geisteswissenschaften, von (Natur-)Wissenschaft zu Literatur und Kunst.76 Die Zwei-Kulturen-Debatte schreibt sich als Methodenstreit seit 74 | Die Konnotation von Wissenschaftlichkeit im alltagssprachlichen Gebrauch markiert auch der Duden: »Experiment, das; -e[s], -e ([wissenschaftlicher] Versuch)«; vgl. Duden (1996), S. 268. Dieser Konnotation widersprechen nicht die gelegentlich kritischen Diskussionen von Experimenten, denn diese werden überwiegend (natur-)wissenschaftsintern geführt und dringen selten aus diesem exklusiven Kreis heraus nach außen. 75 | Zu dieser Wirkung der Metapher vgl. Birus (2000), S. 572. 76 | Zur Aktualität von Metaphern als Kommunikationsinstrumenten

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dem 19. Jahrhundert her und schlägt sich in den Geisteswissenschaften als Bestreben der Historiker nieder, einerseits naturwissenschaftliches Vorgehen zu adaptieren (Heinrich von Sybel, Thomas Buckle), andererseits die Unabhängigkeit, gar Überlegenheit der Geistes- gegenüber den Naturwissenschaften zu postulieren (Wilhelm Dilthey). Beide Positionen bleiben mit diversen Nuancen bis in die Gegenwart bestehen.77 So verweigert etwa Peter McLaughlin eine Annäherung der beiden Kulturen, indem er meint, dass die Geschichtswissenschaft die einmalig vorfindlichen Ereignisse und ihre Ursachen wahrheitsgemäß beschreibe, das Experiment aber keine wahrheitsfähigen Aussagen über die Realität treffen könne, da es »nicht unsere Repräsentation der Natur mit der Natur als solcher, sondern mit der Natur, soweit wir sie manipulieren können,« vergleiche.78 McLaughlin hebt darauf ab, dass die Naturwissenschaften im Experiment nur verschiedene Artefakte, dass sie nur einen Zustand (eine Repräsentation) und seine technische Reproduktion korrelieren könnten, doch ignoriert er, dass auch die Beschreibung historischer Ereignisse nicht mehr als deren Repräsentation verbürgen kann. Diesen epistemologischen Einschnitt bedingen die Kopenhagener Deutung der Quantentheorie auf der einen Seite (Niels Bohr, Werner Heisenberg)79 sowie Geistes- und Sozialwissenschaftler wie Max Weber, Georg Simmel und Ernst Cassirer auf der anderen Seite. Weber versteht historische Erkenntnis nicht als Rekonstruktion, sondern als Konstruktion, als »denkende Ordnung des empirisch Gegebenen«, die Anspruch darauf erheben könne, als Erfahrungswissenschaft zu gelten.80 In diesem Sinne weist Gerhard Oexle den Historikern und Kulturwissenschaftlern zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Aufgabe zu, über die Bedingungen und Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis nachzudenken. Oexle geht davon aus, dass die beiden Kulturen einander nicht ausschließen müssen, sondern ergänzen können. Die Trennungslinie der Wissenschaftsauffassungen verlaufe zwischen der Überzeugung, in der Wissenschaft Realität abzubilden, und der Annahme, den wissenschaftlichen Gegenstand erst in der Reflexion des empirisch arbeitenden wissenschaftlichen Subjekts zu konstituieren. Verstünde man mit Alfred Gierer die Naturwissenschaften als Produkt in den disziplinären »Machtkämpfen und Freundschaftsbünden« vgl. Kohl (2007), S. 129. 77 | Vgl. dazu ausführlich Oexle (2004), bes. S. 24ff. 78 | Vgl. McLaughlin (1993), S. 216. 79 | Vgl. dazu Berg (2007). 80 | Vgl. Weber (1982); zit. n. Oexle (2004), S. 32.

72 | G UNHILD B ERG der Kultur, erhelle die Komplementarität von Natur- und Geschichtswissenschaften hinsichtlich ihres Objekts.81 Im Anschluss an Oexle wäre aber als vergleichbares Vorgehen der Natur- und Geschichts- bzw. Geisteswissenschaften nicht allein die Empirizität des Materials und dessen Repräsentationsstatus zu reklamieren. Wenn für beide Kulturen gleichermaßen gilt, dass ihr Material empirisch und dessen interpretatorische Darstellung konstruiert ist, indem sie die gewonnenen Fakten in einen historisch veränderlichen Wissenskontext einordnen, dann gehen die Akteure beider Kulturen, Naturforscher wie Historiker, strukturanalog vor weniger in dem, was sie darstellen (die Repräsentation von Realität) als vielmehr in der Art und Weise, wie sie es interpretieren und darstellen (in der Experimentalanordnung der Tatsachen). Ihre Gemeinsamkeiten wären also nicht allein hinsichtlich Material und Ziel, darüber hinaus auch hinsichtlich ihrer experimentellen Methodik stärker zu akzentuieren. Als Experimentator wird in sozialer Hinsicht gemeinhin eine Wissenschaftlerpersönlichkeit, hinsichtlich des ästhetischen Produktionsprozesses der Autor oder Künstler und auf Textebene eine literarische Figur angesehen. Experimentator aber kann, wie Hans Schwerte pointiert,82 auch der Literaturwissenschaftler sein. Schwerte bietet eine Lösung des Verwendungskonflikts, die literarische Exploration mit der naturwissenschaftlich geforderten Demonstrationsoption versöhnt: Dem Künstler bleibe vorbehalten, mithilfe des dichterischen Experiments Sprache, Formen und damit Wirklichkeit zu erkunden. Seine Aufgabe sei es nicht, den Zweck oder Nutzen des Kunstwerks zu bestimmen. Dies sei vielmehr Sache der Philologie, nämlich dasjenige Nachprüf bare und Wiederholbare, das der literarische Text biete, zu untersuchen und zu lehren.83 Über die Funktionsteilung zwischen Kunstproduzent und -wissenschaftler hinaus stellt sich indes die Frage, ob nicht allein der Literaturhistoriker hinsichtlich eines literarischen Werkes und seiner (repetierbaren) Rezeption, sondern der Historiker generell auf Gedankenebene wie ein Experimentator verfährt: Denn die Faszination, die der naturwissenschaftliche Experimentator ausstrahlt, besteht nicht allein in der Macht darüber, bestimmte Effekte erzeugen zu können, als vielmehr in seiner Fähigkeit, die Ursachen 81 | Vgl. Oexle (2004), S. 52f., 55. Zur Repräsentationsfunktion von ›objektiver Realität‹, die allen Wissenschaften gemeinsam ist, vgl. auch schon Bourdieu (1998), S. 29. 82 | Zu Schwerte alias Hans Ernst Schneider vgl. König/Kuhlmann/ Schwabe (Hg.) (1997). 83 | Vgl. Schwerte (1968), S. 401.

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bestimmter Phänomene identifizieren zu können. Ursachenwissen ist unerlässliche Voraussetzung für jene intellektuell wie sozial erklärungsmächtigen Effekte. Experimental-, Kausalitäts- und Historizitätsparadigma konsolidieren sich im 18. Jahrhundert, wobei die Experimentalmethode dasjenige Instrument zu sein scheint, das Kausalität und Chronologie vermittelt. Das Experiment bedingt einen sukzessiven zeitlichen Ablauf von Anfangs- und Endzustand, von Ursache und Wirkungen, die durch den Experimentator auf diese künstliche Weise (re-)konstruiert werden. Ziele dieser Verfahren sind die Entdeckung und Erklärung natürlicher Phänomene. Die Parallele, historische Fakten wie Fakten der Natur zu verstehen, datiert auf die Anfänge der modernen Geschichtswissenschaften im späten 18. Jahrhundert.84 Menschheitsund Zivilisationsgeschichte werden in strikter Analogie zur Naturgeschichte konzipiert (Christoph Meiners). Erforderlich seien dafür nicht vollständige Begriffe, sondern die Vollzähligkeit der Gegenstandsbereiche als »vollständiges Inventar« des Menschen, der ihn umgebenden Natur und der Wechselbeziehungen zwischen beiden. Dieses empirisch-quantifizierende Verfahren sollte angesichts der Problematik, dass der Standort des Historikers subjektiv gebunden ist, die Objektivität historischer Aussagen gewährleisten.85 Diese Tendenz zur Vernaturwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung setzt im 19. Jahrhundert etwa Johann Gustav Droysen fort, der die Geschichtsals empirische Wissenschaft definiert. Die Errichtung einer entsprechenden Methodenbasis zielte auf die »Erhebung der Geschichte zum Rang einer Wissenschaft« (1863), so Droysens gleichnamiger Essay.86 Im modernen Sinne ist die Tätigkeit des Historikers als eines Experimentators nicht allein eine Verstehens-, sondern eine Konstruktionsleistung, die dem Verstehen notwendig vorhergeht. Damit handelt der Akteur der ›experimentellen‹ Versuchsanordnung historischer Fakten dem Kausalitätsparadigma der modernen Naturwissenschaften gemäß, das seit dem 19. Jahrhundert in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften gleichermaßen gilt,87 auch wenn die historisch arbei84 | Die Institutionalisierung der Disziplin beschreibt Vierhaus (1987). 85 | Vgl. Garber (1999), S. 153ff., 184. - Zum »Kollektivsingular ›Geschichte‹«, der zeitgleich entsteht, vgl. Koselleck (2003), S. 14f. 86 | Vgl. Oexle (2004), S. 26. 87 | So die programmatischen Definitionen der Soziologie als »eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will« (Weber (1984), S. 19) und der Geisteswissenschaften (der »Poetik«) als »innere Er-

74 | G UNHILD B ERG tenden Wissenschaften keine sicheren Prognosen über die Zukunft erstellen, allenfalls das ihnen abgeforderte ›Orientierungswissen‹ zur Verfügung stellen können. Ursachensuche ist methodenkritisch nicht im Sinne einer Einbettung des vorfindlich Aufgesuchten in einen größeren metaphysischen, teleologischen Zusammenhang zu verstehen, also nicht als Sinnzuweisung zu einem Ganzen, sondern als rekonstruierende Protokollierung sukzessiver Elemente, von denen eines aus dem anderen folgt oder mit ihm zusammenhängt − unter gehöriger Ausblendung aller als nicht einflussreich erachteten Faktoren, also als (Re-)Konstrukt der Ereignisse in einer künstlich isolierten Umwelt (d.i. die historische Abhandlung). Denn der Historiker verleiht der Sachgeschichte (den historischen Tatsachen) − in einer Art Gedankenexperiment im naturwissenschaftlichen Verständnis − nicht nur eine zeitliche, ehemals auch oft eine finale (teleologische), traditionellerweise überwiegend eine kausale, auch mit moderner Analyse immer noch eine ordnende, Korrelationen, Verknüpfungen, Kontexte und Koinzidenzen aufzeigende respektive herstellende Struktur. Für eine nachvollziehbare Darstellung sind Angaben über Effekte, ihre Bedingungen und Einflüsse in der Chronologie der Abläufe unerlässlich. Doch selbst im Falle ihrer unvermittelten Darbietung würde bereits durch Auswahl der Ereignisse und Zeugnisse ein struktureller Zusammenhang unvermeidlich suggeriert und damit eine Bedeutung anheim gestellt. Die Verbindung zwischen Geschichts- und Naturwissenschaft will Oexle anhand der »Kategorien von ›Begriff‹ und ›Experiment‹« neu erörtern lassen. Unter Verweis auf Clifford Geertz fordert er die Geschichtswissenschaften als »empirische Hypothesenwissenschaften« auf, den epistemologischen Status von historischen ›Fakten‹ zu überdenken.88 Doch verbindet die beiden Kulturen nicht allein der Status ihrer Objekte, der nur ein repräsentativer sein kann, wie Oexle anmahnt, sondern darüber hinaus auch das experimentelle Verfahren ihrer Darstellung. Als experimentelle, obgleich gegenläufige Verfahren beschreiben dies Ludwik Fleck und Werner Heisenberg. Fleck betont die experimentelle Arbeit an der ›wissenschaftlichen Tatsache‹, die allmählich konturiert und letztlich mit einem Begriff definitorisch klärung eines geistig-geschichtlichen Ganzen nach kausaler Methode […].« (Dilthey (1924), S. 125). 88 | Vgl. Oexle (2004) sowie Oexle (2000), S. 148. – Zum Status von »kulturellen Tatsachen«, »jederzeit beides [zu sein], gemacht und bedeutsam, materiell und ideell, real und konstruiert«, vgl. Konersmann (2006), bes. S. 63.

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benannt wird.89 Heisenberg versteht die experimentelle Arbeit als die am Begriff, mit dem Wirklichkeit erfasst wird: Die modernen Naturwissenschaften seien sich »bewußt, […] daß wir stets irgendwo in der Mitte anfangen müssen, über die Wirklichkeit zu sprechen mit Begriffen, die erst durch ihre Anwendung allmählich einen schärferen Sinn erhalten, und daß selbst die schärfsten, allen Anforderungen an logische und mathematische Präzision genügenden Begriffssysteme nur tastende Versuche sind, uns in begrenzten Bereichen der Wirklichkeit zurechtzufinden.«90 Tatsachen sind wie ihre sprachlichen Bezeichnungen und ihre theoretischen Erklärungen Konzepte, die der Gegenstand experimenteller Arbeit sind: Die Naturwissenschaften entdecken die natürlichen Tatsachen über Begriffe, die durch experimentelle Prozesse aufgestellt und geschärft werden; die Geschichtswissenschaften entdecken historische Tatsachen und ihre Zusammenhänge auf dem gedanklichen Wege ihres quasi-experimentellen Anordnens und Durchlaufens.91 Die Tatsachen beider Kulturen, historische wie ›natürliche‹ Fakten, sind also Ziel, Resultat und Material für begriffl ich gefasste, konsensuelle Annahmen über die Wirklichkeit, die zeitabhängig veränderlich sind. Insofern geschichts- wie naturwissenschaftliche Tatsachen als Ergebnisse und Folgen menschlicher Handlungen aufgefasst werden und ihre Darstellung widerspruchsfrei ist, verbürgen sie nicht die denkbar beste, aber doch die wirklichste Wirklichkeit, die wir kennen können. Die Aufgabe, diese einzelnen Elemente zu erkennen, miteinander verbunden darzustellen (im Experiment, im Versuchsprotokoll, in der wissenschaftlichen Abhandlung) und durch diese Darstellung zu Aussagen zu gelangen, ist die Aufgabe des naturforschenden wie des historischen Wissenschaftlers. Beide ›experimentieren‹ strukturanalog an dieser Form der Wirklichkeit. Historisch arbeitende Geistes- sind folglich insofern ›Experimental‹-Wissenschaften als sie zum wenigsten die folgenden Aspekte mit naturwissenschaftlichem Experimentieren teilen: Arbeit an den ›Tatsachen‹; ›natürliche‹ Fakten als Objekte; Isolierung eines empirischen Wirklichkeitsausschnitts; Idealisierung des ›natürlichen‹ Ablaufs im Experiment bzw. in der chronologischen Reihung; Künstlichkeit der 89 | Vgl. Fleck (1980), S. 123f. 90 | Vgl. Heisenberg (2005), S. 107f.; Hinweis von Oexle (2004), S.

40. 91 | Gemeint ist die systematische naturwissenschaftliche Experimentation; nicht das probierende oder assoziative Vorgehen in Sprachspielen u. Ä.

76 | G UNHILD B ERG Versuchsanordnung; variable Selektion des Materials; Interpretation der Ergebnisse durch Auswahl- und Strukturierungsleistung; Vorgängigkeit der Hypothese bzw. Voreinstellungen soziokultureller usw. Art; den Anspruch, dass der Ablauf der beschriebenen Ereignisse ›natürlich‹ und folglich realitätsgetreu und wahrheitsfähig ist; aber auch das Problembewusstsein bzw. die Reflexion dessen aufgrund der oft irreduziblen Komplexität der natürlichen Vorgänge. Die Reproduzierbarkeit des Resultats ist in der Empirie des Materials gegeben, aber auch in der Rezeption, die Nachvollziehbarkeit gewährleisten muss. Tut sie dies nicht, wird Wahrhaftigkeit bezweifelt und der historische Ablauf dieser oder anderer Materialien in weiteren experimentellen Auf bauten (Abhandlungen) erprobt. Dieses iterative, experimentell basierte Erkenntnisstreben eint Natur- und Geisteswissenschaften.

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›Organisation‹ und ›Organismus‹ – von der Gliederung zur Lebendigkeit – und zurück? Die Karriere einer Wor tfamilie seit dem 17. Jahrhunder t Georg Toepfer

Die Begriffe ›Organisation‹ und ›Organismus‹ sind seit Ende des 18. Jahrhunderts in eine Position gelangt, in der sie als die zentralen Grundbegriffe der Biologie fungieren. Die Etablierung dieser Terminologie vollzieht sich zeitlich parallel zu der Konstituierung der Biologie als Wissenschaft vom Leben (und nicht bloß der Lebewesen), die ebenfalls auf die Zeit um 1800 datiert wird 1 – auch wenn sich der Terminus ›Biologie‹ für diese Wissenschaft erst allmählich im 19. Jahrhundert durchsetzt.2 Anhand der Begrifflichkeit, die um ›Organisation‹ kreist, lässt sich also die methodische Rolle von Begriffen in der Konstituierung eines Gegenstandsbereichs und Forschungsfeldes studieren.

1. Begrif fsgeschichtliche Ursprünge Die Ausdrücke ›Organismus‹ und ›Organisation‹ haben ihren Ursprung in dem Grundwort ›Organ‹. Dieses Wort geht über das lateinische ›organum‹ auf das griech. ›‫ܝ‬ǂƶƴƿǁƿ‹ »Werkzeug, Gerät, Instrument« zurück, das wiederum seine etymologischen Ursprünge in ›۱ǂƶǁƿ‹ »Werk, Dienst« hat. 1 | Lepenies (1976), S. 29. 2 | Kanz (2006).

84 | G EORG TOEPFER In der älteren griechischen Sprache erscheint der Ausdruck ›Organ‹ allein in der Bedeutung von »Handwerkszeug«, also in dem Kontext des technischen Handelns des Menschen. Erst am Ende des 5. Jahrhunderts vor Christus erhält das Wort eine Beziehung zum Körper eines Lebewesens, und zwar in der Bedeutung von »(funktionales) Körperglied«. Im hippokratischen Schriftenkorpus taucht das Wort ›‫ܝ‬ǂƶƴƿǁƿ‹ an 22 Stellen auf, bei denen es achtmal in der allgemeinen Bedeutung »Gerät«, zehnmal im Sinne von »Instrument des Arztes«, einmal für »Musikinstrument« und dreimal für »Sinnesvermögen« in Verbindung mit Funktionen der Psyche steht.3 Bei Platon werden ebenso technische Instrumente wie auch abstrakt Sinnesvermögen und konkrete Dinge wie Körperflüssigkeiten als ›Organ‹ bezeichnet. 4 Endgültig zu einem physiologischen Begriff wird ›Organ‹ aber erst bei Aristoteles. Für ihn ist sowohl der Körper als ganzer ein Organ der Seele als auch einzelne seiner Teile, so z. B. ausdrücklich die Hände, der Kehlkopf für die Atmung, die Sinnesvermögen, der Uterus und Samen.5 Ein lebender Körper besteht danach also aus einer Vielzahl von Organen, allen voran den Gliedmaßen. Besonders deutlich wird ein solches Körperverständnis in vielen künstlerischen Darstellungen, in denen nicht – wie in einer modernen Kinderzeichnung – die Kompaktheit, Zentriertheit und Einheit des Organismus hervorgehoben wird, sondern vielmehr die Addition und das Nebeneinander seiner Teile (vgl. Abb. 1).

Abb. 1: Zwei unterschiedliche Konzipierungen des menschlichen Körpers: links eine Kinderzeichnung aus dem 20. Jahrhundert, in der die Mitte und Einheit des Körpers betont ist, rechts eine antike Darstellung aus der geometrischen Periode der griechischen Kunst, die die Gliederung des Körpers und Abhebung der Teile voneinander hervorhebt (aus Snell 1946/55, S. 23). 3 | Wolf (1971), S. 10f. 4 | Vgl. z. B. Platon, Timaios 45b; Politeia 508b; Theaitetos 184c; 185c. 5 | Aristoteles, De anima 415b; 420b; 413a; De partibus animalium 687a; De generatione animalium 766a; 730b.

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Bereits in der Antike etabliert sich also eine enge semantische Verbindung von ›Organ‹ und ›Lebewesen‹. Auf bauend auf seinen häufigen Analogien aus handwerklichen Zusammenhängen, kennzeichnet Aristoteles die Körperteile, die er ›Organe‹ nennt, über ihre Funktion: Eine Hand ist für Aristoteles nur dann eine Hand, wenn sie auch als Hand funktioniert; die Hand einer Statue ist also nicht im eigentlichen Sinne eine Hand6 – nicht die Gestalt oder die Materie, sondern der zweckmäßige Einsatz, die Funktion macht eine Hand zu dem, was sie ist. Es liegt also in der Konzeption der Organe durch Aristoteles eine teleologische Gegenstandsbestimmung vor: Der Zweck für das Ganze determiniert die Identität des Gegenstandes. Es liegt damit bereits in der Wurzel der Wortfamilie die Grundlage für eine Wortbedeutung, die von einem dynamischen System ausgeht, einem System, das aus Teilen besteht, an denen jeweils die Ausführung eines Prozesses hängt, der für das Ganze eine Bedeutung hat. Als solche Körper beschreibt Aristoteles die Lebewesen und nennt sie »organische natürliche Körper«.7 Aristoteles stellt also eine Verbindung her zwischen den Vorstellungen eines organischen, arbeitsteiligen Körpers und der Lebendigkeit dieses Körpers. Vernachlässigt oder zumindest nicht hervorgehoben wird von Aristoteles aber die Beschreibung des Körpers als einer Einheit der Wechselseitigkeit. Aristoteles bezeichnet grundsätzlich allein die äußeren Körperteile, kaum aber die inneren Organe als ›organon‹.8 Das paradigmatische Organ bildet für Aristoteles immer die menschliche Hand. Die Hand ist, in der Beschreibung von Aristoteles, wie ein Werkzeug ein Mittel für Zwecke – dass sie aber ein Glied in der Einheit des Körpers als einer Einheit der durchgängigen Wechselseitigkeit von Teilen ist, thematisiert Aristoteles nicht. – Bezeichnenderweise ist für innere Organe in der obigen Darstellung des Körpers aus der geometrischen Periode der griechischen Kunst (Abb. 1) nicht viel Platz. Nach Aristoteles wird der Organbegriff im physiologischen Kontext bis zur römischen Kaiserzeit kaum noch verwendet. Er findet sich an einigen Stellen bei dem Aristoteles-Schüler Theophrast, bei dem der Ausdruck neben dem verbreiteten Wort für ›Teil‹ (griech. »—݊ǂ‫ޝ‬ǁƿ«) steht, darüberhinaus sind aber nur sehr vereinzelte Nachweise (z. B. bei Soranus) bekannt. Fünf hundert Jahre nach Aristoteles ist es erst wieder der römische Arzt Galen, der das Wort ›Organ‹ selbstverständlich in seinen physiologischen Texten gebraucht. Die Geläufigkeit und 6 | Vgl. Aristoteles, Politeia 1253a; De anima 412b; 415b. 7 | Aristoteles, De anima 412a26. 8 | Wolf (1971), S. 22.

86 | G EORG TOEPFER der terminologische Charakter des Ausdrucks zeigt sich bei Galen u. a. darin, dass das Wort bei ihm – anders als bei Aristoteles – häufig absolut, d. h. ohne ein weiteres Attribut erscheint. Galen entwickelt außerdem, über Aristoteles hinausgehend, eine umfassende teleologische Perspektive auf alle Teile des menschlichen Körpers einschließlich der inneren. Galen bezeichnet sogar bevorzugt innere Teile des Körpers, so z. B. Leber, Milz, Nieren, Gallenblase, Magen, Uterus und Harnblase, als ›Organe‹. Erst in der Spätantike – wahrscheinlich im 4. Jahrhundert von Chalcidius9 – wird auch der alte aristotelische Ausdruck zur Bezeichnung eines organischen Körpers ins Lateinische übersetzt: corpus organicum bildet dann bis ins 18. Jahrhundert den einschlägigen Terminus, um den Körper von Lebewesen – und nicht selten auch die Lebewesen selbst – zu bezeichnen. Die terminologische Verwendung des Organbegriffs bei Galen bleibt für die gesamte Spätantike und das Mittelalter maßgeblich. Bemerkenswert ist die allmähliche Herausbildung eines Bedeutungsschwerpunktes für ›Organ‹ und ›organisch‹ zur Bezeichnung von Körperteilen, die mit dem Mund und der Lauterzeugung im Zusammenhang stehen. Diese Verbindung wird im Mittelalter so ausgeprägt, dass ›organum‹ allgemein primär auf den Kontext der Musikerzeugung verweist. Darum, und allgemein um den Organbegriff soll es hier aber weiter nicht gehen, sondern vielmehr um die Konzepte Organisation und Organismus. Diese Ausdrücke sind jünger, sehr viel jünger als das Wort ›Organ‹.

2. Organisation als innere Gliederung Der Ausdruck ›Organisation‹ wird zwar bereits seit der Scholastik verwendet – u. a. von Thomas von Aquin und Francisco Suárez. Suárez gebraucht den Ausdruck in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der Diskussion der ordnenden und formbildenden Wirkung der Seele auf den Körper 10 – »informare« ist Suárez’ Ausdruck hierfür.11 Suárez diskutiert das Konzept der Organisation besonders im Zusammenhang mit der Frage, inwiefern sich die einheitliche 9 | Chalcidius, Commentarius in Timaeum (London 1962), S. 235 (CCXXII). 10 | Suárez [1571-74], S. 473ff. (Buch III, Kap. 2, Nr. 7ff.); ders. (1597), S. 225 (Sek. 6, Nr. 8). 11 | Suárez (1597), S. 222 (Sek. 6, Nr. 7).

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Seele in verschiedener Weise mit den unterschiedlichen Teilen eines lebenden Körpers verbindet, so dass diese ihrem Wesen nach differenziert sind und unterschiedliche Funktionen wahrnehmen können.12 Das eigentliche Prinzip des Lebens bleibt in diesen Darstellungen aber – den antiken Vorgaben folgend – die Seele: Die Organisation, die Gliederung des Körpers, wird verstanden als eine Art Instrument der Seele zur Belebung eines Körpers. Der Ausdruck ›Organisation‹ bleibt bis ins 18. Jahrhundert ein selten gebrauchtes Wort. Er findet sich vereinzelt in den Schriften biologischer Autoren des 17. Jahrhunderts, z. B. bei Robert Hooke13 und Marcello Malpighi14 und auch in den philosophischen Arbeiten von Locke15 und Leibniz.16 Auffallend ist, dass der Begriff im 17. Jahrhundert v. a. Verwendung findet in Bezug auf den gegliederten Bau von Lebewesen, insbesondere ihre regelmäßige Feinstruktur, wie sie mit Hilfe des Mikroskops z. B. von Hooke und Malpighi beschrieben wird. Der Ausdruck bezeichnet also in erster Linie die statische innere Gliederung eines Körpers. Besonders deutlich wird diese innere Gliederung beispielsweise in der regelmäßigen Struktur der pflanzlichen Gewebe, die N. Grew in zahlreichen Abbildungen in seinem Werk zur Pflanzenanatomie darstellt (vgl. Abb. 2). Es lässt sich vermuten, dass die Beschreibung der »Organisation« von Lebewesen – Pflanzen ebenso wie Tieren – seit Ende des 17. Jahrhunderts einen solchen Aufschwung nehmen, weil die Etablierung und die Fortschritte der Mikroskopiertechnik seit dieser Zeit den hochstrukturierten Feinbau der Lebewesen offenbaren. Zuvor, ohne Mikroskop betrachtet, wird der gegliederte Auf bau eines Organismus, und v. a. der nicht-menschlichen Organismen, bis in die Frühe Neuzeit wenig herausgearbeitet. Die Lebewesen gelten nicht selten als bloße »Klumpen« ohne innere Differenzierung.17 Der Grund ihrer Lebendigkeit wird eben nicht in der internen strukturellen Differenzierung ihrer Teile, sondern in der zu dem Körper hinzutretenden Seele gesehen. In diese Konzeption kommt Bewegung, sobald der Begriff der Seele problematisiert wird und eine Trennung von ›Seele‹ und ›Leben‹ 12 | Vgl. Des Chene (2000), S. 94ff. 13 | Hooke (1665), S. 116. 14 | Malpighi (1675), S. 64. 15 | Locke (1689), S. 331 (II, XXVII, § 4). 16 | Leibniz (1704a), S. I, 394 (II, XXVII, § 4). 17 | Rádl (1905/13), S. 127.

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Abb. 2: Die »Organisation« des inneren Baus einer Pflanze, dargestellt anhand eines kombinierten Längs- und Querschnitts eines Astes (aus Grew 1682, Tab. 36). als möglich gedacht wird. Im frühen 17. Jahrhundert vertritt bekanntlich Descartes diese Option. Descartes’ mechanische Interpretation von Lebensprozessen löst sich von der aristotelischen Tradition, die Leben an das Wirken einer Seele gebunden sieht. Descartes ist aber sicher nicht allein der reduktionistische Mechanist, als welcher er bekannt ist. Es finden sich vielmehr auch Ansätze eines organismischen Denkens bei Descartes, insofern er ein Lebewesen als eine Einheit der Wechselwirkung seiner Teile beschreibt. Es sei die besondere Anordnung der Organe – »la disposition des organes« –, auf der die Lebensfunktionen beruhen, heißt es in dem Traité de l’homme.18 Descartes betont hier die Einheit und Korrelation der Teile in einem lebenden Körper: Er ist einer und unteilbar, schreibt Descartes, die Anordnung seiner Teile sei eine wechselseitige – »tous l’un à l’autre« – so dass der Ausfall eines Glieds die Funktion des ganzen Körpers störe: 18 | Descartes (1632), S. 202; vgl. ders. (1637), S. 49f.

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il est un, & en quelques façon indivisible, à raison de la disposition de ses organes, qui se raportent tellement tous l’un à l’autre, que lors que quelcun d’eux est osté, cela rend tout le corps defectueux.19

Die organischen Mechanismen sind also bei Descartes in einer Weise integriert, dass sie eine Einheit ergeben, die später als Organismus bezeichnet wird. Die Vorstellungen von Descartes und später von Leibniz und auch LaMettrie zielen auf eine einheitliche Wissenschaft des Mechanischen, die Belebtes und Unbelebtes gleichermaßen umfasst. Eine methodische Differenzierung dieser zwei Bereiche beginnt sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu vollziehen. Daran beteiligt ist ein sich als Reaktion auf Descartes etablierender Platonismus, getragen etwa von den Cambridge Platonists, Ralph Cudworth und Henry More.20 More spricht von einer mechanischen Organisation der Materie – »Matter Mechanically organized«21 – und er unterscheidet diese von dem Zustand eines Körpers, in dem eine plastische oder bildende Kraft – »Plastical Power« – wirksam ist. Das eigentlich belebende Prinzip ist bei More diese Kraft, nicht schon die Organisation des Körpers. Die plastische Kraft ist aber doch auf die Organisation angewiesen, sie bedarf einer zur Belebung disponierten Materie, um wirksam werden zu können, wie er es formuliert. More beschreibt die Leistung der plastischen Kraft so, dass ihr Eingriff die vorbereitete Materie zu Leben organisiert: »organizing duly-prepared Matter into life«22. Die Lebendigkeit eines Lebewesens ist damit für More noch nicht mit der »bloßen« Organisation seines Körpers (»mere organization of the Body« 23) gegeben. Die Lebendigkeit bzw. Beseeltheit fällt also bei More keineswegs mit der Organisation der Körper zusammen. Es besteht aber doch eine gewisse Ambivalenz in der Begrifflichkeit, weil die Wirkungsweise der plastischen Kraft, die das Leben erzeugt, gerade als eine Organisierung (»organizing«) bezeichnet wird. Eine ähnliche Auffassung wie bei More findet sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts bei dem Botaniker Nehemiah Grew. Grew ist einer der ersten, der den Ausdruck ›Organismus‹ verwendet. Bei Grew ist der Organismus allerdings noch nicht die Entität, der eigentlich Le19 | Descartes (1649), S. 351. 20 | Meine Darstellung in diesem Abschnitt verdankt viel den genauen Analysen von Tobias Cheung (v.a. Cheung 2006). 21 | More (1659), S. 109 (Buch II, Kap. V, 6). 22 | a.a.O., S. 46 (Buch I, Kap. VIII, 3). 23 | a.a.O., S. 107 (Buch II, Kap. V, 1).

90 | G EORG TOEPFER ben zukommt, sondern nur die körperliche Seite der materiellen Ordnung eines Lebewesens. Zu einem Lebewesen wird diese körperliche Ordnung bei Grew erst durch ein hinzutretendes »vitales Prinzip«. So formuliert er 1701, ein »Organismus« sei eine »natürliche Struktur« einer Masse von Fasern, die nicht mit Leben ausgestattet ist (»Endowed with Life«).24 Die besondere Disposition des Körpers mache lediglich den Eingriff eines Lebensprinzips (»Vital Principle«) möglich, die den »Organismus eines Körpers« (»Organism of a Body«25) zu einem Lebewesen forme und als Grund hinter den organischen Aktivitäten und Transformationen stehe.26 Im Gegensatz zu dieser Auffassung sehen aber andere Autoren seit der Mitte des 17. Jahrhunderts bereits die Organisation als das eigentlich entscheidende Merkmal und verzichten auf eine geheimnisvolle plastische Kraft oder ein vitales Prinzip. Wie es scheint, nimmt diese Entwicklung ihren Ausgang von der Botanik. So verankert der Botaniker Joachim Jungius die Lebendigkeit vollständig in dem herrschenden materialistischen Paradigma seiner Zeit und die Organisation – »organisatio« – tritt in Erklärungen von Lebensfunktionen an die Stelle des traditionellen Begriffs der Seele: Den Pflanzen spricht Jungius ausdrücklich eine Seele ab, weil ihre charakteristischen Leistungen sich allein aus Anordnung und Bau der Teile erklären ließen: »vero organisatio sola sufficiat«.27 Eine Entgegensetzung von Mechanismus und Organisation etabliert sich gegen Ende des 17. Jahrhunderts mit Georg Ernst Stahls expliziter Gegenüberstellung. Stahl ist es auch, der als erster in der Geschichte der Biologie überhaupt Organismus im biologischen Kontext verwendet, und zwar beginnend mit einigen Schriften aus dem Jahr 1684, so in einer Dissertation zu den Krankheiten innerer Organe (»De officio, & sine organico Intestinorum, seu Organismi eorum Formali«28) und einer anderen zur Physiologie von Blut und Samen (»super sanguinis in sui multiplicatione organismum stabilito«29). Stahl gebraucht das Wort ›Organismus‹ für die zweckmäßige Ordnung eines lebendigen Körpers. Er nennt diese Ordnung einen »formalen Organismus«. Der 24 | Grew (1701), S. 32. 25 | ebd., S. 34. 26 | ebd., S. 35. 27 | Jungius (1662), Part. 2, Sect. 3, Fragm. 5 (De vita plant.), S. I; vgl. Hoppe (1976), S. 76. 28 | Stahl (1684a), S. [9] (Titel von Sektion 1, Teil 2); vgl. Cheung (2006), S. 329. 29 | Stahl, G.E. (1684b), Cap. IV, 3, letzter Absatz.

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Organismus ist für Stahl damit ein Prinzip der Ordnung von materiellen Körpern – er wird aber nicht als Gattungsname für diese Körper selbst verwendet; diese bezeichnet Stahl der Tradition gemäß als ›organische Körper‹ (»corpora organica«).30 Richtungsweisend und bezeichnend für Stahls Ansatz in der Physiologie ist seine Einführung des Organismusbegriffs, insofern als Stahl den lebendigen Körper als eine Einheit der Interaktion von Teilen beschreibt – und sich damit von einer Tradition löst, die einzelnen Elementen des Körpers eine für die Lebendigkeit des Ganzen zentrale Stelle zuschreibt.31 In späteren Schriften gebraucht Stahl den Ausdruck ›Organismus‹ häufiger und nimmt eine systematische Abgrenzung von ›Organismus‹ und ›Mechanismus‹ vor, wobei der Organismus als das für die Lebewesen kennzeichnende Ordnungsprinzip bestimmt wird.32 Zu einem regelmäßig verwendeten Terminus entwickelt sich der Ausdruck ›Organismus‹ im gesamten 18. Jahrhundert aber nicht. Er wird bis zur Jahrhundertmitte nur sehr vereinzelt gebraucht, z. B. von Louis Bourguet oder Carl von Linné; er steht bei diesen Autoren für eine Ordnungsform der Materie, die für die Lebewesen kennzeichnend ist.33 Es ist aber durchaus nicht so, dass ›Organismus‹ immer in Verbindung mit Lebewesen gebracht wird. Als einer der ersten nach Stahl verwendet Leibniz das Wort (auf Französisch und Latein). Meist steht der Ausdruck bei Leibniz allgemein für »Ordnung«. Einige Stücke, in denen bei Leibniz das Wort auftaucht, sind nicht datiert,34 der erste datierte Nachweis stammt aus einem Brief aus dem Jahr 1687 (»la machine ou l’organisme c’est à dire l’ordre leur est comme essentiel jusque dans les moindres parties«)35. In einem Brief aus dem Jahr 1704 beschreibt er den »Organismus« als die Ordnung und das Kunstwerk, die etwas Wesentliches der Materie seien, so wie sie von Gott eingerichtet wurde (»l’Organisme, c’est à dire l’ordre et l’artifice est quelque chose d’essential à la matière produite et arrangée par la sagesse souveraine«36). Auch leblose Gegenstände können nach Leibniz also offenbar Organismen sein, oder besser: einen Organismus haben, insofern sie eine Ordnung aufweisen. Später wiederholt Leibniz diese 30 | Vgl. Cheung (2006), S. 329. 31 | Vgl. Geyer-Kordesch (2000), S. 156. 32 | Stahl (1692); ders. (1706). 33 | Bourguet (1729), S. 66; Linné (1749), S. 4; vgl. Cheung (2006), S.

327f. 34 | Leibniz (Antibarbarus), S. 344; ders. (Du rapport general), S. 1615. 35 | Leibniz (1687), S. 308. 36 | Leibniz (1704b), S. 340; vgl. Brief vom 30.6.1704 (a.a.O., S. 356).

92 | G EORG TOEPFER Bestimmung: Ein »lebender Organismus« ist für ihn ein »göttlicherer Mechanismus« (als ein Artefakt), der sich bis in seine unendlich kleinen Teile erstreckt (»Et nihil aliud organismus viventium est quam divinior mechanismus in infinitum subtilitate procedens«).37 Das Wesen des Organismus besteht nach Leibniz also in der (durch einen Gott erzeugten) Ordnung der Teile eines Körpers. Im Unterschied zu den bloß oberflächlich geformten Körpern, wie den künstlichen Maschinen des Menschen, seien auch die kleinsten Teile des natürlichen Organismus wiederum gestaltete Maschinen.38 Die Ausdrücke ›Organismus‹ und ›Organisation‹ verwendet Leibniz als weitgehend äquivalent und tauscht sie in einigen Texten (z. B. den zwei Versionen des Briefs an Arnauld) direkt gegeneinander aus.39 Wie für Stahl bildet also auch für Leibniz ›Organismus‹ nicht die Bezeichnung für einen einzelnen konkreten Naturkörper oder für einen Typ solcher Körper, sondern eine abstrakte Ordnungsform der Materie. In diesem Sinne schreibt er, die Teile der Welt seien von einem Organismus erfüllt (»pleines d’organisme« 40), und nicht von Organismen im Plural. Bezeichnend für Leibniz ist außerdem, dass das Konzept der Organisation zunächst strukturell bestimmt ist: Denn er stellt ausdrücklich fest, die Organisation könne von einem »Anatomen« als »Ganzes« in der »inneren Ordnung« organischer Körper erkannt werden. Verbreitet ist nach Leibniz die Auffassung von Materie als immer schon in sich organisiert. Diese Auffassung findet ihren Ausdruck auch in den Darstellungen Louis Bourgets aus dem Jahr 1729, in der er insbesondere regelmäßig geformten Kristalle als organisierte Körper beschreibt. ›Organisation‹ ist hier ein Konzept, das die gesamte Natur charakterisiert und das damit nicht im Sinne einer scharfen Abgrenzung von belebter und lebloser Materie fungieren kann. Der Organisationsbegriff dient bei Bourguet eher der Vereinheitlichung als der Unterscheidung von Bereichen in der Natur. Nicht nur die Lebewesen, sondern selbst ihre Teile ebenso wie alle anderen Naturkörper sind nach Bourguet organisiert. Er bringt dies auf den radikalen Begriff: »tout est organisé dans la matiere«. 41 Bemerkenswerterweise stellt sich Bourguet auch die Seele der 37 | Leibniz (ca. 1705), S. 16 (§ 13). 38 | Leibniz (1704b), S. 340; ders., Schreiben an Clarke, § 115-116 (Philosophische Schriften Bd. 7, hg. v. C.I. Gerhardt, Hildesheim 1965), S. 417f.; vgl. Duchesneau (1998), S. 340. 39 | Leibniz (1687), S. 308; S. 344; vgl. Cheung (2006), S. 325f. 40 | Leibniz (Du rapport general), S. 1615; vgl. Cheung (2006), S. 326. 41 | Bourguet (1729), S. 58.

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Lebewesen als einen organisierten Körper vor. Die Seele spielt bei Bourguet der Tradition gemäß die Rolle eines zentralen lenkenden Prinzips. Nur etwas Organisiertes könne aber eine Lenkung übernehmen, also sei die Seele organisiert. Die Seele ist aber eben nicht nur selbst organisiert, sondern sie organisiert auch den Körper: Die Organisation des Körpers stellt damit für Bourguet eigentlich eine Fremdorganisation dar – nicht eine Selbstorganisation. Als Vergleich für das Wirken der Seele wählt Bourguet das Bild eines Generals, der eine Armee befehligt: Der General sei zwar nicht die Ursache der Bewegung jedes Soldaten, aber sie seien doch alle auf ihn bezogen. Der organische Mechanismus der Seele sorge für die »communication« der organisierten Körper mit der Welt. 42

3. Dynamisierung der Organisation: Organisation als kausale Wechselseitigkeit Es ist vielfach beschrieben worden, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Lebewesen sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts grundlegend ändert. Diese Änderung betriff t an zentraler Stelle die Konzipierung von Lebewesen als organisierte und dynamische Systeme. Nicht mehr die beschreibenden Disziplinen der Biologie, etwa die Morphologie, Anatomie oder Systematik, sondern physiologische Untersuchungen, die Organismen als besondere kausale Systeme konzipieren, rücken in den Mittelpunkt der Beschäftigung mit den Lebewesen. Organismen werden nicht mehr verstanden als Ergebnis einer Formung von außen, durch Gott, eine immaterielle Seele oder eine Lebenskraft, sondern vielmehr als Körper, deren Eigenschaften aus einer internen Dynamik bedingt sind und sich auch daraus erklären lassen. Für diese interne Dynamik wird es üblich, die Bezeichnung ›Organisation‹ zu verwenden. Auf eine knappe Formel gebracht, kann man daher sagen: Das Konzept der Organisation tritt an die Stelle der Seele als dem zentralen Lebensprinzip. Belegen lässt sich diese These anhand zahlreicher Autoren: Eine frühe und für die spätere Entwicklung wegweisende Beschreibung von Organismen findet sich bei dem holländischen Physiologen Hermann Boerhaave, dem akademischen Lehrer Albrecht von Hallers. Boerhaave bestimmt einen organischen Körper 1727 als eine gegliederte Einheit, deren Teile Prozesse vollführen, die wechselseitig voneinander abhängen: »harum partium actiones ab invicem dependent«. 43 42 | a.a.O., S. 160. 43 | Boerhaave (1727), S. 3 (Prooemium).

94 | G EORG TOEPFER Richtungsweisend für alles Spätere ist diese Formulierung, weil sie nicht einen einzigen Teil als das Organisationszentrum auszeichnet, sondern das Wesen eines organischen Körpers in der Wechselseitigkeit der Teile sieht. Richtungsweisend ist dies vor allem im Hinblick auf Kants spätere Bestimmung von organisierten Wesen als Naturzwecke, deren Teile wechselseitig voneinander Ursache und Wirkung sind. Vermittelt über Boerhaaves Schüler in Königsberg hatte Kant von den Darstellungen Boerhaaves vermutlich genaue Kenntnis. 44 Aber schon vor Kants einflussreichen Schriften, nämlich Mitte des 18. Jahrhunderts, vollzieht sich die begriffliche Verschiebung, im Rahmen derer der Organisationsbegriff zunehmend dazu verwendet wird, eine innere Dynamik eines Körpers zu beschreiben. In dem Maße, in dem sich diese Entwicklung vollzieht, geht die Anwendung des Ausdrucks auf den Bereich der anorganischen Natur verloren und es etabliert sich die terminologische Unterscheidung zwischen dem Bereich des Anorganischen und des Organischen. So unterscheidet Buffon 1749 klar zwischen einer organisierten Materie (»matière organisée«) auf der einen Seite – dieser entspricht in der Terminologie Buffons die lebende Materie (»matière vivante«)45 – und der rohen Materie (»matière brute«) auf der anderen Seite, die ohne Organisation (»sans organisation«) bestehe. 46 Zu dieser letzteren zählt Buffon – entgegen der älteren Terminologie Bourguets – die Mineralien. ›Organisation‹ selbst stellt für Buffon keine Struktur dar, sondern vielmehr einen Prozess, nämlich den Prozess bei dem die äußeren organischen Moleküle gemäß einer inneren Form (»moule intérieur«) assimiliert werden. Im Prinzip ähnlich sind die begrifflichen Verhältnisse bei Charles Bonnet. Auch Bonnet kennt eine unorganisierte Materie (der »Etres bruts ou in-organisés« 47) und er unterscheidet diese von der organisierten Materie der Lebewesen. Allerdings ist ›Organisation‹ bei Bonnet kein Konzept, das eine prinzipielle Zäsur im Bereich der Natur ermöglicht, sondern vielmehr ein graduierbarer Begriff. Bonnets berühmte Stufenleiter der natürlichen Wesen ist nach seinem eigenen Verständnis im Wesentlichen eine Stufenleiter der Organisation. Prinzipielle Zäsuren weist sie nicht auf, alles ist vielmehr durch eine Verbundenheit zu den Nachbargliedern der Kette charakterisiert. Und daher erwägt Bonnet es auch, bestimmte Steine, die sich aus einzelnen 44 | Vgl. Löw (1980), S. 87. 45 | Buffon (1749), S. 245. 46 | ebd., S. 234. 47 | Bonnet (1764-65), Bd. I , S. 42.

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Schichten oder Fasern zusammensetzen (»les pierres feuilletées« und »fibreuses« 48), als ›organisiert‹ zu bezeichnen. In einer geschickten Wortwahl sagt Bonnet von diesen Steinen, sie wiesen eine apparente Organisation auf – eine Organisation also, die entweder bloß scheinbar oder einfach offensichtlich ist. Weil Bonnet mehr an der Verbindung aller Naturgegenstände als an ihrer Unterscheidung interessiert ist, hält er den unvermittelten Übergang von den Steinen zu den Organismen für einen unglücklichen, der aber nur auf unzureichende Kenntnisse zurückgehe: »la Nature semble faire ici un saut; mais ce saut disparoîtra, sans doute, lorsque nos connoissances auront acquis plus d’étendue & de précision« 49. Auf seinem Wissensstand kann er aber doch den nächsten Paragraphen mit der Auszeichnung der Lebewesen als den einzigen organisierten Festkörpern einleiten: »Les solides organisés se divisent en deux classes générales: celle des Végétaux, & celle des Animaux«.50 Kodifiziert wird die Gegenüberstellung von organischen und anorganischen Körpern bei dem großen Taxonomen des 18. Jahrhunderts, bei Carl von Linné. Bekanntlich nimmt Linné bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts eine Dreiteilung der Gegenstände der Natur in Steine, Pflanzen und Tiere vor. Das allen drei dieser »Reiche« gemeinsame Merkmal ist nach Linné das Wachstum. In der zehnten Auflage seines Hauptwerks, der Systema naturae von 1758, führt Linné dagegen eine Zweiteilung in belebte und unbelebte Naturkörper ein und unterscheidet beide nach der Alternative ›zusammengesetzt‹ (»congesta«) versus ›organisiert‹ (»organisata«).51 In einer anderen Schrift heißt es ausdrücklich, die Steine seien im Gegensatz zu Pflanzen und Tieren keine organischen Körper (»Lapides organica non esse corpora, uti Plantae & Animalia«52). Steine entstehen nach Linné durch bloße Zusammenlagerung der Teile; Pflanzen und Tiere würden dagegen immer aus einem organisierten Samen hervorgehen. Im Laufe der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bildet sich die Auffassung heraus, die Organisation stelle das für Lebewesen charakteristische Merkmal dar; ›Organisation‹ und ›Lebendigkeit‹ können dabei fast zu Synonymen werden. Im Zuge dieser Entwicklung wird die Unterscheidung der Lebewesen von den leblosen Körpern nicht mehr auf einen besonderen Stoff oder eine besondere Kraft zurück48 | ebd., S. 79. 49 | ebd., S. 82. 50 | ebd., S. 83. 51 | Linné (1758-59), Bd. I, S. 6. 52 | Linné (1749/87), S. 9 f.

96 | G EORG TOEPFER geführt, sondern allein auf die besondere Anordnung der Materie. So hält Joseph Needham im Rahmen seiner Untersuchungen zu der Urzeugung fest, dass allein die Kombination (»la combinaison«) von Prinzipien und Kräften das typisch Organische sei. Das Leben könne als Resultat der bloßen Struktur oder als unmittelbare Konsequenz der einfachen Organisation (»conséquence immédiate de la simple organisation«) gedeutet werden.53 Ähnlich heißt es ein halbes Jahrhundert später bei Lamarck, das Leben sei nichts als eine Ordnung der Dinge (»un ordre de choses«) oder ein Zustand von Teilen (»un état des parties«).54 In ähnlicher Weise fasst Diderot den Körper von Organismen, von Pflanzen wie Tieren, als eine Koordination von materiellen Teilen und Kräften. In aller Deutlichkeit erwägt Diderot, die kausale Interaktion von Teilen und Kräften an die Stelle der Seele zu setzen: »L’organisation et la vie, voilà l’âme«55. Diderot hält es für möglich, dass die Seele nichts als das einheitliche Zusammenwirken der Organe darstellt: »L’animal est un tout un, et c’est peut-être cette unité qui constitue l’âme, le soi, la conscience à l’aide de la mémoire«.56 In Konsequenz dieser Bestimmung steht die Auffassung Christoph Girtanners, indem er ausdrücklich behauptet, die Worte ›organisiert‹ und ›lebendig‹ seien Synonyme, die Lebendigkeit also nichts als die Organisiertheit der Materie: »Les mots organisé & vivant sont, selon moi, des synonimes«.57 Prägnant formuliert wird das Resultat der begrifflichen Entwicklung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts auch von Kant. Die »organisierten Wesen der Natur« – das Wort ›Organismus‹ verwendet Kant in seinen zu Lebzeiten erschienenen Schriften nicht – beschreibt Kant 1790 als besondere kausale Einheiten, die sich aus einer eigenen inneren Dynamik heraus bilden. In Abgrenzung von Kunstprodukten analysiert Kant die organisierten Wesen als Naturgegenstände, die nicht von einem planenden Verstand hervorgebracht wurden, sondern sich selbst erzeugen. Jeder Teil wird daher beurteilt als die anderen Teile hervorbringend, also jeder Teil den anderen wechselseitig produzierend. Kant schreibt den Organismen bekanntermaßen, im Anschluss an Blumenbach, eine »bildende Kraft« zu und spricht von »sich selbst

53 | Needham (1750), S. 335; 375. 54 | Lamarck (1801-03), S. 181; vgl. Barsanti (1994), S. 55. 55 | Nach Callot (1965), S. 291. 56 | Diderot (1778), S. 335. 57 | Girtanner (1790), S. 150.

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organisirenden Wesen«58 – und gilt damit vielfach als Begründer des modernen Begriffs der Selbstorganisation. Im Grunde liegt die Pointe der begrifflichen Entwicklung darin, jede Organisation als eine Selbstorganisation zu verstehen: Die organisierten Wesen der Natur, die Lebewesen, haben sich eben aus einer eigenen Dynamik selbst gebildet, sie sind nicht durch eine Einwirkung von außen geformt worden. Unterstützend für diese Konzipierung des Bereichs des Organisierten als des Selbstbezüglichen haben die wiederholten empirischen Widerlegungen der Annahme einer Urzeugung von Lebewesen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gewirkt. Die spontane Entstehung von Lebewesen aus Unbelebtem, also der reale Übergang von dem Nicht-Organisierten zu dem Organisierten erscheint aufgrund zahlreicher Experimente am Ende des 18. Jahrhunderts zumindest als unwahrscheinlich. Und so kann auch Kant formulieren: »Ich meinerseits leite alle Organisation von organischen Wesen (durch Zeugung) ab«;59 und er kann fordern, man müsse »immer irgend eine ursprüngliche Organisation zum Grund legen, […] um andere organisierte Formen hervorzubringen«.60 Das Organische ist damit also auch entwicklungsgeschichtlich als ein abgeschlossener, für sich stehender Bereich charakterisiert: »omnis organisatio ex organisatione«, wie ein Slogan des 20. Jahrhunderts lautet.61 Aufgegriffen und ausgebaut werden die kantischen Bestimmungen zum Organischen von seinen Nachfolgern im Deutschen Idealismus, allen voran von Schelling. In den frühen Schriften Schellings lässt sich zeigen, wie das Konzept der Organisation zur Bezeichnung eines dynamischen Geschehens verstanden wird und als Selbstbezüglichkeit, als Selbstorganisation eines Systems erläutert wird. Das, was er ›Organisation‹ nennt, ist für Schelling in erster Linie ein kausaler Kreislauf. Schelling schreibt in seiner ›Weltseele‹ von 1798: Das Leben aber besteht in einem Kreislauf, in einer Aufeinanderfolge von Processen, die continuirlich in sich selbst zurückkehren, so daß es unmöglich ist anzugeben, welcher Proceß eigentlich das Leben anfache, welcher der frühere, welcher der spätere seye? Jede Organisation ist ein in sich beschloßnes Ganzes, in welchem alles zugleich ist.62 Eine Organisation stellt bei Schelling also einen Kreislauf von 58 | Kant (1790/93), S. 374. 59 | Kant (1788), S. 179. 60 | Kant (1790/93), S. 373. 61 | Weiss (1940), S. 46. 62 | Schelling (1798), S. 237.

98 | G EORG TOEPFER Ursache und Wirkung dar, »eine Succession, die innerhalb gewisser Gränzen eingeschlossen in sich selbst zurückfließt«.63 Mit der Beschreibung der Organisation als kausalen Kreislauf formuliert Schelling das einfachste Modell für eine Wechselseitigkeit von Prozessen im Sinne der kantischen Bestimmung der wechselseitigen Bezogenheit, der Gleichzeitigkeit von Ursache und Wirkung bei den Teilen eines Ganzen (vgl. Abb. 3). Über ein solches zyklisches Muster von Kausalprozessen charakterisiert Schelling die Besonderheit eines biologischen Individuums. Ein Individuum als Organisation stellt eine durch die eigene Interaktion der Teile gebildete Einheit dar. Gerade die kausale Kreisläufigkeit ist in den Augen Schellings die Grundlage für die autonome Abgrenzung eines Organismus als einer Einheit. Von einer solchen Organisation schreibt er: »ihre Einheit liegt in ihr selbst, es hängt nicht von unsrer Willkühr ab, sie als Eines oder als Vieles zu denken«; die individuelle Organisation bilde vielmehr »ein durch sich selbst bestehendes, in sich selbst ganzes, unteilbares Objekt«.64 Der Organisationsbegriff hat hier somit die zentrale Funktion der begründeten Ausgliederung einer Einheit aus den Ketten des kausalen Geschehens der Natur: Die natürlichen organisierten Körper sind die selbstbezüglichen Einheiten aus wechselseitig voneinander abhängigen kausalen Prozessen. Im Rahmen dieser Darstellungen ist Schelling auch einer der ersten, der das Wort ›Organismus‹ nicht mehr allein als abstrakten Ordnungsbegriff im Sinne von ›Organisation‹ verwendet, sondern es gleichzeitig auf konkrete, individuelle Naturkörper bezieht.

4. Organisation und Organismus Die individuellen Organismen sind nach Schelling durch »Gestalt«, »Receptivität« und »Thätigkeit« gekennzeichnet65 – sie weisen also die zentralen Merkmale von konkreten, einzelnen Lebewesen auf. Schelling spricht auch von Organismen als »Subjecten«66 oder von »Universa im kleinen«.67 Bekanntlich wird darüber hinaus der Begriff des Organismus von Schelling auch auf den Kosmos insgesamt bezogen, die universale Interaktion aller Dinge, den »allgemeinen Organismus«, wie Schelling ihn nennt. 63 | a.a.O., S. 69. 64 | Schelling (1797), S. 94 f. 65 | Schelling (1799), S. 123; 125. 66 | ebd., S. 117. 67 | Schelling (1804), S. 301.

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Abb. 3: Einfaches Modell einer Organisation als kausaler Kreislauf. Dargestellt sind Zustände eines Systems (eingekreiste Buchstaben) und Übergänge zwischen diesen (Pfeile). Zwischen den Zuständen des Systems bestehen wechselseitige kausale Abhängigkeiten, insofern von ihnen Wirkungen ausgehen, die vermittelt über andere Zustände auf sie selbst zurückwirken (aus Schlosser 1998, S. 313). Mit den frühen Biologen des 19. Jahrhunderts, mit Kielmeyer, Oken und Burdach, u. a., etabliert sich aber die Verwendung des Ausdrucks ›Organismus‹ zur Bezeichnung individueller Lebewesen. So beschreibt Kielmeyer einen Organismus als etwas, das »Veränderungen« »erfährt, erleidet oder vornimmt«, und diese Veränderungen seien es, die insgesamt »sein Leben ausmachen«.68 Und Oken definiert: »Ein individualer, totaler, in sich geschlossener, durch sich selbst erregter und bewegter Körper, heißt Organismus«;69 oder knapp: »Ein Organismus ist ein Individuum«.70 Bei I.P.V. Troxler heißt es 1804: Der 68 | Kielmeyer [1790/93], S. 21. 69 | Oken (1810), S. 10 (Nr. 817). 70 | ebd., S. 12 (Nr. 831).

100 | G EORG TOEPFER »Organismus ist die Hülle des Lebens«.71 Die eigentliche Durchsetzung des Organismusbegriffs innerhalb der Biologie erfolgt allerdings erst in den 1830er Jahren. Bezeichnend für die spätere Entwicklung ist es, dass ›Organismus‹ genau in dem Maße zu einem spezifisch biologischen Begriff wird, in dem ›Organisation‹ diesen Status verliert. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts sind es fast nur noch Lebewesen, die als ›Organismen‹ bezeichnet werden – wobei es selbst im 20. Jahrhundert noch Ausnahmepositionen gibt, wie die von Whitehead72 oder Lloyd Morgan,73 nach der auch Atome und andere geordnete anorganische Entitäten ›Organismen‹ darstellen. Aber diese Wortverwendungen sind temporäre Erscheinungen, die sich nicht durchsetzen. Parallel zu dieser Bedeutungseinschränkung von ›Organismus‹ erfolgt eine umgekehrte Ausweitung der Bedeutung des Begriffs der Organisation: Besonders seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist es wieder geläufig von der ›Organisation‹ im Bereich des Anorganischen zu sprechen, also von »anorganischen Organisationen«, wie es manchmal heißt. So ist von der Organisation der Atome in einem Eisenblock oder der Organisation des Kohlenstoffs in Graphit und Diamant die Rede.74 Der Begriff der Organisation verliert hier offensichtlich seine Rolle, eine Differenzierung zwischen biologischen und physikalischen Gegenständen zu ermöglichen. Das Lebendige ist nicht mehr das Organisierte schlechthin, sondern allenfalls eine »besonders eigentümliche Organisation«, wie Oskar Hertwig im Jahr 1900 schreibt.75 Diese sprachliche Entdifferenzierung kann als ein Indiz dafür genommen werden, dass das wissenschaftliche Bedürfnis nach Unterscheidung nicht mehr vorliegt, oder anders gesagt: dass die physikalischen Theorien zur Erklärung des Lebens weitgehend erfolgreich waren und die Differenzierung zwischen Physik und Biologie zunehmend ihre Bedeutung verliert. Diese Entwicklung zeigt sich besonders deutlich in den Theorien der Thermodynamik irreversibler Systeme, in denen der Begriff der Selbstorganisation in den letzten 50 Jahren viel eher seinen Ort hatte, als in der Biologie.76 Mit der Verankerung in Physik und Chemie sind die Begriffe ›Organisation‹ und ›Selbst71 | Troxler (1804), S. 5. 72 | Whitehead (1926), S. 47; 98; 129; vgl. Hampe (1990), S. 175. 73 | Lloyd Morgan (1926), S. 143. 74 | Hull (1974), S. 133. 75 | Hertwig (1900), S. 4. 76 | Vgl. z. B. Ashby (1947); Kuhnert/Niedersen (Hg.) (1987); Ortoleva et al. (1987).

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organisation‹ aber unspezifisch und fast nichtssagend geworden – fast so nichtssagend wie der Begriff des Systems. Allein ›Organismus‹ hat sich etwas von der Aura und dem geheimnisvollen Zauber bewahrt, das von einem Wort zu erwarten ist, das wissenschaftsgeschichtlich einmal den Seelenbegriff abgelöst hat. Es ist ein »Zauberwort« geblieben, ein »Pluswort« mit einem positiven Wertaspekt 77 und steht in dieser Hinsicht nicht selten in Opposition zu dem kalten Allerweltswort ›Organisation‹.78 Im Gegensatz zu ›Organismus‹ also, das, verstanden als »Hülle des Lebens«, eng mit dem Lebensbegriff verbunden geblieben ist und wissenschaftlich als Synonym für ›Lebewesen‹ verwendet wird, hat ›Organisation‹ eine umfassende Ausweitung erfahren. Diese zeigt sich heute v. a. in der gleichberechtigten Anwendung auf die Verfassung von biologischen Organismen (und Ökosystemen) und auf die menschliche Gesellschaft. Die Analogie von Organismus und Gesellschaft bildet geradezu ein Musterbeispiel für die Übertragung, Wechselwirkung und Parallelisierung von Konzepten in zwei sachlich getrennten Wissensfeldern. Die Analogiebildung geht bis in die Antike zurück, etwa in der Fabel des Menenius Agrippa, die durch Livius populär wird.79 Im 18. Jahrhundert wird die Parallele von vielen Autoren verwendet, etwa von Rousseau oder Bordeu. Meist steht dabei der Modellcharakter des natürlichen Organismus für den staatlichen im Mittelpunkt. Das Verhältnis der gegenseitigen Unterstützung (die Synergie) der Organe in einem Organismus wird als Vorbild für das menschliche Miteinander empfohlen. Der biologische Organismus wird auf diese Weise zu einem Modell, das die so genannte Arbeitsteilung in der Gesellschaft rechtfertigt und in eine normative Position rückt. Für die Seite der Biologie hat der semantische Bezug den Effekt, dass das Konzept des Organismus eine Distanzierung von einer bloß physikalischen Perspektive erhält; Organismen erscheinen als Ganzheiten, die irgendwie zwischen mechanischen Aggregaten und komplexen sozialen Gefügen stehen. Die Übertragung erfolgt dabei in gleicher Weise von beiden Seiten: So wie der Organismus als ein Modell zur Erläuterung des Wesens der Gesellschaft fungiert, so wird auch die Gesellschaft als Modell zur Deutung des biologischen Organismus herangezogen. Es lässt sich daher nicht sagen, auf welcher

77 | Hennig (1968), S. 376. 78 | Vgl. z. B. Jünger (1960). 79 | Livius, Ab urbe condita, II, 32; vgl. Hale (1973).

102 | G EORG TOEPFER Seite das Modell, die Metapher, und auf welcher Seite die eigentliche Redeweise vorliegt.80 Bemerkenswerterweise wird der Begriff ›Organismus‹, der doch im Bereich der Natur häufig als starker Grenzbegriff verwendet wird, also eine scharfe Zäsur markiert, durch seine Zirkulation zwischen biologischer und sozialer Semantik geradezu zu einem Integrationsbegriff, der eine Verbindung zwischen sehr unterschiedlichen Wissensfeldern herstellt, getrennte Wissensordnungen in Resonanz zueinander bringt. Diese Zirkulation ändert aber doch nichts daran, dass ›Organismus‹ immer noch als der zentrale Grundbegriff der Biologie gilt. Knapp zusammengefasst ergibt sich damit folgendes Bild für die Begriffsgeschichte von ›Organisation‹ und ›Organismus‹ im Bereich der Biologie: 1. Ausdrücke aus dem Umfeld von ›Organ‹ und ›organisch‹ stehen seit der Antike in einem besonderen Zusammenhang zu den Phänomenen der Lebewesen. 2. Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts etabliert sich ›Organisation‹ als ein Konzept, das sich auf besondere Ordnungsformen von in sich gegliederten materiellen Körpern, seien es Steine oder Lebewesen, bezieht. 3. Zu einem Kennwort der organischen Welt wird ›Organisation‹ seit der Mitte des 18. Jahrhunderts. Der Ausdruck entwickelt sich zu einem Grenzbegriff, über den eine Differenzierung zwischen dem Bereich des Belebten und dem des Leblosen markiert wird. In dieser Rolle übernimmt er die traditionelle Funktion des Begriffs der Seele. Zentral für das Verständnis des Begriffs wird die Konzipierung von ›Organisation‹ als eine kausale Wechselseitigkeit von Teilen, über die die autonome Einheit und Individualität eines lebenden Wesens begründet wird. 4. Der Ausdruck ›Organismus‹ wird anfangs, d. h. seit seiner Einführung durch Stahl im Jahr 1684 bis zum Ende des 18. Jahrhunderts weitgehend gleichbedeutend mit ›Organisation‹ verwendet. Erst danach beginnt er sich als Fachterminus für ›Lebewesen‹ im Bereich der Biologie zu etablieren. 5. Im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts wird die Gleichsetzung von ›Organisation‹ und ›Lebendigkeit‹ aufgehoben. Nicht mehr ›Organisation‹, sondern nur noch ›Organismus‹ bildet ein Kennwort für den Bereich des Lebendigen. Über das im eigentlichen Sinne 80 | Vgl. Canguilhem (2000), S. 1937.

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Lebendige hinaus werden auch andere organisierte Systeme, wie menschlichen Gesellschaften oder die Sprache, als ›Organismus‹ beschrieben.

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Das ›Treibhaus‹ als Metapher für eine widernatürliche Erziehung im Kontex t der sich im 18. Jahrhunder t herausbildenden Pädagogik als Wissenschaf t Kristin Heinze

In der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts kam es zum Aufleben der Treibhauskultur und einer Verbreitung von Treib- bzw. Glashäusern in ganz Europa. Diese Entwicklung beruht vor allem auf technischen Innovationen, die neue Möglichkeiten in Bezug auf die Beheizung und die Verglasung von Treibhäusern eröff neten,1 und auf Veränderungen hinsichtlich der Gartenkunst. Für die Gartenarchitektur des Barockgartens waren Treibhäuser vorwiegend für die Kultivierung von Zitruspflanzen wichtig. Eine weitaus größere Bedeutung gewannen Treibhäuser hingegen für die um 1750 entstehenden »Englischen Landschaftsgärten«, in die nach der damaligen Mode auch zahlreiche exotische Pflanzen und Bäume integriert wurden.2 Die Treibhauskultur fand jedoch eine zwiespältige Aufnahme. Diese Ambivalenz, die sich in der suggestiven Treibhaus-Metapher widerspiegelt, resultiert aus der divergierenden Beurteilung von Naturbeherrschung und künstlich getriebenen Gewächsen. Auf der einen Seite wird mit Treibhäusern der Traum verbunden, Pflanzen zu züchten, deren Aufzucht im Freiraum aufgrund der für sie schädlichen Witterung nicht möglich wäre. Das Treibhaus soll damit die Pflanzen 1 | Vgl. Kohlmaier, Sartry (1981), S. 80. 2 | Vgl. Gothein (1977) [1913], S. 376.

108 | K RISTIN H EINZE sowohl schützen als auch die ersehnte wissenschaftliche Beobachtung und Kontrolle von Naturprozessen gestatten und ferner die Gelegenheit bieten, fremdartige Pflanzen und deren Schönheit zu entdecken. Auf der anderen Seite zeigen sich Befürchtungen hinsichtlich der Wirkungen, die von den künstlich gezüchteten, schönen, wild wuchernden und oftmals giftigen Pflanzen ausgehen – Furcht vor Verfall, Entartung und Dekadenz, da im Treibhaus in künstlicher Atmosphäre empfindliche, witterungsanfällige Gewächse herangezogen werden.3 Treibhäuser wecken somit nicht nur Sehnsüchte, Wünsche und Phantasien, sondern sie schüren auch die Ängste der Menschen vor den Auswirkungen einer manipulierten Natur. Die bildliche Verwendung des Wortes Treibhaus (vereinzelt auch Triebhaus4) wurde in die sich im 18. Jahrhundert entwickelnde pädagogische Fachlexikographie aufgenommen.5 Es wird in negativer Konnotation mit der Vorstellung einer unnatürlichen, die Reifeprozesse forcierenden Wärme des Treibhauses sowie einer Minderbewertung getriebener Gewächse verbunden6 und soll das Gefährdungspotential einer vorgreifenden Erziehung verdeutlichen.7 Die Entwicklung der Treibhaus-Metapher vollzog sich in Anlehnung an die im 18. Jahrhundert in der botanischen Fachsprache geläufige Semantik von »Trieb im Sinne eines organischen Treibens« bzw. das Wachstum einer Pflanze oder die treibende Kraft in einer Pflanze sowie – mit Bezug auf das Produkt des Treibens – die Bedeutung von Trieb als (durch Treiben hervorgebrachter) Spross.8 3 | Vgl. Bauer (1979), S. 5. 4 | Vgl. Grimm, Grimm (1952), S. 84. 5 | Vgl. zu den Anfängen der pädagogischen Fachlexikographie Heinze

(2008). 6 | Vgl. Grimm, Grimm (1952), S. 84ff. 7 | Als erster Beleg für die im 18. Jahrhundert gern verwendete Metapher wird im Grimmschen Wörterbuch der von Thomas Abbt verfasste 215. Literaturbrief (1762) aus den Briefen, die neueste Literatur betreffend (hg. v. Gotthold Ephraim Lessing, Moses Mendelssohn, Friedrich Nicolai) angegeben (vgl. Grimm, Grimm (1952), S. 84). Heute wird das metaphorische Potential der Bezeichnung Treibhaus v. a. mit Bezug auf den Diskurs über den globalen Klimawandel gebraucht. Gleichwohl wird die Treibhaus-Metapher auch noch in der pädagogischen Fachsprache verwendet, und zwar sowohl mit negativer (vgl. Domke (1991), S. 90) als auch positiver Konnotation (vgl. den 2004 veröffentlichten Film von Reinhard Kahl mit dem Titel: »Treibhäuser der Zukunft. Wie in Deutschland Schulen gelingen.«). 8 | Vgl. Grimm, Grimm (1952), S. 440, 444.

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Wie der Historiker Alexander Demandt feststellen konnte, kommt es häufig zu Überschneidungen und zur gegenseitigen Belebung von Bildfeldern aus der organischen Natur und der Technik.9 Die Treibhaus-Metapher stellt eine sich aus diesen beiden Bildspendern speisende Metapher dar. Während die »organischen Metaphern« Ausdruck der Naturnotwendigkeit menschlichen Handelns sind, liefern die Metaphern der Technik Sprach- und Denkbilder der von dem Menschen beherrschten und geformten Natur.10 Der Zusammenhang zwischen den Bildspendern Botanik und Technik liegt demnach darin, dass das Treibhaus unter technischem Interesse steht mit dem Ziel, Naturphänomene zu beobachten und die Natur verfügbar zu machen. Über die Botanik wiederum gelangt die Treibhaus-Metapher in die pädagogische Fachsprache, in die bereits seit der Antike Ausdrücke aus der organischen Natur einfließen, so z. B. ›veredeln‹ oder ›hervorziehen‹.11 Die Ambivalenz der Treibhaus-Metapher und ihre Bedeutung im pädagogischen Diskurs werden u. a. am Beispiel der Titelvignette im dritten Teil von August Hermann Niemeyers Grundsätzen der Erziehung und des Unterrichts von 1806 deutlich, einem Werk, das in der damaligen Zeit eine große Beachtung fand.12 Im Zentrum des Bildes befinden sich zwei Mädchen, von denen das eine ihren Blick begehrlich auf die natürlich gewachsenen Früchte richtet und nach diesen greift. Das andere hingegen will, die Gefährtin am Arm mit sich ziehend, diese von dem Genuss der Früchte abhalten und strebt dem im Hintergrund des Bildes befindlichen, einladend geöff neten Treibhaus zu.

9 | Vgl. Demandt (1978), S. 17, 426. 10 | Vgl. ebd., S. 271. 11 | Vgl. Kersting (1992), S. 176f.; Demandt (1978), S. 17. Demandt verweist darauf, dass »metaphorische Übertragungen von Erscheinungen der Natur zu allen Zeiten gleichermaßen beliebt« gewesen sind, auch wenn sie »nicht immer auf denselben Voraussetzungen« beruhen (ebd.). 12 | Die erste Auflage erschien 1796 in einem Band. Im gleichen Jahr wurde bereits die 2. Auflage des Werkes und 1799 dann eine vermehrte, dritte Auflage in 2 Bänden gedruckt. 1801 folgt die vierte und 1806 die fünfte Auflage. Letztere wurde durch einen dritten Teil mit Nachträgen erweitert, in dem auch die beschriebene Titelvignette zu finden ist. Danach erscheinen bis zu Niemeyers Tod noch vier weitere Auflagen (1810, 1818, 1824, 1827).

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Abb.: Niemeyer 1806, Titelvignette In diesem Beitrag soll die diskursive Verwendung der TreibhausMetapher in der sich Ende des 18. Jahrhunderts entwickelnden pädagogischen Fachlexikographie verfolgt werden. Hierbei wird von der These ausgegangen, dass die Treibhaus-Metapher eine erhebliche Funktion für die Entwicklung und Etablierung der pädagogischen Fachsprache hat, da sie komplexe erziehungstheoretische Konzepte veranschaulicht und dadurch deren Verständnis erleichtert. Zudem hat die Treibhaus-Metapher eine diskursstrukturierende Funktion, was sich anhand der ersten pädagogischen Fachlexika verdeutlichen lässt. Zunächst soll in einem ersten Abschnitt auf die Bedeutung der Fachlexikographie und das Verhältnis zwischen Metapher und Wissenschaftssprache im 18. Jahrhundert eingegangen werden. Daran anschließend wird im zweiten Abschnitt die Treibhaus-Metapher am Beispiel der 1797 erschienenen Pädagogischen Encyclopädie von Gottfried Immanuel Wenzel thematisiert. Ein Ausblick auf den Gebrauch der Treibhaus-Metapher im 19. Jahrhundert, dargestellt am Beispiel des 1841-42 erschienenen Universal-Lexikons von Matthäus Cornelius Münch, beschließt die Ausführungen.

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1. Die Bedeutung der Fachlexikographie für die Analyse von Fachtermini und das Verhältnis z wischen Metapher und Wissenschaf tssprache im 18. Jahrhunder t Dem Grundgedanken der Auf klärung entsprach die zunehmende Ersetzung der lateinisch-griechischen Terminologien durch fachbezogene Wortschätze in den verschiedenen Nationalsprachen, wobei sich die Entwicklung zu volkssprachlichen Formen in Deutschland infolge des 30jährigen Krieges im Vergleich zu anderen europäischen Nationalsprachen relativ spät vollzog.13 Überdies erschienen vermehrt Fachlexika, wissenschaftliche Wörterbücher und Enzyklopädien. Damit erfahren fachbezogene Wortschätze bzw. »Kunstwörter« nicht zuletzt über die lexikographischen Werke der Spätaufklärung eine zunehmende Etablierung und Popularisierung.14 Der normative und kollektive Charakter von Lexika macht diese für allgemeine Aussagen über die fachliche bzw. auch gesellschaftliche Geltung des hier vermittelten Wissens attraktiv.15 »[I]n den meisten Fällen [beginnen Lexika] eine sich langsam entwickelnde Serie«, d. h. die jeweils neuen Systematiken kopieren einerseits bestimmte ältere Aussagen, gleichzeitig werden aber neue Bedeutungen aufgenommen und somit »mehrere temporale Schichten« gebildet.16 Die Analyse der spezifischen Wissensstruktur der Lexika – ihrer »Leerstellen« und »Ordnungskriterien« – ermöglicht daher »diachron-hermeneutische Einsichten in die Wissens- und Sprachgeschichte sowie in deren prägende Funktion für die Fachsprachen (insbesondere die Metaphorik) und die fachlichen Sichtweisen bis in die Jetztzeit«.17 Da in die Fachlexika die »konsolidierten Gebiete einer Disziplin Eingang [finden]« und die Lemmata dahinterstehende, oft weitertradierte Zusammenhänge einbeziehen, lässt sich nicht nur die »kognitive Gestalt einer Disziplin [...] erfassen«,18 sondern die Analyse der 13 | Vgl. Klein (1998), S. 1920. Für den gesamteuropäischen Kontext der wissenschaftlichen Wörterbücher im 18. Jahrhundert liegen noch keine breiter angelegten fachsprachenhistorischen bzw. kontrastiven Studien vor (vgl. ebd.). 14 | Vgl. Roelcke (1998), S. 2427. 15 | Vgl. Reichardt (1985), S. 86f.; Schlieben-Lange (1985), S. 150; Lenzen, Rost (1998), S. 2013; Herzog (2005), S. 676. 16 | Koselleck (2002), S. 46. 17 | Kalverkämper (1998), S. 16. 18 | Herzog (2005), S. 676.

112 | K RISTIN H EINZE Wissens- und Kenntnissysteme bietet zugleich Aufschlüsse über die Herausbildung und die Entwicklung der Pädagogik als Wissenschaft. Die Frage nach der Möglichkeit der Pädagogik als wissenschaftliche Disziplin wird zunehmend im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts gestellt.19 So wirbt bspw. Carl Daniel Küster in seinem 1774 erschienenen Sittlichen Erziehungs-Lexicon, dem ersten deutschsprachigen pädagogischen Fachlexikon, für die Profi lierung der Pädagogik als Wissenschaft, weshalb der »Erziehungs-Kunst« s. E. »eine eigene Classe« oder »Societät« unter besonderer Berücksichtigung der regionalen Bedingungen des jeweiligen Landes oder der Provinz zu widmen ist.20 Die Entwicklung der neuzeitlichen Wissenschaft steht zugleich im Kontext einer umfassenden Kritik der »bildlichen Sprache«, die aufgrund ihrer Ungenauigkeit den Anforderungen einer klaren und differenzierten Naturerkenntnis nicht entspricht.21 Trotz des in der Aufklärung angestrebten Ideals eines cartesianischen Rationalismus, der die Metapher als ersetzbar und »irrational« bekämpft, ist die sich herausbildende Wissenschaftssprache von Metaphern geprägt bzw. metaphorische Prozesse sind notwendig konstitutiv für wissenschaftliche Erkenntnisse, da Metaphern wissenschaftliche Vorstellungen strukturieren und damit Orientierung und Verstehen bewirken.22 Wissenschaftliche Sprache wird damit nicht als ein »System fi xierter Bedeutungen mit davon abweichenden metaphorischen Übertragungen« verstanden, sondern als ein »vernetztes System von semantischen Feldern und einzelnen Termen mit mehr oder weniger habitualisierten Bedeutungen«, die v. a. von der jeweiligen Gebrauchsperspektive abhängig sind.23 Für die Wissenschaftssprache der Pädagogik mit ihren Referenzpunkten von Theorie und Praxis ist ferner festzustellen, dass sie in besonderer Weise »an pragmatische Erfahrungsbereiche mit existentieller Bedeutung zurückgebunden« und durch die Wiederkehr jener »Topoi« gekennzeichnet ist, »die sich besonders gut für die Erzeugung und Bearbeitung von pädagogischen Erwartungen eignen«.24 Um die Differenz zwischen lebensweltlich-konkreter und wissenschaftlich abstrakter Erfahrung überbrücken und miteinander verknüpfen zu können, werden für die pädagogische Fachsprache deshalb vor allem 19 | Vgl. Tenorth (2004), S. 341ff. 20 | Küster (1774), Art. Societäten, S. 142. 21 | Vgl. White (1991), S. 76. 22 | Vgl. Debatin (1995), S. 30. 23 | Ebd., S. 322. 24 | Oelkers (1995), S. 17.

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die Leistungen der Metapher, die Komplexität theoretischer Konzepte zu reduzieren und jene zu veranschaulichen, genutzt. Der Gebrauch von Metaphern ist mithin nicht nur als Erfahrungs-, sondern auch als Kommunikationsmedium für die Pädagogik von großer Bedeutung.25 Daneben ist für die hier untersuchten pädagogischen Wörterbücher die appelativ-argumentative Funktion von Metaphern interessant, da gerade die Autoren der ersten pädagogischen Fachlexika den Anspruch haben, mit dem enzyklopädischen Wissen zugleich ein Handlungswissen bzw. Handlungsfolgewissen zu vermitteln.26 In Bezug auf die Frage nach der Funktion der Treibhaus-Metapher im pädagogischen Diskurs wird auf die von Richard Boyd (1979) vorgenommene Unterscheidung zwischen theoriekonstitutiver Metapher und exegetischer bzw. pädagogischer Metapher zurückgegriffen. Nach Boyd zeichnen sich theoriekonstitutive Metaphern dadurch aus, dass sie »innerhalb der ›linguistischen Maschinerie‹ einer wissenschaftlichen Theorie eine unersetzliche Rolle spielen«, d. h. sie sind Ausdruck einer bestimmten Theoriekonstruktion, stehen meist am Anfang einer neuen Theorie bzw. bilden deren Grundlage und Rahmen und lassen sich nicht substituieren.27 Diese Funktion hat die Treibhaus-Metapher nur bedingt, da sie durch wörtliche Paraphrasen ersetzbar wäre, wenngleich mit der Metapher zusammenhängende Erfahrungsbereiche damit entfallen würden. Die Verwendung der Treibhaus-Metapher in der pädagogischen Fachlexikographie vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts dient eher der Erklärung bzw. dem Verstehen an sich disparater Theorien, indem eine widernatürliche bzw. säkularisierte Erziehung und deren Folgen veranschaulicht werden. Gleichwohl trägt die Treibhaus-Metapher mit ihrem evokativen Potential ganz entscheidend die pädagogische Theorie und Praxis, denn sie soll ähnlich wie politische Metaphern überzeugen und Handlungen auslösen.28

25 | Vgl. Keiner (1999), S. 59; Oelkers (1991), S. 111. 26 | Die Rezipienten werden dabei direkt angesprochen (vgl. die vollständigen Titel der Lexika von Küster (1774), Wenzel (1797), Wörle (1835) und Münch (1841-1842) im Literaturverzeichnis). 27 | Debatin (1995), S. 144. 28 | Vgl. Rigotti (1994), S. 18.

114 | K RISTIN H EINZE

2. Die Treibhaus-Metapher am Beispiel der Pädagogischen Encyclopädie von Gottfried Immanuel Wenzel (1797) In dem ersten pädagogischen Fachlexikon, dem bereits erwähnten Sittlichen Erziehungs-Lexicon von Küster, wird die Treibhaus-Metapher noch nicht gebraucht. Hier vergleicht der Autor die Tätigkeit des Erziehers lediglich mit der des Gärtners und bezeichnet die »Erziehung der Jugend« als »eine der wichtigsten und schwersten Beschäftigungen«.29 Die 1797 veröffentlichte Pädagogische Encyclopädie von Wenzel verzeichnet hingegen die Treibhaus-Metapher im Artikel Natur – eine Einbettung, die der von Demandt festgestellten Überschneidung der genannten Bildfelder entspricht. Die Verwendung der Metapher soll im Folgenden im Kontext von Wenzels Erziehungskonzept dargestellt werden. Sich auf die Anschauung Jean-Jacques Rousseaus zur moralischen Anlage des Menschen beziehend, ergibt sich für Wenzel die Notwendigkeit der Erziehung des Menschen nicht daraus, dass der Mensch verdorben und sündig ist, denn Wenzel geht davon aus, dass der außerhalb der Welt stehende Schöpfer die Natur des Menschen gut geschaffen hat.30 Wenzel sieht die Begründung vielmehr darin, dass das friedliche Zusammenleben der Menschen Moralität erfordert, da für ihn die Soziabilität zum Sein des Menschen gehört und für die Vervollkommnung der Menschheit notwendig ist.31 Mit dem Verwerfen des Dogmas der Erbsünde und der Verpflichtung der Erziehung auf die gute Natur des Kindes ist »im Gegenzug die Anstrengung der Erziehung« zu verstärken, folglich wird die Erziehung einer »gesteigerten Wirkungserwartung« ausgesetzt (vgl. Oelkers 2004, 79f., 85). In Anlehnung an die Auffassung Claude Adrien Helvétius‘ ist für Wenzel daher »[a]llgemein genommen [...] alles Erziehung, was [...] Unterricht zu geben im Stande ist«.32 Nur über 29 | Küster (1774), Vorrede, S. If. 30 | Vgl. Wenzel (1781-82), Bd. 1, 1/VI, S. 37ff.; vgl. Rousseau (1998) [1762], 9: »Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen des Menschen.« 31 | Vgl. Wenzel (1797), Art. Politik, S. 283. 32 | Wenzel (1781-82), Bd. 3, 2/IX, S. 66; vgl. Helvétius (1774), S. 4. Helvétius stellte sich in seinem Werk: De l’homme, de ses facultés intellectuelles et de son éducation (1772) die Frage, ob die Fähigkeiten und moralischen Vorzüge eines Individuums die Folgen seiner physischen Beschaffenheit, also angeboren, oder die seiner Erziehung, mithin erworben, sind und ge-

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Erziehung, die sich aus der geistigen und der körperlichen Erziehung zusammensetzt, ist es nach Wenzel also möglich, »glückliche Menschen« zu bilden, und der Gesellschaft »brauchbare Glieder [zu geben]; wo hingegen eine schlechte Erziehung den Menschen verderbt, und der Gesellschaft elende Glieder liefert«.33 Wenzel füllt mit dem Rückgriff auf Helvétius die Leerstellen, die s. E. Rousseau mit seiner »éducation négative« sowie der Vernachlässigung gesellschaftlicher Bindungen gelassen hatte,34 und geht insofern von einer positiven erzieherischen Wirkung des »geselligen« Lebens aus.35 Laut Wenzel »verlässet« Rousseau in seinem pädagogischen Entwurf die »Mittelstrasse, und die Menschen würden durch ihn [Rousseau, KH] in die vorige Dummheit verfallen. Denn wie die Menschen von Natur ohne eine vernünftige Erziehung gerathen, zeigen die in den Wäldern gefundenen Thiere in menschlicher Gestalt«.36 Bezogen allerdings auf das Kindheitsbild und eine naturgemäße Entwicklung des Kindes,37 nimmt Wenzel Rousseaus Ideen vorbehaltlich seiner kulturkritischen Voraussetzungen und gesellschaftspolitischen Konsequenzen auf und versteht unter Erziehung die »Wissen-

langte zu der These, dass der Mensch nichts als das Produkt seiner Erziehung ist (vgl. Voegelin, Leuschner (1968), S. 68; Tucek (1987), S. 278f., 336). Für den moralischen Charakter sind somit die äußeren, auch zufälligen Einflüsse entscheidend, die sich der einzelne subjektiv kraft seines sinnlichen Empfindungsvermögens erschließt (vgl. Voegelin, Leuschner (1968), S. 76; Tucek (1987), S. 279; Oelkers (2004), S. 85-89). Ungeachtet aber dessen, dass Wenzel auf die empirisch-materialistische Pädagogik Helvétius’ zurückgreift, folgt Wenzel dessen Lehre, dass der Mensch als weder gut noch als böse anzunehmen sei, nicht, sondern schließt sich Rousseau an, der die »Logik in der Natur« studiert habe und damit »wahr« sei (Wenzel (1781-82), Bd. 1, 1/VI, S. 38). 33 | Wenzel (1797): Art. Erziehung, die, S. 151; vgl. auch ebd., Art. Erzieher, der, 150; Art. Jung gewohnt, alt gethan, 191f.; Art. Wärterinnen, 402f.; Art. Amme, 37f. 34 | Das Konzept der »éducation négative« kann nach Wenzel nur hinsichtlich der ersten Erziehung angewendet werden, d. h. bezogen auf das Säuglingsalter (vgl. z. B. Wenzel (1781-82), Bd. 1, 2/VI, 3/VI; vgl. Rousseau (1998) [1762], S. 72). 35 | Vgl. Heinze (2008), S. 117. 36 | Wenzel (1797), Art. Politik, S. 282; vgl. auch ebd., Art. Gehorsam, S. 164f. 37 | Vgl. Berg (2004), S. 499.

116 | K RISTIN H EINZE schaft, die nicht verderbte Natur zum Guten zu entwickeln«:38 »Erhalte den Menschen gut, und verderbe Gottes Werk nicht – das heißt Erziehen«.39 Nicht verbessert werden soll also die von Gott »gut« geschaffene Natur des Menschen – »von Plutarch bis Basedof hats keiner noch gethan«, und »auch wird sie’s nicht thun, die kommende Menschheit« –, sondern sie soll »gut erhalten werden«. 40 In diesem Zusammenhang ist auch auf die Veränderung des Verständnisses von Kindheit zu verweisen. Kindheit wird nun als eigenständige Phase des Menschseins wahrgenommen und nicht mehr mit Unvollkommenheit gleichgesetzt. 41 Dieses Kindheitsbild, das das Eigenrecht des Kindes auf seine spezifische Natur berücksichtigt, wurde insbesondere durch Rousseau herausgestellt und befördert. 42 In Korrespondenz zu den unzähligen, neuartigen Reisebeschreibungen und zur Kritik an den durch die Zivilisation hervorgebrachten eigenen, von Schlechtigkeit und Verderbnis geprägten Verhältnissen entstand der Mythos vom arkadischen Zustand der »Wilden« bzw. vom »Goldenen Zeitalter«, den Rousseau auf die Kindheit übertrug. 43 In einem »fi ktiven, nicht als präskriptive Norm nachzuvollziehenden Erziehungsprozess« avancierte Kindheit schließlich zu einem gesellschaftlichen Projekt, das sowohl die Vervollkommnung des Menschen als auch die der Gesellschaft erreichen sollte, indem die Erziehung auf die »Natur des Kindes« verpflichtet wurde. 44 Rousseau lieferte zu der Vorstellung der französischen Materialisten, dass der Mensch wie eine Maschine konstruiert sei, insofern ein »Gegenmodell«, als er einen »Begriff von ›Natur‹ anlegte«, der nicht mechanisch ist, sondern sich »zunächst auf die inneren Dispositionen des Menschen [bezieht], die als eigenmächtige, jedoch nicht determinierende Potentiale gedacht werden«. 45 Auf dieser »Natur in uns« basiert Rousseau zufolge Menschlichkeit als Voraussetzung einer idealen Gesellschaft. Die »éducation de la nature« ist aber nur eine von den 38 | Wenzel (1797), Art. Erziehung, die, S. 151. 39 | Ders. (1781-82), Bd. 1, 1/VI, S. 39. 40 | Ebd., 37f. 41 | Vgl. Lassahn (1983), S. 35; Berg (2004), S. 498f. 42 | Vgl. Berg (2004), S. 499. In dieser Untersuchung kann lediglich die kulturell geprägte Auffassung vom Kind, d. h. die Konstruktion von Kindheit, Berücksichtigung finden (vgl. dazu ebd., 498). Vgl. zur Kindheit als soziale Tatsache u. a. die weiterführende Literatur bei Honig 1999, 2002. 43 | Vgl. Lassahn (1983), S. 37. 44 | Vgl. Berg (2004), S. 499. 45 | Oelkers (1989), S. 16.

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drei Erziehungsformen, deren harmonische Ergänzung lediglich im Idealfall und nicht in der Realität erreicht werden kann. Da das Kind nur dann zum Menschen werden kann, wenn die Natur im Kind die Richtschnur für die Erziehung abgibt, ist seine Erziehung allein auf diese Weise möglich. 46 Die Forderung Rousseaus, dass das Ziel der Erziehung die Natur selbst sein solle, 47 ließ indes Fragen offen. So stellte sich der 1776 im Dessauer Philanthropin 48 wirkende Pädagoge und Sprachforscher Joachim Heinrich Campe in seinem Kommentar zum Émile die Frage, was denn nun das Ziel der Natur sei, da der Begriff Natur von Rousseau in mehreren Bedeutungen gebraucht werde und dieser zum einen die »innere Entwicklung unserer Kräfte« bezeichne, zweitens die »Erziehung des Menschen, da man ihn bloß zum Menschen und nicht zum Bürger zu bilden sucht« und drittens »diejenige Erziehungsart des Menschen und des Bürgers, welche den Anlagen, Kräften und wesentlichen Trieben der menschlichen Natur angemessen ist«. 49 In Anbetracht der Vagheit der obersten pädagogischen Zielformulierung gehen Campe sowie die Philanthropen Ernst Christian Trapp und Gabriel Resewitz davon aus, dass »man nun mit Recht die Zeichnung des guten Ideals der Erziehung [hätte] erwarten können«, schränken diese Aussage aber dahingehend ein, dass die Bestimmung des Ideals nur dann zu erhoffen gewesen wäre, »wenn R.[ousseau] ein System [der Erziehung] geschrieben hätte«.50 Ihnen sei jedoch klar gewesen, dass Rousseau »weder anfänglich noch nachher, als ihm das Werk unter den Händen wuchs, ein System der Erziehung, sondern nur eine Sammlung von pädagogischen Beobachtungen und Reflexionen liefern wollte«.51 In seiner Pädagogischen Encyclopädie dringt Wenzel, der Rousseau46 | Vgl. ebd., S. 17ff. 47 | Rousseau (1998) [1762], S. 11. 48 | Basedow gründete 1774 zusammen mit anderen Philanthropen das Dessauer Philanthropin (vgl. Schmitt (2007)). 49 | Anmerkungen (1979) [1789], S. 39. Die hier angedeuteten unterschiedlichen Verwendungen des Begriffs Natur korrespondieren mit den drei Formen der Erziehung des Émile, so dass »die éducation de la natur für die Entwicklung der inneren Fähigkeiten steht, die éducation des hommes für das einfache Leben auf dem Lande oder die Erfahrung unverdorbener, ursprünglicher Natürlichkeit und die éducation des choses für die Schule der umgebenden Natur, also die Erkenntnis ihrer Rhythmen, Gesetze und Gleichförmigkeiten« (Oelkers (1989), S. 18). 50 | Anmerkungen (1979) [1789], S. 43. 51 | Ebd., S. 5.

118 | K RISTIN H EINZE schen Forderung genügend, dass Kinder zunächst Kinder sein müssen, ehe sie Männer werden,52 auf die Beachtung einer der körperlichen und geistigen Natur des Kindes gemäßen, stetigen, keine Stufe überspringenden Entwicklung und grenzt sich gegen eine widernatürliche, die natürlichen kindlichen Anlagen und Fähigkeiten nicht beachtende und dem Entwicklungsgang des Kindes vorgreifende Erziehung ab.53 Unter Verwendung der für die Aufklärungspädagogik typischen Pflanzenmetaphorik empfiehlt er allen Vätern, Müttern und Erziehern, »in dem erhabenen Werke der Menschenbildung«, der »Bildung der [...] Menschenkeime und Menschensprossen«, »der lieben, guten, sanften Natur« zu vertrauen, an sie zu glauben und ihr »treu zu bleiben«, da sie die einzige »Lehrerinn [sic]« sei, deren Leitung sie sich »ohne Furcht, ohne Mißtrauen, ohne Zweifel und Bangigkeit« anvertrauen könnten.54 Die Natur »verbessern« heiße hingegen, sie zu »verhunzen«.55 So wendet sich Rousseau selbst in seinem Briefroman Nouvelle Héloïse (1988) [1761] gegen die Züchtung »exotische[r] Gewächse und Pflanzen, wie sie in Indien wachsen«,56 und gegen die geometrischen Formen der Gartenarchitektur des Barock, die zum Inbegriff des Künstlichen wurde.57 Er wirbt stattdessen für das Anlegen eines Wildnisgartens mit »einheimischen« Pflanzen, in dem die Natur alles getan hat, aber unter Anleitung.58 Die Erziehung des Kindes wird demnach mit einer »sensiblen Botanik« gegenüber der »rohen Beschneidung« von Pflanzen verbunden sowie mit der »Konzeption eines weitläufigen und doch geschützten Erziehungsraumes«.59 Die Gefährdung des Kindes veranschaulicht Wenzel in der als Kontrastfolie zu einer naturgemäßen Erziehung eingesetzten Treibhaus-Metapher und vergleicht eine der naturgemäßen Entwicklung des Kindes vorgreifende Erziehung mit dem widernatürlichen Lebensraum Treibhaus, in dem den Pflanzen zwar frühzeitig Früchte abgetrotzt werden können, aber doch nur wertlose. An der »durch erborgte 52 | Vgl. Rousseau (1998) [1762], S. 69. 53 | Vgl. Wenzel (1797), Art. Natur, die, 269f. 54 | Ebd.; vgl. Rousseau (1998) [1762], S. 6. 55 | Wenzel (1797), Art. Natur, die, S. 272; vgl. auch ders. (1781-82), Bd.1, 1/VI, S. 38 (hier bezieht sich Wenzel gleichfalls auf Rousseaus Émile; vgl. Rousseau (1998) [1762], S. 211). 56 | Rousseau (1988) [1761], S. 493. 57 | Vgl. Oelkers (1993), S. 634. 58 | Rousseau (1988) [1761], S. 493. 59 | Oelkers (1993), S. 635f.

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Kraft des Treibhauses widernatürlich früher entwickelten Frucht« solle der Erzieher sich überzeugen, dass jene »eben darum nichts tauge, und gebohren [sic] werde, um sogleich zu sterben«, und daraus die Lehre ziehen, »daß das Kind – Kind, der Knabe – Knabe, das Mädchen – Mädchen eine Zeitlang seyn müssen, bevor sie das werden können, was sie ihrer Bestimmung nach seyn sollen – ausgebildete Menschen, – ausgereifte Menschenfrüchte«.60 Auch Campe erinnerte daran, »daß die Kinder Kinder sind und als solche behandelt werden sollten«.61 Zur Rechtfertigung eines der Natur des Kindes angemessenen und dessen naturgemäße Entfaltung unterstützenden Erziehungskonzeptes verweist er auf die Gefahren einer unverständigen, verantwortungslosen und nachlässigen Aufzucht der »Menschenpflanzen«. Um »Früchte« auszubilden, benötigten diese zwar das geschickte, wachstumsunterstützende Eingreifen des Erziehers, jedoch dürfe ihnen der Ertrag nicht durch den Einsatz künstlicher, beschleunigender Wachstums-Mittel bzw. den gewaltsamen Eingriff in natürliche Wachstumsprozesse »abgepresst« werden: Man hat also hie und da angefangen mit Gewalt aus den Kindern zu erzwingen, was man durch Geschicklichkeit aus ihnen herauszulocken entweder nicht recht verstand, oder nicht Lust hatte; die Lehrzimmer wurden in Treibhäuser verwandelt, um den jungen Menschenpfl anzen diejenigen Früchte, deren Wachsthum durch eine sorgfältige Wartung nur befördert werden sollte, durch unnatürliche treibende Mittel gewaltsam abzupressen; und so ist es denn dahin gekommen, daß viele Kinder jetzt vielleicht noch ärger als vor Zeiten, nur auf eine etwas veränderte, und wenn man will, etwas verfeinerte Weise, gequält und ausgemergelt werden.62

Wenzel geht davon aus, dass für eine naturgemäße Entwicklung zunächst dem Körper »hinlängliche Festigkeit« verschaff t werden müsse, bevor mit der eigentlichen Ausbildung der ihn bewohnenden Seele zu beginnen sei.63 Für die Beschreibung der »Erziehungsfehler«, die bei der physischen Erziehung bzw. Aufzucht von Säuglingen und Kindern von den Eltern, Erziehern, Wärterinnen und Ammen begangen werden, greift Wenzel vielfach auf die Ansichten aus Rousseaus Émile zurück und stellt heraus, dass die Ursache zumeist in der Entfernung 60 | Wenzel (1797), Art. Natur, die, S. 270. 61 | Vgl. Campe (1778a), S. 149ff.; vgl. auch ders. (1778b), S. 3ff.; ders. (1979) [1788], S. 448ff. Vgl. dazu Herrmann (1982), S. 183ff. 62 | Campe (1778c), S. 230f. 63 | Wenzel (1781-82), Bd. 2, 2/II, S. 25.

120 | K RISTIN H EINZE von der Einfachheit der Natur zu suchen sei und die körperliche Entwicklung im Einklang mit der Natur stehen müsse.64 Mit Bezug auf gesundheitliche Gefahren einer vorgreifenden Erziehung wendet sich Wenzel u. a. gegen den Einsatz von »Lauf bänken«, denn dadurch würden »die Beine [...] krumm, der Bauch schwillt, der [sic] Rückgrath wird zu sehr eingebogen und die Schultern begeben sich in die Höhe«.65 Auch eine schlechte und zu warme Raumluft, jener in Treibhäusern vergleichbar, nicht witterungsgemäße bzw. den Bewegungsdrang einschränkende Kleidung sowie eine falsche Ernährung schaden s. E. der Gesundheit der Kinder, weshalb auf »einfache Kleidungsstücke und mäßige ungekünstelte Nahrung«66 sowie darauf zu achten ist, dass sich die Kinder zur Abhärtung sommers wie winters viel im Freien aufhalten.67

64 | Vgl. ders. (1797), z. B. Art. Aftermutter, S. 29-34; Art. Amme, S. 36-40; Art. Auferziehung der Kinder ohne Muttermilch, S. 46ff.; Art. Baden, das, im warmen Wasser, S. 52-55; Art. Baden, das, im kalten Wasser, S. 56f.; Art. Bett, S. 73-76; Art. Einwindeln, S. 128-132; Art. Glieder, krumme, der neugebohrnen [sic] Kinder, S. 170ff.; Art. Laufbänke, S. 215; Art. Mehlbrey, S. 240ff.; Art. Mieder, S. 243-250; Art. Mutterpflichten, S. 263f.; Art. Säugling, S. 313ff.; Art. Säugungspflicht, S. 315; Art. Schnürbrüste, S. 319-323; Art. Vaterpflichten, die, S. 398; Art. Wärterinnen, S. 400-420. Vgl. Rousseau (1998) [1762], S. 16-62. Daneben vermittelt Wenzel auch Wissen über das Verhalten der Mutter in der Zeit der Schwangerschaft (vgl. z. B. Wenzel (1797), Art. Husten, S. 188; Art. Luft, S. 226; Art. Nahrung, S. 268) und medizinisches Wissen (vgl. ebd., z. B. Art. Aberglaube in Ansehung der neugebohrnen [sic] Kinder, S. 12-23; Art. Aberglaube unter den Kindbetterinnen, S. 23ff.; Art. Arzneyen, S. 46; Art. Athemholen, ebd.; Art. Ausdünstung, S. 50f.; Art. Blattern, S. 85-89; Art. Diät kranker Kinder, S. 100-116; Art. Mediziniren, S. 234-240; Art. Milchfieber, S. 251f.; Art. Milchversetzung bzw. Art. Milchstockung, S. 254-262). 65 | Ebd., Art. Laufbänke, S. 215. 66 | Ebd., Art. Bedürfnisse, S. 63. 67 | Vgl. ebd., z. B. Art. Anzug der Kinder, S. 44; Art. Bedeckung des Kopfs, S. 58; Art. Bette, das, für Kinder, S. 76; Art. Bewegung, S. 78; Art. Chokolade, die, S. 91; Art. Durchwärmung der Kinderwäsche, S. 116f.; Art. Getränke, das [sic], S. 170; Art. Kinderkrankheiten, S. 196ff.; Art. Kleider, leichte, S. 210f.; Art. Kleidungsart der Kinder überhaupt, S. 211ff.; Art. Luft, freye, S. 225f.; Art. Luft und Witterung, S. 226ff.; Art. Mediziniren, S. 234; Art. Mode, eine vernünftige, S. 263; Art. Pelze und dicke Kleider, S. 277f.; Art. Putztisch, S. 296; Art. Qualität, die, der Speisen, S. 296; Art. Quanti-

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Vornehmer und reicher Leute Kinder sind meistens so unglücklich, daß sie den ganzen Winter über, gleich den ausländischen Gewächsen, die in Treibhäusern stehen müssen, in der warmen Stube behalten werden. [...] Durch diese beständige Wärme werden die Fasern geschwächt, erschlaffet, und zu diesem schlaffen Zustande dermaßen gewöhnt, daß das geringste Lüftchen sie zusammen schnürt, und den Körper auf eine empfindliche und gefährliche Art verletzet.68

Im Hinblick auf die geistige Entwicklung des Kindes orientiert sich Wenzel v. a. an der empirischen Psychologie Johann Nicolas Tetens’ und verlangt, dass auch der Verstand sich an der Natur des Kindes auszurichten und stufenweise fortzuschreiten habe – vom Anschaulichen zum Übersinnlichen, vom Einfachen zum Zusammengesetzen, vom Konkreten zum Abstrakten, vom Nahen zum Fernen, vom Leichteren zum Schwereren.69 Tetens geht in seinem Werk: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung (1777) davon aus, dass bei der Ausbildung der kindlichen Sinne auf die psychische Disposition und die stufenweise Entwicklung der geistigen Kräfte des Kindes zu achten ist, um es nicht zu »entnerven«. »Entnerven« besagt, dass die Nerven – die den einzelnen Empfindungen zugeordneten »besondern Nerven«, also Seh-, Geruchs-, Geschmacksnerven usw.70 – überspannt werden, dadurch ihre Spannung verlieren und nicht mehr flexibel sind.71 Insofern erachtet es Wenzel als erforderlich, dass die Nerven elastisch erhalten werden und mit dem Gehirn »in einem unverletzten Zusammenhang« stehen, weshalb sie in ihrer Spannung bestimmte Grenzen nicht übersteigen, aber auch nicht unterschreiten sollen und die Eindrücke, die sie aufnehmen, »nicht zu schwach, auch nicht zu stark, noch schnell aufeinander folgend seyn [dürfen]«.72 Demzufolge muss nicht nur die körperliche Entwicklung des Kindes Berücksichtigung finden, sondern die zu erlernenden Begriffe haben auch seinem geistigen Fassungsvermögen zu entsprechen:

tät der Speisen, S. 298f.; Art. Speisen, vorzügliche, delikate, S. 340f.; Art. Winter, S. 425ff. 68 | Ebd., Art. Winter, S. 425. 69 | Vgl. ebd., Art. Kinder, gelehrte, S. 196; vgl. auch ebd., Art. Lehrart, die beste, für Kinder, S. 215f.; Art. Unterricht, überhaupt, S. 396; Art. Natur, die, S. 270ff.; Art. Unterricht, sokratischer, S. 392f. 70 | Vgl. ders. (1781-82), Bd. 2, 1/I, S. 8. 71 | Vgl. ebd., 2/I, S. 11f.; vgl. Tetens (1777), S. 601f. 72 | Wenzel (1781-82), Bd. 2, 2/I, S. 11f.

122 | K RISTIN H EINZE Nach dem Maaße [sic], wie das Kind an Leibeskräften zunimmt, muß man auch mit der Bildung seiner Verstandes- oder Seelenkräfte fortrücken, ihm so viele Begriffe beybringen, als man nur immer kann, jedoch immer solche, die seiner Fassungsfähigkeit angemessen sind, die es intereßiren [sic], deren Brauchbarkeit es einzusehen im Stande ist.73

Das Bestreiten der Annahme: »Je mehrere Wissenschaften man einem Kinde in seinem zarten Alter beibringen kann, um so vollkommener ist die Erziehung«, richtet sich zudem gegen eine Überfrachtung der Kinder mit Lerninhalten.74 »Vielwisserey« begreift Wenzel als »die größte Thorheit und ein[en] Beweis, daß der Vater ein sehr schwacher Kopf seyn muß«.75 Die Erfahrung bestätige diese Annahme: Alle diejenigen Kinder, die in ihrer ersten Jugend »Riesenschritte« machten, hätten im »reiferen Alter« Seelen »ohne Kraft, ohne Energie, matt in ihren Wirkungen, unfähig Plane [sic] zu denken, unfähig sie auszuführen«.76 Eine »frühzeitige, überhäufte Ausbildung« gefährde darüber hinaus den »moralischen Charakter« des »keimenden Zöglings«.77

73 | Ders. (1797), Art. Verstand der Kinder, S. 399; vgl. auch ebd., Art. Denken, die Kunst zu, S. 96f.; Art. Gebethformeln, S. 164; Art. Seelenkräfte, die, S. 327; Art. Unterricht, überhaupt, S. 396; Art. Unterricht, katechetischer, S. 391; Art. Unterricht, sokratischer, S. 392f.; Art. Bethen, das, S. 73f.; Art. Bibel, S. 82f.; Art. Organisazion [sic], S. 276. 74 | Ders. (1781-82), Bd. 2, 2/II, S. 22; vgl. auch ders. (1797), Art. Vielwisserey bey Kindern beabsichten [sic], S. 400; Art. Bibel, S. 82f.; Art. Bücher, S. 89; Art. Natur, die, S. 270. Vgl. dazu Campe (1778c), S. 228f.: »Es ist ein Jammer, einen Knaben von denen zu sehen, die auf diese neueste Manier gebildet werden. Man glaubt, entweder den blossen [sic] Schatten ehemaliger Kinder oder alte Zwerge in ihnen zu erblicken. Ihr matter Blick, ihre bleiche Gesichtsfarbe, ihre, dem Schein nach, bescheidene, im Grunde aber um Blicke und Beyfall der Anwesenden buhlende eitle Stellung [...] jede ursprüngliche Naturkraft in ihnen gelähmt und ihr ganzes Wesen mit frühreifen, für ihr Alter durchaus unnützen Schulkenntnissen und mit unermeßlichen Ansprüchen ausgestopft [...]«. 75 | Wenzel (1797), Art. Vielwisserey bey Kindern beabsichten [sic], S. 400. 76 | Ders. (1781-82), Bd. 2, 2/II, S. 25; vgl. auch ders. (1797), Art. Organisazion [sic], S. 276. 77 | Ders. (1781-82), Bd. 2, 2/II, S. 26.

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Plappert nun das gelehrte Kind von Dingen, die es nicht versteht, die es nicht verstehen kann, so wird es insgemein gelobt, erhoben, dürstend nach eitler Ehre gemacht. Ehrsucht, Verachtung, Eigensinn, Stolz, Seichtigkeit in allem sind dann die Hauptzüge des männlichen Charakters.78

In ähnlicher Weise, d. h. mit Bezug auf die Schädlichkeit der Ruhmbegierde bei Kindern, spricht sich bspw. auch der Philanthrop Peter Villaume gegen eine pädagogische »Kunst« aus, die den Kindern nicht die von ihnen zur natürlichen Entwicklung benötigte Zeit zugesteht und stattdessen im »geistige[n] Triebhaus [...] früh – schaale Früchte [zieht]«.79 Der Erzieher soll deshalb der Stimme der Natur, der Evolution folgen, so wird er auf »Abwege nie gerathen« – er werde nicht »in die Rechte der Natur eingreifen« und »die körperlichen Werkzeuge des Kindes« nicht »überspannen«, denn die »Natur leidet keinen Zwang«.80 Sie [die Natur, KH] unterweiset praktisch ihre Schüler; nur müssen diese Organe haben, ihre Sprache zu fassen, die nicht gekünstelt, nicht labyrinthisch zusammengesetzt, die ganz einfach, eindringend, deutlich und wahr ist. Sie zeiget dem Menschen an der Pflanze, wie von Stufe zu Stufe er mit seinem Ebenbilde fortschreiten soll; er überzeugt sich an der durch erborgte Kraft des Treibhauses widernatürlich früher entwickelten Frucht, daß sie eben darum nichts tauge, und gebohren [sic] werde, um sogleich zu sterben, und ziehet sich daraus die Lehre, daß das Kind – Kind, der Knabe – Knabe, das Mädchen – Mädchen eine Zeitlang seyn müssen, bevor sie das werden können, was sie ihrer Bestimmung nach seyn sollen – ausgebildete Menschen, – ausgereifte Menschenfrüchte. […] Sie, die Natur, dieser Arm des schaffenden Gottes, dieses Werkzeug seiner wesentlich stäts [sic] thätigen Allmacht, dieses Vehikel der Gottessprache zum Belebten, sie ruft uns aus dem Anblicke unseres Kindes selbst zu, was wir zu thun haben an ihm, was wir ihm leisten, wo wir ihm in seiner Evolution hülfreiche Hand bieten, wo wir uns zurückziehen, und nicht weiser seyn sollen, als sie es selbst ist.81

78 | Ebd., S. 26f. 79 | Villaume (1786), S. 700. 80 | Wenzel (1781-82), Bd. 2, 2/II, S. 25ff. 81 | Ders. (1797), Art. Natur, die, S. 270; vgl. auch ebd., Art. Allmacht, die, Gottes, 34f.

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3. Die semantische Umdeutung der »TreibhausMetapher« in der pädagogischen Fachlexikographie des 19. Jahrhunder ts Im Folgenden soll noch ein kurzer Ausblick auf den späteren Gebrauch der Treibhaus-Metapher gegeben werden, die im 19. Jahrhundert theologisch besetzt und diskursleitend genutzt wird. Bei Münch, dem Autor des 1841-1842 erschienenen Universal-Lexicons, entfällt die ursprünglich in der Metapher verankerte Bedeutung des Gegensatzes von naturgemäßer vs. künstlicher Erziehung,82 und die Treibhaus-Metapher impliziert vielmehr eine Erziehung, die die christliche Religion nicht an die erste Stelle setzt. Ohne die Vielschichtigkeit philanthropischer Erziehungskonzepte zu berücksichtigen und unter bewusster Abwertung der hier angelegten Erziehung zu religiöser Toleranz, werden Treibhaus und Philanthropin bzw. Philanthropinismus nicht nur als synonym erachtet, sondern das Verhältnis von natürlich gegenüber künstlich wird bei Münch als Gegensatz von christlich (=natürlich) und verweltlicht (=unnatürlich) neu definiert. Münch zufolge wurde durch die »philanthropische Schule«, die »von der Bildung zur bürgerlichen Brauchbarkeit [...], von der Tauglichmachung de[r] Kinder für das Reich des Vergänglichen« ausging und »lediglich am Zeitli82 | Dessen ungeachtet bestand diese Bedeutung weiter. Vgl. z. B. Jahn (1884) [1810], S. 233; Harnisch (1817), S. 288f. Auch Wörle, der Autor des 1835 erschienenen Encyklopädisch-pädagogischen Lexikons, verwendet die Treibhaus-Metapher. Er weist darauf hin, dass der Lehrer trotz der Vielzahl an Unterrichtsfächern bei der Behandlung der einzelnen Gegenstände auf Gründlichkeit achten müsse: »Es soll die Schule kein Treibhaus seyn – es soll nicht über Gegenstände hinweggeeilt werden, bloß um zu Ende des vorgezeichneten Lehrplans zu kommen« (Wörle (1835), Art. Elementarunterricht, S. 235). S. E. muss die Erziehung und Bildung – hier bezieht sich Wörle auf Denzel – »kein Formen von außen, sondern ein Erregen im Innern zur Entfaltung von innen heraus«, »bloß ein Handbieten der Natur in ihrem Entwicklungsgeschäft« sein, muss »überall dem Entwicklungsgang der Natur folgen« (ebd., Art. Erziehungs-Lehre, S. 299; vgl. Denzel (1814), S. 94f.). »Aus sich selbst muß also der Mensch werden, was er werden soll, darum biete seiner Natur allein das Gleichartige, nur das an, was die Kraft verarbeiten und sich aneignen kann!« (Wörle (1835), Art. Natur, menschliche, S. 592; vgl. Denzel (1814), S. 36). Denn nur wenn sich jeder Zögling »rein aus sich selbst entwickelt« und »man nichts [F]remdes in das Kind [bringt]«, »gewinnt [es] sein wahres Selbst« (Wörle (1835), Art. Erziehungs-Systeme, S. 303f., Art. Erziehung, die, 275; vgl. Denzel (1814), S. 93f.).

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chen« gehangen habe, »die Erziehung zu einem Treibhause des Zeitlichen [herabgewürdigt]« und das »Ewige« vergessen oder »hintan[ge] setzt«.83 Das Kind als das Objekt der Erziehung (die zu ziehende »Menschenpflanze«) gerät dabei in der von Münch vorgebrachten Kritik an der diesseitsorientierten Ausrichtung der philanthropischen Konzepte und deren Orientierung auf die »Brauchbarkeit« des Menschen insofern aus dem Blick, als seine Argumentation sich primär gegen die in den »Treibhäusern« gezüchteten, das Christentum zersetzenden Ideen richtet: Die »große[n] Propheten der Brauchbarkeit«, besonders Johann Bernhard Basedow, hätten »die ganze Welt in ein Treibhaus« verwandeln wollen, worin »die göttliche Pflanze ›Gemeinnützigkeit‹ in lauter künstlichen Mistbeeten zum frühen Gedeihen gesteigert werden sollte«.84 Seine Befürchtungen hinsichtlich der Philanthropine begründet Münch damit, dass – so die Formulierung des Historikers Winfried Müller – durch eine »Reduzierung der Religion auf eine vernünftige Sozialethik, die die spirituellen und mystischen, kurzum die gemüthaften Komponenten von Religiosität ignorier[t]«,85 dem angestrebten Ziel der Gottähnlichkeit entgegengearbeitet werde. Die Philanthropen hätten geglaubt, ihre Schulen unabhängig von Kirche und Staat konzipieren zu können, und mit ihren »auflösenden« und »negativen Prinzipien« demnach in, wenn nicht »unmittelbarem«, so 83 | Münch (1841-42), Art. Treibhaus, S. 47. Diese semantische Verschiebung beginnt mit der bereits im 18. Jahrhundert einsetzenden Kritik am Philanthropismus, indem die Treibhaus-Metapher, die zuvor (u. a. von Campe) für die Bewertung zeitgenössischer, insbesondere der von der Pädagogik des Pietismus geprägten, Schulen herangezogen wurde, auf die Philanthropine selbst bezogen wird. So wendet sich bspw. Herder gegen das Dessauer Philanthropin, indem er in einem Brief vom 24. August 1776 an Johann Georg Hamann, der seinen Sohn auf das Dessauer Philanthropin schicken wollte, schreibt, dass ihm, obwohl er nach der Aussage von Baumgarten selbst nie ein Philanthropin betreten hat (vgl. Baumgarten (1906), S. 351), alles »erschrecklich« vorkomme, »wie ein Treibhaus, oder vielmehr wie ein Stall voll menschlicher Gänse« (Herder (1978) [1776], S. 293). Im Unterschied allerdings zur Verwendung der Treibhaus-Metapher im Lexikon Münchs, bleibt bei Herder der Bezugsrahmen »Natur« deutlich erkennbar, indem Basedows Plan mit einer Baumschule verglichen wird, dessen Bäume der Wurzeln beraubt wurden (vgl. ebd., 293f.; vgl. dazu Heinze (2008), S. 291-297). 84 | Münch (1841-42), Art. Treibhaus, S. 46; vgl. Sailer (1822), S. 170. 85 | Müller (2002), S. 78.

126 | K RISTIN H EINZE doch »mittelbarem« Gegensatz zu den »positiven oder christlichen« Grundsätzen gestanden. In denselben [den Pensionaten] herrschten nämlich lauter auflösende und negative Principien, welche einen Gegensatz der positiven oder christlichen, wenn nicht unmittelbar, doch wenigstens mittelbar, bildeten und bilden mußten. Der darin vorherrschende Rationalismus, den wir für nichts anders, als für ein neues Heidenthum zu erklären uns gedrungen fühlen, mußte nothwendig auf die christlichen Wahrheiten eben so hemmend einwirken als auf das christliche Leben.86

Zudem habe die von Rousseau und Basedow »empfohlene mildere Behandlung der Kinder [...] bei einem großen Theile der Jugend eine innere Verweichlichung erzeugt, welche von Gehorsam und Selbstverläugnung, diesen Cardinal-Tugenden hinsichtlich der Erziehung, nichts wissen mag«.87 Bei Friedrich Adolf Krummacher, auf den Münch in seinem Artikel Emancipation verweist, wird die Semantik der Treibhaus-Metapher nochmals verändert, indem der explizite Bezug zum Philanthropismus entfällt: Treibhäuser sind hier einfach verweltlichte bzw. irreligiöse Schulen.88 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Treibhaus-Metapher im hier betrachteten Diskurs der pädagogischen Fachlexikographie eine bemerkenswerte Rolle gespielt hat, da sie nicht nur zur Veranschaulichung pädagogischer Konzepte eingesetzt wurde, sondern zugleich für deren Kritik. Dies war dadurch möglich, dass »mit dem metaphorischen ›focus-word‹ ein Set von common-place-Konnotationen« aufgerufen wurde, das die »übliche, konventionelle Bedeutung des denotierten ›Hauptgegenstandes‹« überlagerte.89 Dieses neue Set von Bedeutungen funktioniert(e) als »Filter«, durch den bis heute bestimmte Teile von Theorien und Erziehungswirklichkeiten wahrgenommen und andere systematisch ausgeblendet werden.90 Damit erweisen sich gerade Metaphern als diskursstrukturierend.

86 | Münch (1841-42), Art. Pensionate, S. 317. 87 | Ebd., Art. Kenntnisse, S. 723. 88 | Vgl. Krummacher (1823), S. 79f. 89 | Sarasin (2001), S. 66. 90 | Vgl. ebd.

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Das Spannungsverhältnis von Wissenschaf t und My thologie in Deutschland um 1800 und in Großbritannien um 1850-1900 Angus Nicholls Einleitung Mit Max Horkheimer, Theodor Adorno und Hans Blumenberg lassen sich die historische Identität der Auf klärung und ihr Wissenschaftsbegriff als eine durch die Negation des Mythos etablierte Identität ausmachen. Die Begriffe Wissenschaft und Mythologie standen immer schon in einer verwickelten Beziehung. Bereits bei vorsokratischen Denkern wie Xenophanes und Heraklit wurde Mythologie als eine irrtümliche Art des Anthropomorphismus angesehen, die scharf kritisiert werden müsse, um den Fortschritt von religiösem Aberglauben zur systematischen Untersuchung der physischen Ursachen in der Natur gewährleisten zu können.1 Diese Kritik der Mythologie wird in Platons Phaidon (61b) weiterentwickelt. Sokrates unterscheidet dort zwischen mythos und logos, und er charakterisiert die mythoi als fantasievoll, poetisch und wenig vertrauenswürdig, während logoi sorgfältige und besonnene Darstellungen der Phänomene anbieten würden. Daher ist es vielleicht nicht übertrieben zu behaupten, dass der Mythos bereits in der Antike als ein Gegenbegriff zur – natürlich jeweils anders verstandenen – Naturwissenschaft fungierte. Die Identität der modernen (d.h. post-cartesianischen) Wissenschaft bleibt, aus dieser

1 | Siehe Buckert (1984), S. 281-283.

134 | A NGUS N ICHOLL S Perspektive, ebenso wie die Identität der antiken Wissenschaft vom negativen Status ihres Anderen (nämlich der Mythologie) abhängig.2 Vor dem Hintergrund dieser Verhältnisse werde ich die folgenden Thesen entwickeln: Während des späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts, d.h. innerhalb der u. a. von Reinhart Koselleck als »Sattelzeit« bezeichneten Epoche, wurde in Deutschland die traditionelle historische Beziehung von Mythologie und Wissenschaft radikal destabilisiert.3 Diese Destabilisierung hatte zwei miteinander im Streit liegende und antagonistische Ursachen. Die erste besteht in der Entwicklung einer neuen Fachwissenschaft im Zusammenhang mit der Mythosforschung, nämlich der Anthropologie; die zweite in der von Kant und dem deutschen Idealismus vollzogenen Neubestimmung des Wissenschaftsbegriffes. Diese zwei Entwicklungen führten zu jeweils neuen Verständnissen des Mythologiebegriffes. Um diese Veränderungen zu erfassen, bietet sich die begriffsgeschichtliche Methode an, wie sie u. a. von Koselleck ausformuliert wurde. Sie verdeutlicht, dass Begriffe wie Wissenschaft und Mythologie nicht isoliert, sondern stets im Zusammenhang mit verwandten Begriffen wirken. Solche Begriffe stehen innerhalb diskursiver Felder, in denen komplexe Konstellationen von Terminologien existieren. Da Änderungen eines Begriffes ›Anpassungsreaktionen‹ in nahe stehenden oder verwandten Begriffen hervorrufen können, müssen Begriffe nicht nur philologisch-diachronisch (wie es z.B. im Historischen Wörterbuch der Philosophie der Fall ist), sondern auch synchronisch untersucht werden: »Diachronie und Synchronie« sind, so Koselleck, »begriffsgeschichtlich verflochten«. 4 In dem hier diskutierten Fall wird »Begriffsgeschichte« nicht nur auf bloße Änderungen der Wortbedeutung von »Wissenschaft« und »Mythologie« angesetzt, nicht nur auf rein erkenntnistheoretische Kategorien also, und es wird nicht vorrangig (wie es bei Koselleck der Fall ist) nach den gesellschaftlich-politischen Funktionen der Begriffe gefragt. Vielmehr sollen die akademisch-rhetorischen Statuswerte von »Wissenschaft« und »Mythologie« sichtbar gemacht und die Bedeutungen dieser Begriffe im Zusammenhang mit neuen akademischen Fachdisziplinen bzw. Disziplinen der Geisteswissenschaft betrachtet werden. Denn in Deutschland um 1800 diente die »Mythologie« als Grundlage und Objekt einer neuen Fachdisziplin, der Anthropologie. 2 | Siehe: Adorno und Max Horkheimer, (1947); Dupré (1974); Blumenberg, (1979); Bürger, (1983); Jamme, (1999), S. 95-105. 3 | Koselleck, (1972), S. xv. 4 | Koselleck (1972), S. xxi-xxiii.

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Die »Mythologien« verschiedener Länder, Völker und Kulturen wurden von den frühen Anthropologen Deutschlands (unter Anlehnung an die naturwissenschaftliche Methode) als quasi-empirische wissenschaftliche Objekte betrachtet, die als Beweise für die historische Entwicklung der Menschheit dienen sollten. Dem gegenüber standen das Projekt der kritischen Philosophie Kants und der frühe deutsche Idealismus. Nach Kants Kritik des empirischen Wissenschaftsbegriffs erhielten die Begriffe Mythologie und Wissenschaft eine breitere, nicht rein empirische, sondern eher ästhetisch-ontologische Bedeutung, deren Auswirkungen bis hinein in die deutsche Romantik zu sehen waren. Der Status dieser Begriffe war also umstritten. Nicht zuletzt daran zeigt sich, dass sie Begriffe im Sinne Kosellecks sind (Leitbegriffe), und dass sich in ihnen der Wandel der Wirklichkeit bzw. ein verändertes Weltverhältnis niederschlägt. Das Spannungsverhältnis von Wissenschaft und Mythologie spielte aber nicht nur in den wissenschaftlichen Debatten innerhalb der deutschsprachigen Länder eine wichtige Rolle. Gäbe es eine Schwäche im Lexikon Geschichtliche Grundbegriffe, dann bestände sie vielleicht in der Konzentration auf hauptsächlich deutsche Quellen bzw. »Begriffe des deutschen Sprachraums«.5 Im zweiten Teil dieses Beitrages werde ich demonstrieren, auf welche Weise die in Deutschland um 1800 neu bestimmten Begriffe ›Wissenschaft‹ und ›Mythologie‹ (ins Englische als ›science‹ und ›mythology‹ übersetzt) in Großbritannien während der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts rezipiert wurden. Die Hauptfigur dieser Rezeption war der in Deutschland geborene und ausgebildete Sanskritologe und Philologe Friedrich Max Müller (1823-1900). Als ehemaliger Student Friedrich Schellings brachte Müller Elemente der neuen, vom deutschen Idealismus beeinflussten Konzeptionen von Wissenschaft und Mythologie mit nach Großbritannien. In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts gerieten sie in Müllers neuer Heimat in die Kritik. Auf dem Spiel standen nicht alleine die Wortbedeutungen, sondern der Status der Mythosforschung selbst und der Status der Menschheit als wissenschaftliches Objekt. Denn Müllers Unternehmen war durchaus kompliziert. Einerseits wollte er die kantischen und nach-kantischen Bestimmungen des Wissenschaftsbegriffes mit der physikalischen und positivistischen ›science‹ Großbritanniens (vor allem nach dem Vorbild Darwins) in Übereinstimmung bringen. Andererseits suchte Müller (als überzeugter Lutheraner) Darwins Theorie der menschlichen Abstammung

5 | Koselleck, (1972), S. xiv.

136 | A NGUS N ICHOLL S durch seine »science of language«, sowie durch seine »science of mythology« zu widerlegen.

1. My thologie und Anthropologie in Göttingen Die Hauptstadt der deutschen Mythologieforschung des späten achtzehnten Jahrhunderts war Göttingen, und ihre Protagonisten waren Johann David Michaelis (1717-1791) und Christian Gottlob Heyne (1724-1812). Sie etablierte sich unter anderem auf dem Feld der Bibelinterpretation. Michaelis und Heyne verwendeten dazu eine historisch-hermeneutische Methode. Die Bibel galt ihnen nicht mehr als ein von der Geschichte isolierter heiliger Text, sondern sollte eher als ein Dokument betrachtet werden, das in einem bestimmten historischen und kulturellen Kontext entstanden war. Biblische Erzählungen wurden mit nicht-biblischen Texten verglichen, und der Einfluss nicht-biblischer Texte auf die Bibel rekonstruiert (das Gesetz Moses, so lautet beispielsweise eine These Heynes, sei von ägyptischen Quellen abgeleitet).6 Heyne interessierte sich besonders für Reiseliteratur, die über die einheimischen Bevölkerungen Afrikas und Nord-Amerikas berichtete. Die angeblich »primitiven« Mythen, die in solcher Literatur zu finden waren, seien, so Heyne, mit den Quellen der altgriechischen Mythologie vergleichbar. Die europäische sowie die nicht-europäische Traditionslinien zeigten seiner Meinung nach (und hier stimmte er mit Giambattista Vico überein), dass das mythische Denken zur Kindheit der Menschheit gehöre. In der Mythologie fände man die ersten Ursprünge kausaler Vernunft, durch sie würden Naturereignisse als Konsequenzen der Tätigkeit anthropomorpher Götter betrachtet.7 Auch Johann Feder (1740-1821) und Christoph Meiners (1747-1810), die als eigentliche Begründer der Anthropologie gelten, waren in Göttingen tätig und Mitglieder der Göttinger Akademie der Wissenschaften, zu deren Präsident Heyne im Jahr 1770 ernannt wurde.8 Angeblich eher Philosophen als Anthropologen, förderten Feder und Meiners eine philosophische Praxis, die sie als »Weltweisheit« bezeichneten.9 Ziel war die empirische Erforschung der Menschheit, durch die Untersuchung von Texten verschiedenster Art und von Gegenständen unterschiedlicher Kulturen, einschließlich der so genannten schönen Wissenschaften (d.s. Literatur und Kunst). Feder und Meiners orien6 | Siehe: Williamson, (2004), S. 30. 7 | Williamson, (2004), S. 30-32. 8 | Vöhler (2002), S. 41. 9 | Carhart (2007), S. 200, 228-229.

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tierten sich an der Tradition des britischen Empirismus – vor allem an der wissenschaftlichen Methode Francis Bacons, sowie an David Humes Treatise of Human Nature (1739-1740). Hume hatte behauptet, dass, da alle Wissenschaften aus den kognitiven Eigenschaften des Menschen entstehen würden, eine Wissenschaft der Menschennatur als neues Fundament eines »compleat system of the sciences« dienen könne. Diese Wissenschaft dürfe, so Hume, nur auf »experience and observation« der mannigfaltigen Formen menschlicher Lebensäußerungen basieren.10 Diese Argumente waren von epochaler Bedeutung für die Entwicklung der deutschen Anthropologie.11 Humes Empirismus führte zur Infragestellung der cartesianischen Scheidung von Körper und Geist, und half, »den ganzen Menschen« als Gegenstand der Wissenschaft zu etablieren.12 Das lässt sich anhand des ersten deutschen Textes, der explizit das Thema der Anthropologie verhandelt, zeigen: Ernst Platners Anthropologie für Ärzte und Weltweise (1772). Platner (1744-1818), der in Leipzig als Professor für Medizin tätig war, bezog sich auf die Schriften Meiners, um die physischen Wissenschaften (insbesondere die Anatomie und die Physiologie) mit der Psychologie und der Ästhetik in Übereinstimmung zu bringen. Platners Buch wurde von Feder dezidiert positiv rezensiert und bekam den Status eines Standardwerks im neuen Fachbereich der Anthropologie.13

2. Herder, Kant und »die neue My thologie« Vielleicht der bedeutendste Exponent einer Mythologieforschung, die die empirische Basis von Feder und Meiners übernimmt, aber anders (ästhetisch) ausrichtet, war Johann Gottfried Herder. Er war mit Heyne persönlich bekannt, und auch er hatte Humes Forschungsprogramm dezidiert bejaht.14 Als paradigmatisches Beispiel für Mythologie galten Herder die altgriechischen Mythen, aber sie waren für ihn 10 | Hume (2000), S. 4. 11 | John H. Zammito bemerkt dazu, dass »the British eighteenth century set about liberating her [d.h. die Philosophie], and the primary vehicle was the blurring of the boundary of philosophy and literature in the common pursuit of (empirical) psychology as the key to human nature: in a word ... anthropology«. Zammito (2002), S. 237. 12 | Zammito (2002), S. 242. 13 | Zammito (2002), S. 250-253; Carhart (2007), S. 238-240. Siehe auch hierzu Zelle (Hg.) (2001); Košenina (1989). 14 | Zammito (2002), S. 313.

138 | A NGUS N ICHOLL S nur ein Muster der universalen Beziehungen zwischen Sprache, Welt and Mythologie, die in allen Kulturen zu finden seien.15 In seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772) – ein Text, der von John H. Zammito als »the inaugural moment of German anthropology« bezeichnet wurde,16 behauptete Herder, dass die Sprachen und Mythen aus Eindrücken (impressions) entstehen, die die Natur im Menschen erzeugt. Diese Theorie arbeitete er dann in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–1791) aus, dort nennt er die »Mythologie jedes Volks« einen »Abdruck der eigentlichen Art, wie es die Natur ansah«.17 Herder verfolgte jedoch nicht nur ein empirisches Programm. Insofern die Mythologie Ausdruck der ganzen Weltanschauung eines Volks ist, gäbe es zudem eine starke Beziehung zwischen den Mythologien und Literaturen. Diese ästhetischen Aspekte der Mythostheorie finden sich vor allem in Herders frühen literaturtheoretischen Texten, insbesondere in seinen Fragmenten einer Abhandlung über die Ode (1765) und den Fragmenten über die neuere deutsche Literatur (1765-1767). Manfred Frank hat schließlich anhand der Aufsätze Vom neueren Gebrauch der Mythologie (1767) und Iduna, oder der Apfel der Verjüngung (1796) Herders neue Konzeption der Mythologie rekonstruiert. Herders »Einbettung der Mythologie in den Raum eines sprachlichen Weltbildes«, so Frank, erfordert eine »Abgrenzung von der Aufklärung« und deren Mythenkritik. Herders Darstellung »einer aus dem Geist der Sprache erwachsenen bodenständigen Mythologie der Gegenwart« kann als eine Vorwegnahme des Mythosbegriffs der deutschen Romantik gelten.18 Herder hatte Gegner im neuen Fachbereich der Anthropologie, vor allem seinen Freund und ehemaligen Mentor Immanuel Kant. Es ist bekannt, in welchem Maße sich die philosophischen Anschauungen Kants und Herders seit der Veröffentlichung der ersten Kritik Kants (1781/1787) und der Metakritik Herders (1799) voneinander unterschieden. Deutlich wird dies nicht zuletzt an Kants neuer Einstellung gegenüber der Anthropologie, deren Wissenschaftlichkeit er nun grundsätzlich infrage stellte. Noch während der sechziger und siebziger Jahre des achtzehnten Jahrhunderts war Kant einer der Hauptexponenten der Anthropologie in den deutschsprachigen Ländern. Sein ursprüngliches Ziel war es 15 | Siehe: Herder (1985-2000), Bd. 1, S. 523-524. 16 | Zammito (2002), S. 309. 17 | Zitiert in Horstmann (1984) S.288. 18 | Frank (1982) S. 143, 155.

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gewesen, die Anthropologie als eine unabhängige und hauptsächlich empirische Fachwissenschaft zu etablieren. Aber während der Periode, in der Kant die kritische Philosophie entwickelte, kam der Anthropologie ein immer geringerer Stellenwert im Rahmen seines philosophischen Projektes zu. Ab 1778, dem Jahr, in dem er seine Vorlesungen über Anthropologie veröffentlichte, setzte er sich deutlich von den Positionen Feders, Meiners und Platners ab. Schließlich galt ihm die Anthropologie nur noch als eine pragmatische Einleitung in die Theorie des menschlichen Verhaltens. Mithilfe der Anthropologie, so Kant, würden Studenten über die Aktualität des menschlichen Verhaltens informiert, aber nur mit dem Ziel, dass diese Aktualität letztendlich durch das »Sollen«, durch eine metaphysisch begründete Ethik also, transformiert werde. Es müsse »eine reine Moralphilosophie« geben, »die von allem, was nur empirisch sein mag und zur Anthropologie gehört, völlig gesäubert wäre.« 19 Indem Kant sich mit seiner kritischen Philosophie von dem Hume’schen Begriff einer empirischen Wissenschaft vollständig distanzierte, lehnte er auch das durch Hume inspirierte Modell einer Anthropologie ab. Im achtzehnten Jahrhunderts wurde das europäische Verständnis von Wissenschaft vor allem von den wissenschaftlichen Methoden Bacons, Newtons und Humes beeinflusst. Aus dieser Perspektive wurde »wissenschaftliches Wissen« als die systematische, objektive und durch empirische Experimente bewiesene Erkenntnis der Natur verstanden.20 Vielleicht, weil eine solche Bestimmung der Wissenschaft der apriorischen Subjektivität und deswegen auch der apriorischen Philosophie keine bedeutende Rolle zubilligte, transformierte Kant diesen Wissenschaftsbegriff, indem er die Wissenschaft mit der Philosophie verschmolz. In diesem Sinne ist Kants Bestimmung der Wissenschaft eine konservative, die mehr mit der aristotelischen Naturphilosophie als mit den modernen Epistemologien Bacons, Newtons und Humes übereinstimmt.21 »Eigentliche Wissenschaft«, so Kant in seinen Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft (1786), »kann nur diejenige genannt werden, deren Gewißheit apodiktisch ist; Erkenntnis, die bloß empirische Gewißheit halten kann, ist ein nur uneigentlich so genanntes Wissen […]. Eine rationale Naturlehre verdient […] den Namen einer Naturwissenschaft nur alsdenn,

19 | Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), in Kant (1983), Bd. 4: S. 13. Siehe auch Marquard (1971), S. 365-366. 20 | Siehe Baumgartner (1974), S. 1745. 21 | Siehe Diemer (1968), S. 3, 24, 61-62.

140 | A NGUS N ICHOLL S wenn die Naturgesetze, die in ihr zum Grunde liegen, a priori erkannt werden, und nicht bloße Erfahrungsgesetze sind.«22 Eben weil, so Kant, die apriorischen Bedingungen des Wissens nur durch eine apriorische Philosophie erklärt werden könnten, sei die Philosophie der erste und bedeutendste Baustein aller Wissenschaften. Ohne eine solche Erklärung der apriorischen Bedingungen des Erkennens könnten die Grenzen der Vernunft und deswegen auch der Rahmen in dem Wissenschaft sinnvoll operieren kann, gar nicht ausgemacht werden. Ohne eine solche Erklärung würden wir z.B. nicht wissen, dass, während auf der einen Seite die Physik eine apodiktische Basis in den Kategorien des Verstandes besitze and deswegen als »Wissenschaft« bezeichnet werden könne, auf der anderen Seite die Chemie nur auf empirischen Betrachtungen basiere und ihr daher nur der Status einer »systematischen Kunst« zugesprochen werden könne.23 Auch die Biologie, da sie heuristische und teleologische Urteile verwenden müsse, um die Entwicklung der Organismen zu erklären (wie Kant im zweiten Teil der Kritik der Urteilskraft darlegt), gelte nicht als »Wissenschaft« und müsse eher im Zusammenhang mit der Ästhetik betrachtet werden. Was waren aber die Konsequenzen dieses apriorischen Wissenschaftsbegriffes für den sich entwickelnden Forschungsbereich der Mythologie? Die Nachfolger Kants bemerkten bald, dass, auch wenn Kant die subjektiven Bedingungen des Wissens richtig beschrieb und erklärte, dies zugleich zur Ausgrenzung des menschlichen Wissens von der sinnlichen Realität als solcher führte. Hier ist nicht der Ort zu diskutieren, auf welche Art und Weise u.a. Fichte, Schelling oder Hegel diese Kluft systematisch zu überbrücken suchten (obwohl es bemerkenswert ist, dass alle drei, insbesondere Fichte in seiner Wissenschaftslehre, ihre jeweiligen Systeme mit dem Begriff der »Wissenschaft« assoziierten).24 Ich möchte mich auf einen fragmentarischen und skizzenhaften Versuch, mit diesem philosophischen Erbe Kants umzugehen, konzentrieren: das »Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus« von 1796/7, dessen Autoren Schelling, Hegel und Hölderlin25 sind. »Wir müssen«, so argumentieren sie, 22 | Kant (1983), Bd. 5: S. 12. 23 | Kant (1983), Bd. 5: S. 12. 24 | Siehe H. Hühn (2005), S. 915-920. 25 | Die eigentliche Verfasserschaft des »Systemprogramms« bleibt ein umstrittenes Thema. Das »Systemprogramm«, so Christoph Jamme und Frank Völkel, ist »vermutlich Anfang 1797 entstanden und stammte aus der Feder Hegels; es wurde auch Schelling, Hölderlin und Hegel zugeschrie-

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»eine neue Mythologie haben, diese Mythologie aber muß im Dienste der Ideen stehen, sie muß eine Mythologie der Vernunft werden. Ehe wir die Ideen ästhetisch d. h. mythologisch machen, haben sie für das Volk kein Interesse und umgekehrt, ehe die Mythologie vernünftig ist, muß sich der Philosoph ihrer schämen. So müssen endlich Aufgeklärte und Unaufgeklärte sich die Hand reichen, die Mythologie muß philosophisch werden, um das Volk vernünftig, und die Philosophie muß mythologisch werden, um die Philosophen sinnlich zu machen. Dann herrscht ewige Einheit unter uns.«26

In diesem Text ist eine neue, von der kritischen Philosophie Kants beeinflusste Beziehung zwischen Mythologie und Wissenschaft am Werk. Das »Systemprogramm« zeigt vor allem, dass die von Kant vollzogene Neubestimmung des Wissenschaftsbegriffes, sowie die ganze kritische Philosophie selbst, der Mythologie in Deutschland um 1800 eine neue Rolle zugewiesen hatte. Kant hatte behauptet, dass ein großer Teil des menschlichen Wissens nicht in der Realität selbst, sondern in a priori existierenden Begriffen und Ideen verankert ist. Die in der dritten Kritik behandelte teleologische Vorstellung vom Organismus als Naturzweck ist für Kant eine notwendige Folge solcher apriorischen Ideen der Vernunft; die Frage, aber ob diese Ideen eine objektive Basis in der Natur selbst hätten, könne nicht beantwortet werden. Als Lösung dieses Problems bot sich das »Systemprogramm« an. Seine Verfasser postulierten, dass die Mythologie eine Form der menschlichen Äußerung sei, in der eine sinnliche und vielleicht auch praktisch-politische Verkörperung der vernünftigen und teleologischen Ideen möglich wäre. Die »Vernunftideen« sollen »durch Schönheit vermittelt und mit der Mythologie, mit der Ausbildung der Phantasie und des Herzens verknüpft« werden.27 Indem die Mythologie die Philosophie »sinnlich machen« würde, könne sie auch zeigen, dass die menschliche Rationalität eine Beziehung zur äußeren Realität »an sich« habe. Das mythische Kunstwerk, das Werk »im Dienste der Ideen«, würde dadurch die Grenzen der kantischen Wissenschaft aufheben. Auf diese Weise fungiere die Mythologie nicht mehr als Gegenbegriff zur Wissenschaft, im Gegenteil, sie würde als Teil der Wissenschaft sowie als Teil der Philosophie fungieren und deswegen auch von der Wissenschaft und der Philosoben.« Siehe Jamme und Völkel (2003) Bd. 3.3, S. 246. Siehe hierzu auch: Jamme und Schneider (1984), S. 63-76; Hansen (1989). 26 | »Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus« (1796), in Hölderlin (1992-1994), Bd. 2, S. 577. 27 | Gethmann-Siefert (1984), S. 234

142 | A NGUS N ICHOLL S phie ununterscheidbar sein. Anders gesagt, sie würde den neuen und revolutionären Status einer »Mythologie der Vernunft« haben. Die Idee einer »Mythologie der Vernunft« ist keineswegs bloße Manifestation eines allgemeinen europäischen Interesses an der Mythologie. Es gibt z.B. keine mit dem »Systemprogramm« vergleichbaren Ansichten zur Mythologie in der englischen Romantik. Die Konzeption einer »Mythologie der Vernunft« muss vielmehr als ein spezifisch deutsches Phänomen betrachtet werden. Sie hat sich aus Herders Idee einer »Mythologie der Gegenwart« und aus der Rezeption der kritischen Philosophie Kants entwickelt.28 Das »Systemprogramm«, so Christoph Jamme und Frank Völkel, bezieht sich auf die »Bedingungen der Möglichkeit der politisch-gesellschaftlichen Umsetzung dessen, was bislang nur philosophisch-theoretisch gedacht (Kant) worden war.«29 Ziel des »Systemprogramms«, schreibt Manfred Frank, sei deswegen nicht die Rettung der »superstitiösen Inhalte« der alten Mythen, sondern vom alten Mythos solle nur die Funktion transzendenter Legitimation (im Sinne Kants) übertragen und im Kontext der modernen Gesellschaft verwendet werden. Indem das »Systemprogramm« die Mythologie mit den Ideen der Vernunft verbindet, unterscheidet es sich auch von Friedrich Schlegels »Rede über die Mythologie«, die eher eine ästhetische und naturphilosophische Konzeption der Mythologie anbietet.30 Der Mythosbegriff des »Systemprogramms«, mit seiner teleologischen und gesellschaftspolitischen Ausrichtung, entspricht einem Typus von Begriff wie ihn auch die Geschichtlichen Grundbegriffe analysieren: »alte Ausdrücke [...] die nicht nur zum Vorfeld deutscher Klassik und des Idealismus gehören, sondern die in gleicher Weise die Terminologie für Staat und Gesellschaft – wie diese Bezeichnungen selber – neu profi lieren.«31 Kants Neubestimmung des Wissenschaftsbegriffes ersetzte nicht nur sein eigenes vorkritisches Interesse an der empirischen Anthropologie, sondern stellte auch die früheren Entwicklungen der deutschen Anthropologie (z.B. bei Herder, Feder und Meiners) infrage. Die bloße Erfahrung galt Kant als ein unzulängliches Fundament für wissenschaftliches Wissen. Eine auf diese Weise angeleitete Philosophie hatte kein Interesse mehr an der Anthropologie als einer am »ganzen Menschen« orientierten »Erfahrungsseelenkunde«.32 Aber eben da28 | Siehe: Frank (1982), S. 123-187. 29 | Jamme und Völkel (2003), Bd. 3.3, S. 245-246. 30 | Siehe hierzu: Bohrer (1983), S. 56-57. 31 | Koselleck (1972), S. xv. 32 | Zammito (2002), S. 253.

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mit schuf die kritische Philosophie ein neues Problem für den deutschen Idealismus: Können, so lautete die sich anschließende Frage, dann die teleologischen und vernünftigen Ideen des Menschen eine Rolle in der politisch-praktischen Realität spielen? Das »Systemprogramm« war ein durchaus deutscher Versuch, diese Frage dezidiert positiv zu beantworten und die Mythologie mit der Vernunft, sowie mit der Wissenschaft (im post-kantischen oder idealistischen Sinne dieses Begriffs) in Übereinstimmung zu bringen.

3. Die Sprache und My thologie bei Friedrich Max Müller Um die spezifisch deutschen Bedingungen, unter denen sich das Spannungsverhältnis von Wissenschaft und Mythologie entwickelte, zu erhellen, ist es angebracht, einen Vergleich mit der britischen Mythosforschung des neunzehnten Jahrhunderts zu ziehen. Einer der bedeutendsten Vertreter der britischen Mythosforschung in den Jahren 1850 bis 1900 war ein Deutscher namens Friedrich Max Müller (1823-1900), dessen wichtigste Werke nach 1850 und hauptsächlich auf Englisch erschienen sind. Der junge Max Müller betrieb sein Studium zunächst bei Hermann Brockhaus in Leipzig und später bei Franz Bopp und Friedrich Schelling in Berlin. Mit der Absicht, seine Karriere als Sanskritexperte voranzutreiben, ließ sich Müller 1846 in London nieder, um dort die Sammlung der British East Company und insbesondere deren Manuskripte des Rg Vedas erforschen zu können. Im Jahre 1851 wurde Müller als Taylorian Professor of Modern European Languages an die Oxford University berufen, und im Jahre 1868 wurde diese Stelle in einen Lehrstuhl für Comparative Philology umgewandelt, um den Umfang von Müllers Forschungsinteressen bzw. seine wichtigen Beiträge in den Bereichen Sanskrit, vergleichende Religions- und Mythologieforschung zu würdigen.33 Den größten Einfluss auf Müllers Theorie der Mythologie hatte Friedrich Schelling, dessen Vorträge über Mythologie er in Berlin im Jahre 1844 gehört hatte. Hier ist nicht mehr von dem Schelling des »Systemprogramms«, sondern von dem späten Schelling die Rede, dem Schelling der Philosophie der Mythologie, die erst 1842 erschienen war. Der späte Schelling betrachtet die Sprache als den Schlüssel zum Verständnis der Mythologie. Die Sprache, so postulierte er, habe ihre Ursprünge in einer Eigenschaft der Mythologie, nämlich in deren Tendenz, physische Ursachen und Kräfte durch Namen, grammatika33 | Siehe Bosch (2002).

144 | A NGUS N ICHOLL S lische Genera und Personifi kationen zu begreifen. Nomina wie »der Himmel« oder »die Erde« würden zeigen, so Schelling, dass die Sprache eine konventionelle, objektivierte und abgeleitete Form eines ursprünglichen und mythologischen Anthropomorphismus sei.34 Mit dem »Systemprogramm« und mit Schellings System des transzendentalen Idealismus (1800) teilt diese Konzeption der Mythologie noch die Idee, dass Mythologie eine kognitive Funktion besitzt und nicht eine rein irrationale Erscheinung ist.35 Müllers Theorie der Mythologie ähnelt Schellings Philosophie der Mythologie dann vor allem in ihrer Betonung der Beziehung von Sprache und Mythos, sowie von Mythos und Denken (Auffassungsweise). Da aber Müller die Mehrheit seiner Publikationen auf Englisch verfasste, bezeichnete er die Philologie und die Mythologieforschung als »sciences« (im englischen Sinne des Wortes). Er sprach von einer »science of language« und einer »science of mythology«. Was aber bedeutet der Begriff »science« in diesem Zusammenhang? Welche Auffassung verbirgt sich hinter diesen Charakterisierungen? Als überzeugter Lutheraner mit kantischen sowie romantischen Tendenzen war es Müllers Ziel, die Menschheit nicht nur als rein empirisches wissenschaftliches Objekt, sondern zugleich als Assoziation rationaler, mit transzendentaler und teleologischer Subjektivität begabter moralischer Individuen zu betrachten. Auf dem Spiel standen für Müller deswegen nicht nur die Bedeutungen von »Wissenschaft« und »Mythologie«, sondern auch (und insbesondere nach der Veröffentlichung von Darwins Descent of Man) der wissenschaftliche sowie religiöse Status der Menschheit selbst. Wenn Müller also nach 1860 den Begriff »science« in Bezug auf »language« und »mythology« verwendet, praktiziert er eine durchaus problematische Übersetzung des kantischen Wissenschaftsbegriffes. Obwohl »science« im Englischen noch im frühen neunzehnten Jahrhundert nicht ausschließlich für naturwissenschaftliche Untersuchungen gebraucht wurde – z.B. bezeichnet John Stuart Mill im Jahre 1828 die Ethik als »moral science« und die Philosophie als »science of the mind«36 – bedeutete er um 1860 und insbesondere nach Darwins Origin of Species (1859) eine empirisch-experimentelle und keinesfalls eine transzendentale oder teleologische Forschungsmethode.37 In dieser 34 | Siehe Bowie (1990), S. 107-108. 35 | Siehe hierzu Bowie (1990), S. 108-109. 36 | John Stuart Mill, Westminster Review, IX (1828): S. 140 (zitiert im Oxford English Dictionary unter »science«). 37 | Siehe hierzu Yeo (1993), S. 10, 30; Williams (1976), S. 276-280.

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empirisch-naturwissenschaftlichen Kultur vertrat Müller eine sehr isolierte Position, nämlich die, dass Kants Kritik der reinen Vernunft den Empirismus Humes erfolgreich widerlegt hätte. In der Einleitung zu seiner im Jahre 1881 veröffentlichen Übersetzung der Kritik der reinen Vernunft versuchte Müller, den zu dieser Zeit erfolgreichen englischen Begriff der »physical science« durch die apriorische Philosophie Kants in Frage zu stellen. »We live«, so Müller in seiner Einleitung zur ersten Kritik Kants, in an age of physical discovery, and of complete philosophical prostration, and thus only can we account for the fact that physical science, and, more particularly, physiology, should actually have grasped at the sceptre of philosophy. Nothing, I believe, could be more disastrous to both sciences.38

Während des neunzehnten Jahrhunderts hatte Kants kritische Philosophie eine sehr begrenzte Wirkung auf die Debatten über die Methoden der englischen »sciences«. Spuren davon finden sich vor allem in den Werken William Whewells.39 Nach 1850 war ihr Einfluss aber noch geringer und mit der Veröffentlichung von Darwins Origin of Species im Jahre 1859 setzte sich der Siegeszug der empirischen »physical science« noch fort. Diese epistemologische Ausrichtung der britischen Wissenschaft stellte für Müller eine besondere Herausforderung dar. Seine englische Übersetzung der ersten Kritik war auch ein Versuch, etwas gegen den Erfolg der britischen »physical science« zu setzen und eine Rehabilitierung des Kantischen Wissenschaftsbegriffes durchzusetzen. 40 Man könnte die Ergebnisse seiner Bemühungen

Schon um 1867 wurde der Ausdruck »physical science« häufig auf Englisch verwendet, um eine empirische und positivistische Forschungsmethode zu bezeichnen, wie z.B. in folgendem Artikel aus der »Dublin Review« von 1867: »In this article, as on a former occasion, we shall, for convenience’ sake, use the word ›science‹ in the sense which Englishmen so commonly give to it; as expressing physical and experimental science, to the exclusion of the theological and metaphysical.« Dublin Review (April, 1867): S. 255 (zitiert im Oxford English Dictionary unter »science«). 38 | Müller (1881), S. xxiv, xxxi. 39 | Siehe hierzu Fisch (1991), S. 125-128; Yeo (1993), S. 13-15; Seward (1938). 40 | Den kulturellen Erfolg der »physical science« diskutiert zum Beispiel Thomas Henry Huxleys in einem öffentlichen Vortrag zum Thema »Science and Culture« aus dem Jahre 1880. Siehe Huxley (1881).

146 | A NGUS N ICHOLL S als einen »wissenschaftlich-strategischen Kompromiss« bezeichnen, 41 ablesbar ist dieser vor allem an seinen öffentlichen Vorträgen aus den sechziger Jahren, in denen er seine Konzeption der »Science of Language« erläuterte. Um seine »Science of Language« zu legitimieren, brachte Müller zuvorderst das Argument vor, dass Sprache nicht ein bewusstes Produkt oder eine Erfindung der menschlichen Vermögen sei, vielmehr sei sie das Ergebnis eines uralten natürlichen Prozesses, der sich dem menschlichen Bewusstsein entziehe. Bezugnehmend auf James Cowles Prichards Researches into the Physical History of Man (1813) und Charles Lyells Principles of Geology (1830) bestand er darauf, dass die Geschichte der Sprache mit der geologischen Geschichte vergleichbar ist: Wie in der Geologie gebe es uralte historische Schichten, die vor allem in den Sprachen und Mythen der Antike (z.B. Sanskrit und Altgriechisch) zu finden seien. In diesem Sinne seien Mythen für die »Science of Language« wie Fossile, die dem Forscher einen Schlüssel anbieten würden zur Erklärung der historischen Entwicklung der Menschheit. 42 (In dieser Hinsicht stimmte Müllers historische Konzeption der Mythologie mit der Mythostheorie Christian Gottlob Heynes überein). Müllers Bemühungen, theoretische Prinzipien der so genannten »physical sciences« auf seine »Science of Language« anzuwenden, werden vor allem an seiner Verwendung des Darwinschen Begriffs »natural selection« sichtbar. In seinen »Lectures on the Science of Language« beruft er sich auf die Idee der »natural selection«, um ein Phänomen der Sprache zu erklären: Das historische Aussterben von »phonetic types« oder »language roots«. Hier seien die phonetischen Wurzeln der Sprachen mit den Organismen der Biologie zu vergleichen, und der Abgang von manchen dieser phonetischen Wurzeln sei durch »the genius of Darwin« und dessen Verständnis des »struggle for life« zu erklären. 43 Müllers Konzeption und Verwendung des Begriffs »natural selection« war aber durchaus idiosynkratisch und stimmte nicht mit der Position Darwins überein, denn er verstand »natural selection« als einen teleogischen Prozess. 44 In der Geschichte der Sprachen, sowie in der Biologie ist »natural selection«, so Müller, eine Art »rational selec-

41 | Siehe hierzu: Schrempp (1983). 42 | Müller (1875), S. 84; zitiert in Bosch (2002), S. 207. 43 | Müller (1864), S. 305. 44 | Schrempp (1983), S. 100.

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tion«. 45 In der Tat war Müllers Begeisterung für Darwin von Beginn an ambivalent und nicht von langer Dauer. Vor allem aus religiösen Gründen änderte sich seine Einstellung gegenüber Darwin nach der Veröffentlichung von Descent of Man grundsätzlich. Diese neue Haltung führte zu einer öffentlichen Debatte zwischen Müller und Darwin über den Ursprung der Sprache und zu einer Konfrontation zwischen dem kantischen und dem empirischem Wissenschaftsbegriff. In seinem Descent of Man legte Darwin dar, dass es »no fundamental difference between man and the higher mammals in their mental faculties« gebe. 46 »Humans and animals«, so Darwin, »all have the same senses, intuitions and sensations – similar passions, affections and emotions [...] they possess the same faculties of imitation, attention, memory, imagination, and reason, though in very different degrees.« 47 Darwin verwendete Humes Maxime »no ideas without impressions« in seiner Theorie der menschlichen Sprache, indem er behauptete, dass die Sprache der Menschen von äußeren Eindrücken abgeleitet sei. Da die so genannten »higher mammals«, wie etwa der Menschen, auf die Eindrücke der Natur reagierten und diese Eindrücke in der Sprache nachahmen, existiere der Samen zur Sprachfähigkeit auch außerhalb der menschlichen Sphäre. Der Mensch verliere also seinen besonderen Status als gottgleiches, sprachbegabtes Wesen. Als Lutheraner konnte Müller diesen Überlegungen nicht zustimmen. Die darwinistische Philosophie, so Müller, biete nicht nur eine wissenschaftliche Theorie an, sondern sei »a question of life and death«, indem sie die ganze christliche Weltanschauung in Frage stelle. 48 Noch vor der Veröffentlichung von Descent of Man war Müller der Meinung, dass die Sprachfähigkeit eine exklusiv menschliche Fähigkeit sei. Schon im Jahre 1861, in der ersten Reihe seiner »Lectures on the Science of Language«, argumentierte Müller wie folgt: »the one great barrier between the brute and man is Language. Man speaks, and no brute [d.h. Tier] has ever uttered a word. Language is our Rubicon, and no brute will dare to cross it.« 49 Um seine Position gegenüber Darwin zu rechtfertigen, verwendete Müller nach der Veröffentlichung des Descent of Man den kantischen apriorischen Wissenschaftsbegriff sowie den Begriff der Mythologie. Die Werke Kants lieferten den Nachweis, so Müller, dass die menschli45 | Müller (1864), S. 305-307. 46 | Darwin (1872), Bd. 1, S. 35. 47 | Darwin (1872), Bd. 1, S. 48-49. 48 | Müller (1873a), S. 527 49 | Müller (1861), S. 340.

148 | A NGUS N ICHOLL S che Wahrnehmung der äußeren Realität von den apriorischen Elementen der Subjektivität abhängig sei. Deshalb sei es völlig unmöglich, dass die menschliche Sprache und das durch Mythen ausgedrückte menschliche Denken nur von den Eindrücken der äußeren Natur abgeleitet seien. In drei im Jahre 1873 gehaltenen öffentlichen Vorträgen zum Thema »Lectures on Mr Darwin’s Philosophy of Language« versuchte Müller Darwins von Hume beeinflusste Sprachtheorie durch die Anwendung einer apriorischen »science of language« systematisch zu widerlegen.50 Seine Analyse der mannigfaltigen Sprachen und Mythen der Welt, insbesondere des Altgriechischen und des Sanskrit, ließ Müller von den Zellen, als den fundamentalen Komponenten des Organismus, auf ähnliche Komponenten in den Sprachen schließen, die man Wurzeln [roots] zu nennen habe. Diese »roots« entstünden nicht aus Eindrücken der äußeren Natur, sondern seien a priori und begrifflich und würden auf eine ähnliche Art und Weise wie Kants Grundsätze der apriorischen Erkenntnis funktionieren, indem sie die menschliche Erfahrung begrifflich fassen und organisieren würden.51 Das Hauptproblem für Müllers Philosophie der Sprache sowie für seine Darwin-Kritik bestand darin, dass sie im epistemologischen Widerspruch mit sich selbst stand. Ursprünglich hatte Müller den Darwin’schen Begriff der »natural selection« verwenden wollen, um seine »science of language« in Übereinstimmung mit der empirischen »physical science« zu bringen, nach dem Erscheinen von Darwins Descent of Man aber benutzte er den apriorischen und kantischen Wissenschaftsbegriff, und zwar um Darwins Theorie der Sprache und seine Theorie von der menschlichen Abstammung zu widerlegen. Die nach 1873 einsetzende und hauptsächlich negative Rezeption von Müllers »Science of Language« ist zum Teil auf diesen apriorisch-empirischen Widerspruch ausgerichtet.52 Andere Einwände gegenüber Müller, die die Annahme einer elementaren Sprachfähigkeit bei Tieren unterstützten, wurden auch von einigen Nachfolgern Darwins erhoben.53 Da Müllers »science of mythology« mit seiner »science of language« in enger Verbindung stand, finden sich in beiden »sciences« ähnliche Probleme. Ebenso wie er die Sprache mit der apriorischen Rationalität des Menschen assoziierte, so postulierte er auch, dass die Mythologie in ihren antiken Ursprüngen ein vernünftiges Phänomen 50 | Siehe Müller (1873a), (1873b), (1873c). 51 | Müller (1873c), S. 2, 7-8. 52 | Siehe: Whitney (1892); Valone (1996). 53 | Siehe bzw.: Romanes (1884) and Romanes (1888); Knoll (1986): S. 3-22; Bosch (2000), S. 83-87.

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gewesen sei, das durch die Philologie und insbesondere die Etymologie erklärt werden könne. In dieser Hinsicht widersprach Müller dem britischen Historiker George Grote (1794-1871), der die Mythen der Griechen für nicht vertrauenswürdige und irrationale Geschichten hielt, und der damit der überlieferten sokratischen Mythoskritik zustimmte.54 Die folgende Tabelle gilt als typisches Beispiel für Müllers frühe Überlegungen zum Thema Mythologie. Sie basiert auf seinem Aufsatz zum Thema »Comparative Religion«: physische Ursache

Sprachwurzel [root] Nomen

Appellativ in Wurzel

Gott / Mythos / Numen

Indo-Europäische Ableitungen

Himmel, Sonne, Licht

div

scheinen glänzen

Dyas (Hindu)

deva, deus, deity

Der Gott, der den Himmel erleuchtet

Hier fungiert der Himmel als natürliches Phänomen, das in der Wurzel div begrifflich ausgedrückt wird. Die Wurzel div bezieht sich auf die Klasse von Dingen, die »scheinen« oder »glänzen« und in diesem Sinne dem Himmel ähneln. Dies, so Müller, könne als eine nachvollziehbare Beschreibung der Umgebung des Menschen verstanden werden. Mythen seien daher (in ihrer ursprünglichen Form) Beispiele von Auffassungs- bzw. Denkweisen der Welt, sie gelten nur deshalb als »irrational«, weil das ursprüngliche Nomen (div) im Laufe der Jahrhunderte den Status eines Numens, d.h. eines Gottes, bekommen habe. Mythen erscheinen also als »irrational«, weil die ursprünglichen Bedeutungen von Sprachwurzeln in Vergessenheit geraten seien. Dieser Mythos des Himmels, der den Eindruck einer abergläubigen Geschichte über den Ursprung des Lichtes erwecke, sei in der Tat die einfache und vernünftige Beschreibung eines Phänomens der Natur.55 Der Zweck der »science of mythology« sowie der »science of language« sei die Wiederentdeckung der ursprünglichen Bedeutungen von Sprachwurzeln.56 Diese Arten von »science«, die von Müller mitunter auch als »linguistic palaeontology« und »linguistic geology« bezeichnet wurden, seien »Wissenschaften« im empirischen und im 54 | Bosch (2002), S. 243-244. 55 | Bosch (2002), S. 262-264, 271. 56 | Müller (1897), Bd. 1, S. 51. Zitiert in Bosch (2002), S. 279.

150 | A NGUS N ICHOLL S kantisch-apriorischen Sinne: Ein deutsches Wort, das sich nicht ins Englische übersetzen ließe, aber das Müller durch das englische Wort »science« ersetzte. Zumindest innerhalb eines gewissen Zeitraums war Müller einigermaßen erfolgreich, vor allem in Bezug auf einen neuen akademischen Fachbereich in Großbritannien, nämlich die Anthropologie. Der erste Professor der Anthropologie in Großbritannien – Edward Burnett Tylor (1832-1917) – las Müllers frühe Vorträge zu Themen wie »Comparative Mythology« und »Science of Language« mit großem Interesse und war in den frühen sechziger Jahren von Müllers angeblich Darwin’scher Philologie überzeugt. Tylors Biographin Joan Leopold bemerkt dazu: Tylor »attentively noted down Müller’s application of Darwinian analogies to the development of language,« und nahm die »prominent, pseudo-Darwinian evolutionary elements in Müller’s linguistic thought« in seine eigenen Werke auf.57 Aber nach Müllers Kritik an der Darwin’schen Theorie der menschlichen Abstammung wuchs die Distanz zwischen den Mythostheorien Müllers und Tylors zunehmend. Während Müller die Mythologie als eine ursprünglich vernünftige Beschreibung der menschlichen Welt betrachtete, die nur wegen des Aussterbens der antiken Sprachwurzeln als »irrational« angesehen werde, war die Mythologie für Tylor ein Beispiel für den vorrationalen Animismus, der noch bei primitiven (d.h. angeblich »unentwickelten«) Völkern der Welt, bzw. den kolonisierten Völkern zu besichtigen sei.58 Ein solches Verständnis von Mythologie wurde später von James George Frazer (Verfasser des Golden Bough) wieder aufgegriffen und bekam den Status eines Paradigmas in der britischen Anthropologie des späten neunzehnten Jahrhunderts.59 Den positivistischen Weltanschauungen Tylors und Frazers zufolge war die Mythologie nur noch eine Art Vorwissenschaft, die zwar nach kausalen Ursachen in der Natur sucht, aber auf eine primitive, falsche und vollkommen irrationale Art und Weise, und zwar, weil sie von einem durchdringenden und abergläubigen Anthropomorphismus geprägt sei.60 Die Mythologie gehörte, trotz ihrer Rehabilitierung im »Systemprogramm« und in der Mythostheorie Müllers, für Tylor und Frazer wieder zur niedrigsten Stufe der kulturellen Entwicklung der 57 | Leopold (1980), S. 31. Siehe auch dazu: Bosch (2002), S. 290; Stocking (1987), S. 56-62. 58 | Siehe hierzu: Schrempp (1983), S. 91-99; Stocking (1987), S. 305307; Nicholls (2007), S. 83-114. 59 | Stocking (1987), S. 320. 60 | Siehe hierzu: Segal (2004), S. 14-35; Segal (1999), S. 7-18, 39-43.

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Menschheit, wie es bereits Xenophanes, Heraklit und Sokrates angenommen hatten.

Schlussfolgerung Der Mythos stand zunächst mit dem Begriff des Logos, und seit der Auf klärung mit dem Begriff der Wissenschaft stets in enger Verbindung. Logos und Mythos unterhielten, wie Manfred Frank anmerkt, seit der Antike eine dialektische Beziehung zueinander, indem der Logos »als des Mythos eigener Logos« zur Welt komme. Logos sei deswegen »von Geburt Mytho-logie, in einem der Tod und die Verinnerung des Mythos.«61 Während der Aufklärung findet man dann eine gewisse Zweideutigkeit im Begriff des Mythos. Auf der einen Seite gehört die Mythologie zur Kindheit der vorwissenschaftlichen menschlichen Entwicklung, oder in den Worten Bernard Le Bouvier de Fontenelles (1657-1757) zur »l’histoire des erreurs de l’esprit humain«.62 Auf der anderen Seite bekommt der Mythos zum ersten Mal den Status eines »wissenschaftlichen Objekts«, vor allem in der neuen Fachdiziplin der deutschen Anthropologie bzw. bei Feder, Meiners und Herder. In diesem Zusammenhang bedeutete »Wissenschaft«, nach Hume, die empirische Erforschung des »whole man«. Mythologische Texte wurden in diesem wissenschaftlichen Kontext als empirische Zeugnisse der menschlichen Kultur und Entwicklung betrachtet. Nach der kritischen Philosophie Kants kam es, innerhalb des deutschen Sprachraums zumindest, zu einer Destabilisierung des Wissenschafts- sowie des Mythosbegriffs. Kants durchgehende Kritik an dem empirischen Wissenschaftsbegriff sowie an der empirischen Anthropologie, im Zusammenspiel mit dem allgemeinen Erfolg seiner kritischen Philosophie, wies im Zeitalter der deutschen Romantik der Mythologie eine neue Rolle zu. Weil »Wissenschaft« durch Kant erstmalig rein apriorisch und deswegen auch philosophisch verstanden wurde, wandelte sich auch der Mythosbegriff, insbesondere im sogenannten »Systemprogramm des deutschen Idealismus«, zu einer Konzeption mit philosophischen, ästhetischen, politischen, sowie teleologisch-ontologischen Funktionen. Die britische Rezeption von gewissen Elementen des in Deutschland während der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts neu bestimmten Mythosbegriffs wird am Beispiel Friedrich Max Müllers 61 | Frank, (1983), S. 17. 62 | Bernard Le Bouvier de Fontenelle, Histoire des oracles (1687), zitiert in: Horstmann, (1984), S. 286.

152 | A NGUS N ICHOLL S sichtbar. Der komplizierte Fall Müllers zeigt nicht nur, auf welche Weise der Mythosbegriff im Zusammenhang mit dem Wissenschaftsbegriff definiert wurde, sondern verdeutlicht auch die akademischen, politischen und kulturellen Dimensionen dieser Termini. Müller versuchte, den kantischen Wissenschaftsbegriff und eine vom deutschen Idealismus beinflusste Konzeption der Mythologie im Kontext der britischen empirischen »science« zu verwenden und zugleich seine »sciences of language and mythology« mit diesem Wissenschaftstypus in Übereinstimmung zu bringen. Nach der Veröffentlichung von Darwins Descent of Man jedoch musste sich der Lutheraner Müller neu orientieren. Mithilfe der antiken Sprachen und Mythologien als kognitiven Elementen suchte er nun die exklusive Sprachfähigkeit des Menschen zu beweisen und die in Descent of Man dargelegte Theorie menschlicher Abstammung »wissenschaftlich« zu widerlegen. Für Müller war das Spannungsverhältnis von Wissenschaft und Mythologie daher nicht nur eine akademische Frage: Seine kulturellen und religiösen Implikationen machten es zu nichts weniger als »a question of life and death«.63

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Triebfeder und Maschine in der politischen Theorie Johann Heinrich Gottlob von Justis (1717-1771) Ere Per tti Nokkala 1. Einleitung Das gesellschaftliche Wissen wird durch die Regeln für den Gebrauch von Begriffen konstituiert. Seit den 1950er Jahren wird zunehmend die Relevanz von Metaphern in Prozessen der Wissensbildung und -vermittlung anerkannt. Man könnte sogar behaupten, dass die Konstituierung vom Wissen ohne Metaphern unmöglich sei.1 Dass historische Begriffs- und Metapherngeschichte, als Geschichte des Wissens interpretiert, die epistemischen Strukturen dieser Prozesse offen legen kann, ist in der jüngsten Forschung herausgestellt worden.2 Beeinflusst durch die Arbeit David Woottons, wird im Folgenden die These vertreten werden, dass auch die Aufklärung des Gebrauchs von Begriffen und Metaphern, die auf den ersten Blick wenig mit Politik zu tun haben, – zum Beispiel Maschine und System – entscheidend zum Verständnis der Geschichte des politischen Denkens bei1 | Danneberg (2002), S. 305-307. 2 | Bödeker (2006), S. 94. Die Herausforderung sei, historische Begriffsgeschichte theoretisch in die Richtung einer »Wissen- und Bewusstseingeschichte zu entwickeln, die die Repräsentation des gesellschaftlichen Wissens einer Epoche in ihrer Genese, ihren Konstitutionsbedingungen, ihren kulturhistorischen Traditionslinien und epistemischen Strukturen offen legen kann.«

158 | E RE P ERT TI N OKK AL A tragen kann.3 Während Wootton sich in seinen eigenen Studien auf die Geschichte des modernen angelsächsischen Konstitutionalismus, auf die checks and balances konzentriert, sucht dieser Aufsatz die Verwendung mechanischer Metaphern im deutschen Sprachraum des 18. Jahrhunderts zu rekonstruieren. Der Entschluss, sich dabei auf einen Autor zu konzentrieren, verdankt sich den Anregungen Hans Blumenbergs. Neben den diachronen Längsschnitten forderte er synchrone Querschnitte in denen »Begriff und Metapher, Definition und Bild als Einheit der Ausdruckssphäre eines Denkers oder einer Zeit ernst [genommen]« werden. 4 Die Konzentration auf einen Autor, nämlich Justi, ist auch durch den Forschungsstand motiviert. Denn obgleich dieser Artikel einige Funde der früheren Forschung bestätigt, so kann er doch darüber hinaus zeigen, dass die Staatsmaschine-Metapher häufig zu negativ und ohne haltbare Begründung als freiheitsfeindlich interpretiert worden ist. Die vorliegenden Studien basieren zum größten Teil auf Aussagen Justis. Der von mir festgestellte Widerspruch zwischen den vorherrschenden Interpretationen und der tatsächlichen Verwendung der mechanischen Metaphern durch Justi selbst erfordert weitere Forschungen.

2. Justis Metaphernverständnis Nach Johann Heinrich Gottlob von Justi ist »(e)in Staat [...] ein einfacher moralischer Körper, dessen Theile den allergenauesten Zusammenhang mit einander haben. Er ist eine Maschine, dessen Räder und Triebfedern sehr wohl ineinander passen müssen, wenn die Maschine alle Kräfte und Thätigkeit zeigen soll, deren sie fähig ist.«5 Welchen Stellenwert hatten solche Metaphern eigentlich bei Justi? Justi war ein Kenner der Rhetorik. Während seiner Tätigkeit als Lehrer der Deutschen Beredsamkeit in Wien schrieb er ein Buch, das als Basis für seine Vorlesungen dienen sollte. Die Anweisung zu einer guten Deutschen Schreibart (1755) beginnt mit einem theoretischen Teil, der Justis eigene Auffassung von Metaphern und anderen Tropen verdeutlicht. »Die größte Schönheit der Worte«, so Justi, bestehe darinnen [...], daß die denjenigen Begriff, welchen sie anzuzeigen bestimmt sind, auf die genaueste und vollkommneste Art ausdrücken. Der Grund von dem Gebrauch der Wörter, in einer uneigentlichen Bedeutung, bestärket 3 | Wootton (2006), S. 212-213. 4 | Blumenberg (1998), S. 49. 5 | Justi (1759), S. 320.

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diesen meinen Satz vom neuen. […] die Ursache allein darinnen beruhet, daß alsdenn diese Wörter den Begriff, welchen wir anzeigen wollen, viel genauer und vollkommner ausdrücken. Deshalb also und indem sie zugleich der Einbildungskraft verschiedne Bilder auf einmal vorstellen, müssen sie unserm Verstande nothwendig gefallen.6

Justi begreift Metaphern also nicht als unklare oder weniger treffende Begriffe. Vielmehr drücken Metaphern den Begriff vollkommener aus als ›einfache‹ Begriffe. Was die Metapher sichtbar macht, ist die reale Verwandtschaft zwischen den Dingen. Sie wird gebildet, indem man sich »die Aehnlichkeit und Uebereinstimmung von zwo Sachen in gewissen Eigenschaften und Beschaffenheiten vorstellet. Diese erfundene Verwandtschaft ist nicht nur bey allen Metaphern offenbar vorhanden; sondern sie ist auch der Grund von der Ironie«. Justi betonte, dass diese Ähnlichkeit auf wesentlichen und allgemeinen Eigenschaften beruhen muss: nicht auf Zufälligkeiten.7 Es stellt sich damit die Frage, worin die wesentlichen und allgemeinen Eigenschaften bestehen, in denen Staat und Maschine sich ähnlich waren. Wie konnte Justi zu der Aussage kommen: »was ich hier nur Vergleichungsweise mit einer Maschine vorstelle, ist ein sehr wahrer Satz, den man von denen Staaten mit vollkommener Gründlichkeit behaupten kann.«8

3. »Nichts ist einer Maschine so ähnlich als der große Körper des Staats« 9 – der mechanische Körper als vermittelnde Metapher Anders als der Staat, bot sich die Maschine in all ihren Teilen dem Blick des Betrachters dar. Nach Zedlers Universal-Lexicon (1739) galt: »Maschine oder Rüst=Zeug, machina, ist ein künstlich Werck, welches man zu einem Vortheil gebrauchen kan, daß man entweder in kürtzerer Zeit oder mit weniger Kraff t eine größere Last dadurch zu bewegen, oder in einerley Zeit und mit gleicher Krafft mehr auszurichten vermögend ist, als sich sonsten gewöhnlich thun läßet.«10 Der deutsche Ausdruck Maschine wurde im Sinne von Kriegs- oder Belagerungs-

6 | Justi (1774), S. 39-40. 7 | Justi (1774), S. 47-48. 8 |

Justi (1759), S. 322.

9 | Justi (1758), S. 30. 10 | Zedler (1739), Bd. 19, Sp. 1907.

160 | E RE P ERT TI N OKK AL A maschine im 17. Jh. dem Französischen entlehnt.11 Zur Zeit Justis war bereits eine Vielzahl von Maschinen in Gebrauch. Wasser-, Hand- und Windmühlen, Pumpen, Drechselmaschine, Rampen und Feuerwaffen hatten sich seit dem Mittelalter sehr schnell verbreitet. Obwohl diese Maschinen für das Alltagsverständnis von mechanischen Prozessen wichtig waren, war die paradigmatische Maschine der mechanischen Maschinenmetapher die Uhr.12 Sie wurde beispielsweise von Hobbes benutzt, um das Funktionieren des menschlichen Körpers zu erklären, und dann, und zwar indem der Körper selbst wiederum zur Metapher wurde (!), auch um die Funktionsweise des Staates (Staatskörper) zu analysieren. Im Gegensatz zu aristotelischen Körper-Metaphorik kam es dadurch zu einer Aufwertung der Teile gegenüber dem Ganzen, sie erschienen als »ursprünglicher« und der Mensch war zugleich Werkstoff und Konstrukteur der Staatsmaschine: »First, the Matter thereof, and the Artificer, both of which is Man.«13 Auch für Justi war die Uhr die paradigmatische Maschine und ähnlich wie Hobbes stellte er sich den menschlichen Körper mechanisch funktionierend vor. »Das Leben unsers Körpers«, so erklärt er, »bestehet hauptsächlich in der Bewegung der Maschine. Wie leicht ereignet sich nun ein Zufall, der diese Bewegung unterbricht, ohne etwas an dem Körper zu verletzen; gleichwie eine Uhr oft in Stockung geräth, ohne daß ein einziges Theilgen derselben verletzet ist.«14 Man kann Blumenberg nur zustimmen, der die Ansicht vertrat, dass mit dem Dualismus von Organismus und Mechanismus nicht beliebig in der Geschichte des Denkens operiert werden kann.15 Für viele Zeitgenossen Justis galt die Definition des Organismus von Zedlers Universal-Lexicon: »Organismus, ist nichts anders, als die Einrichtung der Theile eines organischen Cörpers. Er ist wenig oder gar nicht von dem Mechanismo unterschieden, vielweniger kan er, wie von einigen geschiehet, dem Mechanismo entgegen gesetzet werden.«16 Die relevante Dif11 |

Blumenberg (1998), S. 94.

12 | Remmele (2007), S. 229-230. 13 | Hobbes (1991), S. 10; Lüdemann (2007), S. 175. 14 | Justi (1760-1761), II. Band, S. 133. 15 | Blumenberg (1998), S. 94. 16 | Zedler (1740), Bd. 25, Sp. 1868. »Will man unter beyden einen Unterscheid machen, so kan solcher in nichts anders bestehen, als daß der Mechanismus die Einrichtung der Theile aller und jeder Cörper; der Organismus aber die Theile nur organischer Cörper andeute. Und so erhellet denn daraus, daß der Organismus auch ein Mechanismus, obwohl nicht der Mechanismus ein Organismus könne genennet werden. Ja man könnte

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ferenz war also nicht mechanisch vs. organisch, sondern selbstbewegt vs. fremdbewegt, genauer formuliert, das mechanistische Verständnis des Körpers brach mit der Idee, dass die Seele die Körperfunktionen steuert. Gleichsam nebenbei wurde dadurch auch das ›Körpermechanische‹ vom rein Mechanischen unterschieden, was die uns vertraute Differenz mechanisch vs. organisch theoretisch vorbereitete. Die Maschinenmetapher für den Staat wird also über das Konzept des mechanisch funktionierenden Körpers vermittelt. So konnte Justi vom Staat als »moralische(m) Körper« sprechen.17 Er entsteht, wenn Menschen ihre geeinten Kräfte und Willen einem einzigen Willen unterordnen. »Eine gesammte Kraft, die bey einem verständigen Wesen, von einem einzigen Willen geleitet wird, das ist der Begriff, den wir von einem Körper haben [...].«18 Der Staat wird folgerichtig als Summe einzelner Menschen gedacht, die alle ihrem Vermögen entsprechend in einem gemeinsamen Zweck aufgehen: der Glückseligkeit der Gemeinschaft, eben so wie alle Teile der (Körper-)Maschine einem gemeinsamen Zweck zuarbeiten.19 Zugleich ermöglichte es die Maschinenmetapher eine funktionale Differenzierung zu denken, allerdings nur innerhalb einer als Gemeinschaft verstandenen Organisationsform, die Idee einer funktional differenzierten Gesellschaft liegt wohl nicht im Horizont eines solchen Vergleichs.

4. Justis Staatsmaschine ein Zwangsmechanismus? Nach Auffassung von Mayr war das Konzept der Maschine ein Argument für eine hierarchische zentralisierte Ordnung. Er ist der Ansicht, dass auf dem europäischen Kontinent eine symbiotische Beziehung zwischen der autoritären Ordnung und dem Bild der mechanischen Uhr existierte. Schon die Wahl der Metapher sei bezeichnend. Im den Mechanismum eintheilen in Orcanicum Mechanismum und Non-Orcanicum Mechanismum, welches also zwey Arten des Mechanismi generalis wären.« 17 | Justi (1771), S. 49. »Allein, die Republiken, die moralische Körper sind, müssen auch auf moralische Gründe aufgeführet werden.«; Justi (1759), S. 6. »ein Staat, eine Republik, ein gemeines Wesen: denn diese drey Begriffe sind gleichbedeutend«. 18 | Justi (1771), S. 56. 19 | Justi (1759), S. 392. „der Staatskörper ist eine moralische Maschine, wenn man so sagen kann, deren Zusammenhang und Thätigkeit blos auf moralische Einrichtungen und Eigenschaften beruhen.“

162 | E RE P ERT TI N OKK AL A Gegensatz zu Großbritannien würden auf dem Kontinent selbstregulative Systeme abgelehnt.20 Während in Deutschland, so Mayr, die autoritäre Ordnung bevorzugt und mithilfe der Uhr veranschaulicht wurde, stieß diese Ordnung in Großbritannien im Namen der Freiheit auf Ablehnung – basierte doch das liberale Verständnis ganz auf dem Ideal eines autoregulativen Gleichgewichts. Entsprechend waren es in Großbritannien die sich rasch verbreitenden selbstregulierenden Maschinen mit so genannten Rückkoppelungsmechanismen, die den Gebrauch der einschlägigen Metaphern bestimmten. Dazu zählten der thermostatische Regler von Cornelius Drebbel (1572-1633) – der erste richtige Rückoppelungsmechanismus –, die Windrosette einer Windmühle, der Geschwindigkeitsregler für Windmühlen und der Fliehkraftregler in den Dampfmaschinen. Mit Hilfe des Rückkoppelungsmechanismus wurde ein Gleichgewicht konstituiert und aufrechterhalten.21 Auch Stollberg-Rilinger betont, dass in Deutschland die angelsächsische liberal-konstitutionelle Variante der Mechanikmetapher abgelehnt wurde. Anders formuliert: Kräfte und Gegenkräfte sollten aus dem Politischen ausgegrenzt bleiben. Sie merkt weiter an, dass in Deutschland die Verwendung der Staatsmaschinen-Metapher in die Zeit fällt, die man gemeinhin als ›aufgeklärten Absolutismus‹ bezeichnet. Ihre Blütezeit hatte sie in Deutschland in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts. In der Staatsmaschine-Metapher, so Stollberg-Rilinger, wurden zugleich die Möglichkeiten und die Grenzen des absoluten Fürstenstaates veranschaulicht. Der Staat wird dabei als Zweck-Mittel System verstanden, dessen einzelne Bestandteile alle im Dienste des Endzwecks stehen. Das einfache und mechanische Funktionieren der Maschine mit dem Fürsten als Kontrolleur, der selbst an ihre Gesetzmäßigkeiten und an diesen Endzweck, – salus publica – gebunden war, könne dann als Widerspiegelung der politischen Theorie des aufgeklärten Absolutismus interpretiert werden. Und Justi sei zweifelsohne der Hauptvertreter dieser Theorie.22 Im Gegensatz zu Mayr betont Stollberg-Rilinger also nicht nur den autoritären Charak20 | Mayr (1987). Seiner Ansicht zufolge wurde die Verwendung der Begriffe durch den Gebrauch der Technik inspiriert, S. 11: »In Europa wurden Rückkoppelungsvorrichtungen jedoch vom Mittelalter bis zum Barock nicht erwähnt. Erst im 18. Jahrhundert tauchten sie in Großbritannien wieder auf, und danach mit erheblichem Verzug auf dem Kontinent«. 21 | Mayr (1987), S. 12-13; 226-236. 22 | Stollberg-Rilinger (1993), S. 266-273; Stollberg-Rilinger (1986), S. 105 ff.

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ter der Metapher, sondern zeigt zudem, dass in ihrem Gebrauch auch die Beschränkungen des Herrschers bzw. des Regierenden zum Ausdruck kommen. Für Klippel und Fuhrmann hingegen ist das Bild der Maschine Ausdruck eines omnipräsenten und benevolenten Polizeistaates. Es impliziere Planung, Kontrolle, Disziplinierung, Zivilisierung und Rationalisierung. Die staatliche Politik werde mit ihr als rational-planbare technische Aufgabe entworfen, staatlichem Handeln werden kaum mehr Grenzen gesetzt und das Leben der Untertanen könne, so lege es die Metapher nahe, bis ins kleinste Detail geplant, überwacht und reguliert werden. Darüber hinaus würde der Wert des Individuums auf die Rolle eines austauschbaren Rädchens im Uhrwerk des Staats reduziert. Nicht der Staat stände hier im Dienste des Menschen, sondern die Menschen sollten für den Staat nutzbar gemacht werden. Fuhrmann und Klippel zufolge hatte die politische Theorie des deutschen aufgeklärten Absolutismus somit eindeutig freiheitsfeindliche Elemente. Auch sie sehen in Justi den wichtigsten Vertreter dieser mechanistischen autoritären Ordnung, nehmen die Maschinenmetapher als Indiz dafür und schließen sich daher der Auffassung Mayrs an.23 Der Autor des Politischen deutschen Glossariums (1757), der Friedrich der Große selbst gewesen sein soll, gibt ein Beispiel dafür, wie sich die autoritäre Ordnung des Absolutismus mit Hilfe der Maschinenmetapher dargestellt lässt: Unser ganzes Staatswesen ist zwar auch eine Maschine […] so ist dennoch nichts einfacheres in der Welt, als dieses sogenannte Gebäude. Es besteht aus einem Kriegsheere […] [das] nichts als der Zwang ist der Trieb dieser Maschine, und ihrer Theile unter sich. Die Würkung, welche aus diesem zusammengesetzten Körper, als dessen Kraft, und Bewegung folgen soll, ist abermal der Zwang. So sie stets diesen zu ertragen, diesen auszuführen, diesen aufzudringen im Stande ist; kann man sagen, sie sey nach dem Absehen des Werkmeisters vollkommen wohl gerathen.24

Ordnungsprinzip und einziges Antriebselement des Staats sei demzufolge der Zwang. Aber wäre dies tatsächlich in Justis Sinne?

23 | Klippel/Fuhrmann (2002), S. 235-237. 24 | [Friedrich II., der Große, König von Preußen] (1757), S. 137-138.

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5. Justis Staatsmaschine: Triebfedern und Gleichgewichte Justi wurde nicht müde zu betonen, dass die gesellschaftlich-politische Ordnung die Handlungen der Menschen erleichtert und die Erlangung der allgemeinen Glückseligkeit ermöglicht.25 Dabei unterschied sich seine Idee von Ordnung grundsätzlich von der des Autors des Politischen Glossariums. Justi stand einer militärischen Form der Regierung nämlich ablehnend gegenüber. Horst Dreitzel konnte zeigen, dass vor 1800 Gesetzmäßigkeit in Natur und Staat noch nicht notwendig als Beschränkung, sondern viel eher als eine Voraussetzung für die Freiheit des Einzelnen galt. Und gerade Justis Verfassungsentwürfe würden dies belegen.26 Weil aber die Staatsmaschinen-Metapher spätestens seit Beginn des neunzehnten Jahrhunderts mit dem Entstehen einer Wissenschaft des Lebendigen (Biologie) vor dem Hintergrund der Differenz organisch − mechanisch verstanden wurde, bleiben ihre nicht-absolutistischen Verwendungen heutigen Lesern nur allzu oft verborgen.27 Herder war einer der ersten, der jene Interpretation der Staatsmaschinen-Metapher, die später zur vorherrschenden werden sollte, 1786 zum Ausdruck gebracht hat. In seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit schrieb er: »Ja endlich, da wie alle Staatslehrer sagen, jeder wohleingerichtete Staat eine Maschine seyn muß, die nur der Gedanke Eines regieret; welche größere Glückseligkeit könnte es gewähren, in dieser Maschiene als ein gedankenloses Glied mitzudienen?«28 Dass der Staat nun im 19. Jahrhundert zunehmend als ein Organismus im engeren Sinne, also im direkten Gegensatz zu allem Mechanischen gedacht wurde, hatte darüber hinaus eine nicht zu unterschätzende Folge. Er erscheint nicht mehr als eine Konstruktion des Menschen, sondern nur noch als eine durch immanente Selbstbildung entstandene Organisationsform.29 Im Folgenden werde ich zeigen, dass Menschen in der »Staatsmaschine« Justis keine bloß mechanisch funktionierenden Glieder sind. Justi war die Idee eines sich selbst regulierenden Gleichgewichts nicht fremd. Er konzeptualisierte dieses Gleichgewicht nur mit Hilfe der Uhren-Metapher, diese steht also nicht immer für eine autoritäre Ordnung. Damit nimmt Justi eine bemerkenswerte Zwischenposition ein: 25 | Justi (1759), S. 320. 26 | Dreitzel (1992), S. 106. 27 | Peil (1983), S. 490; Lüdemann (2007), S. 177. 28 | Herder (1786), S. 245. 29 | Stollberg-Rilinger, (1993), S. 275.

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Es waren nämlich die Gleichgewichtskonzepte, die den mechanischen Rahmen strukturell sprengten. Die Erklärungsleistung der Maschinenmetapher war zu statisch für Gleichgewichtskonzepte.30

5.1 Triebfeder Unter Triebfeder verstand man im 18. Jh. vornehmlich die treibende Feder im Uhrwerk. Nach dem Grimmschen Wörterbuch ist die Triebfeder »eine treibende Stahlfeder eines Werks, Uhrfeder; seit dem 18. Jh. in der Schriftsprache gebraucht und zwar hauptsächlich übertragen.« Darunter wurde entweder »die elastische Feder welche eine Maschine treibt oder in Bewegung setzt« oder »eine ›treibende Kraft‹ in einem groszen Organismus« verstanden.31 Zedlers Universal-Lexicon hingegen kennt nur den Begriff Feder (Pinna, Ressorce). Darunter verstand man »bey dene Handwerckern ein stählernes Blech, welches, wenn es mit Gewalt gebogen wird, so bald die Gewalt nachläst, zurücke schläget, daheres in Thür- und Kasten- auch Büchsen und Flinten-Schlössern, Uhren und allenthalben, wo man einer Spannung nöthig hat, dienet.«32 Die Federkraft, die in der Mitte des 15. Jahrhunderts erfunden wurde, galt als eine große technische Leistung. Die Federn konnten genügend Energie für wochenlangen, ununterbrochenen Betrieb speichern. Außerdem war die Uhr immer weniger an Gewichtsantriebe und an einen festen Standort gebunden. Ein weiterer Vorteil war, dass die Feder Energie aus allen Positionen heraus – selbst in Bewegung – freisetzen konnte.33 In einem Pamphlet aus der Zeit des siebenjährigen Krieges wird beispielsweise die Preußische Armee mit einer Maschine verglichen, die auf Federantrieb beruht: Die preußische Armee ist eine Maschine, in der die Feder, welche alles in Bewegung setzt, sehr gespannt und elastisch ist, dergestalt, daß die Bewegung, sobald sie den Rädern mitgetheilt wird, sehr geschwind von statten geht, in welcher die Räder und Zähne so sein, so wohlgemacht und mit solcher Richtigkeit zusammengesetzt sind, daß keine Zerreibung statt findet, so daß, nach welcher Seite man auch die Maschine kehret, die Bewegung allezeit schnell und gleichförmig ist.34 30 | Remmele (2007), S. 233. 31 | Grimm (1952), 22. Band, Sp. 452–454. 32 | Zedler (1735), Bd. 9, Sp. 217. 33 | Mayr (1987), S. 23-24; Dohrn- van Rossum (1996), S. 120-121. 34 | [Casparson] (1759), S. 13. »Im Gegentheil gleichen die Oesterrreicher und andere Völker im Krieg einer Maschine, deren Feder sehr wenig

166 | E RE P ERT TI N OKK AL A Offensichtlich geht es hier nicht um die Veranschaulichung von Zwang, sondern um eine Art flexibler Stabilität, ein in sich geschlossenes Funktionieren. Der Triebbegriff selbst hat seinen Ursprung im Nichtmechanischen, im Verb treiben. ›Treib‹ ersetzt nach Grimm ab dem 13. Jahrhundert den früheren Begriff ›trift‹. Das Wort wurde ursprünglich für »das Treiben von Vieh« verwendet. Seit dem Ende des 17. Jh. bedeutete es auch »innerer Drang bzw. Antrieb«. Im Begriff der Triebfeder (gelegentlich auch Treibfeder) wird also der innere Drang bzw. die Kraft des Menschen mechanisch gedacht und für die Beschreibung der Leidenschaften, genauer ihrer Funktion verwandt. Justi nutzt hier wiederum das mechanisch gedachte Organische als Metaphernpool, wenn er dann von den Triebfedern des Staates spricht, der, da er für ihn aus der Summe einzelner Menschen besteht, als Ansammlung von individuellen Triebfedern (Leidenschaften) erscheint. Wie vor ihm bereits Hobbes erklärt Justi: »Die Menschen sind es, welche die Regierung errichten, und regieret werden. Sie sind das Zeug zu diesem ganzen Werke«. Die damit aufgeworfene Frage lautete: Wie arrangiert man diese Triebfedern? »Wie kann aus dieser geringen und zerbrechlichen Materie ein höchst vollkommenes Werk zusammengesetzet werden?«35 Das Ziel bestand darin, eine solche Staatsmaschine zu bauen, die allen menschlichen Schwachheiten und Zufällen trotzen könne.36 Für die Planung der bestmöglichen Staatsmaschine musste man also den ›ganzen Menschen‹ berücksichtigen, das heißt, den Menschen mit all seinen Begierden und Leidenschaften.37 Die Leidenschaften bedurften der Direktion. Seit dem 17. Jahrhundert – und Hobbes ist wohl das prominenteste Beispiel – rechnen die politischen Denker mit den Leidenschaften. Es geht dabei weniger um ihre Aufhebung oder Zähmung als um ihre Manipulation und Ausnutzung. Justi partizipierte zweifellos an diesem ›Einstellungswechsel‹. »Die größte Geschicklichkeit und Weisheit des Werkmeisters«, so bemerkte er, liege darin,

elastisch ist, deren Räder nicht mit einander übereinstimmen, und noch weniger so fein sind, ob sie gleich mit den preußischen aus einer Materie bestehen; man darf sich kaum unterstehen, sie herumzudrehen, aus Furcht, daß man sie in Unordnung bringen möchte. Daher ist ihre Bewegung langsam, ungleich, leicht aufgehalten und unterbrochen.« 35 | Justi (1759), S. 184. 36 | Justi (1759), S. 392. 37 | Justi (1759), S. 184.

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daß er die Begierden und Leidenschaften der Menschen als Mittel brauchet; um das Gebäude des Staats stark und dauerhaftig und die Einwohner glücklich zu machen. [Dabei ist] die stärkste unter allen menschlichen Leidenschaften, die Begierde nach dem Vorzuge, oder die Ehr- und Ruhmbegierde. […] Diese Leidenschaft ist es demnach hauptsächlich, welche man in einem weisen Entwurf einer Staatsverfassung am meisten nutzen muß, um dadurch den Staat stark, dauerhaftig und glücklich zu machen.38

Folgerichtig interessierte Justi sich vor allem für die Monarchie:39 »Der monarchische Staat ist eine sehr einfache Maschine, die am wenigsten gekünstelt ist. Man weis aber, daß diese Art von Maschinen so wohl eine große Kraft zeigen können, als die dauerhaftigsten sind, und in der That eine viel größere Kraft und Thätigkeit zu erkennen geben, als ein andrer Staatskörper von gleicher innerlicher Stärke.« Der Monarch selbst kann durch sein Verhalten die Maschine stärker und effizienter einstellen. Er kann »allen Teilen der Maschine ein gewisses Feuer und Munterkeit geben.«40 Justi begreift ihn als »Regierer von der Maschine des Staatskörpers.« Er muss garantieren, dass alle Teile der Staatsmaschine in gerechtem Verhältnis und in Übereinstimmung miteinander bleiben. Er ist derjenige, der die Triebfedern spannt und leitet, weiter braucht die Maschine nichts. Eine Maschine, die in der vollkommenen Ordnung wäre, würde von selbst gehen »[...]und alle Kräfte und Thätigkeit zeigen, deren sie fähig ist.« Die erste Bemühung des Regenten hat also darauf gerichtet zu sein, »eine solche Ordnung einzurichten, wo sie noch nicht vorhanden ist und dasjenige zu verbessern, was noch mangelhaftig erscheinet.« Seine direkte Teilnahme an der Ökonomie und am politischen Leben betrachtete Justi als Feh-

38 | Justi (1759), S. 185. 39 | Justi (1759), S.134-142; Justi (1771), S. 251. Die Aristokratie findet er äußerst problematisch, denn: »Die Aristocratie ist ein Thier, dessen Kopf sehr viele Ringel und Abteilungen hat, und dessen Körper auf unzählbaren Füßen ruhet. Da es also in der Bewegung seines Kopfes tausend Hindernisse findet; so kann es nur sehr langsam fortschleichen.« Außerdem seien die kränkenden Vorzüge des Adels ein bleibendes Problem in der Aristokratie. Deswegen müsse die besondere Triebfeder der Aristokratie Mäßigung sein. In der Demokratie nehmen alle Hausväter gleichen Anteil an der Regierung, deswegen sei die besondere Triebfeder der Demokratie die Liebe zur Gleichheit. Es sei aber unwahrscheinlich, dass das Volk genug »Einsicht und Klugheit« habe, um den Staat selbst zu regieren. 40 | Justi (1771), S. 161.

168 | E RE P ERT TI N OKK AL A ler, eben weil er nur der Directeur sei. 41 Die Aufgabe des Monarchen bestehe darin, das vom allgemeinen Besten motivierte fine tuning der Staatsmaschine vorzunehmen, das heißt unter anderem die rechtlichen Rahmenbedingungen herzustellen. 42 Wenn die Maschine keine Verbesserungen mehr benötigt, müsse sich der Regent zurückhalten, jede darüber hinausgehende Einflussnahme sei Machtmissbrauch. Geschäfte sollten sich schließlich von selbst leiten. 43 Die Maschine sollte sich selbst antreiben. Die Aufgabe des Monarchen war es gleichsam, sich überflüssig zu machen. Für Justi war also der Inbegriff der politischen Maschine nicht die autoritär-disziplinierte Organisation nach dem Vorbild des Militärs, sondern wie Dreitzel schreibt, »das selbstverantwortliche Zusammenwirken relativ autonomer Elemente unter einem Gesetz« – die Eigenschaften also, die später der Begriff Organismus zum Ausdruck bringen sollte. »Dementsprechend wurde für Justi auch – den Anregungen Montesquieus folgend – das Problem der richtigen »Triebfedern«, der intrinsischen Motivation der Bürger und Regierenden, zu einer Grundfrage der Staatsverfassung.« 44 Justis Gebrauch des Begriffs Triebfeder ist offenkundig durch das Konzept »principe de gouvernement« bzw. »ressort« bei Montesquieu inspiriert worden. Montesquieu hatte in seinem Esprit des Lois Regierungsformen verglichen, um herauszufinden, welche Beweggründe hinter den verschiedenen Regierungsformen standen und war zu folgendem Ergebnis gekommen: Das Prinzip der Monarchie sei Ehre, das der Aristokratie Mäßigung, der Demokratie Gleichheit und der Despotie Furcht. Monarchie, Aristokratie und Demokratie betreffend akzeptierte Justi die von Montesquieu definierten Triebfedern. 45 Der größte Unterschied zwischen beiden 41 | Justi (1759), S. 329. 42 | Tribe (1993), S. 133. 43 | Adam (2006), S. 188, 237. 44 | Dreitzel (1992), S. 112. 45 | Justi (1759), S. 12. Die besonderen Triebfedern leitet Justi über einen Vergleich der Regierungsformen mit den Temperamenten der Menschen her, auch hier wird also eine, im weitesten Sinne, Körpermetapher eingesetzt, um die Mechanisierung zu ermöglichen. Die Monarchie erreiche ihre Glückseligkeit schnell, aber selten dauerhaft, ganz wie der Choleriker, die Aristokratie dagegen gehe langsam, aber sicherer und dauerhafter zur Glückseligkeit, wie der Melancholiker. Die Demokratie dagegen sei wie der Sanguiniker, der gemächlich und ›ohne Beschwerden‹ weiter gehe. Wegen der unterschiedlichen Bewegungsweisen bräuchten die verschiedenen Regierungsformen unterschiedliche Triebfedern.

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Denkern findet sich in der Definition von Despotismus. Justis Diskussion der Despotie zeigt, dass die Menschen nicht als gedankenlose Glieder des Staats zu betrachten sind. Im Gegensatz zu Montesquieu war Justi nicht bereit, im Fall der Despotie überhaupt von Triebfedern zu sprechen: Furcht und Zwang seien unglücklich gewählte oder besser gar keine Triebfedern. In der Despotie würden die Menschen zu hölzernen Puppen gemacht, die wie Maschinen vom Regenten bewegt werden. 46 Justi kommt damit Schlözers (1793) Definition sehr nahe: »Der Stat ist eine Maschine, aber darin unendlich verschieden von allen andern Maschinen, daß dieselbe nicht für sich fortlaufen kann, sondern immer von Menschen, leidenschaftlichen Wesen, getrieben wird, die nicht Maschinenmäßig gestellt werden können.« 47 Die beiden Maschinenbegriffe die hier einander gegenüber gestellt werden, bereiten die seit 1800 vertraute Differenz mechanisch-organisch vor. Dies wird deutlich, wenn Justi schließlich auf die Bedingungen dafür zu sprechen kommt, dass die Staatsmaschine ›von selbst‹ läuft.

5.2 Gleichgewicht Im Anschluss an Montesquieu glaubte Justi, nur eine auf Gewaltenteilung beruhende Grundverfassung schließe die Gefahr der Despotie aus. 48 Zugleich würde die Ausgrenzung der Despotie eine besondere Beziehung zwischen Mensch und Staat ermöglichen. Durch die Art und Weise der Einbindung des Menschen in den Staat wird der Staat, so Justi, nicht allein durch den Menschen zusammengehalten, sondern er erhält sich gewissermaßen aus eigener Kraft: Das Gleichgewicht der Gewalten wird selbst zur Triebfeder: »Dieses Gleichgewicht, dieses Verhältniß, sind gleichsam die Triebfedern, wodurch das Uhr46 | Justi (1761-1764), Bd. I, S. 85-86. »Wenn man den Untergang ei-

niger Familien vermeiden wollte; so müßte der Regente gleichsam einen Marionettenspieler vorstellen, der alle seine Unterthanen wie Maschinen bewegte, und zugleich die Beschaffenheiten ihres Beutels und ihres Vermögens stündlich von Augen hätte.« Vgl. Justi (1771), S. 270-271: »Nein! er wird bloß durch einen Leitriemen, durch eine Lenkkette, oder durch einen eisernen Drath regieret; so wie man die hölzernen Puppen auf der Dorf=Schaubühne lenket. Dieser Leitriemen ist der Zwang, oder die Furcht. Gewiß eine unglückliche Triebfeder, wenn sie je davor angesehen werden kann.« 47 | Schlözer (1793), S. 157. Siehe auch Stollberg-Rilinger (1986), S. 193. 48 | Justi (1761-1764), Band II, S. 3-29.

170 | E RE P ERT TI N OKK AL A werk des Staats gespannet wird.« 49 So hatte es La Mettrie bereits für den individuellen Körper beschrieben: »Le corps humain est une Machine qui monte elle même ses ressorts; vivante image du mouvement perpetuel.«50 Die einzelnen Gewalten aber sind nichts anderes als der reziproke Verbund der Leidenschaften, der an ihnen teilnehmenden Menschen. Das Gleichgewicht selbst kann daher als Ausgleich innerhalb verschiedener Leidenschaften interpretiert werden. Leidenschaften werden gegen Leidenschaften gesetzt. Die einander auf diese Weise ausgleichenden Triebfedern leiten die Kräfte der Staats-Maschine in die erwünschte Richtung. Die Teilnehmer dieses Ausgleichs werden ›automatisch‹ dem allgemeinen Besten dienen: »Da auf diese Art keine ohne die andere etwas wichtiges thun kann; so werden die Triebfedern gespannet, und da keine Erweiterung ihrer Macht etwas vornehmen kann; so sehen sich beyde genöthiget, zum Besten des Staats zu arbeiten.«51 Damit ist der Prozess der Herstellung eines Staatskörpers gewissermaßen beendet und Justi ist bei den sich selbst regulierenden Maschinen, sozusagen einer Form des Organischen, angekommen.

6. Schlussfolgerungen Justi überträgt das individuell ›Organische‹, das allerdings als mechanisch funktionierend gedacht wird, auf den Staat. Der Staat wird als ein selbstständiges Wesen mit eigenem Willen und eigener Kraft konzipiert. Er hat sein eigenes Temperament, seine Leidenschaften und auch eine eigene Seele. Nicht mehr länger ein Zwangsmechanismus, arbeitet er unter den Bedingungen, dass die Summe der Menschen, die ihn bilden, ›lebendige‹ »Triebfedern« sind. Justis Diskussion des Gleichgewichts der Gewalten im Staat kann als Höhepunkt seiner Ausarbeitung dieses Konzeptes gelten. Gelänge es, die perfekte »Staatsuhr« herzustellen, gäbe es keinen Bedarf mehr für den Meister des Uhrwerks. Für Justi hat der Staat das Potential zum perpetuum mobile zu werden, und zwar, weil er sich aus moralischen Eigenschaften zusammensetzt. Im Gegensatz zu späteren organistischen Staatsauffassungen ist Justis Staat aber eine Konstruktion der Menschen, keineswegs eine ›natürliche Ordnung‹ mit immanenter Selbstbildung.

49 | Justi (1761-1764), Bd. II, S. 16. 50 | La Mettrie (1748), S. 14. 51 | Justi (1771), S. 130-131.

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Geteilte ›Landschaf ten‹. Rück ver weisende Ausblicke auf einen Begriff im 18. Jahrhunder t Nils Plath 1. Nirgends unbegrenz te Aussichten Wieder und wieder spricht aus dem 18. Jahrhundert eine Aussicht heraus. In Schriften und in Darstellungen, als so genannte Landschaft. Wie gegen Ende des Jahrhunderts, in der 1797 erschienenden zweibändigen Neue Theorie der Gartenkunst von Christian August Grohmann. Darin liest man: [D]enn die Gegend, die Aussichten außerhalb des Gartens gehören noch zur Bildung dieser Landschaft. Der Gartenkünstler muß daher auch die umliegende Landschaft mit seinem Anliegen in Verbindung setzen, und beide einander gemäß bilden; er muß seinem Garten näher oder entfernter den Charakter geben, den die umliegende Gegend hat.1

Aussicht entsteht durch Verbindungen, nie ohne Grenzen. Mit Worten werden Grenzen dort errichtet, wo in deutschsprachigen Schriften zur Landschaftsästhetik jener Zeit das Ideal der englischen Gartenlandschaft als zeitgemäßes Erscheinungsbild vielstimmig beteuert und zugleich in national gestimmter Denkgesinnung die Abkehr von einem vordem postulierten Ideal des barocken oder formalen – des französischen – Gartens mit seinen ihn begrenzenden Mauern und Zäunen 1 | Grohmann (1797), S. 223, zitiert nach: Gerndt (1981), S. 17.

176 | N IL S P L ATH eingefordert wird.2 Im Raum inszeniert werden sie dort, wo Landschaft zum Entstehen gebracht wird: als eine Landschaft des Außen, in der sich als ihr Innen der Garten – wie wohl unsichtbar – umzäunt, begrenzt und eingefasst findet. Die um Gartenanlagen des 18. Jahrhunderts gezogenen Holzzäune und Steinmauern zeigen sich in aller Regel nur verdeckt – oftmals eingelassen auf dem Grund von Gräben oder von Hecken und Gehölzen verborgen –, und so erkennbar allein dem Blick auf zeitgenössische Darstellungen. Wo die Landschaft – als vorgeblich freie Natur – und der Garten – als vorgeblich der Natürlichkeit nachgebildete Ordnung in der Landschaft – in einem scheinhaft harmonisierenden Verhältnis zueinander, ineinander übergehend, zur Allegorie eines sich vom 17. Jahrhundert verabschiedenden NaturIdeal gemacht werden sollen,3 da werden im 18. Jahrhundert Fragen aufgeworfen, die für raumtheoretische Diskurse auch der Gegenwart weiter relevant erscheinen können: Teils unausgesprochen, teils offen thematisiert betreffen sie verordnete Zugehörigkeiten, bindende Zusammenhänge, perspektivgebende Bezüge von Innen und Außen und die Inszenierung von Einschlüssen und Ausschlüssen in Raum und Begrifflichkeit. Die Leitmedien der Zeit – Architektur, Dichtung, Malerei –, und die in ihnen projektiv Ansichten erzeugenden Darstellungsverfahren erlauben so rückverweisende Ausblicke auf einen Begriff, der über das 18. Jahrhundert hinaus Präsenz als Gegenstand von Lektüren behauptet: die Landschaft. Wie soll man das Eigentumsregime beschreiben, ohne über Gewalt zu sprechen? Sie vertreibt den anderen aus einem Raum, um sich dort niederzulassen. Ohne zu zögern bezeichnet Rousseau das erste Objekt des Eigentumsrechts als Einfriedung. An diesem Ort oder in diesem Kasten ist jeder bei sich zu Hause, ob mit Gewalt oder mit Recht. Im Raum der Zeichen geht der Kampf nun um Zeichen. 4 Welche Aussichten machen sich manifest in den zeitgenössischen Ansichten des 18. Jahrhunderts über und auf die Landschaft? Was ver2 | Am prominentesten hinterließen die Auseinandersetzungen zwischen Barthold Heinrich Brockes und Friedrich von Hagedorn, J. G. Sulzer und Salomon Gessner ihre Spuren in der Begriffsgeschichte der Landschaft im 18. Jahrhundert. 3 | Zugleich lassen sich an der Landschaft, die zeitweilig Gegenstand kontroverser Auseinandersetzungen war, über ihre konkrete Ausgestaltung und die Fassung der theoretischen Erörterungen zu ihrer Gestaltung und Bildlichkeit zeigen, wie sich in die topographische Ordnung eine Form-Inhalt-Differenz einschreibt und zu einer Interpretationsmatrix wird. 4 | Serres (2005), S. 154.

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Abbildung 1: Begrenzungen des Landschaftsgartens. Federzeichnung von Kurt Wagner im »Magazin für Freunde des guten Gesprächs«, Leipzig 1796. raten Blicke, die vorgeblich schrankenlos hinaus aus dem angelegten Garten auf die ihn umgebende Landschaft gingen, ohne dabei bewusst Grenzen überschreiten zu sehen? Was teilen die Selbstbeschreibungen in den künstlichen, auf natürliche Wirkung zielenden Einfügungen in der Landschaft mit, in denen Blick für Blick die eingezogenen Begrenzungen manifest werden, die Trennung und Teilung in Landschaft durch inszenatorische Ansichten auf kulturierte Natürlichkeit dennoch ungesehen erscheinen? Welche Aussicht kann es für die Selbstperspektivierung eigener Beobachterstandorte in und auf Landschaft versprechen, der Anwesenheit von programmatischen Vornahmen in

178 | N IL S P L ATH den unsichtbar gemachten Begrenzungen und Grenzziehungen ansichtig zu werden? Wenn auch unsichtbar inszeniert, Grenzen sind gegeben. Denn umgrenzt tritt sie auf, jene Landschaft, jener gerahmte Ausschnitt. Die Landschaft erscheint als Begriffsfassung, erfasst von Begriffen, die Perspektive schaffen und ihr Grenzen setzen: als eine zu keiner Zeit, auch im 18. Jahrhundert nicht, voraussetzungslose Konstruktion.5 Im erklärten Gegensatz zur Natur wird Landschaft stets als historisch gedacht; und ihre eigenen Konstituierungsbedingungen wie die konstruierten An- und Aussichten sind es ebenso. Im Gegensatz zur Natur öff net sich Landschaft dem Blick als ein Transformationsraum, auch einer jener Begriffl ichkeiten, durch die sie bestimmt wird: geschaffen nach Vorstellungen und zugleich Konstruktionshilfe von begrifflichen Ideen, die an wechselnden Orten und in sich wandelnden Zeiten beschreibbar ihre Geschichte erfahren. Landschaft ist eingefasst, als eine Anlage im Raum und der Zeit. Als solche führt sie Bedingungen und Bedingtheiten ihrer Konstruktion vor Augen: Dabei ist sie mehr als nur etwas Sichtbares. Mehr als die Fassung eines modellhaften Verhältnisses zur Welt, das sich in Landschaftstexten und der Landschaft als Text als Darstellungsweise der Partialisierung und Segmentierung, der Perspektivität und der synchronen Bedeutungszuweisung zeigt. Landschaft erscheint, will man denn eine abstrakte Behauptung aufstellen, als eine auch weiterhin gegenwärtige epistemologische Problemstellung. Die Betrachtung der Ansichten und Blickrichtungen auf Landschaftsdarstellungen in Text, Bild und Realraum können, so die Aussicht, zur Selbst-Insichtnahme und zu der herausfordernden Frage führen, was die Erschließbarkeit von Landschaft als dem Korrelat ästhetischer Erfahrungen über sich hinaus und für die Konstituierung ihrer Betrachter aussagt. In Landschaft werden Raum und Subjekt – beide gleichermaßen als Hervorbringungen diskursiver Darstellungspraxen wie als phänomenologisch wahrnehmbare, durch konstruierte Rezeptionsbedingungen erfassbare Dinge – in ein Verhältnis zueinander platziert, gerahmt und umfriedet. Jeweils mit Rändern versehen, werden sie für den weiteren Gebrauch vorgehalten. Auf jene Modalitäten der Nutzung in den jeweiligen Diskursen, die Raum wie Subjekt domestizieren und konstituieren, wird man verwiesen, wo immer seit dem 18. Jahrhundert von Landschaften zu lesen ist: in literarischen wie ästhetik-theoretischen Texten oder jene 5 | Zur Begriffsbestimmung von Landschaft wie zu dessen Bedeutungsgeschichte, und eher noch: zu deren Deutungsgeschichte wollen die folgenden Erörterungen eine Anmerkung sein.

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Ansichtssachen im Blick, die als Landschaftsmotive auf Stichen, Lithographien, Gemälden ihrer Zeit auftauchen und auch in Form architektonischer Hinterlassenschaften in den Parks, in erhaltenen Ruinen und rekonstruierten Gebäuden.6 Landschaft ist dabei als ein komplexe Bezüge von Innen und Außen stiftender Begriff zu deuten: Man kann sie als einen Begriff lesen, der zeigt, wie inszenierte Blickrichtungen auf und in Landschaft jeweils von Vorannahmen und Begebenheiten fi xiert werden, in denen es zentral um die Frage der Verortung in einem Innen und Außen geht. Das heißt, angesichts des Begriffs »Landschaft« zu erörtern, wie jene zur Konstruktion und Rekonstruktion bezogenen Beobachterstandpunkte in und vor der Landschaft ihrerseits bestimmte Verhältnisse und Verhältnismäßigkeiten bei der Beschreibung und Selbstbeschreibung von Rahmen und Einfassungen voraussetzen und weitergeben. In Ansichten auf Landschaft machen sich nicht zuletzt auch Ansprüche auf Stabilität und Herrschaft über mehr als die konkrete räumliche Landschaft kenntlich – nämlich Herrschaftsansprüche auf die sich mittels Landschaftsbilder vermittelnden ästhetischen wie gesellschaftlichen Diskurse, in denen die Gemachtheit von Verhältnissen nicht einfach entparadoxiert in Beobachtungen verschiedener Ordnung zu übertragen ist. Anders gesagt: Der Blick auf die Landschaft ist eine Ansichtssache, die die Ansicht als Aussicht auf die Gegebenheiten der Selbstpositionierung in und vor der Landschaft, ihrer Darstellungen und dazu verwendeten Sprechweisen lenkt. Betrachtung dieser Art führen – wie sich leicht erkennen lässt – weit über Exkurse zur Gartenkunst hinaus, die in der Absicht verfasst wurden, durch eine domestizierende In-Blicknahme von Erscheinungen der Natur Betrachterstandorte zu schaffen, die von Landschaft als »Bewegungslandschaft [...] Ausdruckslandschaft, Widerspiegelung der menschlichen Seelen und Erregung in der Natur, Übertragung der Seelendynamik auf das Naturbild«7 sprechen lassen. Ganz entschieden bestimmen seit dem 18. Jahrhundert die Landschaften tatsächlich Platzierungsverhältnisse des sich bewegenden Blicks. Was spricht dagegen, Landschaftsdarstellungen nicht weiter fortgesetzt als Veräußerlichungen einer Innerlichkeit – den Seelenzuständen eines als im Laufe der Moderne als zunehmend entfremdet behaupteten und sich als solches behauptenden Betrachtersubjekts – zu sehen? Sondern in ihnen Zeitzeichen zur Selbstbetrachtung von Standortfindung mit Begriffen zu erkennen? Landschaft als Bedingung der Perspektivierung 6 | Kortländer (1977). 7 | Langen (1947/49; 1975), S. 119.

180 | N IL S P L ATH des Subjekts zu interpretieren? Die Beschreibungen von Landschaft können dazu durchaus Leitbilder abgeben. Darin finden sich, und das scheint eine Bestimmungen von Landschaft zu sein, mit der Zeit immer neue Aussichten eröffnet. An wechselnden Standorten findet sich ihr Beobachter in ihr eingetragen. So nachzulesen in einer der zentralen Belegstellen zur Erörterung des Landschaftsgartens im 18. Jahrhundert, der fünf bändigen Theorie der Gartenkunst von Christian Caius Laurenz Hirschfeld: [A]nders ist es auf der Höhe, anders in der Tiefe; jeder Schritt führt auf eine neue Lage, auf ein neues Gemälde, bey aller Unbeweglichkeit der Gegenstände. Die Scenen verschwinden und kommen wieder hervor; neue verhüllen die alten; die Situationen ändern unaufhörlich ab. Man steigt, und der Horizont erweitert sich von allen Seiten; man sieht, je höher man kommt, die Gegenden sinken und sich verlieren; die blaue Decke des Himmels dehnt sich in die Unermesslichkeit aus, und an ihrem Saum verbleicht das Licht des Tages in den Dunst der Ferne; Erstaunen und Bewunderung erfüllen die Seele. An ihre Stelle treten bald sanftere Bewegungen, indem man in die Tiefe wieder hinabsteigt. Der Himmel selbst schien zurückzuweichen, wenigstens verbirgt sich ein Theil seines schönen Anblicks hinter den Anhöhen; die Abhänge leiten auf Wiesen, auf Waldungen, auf Seen. Alle diese Veränderungen giebt allein die natürliche Beschaffenheit des Bodens, wodurch die Mannichfaltigkeit der Gegenstände und der Aussichten selbst noch vermehrt wird. Von den Ungleichheiten des Bodens hängt ein großer Theil des Lebens in der Natur ab.8

Eine solche Perspektive, die Reflexion der Voraussetzungen, Form und Beschaffenheit der – zumeist nur idealtypisch – in der Landschaft verwirklichten Gartenideale, lässt sich wie folgt summieren: Das Panorama, die Vedute, die Schneise, der überraschende Durchblick bis in weite Fernen zeigen sich reicher von einer Anhöhe. Das barocke Belvedere, wo der souveräne Herrscher vom ›strategisch‹ gewählten Punkt die zu Füßen liegende, planierte und reglementierte Gartenlandschaft überblickte und beherrschte, wird vom ›überraschenden Ausblick‹ abgelöst, der nach ästhetischen Gesichtspunkten ausgewählt, beim passiven Wanderer den tiefsten Eindruck hervorruft.9

Die Aussicht suchende Ansicht auf die Landschaft kann zu einem 8 | Hirschfeld (1779-1785), S. 7f. 9 | Gerndt (1981), S. 14.

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Projekt der Projektionen und Perspektiven werden, die einem aus seiner Gegenwart rückwärts blickenden Leser dann als Maßgabe für das eigene Vermessen der topologischen Ordnungsmustervorlagen im 18. Jahrhundert dienen. Dem entsprechend ist Landschaft – als Begriff – nicht so einfach in Besitz zu nehmen. Es hieße, ihr – als Begriff – durch wechselnde Blickrichtungen zu begegnen, durch das Hervorrufen von Verwunderung als Effekt einer Erweiterung wechselnder Blicke, durch das Hinterlassen wechselnder Eindrücke als selbstgesetzter Erwartungen, wenn man sich in ein Jahrhundert begibt, das dank der damals angelegten Parkanlagen, der entstandenen Landschaftsmalerei und Naturschilderungen in Reiseliteratur und Idyllen, einer nach zunehmend wissenschaftlich zu nennender Exaktheit strebenden kartographischen Erfassung der Erde wie auch eines sich allmählich entwickelnden allgemeinen Bewusstseins für die nachhaltigen Folgen der Landschaftsnutzung und insbesondere der Fortwirtschaft als ein Jahrhundert der Landschaft bezeichnet werden kann und wurde. In und außerhalb von Landschaften Stellen zu finden zum In-Augen-ScheinNehmen von Standortbestimmungen: Dies kann die Rahmen und die Bedingungen zur Standfestigkeit bei der Selbstwahrnehmung erblicken lassen. Eben dazu könnte Anlass auf Aussicht bestehen, wenn die mediale Konstruktion der Landschaft rückblickend als eine Geschichte ihrer umzäunten und umzäunenden Begriffsverwendungen gelesen werden wird, wo immer sie als rein ästhetische auftaucht.

2. Etablierungsinteressen In ihrer Ausgabe am 11. Juli 1770 veröffentlichte die Schlesische Privilegirte Zeitung als Aufmacher die folgende Meldung: Die gute Ordnung und Harmonie der Gemüther, welche unter einer so zahlreichen Versammlung in der Berathschlagung über einen Gegenstand, den das Interesse eines jeden Particuliers so nahe angeht, geherrscht haben, können nicht genugsam gerühmt werden. Diese neue Landschaft hat die Beförderung des Credits ihrer Stände und die Wiederherstellung der davon abhangenen Circulation des Geldes zum Gegenstande. Die Pfandbriefe, welche sie zu dem Ende ausfertigt, werden auf die erste Hälfte des Werthes derer Güter gestellt, und von denen gesammten verbundenen Ständen garantirt. Die Inhaber derselben erhalten ihre Interessen halbjährig aus der Landschafts-Kasse ohne allen Zeitverlust und Kosten. Die Capitalisten selbst können entweder nach halbjähriger Aufkündigung in den Fürstenthums-Kassen und zum Teil auch ohne dieselbe gegen bloße Praesentation des Pfandbriefs aus der

182 | N IL S P L ATH allhier etablirten Realisations-Kasse, wozu Se. Köngl. Majestät einen sehr beträchtlichen Fond allergnädigst geschenkt haben, erhoben werden.

Der zitierte Zeitungsartikel, in dem der Begriff Landschaft so prominent wie in einer überraschenden semantischen Bedeutung auftaucht, bezog sich auf ein zwei Tage zuvor während des General-Landtags in Breslau verabschiedetes »confirmirtes Landschafts-Reglement«. Noch binnen Wochenfrist, am 15. Juli 1770, wurde die entsprechende Urkunde durch den preußischen König Friedrich II. ratifiziert, auf diese Weise die Beschlüsse des Landtags in Kraft gesetzt. Gegründet war durch diese Akte ein Bodenkreditinstitut, – die Landschaft –, die ihre ersten Pfandbriefe zu Weihnachten 1770 ausgab. Die Gründung der schlesischen Landschaft erfolgte gemäß einer Kabinettsorder Friedrich des Großen vom 28. Juni 1769, die als ein »Geburtsschein« des Pfandrechtswesen in Deutschland gelten kann.10 Diese lautet wie folgt: Mein lieber Etats-Ministre von Carmer. Ihr habt, wie Ich mich erinnere, Mir vor dem Jahre einen Vorschlag zu Abhelfung des Geldmangels unter dem Land-Adel gethan. Da ich diesen Vorschlag realisieret und den Credit des Adels, so wie in hiesigen Provinzen durch Etablirung der Landschaft geschehen, erweitert und auf einen sichern Fuss gebracht sehen möchte; wird Mir lieb seyn, wenn Ihr Eure Gedanken davon in einen ordentlichen detailierten Plan entwerfen und Mir solchen zu Meiner weitern Einsicht und Entschließung, zuschicken werdet. Ich bin Euer wohlaffectionirter König. Postdam, den 28ten Junii 1769. [gez…] Friedrich.11

Hintergrund für eine hier erstmals angesprochene »Etablirung der Landschaft« war die ökonomische Situation der ländlichen Grundbesitzer in Teilen Preußens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Aus sozialgeschichtlicher Sicht bekam das Kreditwesen im landwirtschaftlichen Bereich – verglichen mit anderen Bereichen des Wirtschaftssystems wie Handel und Gewerbe – historisch relativ spät eine Bedeutung. Strukturelle Faktoren für dessen Ausbildung im späten 18. Jahrhundert waren die damalige Bevölkerungsvermehrung, der 10 | Das schlesische war das erste von insgesamt acht solcher Bodenkreditinstitute in deutschen Ländern: die Märkische Landschaft, 1777; die Pommersche Landschaft, 1781; die Ostpreußische Landschaft, 1788; die Landschaft der Provinz Sachsen, 1864; die Centrallandschaft der preußischen Staaten, 1873; die Landschaft der Provinz Westfalen, 1877; die Schleswig-Holsteinische Landschaft, 1896. 11 | Faksimiliert abgedruckt in: Plath (1994), S. 37.

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technische Fortschritt und die gesellschaftliche Liberalisierung. Konkreten Anlass lieferten die drei Schlesischen Kriege und ihre Folgen. Nach deren Beendigung 1756 fehlte insbesondere dem schlesischen Landadel das notwendige Kapital zum Wiederauf bau der in Mitleidenschaft gezogenen Rittergüter; zudem mehrten sich aufgrund von Abgabepflichten die Bankrotte unter Rittergutbesitzern. Auch ein dreijähriges Generalmoratorium 1765 hatte nur für kurzfristige Erleichterung gesorgt. Der von Friedrich II. erbetene Carmersche Vorschlag sah als Abhilfe den Zusammenschluss aller schlesischen Rittergüter zu einem genossenschaftsartigen Verband vor, der den Verbandsmitgliedern Kredite zur Verfügung stellte, indem er Pfandbriefe emittierte und diese den Darlehenschuldnern zur Verwertung überließ. Infolge einer Generalgarantie aller Güter, die zur Landschaft gehörten, hafteten diese solidarisch; ein frühes genossenschaftliches System entstand. Krünitz‘ Oeconomische Encyclopädie beschreibt unter dem Lemma »Credit-System« das Entstehen der Landschaft, die angesichts des drohenden wirtschaftlichen Niedergangs des schlesischen Landadels eingerichtet wurde: Diesem täglich weiter um sich greifenden Uebel konnte nicht anders abgeholfen werden, als durch die Wiederherstellung des Credits; und diese zu erreichen, ward das dermalige Landschaftssystem etablirt. Dieses System beruhet auf einer Verbindung sämmtlicher Stände, vermöge welcher dieselben auf die Güter ihrer Mitglieder bis zur Hälfte des wahren, nach zuverläßigen Grundsätzen bestimmten, Werths derselben, gewisse privilegirte Pfand-Verschreibungen oder sogenannte Pfandbriefe ausfertigen, welche an und für sich Specialhypotheken auf die darin verschriebenen Güter sind, vor diesen aber den Vorzug haben, daß das Universum die Sicherheit garantiret, dem Inhaber eines solchen Pfandbriefes die davon fallenden Interessen halbjährig accurat und ohne alle Kosten bezahlt, ihm das Capital auf jedesmaliges Verlangen mit klingendem Gelde realisirt, und dagegen die Rücksicherheit in dem verpfändeten Gute selbst findet.12

Bei der Benennung der neuen Bodenkreditinstitute griff Friedrich der Große auf die so genannten »Landeskreditkassen« zurück, die ihre Bedeutung mit Absinken der Macht der Stände beim Vordringen des Absolutismus verloren hatten. Mit dieser Landschaft – ihre Wortbedeutung hebt sich erkennbar deutlich von der damals gebräuchlichen ab, die sich in ihrer weiteren Geschichte als dominant durchsetzen sollte – steht gegen Ende des 18. Jahrhunderts ein Begriff von Landschaft im 12 | Krünitz (1773-1858), Band 8, S. 440f.

184 | N IL S P L ATH Raum, der sich mit dem ästhetischen Bezugszusammenhang auf den ersten Blick nur schwerlich in Verbindung setzen lässt. Das einem Gartenlandschaftskundigen der Zeit möglicherweise unerwartete Auftauchen dieses konkurrierenden Landschaftsbegriffs blieb dabei nicht ohne Spur in der Literaturgeschichte: In Gustav Freytags Soll und Haben, durch vielzählige Auflagen bis in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts in seiner Popularität belegt, taucht diese Landschaft namentlich auf. Die dortige Erwähnung zu Beginn des ersten Teils des 1850 erschienenen »Romans in sechs Büchern« liefert eine knappe wie dichte Beschreibung des Bodenkreditwesens, das dem Lesepublikum offenbar referiert werden musste: ›Warum wollen Sie nicht Pfandbriefe der Landschaft auf Ihr Gut nehmen?‹ Die ›Landschaft‹ der Provinz war damals ein großes Kreditinstitut der Rittergutsbesitzer, welches Kapitalien zur ersten Hypothek auf Rittergüter auslieh. Die Zahlung erfolgte in Pfandbriefen, welche auf den Inhaber lauteten und überall im Lande für das sicherste Wertpapier galten. Das Institut selbst zahlte die Interessen an die Besitzer der Obligationen und erhob von seinen Schuldnern außer den Zinsen noch einen geringen Zuschlag für Verwaltungskosten und zu allmählicher Tilgung der aufgenommenen Schuld. ›Ich mache keine Geldgeschäfte‹, antwortete der Freiherr stolz, aber in seiner Brust klang die Saite fort, welcher der Händler angeschlagen hatte.13

Eben diese Stelle aus dem Buch Gustav Freytags, einem Roman voller antisemitischer Stereotype in den Schilderungen jüdischer Händler, dient dem Grimmschen Wörterbuch als Nachweis für die nebenstehende Verwendung von Landschaft, die neben die Bezeichnung des Wortes für den ästhetischen Eindruck tritt, »den eine schöne Gegend auf das Auge macht.« 14 Als letztgenannte Bedeutung nennt das Wörterbuch: »name eines provinziellen creditinstituts der adelichen 13 | Freytag (1954), S. 23. 14 | Deutsches Wörterbuch, Band 12, Spalte 131. Definiert wird der Begriff »Landschaft« dort »in verschiedenem sinne«: als eine »gegend, landcomplex in bezug auf lage und natürliche beschaffenheit«, und dabei »namentlich in neueren quellen mit rücksicht auf den eindruck, den eine solche gegend auf das auge macht«; wie als Begriff für die »künstlerische bildliche darstellung einer solchen gegend«; als ein »sozial zusammenhängendes ganzes, gegend: als »Regio«; in nicht mehr aktuellem Wortgebrauch wird »landschaft« mit »Land« gleichgesetzt; wie auch als Bezeichnung für deren Bewohner, und die »vertreter eines territoriums oder eines landes (aus dem sich die Landtage, die Landschaftsverbände« – hierzu als Nachweis, u.a.:

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landbesitzer in der provinz Schlesien«. Seine ästhetische Bedeutungsterminante besitzt das Wort – zuvor synonym mit territorium (Landstrich) und regio (Gegend) als politisch-geographischer Begriff und eben auch allgemeiner und als veraltet deklariert wie »Land« verwendet – überhaupt erst seit Ende des 15. Jahrhunderts.15 Wortgeschichten des Begriffs sind sich weitgehend einig: Als ein »Fachwort« habe sich, so lautet die ähnlich wiederkehrende Erläuterung, »die Landschaftsvokabel im strengen Sinn« als terminus technicus der Malerei im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts im allgemeinen Sprachgebrauch festgesetzt. Das holländische landschap oder landschape wird, so die allgemeine Vermutung, im Laufe der Zeit in der englischen Sprache zu landscape oder landscipe – so verwendet von Milton und später in seiner Bedeutungsverwendung und Herkunft im Oxford English Dictionary nachgewiesen. Dieser Verweis auf die Einführung des Begriffs als Fachterminus dient dann als Beleg für die als primär behauptete ästhetische Besetzung des Begriffs. Dieses erlaube es mit Verweis auf die lexikalische Datierung der Vokabel auch deren geistesgeschichtliche Verortung vorzunehmen und so sie als ästhetischen Begriff für einen »bestimmten geschichtlichen Vorgang zu reservieren.«16 Einen frühen Versuch, für eine klare Bestimmung der Terminologie und damit auch ihre Einordnung in historische Zusammenhänge zu sorgen, unternimmt Friedrich Kammerers 1909 erschienene Abhandlung Zur Geschichte des Landschaftsgefühls im frühen 18. Jahrhundert. Zugleich ist er es, der für das 18. Jahrhundert und darüber hinaus, die Landschaft als einen Gegenstand der Dichtung beschreibt, die Landschaftserfahrung selbst ersetzt – und damit als erster die Landschaft von dort an einem ästhetischen Empfindungsdiskurses zuordnet, wenn er von der »Gartenkunst als [...] Macht, die das Empfinden der Menschen bestimmt oder doch beeinflusst«, spricht, um festzuhalten: »Das Erbe dieser Macht tritt schon im frühen 18. Jahrhundert die Dichtung an.« 17 So sehr wortgeschichtliche Abhandlungen zum Begriff Landschaft sich darum bemüht zeigen, einer undifferenzierten Rede von der über»und so ain gemaine landschaft ainem landfürsten ain landsteur zugesagt zu geben (Tegernsee, ende des 15. Jahrh.)«. 15 | Einschlägig gilt als frühester Beleg für die ästhetisch akzentuierte Landschaftsvokabel Joachim von Sandrarts Beschreibung von Gut Stockau in der »Teutschen Academie« (1675), wo erstmals ein gegebener Naturraum als Landschaft dichterisch zu schildern versucht wird. (Gruenter (1975), S. 194). 16 | Gruenter (1975), S. 199. 17 | Kammerer (1909), S. 39.

186 | N IL S P L ATH zeitlich existenten Landschaft ein Ende zu bereiten und sie von der Natur als einer ungeschichtlichen Gegebenheit zu unterscheiden, das heißt: sie und ihre Ansichten zu historisieren, so verpflichtet erweisen sie sich dabei, Landschaft begrifflich in erster Linie und vorrangig als eine ästhetischen Kategorie zu behandeln und zu fundieren. Landschaft wird als Begriff vorrangig als ein ästhetisch-deskriptiver Begriff bestimmt, den man im Laufe der Zeit entsprechend in wahlweise aus ästhetischer oder kunstgeschichtlicher Perspektive nachgezeichnet und eingeschrieben in Ästhetik-Debatten findet. Wiederholte Verweise auf die Fixierung des Begriffs im Laufe des 18. Jahrhunderts dienen dabei als Perspektivbelegstellen, in der die Landschaft als Illustration für jeweils eigene Aussageabsichtserklärungen und Ansichtsaussichten in einer aus vielperspektivischen Beschreibungen sich zusammensetzenden Theorielandschaft herbeizitiert wird.18 Die Gründung der Landschaft, die zur Zeitungsmeldung eignet, kann hingegen dem Landschaftsbegriff eine andere Perspektive geben; nämlich die Eingrenzung auf das Ästhetische als zu einschränkend erscheinen lassen. Aus dem 18. Jahrhundert, so will es allgemein erscheinen, lässt der ästhetische Diskurs über Landschaft eine Aussicht heraussprechen. Es ist die in die Gegenwart hineinreichende Aussicht auf einen rahmensetzenden Begriffsgebrauch, wo Landschaft als Ausdruck, als Fachwort, als terminus technicus eines Ästhetikverständnisses verstanden wird: und damit eine Aussicht auf die bestimmende und haltbare Kraft des faktisch und nachweislich selbst nicht so eindeutig auf einen eindeutigen semantischen Gehalt festzulegenden und einzuengenden Wortes. Denn auch in den historischen Wörterbucheintragungen steht Landschaft als ästhetisches Phänomen nur unter anderen. Gerade angesichts dessen die ästhetischen Diskurse in der Arbeit an dem 18 | Kurz gesagt und stellvertretend: »Um 1800 hat der Begriff Land-

schaft seinen höchsten Komplexitätsgrad und seine avancierteste ästhetische Bedeutung erreicht. Die im 18. Jh., der eigentlichen Epoche der Landschaft, entstandene Bandbreite des Landschaftsbegriffs bleibt in den nachfolgenden Epochen weiterhin wirksam.« Folglich ist die Geschichte der Landschaft eine von Ansichten auch auf Texte: »Datiert man das Ende der innovativen Kraft des ästhetischen Begriffs Landschaft auf 1900,« schreibt Lobsien, »so schlägt sich dieser Sachverhalt darin nieder, dass Landschaft im 20. Jh. zum Gegenstand retrospektiver Nostalgie wird, zum Vehikel insbesondere der Moderne- und Technikkritik; ferner insbesondere auch darin, dass Landschaft in vielfältiger Weise metaphorisiert, als kontingentes Konstrukt exponiert, als bloßer Effekt der Zeichen und Texte ausgewiesen wird.« Lobsien (2001), S. 653 u. 659.

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Begriff dabei zu beobachten, wie sie diesen einfrieden, spricht für ein fortgesetztes Festhalten an Betrachtungen des Erscheinens von Landschaft in den verschiedenen Diskursen ihrer Zeiten. Als Arbeitstelle am Begriff, begreif bar als Ort eines Arbeitsprozesses innerhalb wie außerhalb des von ihm beschriebenen lokalen wie temporalen Platzes, der weder als ein reines Innen noch als reines Außen beschreibbar ist. Augenscheinlich – und folgerichtig im Sinne ihrer Argumentation – mag man es als erklärte Absicht ästhetik-theoretischer Diskurse ansehen, die Ansicht auf den Begriff der Landschaft verkürzend zu einer Sache der Ästhetik zu erklären. Die Auseinandersetzungen um den Begriff im 18. Jahrhundert dienen dazu als selbstversichernder Rückbezug. Hinter einer solchen Fixierung steht, unverkennbar und wiederholt ausgesprochen als Position, die ausdrückliche Fundierung eines Betrachters als landschaftserfahrendes Subjekt. Diese Beziehung zwischen Subjekt und Landschaft bleibt, unter weitgehender Ausblendung einerseits der medialen Darstellungsmodalitäten wie der durch sie vermittelten Interessen andererseits, bestimmend für die Deutungsgeschichte der Landschaft als einer Geschichte der Herstellung von Landschaft als Begrifflichkeit in und durch ihre Darstellung. Bestimmt erscheinen die Thematisierungen von Landschaft in ästhetischen Diskursen ihrerseits von der Abwesenheit einer Reflexion dessen, was sie erhält: der Widerspiegelung der Arbeit am Begriff des Eigentums und seiner Erfassungen, die immer Beziehungsarbeitsverhältnisse in der Geschichte darstellen. Eben das Auftauchen des Begriffs »Landschaft« in einem wie dem zitierten gänzlich anderen diskurs-semantischen Zusammenhang – als Name für ein Bodenkreditinstitut –, vermag dies zu verdeutlichen, wenn es dabei um Kapital und Bodennutzung und Wertschöpfungsreserven geht. Wie auch, komplementär, der in ein Außerhalb des Ästhetischen reflektierende Rückverweis auf Formen ästhetischer Darstellung: auf Landschaftsbilder beispielsweise, die nach dem kunsthistorisch informierten Hinweis schon immer die Funktion erfüllten, als sichtbare Eigentumsnachweise vorzeigbar zu sein. So bestand eine der frühesten Aufgaben des selbstständigen Landschaftsgemäldes darin, »als Besitznachweis, quasi als Grundbucheintrag zu dienen.« 19 19 | »Im Schloß zu Caprarola und im Hof des Palazzo della Signoria zu Florenz war die Landschaft als eine Besitzanzeige in Szene gesetzt. Daß in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in dem Stuttgarter Schloß Landschaften nach den eigenen Besitztümern gemalt werden, bedeutet ›landesfürstliches Besitzdenken und Streben nach Bestandserfassung‹ [H. Geissler: Zeichner am Württembergischen Hof um 1600. In: Jahrbuch der

188 | N IL S P L ATH Dieses vor Augen die Landschaft als ein Verhältniswort zu betrachten, nämlich als einen Begriff, der denjenigen, der ihn verwendet, in ein Verhältnis zu sich selbst – zur eigenen Betrachterposition – und demjenigen setzt, das in seiner Betrachtungspraxis erst versetzt und somit in Arbeitsverhältnisse platziert wird, in denen Orte und Zeiten als Positionen von Deutungspraxen betrachtet werden, lässt zweierlei zu: nicht nur, die Landschaft als Begriff wie die Landschaften in ihrer Phänomenologie keineswegs als naturgegeben vorauszusetzen, sondern auch, das in den Landschaftserörterungen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert immer wieder als für Landschaftserfahrung wie deren Formierung bestimmend herbeizitierte Subjekt seinerseits als ein nur in Relationen und Beziehungsverhältnisse über Eigentum sich repräsentierendes zu interpretieren. So ist davon die Rede, Landschaft biete »die Welt in einer solchen Weise, dass das Subjekt seiner selbst ansichtig wird, sich seiner zu versichern vermag, ehe es die Bedeutung der Welt außerhalb seiner zu gewärtigen oder hinzunehmen oder zu konstruieren hat.«20 Das behauptete Subjekt nicht als ein konstruierStaatlichen Sammlung in Baden Württemberg, Bd. 6, 1969, S. 91]. Noch im 18. Jahrhundert lautet in England ein Argument gegen naturtreue Landschaftsgemälde, sie spiegelten nichts anderes als den Besitzerstolz und die Beschränktheit des Landinhabers.« Die Besitztümer über einen Zyklus von Landschaftsgemälden in den Blick zu nehmen, bedeutet auch, dieses Land als zu verwaltende, zu bewirtschaftende, auszubeutende Größe wahrzunehmen. Die Landschaft wird gleichsam memoriert, der Herrscher hat sie zu erkennen, zu ›überblicken‹, sie disponibel zu halten, auch jenseits der Abgabe- und Diensttermine, und wohl auch, um zu wissen, wo und wie man sie verteidigt.« (Warnke (1992), S. 65). So auch die theoretischen Erörterungen zu Ansichten zur Landschaft, die Überblick über die Begriffsgeschichten behaupten, und in diesen sich selbst. 20 | Lobsien (1981), S. 8. »Landschaft ist Natur, die im Anblick für einen fühlenden und empfindenden Betrachter ästhetisch gegenwärtig ist,« so einer der zentralen Sätze in Joachim Ritters vielzitierter Erörterung zum Landschaftsbegriff, in der er eine subjekthafte Perspektivgewinnung angesichts eines Ideals zweckfrei zu betrachtender Natur entwirft: Landschaft entstehe – und damit der Betrachter als Subjekt –, »wenn sich der Mensch ihnen [Feldern, Flüssen, Gebirgen und Steppen als Landschaftsräumen], ohne praktische Zwecke in ›freier‹ genießender Anschauung zuwendet, um als er selbst in der Natur zu sein.« (Ritter (1974), S. 159f.) Ausgeblendet bleibt, dass die Blickherstellung eine Praxis ist, Resultat von Bedingungen, die als konstruiert, medialisiert und als Ergebnisse von arbeitsteiligem Handeln interpretiert werden müssen – keinesfalls unvermittelt als zweckfrei

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tes in den Zeichenordnungen der Landschaft zu verorten und zu interpretieren, sondern es als ein perspektivschaffendes vor Landschaft zu hinzustellen, scheint bis in noch gegenwärtigen Landschaftstheorien bestimmend für den Blick auf das Subjekt: Die moderne Landschaftsvorstellung ist etwas, in dem unsere konkrete menschliche Subjektivität zur Geltung kommt. [...] Es geht um eine zutiefst den Interessen des Subjekts zugehörige, vom Empfindungs- und Wahrnehmungsbereich bis zum Bereich des Sinnentwurfs reichende Auffassung eines Verhältnisses, in dem die Schätzung der gegebenen Welt und die Schätzung seiner selbst des Subjekts miteinander verschränkt sind, einbildungsmäßig und das heißt die Vorstellung bestimmend miteinander verschränkt sind.21

Jene Begriffsgeschichte, die die Landschaft auf ihre ästhetische Bedeutung eingrenzend sich Aussicht verschaff t auf hoheitliches Aussagen über epistemologische Verhältnisse, verbaut sich aber die Sicht auf die Produktion und Reproduktionsvoraussetzungen ihrer eigenen Artikulationen, also ihrer Hervorbringungen: auf eine Bestimmung von Einheit, die ihr und der Landschaft als Gegenstand der Auseinandersetzung über Aneignung in und an der Landschaft zugrunde liegen. Ein Begriff davon lässt sich erwerben, liest man an einer Stelle in den »Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie«, die von Karl Marx als Rohentwurf von Das Kapital zwischen Oktober 1857 und Mai 1858 geschrieben wurden: und ohne Weiteres eine Ganzheit von Anschauungsobjekt und -subjekt bewerkstelligend. Dies kennzeichnet bezeichnend Ritters Programmatik bei der Betrachtung von Landschaft als ästhetisch vermittelter Natur, durch die die Philosophie für die Einheit des Subjekts bürgen soll, wenn sie – »stärker und reicher als alles schweifende Vorstellen und Meinen« – in dem Antagonismus von Natur und Landschaft die »unserer Welt an sich einwohnende Vernunft« begreifbar mache (ebenda, S. 179). Als so funktionsfrei also, wie von Ritter behauptet, könnte der Blick in und auf die (literarischen) Landschaften für ihn keineswegs gelten – sofern er einen Blick auf eigene Standpunkte zu entwickeln wüsste –, sondern ist erkennbar Teil einer Praxis der Bedeutungshoheitsbehauptung der Philosophie gegenüber den von ihm verworfenen »Ideologien und Weltanschauungen« (ebenda, S. 159). 21 | Flach (1986), S. 15. Es unterbleibt auch hier jeglicher Verweis auf die Medien, die ein solches Selbst-Verhältnis vermitteln und archivieren, wie auch hier keine weiteren Worte darüber verloren werden, welche verschiedenen Interessen die Bestimmung von Landschaft bestimmen.

190 | N IL S P L ATH Die Erde ist das große Laboratorium, das Arsenal, das sowohl das Arbeitsmittel, wie das Arbeitsmaterial liefert, wie den Sitz, die Basis des Gemeinwesens. Sie [die Mitglieder der Stammgemeinschaft] verhalten sich naiv zu derselben als dem Eigentum des Gemeinwesens und des in der lebendigen Arbeit sich produzierenden und reproduzierenden Gemeinwesens. Jeder Einzelne verhält sich nur als Glied, als member dieses Gemeinwesens als Eigentümer oder Besitzer. Die wirkliche Aneignung durch den Prozeß der Arbeit geschieht unter diesen Voraussetzungen, die selbst nicht Produkt der Arbeit sind, sondern als ihre natürlichen oder göttlichen Voraussetzungen erscheinen.22

Wie die Voraussetzungen der Arbeit nach Marx als scheinbar natürlich gegeben erscheinen – und demnach eine kritische Perspektive erfordern, ohne als Gegebenheit obsolet zu werden –, so taucht Landschaft als Belegstelle in Texten über die Landschaft auf, um voraussetzungslos von der Naturgegebenheit des Subjekts sprechen zu können, die sich in der Geschaffenheit der ästhetischen Landschaft abbildet. Die Landschaft wird zur Kulisse, vor der das Subjekt als ein nicht weiter zu perspektivierendes, eben nicht als Teil eines vermittelnden Arbeitsprozesses interpretiert werden kann. Soweit herrscht weitgehende Einigkeit in einschlägigen – deutschsprachigen – Bestimmungen von Landschaft. In Marx »Grundrissen« findet sich eine andere Stelle, die sich in diesen Zusammenhang einfügen lässt: Die ursprünglichen Bedingungen der Produktion erscheinen, schreibt Marx, »als Naturvoraussetzungen, natürliche Existenzbedingungen des Produzenten, ganz so wie sein lebendiger Leib, sehr er ihn reproduziert und entwickelt, ursprünglich nicht gesetzt ist von ihm selbst, als die Voraussetzung seiner selbst erscheint; sein eignes Dasein (leibliches) ist eine natürliche Voraussetzung, die er nicht gesetzt hat. Diese natürlichen Existenzbedingungen, zu denen er sich als zu ihm selbst gehörigem, unorganischem Leib verhält, sind selbst doppelt: 1) subjektiver und 2) objektiver Natur. Er findet sich vor als Glied einer Familie, Stammes, Tribus etc., – die dann durch Mischung und Gegensatz mit andren historisch verschiedne Gestalt annehmen[.] [...] Sein Eigentum, d.h. die Beziehung auf die natürliche Voraussetzung seiner Produktion als ihm zugehörige, als die seinigen, ist dadurch vermittelt, dass er selbst natürliches Mitglied eines Gemeinwesens. (Die Abstraktion eines Gemeinwesens, worin die Mitglieder nichts gemein haben, als etwa Sprache etc. und kaum diese, ist offenbar das Produkt viel 22 | Marx (1983), S. 50.

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späterer historischer Zustände.) In Bezug auf den Einzelnen ist z.B. klar, dass er selbst zur Sprache als seiner eignen sich nur verhält als natürliches Mitglied eines menschlichen Gemeinwesens. Sprache als das Produkt eines Einzelnen ist ein Unding. Aber ebenso ist es [das] Eigentum.«23 Entsprechend verhält es sich mit der Landschaft, auf die dauerhaft begriffliche Eigentumsrechte zu erheben, keinem Diskurs gelingen kann. Schon weil sich in dem Begriff die Voraussetzungen abbilden, von denen die Sprache handelt. Mit anderen Worten, übertragen in den Kontext der geteilten Landschaft: Landschaft schaff t, als mitgeteilte, Gemeinschaft – und ist Objekt der Auseinandersetzung über Eigentumsansprüche, allerdings auch immer als singuläre und eigentümlich dem Einzelnen zugleich. In ihr artikulieren sich zudem die Ansprüche des nur als Relation sich schaffenden Subjekts über die Hoheit, von sich zu sprechen: einen Standort für sich gegenüber dem, von dem es Teil ist und bleibt. In Darstellungen von Landschaft findet so gesehen zuvorderst die Verständigung über die Sprache dieser Darstellung – über Zeit und Raum – ihren Ausdruck. Davon lassen Landschaftsbegriffsgeschichten sprechen; gerade wenn man die Grenzen ihrer umfassenden Ansprüche auf Aussicht anspricht angesichts von Landschaftsansichten. Als ein Begriff, der Arbeit macht – und dieser als Landschaft, nämlich als die historisch gebildete Matrix für Zusammenhangserzeugungen, selbst zur Voraussetzung wird –, steckt in der »Landschaft« Arbeit. Ungesehen und unthematisiert bleibt dies, so der vermittelte Anschein, in jenen Betrachtungen, die Landschaft als eine rein ästhetische Begrifflichkeit zu interpretieren versuchen und entsprechend begrenzte Begriffsgeschichten verfassen. Dies geschieht, so sei unterstellt, um das Gemachtsein eigener Ansicht nicht sichtbar werden zu lassen. Dem können Ansichten auf Landschaft widersprechen, die zeigen, dass es die Landschaft ist, die – nie unbegrenzt und nie außerhalb von fi xierten Rahmen – Aussicht auf Arbeit schaff t – in Wort und Bild.

Literatur Flach, Werner (1986): »Landschaft. Die Fundamente der Landschaftsvorstellung«. In: Landschaft, hg. v. Manfred Smuda, Frankfurt a.M., S. 11- 28. Freytag, Gustav (1954): Soll und Haben [1855], München. Gerndt, Siegmar (1981): Idealisierte Natur, Stuttgart.

23 | Marx (1983), S. 55.

192 | N IL S P L ATH Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm (1854-1960), 16 Bde. [in 32 Teilbänden], Leipzig. Grohmann, Johann Christian August (1797): Neue Theorie der schönen Gartenkunst. Leipzig, Band I, S. 223. Gruenter, Rainer (1975): »Landschaft. Bemerkungen zur Wort- und Bedeutungsgeschichte«, In: Landschaft und Raum in der Erzählkunst, hg. v. Alexander Ritter, Darmstadt, S. 192-207. Hirschfeld, Christian Cajus Laurenz (1779-1785): Theorie der Gartenkunst, Band II, Leipzig. Kammerer, Friedrich (1909): Zur Geschichte des Landschaftsgefühls im frühen 18. Jahrhundert, Berlin. Kortländer, Bernd (1977): »Die Landschaft in der Literatur des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts«. In: ›Landschaft‹ als interdisziplinäres Forschungsproblem, hg. v. Alfred Hartlieb von Wallthor/Heinz Quirin, Münster, S. 36-44. Krünitz, Johann Georg (1773-1858): Oeconomische Encyclopädie oder allgemeines System der Land-, Haus- und Staats-Wirthschaft, Band 8, Berlin. Langen, August (1975): »Verbale Dynamik in der dichterischen Landschaftsschilderung des 18. Jahrhunderts« [1947/49]. In: Landschaft und Raum in der Erzählkunst, hg. v. Alexander Ritter, Darmstadt, S. 112-191. Lobsien, Eckhard (1981): Landschaft in Texten. Zu Geschichte und Phänomenologie der literarischen Beschreibung, Stuttgart. Lobsien, Eckhard (2001): »Landschaft«. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Band 3, hg. v. Karlheinz Barck u.a., Stuttgart/Weimar. Marx, Karl (1983): »Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie« [1857/58, veröffentlicht 1939]. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Gesammelte Werke, hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Band 42, Berlin. Plath, Nils (1994): »Die Entstehung der Schlesischen Landschaft – Grundstein für den Pfandbrief“, in: Der langfristige Kredit. Zeitschrift für Finanzierung, Kapitalanlage und Immobilienwesen, Nr.17/18. 45. Jg., S. 35-41. Ritter, Joachim (1974): »Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft« [1963], in: Ders.: Subjektivität. Sechs Aufsätze. Frankfurt a.M., S. 151-163. Serres, Michel (2005): Atlas. Aus dem Frz. von Michael Bischoff. Berlin. Warnke, Martin (1992): Politische Landschaft. Zur Kunstgeschichte der Natur. München.

Transfer wissenschaf tlicher Funk tionsbegriffe in die Architek tur theorie des 18. Jahrhunder ts Ute Poerschke

Architekturtheorie kann, unter anderem, als Begriffstheorie verstanden werden. Dabei werden Schlüsselbegriffe erörtert, die das Denken von Architekten und Architekturtheoretikern entscheidend prägten und prägen, z.B. Begriffe wie Struktur, Ornament oder Form. Auch der Begriff der Funktion, um dessen Geschichte es im Folgenden gehen wird, ist ein Schlüsselbegriff in Architektur und Architekturtheorie. Er nimmt in zeitlichen Schüben auf die Architekturdiskussion entscheidend Einfluss. Der erste dieser Schübe setzt etwa um 1750 ein, der zweite circa 1840, und der dritte mit der Klassischen Moderne der 1920er Jahre, in der der Begriff derart wichtig wird, dass man mit ihm um 1932 einen neuen -Ismus erfindet, den Funktionalismus. In der Nachkriegszeit versucht man, den Begriff der Funktion durch vermeintliche Synonyme wie Aufgabe, Nutzen, Nützlichkeit, Leistung und Zweck genauer zu umschreiben, was eher zum Gegenteil der Verallgemeinerung führt.1 Auch versucht man, die Herkunft des Begriffs geschichtlich zu verorten, zum Beispiel in Vitruvs utilitas- und auch

1 | Unter anderem in folgenden Schriften werden diese Begriffe synonym verwendet: Fisker (1948), Adorno (1965), Arnheim (1973), Führ (1979), Kruft (1985). Im Englischen kann man Synonymisierungen wie use, utility, task, fitness, commodity, und purpose zum Beispiel in folgenden Schriften finden: De Zurko (1957), Banham (1960), Collins (1965), Ligo (1974).

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[Abb.1] Piero Vitali, Kupferstichporträt von Carlo Lodoli, in der Erstausgabe von Memmos Elementi dell’architettura lodoliana, Rom 1786 in seinem firmitas-Gedanken.2 Bis heute gibt es unzählige Deutungen des Begriffs innerhalb der Architektur, und dies führt Adrian Forty 2000 und Andreas Dorschel 2002 zu der Forderung, das für sie un2 | Schnaidt/Gallo (1989).

TRANSFER

WIS SENSCHAF TLICHER

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scharfe Wort aus der Architekturterminologie zu entfernen.3 Während aber die Umsetzung dieser Schlussfolgerung eine Einschränkung des Architekturdenkens bedeuten würde, wird hier die Gegenthese vertreten, dass es sinnvoll ist, das Problem des Funktionsbegriffs stets von neuem zu durchdenken. Denn bei der Erörterung von architektonischen Begriffen, wie bei Begriffen überhaupt, geht es um das Verstehen von Problemzusammenhängen und nicht um deren Lösung und endgültige Wahrheiten. 4 Es sollte klar sein, dass Begriffe nicht ein für alle Mal festgelegt werden können, sie sind ständigen Entwicklungen unterworfen. Und so kann es nur darum gehen, im Nachdenken über Grundbedeutungen und Veränderungen eines Begriffs durch die Kulturgeschichte hindurch theoretisch-architektonische Zusammenhänge zu verstehen und aktuelle Probleme der Architektur zu kontextualisieren. Die vorliegende Untersuchung mit ihrem Schwerpunkt auf den ersten Transferprozessen des Funktionsbegriffs aus verschiedenen Wissensfeldern in die Architekturterminologie hat somit zum Ziel, das Nachdenken über den heutigen Funktionsbegriff zu befördern. Der Venezianer Carlo Lodoli (1690-1761) ist nach heutigem Kenntnisstand der erste Architekturtheoretiker, der das Wort »Funktion« auf die Architektur bezieht. Man kann dieses Ereignis nur unscharf um 1750 datieren, da Lodoli keine eigenen Schriften veröffentlicht, und erst seine Schüler Francesco Algarotti und Andrea Memmo 1756 und 1786 darüber schreiben, wie Lodoli den Funktionsbegriff verwendet. Lodoli, Franziskanermönch in Venedig, ist kein Architekt, sondern Lehrer, Zensor und Architekturphilosoph. Der umrahmende Schriftzug um ein Kupferstichporträt von 1786 sowie zwei an Memmo diktierte Manuskripte zu architektonischen Lehrbüchern sollen, Memmo zufolge, unmittelbar auf Anweisungen Lodolis zurückzuführen sein. In dem genannten Kupferstich [Abb.1] ist Lodolis Porträt mit verschiedenen Zeichenutensilien und Plänen umrahmt, die auf einen architektonischen Kontext hinweisen. Unterhalb des Kupferstichs wird Lodoli als »Il Socrate Architetto« (Der Sokrates Architekt) betitelt. Am unteren Rand verweisen zwei Tafeln auf den Propheten Jeremia 1:10: »UT ERUAS ET DESTRUAS« (DASS DU AUSREISSEN UND NIEDERREISSEN SOLLST) ist auf der linken Seite zu lesen, »UT 3 | Forty (2000), S. 195. Dorschel (2002), S. 40. 4 | Diesen Ansatz verfolgt Akos Moravansky: »Um das Wesen eines architektonischen Problems zu erfassen, muss man sich mit der Vorgeschichte problematischer Begriffe auseinandersetzen. Wir können gleich mit dem Begriff Architektur beginnen, um weiter zu fragen: Was ist Raum? Was ist Funktion? Was ist Tektonik?«. In: Moravanszky (2004), S. 26.

196 | U TE P OERSCHKE PLANTES ET AEDIFICES« (DASS DU PFLANZEN UND AUFBAUEN SOLLST) auf der rechten. Man kann zunächst sagen, dass dieser Aufruf zum Niederreißen und Neuauf bauen eine durchaus provokative Aufforderung für Architekten nicht nur seiner Zeit darstellt. Für die vorliegende Untersuchung ist der das Porträt umrahmende Schriftzug »DEVONSI UNIR E FABRICA E RAGIONE − E SIA FUNZION LA RAPRESENTATZIONE« von großer Bedeutung. Im Jahr 1964 übersetzt Edgar Kaufmann die Begriffe »funzione e rappresentazione« mit »function and form«5 und versucht damit, eine direkte Linie zum berühmten Diktum »form follows function« herzustellen, das Louis Sullivan in seinem Aufsatz »The Tall Office Building Artistically Considered« von 1896 erstmalig verwendet. Die beabsichtigte Schlussfolgerung ist offensichtlich: Nicht erst Sullivan bringt die Begriffe von Funktion und Form zusammen, sondern bereits das 18. Jahrhundert. Die Moderne hat Tradition! Sehr wörtlich übersetzt lautet der Schriftzug: »MAN MUSS HERSTELLUNG UND VERSTAND VERBINDEN – UND FUNKTION SEI REPRÄSENTATION«. Weder Lodoli noch seine Schüler geben eine direkte Erklärung, was mit diesem schwer verständlichen Satz gemeint ist. Immerhin können über den Ursprung der linken Hälfte des Spruchbands definitive Aussagen gemacht werden, denn er verweist auf Vitruv, der ca. 100 v.Chr. im ersten Buch seiner De Architectura Libri Decem schreibt: »Des Architekten Wissen […] erwächst aus fabrica (Hand-werk) und ratiocinatio (geistiger Arbeit)«.6 Vitruvs Zehn Bücher über Architektur, die älteste bekannte Architekturschrift, sind bis ins Mittelalter verschollen, werden Anfang des 15. Jahrhunderts wieder entdeckt und gelten seit der Renaissance sozusagen als das Buch der Bücher für Architekten. Seit der Renaissance bedeutet eine Auseinandersetzung mit Architektur vor allem eine Auseinandersetzung mit Vitruv. Diese Hälfte des Spruchbands steht mit der Jeremia-Tafel des Ausreißens und Niederreißens auf der linken Seite zusammen, und aus dieser Zuordnung lässt sich die erste Hälfte von Lodolis Beurteilung der zeitgenössischen Architekten erschließen. Es scheint zunächst, als fordere Lodoli ein Niederreißen von Vitruv oder im weiteren Sinne der antiken Tradition. Doch andererseits liest sich der Halbsatz, man müsse Erfahrung und Verstand einsetzen, als Imperativ, das heißt als positive Aufforderung. In einer raffinierten Überlagerung fordert Lodoli hier einerseits, dass Architekten sich gegen Tradition, überlieferte Proportionen oder Autorität früherer berühm5 | Kaufmann (1964), S. 159-175. 6 | Vitruv (1991), S. 22f.

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ter Architekten stellen, und beruft sich dabei andererseits eben auf jene antike Autorität des Vitruv in einer Weise als würde dieser selbst die unreflektierte Verehrung der Antike kritisieren. Die rechte Hälfte – »und Funktion sei Repräsentation« – ist sehr viel schwieriger zu interpretieren. Sie scheint Lodolis eigene Erfindung zu sein. Er stellt hier also der Antike etwas Neues gegenüber, oder besser gesagt, er verknüpft Alt und Neu zu einem einzigen Satz, und erzeugt so eine Verbindung der Antike mit seiner Gegenwart. Zu diesem Satzteil zugeordnet liest man die Jeremia-Tafel des Pflanzens und Bau-

[Abb.2] Rene Descartes: Beschreibung des menschlichen Körpers mit allen seinen Funktionen. Erste Seite der lateinischen Ausgabe, Amsterdam 1686.

198 | U TE P OERSCHKE ens. Man kann aus dieser Zuordnung schlussfolgern, dass Lodoli das Infragestellen oder gar Niederreißen der Tradition sowie das Aufbauen und Neuentwickeln mit den Erkenntnissen der eigenen Zeit fordert. Was aber meinen nun »Funktion« und »Repräsentation«? Vor Lodoli spricht kein Architekt oder Architekturtheoretiker über Funktionen in der Architektur, weder Vitruv noch Leon Battista Alberti oder Andrea Palladio verwenden dieses Wort, es ist weder Wort noch Begriff. Functio ist lateinischen Ursprungs, doch gibt es in der Antike nur wenige Autoren, die das Wort benutzen, im wesentlichen Cicero, der im Übrigen ein viel gelesener Autor Lodolis ist. Im Lateinischen meint functio die (Amts-) Verrichtung, und diese Bedeutung wird auch im mittelalterlichen Latein aufgenommen, und zwar sowohl in der Amtssprache als auch in der Wissenschaftssprache. Von beiden fi ndet nur langsam eine Übertragung in die Nationalsprachen statt. Bis in die frühe Neuzeit sind funzione im Italienischen, Funktion im Deutschen, oder fonction im Französischen auch keine gängigen Worte der Umgangssprache. Man kann verschiedene Thesen aufstellen, woher Lodoli den Funktionsbegriff in die Architekturterminologie transferiert. So wird der Begriff zum Beispiel in medizinischen und naturgeschichtlichen Texten seit dem 17. Jahrhundert zunehmend präsent. Man findet ihn unter anderem in William Harveys Über die Bewegung des Herzens und des Blutes von 1628, in dem Harvey den Blutkreislauf entdeckt. Rene Descartes verwendet ihn in seinem Traktat über den Menschen 1632 (1662 veröffentlicht), sowie im Titel seiner Beschreibung des menschlichen Körpers mit allen seinen Funktionen von 1648 [Abb.2]. Bei allen diesen Traktaten beschreibt »Funktion« dasselbe, und zwar eine Interaktion von Organen in einem Körper, oder abstrakter ausgedrückt, ein Ineinanderwirken von Teilen in einem Ganzen. »Funktion« meint eine Verrichtung oder actio, aber genauer eine Teil-Verrichtung. Wenn man nun behauptet, dass Lodoli diese Bedeutung auf die Architektur überträgt, könnte man schlussfolgern, dass Lodoli Bauteile mit Organen, und ein Gebäude mit einem Körper vergleicht, und zwar auf sehr besondere Art. Es ginge dann nämlich um das Verhältnis von Bauteilen und Bauganzem als inneres Zueinanderwirken mit dem Ziel der Aufrechterhaltung dieses Ganzen. Umgekehrt formuliert ginge es dann in der Architektur nicht mehr darum, dass Teile und Ganzes in messbaren oder sichtbaren Proportionen zueinander stehen, sondern dass dieser Zusammenhang tiefer begründet, im Inneren verborgen und aktiv ist. Darüber hinaus ist Lodoli auch äußerst bewandert in Mathematik, die einen Funktionsbegriff im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts herausbildet. Gottfried Wilhelm Leibniz ist derjenige, der »Funktion«

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[Abb.3] Leonhard Euler: Einführung in die Analyse des Unendlichen. Lateinische Erstausgabe. Lausanne 1748, Reprint Basel 1967. Das Buch beginnt mit dem Kapitel »Von den Funktionen überhaupt«. zum ersten Mal 1673 verwendet und in seinem Briefwechsel mit Johann Bernoulli etabliert.7 Bernoulli ist der erste, der 1718/1742 eine offizielle Definition des mathematischen Funktionsbegriffs gibt,8 die dann Leonhard Euler in seinem berühmten Introductio in Analysin In7 | Vgl. Leibniz-Archiv (2003), S. 23. 8 | Bernoulli (1742), S. 241.

200 | U TE P OERSCHKE finitorum (Einführung in die Analyse des Unendlichen) von 1748 leicht abändert [Abb.3]. Anfangs erklärt Leibniz functio als relatio zwischen y- und x-Werten in einem Koordinatensystem, die als Kurvenpunkte eine Kurve bilden.9 Wichtig ist festzuhalten, dass es auch hier, in der Mathematik, um die Verhältnisse von Teilen und Ganzem geht, von Punkten und der daraus gebildeten Kurve, die mittels Funktionsformeln dargestellt werden können. Außerdem ist auch hier, in der Mathematik, die Idee des Verrichtenden, des Aktiven enthalten: Ein Punkt ist auf einer Kurve veränderlich gedacht, und in jedem Punkt der Kurve ist eine Bewegung oder Steigung enthalten, die durch eine Tangente ausgedrückt werden kann. Allgemeiner ausgedrückt ist die Analysis die Lehre von den Verhältnissen stetig sich verändernder Größen. Newton spricht daher statt von Funktionen von Fluenten, das heißt von fließenden Größen. Vergleicht man also den Funktionsbegriff der Mathematik mit dem der Naturgeschichte, kann man behaupten, dass bei beiden drei Aspekte gleichermaßen von Bedeutung sind, nämlich eine Teilerelation, ein Ganzheitsbezug und eine innewohnende Aktion/Bewegung. Es scheint, als seien Leibniz, der bekannt dafür ist, eindeutige Bezeichnungen zu fordern, die »die innerste Natur der Sache mit wenigem ausdrücken und gleichsam abbilden«,10 diese Zusammenhänge klar und deutlich bewusst. In Bezug auf Lodoli könnte man nun ohne Widerspruch zwischen Naturgeschichte und Mathematik folgende These formulieren: So wie in der Naturgeschichte Organe zu einem Organismus zusammenwirken, und so wie in der Mathematik veränderlich gedachte Kurvenpunkte eine Kurve bilden, so wirken Bauteile zusammen zu einem Baukörper. Der Funktionsbegriff beschreibt dieses Zusammenwirken von Teilen zum Ganzen sowohl in der Naturgeschichte und Mathematik als auch in der Architektur durch die Aspekte der Teilerelation, des Ganzheitsbezugs und der Aktion. Was also das Bauwerk zu einem Ganzen macht, sind nicht äußerlich sichtbare Proportionen, sondern quasi unsichtbare Funktionen. Mit weiteren Überlegungen lässt sich diese These im Folgenden stützen. Zunächst meint das italienische Wort funzione auch Gottesdienst. Diese Bedeutung gibt es auch im Deutschen, zum Beispiel bei Goethe, der in seiner Italienischen Reise bei der Beschreibung des Gottesdienstes der Karwoche im Vatikan 1788 vermerkt: »Der Augenblick, wenn der aller seiner Pracht entkleidete Papst vom Thron steigt [...] und das Chor anfängt [...], ist einer der schönsten unter allen merkwürdi9 | Siehe hierzu Poerschke (2005), S. 38-44. 10 | Zitat in Wußing (1989), S. 74.

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gen Funktionen. [...] Bei den päpstlichen Funktionen [...] geschieht alles [...] mit großem Geschmack und vollkommener Würde«.11 In dieser Bedeutung als Gottesdienst kann man einmal mehr den aktivischen Charakter des Funktionsbegriffs, als Dienst, erkennen. Dabei lässt sich funzione aber auch als Teilhaben, als das Zelebrieren des Teilseins von dem Größeren, nämlich Gott, verstehen. Übertragen auf die Situation des Franziskanermönchs Lodoli kann man interpretieren, dass der Funktionsbegriff eine Brücke herstellt zwischen seinen Gedanken zu Architektur und seiner christlichen Profession. Mit dieser Interpretation beschränkt sich der Schriftzug im Kupferstichporträt also nicht mehr nur auf Architektur allein, sondern erweitert sich zu einer Art Weltanschauung. Dies erscheint umso plausibler, wenn man das Porträt als Vermächtnis Lodolis begreift, denn erschiene es nicht merkwürdig, dass sich Lodoli in diesem Vermächtnis ausschließlich auf Architektur reduzierte? Zweitens ist Lodoli ein großer Verehrer des zeitgenössischen Philosophen Giambattista Vico. Als Zensor der Republik Venedig versucht Lodoli, Vico zur Veröffentlichung seiner Autobiographie zu bewegen, die dann auch 1728 in Venedig erscheint. Vico habe, so Otto und Viechtbauer, eine »Metaphysik der Funktion« begründet.12 Er formuliert in seinem Liber metaphysicus von 1710 Sätze wie »Zusammengesetztsein heißt Bewegtsein« und »Natur ist Bewegung«. In der Natur gäbe es kein »Eines«, doch alles in der Natur sei Teil eines größeren Ganzen, nämlich Gott.13 Wenn man die drei oben entwickelten Aspekte des Funktionsbegriff heranzieht, so meinen für Vico Teilerelation (Natur besteht aus Teilen), Ganzheitsbezug (Natur ist bezogen auf Gott) und Aktion (Natur ist Bewegung) ein und dasselbe. Man muss hier allerdings hinzufügen, dass Vico den Funktionsbegriff nicht wirklich diskutiert, so taucht er zum Beispiel im Liber metaphysicus überhaupt nicht auf. Lodoli kann von Vico zwar ein funktionalistisches Konzept übernehmen, nicht aber das Wort. Als drittes Argument lassen sich die anfangs erwähnten Manuskripte anführen, in denen Lodoli zum Thema der Funktion des Materials Memmo folgenden Satz diktiert haben soll: »Die Funktion jedes, zum Zusammensetzen eines Gebäudes tauglichen Materials ist jene vielfache und veränderbare Aktion, die aus dem Material selbst resultiert«.14 11 | Goethe (1976), S. 700f. 12 | Otto/Viechtbauer (1985), S. 103. 13 | Vico (1979), S. 91, 97. 14 | Im Original: »Che la funzione della materia tutta atta a compor

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[Abb.4] Lodolis Fensterentwurf für sein Kloster San Francesco della Vigna, Venedig. Bild: U.P. Aus diesem Satz kann man herauslesen, dass Lodoli Funktion als »Aktion« definiert, ferner von einer Orientierung des Materials auf eine fabbriche, è quella moltiplicata e modificata azione che risulta dalla stessa materia«. Manuskript in: Memmo (1834), S.60. Übersetzung U.P.

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Ganzheit hin, nämlich »eines Gebäudes« spricht, und zum dritten das »Zusammensetzen« thematisiert: Materialien und Materialteile müssen zum Zusammensetzen tauglich sein, müssen also in Relation zu anderen Materialien und Materialteilen treten können. Damit lassen sich auch hier alle drei Aspekte des Funktionsbegriffs wieder finden. Memmo beschreibt in seinen Elementi, dass in einem Bauteil durch Materialeigenschaften und durch das System der Bauteile innere Kräfte hervorgerufen werden. So verweist er zum Beispiel auf die steinernen Türschwellen Venedigs, die in der Mitte zum Brechen (eine Aktion) neigen, zum einen aufgrund ihrer Materialeigenschaften, zum anderen weil die systemische Anordnung der Bauteile fehlerhaft sei. Memmo beschreibt, wie Lodoli in einem Anbau an sein Kloster San Francesco della Vigna einen Gegenentwurf zu diesen Schwellen verwirklicht. Er entwickelt Fensterbrüstungen, deren Form den inneren Kräften im Bauteil mehr entsprechen soll, indem deren Unterkante der Kettenlinie folge [Abb.4].

[Abb.5] Vergleich der Definitionen von Funktion bei Johann Bernoulli, Leonhard Euler und Carlo Lodoli. Viertens schließlich wird hier der Satzauf bau des gerade interpretierten Zitats über die Funktion des Materials mit dem Satzauf bau von Bernoullis und Eulers Definition einer mathematischen Funktion verglichen [Abb.5]. Man kann dabei feststellen, dass die Satzteile in allen drei Fällen die gleichen sind. Bernoullis und Eulers »Funktion einer veränderlichen Größe« ist dabei äquivalent zu Lodolis »Funktion jedes zum Zusammensetzen eines Gebäudes tauglichen Materials«. Während aber bei Lodoli die Funktion eine »Aktion« ist, heißt sie bei Euler »analytischer Ausdruck«. Die Frage, wie »Aktion« und »analytischer Ausdruck« zusammenhängen könnten, eröffnet eine weitere Interpre-

204 | U TE P OERSCHKE tationskette, die zum Kupferstichporträt zurückführt. Bisher wurde nämlich noch nicht auf denjenigen Begriff im Kupferstich eingegangen, der dem Funktionsbegriff beigeordnet ist: »und Funktion sei Repräsentation«. Lodoli setzt in seinem Schriftzug den Repräsentationsbegriff demjenigen des Funktionsbegriffs gleich. In seinem schon angesprochenen Manuskript definiert er Repräsentation als »Ausdruck« und fügt hinzu: »Die richtige Funktion und die Repräsentation sind die beiden einzigen, letzten wissenschaftlichen Ziele der Zivilarchitektur«. Ziel sei, dass »sie nichts anderes sind als eine einzige Sache«.15 Mit der Schlussfolgerung, dass für Lodoli »Aktion« und »Ausdruck der Aktion« eine Einheit darstellen, ließe sich also eine Brücke zu Eulers »analytischem Ausdruck« schlagen.

[Abb.6] Vergleich von Carlo Lodolis Definitionen von Funktion und Repräsentation. Allgemein betrachtet diskutiert auch der Repräsentationsbegriff die Frage von Teilen und Ganzem. Zum Beispiel ist ein Repräsentant eines Staats ein Teil des Staats, den er repräsentiert, nicht jedoch der Staat selbst. Ein Mönch erscheint als Repräsentant Gottes ebenfalls als Teil. Und auch im Gottesdienst, funzione, der zugleich Teil-Haben an Gott und Repräsentation des Teil-Seins von Gott ist, scheint sich diese Vorstellung zu offenbaren. Auf die Architektur bezogen könnte man sagen, dass so, wie die Funktion eines Bauteils die Aktion-als-Teil meint, so meint auch die Repräsentation eines Bauteils die Darstellung-als-Teil. Mit anderen Worten, ein Bauteil muss sich in seinem sichtbaren Ausdruck als Teil des größeren Ganzen, des Gebäudes, 15 | Im Original: »Rappresentazione è l’individua e totale espressione che risulta dalla materia qualor essa venga disposta secondo le geometricoaritmetico-ottiche ragioni al proposto fine«. Manuskript in: Memmo (1834), S.60. Übersetzung U.P. »La retta funzione e la rappresentazione sono i due soli oggetti finali scientifici dell’architettura a civile. [...] che non sieno che una sola cosa«. Ebd., S.59. Übersetzung U.P.

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offenbaren. Funktion und Repräsentation, Teilaktion und Teildarstellung, müssen sich aufeinander beziehen, oder in Lodolis Worten »eine einzige Sache« sein. Das kann man nun auch daraus schließen, wie ähnlich die Satzkonstruktionen sind, mit denen Lodoli Funktion und Repräsentation erklärt [Abb.6]. Die beiden Sätze unterscheiden sich hauptsächlich darin, dass Funktion als Aktion umschrieben ist, und Repräsentation als Ausdruck. Das vielleicht eigentlich Revolutionäre bei Lodoli ist, wie er Aktion und Ausdruck – oder Funktion und Form – zusammen denkt. Das ist deswegen revolutionär, weil Foucault diese Koinzidenz von Funktion und Form erst in der Biologie um 1800 bei Georges Cuvier oder Jean Baptiste Lamarck ausmacht, also etwa 50 Jahre später. Foucault sagt, davor gab es zwar sowohl die sichtbare Form als auch daneben die unsichtbare Funktion, aber nicht bezogen aufeinander: »Es war gewissermaßen ein System mit doppeltem Eingang [...]. Die beiden Arten der Entschlüsselung deckten sich genauestens, sie waren aber voneinander unabhängig [...]. Diese Einteilung [...] stößt Cuvier um. [...] er lässt, und zwar in breitem Maße, die Funktion gegenüber dem Organ an Bedeutung zunehmen und unterwirft die Disposition des Organs der Souveränität der Funktion. Er löst, wenn nicht die Individualität, so wenigstens die Unabhängigkeit des Organs auf«.16 Diese Diskussion um die gegenseitigen Abhängigkeit von Funktion und Repräsentation < oder Aktion und Ausdruck < führt im Laufe des 19. Jahrhunderts vor allem in der Biologie dazu, dass einerseits die Funktion (Physiologie) und andererseits die Form (Morphologie) eine Vorrangstellung beansprucht. In der Architektur stellt Louis Sullivan mit seinem missverstandenen Diktum »form follows function« von 1896 die Weichen für die Architekturmoderne der 1920er Jahre, die der Funktion die Vorrangstellung gegenüber der Form einräumt. Bei Lodoli aber scheint es noch keine Diskussion über die Führungsrolle des einen oder anderen Begriffs zu geben. Wenn man nun zusammenfassend fragt, aus welchem Wissensgebiet Lodoli seinen Funktionsbegriff entnimmt und auf die Architektur transferiert, erscheint keines plausibler als ein anderes. Weder Lodoli selbst noch die Wissenschaften geben irgendwelche Hinweise, was den Vorrang haben könnte. Man kann aber umgekehrt argumentieren, dass eine Antwort auf diese Frage gar nicht möglich ist, da sich der Funktionsbegriff ja gerade erst herausbildet und sich durch das Nachdenken über ihn Wissenschaftszweige wie die Analysis und die Biologie entwickeln. So erscheint es angemessen, die Ähnlichkeiten und 16 | Foucault (1974), S.323.

206 | U TE P OERSCHKE nicht die Unterschiede des Begriffs in verschiedenen Wissenschaften als Grundlage für die Architekturtheorie zu nehmen. Mit dem Funktionsbegriff eröffnet sich im 18. Jahrhundert eine Weltvorstellung, die auch in der Architektur den aktivischen Zusammenhang von Teilen und Ganzem jenseits des Sichtbaren zu erklären sucht. So kann man zum Beispiel Immanuel Kant anführen, dessen Definition von Funktion in der Critik der reinen Vernunft von 1781 lautet: »Ich verstehe aber unter Funktion die Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen«.17 Dieses Zitat zeigt das offensichtliche Bedürfnis der Zeit, den Begriff zu erklären. In der Folge zeigt es aber auch das Unverständnis, das diesem Begriff entgegengebracht wird, denn Heinrich Campe kritisiert Kant für dessen eigenwillige Definition mit den Worten: »Jeder hat freilich das Recht zu bestimmen, was er bei seinen Worten gedacht wissen will; aber Klugheit und guter Geschmack rathen doch, uns dabei nicht zu weit vom Sprachgebrauche zu entfernen.« Stattdessen schlägt Campe vor, das Wort functionieren mit amten oder diensten zu ersetzen.18 In der Architektur und Architekturtheorie auch der folgenden Jahrhunderte und bis heute kann man einerseits Transferprozesse aus verschiedenen Wissenschaften feststellen, andererseits diese nicht auf eine einzige Wissenschaft festlegen. Zum Beispiel ist es einerseits bekannt, in welch hohem Maß die Architektur des 19. Jahrhunderts von der Herausbildung der Biologie beeinflusst ist.19 Der Architekt Gottfried Semper ist davon stark beeindruckt, wie Cuvier und Lamarck Form und Funktion in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit erörtern und damit wesentliche Schritte in der Taxonomie der Lebewesen leisten.20 Semper verweist mit dem Titel eines Vortrags zur Vergleichenden Stillehre von 1853 direkt auf Cuviers Werk Vergleichende Anatomie. In diesem Vortrag berichtet Semper von seinen Bemühungen, »einiges Material für einen zukünftigen Cuvier der Kunstwissenschaften zu sammeln«.21 Semper reflektiert intensiv den Begriff der Funktion, so unterscheidet er zum Beispiel Ornamente des Zwecks und Ornamente der Funktion voneinander. Unter Zweck versteht Semper eine Relation zwischen einem Objekt und einem Individuum. Der Zweck von einem Gefäß ist zum Beispiel das Wasserholen an einem Brunnen 17 | Kant (1781), S.49. 18 | Campe (1813), S.42. 19 | Vergleiche zum Beispiel Forty (2000), S.175. 20 | Zur Taxonomie siehe Foucault (1974) und Cheung (2000). 21 | Semper (1884): »Entwurf eines Systems der vergleichenden Stillehre«, S. 263.

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durch ein Individuum. Funktion dagegen gebraucht Semper um zu beschreiben, wie Teile dieses Gefäßes aufeinander wirken, also rein objektimmanent. Zum Beispiel sei die Funktion des Gefäßbauches das Umfassen, die Funktion des Fußes das Unterstützen des Bauches und das Abtragen auf den Grund. Wenn Semper von Funktion spricht, dann spricht er davon, wie die Teile agieren, wie sie zueinander und zum Ganzen agieren. »Jede Vase oder irgendwelches Gerät überhaupt ist, gleich einem Gebäude, ein Ganzes, das aus Teilen zusammengesetzt ist, die ihre eigenen Funktionen ausüben, während sie mit den anderen auf ein gemeinsames Ziel zusammenwirken. Nicht nur ein jeder Gegenstand als Ganzes, sondern auch ein jeder Teil desselben muß durch sein Aeußeres seine Funktion aussprechen«, schreibt er Mitte des 19. Jahrhunderts.22 Unschwer sind die oben herausgearbeiteten drei Aspekte des Funktionsbegriffs wieder zu erkennen. In der Repräsentation sind Ornamente des Zwecks zum Beispiel Bilder, die ein Wasserholen oder einen Brunnen darstellen, während Ornamente der Funktion zum Beispiel Blattverzierungen sind, die die Verknüpfung der Teile ausdrücken. Nun setzt sich Semper aber andererseits auch mit dem mathematischen Funktionsbegriff auseinander, er beginnt sogar ein Mathematikstudium bevor er sich der Architektur zuwendet. In einem Vortrag aus dem Jahr 1853 vergleicht Semper die Architektur mit einer mathematischen Funktion: »Jedes Kunstwerk ist [...] eine Funktion einer beliebigen Anzahl von Agentien oder Kräften, welche die variablen Koefficienten ihrer Verkörperung sind«.23 Semper versteht also äußerst vielseitig die Grundbedeutung des Begriffs in verschiedenen Wissenschaften und kann ihn so auf verschiedenen Ebenen der Architektur anwenden. Das zeigt sich daran, dass seine biologisch und seine mathematisch ausgerichteten Vorträge aus den gleichen Jahren stammen. Bis in die Moderne der 1920er Jahre scheint sowohl die hier beschriebene Grundbedeutung als auch die Universalität des Funktionsbegriffs den Architekten bewusst zu sein. Man verständigt sich noch nicht auf die banale und vereinfachende Gleichsetzung mit dem Zweckbegriff. Zum Beispiel übersetzt Schlosser mit Bezug auf Lodoli 1924 funzione als »lebendige Wirksamkeit« und rappresentazione als »Auf bau«.24 Und Hannes Meyer, zweiter Bauhausdirektor, proklamiert 22 | Semper (1884): »Klassifikation der Gefäße«, S. 32. 23 | Semper (1884): »Entwurf eines Systems der vergleichenden Stillehre«, S. 267. 24 | Schlosser (1924), S. 579.

208 | U TE P OERSCHKE 1928 im pamphletartigen Stil der Moderne: »so ist leben: umändern, umstellen, umstürzen, umarbeiten, umbauen: funktion. so ist leben: werkzeugbau, materialtransport, arbeitstechnik: funktion«.25 Gleichzeitig beginnt aber auch ein Verwischen der Begriffe von Funktion und Zweck, zum Beispiel wenn der Bauhausgründer Walter Gropius 1925 schreibt: »Ein Ding [...] soll seinem Zweck vollendet dienen, d.h. seine Funktionen praktisch erfüllen«.26 Seit der Nachkriegszeit und bis heute versuchen Architekten und Architekturtheoretiker den Funktionsbegriff unter Bezugnahme auf eine Wissenschaft zu erklären.27 Während manche sich auf Mathematik, andere auf Biologie, Sprachforschung oder Soziologie beziehen, können sie sich nicht auf eine Wissenschaft einigen. Und es scheint ihnen auch nicht die gemeinsame Grundbedeutung des Begriffs klar zu sein, die sich in allen Wissenschaften wieder finden und auch in die lateinischen Wurzeln zurückverfolgen lässt, und die hier mit den drei Aspekten der Teilerelation, des Ganzheitsbezugs und der Aktion umschrieben wurde. Wenn überhaupt, erklären Architekturtheoretiker den Funktionsbegriff nur mit jeweils einem oder zwei dieser Aspekte, und gerade das Außerachtlassen des Zusammendenkens aller drei scheint die allgemeine Verwirrung des Begriffs in der Architektur zu verursachen. Dabei gibt es durchaus Wissenschaftler, die den Funktionsbegriff mittels dieser drei Aspekte beschreiben. Zum Beispiel definiert der Biologe Alfred Benninghoff 1935 Funktion als »die Ausrichtung der Teilvorgänge auf das Ganze. Ohne Beziehung auf das Ganze wäre eine Funktion sinnlos«, und der Soziologe Alfred Radcliff-Brown formuliert 1952, eine Funktion sei der »Beitrag einer Teilaktivität zur Gesamtaktivität, deren Teil sie ist«.28 In der Architekturtheorie bildet zum Beispiel Karin Hirdina eine seltene Ausnahme, wenn sie 1981 für die Architektur »die Funktion als Fähigkeit eines Systems (einer Ganzheit) definiert, bestimmte Verhaltensweisen hervorzubringen«.29 Ebenso Werner Busch, wenn er 1987 die Funktion eines Gegenstands als »die Art seines Wirksamwerdens«30 versteht. 25 | Meyer (1928), S. 16. 26 | Gropius (1925), S. 5. 27 | Zum Beispiel: Conrads (1994), Nehls (1966), Staber (1974), Fischer (1983). 28 | Benninghoff (1935/1936), S. 152. Radcliff-Brown (1952), S. 181: »the contribution which a partial activity makes to the total activity of which it is a part«. 29 | Hirdina (1981), S. 206. 30 | Busch (1987), S. 14.

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Aus der hier durchgeführten Analyse des architektonischen Funktionsbegriffs von Lodoli bis heute kann man schlussfolgern, dass der Funktionsbegriff als Zusammenspiel der drei genannten Aspekte hinreichend beschrieben werden kann. Auf dieser Basis lassen sich anschließend durch die Betonung eines einzelnen Aspekts unterschiedliche architektonische Epochen herausarbeiten und verstehen. In der heutigen Orientierung der Architektur als Teil in einem global vernetzten System oder innerhalb eines ökologischen Wirkungsgefüges gewinnt der Funktionsbegriff erneut erhebliche Relevanz. Er kann dazu dienen, auf verschiedenen Ebenen, vom kleinsten Detail bis zum größten Zusammenhang, den Beitrag der Architektur gegenüber global vernetzen Kulturen zu diskutieren.

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Semper, Gottfried (1884): »Klassifi kation der Gefäße« und »Entwurf eines Systems der vergleichenden Stillehre«. In: Kleine Schriften, hg. v. Hans und Manfred Semper, Berlin/Stuttgart, S. 18-34 und S. 259-291. Staber, Margit (1974): »Funktion, Funktionalismus. Eine Geschichte der Missverständnisse«. In: Werk, H.3, S. 286-7. Sullivan, Louis (1896): »The Tall Office Building Artistically Considered«. In: Lippincott’s, 57.Jg., S. 403-409. Vico, Giambattista (1979): Liber metaphysicus. Übersetzung Stephan Otto und Helmut Viechtbauer, München. Vitruv (1991): De Architectura Libri Decem/Zehn Bücher über Architektur. Übersetzung Curt Fensterbusch, 5.Aufl., Darmstadt. Wußing, Hans (1989): Vorlesungen zur Geschichte der Mathematik, Berlin.

Dialek tik des Pfropfens – Metamorphosen und Metaphorisierungen einer Kultur technik Falko Schmieder

»Die Griechen nennens emputeuein, die Lateiner inserere, die Deutschen Impffen oder Pfropffen«1 – mit diesen Worten eröffnet Johannes Coleri das Kapitel vom Pfropfen seines 1620 erschienenen Hausbuchs Oeconomiae. Bemerkenswert an dieser einleitenden Passage ist, dass Coleri, der Sprache seiner Zeitgenossen folgend, die Begriffe ›Impfen‹ und ›Pfropfen‹ als Synonyme verwendet. Sie dienen ihm zur Bezeichnung eines agrartechnischen Veredelungsverfahrens, das schon in der Antike praktiziert und von antiken Schriftstellern in hymnischen Versen besungen worden ist. In den Gartenbaubüchern unserer Gegenwart, die sich mit den Methoden der Pflanzenveredelung beschäftigen, finden sich diese synonymen Bezeichnungen nicht mehr. Der Begriff des Impfens ist aus dem Zusammenhang des Gartenbaus verschwunden; dafür findet er sich wieder auf dem Feld einer Wissenschaft, die Coleri und seiner Zeit noch völlig unbekannt war. Der Begriff des Pfropfens hingegen dient bis heute zur Bezeichnung einer gärtnerischen Praxis, die sich im Vergleich zu Coleris Zeiten nicht wesentlich geändert hat. Verstand Coleri 1620 unter Pfropfen »nit anders denn eine Versetzung der gebrochenen Pfropfreiser und eine Fügung in die Stemme, das sie darinnen […] einwachsen sollen und dem Stamme eine zame und gute Art der Früchte bringen«,2 so heißt es in Oliver Allens Handbuch der Gartenkunde aus dem Jahre 1980, das den Titel Pfropfen und Beschneiden trägt, folgendermaßen: »Im Grunde besteht 1 | Coleri (1620), S. 148. 2 | Ebd.

214 | FALKO S CHMIEDER jeder Pfropfvorgang darin, dass man Teile von zwei Pflanzen verletzt und dann so zusammenfügt, dass sie miteinander verheilen. Der eine Teil wird als Unterlage bezeichnet. Er ist eine Art Gastgeber, der im Boden wurzelt und den anderen Teil, den Reis, mit Nährstoffen versorgt.«3 Im Folgenden soll die historische Karriere der Metaphern des Pfropfens und Impfens rekonstruiert werden. 4 Den Schwerpunkt der Darstellung soll dabei der Prozess der Negativisierung der Pfropfmetapher bilden, die in einem irritierenden Kontrast zur allzeit positiven Bewertung der gärtnerischen Praxis des Pfropfens steht. Von den römischen Klassikern wurde die Kulturtechnik des Pfropfens in hymnischen Versen besungen.5 Bei Lukrez wird sie dargestellt als eine kulturelle Praxis der Steigerung natürlicher Anlagen, für die uns »die Natur […] das Vorbild gab«. »Denn wo die Beeren und Eicheln herab von den Bäumen gefallen,// sprosste darunter zur Zeit der Schösslinge Schwärm in die Höhe.// Dann entschloss man sich auch Pfropfreiser in Äste zu senken«.6 – Bei Vergil erscheint das Pfropfen als eine Praxis des Überflusses und Überschusses, die über den Rahmen der einfachen Reproduktion hinausweist. Der spezielle Kunstfertigkeit erfordernde Eingriff in die Natur wird geschätzt, weil seine Produkte dem Menschen besondere Genüsse verschaffen.7 Die paradigmatische Bedeutung des Pfropfens als Kulturarbeit und ästhetische Produktion bringt Ovid zum Ausdruck, wenn er unter dem Begriff der Pflege gleichrangig das Pfropfen, kosmetische Praxen sowie das Schmücken und Verschönern von Häusern darstellt.8 Freilich klingt bei allen Autoren auch schon an, dass sich die Veredelungspraxis der Vereinigung zweier Pflanzen unter Verhältnissen vollzieht, die durch Verrohung und »Zwietracht«9 gekennzeichnet sind. Unter diesen Bedingungen konnte die Hybridisierungpraxis des Pfropfens zum Bildspender für 3 | Allen (1980), S. 62. 4 | Vgl. zu einem ersten Versuch Schmieder (2008). Der vorliegende Beitrag verarbeitet weiteres neu erschlossenes begriffsgeschichtliches Material, das im Vergleich zum ersten Versuch zu einer in etlichen Details modifizierten Darstellung führt. 5 | Zur Praxis des Pfropfens in der Antike vgl. Rex (2001). Der ökonomischen Bedeutung des Pfropfens in der Antike widmet sich Weber (1891), bes. S. 226f. 6 | Lukrez (1957), S. 208f. 7 | Vgl. Vergil (1984b), S. 90-95. 8 | Vgl. die ersten Verse aus Ovid (1861). 9 | Vgl. Vergil (1984a), S. 21.

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die Veranschaulichung sozialer und kultureller Differenzen werden. Ein frühes Beispiel dafür ist Paulus’ Brief an die Gemeinde in Rom. Die jüdische Religion wird darin gleichnishaft als edler und echter Ölbaum dargestellt, die vom Glauben abgefallenen Juden erscheinen als ausgebrochene Zweige dieses Ölbaums, die Christen als Zweige eines wilden Ölbaums, die dem edlen Ölbaum eingepfropft worden sind.10 Das Ziel einer Rückkehr aus der religiösen Entfremdung stellt Paulus in den Bildern der gelungenen Wiedereinpflanzung der abgetrennten natürlichen Zweige und der gelungenen Einpflanzung der Zweige des wilden Ölbaums dar.11 Paulus hat mit seinem metaphorischen Rekurs auf die Praxis des Pfropfens zur Veranschaulichung religiöser Differenzen ein Wahrnehmungsmodell zur Verfügung gestellt, das sehr einflussreich geworden ist 12 und an das noch heutige Kommentatoren anknüpfen.13 Diese Kontinuität sollte aber nicht den Blick für die Spezifi k der Paulusschen Pfropfmetaphorik verstellen: Im Einklang mit seiner Vorstellung von der prinzipiellen Versöhnbarkeit der verschiedenen Religionen verwendet Paulus nämlich die Pfropfmetapher in einem positiven, affirmativen Sinn und damit in einer Weise, die für die agrarische und naturalwirtschaftliche Epoche von der Antike bis zur frühen Neuzeit insgesamt charakteristisch gewesen sein dürfte. Erst mit dem Aufkommen der kapitalistischen Produktionsweise, die einen Bruch mit den überkommenen Naturalordnungen markiert, setzt die Negativisierung der Pfropfmetapher ein. Dennoch markiert auch der Paulussche Einsatz der Pfropfmetapher eine wichtige Wendung. Während bei den römischen Klassikern der Mensch als Handelnder erscheint, der die Natur durch seine Eingriffe veredelt und auf diese Weise sich selbst und seine Umwelt kultiviert, betrachtet Paulus die religiös zersplitterte Menschheit als eine Art Pflanzmaterial, an das appelliert wird, die eigenen Idiosynkrasien zu überwinden und sich dem göttlichen Heilsplan zu fügen. Diese Depotenzierung setzt sich fort bei Plotin, der auf die Praxis des Pfropfens gleichnishaft rekurriert, um das asymmetrische Verhältnis der unvergänglichen Weltseele zu den sterblichen Körpern zu illustrieren: »Z.B. wird ein Pfropfreis, wenn das, worauf es gepfropft ist, afficiert wird, mit afficiert; verdorrt es aber, so lässt es jenes im Genusse sei10 | Vgl. Röm 11.17-24. 11 | Vgl. ebd. 12 | So eröffnet beispielsweise Zedlers Universal Lexicon den Artikel »Pfropffen« mit der Paulus-Stelle, vgl. S. 1633. 13 | Vgl. Vycinas (1973), S. 135; Falter (2000), S. 79.

216 | FALKO S CHMIEDER nes Lebens. Auch wenn das Feuer in dir erlischt, so erlischt darum nicht das gesamte Feuer; ja selbst wenn das gesamte Feuer zu Grunde ginge, würde die Seele dort nicht afficiert werden, sondern nur der Organismus des Körpers«.14 Die menschliche Kultur erscheint hier als Form eines abhängigen und ephemeren Daseins, das der Weltseele bedarf, die über sie erhaben ist. Für die christliche Pfropfmetaphorik bleibt diese Umkehrung der Akteursdimension charakteristisch. Ist es im Gartenbau der Mensch, der sich schöpferisch die Naturkräfte dienstbar macht, so erscheint im christlichen Denken der Mensch als ein Geschöpf, das den göttlichen (Natur-)Gesetzen unterworfen ist. Die Erfolge der praktischen Naturbeherrschung seit der frühen Neuzeit und das damit verbundene gewachsene Selbstbewusstsein unterminierten die christliche Subordinierung des Menschen; die von christlichen Denkern in der Nachfolge von Paulus oft anhand des Pfropfgleichnisses versinnbildlichte Beziehung des Menschen zu Gott wurde zusehends prekär. Im Vorwort zu seinem Pflantzbüchlein aus dem Jahre 1529 hatte Johann Domitzer einen Kompromiss zwischen dem Weltermächtigungsanspruch der Neuzeit und dem christlichen Glauben versucht, indem er das Pfropfen als eine Art praktischen Gottesbeweis dargestellt hat: »Denn/ wie hette doch der Allmechtig ewig gutig Gott/ die aufferstehung des fleisches/ besser mügen beweisen/ und uns die selbigen zu glauben/ stercken un gewiß machen/ den eben durch die pfropff ung un Pelzung der Baum.« 15 Gibt uns Domitzer zufolge die Pfropfung oder – wie es alternativ heißt – die »ympfung der Bäum« quasi naturwüchsig ein Exempel der »Form und Gestalt« des Glaubens und der Liebe, so ist bei Martin Luther das Vertrauen in die natürliche Kraft der Offenbarung bereits stark geschwächt. Folgerichtig gilt sein besonderes Interesse den Aktivitäten und Formen des Erwerbs und der Verbreitung des christlichen Glaubens. Anders als bei Domitzer, der noch dem traditionellen kontemplativen Erkenntnisideal folgt, tragen bei Luther die Erkenntnis Gottes und die Verbreitung des Glaubens schon den Stempel der Arbeit (und der List), was im Bild des Einpfropfens festgehalten ist: In der Logik seines Bildes ist der christliche Missionar als ein Gärtner (und damit gleichsam als Handlanger) des Herrn anzusehen, der das Edelreis des Gotteswortes in die Herzen der Menschen einpfropft, um deren Sinn auf das Höchste zu richten.16 14 | Plotin (1878/80), Bd. 1, S. 137f. 15 | Domitzer (1529), S. 4. 16 | Vgl. Luther: WA Bd. 28, S. 121; Bd. 36, S. 530, 598.

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Im Zuge der Heraufkunft des Humanismus lockerte sich die Bindung der Metapher der Pfropfung an religiöse Inhalte und an das Paradigma der Theologie, und es etablierten sich Wahrnehmungsweisen, die auf eine Verwendung der Metapher zur Veranschaulichung rein diesseitiger Probleme hindrängten. Es lassen sich dabei zwei Formen des Übergangs zum Einsatz der Metapher in diesem neuen (säkularen) Sinne unterscheiden: eine erste, in der der theologische Kontext übersprungen und gleichsam unmittelbar wieder an den anthropologischen Diskurs der Antike angeknüpft wird, und eine zweite, die sich des antiken Erbes im Durchgang durch den theologischen Diskurs versichert. Ein Beleg für die erste Form findet sich in dem 1529 erschienenen Buch Über die Notwendigkeit einer frühzeitigen allgemeinen Charakter- und Geistesbildung der Kinder. Dessen Verfasser, Erasmus von Rotterdam, begründet darin die Erziehungsnotwendigkeit des Menschen anthropologisch, wobei die Praxis der Erziehung in Analogie zur gärtnerischen Praxis betrachtet wird: Die Natur gibt dir ein Stück Land zu eigen, das zwar noch unbebaut ist, aber einen guten Boden hat: du aber lässest es aus Sorglosigkeit von Disteln und Dornen überwuchern, die in der Folge bei allem Fleiße kaum wieder auszurotten sind. In dem unscheinbaren Samenkorn, welch mächtiger Baum ist darin verborgen, was für Früchte wird er tragen, wenn er groß geworden! Dieser ganze Erfolg aber wird zu nichte, wenn du den Samen nicht in die Erde senkst; wenn du das zarte aufsprießende Keimchen nicht sorgfältig hütest; wenn du es nicht durch Pfropfen gewissermaßen zähmest. Und bei der Veredlung der Pflanze bist du wachsam, bei der deines Sohnes aber schläfst du!17

Die zweite Transformation der Pfropfmetapher vollzog sich zumeist in Form einer Übertragung aus dem Zusammenhang der christlichen Mission bzw. der Mission des Christentums in den Zusammenhang der weltlichen Erziehung. Die antitheologische Stoßrichtung dieser Übertragung folgte dabei dem allgemeinen Trend, das Projekt der Veredelung des Menschen zunehmend weniger an die Beziehung zu Gott und statt dessen an die Praxis der Selbsterziehung und praktischen Weltbemächtigung zu knüpfen. Luther hatte mit seiner Betonung der Bedeutung des menschlichen Handelns für die Erhebung zu Gott (und seinem agitatorischen Pfropfkonzept) der neuen Auffassungsweise vorgearbeitet. Einen Schritt weiter als Luther ist Johann Amos Comenius gegangen, der sein theologisch-pädagogisches Konzept mit 17 | Erasmus von Rotterdam (1529), S. 122.

218 | FALKO S CHMIEDER dem antiken Erziehungsdiskurs zu vermitteln suchte. Schon Ovid hatte, wie dargestellt wurde, die agrartechnische Veredelung mit der Kultivierung der menschlichen Sinne im Zusammenhang gesehen. In exemplarischer Form wurde die Verknüpfung von Agrartechnik und Erziehungspraxis von Seneca vollzogen, der in seiner Abhandlung Über die Milde (um 54/55) jene »verständige[n] Gärtner« zum Vorbild des Weisen erkor, die nicht nur gut gewachsene Hochstämme aufziehen, sondern auch die aus irgendeinem Grund verkrümmten Stämme an Pfähle binden, die ihnen Halt geben. Die einen beschneiden sie, damit die Seitenäste nicht den schlanken Wuchs hemmen, andere, die in schlechter Lage zurückgeblieben sind, düngen sie kräftig, wieder andere, die im Schatten des Nachbarn verkümmern, schneiden sie frei.18

Comenius knüpft in dem um 1650 konzipierten vierten Teil seiner Allgemeinen Beratung über die Verbesserung der menschlichen Dinge, der sogenannten ›Pampaedia‹ [Allerziehung], an diese Stelle bei Seneca an, und es scheint so, als ob er Luthers christlich-missionarischen Pfropf begriff in diesen Kontext einzubetten suchte: »Die Pampaedia«, so Comenius, ist ein gebahnter Weg zur Ausbreitung des Lichts der Pansophie in die Gedanken, die Rede und die Handlungen der Menschen. Sie ist eine kunstreiche Anweisung, mit deren Hilfe dem Geiste, der Sprache, den Herzen und Händen aller Menschen Weisheit einzupflanzen ist. Aus diesem Grunde setzen wir auf das Titelblatt dieser Beratung ein Bild aus der Kunst des Baumgärtners. Dort pfropfen die Gärtner vom Baum der Pansophia, den sie zu beschneiden haben, Reiser auf die Setzlinge. Sie wollen den ganzen Garten Gottes, das Menschengeschlecht, mit gleichgearteten jungen Bäumchen bepflanzen.19

Die Idee zu diesem Titelblatt mit dem Motiv vom Pädagogen als Pfropfmeister ist nicht umgesetzt worden.20 Wie hoch indes der Stellenwert dieses Titelblatts einzuschätzen ist, wird daran kenntlich, dass sich Comenius in einem Abschnitt seiner Allgemeinen Beratung, der der »Welt 18 | Seneca (1986), S. 127. 19 | Comenius (1970), S. 237. 20 | Vgl. dazu den Kommentar von Hofmann (1987), S. 160. Hofmann hat nach zeitgenössischen Bildelementen eine Rekonstruktion des Titelkupfers unternommen; vgl. ebd., S. 112.

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der menschlichen Arbeit« gewidmet ist, auch direkt mit der Praxis des Pfropfens beschäftigt.21 Comenius nimmt also nicht nur metaphorisch auf die Praxis des Pfropfens Bezug, sondern sie bildet als Praxis einen wichtigen Teil innerhalb seines allgemeinen Programms der »Verbesserung der menschlichen Dinge«. In Bezug auf diese praktische Dimension steht Comenius damit in der Tradition Francis Bacons, der in seinen Schriften zur Erneuerung der Wissenschaften unter anderem eine wissenschaftliche Analyse der natürlichen Voraussetzungen und Gelingensbedingungen der Praxis des Pfropfens sowie deren Ausdehnung vom Gartenbau auf die Forstwirtschaft gefordert hat.22 Zugleich deutet Comenius’ Programmschrift voraus auf spätere pädagogische Projekte, in denen das Erlernen von Gartenbautechniken als integraler Bestandteil einer universellen Persönlichkeitsbildung angesehen wurde.23 Vergleicht man die Auffassungen von Domitzer, Luther und Comenius miteinander, dann ist zunächst festzuhalten, dass alle drei die Metapher der Pfropfung in einem positiven Sinne im Rahmen eines religiösen Deutungsmusters benutzen. Anhand ihrer konkreten Verwendungen der Pfropf-Metapher lässt sich dabei der Prozess einer fortschreitenden Verweltlichung verfolgen, die in dem geplanten Titelblatt zu Comenius’ Allgemeiner Beratung ihren Ausdruck findet. Dass sich der Inhalt des 1650 prospektierten Titelblatts im wesentlichen mit der von Erasmus 1529 entworfenen Konzeption deckt, kann als Zeichen dafür gelten, dass dieser Prozess der Verweltlichung nicht geradlinig verlaufen, sondern von Ungleichzeitigkeiten, retrograden Entwicklungen und Frakturen als Folge konkurrierender Weltanschauungen geprägt gewesen ist. Als weiterer Beleg dafür kann der Umstand gelten, dass sich – so bei Giordano Bruno und John Locke – in Reaktion auf das christliche missionarisch-agitatorische Pfropfkonzept ein Gegenentwurf herausgebildet hat, bei dem die Metapher der Pfropfung eingesetzt wird, um – zumeist in polemisch-kritischer Absicht – Prozesse der Entstehung, Einprägung und Verfestigung von Vorurteilen bzw. ›Glaubenssätzen‹ zu charakterisieren.24 Nach dieser Umkehrung er-

21 | Vgl. Comenius (1970), Kapitel V: »Die Wissenschaft, wie man sich kenntnisreich mit Pflanzen, Kräutern, Sträuchern und Bäumen beschäftigt und was daraus hervorgeht«, S. 191-193. 22 | Vgl. Bacon (1870), S. 377f. 23 | Zur großen Bedeutung von Comenius für die Pädagogik bis hin zur aktuellen Bildungspolitik vgl. Fauth (2006). 24 | Vgl. Bruno (1902), S. 4; Locke (1972), Bd. 2, S. 165f.

220 | FALKO S CHMIEDER scheint die Pfropfmetapher historisch erstmals unter negativen Vorzeichen. Ungeachtet der theoretischen Rivalität und parallelen Existenz schwer vereinbarer Deutungen lässt sich jedoch für den Zeitraum von 1500-1650 die dominante Tendenz einer Zurückdrängung theologischer Gehalte aus dem Pfropfdiskurs erkennen. Exemplarisch verkörpert sich die veränderte Weltsicht in einem französischen Emblem aus dem Jahre 1608, das den Liebesgott Amor als Pfropfmeister zeigt.25 Nach der Säkularisierung der Figur der Aufpfropfung ließ sich somit die Geschichte der Menschen als universeller Pfropfverkehr beschreiben: Aus der Versenkung und Vereinigung in Gott ist das lustvolle Miteinander der Geschlechter geworden, das den Rohstoff für die veredelnde Pfropf-Praxis weltlicher Pädagogik liefert. In der Literatur von der Mitte des 18. bis zum beginnenden 19. Jahrhundert lässt sich eine erstaunliche Vervielfältigung des Pfropf-Diskurses und allgemein ein enormer Bedeutungszuwachs der Metaphorik erkennen. Greif bar wird dieser Umschwung daran, dass nun auf das Pfropf-Paradigma schon im Titel von Büchern,26 in Eröffnungssätzen von Romanen27 oder in der Namensgebung von Romangestalten28 angespielt wird. Ein wichtiger neuer Schauplatz der Verwendung der Pfropfmetapher war das Feld der Ästhetik. Es wurde bemerkt, dass die experimentelle Praxis des Pfropfens als Verfahren der künstlichen Übertragung und Vereinigung von Heterogenem Ähnlichkeiten mit diversen literarischen Verfahren aufwies, die darauf hin häufig in Analogie zur Pfropfung dargestellt wurden, so vor allem die Praxen des Zitierens, des Übersetzens sowie der Kombination verschiedener literarischer Gattungen, Schreibstile oder Motive. Darüber hinaus wurde insbesondere in den Romanen dieser Zeit mit der Metapher der Pfropfung selbst experimentiert, die in unterschiedlichste Kontexte hineingetragen wurde, um neue Perspektiven zu eröffnen. Weitere wichtige Felder, auf denen die Metapher der Pfropfung 25 | Vgl. die Abbildung in Wirth (2006). 26 | Vgl. Sélis (1761): L’inoculation du bon sens; dt.: Die Inoculation des gesunden Verstandes; Thümmel (1771): Die Inoculation der Liebe. 27 | Vgl. Goethe (1974) [1809]: »Eduard − so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter − Eduard hatte in seiner Baumschule die schönsten Stunden eines Aprilnachmittags zugebracht, um frisch erhaltene Pfropfreiser auf junge Stämme zu bringen.« 28 | Vgl. Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser (1997) [1785/86, 1790]. In diesen Zusammenhang gehört auch der Magister Pelz aus Jean Pauls Leben Fibels (1963) [1811].

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zum Einsatz gelangte, waren die Philosophie und die Pädagogik. Der inhaltliche Schwerpunkt lag dabei auf der Problematisierung des Verhältnisses des Menschen zur äußeren und inneren Natur. Auf der Grundlage dieses vervielfältigten Pfropfdiskurses bahnt sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts eine fundamentale Neubewertung der Pfropfmetapher an. Die Betonung der Aspekte der harmonischen Verbindung und natürlichen Einheit des Verschiedenen tritt zugunsten der Betonung der Aspekte der Heterogenität des Verbundenen und der Gewaltförmigkeit der Verbindung zurück; die für die naturalwirtschaftlichen Epochen charakteristische positive Konnotierung der Pfropfmetapher beginnt sich nun rasch aufzulösen, und es gewinnen Konzepte die Oberhand, in denen die Metapher des Pfropfens als negatives Kampf konzept fungiert. Während die ersten negativen Verwendungen der Pfropfmetapher an die Vorgaben des christlichen Weltbildes gebunden bleiben, sind die jetzt zum Einsatz gelangenden Pfropfmetaphern negativ auf die Voraussetzungen der modernen Gesellschaft bezogen, die einen radikalen Bruch mit der natürlichen Ordnung markiert. Mit anderen Worten: Kehren die ersten polemischen Pfropfmetaphern den Bedeutungssinn der christlichen Wortverwendung um, so reagieren die modernen negativen Pfropfmetaphern auf die mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft einhergehende Umkehrung der natürlichen Ordnung. Erst unter den Vorzeichen der Erfahrung einer ›verkehrten Welt‹ konnte das traditionelle pädagogische Projekt der Veredelung des Wilden in die Glorifizierung des Edlen Wilden umschlagen. Vor allem im Anschluss an Jean-Jacques Rousseau bildete sich eine zivilisationskritische Strömung heraus, die den Widerspruch der bestehenden Kultur und Gesellschaft zur Natur problematisierte und auf einen reflektierteren Umgang mit den natürlichen Voraussetzungen drängte. Als polemisches Mittel trat die Pfropfmetapher immer dort auf den Plan, wo es um die Kritik eines abstrakten Rationalismus und um die Rehabilitierung der spezifischen Eigenwertigkeit und Vitalität ursprünglicher (Natur-)Anlagen geht. So bedient sich Immanuel Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft der Pfropfmetapher im Zusammenhang der Unterscheidung des Verstandes, der einer Belehrung und Ausrüstung durch Regeln fähig, und der Urteilskraft als eines besonderen Talentes, welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will. Daher ist diese auch das Spezifische des sogenannten Mutterwitzes, dessen Mangel keine Schule ersetzen kann; denn, ob diese gleich einem eingeschränkten Verstande Regeln vollauf, von fremder Einsicht entlehnt, darreichen und gleichsam

222 | FALKO S CHMIEDER einpfropfen kann: so muss doch das Vermögen, sich ihrer richtig zu bedienen, dem Lehrlinge selbst angehören, und keine Regel, die man ihm in dieser Absicht vorschreiben möchte, ist, in Ermangelung einer solchen Naturgabe, vor Missbrauch sicher.29

Eine ähnliche Verhältnisbestimmung findet sich bei dem Kantianer Friedrich Schiller auf dem Gebiet der Psychologie und Ästhetik: »Was ich auch auf meine einmal vorhandene Anlage und Fertigkeit Fremdes und Neues pfropfen mag, so wird sie immer ihre Rechte behaupten; in anderen Sachen werde ich nur insoweit glücklich sein, als sie mit jener Anlage in Verbindung stehen; und alles wird mich am Ende wieder darauf zurückführen.«30 – Die Offenheit und Unübersichtlichkeit des Pfropfdiskurses um die Wende zum 19. Jahrhundert ließe sich näher anhand einer Passage aus Goethes Morphologie entfalten, wo die Pfropfmetapher in Dienst genommen wird, um die entgegengesetzte Auffassung vom verwandelnden und bleibend-nachwirkenden Eindruck neu erworbener Gedanken zu illustrieren.31 Von großer Bedeutung für die Herausbildung der negativen Grundfigur des Pfropfens sind die Diskurse über private und allgemein-öffentliche Erziehung. Auch hier wird der Pfropf begriff häufig eingesetzt, um äußerlich bleibende, nicht organisch mit der Natur des Menschen verbundene Prozesse der Bildung oder das Oktroyieren abstrakter Regelsysteme und Vorschriften zu kritisieren.32 Besonders die Ausführungen des Sozialreformers und Pädagogen Heinrich Pestalozzi lassen dabei die fundamentale Bedeutung von Rousseau für die Wende zur Negativisierung des Hauptsinns der Metapher der Pfropfung erkennen: 29 | Kant (1977), S. 184f. 30 | Vgl. Schillers Brief an Gottfried Körner vom 2. Februar 1789 in

ders. (1979), S. 191-194. 31 | »Wer an sich erfuhr was ein reichhaltiger Gedanke, sei er nun aus uns selbst entsprungen, sei er von andern mitgeteilt oder eingeimpft, zu sagen hat, muß gestehen, welch eine leidenschaftliche Bewegung in unserm Geiste hervorgebracht werde, wie wir uns begeistert fühlen, indem wir alles dasjenige in Gesamtheit vorausahnen, was in der Folge sich mehr und mehr entwickeln, wozu das Entwickelte weiter führen solle. Und so wird man mir zugeben, daß ich von einem solchen Gewahrwerden, wie von einer Leidenschaft, eingenommen und getrieben, mich, wo nicht ausschließlich doch durch alles übrige Leben hindurch, damit beschäftigen mußte.« Goethe (1987a), S. 748f. 32 | Vgl. Humboldt (2002), S. 218.

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Jede Wissenschaftslehre, die durch Menschen diktiert, expliziert, analisiert wird, welche nicht übereinstimmend mit den Gesetzen der Natur reden und denken gelernt haben; und so wieder, jede Wissenschaftslehre, deren Definitionen den Kindern wie ein Deus ex machina in die Seele gezaubert oder vielmehr wie durch Theatersouffleurs in die Ohren geblasen werden müssen, wird, insoweit sie diesen Gang geht, notwendig zu einer elenden Komödianten-Bildungs-Manier versinken. Da, wo die Grundkräfte des menschlichen Geistes schlafend gelassen und auf die schlafenden Kräfte Worte gepfropft werden, da bildet man Träumer, die um so unnatürlicher und flatterhafter träumen, als ihre Worte groß und anspruchsvoll waren, die auf ihr elendes, gähnendes Wesen aufgepfropft worden sind.33

Betrachtet man diese ersten negativ-kritischen Verwendungen der Pfropfmetapher jeweils näher, dann stellt sich unabweisbar der Eindruck der Schief heit der Metapher ein, die deshalb gewaltsam aufgesetzt und eigentümlich deplaziert wirkt, weil in der gärtnerischen Praxis des Pfropfens doch eine ›natürliche‹ Vermittlung der Partner geleistet ist, während die Pfropfmetapher gerade in Dienst genommen wird, um unüberbrückbare Gegensätze, misslungene Beziehungen oder das (drohende) Scheitern kultureller Vermittlungsprozesse anzuzeigen. Weiter ist die negative Pfropf-Metaphorik irritierend, weil das Ziel der Pädagogen, Reformer und philosophischen Aufklärer in der Begründung vernünftiger kultureller Verhältnisse, also gerade nicht in der totalen Negation kultureller Vermittlungsformen besteht, wie sie die negative Verwendung der Pfropfmetaphorik suggeriert. Hinzu kommt schließlich noch, dass die gärtnerische Praxis des Pfropfens sowie die Produkte, die sie hervorbringt, weiterhin ein hohes Ansehen genossen; als Beispiele hierfür können die Einträge in Zedlers Universal Lexicon sowie der Encyclopédie dienen, in denen die Pfropfpraxis als ein Triumph der menschlichen Naturbeherrschung angesehen wird.34 Nach diesen Ausführungen deutet sich schon an, dass der Einsatz der negativen Pfropfmetapher in kulturtheoretischen Zusammenhängen problematisch ist, weil er auf einer dualistischen Entgegensetzung von Natur und Kultur beruht, während es doch um die Überwindung einer als lebenswidrig erfahrenen Kultur durch eine andere Kultur geht, was im Bild der Pfropfung nicht mehr eingefangen 33 | Pestalozzi (1961), S. 112. Zur Bedeutung von Rousseau für Pestalozzi und andere Pädagogen vgl. Hofmann (1987), S. 5-24. 34 | Vgl. Zedlers Universal Lexicon, Artikel »Pfropffen«, S. 1633; Diderot/d’Alembert (1751-1780), Artikel »Greffe«, insb. S. 921.

224 | FALKO S CHMIEDER werden kann. Offensichtlich ist die in kritischer Intention verwendete negative Pfropfmetapher selbstwidersprüchlich, denn der Sinngehalt der Metaphorik und die Intention der Kritik fallen auseinander. Auf die hier in Rede stehenden regressiven Implikationen des kulturkritischen Pfropf begriffs wird zurückzukommen sein. Ein Widerspruch der negativen Pfropfmetapher wurde darin gesehen, dass es sich bei der gärtnerischen Praxis um eine gelungene Verbindung handelt, während die negative Pfropfmetapher auf misslungene oder zu missbilligende Prozeduren abzielt. Dieser Widerspruch ist nicht zu schlichten. Er erscheint jedoch in einem etwas anderen Licht, wenn er vor dem Hintergrund der Einführung einer neuen Technik am Beginn des 18. Jahrhunderts betrachtet wird, die von den Zeitgenossen sofort in einem engen Zusammenhang mit dem agrikulturellen Verfahren der Pfropfung gesehen worden ist: Es handelt sich um die Praxis der Variolation. Die Kunde von dieser Praxis erreichte Europa durch die Vermittlung von Reisenden, Wissenschaftlern und politischen Botschaftern in der Türkei, die unabhängig voneinander von verschiedenen Praktiken der Einheimischen berichteten, Kindern die Blattern einzugeben.35 Eines dieser Verfahren bestand darin, mit einer großen Nadel die Haut der Kinder zu ritzen und Blatternstoff in den Körper zu verpflanzen – ein Vorgang, den die Einheimischen dem Bericht der Lady Mary Worthley Montague zufolge nach dem Vorbild der agrikolen Technik Einpfropfung [›engrafting‹] nannten.36 In den europäischen Sprachen ist diese metaphorische Übertragung rasch nachvollzogen worden37. Da zur Charakterisierung des gärtnerischen Pfropfens diverse Synonyme – im Deutschen etwa die Termini Inokulation, Einimpfung, Einpfropfung oder Beltzung – existierten,38 war die Bezeichnung des neuen medizinischen Verfahrens von Beginn an überdeterminiert. Zugleich war damit aber auch die Möglichkeit gegeben, über die terminologische zu einer begrifflichen Ausdifferenzierung zu gelangen. Im deutschen Sprachraum erhielt diese terminologische Differenzierung erst im 20. Jahrhundert stabile Konturen. Die Berichte über das neue Verfahren lösten sofort heftige öffentliche Debatten aus und brachten eine Vielzahl von Schriften hervor, die von dem Bewusstsein der Grenzen der sprachlich geleisteten Anähne35 | Timoni (1714). 36 | Vgl. Montague (1763), S. 37-39. 37 | Vgl. Abraham (1721). 38 | Vgl. Coleri (1620), S. 148, sowie die verschiedenen deutschen Ausgaben der Werke von Lucius Columella (1538), (1612).

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lung an das agrikole Pfropfverfahren zeugen, das man zu dieser Zeit zwar praktisch gut beherrschte, über dessen interne Vorgänge man jedoch so gut wie nichts wusste. Angesichts des Umstands, dass die Blatternepidemien, gegen die es um 1720 keine wirksamen Schutzmittel gab, tausenden Menschen das Leben kosteten, ist es nur verständlich, dass sich die höchsten Autoritäten des Staats, der medizinischen Wissenschaft und der Kirche in den Streit um das neue Verfahren einmischten und praktische Versuche, die die Wirksamkeit des Verfahrens prüfen sollten, entweder förderten oder kritisch verfolgten.39 Anders als um das gärtnerische Pfropfen, das wohl nur von religiösen Fundamentalisten in Frage gestellt worden war, bildeten sich in Bezug auf das neue Verfahren der medizinischen Pfropfung zwei Lager der Befürworter und der Gegner heraus. Auch wenn es falsch ist, den Gegensatz der Lager mit der Kampffront zwischen säkularer Vernunft und religiösem Glauben zu identifizieren, so ist doch zu erkennen, dass der Streit um das medizinische Pfropfen auch ein Politikum war, 40 bei dem die Stellung des Menschen in der Welt, sein Verhältnis zu traditionellen Autoritäten sowie die Legitimität des wissenschaftlichen Experimentierens mitverhandelt wurde. Deutlich wird das an der Vielzahl der sachfremden religiösen Bezüge, die auch die Schriften der Verteidiger des neuen Verfahrens durchziehen. Lässt man die genuin theologischen Argumente einmal außer acht, dann konnten sich die Gegner vor allem auf die gerade in der Anfangszeit noch relativ hohen Opferzahlen berufen, die der Einsatz des neuen Verfahrens kostete und die schließlich die englische Regierung bestimmten, die Praxis des Impfens zu verbieten. Was den Gegnern vor allem als ›unnatürlich‹ bzw. – in theologischer Sprache – als Aktion wider die Absichten des Schöpfers (bzw. als »Eingriff in die Vorsehung« 41) erschien, war der Umstand, dass gesunden Personen ein Stoff eingepfropft bzw. eingeimpft werden sollte, von dem man nicht viel mehr wusste, als dass er potentiell zum Tod führen konnte. Anders als das Verfahren der gärtnerischen Pfropfung, das in seinen Wirkungen auf die behandelten Pflanzen beschränkt bleibt und das entweder gelingt oder nicht gelingt, wachsen damit nach der Erfindung bzw. Entdeckung der medizinischen Pfropfung dem Begriff des Gelingens neue Bedeutungsschichten zu, denn technisch betrachtet erscheint hier auch eine 39 | Vgl. dazu die Dokumentation der Royal Society of London (1714-

1723). 40 | Vgl. Condamine (1756), der einen guten Überblick über die Geschichte der Impfung und den Diskussionsstand um 1750 vermittelt. 41 | Hensler (1770), S. 214.

226 | FALKO S CHMIEDER Pfropfung als gelungen, die den Tod des Geimpften zur Folge hat. Das Ziel musste es also sein, das Verfahren so zur Anwendung zu bringen, dass keine unerwünschten Nebenwirkungen oder unkontrollierbaren Folgeprobleme auftraten; es ging also – in Anlehnung an eine Schrift von Wilhelm von Humboldt formuliert – darum, die Grenzen der Wirksamkeit des Blatternstoffes zu bestimmen. 42 Das zeitweilig erlassene staatliche Verbot des medizinischen Impfens lässt darauf schließen, dass dieses Ziel in den ersten Jahrzehnten nach der Entdeckung zu häufig verfehlt worden ist. Damit fällt nun auf das oben dargestellte Problem, dass es sich bei der gärtnerischen Pfropfung um eine gelungene Verbindung handelt, während die negative Pfropfmetapher auf misslungene oder zu missbilligende Prozeduren abzielt, ein neues Licht. In der Negativisierung der Metapher scheint sich die Erfahrung der Erfindung einer neuen Technik niederzuschlagen, mit der sich – historisch vielleicht erstmals – das Dilemma andeutet, dass sich gerade die Erfolge der Naturbeherrschung als Problem erweisen könnten. 43 Deutlich wird das an den Ausführungen von Jean-Jacques Rousseau, dem Stammvater der Kulturkritik. In seinem Emil setzt er sich mit der Frage auseinander, »welches Verhalten […] wir unseren Zöglingen gegenüber hinsichtlich der durch die Blattern drohenden Gefahren beobachten [wollen]. Wollen wir sie ihm gleich im frühen Lebensalter einimpfen lassen, oder abwarten, ob er die natürlichen bekommen wird?« Rousseau entscheidet sich entgegen »der heutigen Sitte« dafür, »die Natur bei ihren Zwecken ihre eigenen Wege gehen zu lassen, von denen sie sich bei menschlicher Einmischung nur zu leicht zurückzieht.« 44 Diese Ein42 | Vgl. Humboldt (2002) sowie die gleichfalls 1792 erschienene Schrift von Hufeland Über die wesentlichen Vorzüge der Inoculation, hier insb. das dritte Kapitel »Über die nötige Vorsicht bei Auswahl des Impfgiftes«. 43 | Literarische Motive, die die historisch neue Dialektik des Geund Misslingens verarbeiten, sind Goethes Zauberlehrling [1797] und Faust [1806/1832] (vgl. Goethe (1987b) und (1994) sowie Shelleys Frankenstein [1818], vgl. dies. (1986). 44 | Rousseau (o.J.), Bd. 1, S. 215. Leopold Mozart, der Vater von Johann Wolfgang Amadeus Mozart, hat sich ebenso entschieden, er begründet seine Entscheidung aber nicht im Hinblick auf die Zwecke der Natur, sondern auf die Zwecke des Schöpfers: »Die Leute wollen mich alle bereden, meinem Buben die Blattern einpfropfen zu lassen. Ich aber will alles der Gnade Gottes überlassen. Es hängt alles von seiner göttlichen Gnade ab, ob er dies Wunder der Natur, welches er in die Welt gesetzt hat, auch darin erhalten, oder zu sich nehmen will.« (Nissen (1828), S. 59.

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schätzung des medizinischen Verfahrens wirkt nun verstärkend zurück auf seine Pfropf- und Impfmetaphorik, die eingesetzt wird, um gewaltsame Erziehungsmethoden und die Verbreitung und Imputation von Vorurteilen zu kritisieren. 45 Auf diesen Zusammenhang zwischen der negativen Pfropfmetaphorik und der ablehnenden Haltung gegenüber der Pockenimpfung stößt man auch bei Immanuel Kant. Heinrich Bohn weist in seinem Handbuch der Vaccination aus dem Jahre 1875 darauf hin, dass Kant »aus leicht verständlichen theoretischen Befürchtungen sich gegen die Methode der medizinischen Einpfropfung aufgelehnt hat, da ihm nicht mehr beschieden war, die zweifellose Erfahrung ihrer nützlichen Wirkungen zu erleben.«46 Die im deutschen Sprachraum bis ins 20. Jahrhundert zu beobachtende terminologische Doppeldeutigkeit des Impf- und Pfropf begriffs musste (insbesondere nach der Einführung der medizinischen Impfung) natürlich Folgen für die metaphorischen Verwendungen beider Ausdrücke haben. Allgemein lässt sich sagen, dass die Bildsphären des Gartenbaus und der Medizin miteinander verschmolzen, so dass die metaphorischen Verwendungen eine kaum tilgbare Überdeterminiertheit aufwiesen. Die kontroversen Einschätzungen der materialen Praxen, aus denen sich die Metaphorik speiste, der ungenügende wissenschaftliche Kenntnisstand über die Voraussetzungen und Ermöglichungsbedingungen dieser Praxen, schließlich der Umstand, dass die Praxis der medizinischen ›Pfropfung‹ lange Zeit eine riskante gewesen war – alle diese Faktoren deuten darauf hin, dass die literarischen Experimente mit der Metapher der Pfropfung als eine Art Einübung in den Umgang mit Unsicherheiten zu verstehen sind. Die wachsende Bedeutung solcher Unsicherheiten dürfte für die auff ällige Konjunktur der Metapher und die Heterogenität ihrer Verwendungsweisen seit dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts mit verantwortlich sein. In Bezug auf die Entwicklung der Pfropfmetapher im 19. und 20. Jahrhundert ist festzuhalten, dass die immensen Fortschritte der praktischen Naturbeherrschung und konkret die permanenten Verbesserungen der Verfahren und Techniken des Impfens, die sich in der Entwicklung immer neuer Impfstoffe und in der Ausrottung vieler, ehedem mit verheerenden Folgen verbundenen Seuchen und Infektionskrankheiten niederschlugen, den Prozess der Negativisierung der Pfropfmetapher nicht zu revidieren vermochten; im Gegenteil hat sich die Negativisierung der Metapher weiter verfestigt, was vor allem 45 | Vgl. Rousseau (o.J.), Bd. 1, S. 206, 317 u.ö. 46 | Bohn (1875), S. 127.

228 | FALKO S CHMIEDER mit ihrer Integration in historisch neuartige regressive, biologistische und sozialdarwinistische Theorien zusammenhängt. 47 Diese Integration ist nicht lediglich in dem schwachen Sinne einer Einbettung der Metapher zu verstehen; vielmehr kommt der negativen Metapher der Pfropfung in den neuen Theoriezusammenhängen durchaus eine stützende, sinnkonstituierende Funktion zu. Verdeutlichen lässt sich das zunächst anhand von Motiven einer von Rudolf Steiner im Jahre 1906 – also fünf Jahre nach der Entdeckung der Blutgruppen durch Karl Landsteiner – gehaltenen Rede mit dem Titel Blut ist ein ganz besonderer Saft. Steiner widmet sich in dieser Rede dem historischen Moment, wo das Volk »in einen neuen Kulturzustand« eingetreten ist, »in dem es aufhört, alte Traditionen zu haben, wo es aufhört, Urweisheit zu besitzen, jene Weisheit, die durch das Blut der Generationen hindurchgerollt ist.« 48 Dieser historische Moment ist für Steiner der, »wo die Nah-Ehe in die Fern-Ehe übergeht.« 49 Bei diesem Übergang kommt es Steiner zufolge zu einer Blutmischung, die dann die modernen Entfremdungsphänomene des Intellektualismus und Individualismus hervorgebracht habe. Die Blutmischung durch die Fern-Ehe habe den Zusammenhang mit den Vorfahren durchschnitten, die ursprünglich aus dem animalischen stammenden hellseherischen Kräfte des Menschen vernichtet und das wache Tagesbewusstsein hervorgebracht, das Steiner zufolge als »Ergebnis eines Tötungsprozesses«50 angesehen werden muss. Um diesen Zusammenhang näher darzustellen, greift Steiner auf die Metapher der Pfropfung zurück: Nehmen Sie ein Volk, das herausgewachsen ist aus seiner Umgebung, in dessen Blut sich seine Umgebung hineingebildet hat, und versuchen sie, ihm eine fremde Kultur aufzupfropfen. Es ist unmöglich. Das ist auch der Grund, warum gewisse Ureinwohner zugrunde gehen mussten, als die Kolonisten in bestimmte Gegenden kamen. Von diesem Gesichtspunkte aus wird man die Frage beurteilen müssen, und dann wird man auch nicht mehr glauben, dass man jedes jedem aufpfropfen kann. Dem Blute darf nur dasjenige zugemutet werden, was es noch vertragen kann.51 47 | Begriffsgeschichtlich aufschlussreich wäre eine Untersuchung des historischen Zusammenhangs der Pfropfmetapher mit den Begriffen der Entartung und des Parasitismus, mit denen sie seit Kant auffällig häufig verbunden ist. 48 | Steiner (1910), S. 42. 49 | Ebd., S. 43. 50 | Ebd., S. 47. 51 | Ebd., S. 45f. Der russische Philosoph, Mediziner, Science-Fiction-

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Mögliche Konsequenzen dieser Sichtweise wurden – und zwar wieder mit Bezug auf das Pfropfkonzept – von Carl Gustav Jung im Jahre 1923 formuliert: Die germanische Rasse war, als sie vorgestern mit dem römischen Christentum zusammenstieß, noch im Ausgangszustand der Polydämonie mit Ansätzen zum Polytheismus. […] Wie die Wotanseichen, so wurden die Götter gefällt, und auf die Stümpfe wurde das inkongruente Christentum, entstanden aus einem Monotheismus auf weit höherer Kulturebene, aufgepfropft. Der germanische Mensch leidet an dieser Verkrüppelung. Ich habe gute Gründe zur Annahme, dass jeder Schritt über das Gegenwärtige hinaus dort unten bei den abgehauenen Naturdämonen anzusetzen hat. D.h. es ist ein ganzes Stück Primitivität nachzuholen. Es erscheint mir daher als schwerwiegender Irrtum, wenn wir auf unsern bereits verkrüppelten Zustand nochmals ein fremdes Gewächs aufpflanzen. […] Auch ist es unmöglich, von unserm heutigen Kulturzustand direkt weiter zu gehen, wenn wir nicht aus unsern primitiven Wurzeln Kraftzuschüsse erhalten. Diese letztern erhalten wir nur, wenn wir hinter unsere gegenwärtige Kulturstufe in gewissem Sinn zurückgehen, um dem unterdrückten Primitiven in uns eine Gelegenheit zu geben, sich zu entwickeln. Wie das zu geschehen hat, ist eine Frage für sich, mit deren Lösung ich seit Jahren beschäftigt bin. […] Aber das, was jetzt ist, ist faul. Wir bedürfen zum Teil neuer Fundamente.52

Der Schaff ung dieser Fundamente steht Jung zufolge vor allem ›der Jude‹ entgegen, der als wurzellose Existenz geschildert wird, die ein parasitäres Dasein zu Lasten des (bodenständigen, nährstämmigen) deutschen Volkes führe. Bei Jung sind damit alle Konstituentien der nationalsozialistischen Rassen-Ideologie versammelt.53 Besonders irritierend dabei ist das Verhältnis zu den Vorgaben der Aufklärungstradition. Wurde oben in Bezug auf die aufklärerische Verwendung der negativen Pfropfmetapher der Widerspruch zwischen dem Sinngehalt der Metaphorik und der Intention der Kritik hervorgehoben, so ist nun festzustellen, dass im (vor-)nationalsozialistischen Pfropf-Diskurs dieser Widerspruch nicht mehr besteht, denn die Verwendung der negaAutor und Sozialrevolutionär Alexandr Bogdanov hat in den 1920er Jahren mit seiner Konzeption der Pfropfung des Blutes (›greffe du sang‹) eine kollektivistische Utopie entworfen, die in vielem als Gegenentwurf zu Steiner erscheint; vgl. Bogdanov (2001) sowie Solhdju/Vöhringer (2007). 52 | Jung (1972), S. 61f. 53 | Vgl. dazu Gess (1994), bes. Kapitel IV sowie Metzner/ Lesmeister (2001).

230 | FALKO S CHMIEDER tiven Pfropfmetapher steht in völligem Einklang mit der anvisierten kollektiven Regression und Zerstörung der kulturellen Werte der bürgerlichen Gesellschaft. Dies aber heißt, dass die nationalsozialistische Ideologie die Implikationen und Möglichkeiten eben der negativen Pfropfmetapher ausgeschöpft hat, die die selbstreflexive Bewegung der Aufklärung hervorgebracht hatte. Freilich hat die Aufklärung auch eine positive Metaphorik des Pfropfens und Impfens entwickelt, um die kulturkonstitutive Bedeutung und Produktivität von Unterschieden, Gegensätzen und Widersprüchen herauszustellen. Auch diese affi rmative Bestimmung enthält eine kritische Komponente, denn sie richtet sich gegen die Fiktion reiner Ursprünge. So beklagt Herder in seinen Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit, dass das zeitgenössische China »trotz mancher Bekanntschaft mit anderen Völkern, noch jetzt uneingeimpft da[steht]«, woraus sich die Rückständigkeit und Borniertheit seiner Kultur erkläre.54 Wie später bei Winckelmann, Schinkel, Burckhardt und Warburg steht die Metapher der Pfropfung hier für die befruchtende Wirkung interkultureller Austauschprozesse, die das Wohl beider ›Pfropfpartner‹ befördern. Diese Bedeutung hat allerdings zu keiner Zeit dominant werden können. Noch im Sprachgebrauch der heutigen Gegenwart ist der irritierende Widerspruch zwischen dem Sinngehalt der Metaphorik und der Intention der Kritik nachweisbar, der die ganze Kulturgeschichte der Moderne wie ein roter Faden durchzieht.

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54 | Herder (o.J.), Bd. 2, S. 14. Das genaue Gegenstück zu dieser Auffassung liefert Marx (1985), S. 250.

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Transgressive Semantiken. Zur erkenntnistheoretischen Umwer tung von ›Biographie‹ im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhunder t (Abbt, Wiggers, Droysen) Falko Schnicke I. Er fahrungsgegenstand Biographie Als historiographischer Fluchtpunkt des Verhältnisses von Individuum und Struktur standen biographische Studien stets mindestens implizit im Zentrum fachinterner Selbstbestimmungen. Wechselnde theoretisch-methodologische Vergangenheitspolitiken schrieben ihnen ambivalente Positionen innerhalb (oder außerhalb) der professionellen Historiographie ein. Sowohl aus Sicht der Historiographiegeschichte als auch einer gegenwärtigen Methodologie verbindet sich mit ›Biographie‹ deshalb zwar ein ungefährer Erfahrungsgegenstand, aber keine eindeutige Semantik. Konsequenterweise ist ›Biographie‹ gleichzeitig eines jener »unverzichtbare[n]«1 Lemmata, mit denen das Lexikon Geschichtswissenschaft die Fachdiskussionen der letzten Jahre abbilden will. Entsprechend der terminologischen Problemlage besteht die Essenz des ersten von drei Teilen im Artikel in einer Bestimmung von hoher Allgemeinheit; als historiographisches Genre stelle die Biographie »das Leben eines Individuums in seinem historisch-sozialen und kulturellen Kontext«2 1 | Jordan (2002), S. 9. 2 | Szöllösi-Janze (2002), S. 44.

236 | FALKO S CHNICKE dar. Im zweiten Teil folgt ein mit der Antike einsetzender historischer Überblick. Der interne Auf bau des Artikels verdeutlicht exemplarisch den Stand der aktuellen Biographiologie. Während die deutsche, mit biographischen Studien befasste literaturwissenschaftliche Forschung ihren Gegenstand spätestens seit den 1970er Jahren mehr oder minder präzise bestimmt hat,3 gilt dies für die Geschichtswissenschaft nicht entsprechend. Biographischen Studien ist innerhalb der allgemeinen Historiographiegeschichte nur wenig Aufmerksamkeit zugekommen; entsprechend liegen zwar Studien zu einzelnen historischen Epochen oder biographiologischen 4 Teilaspekten vor, eine umfassende Untersuchung zur historischen Biographik allerdings fehlt. Was also eine historische Biographie ist, welcher Objektbereich ihr zuerkannt oder – je nach Perspektive – zugestanden wird, in welchem Verhältnis sie zu anderen historiographischen Darstellungsformen steht, mit welchen Methoden sie zu wie zu bewertenden Ergebnissen kommt, ist wenig systematisch diskutiert und trotz Hähners Unterscheidung von personaler und historischer bzw. syntagmatischer und paradigmatischer Biographik nicht gesichert;5 Hähners Ansatz ist kaum rezipiert worden. Auch hier ist der erwähnte Lexikonartikel repräsentativ, denn im dritten Teil, der verweisenden Literatur, findet sich Hähners 1999 publizierte Studie nicht.6 Ein Problem besteht auch im Begriff ›Biographie‹ selbst. Nicht zuletzt infolge der bundesdeutschen Debatte um die Stellung des sozialgeschichtlichen Paradigmas zur Biographik in den 1970er und 1980er Jahren, die mit Terminologien wie ›politische‹, ›klassische‹, ›sozialgeschichtliche‹, ›tiefenpsychologische‹, ›experimentelle‹, ›moderne‹ und ›natürliche Biographie‹ operierte, existiert eine verbindliche Bedeutung für ›Biographie‹ nicht. Ein vermeintlich normativer Sinngehalt ist hinter den miteinander konkurrierenden Bedeutungen nicht auszumachen. Wenn diese Situation im Sinne eines für Pluralität offenen Faches nicht prinzipiell zu kritisieren ist, stellt sie für biographiologische Überlegungen in praxi gleichwohl eine Herausforderung dar. 3 | Am wichtigsten sind hier die Arbeiten des Kasseler Germanisten Helmut Scheuer. Vgl. etwa: Scheuer (1979); Scheuer (1982); Scheuer (1997). Vgl. jüngst auch: Zimmermann (2006). 4 | Dieser Begriff geht zurück auf Klein (2002), S. 4. 5 | Vgl. Hähner (1999), S. 27-33. 6 | Vgl. Szöllözi-Janze (2002), S. 48. – Dabei ist insgesamt nicht zu übersehen, dass der Aufbau des Artikels einem einheitlichen Schema folgt, das dem Konzept des Lexikons entspricht; vgl. Jordan (2002), S. 10f.

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Im Folgenden soll auf zweifache Weise zum Ausgang der Defi nitionsbemühungen zurückgekehrt werden; einerseits indem Quellen aus der Professionalisierungsphase der Geschichtswissenschaft berücksichtigt werden, andererseits indem nicht die Frage nach einer überhistorischen, generellen Begriffsbestimmung im Zentrum steht, sondern der Wandel im Begriffsverständnis. Es geht im Folgenden also weniger um die Diskussion des – durchaus nicht unumstrittenen – Prozesses der Verwissenschaftlichung des Faches Geschichtswissenschaft 7 oder um Aspekte des Biographierens in der Praxis, als vielmehr um die verschiedenen Bewertung der historiographischen Darstellungsform ›Biographie‹. Dabei wird im weiteren Verständnis begriffsgeschichtlich vorgegangen. Die historische Semantik, die in ihrer dominanten Form wesentlich von Koselleck geprägt und dadurch zu einem genuin deutschen Phänomen wurde,8 ist über die Kritik an den Geschichtlichen Grundbegriffen verschiedentlich erweitert worden.9 Die folgenden Betrachtungen können jedoch nicht das ambitionierte Programm einer ›historischen Diskurssemantik‹ einlösen, wie Busse es formuliert hat,10 und orientieren sich stattdessen am Konzept der ›Argumentationsgeschichte‹. Mit diesem Terminus markierte Schultz, ein Schüler Kosellecks, die stärkere Konzentration auf die Begriffskontexte. Forschungsgegenstand sollte nicht nur das Einzellexem, sondern ein »Vokabular, ein ganzer Sektor der Sprache«11 sein. Entgegen der ursprünglichen Bestimmung der Begriffsgeschichte im Sinne einer Suche von Wortbedeutungen12 sah er in der »Rekonstruktion von Argumentationen« 13 die Möglichkeit, begriffsgeschichtliche Untersuchungen epistemologisch zu erweitern. Ist diese Forderung inzwischen Konsens,14 bedeu7 | Vgl. dazu nur Blanke (1996) und Reill (1996). 8 | Vgl. zu den abweichenden Konzepten in Frankreich, Großbritan-

nien und den USA: Bödeker (2002a). 9 | Vgl. allgemein zu diesem Projekt eine der wenigen Gesamtwürdigungen: Dipper (2000). – Die Erweiterungen gingen stets mit dem Topos einer nicht vorliegenden Theorie einher. Vgl. exemplarisch den diese Auffassung schon im Titel tragenden Beitrag von Wiehl (2003). 10 | Vgl. Busse (1987), S. 302-311; Busse (2003), S. 23-36. 11 | Schultz (1979), S. 69. – Weniger explizit zuvor schon bei: Meier (1971), Sp. 807. 12 | Vgl. Koselleck (1972), S. XX. 13 | Schultz (1979), S. 69. 14 | Vgl. exemplarisch: Günther (1979), S. 120; Busse (1987), S. 48; Robling (1995), S. 12/15; Reichardt (2000), S. 115; Bödeker (2002b), S.

238 | FALKO S CHNICKE tet das für die vorliegende Untersuchung den notwendigen Einbezug der bedeutungskonstituierenden Umgebung von ›Biographie‹. Das zu berücksichtigende »semantisch[e] Net[z]«15 besteht in den wechselseitigen Sinnzusammenhängen von ›Geschichte‹ als geschichtsphilosophisch verfasster Vergangenheit zu ›Geschichte‹ als (potentieller) Geschichtsschreibung zu ›Geschichte‹ als wissenschaftlicher Disziplin zu ›Individuum‹ und zu ›Struktur‹. Dieser als heuristischer Vorgriff zu verstehenden thematischen Reihe entsprechen quellensprachlich weitere Begriffe, die ebenfalls Gegenstände der Analyse sein müssen. Als Gegenbegriff 16 zu ›Biographie‹ ist zudem ›Geschichte‹ als (konkrete) universalhistorisch konzipierte Darstellungsform einzubeziehen und die Unterscheidung zwischen als ›wissenschaftlich‹ und ›unwissenschaftlich‹ apostrophierter Biographik ernst zu nehmen. Im Sinne Gadamers korrespondiert die sachgeschichtliche Darstellung nachfolgend mit der begriffsgeschichtlichen Analyse.17 Erkenntnisleitend ist die Aufklärung des Verhältnisses dieser Kontext- und Gegenbegriffe zueinander und – vor allem – zu ›Biographie‹. Damit ist nicht die Untersuchung eines ganzen Wortfeldes angestrengt, sondern eines begründeten Ausschnitts daraus. Begründet ist er darin, dass die chronologisch lückenlose Begriffsgeschichte von ›Biographie‹ nicht nötig ist, um die fundamentale Umwertung im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert nachzuvollziehen. Hinsichtlich der sozialen Reichweite ist die vorliegende, wissenschaftsgeschichtlich motivierte Studie ohnehin durch ihren Fokus auf den akademisch-universitären Sprachraum begrenzt.18 Das Quellenmaterial ist durch die Fragestellung insofern mitbestimmt als vornehmlich 92/106/117; Linke (2003), S. 40; Thiergen (2006), S. XIX; Dutt (2007), S. 121. – Auch Koselleck selbst betonte diesen Aspekt zuletzt auffallend häufig, vgl. etwa: Koselleck (2002), S. 41; Koselleck (2003), S. 5. Vgl. ferner Koselleck in: Dutt (2006), S. 534. 15 | Bödeker (2002a), S. 15. 16 | Die Thematisierung dieser Ebene begrifflich fixierter Erfahrung war auch von Koselleck selbst gefordert worden, vgl. Koselleck (1992), S. VIII. 17 | Vgl. Gadamer (1965), S. XXIX. – Die damit verbundenen Fragen nach einer Definition von ›Begriff‹, der linguistischen Kritik an der unspezifischen Verwendung und dem Bezugsverhältnis zur Sachgeschichte können hier nicht thematisiert werden; vgl. dazu u.a.: Horstmann (1979); Busse (1987), S. 77-93; Knobloch (1992); Knebel (2000); Bödeker (2002b), S. 85-97. Diese Probleme sind nach wie vor ungeklärt, wie die Beiträge einer aktuellen Tagung zeigen, vgl. Bauer (2008). 18 | Eine prinzipielle »Selbstbescheidung« begriffsgeschichtlicher

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historiographietheoretische Schriften analysiert werden. Dem berechtigten Versuch der begriffsgeschichtlichen Forschung, die Textkorpora nicht in den »Höhenkammzitate[n] und punktuelle[n] Sprachereignisse[n]«19 zu erschöpfen, sondern zur sprachlichen Norm vorzudringen, soll hier dennoch Rechung getragen werden; in der Annahme eines Zusammenhanges zwischen Sprachgebrauch und Begriffsbildung20 ist eine möglichst breite empirische Basis untersucht. Werden dabei – soweit es die Überlieferungssituation zulässt – gelegentlich auch alltagssprachliche Quellen, d.h. Briefe, berücksichtigt, überwiegen insgesamt deshalb die philosophisch-theoretischen Texte, weil sie für die hier verfolgte Fragestellung die Ebene der »diskurs-praktischen [...] Alltagstexte«21 darstellen.

II. Biographiologische E xempla des 18. und 19. Jahrhunder ts Obwohl biographische Studien im 18. Jahrhundert zunehmend an Bedeutung gewannen, lief die theoretische Verortung des Genres zeitlich dazu nicht parallel. Eine signifikante theoretisch-methodische Reflektion setzte im 18. Jahrhundert erst spät ein. Finden sich Beiträge dazu zuvor nur vereinzelt, wandeln sich nun auch Qualität und Modus, d.h. selbständige Betrachtungen überwiegen gegenüber den Vorworten, Kritiken und sonstigen Kleinstbeiträgen.22

1. ›Gefolge der grossen Geschichte‹ (Abbt) Als einer der ersten Theoretiker in Deutschland nimmt sich Thomas Abbt23 der Aufgabe einer Standortbestimmung biographischer Studien Untersuchungen hielt – in anderer, d.h. hier linguistischer Perspektivierung – schon Schultz (1979, S. 57) für geboten. 19 | Reichardt (1985), S. 64. Wenn auch Koselleck (1972, S. XXIV) mit einer bewussten Quellenauswahl den Sprachalltag in den Blick nehmen wollte, wurde das in den Geschichtlichen Grundbegriffen nicht in allen Artikeln überzeugend umgesetzt. 20 | Vgl. Gadamer (1970), S. 149. 21 | Busse (1987), S. 66. 22 | Zur Quellenlage auch kurz bei: Engelberg/Schleier (1990), S. 196. 23 | Abbt (1738-1766) studierte Theologie, Philosophie und Mathematik in Halle a.d. Saale und wurde vor allem von Wolffs Philosophie beeinflusst. Er hatte ab 1760 Professuren der beiden letztgenannten Fächer in Frankfurt a.d. Oder, Rinteln und Berlin inne. Abbts Hauptwerk Vom Ver-

240 | FALKO S CHNICKE an. Unter anderem in den Briefen, die Neueste Litteratur betreffend äußert sich Abbt in Form von Rezensionen. In die Jahre 1761 und 1762 datieren dabei drei, über das Pseudonym »B.« gekennzeichnete Briefe, die im hier verfolgten Zusammenhang von besonderer Relevanz sind.24 Den Gegenstand der Geschichtsschreibung sieht Abbt – begründet durch das Erkenntnisinteresse der als aufgeklärte Fortschrittserzählung konzipierten Geschichte25 – in »Hauptbegebenheiten«.26 Der Historiker soll die wichtigsten »Triebfedern« in der »Veränderung des Staats« erkennen.27 Aus der Perspektive dieser politischen Ereignisgeschichte ist es folgerichtig ›Lebensbeschreibungen‹ – ein zeitgenössisch zentrales Synonym für biographische Studien28 – für »unfruchtbar und unnütze«29 zu halten. Gerade weil sie Einzelpersonen fokussieren, und damit ein abgewertetes Sujet (handelt es sich bei diesen doch nicht um einen der »schicklichen Gegenstände der öffentlichen Achtsamkeit«30), stellen sie lediglich den Appendix einer als eigentlich vorgestellten Hisdienste erschien 1765 und machte ihn überregional bekannt. In den 1760er Jahren arbeitete er bis zu deren Einstellung regelmäßig an den Briefen, die Neueste Litteratur betreffend mit und pflegte auch darüber hinaus einen regen Austausch mit Nicolai und Mendelssohn. Die Abbt-Forschung hat ihn meist als Literaten oder ›Populäraufklärer‹, fast nie als Historiker wahrgenommen. Ihre Ergebnisse stammen überwiegend aus dem 19. oder frühen 20. Jahrhundert, neuere Arbeiten fehlen nahezu völlig. 24 | Wie viele Rezensionen Abbt insgesamt verfasste, ist nicht im Detail klar; die Angaben der Forschung schwanken zwischen 36 (Fischer (1988), S. 27), 37 (Prutz (1846), S. 401, hier auch eine Liste, S. 403-405) und 38 Arbeiten (Thiele (1880), S. 155). Neben den eigentlichen Besprechungen erörterte Abbt immer wieder auch konkrete Fragestellungen – z.B. die pragmatische Geschichtsschreibung und die Form und Aufgabe der Biographik –; für die wissenschaftsgeschichtliche Forschung sind sie als bedeutenderer Teil zu werten (so auch Thiele (1880), S. 190). 25 | Vgl. z.B.: Abbt (1763a), S. 118-119. 26 | Ebd., S. 121. 27 | Ebd., S. 122. 28 | Gemeinsam mit ›Porträt‹ bildet ›Lebensbeschreibung‹ ein Sprachinventar, das für die gesamte Geschichte der Biographiologie, d.h. auch noch bis heute bedeutend ist. Während in den Diskussionen ›Porträt‹ seit der Antike präsent ist, erlebte ›Lebensbeschreibung‹ besonders im 18. und 19. Jahrhundert eine Konjunktur. Bei Abbt – und auch generell – dominiert quantitativ aber der Ausdruck ›Biographie‹. 29 | Abbt (1762), S. 58. 30 | Ebd., S. 54.

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torie dar. Von ›Biographien‹ erwartet Abbt – hierin folgt er dem britischen Gelehrten Samuel Johnson – »nichts weiter, als die Zusätze, die in dem Plan einer grossen Geschichte nicht konnten gebracht werden«.31 In einem Brief an Mendelssohn unterstreicht er diese Position, wenn er das »Geschwätze« in Bayles Personenlexikon zurückweist.32 Außerhalb historiographischer Sinnbildung sind biographische Studien allerdings nicht gänzlich unbrauchbar. Mit »moralischen und andern Betrachtungen an[ge]füll[t]«33, werden sie Abbt als Ethik thematisch. So sollen entsprechend gestaltete Lebensbeschreibungen pädagogischen Imperativen genügen und als »Muster«34 wirken. Um dem gerecht werden zu können, müssen die erkenntnisleitenden Prinzipien genau entgegengesetzt zur ›Geschichte‹ konstruiert werden. Das biographische Objekt ist nicht zu historisieren, nicht als Quelle der ›Hauptveränderungen‹ zu lesen, vielmehr »das Wichtige, in Absicht auf sich«,35 d.h. den Biographen zu beurteilen. Die Polarität von Partikular- und Universalgeschichte – verstanden als pragmatische Universalhistorie36 –, von »unscheinbare[n] Umstände[n]« und »öffentliche[n] Vorfälle[n]«37 ist dabei eindeutig. An einer Passage aus dem 151. Literaturbrief wird das besonders deutlich. Abbt erläutert hier, wie der Historiker die »regierenden Personen«38 über deren Memoiren oder so genannte ›geheime Nachrichten‹ in die erzeugte Kausalkette einzuflechten hat. 31 | Abbt (1763b), S. 211. Menges (2000, S. 196) liest Abbt grundlegend falsch, wenn er behauptet, jede Darstellungsform habe die Funktion, ›Zusätze‹ zu liefern. 32 | Abbt (1783d), S. 159 (11.01.1764). 33 | Abbt (1763b), S. 212. 34 | Ebd. 35 | Ebd., S. 211. 36 | Bei dem Terminus ›Universalhistorie‹ handelt es sich um einen Quellenbegriff, auch wenn er nur gelegentlich Verwendung findet. Vgl. z.B.: Abbt (1783a), S. 84. Er bezeichnet sowohl ein geschichtsphilosophisches Prinzip als auch die daraus resultierende Darstellungsform. Das Bildungsideal seiner Zeit, um eine sinngemäße Entsprechung zu zitieren, entdeckt Abbt in einer »höhern vollständigen Geschichte« (ebd., S. 61). Die praktische Umsetzung dieses universalhistorischen Programms, die Geschichte des menschlichen Geschlechts (1766), ist Fragment geblieben (vgl. dazu: Claus (1906), S. 58f./67). Zum aufgeklärten Pragmatismus neben Menges (2000) u.a. auch Kühne-Betram (1983). 37 | Abbt (1762), S. 56. 38 | Abbt (1763a), S. 120. Wenngleich es sich um ein personales Me-

242 | FALKO S CHNICKE Diese geheimen Nachrichten erzählen zuweilen einige kleine Umstände, die unvermerkt eine Hauptveränderung veranlasst haben. [...] Diese besondern kleinen Umstände sind entweder ganz zufällig, oder in der Staatsverfassung gegründet gewesen. In dem ersten Fall nützen sie für einen andern Staat nichts, wenn sie erzählt werden, weil sich kein Staat vor ihnen hüten kann, in dem andern Fall sind sie nur das Complement zu den Ursachen einer Würkung, die man schon vermuthete. Denn die Hauptaufgaben, die durch eine solche Geschichte aufgelöset werden, sind wohl diese, daß man bey einer gegebenen Regierungsform bey dem gegebenen Karackter des Herrschenden, und bey dem gegebenen Verhältnis anderer Staaten dagegen genau bestimmen lernen, was vor Hauptveränderungen für den Staat erfolgen müssen, das Zufällige bey Seite gesetzet.39

Stellt man die hier als Gegenpaare konstruierten Bereiche vereinfachend gegenüber, wird sichtbar, dass biographische Studien nicht nur nicht im Zentrum historiographischer Erkenntnis stehen, sondern dieser diametral entgegengesetzt sind. biographische Studien Ursache Zufall kleine Umstände Erzählung Individuum Charakter

Universalgeschichte Wirkung Regel Hauptveränderung Belehrung Staat Geschichte

Der epistemologische Ort biographischer Studien lässt sich an dem Paar Charakter – Geschichte am besten ablesen. Für eine Vergangenheitsdeutung, die regelhafte Prozesse aufdecken will, um die Zukunft mit Geschichte zu begründen, ist die Darstellung eines von seiner tanarrativ handelt, das der Geschichte hier zugrunde gelegt wird, ist es nicht – wie zumeist im 19. und 20. Jahrhundert – auf politisch privilegiertes Personal festgelegt. Von den ›welthistorischen Individuen‹ Hegels noch unbeeinflusst, versteht Abbt unter regierenden Personen »diejenigen [...], welche würklich regieren, und solten es auch Kammerdiener seyn« (ebd.). Wie das folgende Zitat zeigt, ist es zudem nicht intentionalistisch; so gibt es auch »unvermerkt[e]« Entwicklungen. Aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive ist es von Bedeutung, dass Abbts aufgeklärtes Ideal von Regierung Frauen nicht strukturell ausschließt. 39 | Ebd., S. 120f.. Die Analyse dieser Stelle bei Thiele (1880, S. 176) ist wenig aussagekräftig.

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Umwelt geformten Individuums40 kein integrativer Bestandteil. Die Auffassung, Abbt halte biographische Darstellungen für »[g]anz besonders« geeignet 41 oder er würde keine Abwertung der Gattung betreiben, sondern sie im Gegenteil stärken, 42 ist empirisch nicht zu belegen. An dieser Passage ist zudem die begriffsgeschichtliche Hypothese Busses, nach der nicht nur Quellen zu untersuchen sind, die den analysierten Begriff enthalten, 43 paradigmatisch exemplifiziert. Es genügt für die begriffsgeschichtliche Biographiologie nicht, lediglich Textstellen heranzuziehen, die sich um ›Biographie‹ oder ihre Synonyme gruppieren. Für das Bemühen um eine möglichst komplexe Problemgeschichte ist die Analyse von ›nur‹ thematisch gehaltvollen Abschnitten dagegen unerlässlich. Für das Verständnis von Abbts Position ist man indes nicht allein auf die Oppositionsbeziehungen einer solchen tabellarischen Aufstellung angewiesen, denn Abbt expliziert die epistemologische Position biographischer Studien an anderer Stelle selbst. »[D]ie Biographie«, notiert er im 161. Literaturbrief normativierend, »traut sich gleichsam nicht vor den folgenden Zeitaltern zu erscheinen, als in dem Gefolge der grossen Geschichte«. 44 Der Biograph »schiebt seine Nachrichten in den grossen Entwurf [der Geschichte] hinein, aber er macht ihn nicht selbst«. 45 Diesen Aspekt verdeutlicht auch eine Textstelle aus dem Vortrag der Geschichte. Hier heißt es, »[d]er Geschichtsschreiber, wenn er einmal von den Fähigkeiten eines Helden oder Staatsklugen eine vortheilhafte Meynung gefasset hat, denkt sich denselben immer

40 | Für diesen Punkt zieht Abbt mehrere Beispiele heran. Vgl. etwa Abbt (1764), S. 59f.: »Würde Luther zu andern Zeiten haben Luther seyn können? Er lebte unstreitig zur besten Zeit, kam zur rechten Zeit in die Welt: aber worinn bestand diese rechte Zeit? In der Vorbereitung solcher Umstände die gewiß nicht von ihm abgehänget haben. Hundert Jahre früher, alles so gelassen, wie es war, die nämlichen Fähigkeiten in seiner Seele, würde er nichts oder doch nicht so viel ausgerichtet haben«. 41 | Bender (1922), S. 120. 42 | Vgl. Hähner (1999), S. 62. 43 | Vgl. mit Blick auf die Geschichtlichen Grundbegriffe Busse (1987), S. 64: Das »Fehlen des Titel-Wortes in den Zitaten [weist] darauf hi[n], daß eine sich wortgeschichtlich orientierende Begriffsgeschichte möglicherweise wesentliche Momente übersieht, die eben oft in Texten entwickelt werden, in denen das angeblich ›alles konzentrierende Wort‹ gar nicht auftaucht«. 44 | Abbt (1763b), S. 212. 45 | Ebd.

244 | FALKO S CHNICKE als einen Geist der höheren Ordnung«. 46 Individuen werden also keineswegs ignoriert, aber innerhalb der Geschichtsschreibung nicht als solche, sondern als Ausdruck und Zeichen wahrgenommen. Wenn der Wortgebrauch hier auch nicht einheitlich ist und sich durchaus Passagen akzeptierenden Grundtons finden, sind biographische Studien als Genre bei Abbt wesentlich von wissenschaftlicher Geschichtsschreibung unterschieden. »Wir finden sonst«, formuliert er in seiner Geschichte von Portugall, »in der Regierung Peters des I. [...] wenig erhebliche Umstände mehr, die der Neigung nach großen Veränderungen Nahrung geben; aber der Philosoph wird noch einige Stücke bemerken, die mehr den Menschen als den König [...] schildern«. 47 Später notiert er die gleiche Überlegung noch einmal. »Das übrige Schicksal der Johanna, nachdem wir den König auf sie verzeyhen gesehen, könnte uns in dieser Geschichte gleichgültig seyn; allein man ist doch immer sogar auch bey Trauerspielen zu erfahren begierig, was mit den bekannten Personen auch noch nachher vorgegangen«. 48 Biographische Studien werden über diese – durchaus repräsentativen 49 – Bedeutungszusammenhänge konsequent »aus dem Zusammenhang der allgemeinen Geschichte [ge]lös[t]«.50 Es scheint den methodologischen Postulaten entgegen zu stehen, dass Abbt selbst eine ›Biographie‹ verfasst hat. Dieser Eindruck relativiert sich jedoch schon auf quantitativer Ebene. Es handelt sich um eine Arbeit, die mit 30 Seiten vor dem Hintergrund des sonstigen Werkes schmal erscheint.51 Auf Ebene des Stoffes unterstreicht Abbt die bislang diskutierte Position. Obwohl Leben und Charakter Alexander Gottlieb Baumgartens nicht als allgemeine Geschichte firmiert, enthält sich Abbt auch hier ›unnützer‹ Details52 und verlegt sich primär 46 | Abbt (1783f), S. 125. 47 | Abbt (1783b), S. 79/[223]. – Der pseudo-objektive Bericht ist im-

mer wieder von historiographietheoretischen Metareflexionen unterbrochen und belegt so erneut Abbts dahin gehende Interessen. 48 | Ebd., S. 139/[283]. 49 | So trennt zum Beispiel auch Gatterer zwischen »›Biographien‹ [...] und eigentliche[n] ›Historien‹«. Karl XII. und Peter der Große hätten zwar für beide gelebt, doch »[d]er ›Geschichtschreiber‹ betrachtet sie als Fürsten und Krieger, der ›Biographe‹ als Menschen«, Gatterer (1767/1990), S. 630. 50 | Niggl (1977), S. 41. 51 | Vgl. Abbt (1783c). 52 | Vgl.: »Hier müssen wir, in dem Leben dieses grossen Lehrers der Philosophie verweilen. Denn seine übrigen Lebensumstände, die bey gewöhnlichen Leuten, bey solchen, die nur Titel haben, das Merkwürdigste

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auf eine Werkgeschichte: »Die Geschichte eines Gelehrten ist die Geschichte seiner Schriften und seiner Arbeiten«.53 Sozialgeschichtlich ist es nicht ohne Bedeutung, dass sich Abbts einzige biographische Studie einem Vertreter bürgerlicher Kreise widmet; darin kommt der aufgeklärte Anspruch des sich konstituierenden Bürgertums zum Ausdruck. Für die »Frag[e] nach dem cui bono«54 impliziert das die Funktionalisierung biographischer Studien für bürgerliche Emanzipationsbestrebungen. Der Gattung kommt diese Intention dabei keineswegs systematisch zu; ›Biographie‹ ist kein Ort ideologischen Kampfes, eine mindestens tendenzielle Inanspruchnahme für soziale Auseinandersetzungen ist jedoch zu beobachten. Onomasiologisch ist der Selbstbenennungsvorgang dieser Arbeit von Relevanz. Weist der Titel sie als ›Leben‹ und ›Charakter‹ aus, nennt Abbt sie in Schreiben an Mendelssohn und Möser »Lebensbeschreibung«.55 Diese Wortverwendungen weisen erneut drauf hin, dass es sich bei diesen Begriffen um synonymische Bezeichnungen von ›Biographie‹ handelt. Des Weiteren erlaubt die Reihung Leben – Lebensbeschreibung – Biographie die Vermutung, dass Abbts Biographiebegriff an der Etymologie (Ƶíǁǃ, ƶǂƴLJƸƼƿ; Ƶíǁƶǂƴǐíƴ) orientiert ist. In jedem Fall bleibt der Bedeutungsraum von ›Biographie‹ und ihren Synonymen bei Abbt, das zeigt auch die biographische Praxis, stets abhängig von der Semantik der historiographielogischen Nachbarbegriffe. Diese sind als Ausdruck der sich erst konstituierenden Universitätsdisziplin terminologisch ihrerseits nicht eindeutig von ›Biographie‹ getrennt, wie die Möglichkeit ihrer Kombination zeigt. Wenn für die ›Biographie‹ Baumgartens ›Leben‹ und auch ›Geschichte‹ begrifflich einstehen können, zeugt das von einem flexiblen semantischen Rahmen, den die Terminologien des 18. Jahrhunderts je neu vermessen.

2. ›nach dem Maaß des Bey trages‹ (Wiggers) Den erwähnten Wandel des Quellenmaterials hier auch praktisch verfolgend, soll nach den Texten disparater Provenienz bei Abbt auch eine ausmachen würden; diese dienen blos als eine Einlassung zum Gemälde, um es gleichsam in der gelehrten Welt an seinen gehörigen Platz zu stellen: nur wenn darinn Veranlassungen zu einer neuen Entwicklung der Seelenkräfte liegen, nur alsdann nehmen sie ihre Stelle als erheblich ein« (ebd., S. 220). 53 | Ebd., S. 226. 54 | Koselleck (1972), S. XX. 55 | Abbt (1783d), S. 156 (11.01.1764); Abbt (1783e), S. 8 (Pfingsten 1764).

246 | FALKO S CHNICKE Monographie Berücksichtigung finden. Das von dem als Person größtenteils unbekannten Johann Georg Wiggers56 1777 publizierte Traktakt ›Ueber die Biographie‹57 nimmt insofern eine besondere Position ein, als es sich dabei um die wohl erste selbstständige Arbeit zur Theorie historischer Biographik handelt. Gleichzeitig liegt ein überwiegend unsystematischer Text vor, der in einer repetitiven Argumentation eher den Eindruck einer Kompilation denn einer Monographie klaren Zuschnitts vermittelt. Angesichts der beschriebenen Quellensituation ist es bemerkenswert, dass Wiggers den Themenbereich der Biographik in seiner ersten inhaltlichen Aussage als etablierten Forschungsbereich ausweist.58 Wiggers will in der Folge entsprechend nichts »neu[es]«59 notieren, und so findet sich in dem Traktat auch eher der diskursive Wissensbestand der Zeit gespeichert als ein innovativer Neuansatz formuliert. Dennoch ist es von »performatorischer« Bedeutung, dass Wiggers ›Biographie‹ schon im Titel thematisiert.60 Er eröffnet dabei kein neues Begriffsspektrum, sondern verwendet den Terminus ohne attributive Bestimmung. Die Formel ›Ueber die Biographie‹ ordnet ihn keinem Bereich zu, unterlässt bewusst eine Definition oder Spezifizierung. Wiggers markiert darüber das Selbstverständliche, die nicht zu begründende Präsenz biographischer Studien, denn anders als für 56 | Es ist wenig mehr bekannt, als dass Wiggers (1743-1820) seit 1782 eine außerordentliche Professur für Philosophische Wissenschaften in Kiel bekleidete und sie 1787 zugunsten einer Stellung als Agent verschiedener Hansestädte in St. Petersburg aufgab. Zu seinen geschichtstheoretischen Schriften zählen neben den hier behandelten Die Moral der Clio. Ein Versuch über den Einfluß der historischen Lectüre in die Besserung des Herzens (1782) und die Vermischten Aufsätze (1784). – Sieht man von gelegentlichen, sehr kurzen Hinweisen ab, existieren weder Studien zu Person noch Werk. 57 | Der häufiger zitierte, angebliche Titelzusatz »und über das Studium des Menschen« (vgl. z.B. Blanke/Fleischer (1990), S. 807; Hähner (1999), S. 64) existiert im hier herangezogenen Original der Anna Amalia Bibliothek, Weimar (Sig. 19A1596) nicht. Es handelt sich vielmehr um den Titel des ersten Kapitels. 58 | Vgl. Wiggers (1777), S. 7. 59 | Ebd. 60 | Auf diesen Aspekt hatte Orth (1979, S. 149-150) hingewiesen: »Eine solche performatorische Verwendung gerade terminologisch fixierter Begriffe findet sich häufig in Buchtiteln, welche ja die Funktion haben, einen Kommunikationsvorgang, oft auch eine Überzeugungsabsicht zu initiieren«.

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Abbt gehören sie für ihn durchaus zum Bereich der Geschichtswissenschaft. Das drückt sich bereits in der unterbliebenen semantischen Aufladung des Titels aus. Ausgehend von der Feststellung, dass der Mensch »sich immer der nächste Gegenstand seiner Aufmerksamkeit [bleibt]«,61 gelangt Wiggers im Laufe seiner Darstellung zu einer Bewertung, die die Anstrengungen des Biographen als »würdige Arbeit«62 liest, um kurz vor dem Ende ein umfassendes biographisches Lexikon zu fordern;63 ein Projekt, das auf konkrete Anregung Rankes etwa einhundert Jahre später in Form der Allgemeinen Deutschen Biographie tatsächlich realisiert worden ist.64 Allerdings, und das ist eine entscheidende Differenzierung, rechnet Wiggers biographische Studien nicht zum Kernbereich der Historiographie; sie werden nicht als Modus der allgemeinen, sondern der davon separierten Personengeschichte aufgefasst. Es ist Ausdruck der argumentativen Spannung innerhalb des Textes, die als Ergebnis des eklektischen Vorgehens textimmanent unauflösbar ist, dass diese Position nicht widerspruchsfrei ist. Unterstellt werden kann sie aufgrund ihrer Position innerhalb der untersuchten Argumentation gleichwohl; denn obwohl sich Passagen von starker Betonung etwa »vorzügliche[r] Individualität«65 finden und eine keineswegs zeittypische Hinwendung zur Biographik zu attestieren ist, bleibt letztlich ein zwar personalistisch angereichertes, aber klar an Politik- und Staatengeschichte ausgerichtetes, universalhistorisches Geschichtsmodell dominierend. Orientiert an der »menschliche[n] Thätigkeit«,66 gemeint sind Handlungsakte gleich welcher Wirkung,67 sind Individuen für Wiggers nicht per se relevant, sondern lediglich »nach dem Maaß des Beytrages [...] wichtig«.68 »Thatenleer[e]«69 Le61 | Wiggers (1777), S. 11. 62 | Ebd., S. 87. 63 | Vgl. ebd., S. 147-148. 64 | Der Vorschlag Rankes datiert in das Jahr 1858, er wurde aber erst 1868 wieder aufgenommen. Der erste Band erschien 1875. Vgl. zu weiteren Details die Einleitung des ersten Bandes: Liliencron/Wegele (1875/1967), S. V. 65 | Wiggers (1777), S. 41. 66 | Ebd., S. 53. 67 | Im Text heißt es, dass sowohl »Wohlthäter« als auch »Zerstörer« Berücksichtigung finden können. Eine Intentionalität des Handelns ist dabei nicht zwingend unterstellt (ebd., S. 54). 68 | Ebd., S. 53. So auch: Wiggers (1784/1990), S. 440/442. 69 | Wiggers (1777), S. 55.

248 | FALKO S CHNICKE bensläufe sollen vom Historiker nicht thematisiert werden; »[w]ie Taugennichtse geruht, was sie geträumt, durch welche Klapper sie sich haben wecken lassen, meldet er nicht, wenn sie gleich auf Thronen schliefen, und unterscheidet sich dadurch als ein Mann, der künftigen Jahrhunderten erzählt, von dem Verfasser politischer Ephemeriden«.70 Vor allem der Hinweis auf den »Verfasser politischer Ephemeriden« ist zentral, denn damit begründet Wiggers eine biographiologische Binnendifferenzierung. In einer Definition von Geschichte durch a priori-Setzungen konstatiert er, dass es Studien in »biographische[r] Gestalt« gäbe, die keine »wahre[n] Lebensbeschreibungen sind [...], weil sie nicht ›Leben beschreiben‹«.71 In der wechselseitigen Explikation von ›biographisch‹, ›Lebensbeschreibung‹ und ›Leben beschreiben‹ dokumentiert sich erneut die Verpflichtung gegenüber der Etymologie. Gleichzeitig bezeugt dieses Zitat ein im Vergleich zu Abbt stärkeres Changieren der Begriffe, was sich aus den komplexer gewordenen Kontexten erklärt. Weil Wiggers das Verhältnis von ›Biographie‹ und ›Geschichte‹ nicht mehr als eine sich ausschließende Disjunktion entwirft, kommt es auch nicht zu einer quasi mechanistischen, sich terminologisch niederschlagenden Bedeutungszuweisung in getrennte Sektoren. Die Unterscheidung wissenschaftlich/unwissenschaftlich deckt sich somit nicht mehr mit der Opposition von Universalgeschichte und biographischen Studien, sondern markiert eine Differenz verschiedener biographischer Formen. Bei Wiggers artikuliert sich das in den Attributionen ›wahr‹ und ›unwahr‹. Dieser neuen Notwendigkeit einer klaren Definition nähert sich Wiggers zudem inhaltlich. Mit der Abwehr der »Anekdotensucht«72 bringt er ›wahre‹ Biographik gegen andere biographische Formen in Position. Dabei operiert er stärker als Abbt mit antonymisch gebrauchten Synonymen. So bedenkt er Informationen aus dem Privatleben der Protagonisten, etwa dass die Dramatikerin Johanna Gray mit der Nadel umzugehen wisse, mit »kluge[m] Hohnlächeln statt Dank«.73 Sie gehören für Wiggers nicht in ›Biographien‹, sondern in »freundschaftlich[e] Ehrengedächtniß[e]« und »Denkmal[e]«.74 Wiggers lotet damit auch die innerfachliche Stellung von ›Biographie‹ aus und grenzt sie 70 | Ebd. 71 | Ebd., S. 59. 72 | Ebd., S. 124. Über die Bedeutung von Anedokten äußert sich Wiggers noch ausführlicher (ebd., S. 66-67). 73 | Ebd., S. 67. 74 | Ebd., S. 61.

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als wissenschaftliche Form von den genannten Kontrastbedeutungen ab. In diesem Sinn versteht er auch die Handlungsorientiertheit und verknüpft sie mit etymologischen Überlegungen; »[d]er Begriff der Biographie«, führt er aus, »ward gewiß anfangs von dem Leben solcher Männer abgezogen, welche äusserlich sehr geschäff tig gewesen«,75 d.h. für ihn ein Leben abseits von Anekdoten geführt haben.76 Auf formaler Ebene plädiert damit auch Wiggers nicht für die soziale Einschränkung potentieller biographischer Objekte. ›Biographie‹ als Vokabel des politischen Bürgertums entgrenzt den früher aristokratisch dominierten Objektbereich. In einem eigenen Kapitel präsentiert er entsprechend den Gelehrten als Hauptsujet.77 Dem ist nicht nur die explizite Betonung der deutschen Nation inhärent, sondern in der Konsequenz auch die strukturelle Unterrepräsentation von Frauen und sozialen Randgruppen. Am Ende des mit »Beziehung der Biographie auf die größere Geschichtsschreibung« übertitelten dritten Kapitels fasst Wiggers die Eckpunkte seiner Position zusammen. Wenn die Geschichtsschreibung aus der Reihe ihrer wichtigsten Menschen Einen herausnimmt, und, um ihn als einen seltenes Individuum zu zeigen, sein Leben zum besondern Vorwurf ihrer Analyse macht, so wird sie Biographie. Ein Werk, das die Art untersucht, auf welche ausserordentliche Männer wurden, wie wir sie sehen, das den Umständen nachforscht, welche mit zu ihrer Bildung unterhalfen, welches uns zeigt, daß sie nothwendig werden mussten, was sie geworden sind, ein solches Werk erfüllt unsre Wünsche, und der Schriftsteller, der es liefert, wird in nicht geringem Verstande unser Lehrer.78

Die Grenzen der Integration erklärt er mit dem Endzweck der Historiographie, um im Anschluss einen Vergleich zu formulieren. Wenn der Geschichtsschreiber die Menschen, welche er uns zeigt, nicht anders als im Gepränge aller ihrer Denkwürdigkeiten, und von allen ihren Handlungen begleitet, vorführen wollte, so würde sein Werk freylich eine Menge ausgemalter Portraite liefern, aber verlieren würden wir auf der andern Seite dabey. Die Vereinigung dieser Figuren zu einem historischen 75 | Ebd., S. 122. 76 | Vgl. zur Definition von ›Geschichte‹ in diesem Sinne auch: Wiggers (1784/1990), S. 432. 77 | Vgl. Wiggers (1777), S. 116-156. 78 | Ebd., S. 75f..

250 | FALKO S CHNICKE Gemälde. [...] Und so hätten für mich die Biographie und die höhere Geschichtsschreibung ihre Grenzen. Die Letztere spricht von dem Handelnden, um aus ihm seine Handlungen zu erklären. Die Erste erzählt die Handlungen, um von dem Handelnden ein genaues und vollständiges Bild zu geben. Hier liegt beyder wesentlicher Unterschied, der Grund des jeder eigenthümlichen Tones.79

Erneut in eine tabellarische Ordnung übersetzt, ergibt sich eine, vor allem gegenüber Abbt neue, Darstellung des Verhältnisses von ›Geschichte‹ und ›Biographie‹. »Denkmal«

Geschichtsschreibung ›Biographie‹

»höhere Geschichtsschreibung«80

Individuum als Geschichte

Individuum und Geschichte

»politische Ephemeriden«

Belehrung »Portrait«

»historisches Gemälde« »Handlungen«

80

Obwohl das »Denkmal« nicht näher definiert ist, steht es als nichtwissenschaftliche Form unzweifelhaft außerhalb des Bereiches der Geschichtsschreibung. ›Biographien‹ sind als »eigenständige Gattung«81 demgegenüber Teil der Geschichtsschreibung, weil ihnen ein Erklärungspotenzial hinsichtlich der Allgemeingeschichte zukommt.82 Die Hierarchie der Bereiche ist dennoch unübersehbar. Wird als Ziel historischer Vergangenheitsdeutung die über »historisches Gemälde« metaphorisch umschriebene Gesamtdarstellung gesetzt, kann Biographik als bloßes »Portrait« diesem Anspruch allein nicht gerecht wer-

79 | Ebd., S. 77-79. 80 | Dieser Begriff erfährt im Text keine Bestimmung, sondern wird uneingeführt verwendet. Über die Stellung in der Argumentation kann angenommen werden, dass es sich um ein Synonym zu Universalgeschichte handelt. 81 | Hähner (1999), S. 65. 82 | Auf die sich ändernden Intentionen als Differenz innerhalb der Historiographie des 18. Jahrhunderts hat aus biographiologischer Sicht schon Jander (1965, S. 32) hingewiesen.

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den. Sie leistet »nur mehr subsidiäre Dienste«83 zu einer als Endzweck dahinter stehenden größeren Geschichtsschreibung.

3. Form innerhalb des historiographischen Kanons (Droysen) Im ersten Hauptteil der Historik84 behandelt Johann Gustav Droysen (1808-1884) im Kapitel »Apodeixis« die Darstellungsformen historischer Forschung. Hier verneint er zunächst die Zuordnung der Historiographie zur Kunst85 und erörtert dann die Idealtypiken der ›untersuchenden‹, ›erzählenden‹, ›didaktischen‹ und ›diskussiven‹ Darstellung. Die ›biographische Darstellung‹ ist dabei der erste Subtyp der erzählenden Darstellung.86 Hatte Droysen kurz zuvor angemerkt, dass keine der Darstellungsformen prinzipiell zu bevorzugen sei, »sondern je nach der Aufgabe [...] sich die eine oder andere als geeigneter, ja als die gebotene zeigen [wird]«,87 ist schon diese Einordnung bedeutsam. Sie schreibt jeder, also auch der ›biographischen Darstellung‹, ein eigenes, durch sie in besonderer Weise adäquat zu behandelndes Sujet ein, womit für die Biographik ein eigener Gegenstandsbereich etabliert ist. Selbst wenn die ›erzählende Darstellung‹ nur eine von mehreren

83 | Kruckis (1995), S. 33. 84 | Die Historik-Fassung, auf die nachfolgend zurückgegriffen wird, datiert aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, d.h. dieser Abschnitt schließt historisch nicht direkt an die vorherigen Positionen an. Der zeitliche Abstand von mehr als 80 Jahren zu Wiggers könnte den Eindruck erzeugen, es handle sich um gegenüberliegende Endpunkte der Biographiologiegeschichte. Dieser Eindruck ist in zweifacher Hinsicht problematisch. Wenn in der Tat davon ausgegangen wird, dass mit Droysen ein gewisser Endpunkt in der Diskussion erreicht ist (ähnlich bei: Fulda (1996), S. 415), gilt das nur für einen, mithin auch anders zu begrenzenden Zeit- und Diskussionsraum. Es soll zudem weder ein zwangsläufiger, noch ein linearer Prozess unterstellt werden. 85 | Vgl. Droysen (1857/1977), S. 217-219. Dieser Hinweis ist deshalb wichtig, weil auch darin eine wesentliche Differenz zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert besteht. Noch Wiggers (1784/1990, z.B. S. 438) hatte das ausdrücklich anders gesehen. Auf diesen Aspekt kann an dieser Stelle allerdings nicht näher eingegangen werden. 86 | Vgl. Droysen (1857/1977), S. 242f.. 87 | Ebd., S. 221.

252 | FALKO S CHNICKE und keineswegs die wichtigste Form ist,88 kommt der personenzentrierten Geschichtsschreibung bei Droysen damit eine Stellung zu, die sie als zielführende Erkenntnis- und Kommunikationsform des Faches begreift und einen Gegenentwurf zu der biographische Studien eher skeptisch bewertenden Position des 18. Jahrhunderts darstellt; ›Geschichte‹ und ›Biographie‹ stehen hier nicht mehr im Verhältnis von Wissenschaft zu Nicht-Wissenschaft.89 Daraus erklärt sich auch der Wortgebrauch an dieser Stelle (vgl. Anm. 86); Droysen beschränkt sich auf ›biograph-‹ und seine Ableitungen, Äquivalenzen oder Antonyme finden keine Verwendung. Die Formen von ›biograph-‹ fungieren hier als eigentliche Benennung biographisch orientierter Historiographie, nicht als Funktionsbegriffe mit impliziten Wertungen. Als »Erfahrungs[begriff ]«90 speichert ›Biographie‹ bei Droysen die seit dem späten 18. Jahrhundert akkumulierte Einsicht, dass biographische Studien und wissenschaftliche Geschichtsschreibung nicht unvermittelbar sind. Wenn sich in der »Apodeixis« keine weiteren Angaben dazu finden, bildet das die – begrifflich nachvollzogene – Selbstverständlichkeit ab, mit der Droysen diese Position vorträgt. Eine Auseinandersetzung mit der Historiographie des 18. Jahrhunderts war bereits unnötig geworden. Unter anderem über Das Leben des Feldmarschalls Grafen York von Wartenburg (1851/52), das Droysen primär als Erinnerung preußischer Größe konzipiert hatte, tritt ›Leben‹ als synonymische Variante hinzu.91 Dieses Beispiel belegt außerdem die Möglichkeit, früher als problematisch empfundene Termini und deshalb von ›Biographie‹ wissenschaftspolitisch getrennte Bezeichnungen (Wiggers) nun wieder mit ihr zusammen zu bringen. So spricht Droysen von York von Warten-

88 | So auch bei: Schiffer (1980), S. 87/89. Dagegen: Harth (1980), S.

76, Anm. 60. 89 | Gerade aber weil Droysen in dieser Position bedeutende Vorläufer – etwa Wiggers, aber auch andere – hatte, ist Hähners (1999, S. 113) pompöses Wort von der »kopernikanischen Wende« unangemessen. 90 | Koselleck (2002), S. 42. Kritik an Kosellecks nicht systematisch hergeleiteten und wenig gegeneinander abgegrenzten Komposita ist an anderem Ort überzeugend geübt worden und braucht an dieser Stelle nicht referiert zu werden. ›Erfahrungsbegriff‹ wird hier im Sinne des umgangssprachlichen Verständnisses verwendet. 91 | Vgl. Droysen (1851-52). Auffälligerweise fehlen gerade Studien zu Droysens erfolgreichstem Werk nahezu völlig. Vgl. zur beabsichtigten Funktion und zeitpolitischen Stellung in Kürze: Schnicke (2009).

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burg als einem »historische[n] Denkmal«92 und erinnert damit zwar einerseits an die protowissenschaftlichen Formen des Nachrufes oder Nekrologs,93 hält mit der von ihm verwendeten Bezeichnung andererseits aber nicht an der tradierten Polarität von biographischen Studien und wissenschaftlicher Geschichtsschreibung fest. Insgesamt verdeutlichen diese Wortverwendungen und Benennungsvorgänge, dass die biographiologische Begriffsbildung des 19. Jahrhunderts auf einer wesentlich veränderten empirischen Grundlage abläuft, und zwar insofern sie nicht mehr die Konstitution eines Wissenschaftsraumes leisten soll, sondern nahezu »selbstvergessen«,94 d.h. terminologisch unkritisch agieren kann. Zeigte sich auch schon zuvor am Titel der Geschichte Alexanders des Grossen (1833), dass ›Geschichte‹ und ›Biographie‹ einander entsprechen, ist ihre Beziehung am Beispiel des Alexander komplizierter. In dem bekannten Vorwort des als erste Biographie deutscher Sprache wahrgenommen Textes95 zögert Droysen, sie überhaupt als ›Biographie‹ auszuweisen.96 Er habe lediglich »den großen Mann, der Ansicht gewiß, daß seine Persönlichkeit nur das Organ seiner That, seine That nur der erste Impuls einer Wirkung auf Jahrhunderte ist, in seiner 92 | Droysen (1929/1967), S. 366 (13.11.1847). 93 | Dazu aus literaturwissenschaftlicher Sicht: Graevenitz (1980). 94 | Vgl.: »Denn Sprache ist selbstvergessen, und nur eine ›widernatürliche‹ kritische Anstrengung, die den Fluß des Sprechens bricht und etwas aus diesem Fluß plötzlich stillstellt, kann Bewußtheit und die thematische Aufklärung eines Wortes und seiner begrifflichen Bedeutung leisten«, Gadamer (1970), S. 145. 95 | Innerhalb der Forschung handelt es sich hierbei um vereinzelte Positionen: G. Droysen (1910), S. 106; Busche (1984), S. 599. Angesichts der Arbeit von Jenisch ist das zu Recht der Fall, vgl. Jensich (1802). 96 | Droysen begründet das über die Beurteilung, die er von Gottlieb Friedländer erwartet. An diesen ist das Vorwort gerichtet: »Da Du weißt, daß ich die Geschichte Alexanders in der Absicht, die Zeit der Diadochen und weiter die des Hellenismus zu bearbeiten, entworfen habe, so wirst Du es nicht unrecht finden, wenn ich sie nicht als Monographie noch als Biographie behandelt [...] habe«, Droysen (1833), S. I. Schon textintern stehen dem aber verschiedene Formulierungen entgegen. Neben der Angabe, es handele sich um ein »Buch vom Alexander« (ebd.), also gerade nicht um eine Vorgeschichte der Diadochen oder eine Wirkungsgeschichte Philipps II., markiert vor allem das Aristoteleszitat auf dem Titelblatt den personalistischen Ansatz: »Für solche Männer gilt kein Gesetz; denn sie selbst sind Gesetz« (Übersetzung zit. nach: Droysen [1931], S. XXXVI).

254 | FALKO S CHNICKE geschichtlichen Größe dazustellen versucht«.97 Darin ist das Verhältnis von ›Biographie‹ und ›Geschichte‹ anders angelegt, als es in den vorliegenden Analysen bislang verfolgt worden ist. Droysen stellt nicht die Frage, ob und zu welchem Grad sie sich gegenseitig ausschließen, sondern die Frage nach dem tertium comparationis. Mit dieser Passage aus dem Paratext des Alexander ist eine ganz grundsätzliche Argumentation – die inhaltliche Bestimmung von ›Biographie‹ und damit die Vermittlung von Individual- und Universalgeschichte – berührt. In der Historik geht Droysen später ausführlicher auf diesen Aspekt ein. Die dabei entwickelte idealistische Geschichtsphilosophie ist auf überpersönliche Entitäten orientiert, und schließt persönliche Details sachlogisch aus historischer Biographik aus. Droysen ist deshalb weder an der Tagesplanung Schillers noch den Essgewohnheiten Kants interessiert.98 Es wäre auch geradezu töricht eine Biographie Friedrich des Großen oder Caesars schreiben zu wollen. Denn daß Friedrich auf der Flöte blies oder Caesar einige grammatische Schriften verfasst hat, ist zwar sehr interessant, aber für die große geschichtliche Tätigkeit beider äußerst gleichgültig. Ebensowenig sollte man eine Biographie von Scharnhorst schreiben wollen: die militärische Organisation Preußens von 1796 bis 1813 ist sein biographisches Denkmal.99

Das biographische Objekt soll hinsichtlich seiner für die Menschheitsgeschichte relevanten Leistungen – nicht als solches – dargestellt werden. Biographischen Studien kommt in Droysens Überzeugung, historische Prozesse seien »weder rein empirisch-psychologisch, noch aber auch metaphysisch zu bestimmen«,100 eine wichtige, aber keine entscheidende Rolle für die Erklärung geschichtlicher Entwicklungen zu. Und wenngleich dieser Punkt nicht ohne Seitenbewegungen ist,101 wird die doppelte Bedeutungsmöglichkeit für ›Biographie‹ in Droysens Terminologie deutlich. Zum einen zielt ›Biographie‹ auf die Summe der zurückliegenden Tätigkeiten, die der Lebenszeit einer konkreten historischen Person zugeordnet werden können, die res gestae. Zum 97 | Droysen (1833), S. I. 98 | Vgl. Droysen (1857/1977), S. 196f. 99 | Ebd., S. 243. 100 | Meister (1926), S. 57. 101 | Vgl.: »Auch das Enge und Engste ist geschichtlich für den, welchen es angeht (Spezialgeschichten)«, Droysen (1857 od. 1858/1977), §66, S. 409.

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anderen meint ›Biographie‹ die wissenschaftliche Darstellung dieser Taten, die historia rerum gestarum. Damit ist bei Droysen allerdings keine einfache Übernahme der res gestae intendiert, sondern die Untersuchung des eigentlichen Subjekts, also dessen, was zur Erhellung der leitenden weltgeschichtlichen ›Idee‹ beiträgt. Trotz der unklaren semantischen Trennung, die sich darin manifestiert, dass beide Bedeutungen im selben Begriff zusammenfallen, sind die beiden Aspekte erkenntnistheoretisch kategorial verschieden. Droysens Bestimmung von ›Biographie‹ als Gattung erfolgt demnach auf dem Niveau der epistemologischen Interessen des kleindeutschen Historikers, dessen ›Beruf‹ darin bestand die Nation zu legitimieren102 und Geschichte als Theodizee zu betreiben.103 Der Biograph verfolge das biographische Objekt nicht um des Nachweises willen, dass es denkwürdige Dinge »leisten ›mußte‹«, es sei dafür nicht alleinursächlich, sondern deshalb, um zu zeigen, dass es sie »leisten ›konnte‹«.104 An dieser Stelle erst, d.h. auf der Ebene der historischen Topik und nicht schon in Höhe der Heuristik, fällt die Entscheidung zuungunsten privater und psychologischer Aspekte. In diesen Bestimmungen sind die Kriterien biographischer Objekte implizit angelegt. Darüber, dass ›Biographie‹ auf historische ›Ideen‹ hin konzipiert ist, werden weniger geschichtswirksame Gruppen kaum vertreten sein (können). Damit sind realgesellschaftliche Marginalisierungen bei Droysen in den Terminus eingeschrieben, der die vorhandenen sozialen Strukturen in seiner Eigenschaft als »Orientierun[g] über Orientierungen«105 in der Folge reproduziert. ›Biographie‹ als Begriff ist mithin »nicht bloß Indikator für außersprachliche Sachverhalte [...], sondern darüber hinaus [...] Promoto[r] in politisch-sozialen (Sprach-)handlungen«.106 Im Ergebnis entspricht Droysens Position weder der polaren Gegenüberstellung von ›Biographie‹ und ›Geschichte‹ bei Abbt, noch der halbintegrativen Darstellung bei Wiggers. Vielmehr wären die 102 | Das »nationale Prinzip« (Droysen (1843/1924), S. 93) ist einer der Kernbestanteile von Droysens Geschichtsbild. In der Forschung wird entsprechend der Nationalstaatsgedanke als grundlegendes Darstellungsprinzip Droysens beschrieben, vgl. z.B. Birtsch (1964). 103 | Vgl. dazu z.B. Droysen (1843/1953), S. XI. 104 | Droysen (1857/1977), S. 242. 105 | »Begriffe sind Orientierungen über Orientierungen; das bedeutet, in einem Begriff werden Momente, die als Erfahrungsgrundlage vorliegen, mehr oder weniger bewußt zusammengefaßt«, Orth (1979), S. 145. 106 | Schultz (1979), S. 44-45.

256 | FALKO S CHNICKE Charakteristika beider Sektoren in einem Modus zusammenzuführen, wie ihn die Tabellenform in ihrer Differenzstruktur nicht abbilden kann.

III. Biographiologie als Wissenschaf tsgeschichte ›Biographie‹, das war als heuristisch vorgreifendes Prinzip formuliert und durch die Fallbeispiele empirisch bestätigt worden, konstituiert seine Tiefengliederung vor allem über die wechselnde Beziehung von ›Geschichte‹, ›Individuum‹ und ›Struktur‹ bzw. ihre Äquivalenzbedeutungen. Die Fähigkeit, »Problembezüge verdichtend [...] repräsentieren«107 zu können, gilt als hinreichendes Merkmal, um Begriffe von Wörtern zu unterscheiden. War der Begriffsstatus für ›Biographie‹ implizit vorausgesetzt worden, ist die Bestätigung dessen ein erstes Ergebnis der vorliegenden Untersuchungen. Als zweites Ergebnis kann die Explikation des Begriffswandels von ›Biographie‹ gelten. Ein Wandel im Begriffsverständnis wird durch einen stabilen Hintergrund sichtbar, vor der Folie einer »repetitive[n] Struktur«.108 In Gestalt der genannten, sich konstant als solche ausweisenden Rahmenbegriffe ist das für das vorliegende Beispiel der Fall. Formal ist dieser Wandel als »Übersetzungsvorgang« 109 zu beschreiben, d.h. als Bedeutungsverschiebung, bei der die Wortebene unberührt bleibt. Er entspricht damit dem zweiten von vier Typen, die bei Schultz deduziert sind.110 Hier »meinen die Benutzer ›etwas anderes‹ mit den weiterhin benutzten Wörtern: vielleicht den gewandelten Sachverhalt [...], vielleicht einen anderen Sachverhalt«.111 Für Abbt und Wiggers stand das »allgemein[e] Interesse am Menschen«,112 d.h. eine über konkrete Personen hinausgehende, prinzipielle Motivation am Menschlichen im Mittelpunkt. Sie wirkte der Historisierung von Individuen entgegen und machte die »Antithetik von Historie und Biographie«113 für die Spätaufklärung epistemologisch nahezu zwingend. Mit der erfolgreichen Durchsetzung des Kollektivsingulars ›Geschichte‹ zwischen 1760 und 1780114 verkehrt sich die historiographische 107 | Knobloch (1992), S. 23. 108 | Koselleck (2003), S. 4. 109 | Koselleck (1972), S. XV. 110 | Vgl. dazu Schultz (1973); Schultz (1979), S. 65-67. 111 | Schultz (1973), S. 229. 112 | Maurer (1996), S. 82. 113 | Niggl (1977), S. 42. 114 | Vgl. dazu umfassend Koselleck (1975); Koselleck (2000).

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Grundausrichtung in ihr Gegenteil. Über verschiedene Vorstufen ist bei Droysen schließlich eine Integration des Genres möglich. Statt der Erarbeitung »universal gültige[r]« Verhaltensregeln115 suchte er die geschichtliche ›Idee‹ auch über das Individuum zu belegen, was nicht nur die prinzipielle Akzeptanz dieser Erkenntnisweise, sondern auch die Historisierung des biographischen Objekts unhintergehbar werden ließ. Der Historismus, so Koselleck, habe auf die »zunehmend wandelbar[e] Aktualität« methodisch reagiert und sich in ein indirektes Verhältnis zur Geschichte gesetzt, in welchem der »Einzelfall [...] seines politisch-didaktischen Charakters« nunmehr entbehrt.116 Die »sozial[e] Reichweite« 117 wird zwar durchgehend davon getragen, dass es bürgerliche Autoren sind, die mit ›Biographie‹ operieren, in der Analyse speziell machtanalytischer Aspekte differieren die »epistemisch-semantische[n] Prädispositionen« 118 jedoch. Ist das Genre bei Abbt sozial eher unbestimmt, lassen seine Einlassungen – ähnlich wie bei Wiggers – den Schluss zu, dass ein weiter Kreis von Personen mit einer deutlichen Tendenz zum Bürgertum für biographische Studien infrage kommt. Auch bei Droysen markiert die Frage nach dem sozialen Status oder dem Geschlecht eine Leerstelle; die gegebenen Beispiele und die Konsequenzen der Definitionen legen dennoch eine Begrenzung auf die ›großen Männer‹ nahe. Die untersuchten Semantiken von ›Biographie‹ belegen, dass die terminologische Konstituierungsphase der Geschichtswissenschaft nicht im 18. Jahrhundert abgeschlossen war, sondern bis weit ins 19. Jahrhundert hinein reichte und auch dann nicht abbrach. Das dritte Ergebnis, das hier herausgestellt werden soll, besteht im Nachweis dieser Transgressivität von ›Biographie‹ in der longue durée. Die Umwertung von ›Biographie‹ in eine wissenschaftliche Form ist für die Biographiologie von besonderer Relevanz. War sie bei Abbt prinzipiell ausgeschlossen, ist sie bei Droysen nicht nur in die wissenschaftliche Geschichtsschreibung integriert, sondern durch den eigenen Objektbereich auch strukturell aufgewertet. Mit dem Überschreiten der Grenze zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft werden bio-

115 | Menges (2000), S. 189. 116 | Koselleck (2000), S. 64f.. Vgl. auch: »Wird das Geschehen zur Auseinandersetzung und Abfolge einzigartiger und genuiner Kräfte, so entfällt die unmittelbare Applikabilität historischer Vorbilder auf die eigene Situation«, ebd., S. 55. 117 | Koselleck (1972), S. XX. 118 | Busse (2003), S. 19.

258 | FALKO S CHNICKE graphische Studien mithin Teil der disziplinär-historiographischen Identitätsbildung. Ist der Terminus, wie eingangs erwähnt, bis heute nicht begrifflich gesichert, drückt sich darin konstituierend seine Begrifflichkeit aus. In bekannter Diktion können Begriffe nicht definiert, sondern lediglich interpretiert werden.119 In diesem Sinne war es Ziel des vorliegenden Beitrages den »diskursive[n] [...] Charakte[r] auch theoretischer Begriffe«,120 damit ihr sprachlich-semantisches Potential zu betonen. Entgegen Cassirers Votum für statische Begriffe121 galt Begriffsgeschichte hier als »begriffliche Aufklärung«122 mit einer Relevanz für die Gegenwart. Diese besteht wesentlich in einer »›semantologische[n] Kontrolle‹ für unseren gegenwärtigen Sprachgebrauch«,123 d.h. für den konkreten Fall einer ständigen terminologischen Selbstreflexion aktueller Biographiologie. Hat die Begriffsgeschichte insgesamt eine Zukunft – Koselleck und Dutt stehen mit ihrem Wort hier gegen den jüngst pessimistischen Gumbrecht 124 –, gilt das auch für die begriffsgeschichtliche Biographiologie; neben der Kultur- und Praxisgeschichte der Biographik lohnt es sich auch ihre noch viel zu wenig erschlossene Bedeutungsund Wirkungsgeschichte zu untersuchen. Das inhärente »Risiko« 125 gilt es angesichts der Chance, darüber zu einem sicheren Selbstbild der Disziplin gelangen zu können, einzugehen.

119 | Vgl. Koselleck (1972), S. XXIII. Vgl. daneben auch: »Philosophische Begriffe ›haben‹ nicht nur eine Geschichte, sie ›sind‹ ihre Geschichte«, Konersmann (2005), S. 25. 120 | Busse (1987), S. 46. 121 | Vgl.: »Die primäre Aufgabe, die der wissenschaftliche Begriff zu erfüllen hat, scheint freilich keine andere zu sein, als daß er eine Regel der Bestimmung aufstellt, die sich am Anschaulichen zu bewähren und im Kreise des Anschaulichen zu erfüllen hat«, Cassirer (2002), S. 324. 122 | Gadamer (1970), S. 145. 123 | Koselleck (1972), S. XIX. 124 | Vgl. Koselleck (2002), S. 44; Dutt (2007), S. 119; Gumbrecht (2006), S. 31/35f. 125 | Vgl. Koselleck (1992), S. V: »Jede Begriffsgeschichte enthält ein Risiko«.

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Literatur Abbt, Thomas (1762): »Zwey hundert und eilfter Brief. P. Pauli Abzug aus dem Reiche der schönen Wissenschaften, nebst desselben Abschiedsunterredung mit seinem Kunstrichter. Nützliche Regeln für Biographen, aus dem Rambler«. In: Briefe, die Neueste Litteratur betreffend Jg. 13, S. 33-60. Abbt, Thomas (1763a): »Hundert und ein und funfzigster Brief. Anmerkungen über den wahren Begriff einer pragmatischen Geschichte«. In: Briefe, die Neueste Litteratur betreffend Jg. 9, S. 118-125. Abbt, Thomas (1763b): »Hundert und ein und sechzigster Brief. Allgemeine Erfordernisse der Schreibart eines Biographen, die Herr P. nie gekannt hat«. In: Briefe, die Neueste Litteratur betreffend Jg. 10, S. 211-214. Abbt, Thomas (1764): »Zwei hundert und neun und siebenzigster Brief. Urteil über des Hrn Fr Carlo Mosers Schreibart in seinen gesammelten moralischen und politischen Schriften [...]«. In: Briefe, die Neueste Litteratur betreffend Jg. 18, S. 47-68. Abbt, Thomas (1783a): »Einrichtung der ersten Studien eines jungen Herrn von Stande«. In: Ders.: Vermischte Werke. Fünfter Theil welcher vermischte Aufsätze und Briefe enthält, [hg. v. Friedrich Nicolai], Frankfurt/Leipzig, S. 43-104. Abbt, Thomas (1783b): »Geschichte von Portugall«. In: Ders.: Vermischte Werke. Zweyter Theil welcher 1) vom Tode fürs Vaterland 2) Fragment der Portugiesischen Geschichte enthält, [hg. v. Friedrich Nicolai], Frankfurt/Leipzig, S. 1-142/[144-286]. Abbt, Thomas (1783c): »Leben und Charakter Alexander Gottlieb Baumgartens«. In: Ders.: Vermischte Werke. Vierter Theil welcher vermischte Aufsätze enthält, [hg. v. Friedrich Nicolai], Frankfurt/ Leipzig, S. 213-244. Abbt, Thomas (1783d): Vermischte Werke. Dritter Theil welcher einen Theil seiner freundschaftlichen Correspondenz enthält, [hg. v. Friedrich Nicolai], Frankfurt/Leipzig. Abbt, Thomas (1783e): Vermischte Werke. Sechster Theil welcher Briefe und Fragmente enthält, [hg. v. Friedrich Nicolai], Frankfurt/Leipzig. Abbt, Thomas (1783f): »Vom Vortrag der Geschichte«. In: Ders.: Vermischte Werke. Sechster Theil welcher Briefe und Fragmente enthält, [hg. v. Friedrich Nicolai], Frankfurt/Leipzig, S. 124-129. Bauer, Volker (2008): [Ank.] Begriffs-, Problem- und Ideengeschichte im digitalen Zeitalter. Wolfenbüttel 02/08, http://hsokult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=8484, 08.01.2008.

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TRANSGRES SIVE S EMANTIKEN | 261

Droysen, [Johann] Gustav (1843/1924): »Rede zur tausendjähr. Gedächtnisfeier des Vertrages zu Verdun, gehalten auf der ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel am 10. August 1843«. In: Deutsche Akademiereden, hg. v. Fritz Strich, München, S. 89-110. Droysen, Johann Gustav (1843/1953): »Vorwort zur ersten Auflage (1843)«. In: Ders.: Geschichte des Hellenismus, Bd. 3. Geschichte der Epigonen, hg. v. Erich Bayer, neue, durchges. Auflage, Tübingen, S. IX-XXIII. Droysen, Johann Gustav (1851-52): Das Leben des Feldmarschalls Grafen York von Wartenburg, 3 Bde., Berlin. Droysen, Johann Gustav (1857/1977): »Historik. Die Vorlesungen von 1857. (Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung aus den Handschriften)«. In: Ders.: Historik, Bd. 1. Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen (1857), Grundriß der Historik in der ersten handschriftlichen (1857/ 1858) und der letzten gedruckten Fassung (1882) [Historik. Historisch-kritische Ausgabe, 1], hg. v. Peter Leyh, Stuttgart-Bad Cannstatt, S. 1-393. Droysen, Johann Gustav (1857 od. 1858/1977): »Grundriß der Historik. Die erste vollständige handschriftliche Fassung (1857 oder 1858)«. In: Ders.: Historik, Bd. 1. Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen (1857), Grundriß der Historik in der ersten handschriftlichen (1857/ 1858) und der letzten gedruckten Fassung (1882) [Historik. Historisch-kritische Ausgabe, 1], hg. v. Peter Leyh, Stuttgart-Bad Cannstatt, S. 395-411. Droysen, Johann Gustav (1929/1967): Briefwechsel, Bd. 1, hg. v. Rudolf Hübner, Osnabrück/ND Osnabrück. Droysen, Johann Gustav [1931]: Geschichte Alexanders des Großen. Neudruck der Urausgabe, hg. v. Helmut Berve, Leipzig. Dutt, Carsten (2006): »Nachwort. Zu Einleitungsfragmenten Reinhart Kosellecks«. In: Reinhart Koselleck: Begriff sgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a.M., S. 529-540. Dutt, Carsten (2007): »Postmoderne Zukunftsmüdigkeit. Hans Ulrich Gumbrecht verabschiedet die Begriffsgeschichte«. In: Zeitschrift für Ideengeschichte 1. Jg., S. 118-122. Engelberg, Ernst/Schleier, Hans (1990): »Zu Geschichte und Theorie der historischen Biographie. Theorieverständnis – biographische Totalität – Darstellungstypen und -formen«. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 38. Jg., S. 195-217. Fischer, Peter (1988): Art. »Abbt, Thomas«. In: Literatur Lexikon, Bd. 1, hg. v. Walter Killy, Gütersloh u.a., S. 26-27.

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266 | FALKO S CHNICKE Wiggers, Johann Georg (1777): Ueber die Biographie, Mitau. Wiggers, Johann Georg (1784/1990): »Versuch die verschiedenen Pflichten eines Geschichtschreibers aus einem Grundsatze herzuleiten (1784)«. In: Horst Walter Blanke/Dirk Fleischer (Hg.): Theoretiker der deutschen Auf klärungshistorie, Bd. 2. Elemente der Auf klärungshistorik, Stuttgart-Bad Cannstatt, S. 429-452. Zimmermann, Christian von (2006): Biographische Anthropologie. Menschenbilder in lebensgeschichtlicher Darstellung (1830-1940), Berlin/New York.

Autorinnen und Autoren

Dr. Gunhild Berg Assoziierte Mitarbeiterin am Zentrum für Literatur und Kulturforschung, Berlin. Davor Herzog-Ernst-Stipendiatin am Forschungszentrum Gotha der Universität Erfurt, Fritz-Thyssen-Stipendiatin an den Franckeschen Stiftungen in Halle (Saale), Research Fellow am Department of German der University of Wisconsin-Madison, USA. Arbeitsgebiete: Auf klärungsforschung, Wissenschaftsgeschichte (insbes. zu G.C. Lichtenberg), Mediengeschichte der Wissenschaften, Narratologie/Gattungspoetik, Diskursanalyse. Publikationen z.B.: Erzählte Menschenkenntnis: moralische Erzählungen und Verhaltensschriften der deutschsprachigen Spätauf klärung, Tübingen 2006. PD Dr. Olaf Briese Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Religionswissenschaft der Freien Universität Berlin; Mitarbeit im Sonderforschungsbereich 626 „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“ der FU Berlin. Arbeitsgebiete: Religion, Wissenschaft und Philosophie des 19. Jahrhunderts; Kultur, Katastrophen und Angstabwehr; Symbolik von Architektur, Leib und Architektur; Medizin, Religion und Magie; Wissen und Wissensformen. Publikationen z.B.: Angst in den Zeiten der Cholera I-IV. Über kulturelle Ursprünge des Bakteriums (Seuchen-Cordon I-IV), Berlin 2003. Dr. Michael Eggers Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für deutsche Sprache und Literatur der Uni Köln, DFG-Projekt »Wissensgeschichte des Vergleichs um 1800. Zur Genealogie der Trennung von Natur- und Geis-

268 | B EGRIFFSGE SCHICHTE teswissenschaften«. Arbeitsgebiete: Wissenschaftsgeschichte des 18. und 19. Jhs.; die Stimme in Literatur und Kulturtheorie; multilinguale Literatur; Ingeborg Bachmann; Gegenwartsdramatik. Redaktionsmitglied der Zeitschrift polar (www.polar-zeitschrift.de ). Publikationen z.B.: Texte, die alles sagen. Erzählende Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts und Theorien der Stimme. Würzburg 2003; »Aufklärerische Metaphysik. Walter Benjamin zu Nikolaj Lesskov und Johann Peter Hebel«. In: arcadia 43 (2008) S. 139-157; »Die Didaktik des schlechten Beispiels und die Antipädagogik Heinrich von Kleists«. In: Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen. Hg.v. Nicolas Pethes u.a. Berlin 2007, S. 241-260. Dr. Kristin Heinze Freie Autorin; zuvor Lehrkraft für Deutsch als Fremdsprache bei dem interDaF e.V. am Herder-Institut der Universität Leipzig; Mitarbeiterin in einem Projekt zur Erarbeitung eines Fernstudienlehrwerkes für Deutsch als Fremdsprache an der Universität Leipzig. Arbeitsgebiete: Pädagogische Begriffsgeschichte; Geschichte der pädagogischen Fachlexikographie; Deutsch als Fremdsprache, Landeskunde. Publikationen z.B.: »Bildungsgeschichte als ›Krebsgang‹: Die Rezeption des Philanthropismus durch Matthäus Cornelius Münch«. In: Heidemarie Kemnitz u.a. (Hg.): Der Ort der Bildungsgeschichte. Bad Heilbrunn (im Druck); Zwischen Wissenschaft und Profession. Das Wissen über den Begriff »Verbesserung« im Diskurs der pädagogischen Fachlexikographie vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Opladen, Farmington Hills 2008; Zus. mit Gisa Baudisch, Irene Zoch, u. a.: Fenster. Fernstudienbriefe 6-10 »Deutsch als Fremdsprache« für Lernende mit polnischer/tschechischer Muttersprache. Leipzig, HerderInstitut 1996-1997. Dr. Angus Nicholls Claussen-Simon Foundation Research Lecturer in German and Comparative Literature; Deputy Director, Centre for Anglo-German Cultural Relations, Queen Mary College, University of London. Arbeitsgebiete: Beziehung zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften in Deutschland und Großbritannien im 19. Jh.; Theorien des Mythos; dt. und engl. Romantik; Goethes philosophische Kontexte; kritische Theorie und philosophische Hermeneutik; philosophische und literarische Einflüsse der Psychoanalyse. Publikationen z.B.: Goethe’s Concept of the Daemonic: After the Ancients. Rochester, NY 2006; Thinking the Unconscious, hg. mit Martin Liebscher (im Druck); Den Schwan umarmen: Britisch-deutsche Mytholo-

A UTORINNEN

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gien in Literatur, bildender Kunst und Kulturtheorie, hg. mit Rüdiger Görner (im Druck). Ere Pertti Nokkala Doktorand am Europäischen Hochschulinstitut Florenz, Department of History and Civilization, Mitglied des »Finnish Centre of Excellence for Political Thought and Conceptual Change«. Diverse Forschungsstipendien. Arbeitsgebiete: J.H.G von Justi (1717–1771); politisches Denken; internationales Recht und internationale Beziehungen im 18. Jahrhundert. Nils Plath Literaturwissenschaftler in Berlin, lehrt an der Universität Erfurt, Neuere deutsche Literatur und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft; Lehrauftrag für Textgestaltung an der Fachhochschule Münster, Fachbereich Design. Arbeitsgebiete gegenwärtig u.a.: Stadtbilder und Textlandschaften; Bild-Text-Beziehungen; fremde Sprachen und eigene Stimmen bei Theodor W. Adorno, Jacques Derrida, Samuel Beckett, Franz Kaf ka. Publikationen z.B.: Anführen.Vorführen.Auff ühren. Texte zum Zitieren, Mithg., Bielefeld 2002; Blicke auf Landschaften, Hg., Sondernummer der Filmzeitschrift AugenBlick, Marburg, Dez. 2005; Europa-Stadt-Reisende. Blicke auf Reisetexte 1918-1945, Mithg., Bielefeld 2006. Dr. Ute Poerschke Associate Professor, Department of Architecture, Pennsylvania State University. Partner des Architekturbüros Friedrich-Poerschke-ZwinkArchitekten, München (www.fpz-architekten.de). Arbeitsgebiete: Theorie des Funktionalismus; Architekturentwurf als Prozess der Integration; Beleuchtung, Akustik und umweltverantwortliche Energien als kreative Gestaltungsmittel des Architekturentwurfs. Publikationen z.B.: Funktion als Gestaltungsbegriff: eine Untersuchung des Funktionsbegriff s in architekturtheoretischen Texten [Elektronische Ressource: http://deposit.ddb.de/cgi-bin/dokserv?idn=977016951], 2005; »Über architektonische Struktur – Architectural Structure«, in: Dietmar Eberle/Pia Simmendinger, Von der Stadt zum Haus. Eine Entwurfslehre – From the city to the house. A design theory, Zürich 2007. Dr. Matthias Rothe Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Linguistische Kommunikations- und Medienforschung, Europa − Universität Viadrina, Frankfurt/Oder. Arbeitsgebiete: Philosophie und Medizin; die Figur des Arzt/Philo-

270 | B EGRIFFSGE SCHICHTE sophen im 17.+ 18. Jh.; philosophisches Nachdenken über die Leidenschaften; Öffentlichkeit im 18. Jh.: Mediengeschichte: Brief, Literatur, Theater. Publikationen z.B.: Lesen und Zuschauen im 18. Jahrhundert. Die Erzeugung und Auf hebung von Abwesenheit, Würzburg 2005; Körpertabus und Umgehungsstrategien, hg. mit Hartmut Schröder, Berlin 2005. Dr. Falko Schmieder Gastprofessor in Vertretung des Faches Kommunikationsgeschichte/ Medienkulturen an der FU Berlin; wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt »Theorie und Konzept einer Interdisziplinären Begriffsgeschichte« am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin. Arbeitsgebiete: Begriffsgeschichte, Wissenschaftsgeschichte, neuere Kulturgeschichte. Publikationen z.B.: Ludwig Feuerbach und der Eingang der klassischen Fotografie. Zum Verhältnis von anthropologischem und Historischem Materialismus, Berlin. Wien 2004; »Von der Methode der Aufklärung zum Mechanismus des Wahns. Zur Geschichte des Begriffs Projektion«, in: Archiv für Begriff sgeschichte, Jg. 47, Hamburg 2005; Begriff sgeschichte der Naturwissenschaften. Zur historischen und kulturellen Dimension naturwissenschaftlicher Konzepte. Hg. mit Ernst Müller. Berlin 2008. Falko Schnicke Studium der Neueren Geschichte und Neueren Deutschen Literatur in Hamburg, Berlin und London. Seit 2008 Mitarbeiter der Arbeitsstelle für feministische Literaturwissenschaft (Universität Hamburg); Mitglied des [ZetBi] Zentrum für Biographik; Mitarbeit an der Ausstellung »Zwischen Ästhetik, Wissenschaft und Politik. Johann Gustav Droysen (1808-1884) zum 200. Geburtstag« (2008, HU Berlin). Arbeitsgebiete: u.a. Historiographiegeschichte, Biographiologie, gender studies. Publikationen u.a.: »Der ›politische Beruf‹ des Historikers«; »Der Biograph«, in: Philologe – Historiker – Politiker. Johann Gustav Droysen 1808-1884, hg. v. Christiane Hackel, Berlin 2008, 63-69 und 7177. »Begriffsgeschichte«; »Achtzehntes Jahrhundert«; »Neunzehntes Jahrhundert«, in: Christian Klein (Hrsg.): Biographie und Biographik. Ein interdisziplinäres Handbuch, erscheint Stuttgart 2009. Dr. Georg Toepfer Biologe und promovierter Philosoph. Wissenschaftlicher Koordinator des SFB 644 „Transformationen der Antike“, Dozent am Philosophischen Institut und Kulturwissenschaftlichen Seminar, Humboldt-

A UTORINNEN

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Universität zu Berlin. Arbeitsgebiete: Wissenschaftsgeschichte und Philosophie der Biologie Publikationen z.B.: Die Diff usion des Humanen, hg. mit Jörn Ahrens und Mirjam Biermann, 2007; Philosophie der Biologie. Eine Einführung, hg. mit Ulrich Krohs, Frankfurt a.M. 2005; Zweckbegriff und Organismus: über die teleologische Beurteilung biologischer Systeme, Würzburg 2004.

Science Studies Nicholas Eschenbruch, Viola Balz, Ulrike Klöppel, Marion Hulverscheidt (Hg.) Arzneimittel des 20. Jahrhunderts 13 historische Skizzen von Lebertran bis Contergan September 2009, ca. 276 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1125-0

Sandro Gaycken, Constanze Kurz (Hg.) 1984.exe Gesellschaftliche, politische und juristische Aspekte moderner Überwachungstechnologien (2. unveränderte Auflage 2009) 2008, 310 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-766-0

Carmen Gransee, Maren Krähling, Marion Mangelsdorf Technoscience Eine kritische Einführung in Theorien der Wissenschafts- und Körperpraktiken Juli 2009, ca. 150 Seiten, kart., ca. 13,80 €, ISBN 978-3-89942-708-0

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2009-04-16 14-13-12 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 02cc207786237544|(S.

1-

3) ANZ1184.p 207786237552

Science Studies Bernd Hüppauf, Peter Weingart (Hg.) Frosch und Frankenstein Bilder als Medium der Popularisierung von Wissenschaft Januar 2009, 462 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-89942-892-6

Gesine Krüger, Ruth Mayer, Marianne Sommer (Hg.) »Ich Tarzan.« Affenmenschen und Menschenaffen zwischen Science und Fiction 2008, 184 Seiten, kart., zahlr. Abb., 22,80 €, ISBN 978-3-89942-882-7

Philippe Weber Der Trieb zum Erzählen Sexualpathologie und Homosexualität, 1852-1914 2008, 382 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1019-2

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2009-04-16 14-13-13 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 02cc207786237544|(S.

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Science Studies Ralf Adelmann, Jan Frercks, Martina He ler, Jochen Hennig Datenbilder Zur digitalen Bildpraxis in den Naturwissenschaften Juni 2009, ca. 256 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1041-3

Kai Buchholz Professionalisierung der wissenschaftlichen Politikberatung? Interaktions- und professionssoziologische Perspektiven 2008, 240 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-936-7

Heiner Fangerau, Thorsten Halling (Hg.) Netzwerke Allgemeine Theorie oder Universalmetapher in den Wissenschaften? Ein transdisziplinärer Überblick Juni 2009, ca. 276 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-89942-980-0

Christian Filk Episteme der Medienwissenschaft Systemtheoretische Studien zur Wissenschaftsforschung eines transdisziplinären Feldes Juni 2009, 394 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN 978-3-89942-712-7

Gabriele Gramelsberger Computerexperimente Zum Wandel der Wissenschaft im Zeitalter des Computers Oktober 2009, ca. 296 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-89942-986-2

Wilfried Heinzelmann Sozialhygiene als Gesundheitswissenschaft Die deutsch/deutsch-jüdische Avantgarde 1897-1933. Eine Geschichte in sieben Profilen Mai 2009, ca. 384 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1144-1

Jochen Hennig Bildpraxis Visuelle Strategien in der frühen Nanotechnologie Juni 2009, ca. 338 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1083-3

Renate Mayntz, Friedhelm Neidhardt, Peter Weingart, Ulrich Wengenroth (Hg.) Wissensproduktion und Wissenstransfer Wissen im Spannungsfeld von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit 2008, 350 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-834-6

Katja Patzwaldt Die sanfte Macht Die Rolle der wissenschaftlichen Politikberatung bei den rot-grünen Arbeitsmarktreformen 2008, 300 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-935-0

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