Wissenschaft und Politik 3515097376, 9783515097376

Das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik ist kaum auf eine einfache Formel zu bringen. Einerseits erscheinen sie

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German Pages 275 [290] Year 2010

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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Zur Einführung
Sektion I: Politik ohne Wissenschaft?
Sektion II: Wissenschaft ohne Politik?
Sektion III: Wissenschaft statt Politik?
Sektion IV: Wissenschaft in der Politik?
Autorenverzeichnis
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Wissenschaft und Politik
 3515097376, 9783515097376

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Horst Dreier / Dietmar Willoweit (Hg.) Wissenschaft und Politik

Horst Dreier / Dietmar Willoweit (Hg.)

Wissenschaft und Politik

Franz Steiner Verlag Stuttgart 2010

Umschlagabbildungen: Mikrofon: © iStockphoto.com/Zeffss1 Mikroskop: © iStockphoto.com/Oleg Prikhodko

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-09737-6 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2010 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Zur Einführung (Horst Dreier / Dietmar Willoweit) . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX

Sektion I: Politik ohne Wissenschaft? Dezisionistische Modelle der Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Henning Ottmann Der Begriff des Politischen bei den politikwissenschaftlichen Klassikern des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Andreas Anter

Sektion II: Wissenschaft ohne Politik? Max Webers Postulat der Wertfreiheit in der Wissenschaft und die Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Horst Dreier

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inhaltsverzeichnis

Politische Voraussetzungen wissenschaftlicher Forschung . . . . . . . . . . . . . . . 71 Helmuth Schulze-Fielitz Naturwissenschaften als politikfreie Forschung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Carlos Ulises Moulines

Sektion III: Wissenschaft statt Politik? Politik durch Wissenschaft überholen – Der Atlantis-Traum der Aufklärer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Hasso Hofmann Können Bildungspolitiker planen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Hans Maier Politischer Wille oder ökonomisches Gesetz? Einige Anmerkungen zu einem großen Thema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Otmar Issing Prognose als Problem von Wissenschaft und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Oliver Lepsius

Sektion IV: Wissenschaft in der Politik? Rat und Entscheidung in deutschen Monarchien des 17. und 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Dietmar Willoweit Möglichkeiten und Grenzen der Politikberatung in Deutschland . . . . . . . . 219 Peter Graf Kielmansegg Gemeinwohl als Aufgabe von Politik und als Reflexionsbegriff der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Herfried Münkler Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

Vorwort

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m Jahre 2009 beging die Bayerische Akademie der Wissenschaften ihr 250jähriges Jubiläum. Zu den aus diesem Anlaß stattfindenden vielfältigen Veranstaltungen zählte auch die Tagung »Wissenschaft und Politik«, die der vorliegende Band dokumentiert. Die Vorträge wurden vom 14. bis 16. Oktober des vergangenen Jahres vor einem breiteren Publikum in der Akademie gehalten. Sie werden in durchweg überarbeiteter und mit einem Anmerkungsapparat versehener, zum Teil deutlich erweiterter Form der Öffentlichkeit vorgelegt. Über die Gründe, die ebenso naheliegende wie nur selten zusammenfassend und disziplinübergreifend erörterte Problematik des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik aufzugreifen, sowie über die dafür entwickelte Konzeption gibt die Einführung nähere Auskunft. Die Herausgeber danken den Autoren für ihre Bereitschaft zur Mitwirkung und die reibungslose Kooperation, die es zu unserer großen Freude ermöglicht hat, den Band binnen Jahresfrist zu publizieren. Für die redaktionelle Betreuung danken wir besonders herzlich Herrn cand. iur. David Kuch, Mitarbeiter am Würzburger Lehrstuhl für Rechtsphilosophie, Staatsund Verwaltungsrecht. Er hat nicht nur die Manuskripte mit großer Akkuratesse für den Druck vorbereitet sowie die Korrekturläufe genauestens überwacht, sondern auch das Sachverzeichnis erstellt. Für alle verbliebenen Mängel liegt die Verantwortung allein bei den Herausgebern. Würzburg/München, 12. Juni 2010 Horst Dreier und Dietmar Willoweit

Horst Dreier / Dietmar Willoweit

Zur Einführung

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issenschaft und Politik stehen in vielfacher, keineswegs leicht auf eine Formel zu reduzierender Relation zueinander. So kann etwa die mediale Berichterstattung über den Klimawandel und seine erfolgreiche Bekämpfung den Eindruck erwecken, es gebe insofern keine politische Gestaltungsfreiheit mehr, sondern angesichts der Erkenntnisse »der« Wissenschaft sei ein entsprechendes Maßnahmenpaket alternativlos von den Staaten umzusetzen. Während hier Wissenschaft die Politik zu ersetzen scheint, werden umgekehrt politische Entscheidungen auf nationaler wie supra- und internationaler Ebene, zum Beispiel im ökonomischen Bereich, von Fachwissenschaftlern nicht selten mit ungläubigem Kopfschütteln kommentiert. Existiert also, allgemeiner gefragt, ein Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaft und Politik – und ist dieses Verhältnis auch und gerade dann besonders prekär und erklärungsbedürftig, wenn sich Politik demokratisch legitimiert, also die Mehrheit darüber entscheidet, in welchem Maß Ergebnisse der Forschung in der Gesetzgebung Berücksichtigung finden und die öffentliche Meinung den dahin führenden Prozeß massiv beeinflußt? Die Bayerische Akademie der Wissenschaften hat sich bei den Planungen zu ihrem 250jährigen Jubiläum im Jahre 2009 dafür entschieden, diese bisher wenig thematisierte Problematik im Rahmen einer Tagung aus verschiedenen Perspektiven zu erörtern und das Verhältnis von Wissenschaft und Politik aus einer grundsätzlichen wissenschaftlichen Perspektive zu reflektieren. Gründe, dieses Verhältnis ein-

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mal prinzipieller in systematischer und historischer Weise und unter Einbeziehung mehrerer Disziplinen anzugehen, gibt es genug. Wir interessieren uns vor allem für die strukturellen Bezüge: Stehen Wissenschaft und Politik strikt getrennt nebeneinander, nur ihrer jeweiligen systemischen Eigenlogik und Eigenrationalität gehorchend? Oder lassen sich wechselseitige Bezugnahmen und Einflußmöglichkeiten bis hin zur völligen Substitution des einen Systems durch das andere ausmachen? Gibt es gar ein harmonisches Miteinander im Sinne kooperativer Gemeinwohlrealisierung? Natürlich kann und will der vorliegende Band nicht für sich in Anspruch nehmen, alle diese Fragen erschöpfend zu beantworten. Aber vielleicht kann er zu vertieftem Nachdenken über die Problematik anregen. 1. In der Sache heißt das, daß selbstverständlich Möglichkeiten und Grenzen der Politikberatung durch die Wissenschaft durchaus thematisiert werden, nämlich in der vierten Sektion: Wissenschaft in der Politik? Aber das geschieht nicht im Sinne einer konzeptionellen Optimierung von Politikberatung, sondern in beobachtender und analytischer Perspektive, um Voraussetzungen, Rahmenbedingungen und Risiken zu klären – auch und gerade unter Einbeziehung der langen historischen Tradition und der dort praktizierten Formen politischer Beratung, auf die selbst der absolute Fürst zurückgreifen mußte. Für die Gegenwart stellt sich insofern das zusätzliche Problem, welchen Stellenwert Rat und Räte, Enquete-Kommissionen und vergleichbare Gremien in einer demokratischen Staatsordnung einnehmen können und dürfen. Eine damit zusammenhängende kritische Frage könnte lauten, ob Wissenschaft hier möglicherweise zu einem reinen Zulieferer oder – schlimmer noch – zur reinen Legitimationsbeschaffungsinstanz wird. Das Gutachtenwesen ist da ein besonders heikler Punkt. Geraten Wissenschaftler heute vielleicht in die Gefahr, sich der wenig freundlichen Charakterisierung durch Bert Brecht anzuähneln, nach welcher sie ein »Geschlecht erfinderischer Zwerge (sind), die für alles gemietet werden können«? 2. Davor findet der Leser zwei Sektionen, die – ebenfalls mit Fragezeichen versehen  – »Wissenschaft statt Politik« und »Wissenschaft ohne Politik« überschrieben sind. Diese vielleicht etwas schematisch klingende Einteilung soll helfen, in sozusagen modellhafter Weise etwas mehr Klarheit über das Verhältnis zwischen diesen beiden Subsystemen unserer Gesellschaft zu gewinnen. Wissenschaft statt Politik steht dabei für das Ideal der Vernunft, die politische Entscheidung allein auf rationale Wissenschaft zu gründen und damit politisches Kalkül, die Bevorzugung partikularer Interessen und emotional geprägtes Handeln auszuschließen. Das ist ein großes Thema der Aufklärung, das sich sowohl auf der Ebene der Institutionen mit ihren Staatsratskollegien hochgebildeter Beamter wie auch in

zur einführung

der Staatstheorie verfolgen läßt. Unter den Autoren jener Epoche gilt Condorcet, wie Henning Ottmann es formuliert hat, als »Vorläufer aller Sozialtechniker und Sozialingenieure«, für die Politik und Moral letztlich zu bloßen Anwendungsbereichen »einer an sich schon richtigen Theorie« werden. Und doch steht er nicht allein. An die Stelle eines Gewirrs unterschiedlicher und feindlich gesonnener Werte – oder gar Konfessionen – tritt die höhere Einsicht unbezweifelbarer wissenschaftlicher Wahrheit. Erneut in den 1960er Jahren verbanden sich solche Vorstellungen unter dem kritischen Stichwort »Sozialtechnokratie« exemplarisch mit dem Namen Schelskys, der alle parteipolitischen Konflikte gewissermaßen abgelöst sah durch die in sich fraglosen technischen Fortschritte der wissenschaftlichen Zivilisation. Der überwältigende Erfolg ideologie- und systemneutraler Technologiefortschritte erspare uns Debatten um bestimmte Weltanschauungen und Wertkonflikte – so die Vorstellung. Das laute Parteigezänk verstummt und wird durch die leise schnurrende wissenschaftlich-technische Evolution der sozialen Systeme ersetzt. Aber auch wenn wir die mehr oder weniger vollständige Ersetzung der Politik durch die Wissenschaft nicht mitträumen, stellen sich doch auf einer etwas weniger grundsätzlichen Ebene Fragen nach dem Rationalisierungspotential der Politik, wenn man etwa an die Stichworte Planung und Prognose denkt. Wie stark kann Wissenschaft hier realistischerweise wirken, was kann sie wirklich bewirken, auf welchen Wegen kann sie auf die Politik einwirken? Und ist die Politik eigentlich gezwungen, sich der wissenschaftlichen Wahrheit zu beugen? Darf das politisch-juristische Gesetz ökonomische Gesetze ignorieren? Daß es diese Ignoranz gibt, beklagen viele. Aber gibt es nicht bei jeder Anwendung eines ökonomischen Gesetzes Gewinner und Verlierer? Und kann man diese wie bei einer mathematischen Formel miteinander verrechnen? Außerdem ließe sich ganz grundsätzlich fragen, ob Politik eigentlich unter Rationalitätsgebot steht. Sollte man das bejahen, schlösse sich die Folgefrage an, ob das nicht etwas Enteignendes für die Demokraten und politisch Aktiven hätte, auf deren Wollen und Wirken es dann insoweit gar nicht mehr ankäme. 3. Schließlich, um sich der zweiten Sektion zuzuwenden: Soll die Wissenschaft eine solche Rolle der Wegweisung überhaupt übernehmen? Oder gehört es nicht zu ihrem Wesen, sich der Politik gegenüber so autark und autonom wie möglich zu verhalten, institutionell wie personell? Muß Wissenschaft nicht, wenn sie nicht sich selbst und ihren Beruf verfehlen will, politikabstinent bleiben? Ist Wissenschaft ohne Politik nicht die einzig denkbare und wertvolle Form? Mit dem Postulat der Wertfreiheit der Wissenschaft hat der wirk- und wortmächtige Max Weber das entscheidende und lange nachhallende Stichwort gegeben – freilich eines, das oft genug mißverstanden und mißinterpretiert wurde. We-

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gen seiner zentralen Rolle konzentrieren sich die Ausführungen zum Thema ganz auf ihn und seine Konzeption, die für Wertungen der Wissenschaftler wie der Politiker mehr Raum lassen als gemeinhin vermutet. Beispielsweise sind politische Voraussetzungen der Wissenschaft und politische Anstöße für die Wissenschaft mit dem Wertfreiheitspostulat natürlich nicht sogleich dementiert. Sie werden daher eingehend in einem Folgereferat diskutiert, desgleichen die oft behauptete, aber keineswegs selbstverständliche Politikfreiheit der naturwissenschaftlichen Forschung. 4. Bleibt unsere erste Sektion mit der viel erörterten Frage Politik ohne Wissenschaft? Sie verhält sich gewissermaßen spiegelbildlich zur zweiten. Gibt es wirkliche und echte Politik nur dort, wo Leidenschaft und Kampf, Entscheidung und Wille dominieren, wo es um Mehrheit und nicht um Wahrheit, um voluntas und nicht um ratio geht? Findet nicht erst in der Dezision das Politische zu sich selbst? Besteht das proprium des Politischen nicht gerade in der Abwesenheit wissenschaftlich rationaler Begründung und Konzeption? Ein konsequent auf die Spitze getriebener Dezisionismus sucht den Grund und die Legitimität einer politischen Entscheidung womöglich nur in sich selbst, nicht in irgendwelchen Wahrheitsansprüchen. Gibt es solche pointierten Politikmodelle? Ist politisches Handeln solcher Art in der politischen Wirklichkeit überhaupt möglich? Diese Fragen stehen am Anfang des vorliegenden Buches. Sie durchziehen wie ein roter Faden auch die folgenden Kapitel.

Sektion I: Politik ohne Wissenschaft?

Henning Ottmann

Dezisionistische Modelle der Politik

I. Zum Dezisionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 II. Diskussion und Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 III. Diskurs und Dezision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

Dezisionisten wollen entscheiden, aber nicht diskutieren. Anhänger der Diskussion wollen diskutieren, aber nicht entscheiden. Gesucht wird im Folgenden nach diskussionsfreudigen Dezisionisten und entscheidungsfreudigen Anhängern der Diskussion. Die Alternative von Diskurs oder Dezision führt die politische Philosophie in Sackgassen, die zu vermeiden sind. Teil I des Artikels ist dem Dezisionismus gewidmet, Teil II Theorien der Diskussion und des Diskurses. Teil III versucht, Dezision und Diskurs zusammenzuführen.

I. Zum Dezisionismus Dezisionistische Theorien der Politik haben einen wahren Kern. Sie bestreiten – und das mit Recht –, daß es eine geschlossene Begründung von politischen Entscheidungen geben kann. Sie verweisen auf einen unableitbaren Rest aller Entscheidung, auf das, was der Philosoph Kierkegaard den »Sprung« genannt hat. Diese Behauptung der

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Dezisionisten, daß in einer Entscheidung immer ein rational nicht deduzierbarer Rest verbleibt, ist Rationalisten ein Ärgernis. Aber es ist eines, mit dem sie leben müssen. Richter sind keine Subsumtionsmaschinen, die das Recht mechanisch anwenden. Politische Entscheidungen sind keine Rechenaufgaben der rational choice. Entscheidungen sind immer ein Wagnis, und das ist einer der Gründe dafür, warum man eine gelungene Entscheidung lobt. Der Dezisionismus enthält einen wahren Kern. Ganz anders zu beurteilen ist die Frage, warum er so oft in pathetischer, dramatisierender Form auftritt. Die Dezision wird zum »Augenblick« der Entscheidung romantisiert1. Sie wird zu einem geradezu aus der Zeit fallenden Moment gemacht. Der Normalität des Lebens tritt das Pathos des Extremfalles gegenüber. »Entscheidung« und »Krise« sind engverwandte Begriffe. Eine Krise ist nicht nur ein Zustand. Sie ist auch so etwas wie der Moment, in dem die Entscheidung fällt. Der griechische Begriff »krisis« steht für die Wende einer Schlacht oder einer Krankheit2. Im Neuen Testament meint er sogar die letzte aller Entscheidungen: das Jüngste Gericht3. Im Staatsrecht war es Carl Schmitt, der auf die Krise von Weimar mit Hilfe eines Dezisionismus geantwortet hat. Die souveräne Entscheidung sollte die Antwort auf den »Ausnahmezustand« sein. »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet«, so lautet bekanntlich Schmitts Definition von Souveränität4. Heute ist es Giorgio Agamben, der in Büchern wie Homo sacer und Ausnahmezustand behauptet, der »Ausnahmezustand« sei nicht mehr länger die Ausnahme, sondern die Regel5. Die Souveränität verfüge über das »nackte Leben«, sei es des Komapatienten, sei es des Lagerinsassen, sei es des Terroristen. »Der Nomos der Moderne«, so Agamben, sei das Lager, in dem der Mensch jedes politischen Status entkleidet und auf das »nackte Leben« reduziert werde6. Agamben mischt Schmitt mit Benjamin und Foucault. Eine Weltkarriere dieser eigenartigen Mixtur dürfte unaufhaltsam sein. Gleichwohl darf man sagen, der Preis solcher Dramatisierungen ist hoch. Er besteht in der Verwischung jedes Unterschieds von Normalität und Ausnahmezustand. Ja, er führt darüber hinaus zur Verwischung des Unterschieds von Demokratie und Diktatur. Das gilt für Carl Schmitt und Giorgio Agamben in gleicher Weise.

Burkhard Conrad, Der Augenblick der Entscheidung. Zur Geschichte eines politischen Begriffs, 2000. 2 Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges (nach 431 v. Chr.), I, 23. 3 Joh 4, 24. 4 Carl Schmitt, Politische Theologie I, 2. Ausg. 1934, S. 11. 5 Giorgio Agamben, Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, 2002; ders., Ausnahmezustand, 2004. 6 Agamben, Homo (Fn. 5), S. 180. 1

dezisionistische modelle der politik

Woher stammt die Dramatisierung des Dezisionismus? Sie wird oft mit Weimar und der Krise der 20er Jahre verbunden. Aber das ist eine zu enge Perspektive. Schon das 19. Jahrhundert bietet mehrere Formen eines dramatisierenden Dezisionismus: politisch bei Donoso Cortés, ökonomisch bei Marx, religiös bei Kierkegaard, nihilistisch bei Nietzsche und wertrelativistisch bei Max Weber. Das 19. Jahrhundert sieht bereits den Dezisionismus von links und rechts. Aber auch das 19. Jahrhundert liefert noch nicht den richtigen Horizont, aus dem heraus man den Dezisionismus und seine dramatisierenden Formen erklären kann. Eigentlich ist es nämlich die Neuzeit als ganze, welche die dramatisierenden Formen des Dezisionismus hervorbringt. Der Dezisionismus ist ein Kind der Neuzeit, und es ist leicht einzusehen, warum das so ist. Die Neuzeit führt – Zug um Zug – zu einem Verlust traditioneller Überzeugungen und Gemeinsamkeiten. Das »Gesetz« hinter der Karriere des Dezisionismus läßt sich deshalb folgendermaßen formulieren: Wo Tradition und Gemeinsamkeit schwinden, wächst das Reich der Entscheidung. Je mehr Kontingenz, um so mehr Dezision7. Die Geburt des Dezisionismus aus der Krise von Tradition und Gemeinschaftlichkeit läßt sich bereits am Anfang der Neuzeit besichtigen: bei Machiavelli und bei Hobbes. Ihre Lehren sind eine Antwort auf unterschiedliche Krisen. Machiavelli antwortet auf die Krise der Stadtrepubliken und die Krise Italiens, Hobbes auf den konfessionellen Bürgerkrieg. Der eine prägt den ersten dezisionistischen Begriff neuzeitlicher politischer Philosophie: den Begriff der virtù; der andere will den konfessionellen Bürgerkrieg beenden durch die Dezision eines absoluten Souverän: »Auctoritas, non veritas facit legem«8. Machiavelli feiert die neuentdeckte Handlungsmacht des Menschen aus dem Geist des Humanismus und der Renaissance; der Mensch ordnet sich nicht mehr länger ein in eine von der Vorsehung gelenkte Geschichte, er will selber Herr seines Geschickes sein. Hobbes feiert den Schöpfer seiner eigenen Welt aus dem Geist der neuen Naturwissenschaft und Technik. Der Mensch des Hobbes’ ist ein artifex. Er schafft sich den künstlichen Körper des Staates, wie er überhaupt ein Schöpfer oder Konstrukteur seiner eigenen Welt sein will. Der Dezisionismus entsteht am Beginn der Neuzeit, und schon da ist zu sehen, er steigert die Krise statt sie zu beheben. Machiavelli opfert dem Kampf um Macht das Christentum und die traditionelle Moral. An die Stelle der traditionellen Lehre, daß man das Richtige tut, weil es richtig ist, tritt die Ausrichtung am Erfolg. Das honestum wird durch das utile ersetzt. Die Gelegenheit, die occasione, muß erkannt und am Schopfe gepackt werden, wenn das Handeln gelingen soll. Der Erfolg freilich steht auf des Messers Schneide, gehört doch der fortuna und ihrer Willkür 7 8

Vgl. Michael Th. Greven, Kontingenz und Dezision, 2000. Thomas Hobbes, Leviathan (1651), c. 26.

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die Hälfte des Erfolgs oder Mißerfolgs. Die virtù ist einerseits geprägt vom Stolz der Könnerschaft. Zu ihr gehört ein virtuoser Umgang mit der Macht, vergleichbar der Virtuosität des Künstlers der Renaissance. Sie ist zugleich Ausdruck einer neuen Verunsicherung. Wer die Gelegenheit nicht beim Schopfe ergreift, ist mit seinem Versagen ganz mit sich allein. Im Extremfall wird das Leben zu einer Kette verpaßter Gelegenheiten, über die rein gar nichts mehr zu trösten vermag. Cesare Borgia scheitert, obwohl er fast alles richtig macht, Castruccio Castracani scheitert, obwohl er alles richtig gemacht hat. Ein kalter Wind verursacht eine Erkältung. Er stirbt. Ein Windhauch der fortuna hat ihn hinweggerafft. Hobbes wiederum steigert die Krise des konfessionellen Bürgerkriegs auf seine Weise. Er setzt über die Wölfe des Naturzustandes einen Oberwolf. Sein Versuch einer rationalistisch-mechanistischen Begründung von Herrschaft endet in blankem Irrationalismus. Aus Angst vor »Mardern und Füchsen« begeben sich die Wölfe in die Klauen eines Löwen, wie schon John Locke mit Recht bemerkt9. Woher stammt überhaupt die voluntas des Souverän in der mechanistisch-rationalistischen Konstruktion des Leviathan? Sie stammt aus ganz anderen Quellen als aus der Hobbesschen Methodik und Mechanik. Die voluntas des Souverän weist zurück auf einen mittelalterlichen Ursprung allen Dezisionismus: auf den Nominalismus und auf seine Lehre von der Allmacht Gottes und der Kontingenz der Welt. Nach Duns Scotus und nach Ockham hätte Gott auch eine ganz andere Welt erschaffen können als diese. Gott kann mit seinen Geschöpfen verfahren, wie er will. Gott ist, wie es bei Ockham heißt, »niemandes Schuldner«10. Man begegnet an dieser Stelle der Ursünde der neuzeitlichen politischen Philosophie: der Übertragung theologischer Begriffe in die Politik11. Bei Hobbes geschieht dies, indem die Allmacht und die Willkür des nominalistischen Gottes auf den Souverän übertragen wird, bei Rousseau geschieht dies, indem der unfehlbare Wille Gottes zum Modell der volonté générale gemacht wird. Die Politik wird mit Begriffen belastet, die einen enormen Endlichkeitsüberschuß besitzen. Es sind Begriffe, die keinem menschlichen Willen passen, sondern dem göttlichen Willen entwendet worden sind. Machiavelli und Hobbes bezeugen beide das, was Blumenberg den »Teleologieschwund« der Neuzeit genannt hat. Bei Machiavelli schwindet der Glaube an eine Zielrichtung der Geschichte, bei Hobbes der Glaube an eine Zielrichtung der Natur. Bei dem einen wird die Geschichte zu einem Auf und Ab der Mächte, beim anderen 9 John Locke, Second Treatise (1689), § 93. 10 Wilhelm v. Ockham, Sentenzenkommentar (1317–1324), IV qu. 3. 11 Henning Ottmann, Politische Theologie als Begriffsgeschichte. Oder: Wie man die politischen Be-

griffe der Neuzeit theologisch erklären kann, in: Volker Gerhardt (Hrsg.), Der Begriff der Politik, 1990, S. 169–188.

dezisionistische modelle der politik

wird die Natur zum Material der Konstruktion und Herrschaft. Hobbes hat – in diesem Sinne konsequent – die Zielrichtung des Handelns durch die Steigerung ersetzt. Das Glück ein »Fortschreiten des Verlangens« von einem Gut zum anderen, die Macht das, was an sich dynamisch ist und sich in der Steigerung offenbart12. Die Macht des Subjekts ist bei Hobbes allerdings – ähnlich wie bei Machiavelli – mit neuer Ohnmacht gepaart: der Mensch ein Körper unter Körpern, von den Leidenschaften getrieben, ja determiniert, das eigentliche Subjekt die Macht, die sich selber zu steigern vermag (ein Vorgang übrigens, der im Rahmen des Hobbesschen mechanistischen Denkens überhaupt nicht zu erklären ist). Die endgültige dramatische Zuspitzung des Dezisionismus muß entstehen, wenn Tradition und Gemeinschaftlichkeit bis zur tabula rasa des Nihilismus abgeschmolzen sind. Dann ist die Lage erreicht, in welcher Heidegger seine Philosophie der Entschlossenheit, Ernst Jünger die »totale Mobilmachung« oder Carl Schmitt seinen politischen Existenzialismus entwickeln kann13. Das Daß der Entscheidung gewinnt dann die Oberhand über jeglichen Inhalt. Die Faktizität siegt über alle Normativität, die Existenz über das Wesen. Jede Entscheidung soll nun besser sein als keine, und bekanntlich hat ein Hörer nach dem Hören einer Heidegger-Vorlesung zu Löwith gesagt: »Ich bin entschlossen, ich weiß nur noch nicht, wozu«. In Carl Schmitts Begriff des Politischen kehrt Machiavellis Okkasionalismus wieder, auch Hobbes’ souveräne Dezision, die Entscheidung aus dem normativen Nichts. Der Unterschied zu den Begründern der neuzeitlichen politischen Philosophie liegt nur darin, daß bei Schmitt auch noch jene Bestände abgeräumt sind, die bei Machiavelli oder Hobbes den Dezisionismus noch gemildert haben. Bei Machiavelli waren dies die Verehrung der Alten und die pragmatische Auffassung der Geschichte, bei Hobbes war es die Hoffnung, in der Zivilreligion noch einen Rest an nachreformatorischer Gemeinsamkeit finden zu können. Nach der Deutung Carl Schmitts ist die Neuzeit die Epoche, in der von Jahrhundert zu Jahrhundert jeweils eine Basis der Gemeinsamkeit entfällt14. Es wird entkonfessionalisiert, entmetaphysiziert, entmoralisiert, entökonomisiert, bis irgendwann nur noch die Ententung selber entfallen kann, weil es nichts mehr zu ententen gibt15. In jedem Jahrhundert wird ein Streitgebiet aus dem politischen Streit gezogen. Aber damit steht es als Basis der Gemeinsamkeit und der Verständigung auch nicht mehr zur Verfügung. 12 Hobbes, Leviathan (Fn. 8), c. 11. 13 Christian Graf Krockow, Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt,

Martin Heidegger, 1958. 14 Carl Schmitt, Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen (1929), in: ders., Der Be-

griff des Politischen (1932), 1963, S. 79–95 (79 ff.). 15 Die schon geradezu dadaistisch klingende, gegen Blumenbergs Theorie der Neuzeit gerichtete »Ent-

entungslehre« in Carl Schmitt, Politische Theologie II, 1970, S. 124 f.

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Vom 16. bis zum 20. Jahrhundert werden nacheinander Religion – Metaphysik – Moral und Ökonomie aus dem Streit gezogen. Sie werden neutralisiert. Im 20. Jahrhundert ist man bei der Technik angelangt. Aber diese ist, so Schmitt, nur ein scheinbar neutraler Boden, keine Sphäre reiner Sachlichkeit, sondern, so Schmitt, der »Massenglaube eines antireligiösen Diesseits-Aktivismus«16. Ein technokratischer Dezisionismus, wie ihn Arnold Gehlen oder Helmut Schelsky propagiert haben, läßt sich bei Schmitt nicht finden. Auch die Technik befriedet den politischen Streit nicht. Sie gerät selber in den politischen Streit, wie es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dann auch zu bemerken war. Schmitts Dezisionismus basiert auf einem politischen Existentialismus. Er ist geprägt vom Pathos eines Kampfes um Sein oder Nicht-Sein, eines Kampfes auf Leben und Tod. Zu ihm gehört das berühmte »Kriterium des Politischen«: »die Unterscheidung von Freund und Feind«17. Manche der Einwände, die gegen diese Lehre erhoben werden, machen sich die Kritik zu einfach. Es ist allzu einfache Antithetik, wenn Sternberger Schmitts angeblichem Bellizismus eine Lehre vom Frieden als dem Grund, dem Ziel und der Norm des Politischen gegenüberstellt18. Es ist allzu einfach zu behaupten, Schmitt gehe vom Primat der Feindschaft aus und das sei so, als ob man eine Ehe von der Scheidung her begreife19. Bei Schmitt bleibt das Ziel der Politik der Frieden. Schmitt ist kein Bellizist. Er will nur mit der »realen Möglichkeit« des Ausnahmefalles rechnen20. Der Ausnahmezustand ist bei Schmitt – anders als bei Agamben – noch die Ausnahme und nicht der faktisch herrschende Allgemeinzustand. Für Schmitt hat der Ausnahmezustand hauptsächlich erkenntnistheoretische Funktion, so wie ein Arzt ja auch die Krankheiten studiert. Der Feind ist bei Schmitt weder zu verhäßlichen noch zu verteufeln, er ist keine moralische, keine ökonomische, keine ästhetische Kategorie. Im Nachkriegswerk finden sich Versuche, eine Theorie der »Anerkennung« des Feindes zu entwickeln21, wie denn auch Schmitts Völkerrecht an den iustus hostis erinnert und diesem die Kriminalisierung des Feindes und den diskriminierenden Krieg des 20. Jahrhunderts gegenüberstellt22. Schmitts Einseitigkeiten liegen anderswo. Sie liegen in einer allzu schroffen Entgegensetzung von Rechtsstaat und Demokratie, von Diskussion und Dezision. Diese Entgegensetzung prägt die Parlamentarismuskritik, die von den vielen Aufgaben ei16 Schmitt, Zeitalter (Fn. 14), S. 93. 17 Schmitt, Begriff (Fn. 14), S. 26. 18 Dolf Sternberger, Der Begriff des Politischen. Der Friede als Grund und Merkmal und die Norm des

Politischen, 1961. Dolf Sternberger, Der Begriff des Politischen, 1961, S. 21. Schmitt, Begriff (Fn. 14), S. 34. So etwa Carl Schmitt, Ex captivitate salus, 1947. Carl Schmitt, Der Nomos der Erde, 1950.

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dezisionistische modelle der politik

nes Parlaments nur Diskussion und Überzeugung übrig läßt und sie mit den Verhandlungen hinter verschlossenen Türen und den Fensterreden konfrontiert23. Schon bei Schmitt, nicht erst bei Agamben, werden Demokratie und Diktatur einander angeglichen, bei Schmitt sicher zunächst im Sinne einer Stärkung des Reichspräsidenten und einer bis Juli 1932 deutlichen Abgrenzung gegenüber der KPD und der NSDAP. Der Anti-Normativismus wird von Schmitt nicht durchgehalten. Wie Helmut Kuhn und Leo Strauss demonstrieren, geht es Schmitt um eine »Bejahung« des Politischen24. Der Ernst des Politischen ist für Schmitt durch die liberalen Entpolitisierungen und die Herabwürdigung der Politik zur Unterhaltung gefährdet. Der Feind ist nicht einfach »da«, nicht einfach Feind durch sein bloßes Dasein. Der Feind wird auch zum Feind gemacht. Hinter Schmitts politischem Existentialismus stehen nicht nur die Bestandsverluste der Neuzeit. Dahinter steht Schmitts politische Theologie. Erst auf dieser Ebene wird man die Dramatisierung des Schmittschen Dezisionismus recht verstehen. Schmitt benutzt die politische Theologie zur Dramatisierung der Politik, statt daß er mit ihrer Hilfe Politik relativieren und zu einem vorletzten Ziel menschlichen Handelns depotenzieren würde. Politik – so meine Definition – ist die Kunst der Regelung vorletzter Dinge, während die Religion zuständig für letzte Fragen ist. Für den Christen ist die eigentliche Entscheidung längst gefallen, die Tat der Erlösung vollbracht. Das Ende ist extra nos. Es ist nicht verfügbar. In diesem Sinne kann das Christentum die Politik von letzten Fragen entlasten. Bei Schmitt ist dies anders. Die Neuzeit wird ihm zum Drama der Subjektivität. Sie wird zum Drama eines sich selbst ermächtigenden Subjekts, das Gott Zug um Zug entmachtet und seine Willkürfreiheit durch die säkularistische Entmachtung Gottes gewinnt. Die Stufen dieses politisch-theologischen Dramas sind folgende: Theismus und Absolutismus; Deismus und Rechtsstaat; ni Dieu ni maître; kein Gott – kein oberster Wert, ein Ende mit Webers »Polytheismus« der Werte und Kelsens wertskeptizistischer Demokratie25. Die Neuzeit legitimiert sich für Schmitt – anders als für Blumenberg – nicht aus sich. Sie ist nach Schmitt der Aufstand des Sohnes gegen den Vater, eine Epoche, auf die eher die gnostische Entgegensetzung von Schöpfer- und Erlösergott paßt, als daß sie (wie bei Blumenberg) aus sich selbst gerechtfertigt wäre. 23 Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 1923. 24 Helmut Kuhn, Politik, existenzphilosophisch verstanden. Eine Auseinandersetzung mit Carl

Schmitts »Der Begriff des Politischen« (1933), in: ders., Der Staat. Eine philosophische Darstellung, 1967, S. 447–460 (456); Leo Strauss, Anmerkungen zu Carl Schmitt (1932), in: Heinrich Meier, Carl Schmitt, Leo Strauss und »Der Begriff des Politischen«, 1988, S. 97–125 (114). 25 Diese vier Stadien lassen sich aus Schmitts Darstellung von Donoso Cortés und dessen Ensayo (1851) folgern. Schmitt, Theologie I (Fn. 4), S. 67 ff.; Juan Donoso Cortés, Essay über den Katholizismus, den Liberalismus und den Sozialismus (1851), hrsgg. v. Günter Maschke, 1989.

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II. Diskussion und Diskurs Blicken wir auf die andere Seite, auf die Versuche, die Dezision zu hegen, sei es durch Verfahren; sei es durch Vorsorge, die auf den Ausnahmefall vorausblickt; sei es durch Diskussion und Deliberation. Übergangen werden im Folgenden die postmodernen Varianten des »Diskurses«. Sie führen meines Erachtens zu einem ungewollten Dezisionismus. Bei Lyotard entsteht aus der Unfähigkeit, aus der einen Diskursart in die andere überzugehen, ungewollt die Herrschaft des stärksten oder lautesten Diskurses26. Bei Derrida wird der irrationale Rest jeder Entscheidung derart gesteigert, daß es zu einer Entscheidung ohne Grund und Regel kommt, zum »Richter ohne Gesetzbuch«27. Aber wenn man überhaupt keinen Grund zur Entscheidung hat, braucht man sich auch gar nicht zu entscheiden. Mehr als die postmodernen Varianten eines ungewollten Dezisionismus interessieren im folgenden jene Formen des Diskurses, die Habermassianisch oder Rawlssianisch um den Begriff der deliberativen Demokratie kreisen. In ihnen zeigt sich, so die These, eine Übersteigerung der Erwartung, die wir an Diskurs und Diskussion richten können. Zwar ist es eine alte Lehre, daß die Exekutive agiert und das Parlament deliberiert. Aber der Anspruch an die Deliberation wird heute, etwa bei Jürgen Habermas, dadurch gesteigert, daß die große außerparlamentarische Öffentlichkeit ins Spiel gebracht wird. Die »kommunikative Macht« wird gegen die »administrative« in Stellung gebracht28. Politische Kommunikation wird dabei nicht dargestellt, wie sie ist (rhetorisch, um Wählerstimmen werbend, Schlagworte und Enthymeme benutzend). Sie wird vielmehr idealisiert, wie sie denn wäre, wenn freie und gleiche Personen allein dem »zwanglosen Zwang des besseren Argumentes« (Habermas) folgen würden, wenn alle die gleichen Redechancen besäßen und wenn niemand vom öffentlichen Diskurs ausgeschlossen wäre. Theorien der deliberativen Demokratie sind meistens von folgenden Postulaten geprägt: von der Forderung nach Gleichheit und Inklusivität, nach Zwanglosigkeit und verständigungsorientierter Kommunikation29. Diese Forderungen reiben sich an der faktisch existierenden Welt der Massenkommunikation. Sie basieren zudem – quasi seitenverkehrt zu den Dramatisierungen des Dezisionismus – auf überspannten Vorstellungen von dem, was Diskurs und Diskussion zu leisten vermögen. Erwähnt seien drei solcher übertriebener Erwartungen. Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen, 1986. Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, 1991. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, S. 180 ff. James Bohmann / William Rehg (Ed.), Deliberative Democracy, 1997; Jon Elster (Ed.), Deliberative Democracy, Cambridge 1998; John S. Dryzek, Deliberative Democracy and Beyond, 2000; James S. Fishkin / Peter Laslett (Ed.), Debating Deliberative Democracy, 2003.

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Erstens, die Konsenserwartung ist zu hoch. Es wird angenommen, daß das Miteinander-Reden konsensstiftend wirkt. Es wird vergessen, daß man die Grundlagen der Gemeinschaftlichkeit auch zerreden kann. Aristoteles wollte noch den Weg von der sprachlichen Verständigung zur Gemeinschaft gehen. Vom zoōn logon echon zur Polis, »from communication to community«. Hobbes, der den konfessionellen Bürgerkrieg vor Augen hat, den Krieg um Worte, geht diesen Weg nicht mehr. Die Zunge, schreibt er, sei die »Trompete des Aufruhrs«30. Das Miteinander-Reden kann Menschen zusammenführen. Es kann sie genauso gut voneinander trennen. Es kann ihnen so ergehen wie dem Ehepaar, das eine Paartherapie aufsucht und dabei feststellt, daß es noch mehr Differenzen hat, als sie ihm zuvor bewußt gewesen sind. Zweitens, die Rationalitätserwartung ist zu hoch angesetzt. Der politische Diskurs ist nicht der wissenschaftliche. Der wissenschaftliche Diskurs kann eine Gelehrtenrepublik fingieren. Er kann ausgehen von der Gleichheit der Teilnehmer, von Inklusivität, von der Zwanglosigkeit des besseren Arguments. Die Wissenschaft erlaubt es, Themen immer wieder aufzugreifen. Man kann sich dem »ewigen Gespräch« der Geister annähern. In der Politik ist dies anders. Die Gleichheit der Diskursteilnehmer ist nicht gegeben. Zwischen Herrn Augstein und Herrn Müller herrscht keine Waffengleichheit. In der Politik haben Themen ihre Karriere und ihre Zeit. (Heute stirbt der deutsche Wald offenbar nicht mehr.) In der Politik muß am Ende einer Debatte eine Entscheidung stehen. Politische Diskussionen stehen unter dem Druck der Zeit. Sie werden nicht erst beendet, wenn der Pförtner nach Hause will, sondern wenn die Redezeit abgelaufen ist. Drittens, die Diskurs- und Deliberationstheorien geben dem Diskurs zu viel, den vordiskursiven Voraussetzungen aller Diskurse zuwenig. Solche vordiskursiven Voraussetzungen sind: der Wille zur Verständigung; der Respekt vor der anderen Meinung; die Ernsthaftigkeit, sich an die eigenen Worte gebunden zu fühlen; der Wille, friedlich und freundschaftlich miteinander leben zu wollen. Das alles liegt den Diskursen schon voraus. Es läßt sich durch diese nicht herbeireden, auch durch Dauerrede nicht. Dezisionismus und Diskurstheorie zeigen ein seltsames Spiegelbild. Beide sind sie Kinder der neuzeitlichen Verluste an Tradition und Gemeinschaftlichkeit. So wie das Reich der Dezision wächst, je mehr Kontingenz auftritt, um so mehr wächst auch das Reich der Diskussion. Man kann sich die Horrorvorstellung ausmalen, daß wir über immer mehr miteinander reden müssen, weil wir immer weniger gemeinsam haben. Dezision und Diskussion sind so etwas wie feindliche Brüder, auch wenn sie alles daran setzen, eine Verwandtschaft zu bestreiten. Beiden möchte man zurufen: 30 Thomas Hobbes, De cive (lat. 1642, engl. 1651), c. 5, 5: »But the tongue of man is a trumpet of

warre, and sedition«.

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Rechnet mit den Beständen! Habt mehr Respekt vor dem, was noch gemeinsame Bestände traditioneller Überzeugungen sind! Seid so mutig, eine hermeneutische Vermutung für die Vernünftigkeit des Bestehenden zu wagen! Tut ihr dies nicht, werdet ihr zu immer mehr Diskussion und Dezision verurteilt sein!

III. Diskurs und Dezision Gesucht wird die Vermittlung des Gegensatzes. Reden wir den feindlichen Brüdern zu, daß sie ihre Verwandtschaft erkennen und sich umarmen können. Vereint sind sie stärker als allein. Vielleicht immer noch nicht stark genug, um eine zureichende politische Philosophie begründen zu können. Aber in der Vereinigung sind sie doch vor den Gefahren eines Irrationalismus und einer übermäßigen Rationalitätserwartung gefeit. Beginnen wir mit den Freunden der Diskussion und der Deliberation. Fragen wir sie, warum sie Dezisionen so wenig attraktiv finden. Entscheidungen lassen sich erstens nicht vermeiden. Zweitens dokumentiert sich in ihnen etwas vom Stolz des Subjekts, Herr seines Lebens und Herr der Lage zu sein. Dezisionen setzen die Freiheit des Sich-Entscheiden-Könnens voraus. Diese wurde, wie so vieles, von den Griechen entdeckt. Schon die Helden Homers entscheiden sich. Bruno Snell hatte dies bestritten31. Aber wenn – um die Ursituation der Entscheidung aufzugreifen – Achill sein Schwert aus der Scheide ziehen will, wenn ihn die Göttin Athene am Haarschopf packt und ihm zuflüstert »Ziehe dein Schwert nicht!«, dann ist es nur scheinbar die Göttin, die entscheidet. Nur Achill kann die Göttin überhaupt sehen. Niemand außer ihm nimmt sie wahr. Der Held ist mit dem Drama seiner Seele allein. Entscheidungen gehören zum Stolz des Subjekts. Auf sie verzichten zu wollen, wäre gleichbedeutend mit dem Verzicht auf die Subjektivität selbst. Es sei erinnert an die durch die Jahrhunderte gehende Geschichte von Herakles am Scheidewege, das Urmodell aller Entscheidung zwischen Tugend und Laster. Nach der Erzählung des Prodikos, die Xenophon überliefert, sitzt Herakles an einer Wegegabelung. Ihm nähern sich zwei Frauen. Die eine verspricht ihm ein Leben des Genusses und Müßig-

31 Bruno Snell, Das Bewußtsein von eigenen Entscheidungen im frühen Griechentum, in: ders., Gesammelte Schriften, 1966, S. 18–31; Snell verteidigend Reinhold Merkelbach, Achill, Herkules und Paris oder: Äußere und innere Motivierung der Entscheidung bei den Griechen, in: Wolfgang Blümel u. a. (Hrsg.), Hestia und Erigone. Vorträge und Aufsätze, 1996, S. 1–16; überzeugender die Plädoyers für die Entscheidungsfähigkeit: Christian Voigt, Überlegung und Entscheidung. Studien zur Selbsterfassung des Menschen bei Homer, 1934; Richard Gaskin, Do Homeric Heroes Make Real Decisions?, in: The Classical Quarterly 34 (1984), S. 17–36.

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gangs, die andere ein Leben der Tugend und der Mühe32. Herakles in bivio – das weist zurück auf das Y der Pythagoreer, das ähnelt der »engen und der weiten Pforte«, von der im Lukas-Evangelium die Rede ist33. Panofsky hat gezeigt, wie das Herakles-Motiv von Künstlern der Renaissance und des Barock immer wieder aufgegriffen wird: von Dürer, Raffael, Carracci, Veronese, Bandinelli, Reni, Pollaiuolo, Rubens und vielen anderen34. Herakles wurde ein Bestandteil der Fürstenmythologie. Man findet ihn in Versailles und in Kassel, auf den Wandteppichen der Münchner Residenz und des Vortragssaales der Bayerischen Akademie der Wissenschaften; in den Tondi der Landshuter Stadtresidenz. Maximilian wollte ein Hercules Germanicus sein, und Aventinus hat den Hercules Alemanus, den Ahnherrn der Bayern kreiert35. Entscheidungen haben zu tun mit Ruhm und Ehre, ein Thema, das in der postheroischen Gesellschaft von heute seltsam inaktuell geworden ist. Politische Entscheidungen stehen unter dem Druck der Lage und der Zeit. Der Graben zwischen ratio und voluntas muß übersprungen werden, und daß der Sprung gelingt, das setzt Urteilskraft, Mut, Willensstärke und Selbstvertrauen voraus. Es sei verwiesen auf die Wiedervereinigungspolitik Helmut Kohls. Sie wurde in einem denkbar kleinen Zeitfenster unter Dach und Fach gebracht. Es sei erinnert an Helmut Schmidts Bewältigung der Hamburger Flutkatastrophe. Beides Beispiele der Dezision, die bewunderungswürdig sind. Wenden wir uns der anderen Seite zu, den Freunden der Dezision! Sie seien gefragt, warum sie eine Art Wasserscheu vor Diskussion und Deliberation entwickeln. Das Miteinander-Reden ist seit den Griechen die wichtigste Form, in die nie restlos vernünftigen Entscheidungen so viel Vernunft wie möglich zu bringen. Warum dies 32 Xenophon, Memorabilien (nach 399 v. Chr.), II, 1, 21–23; David Sansone, Heracles at the Y, in:

Journal of Hellenic Studies 124 (2004), S. 125–142. 33 Luk 13, 24. 34 Erwin Panofsky, Hercules am Scheidewege und andere antike Bildstoffe in der neueren Kunst

(1930). Mit einem Nachwort zur Neuauflage von Dieter Wuttke, 1997. 35 Aus der reichhaltigen Literatur über Herakles als Herrscherideal in Literatur und Kunst seien nur

folgende Titel genannt: Theodore Reff, Pupet’s Gallic Hercules, in: Journal of the Warburg and Coustauld Institutes 29 (1966), S. 250–263; Marc René Jung, Hercule dans la litterature française du XVIe siècle, 1966; Richard Galinsky, The Herakles Theme. The Adaptations of the Hero from Homer to the Twentieth Century, 1972; Wolfger A. Bulst, Der ›Italienische Saal‹ der Landshuter Stadtresidenz und sein Darstellungsprogramm, in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst 26 (1975), S. 123–176; Rainer Vollkommer, Herakles – die Geburt eines Vorbildes und sein Fortbestehen bis in die Neuzeit, in: Idea 6 (1987), S. 7–29; ders., Herakles in the Art of Classical Greece, 1988; Karl Schefold / Franz Jung, Die Urkönige, Perseus, Bellerophon, Herakles und Theseus in der klassischen und hellenistischen Kunst, 1988; Hans Ottomeyer (Hrsg.), Herkules. Tugendbild und Herrscherideal. Das Herkulesmonument in Kassel-Wilhelmshöhe, Ausstellungskatalog, 1997; Uwe Fleckner, Paul Delaroches’ ›Napoleon I. in Fontainebleau‹ und die Ikonographie des Gallischen Herkules, in: ders. u. a. (Hrsg.), Jenseits der Grenzen, Bd. 2, 2000, S. 145–167; Natalie Volle, L’apothéose d’Hercule’ à Versailles, in: Revue du Louvre 4 (2001), S. 79–85. Sabine Heym / Willibald Sauerländer, Herkules besiegt die Lernäische Hydra, 2006.

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verwerfen? Schon die Aristotelische Philosophie bietet mit ihrer Klugheitslehre das Modell einer Politik, die erstens aus Beratung hervorgeht und zweitens die Beratung immer schon auf die zu fällende Entscheidung ausrichtet36. Das unterscheidet die alte Klugheitslehre von den neueren Diskurstheorien. Aristoteles ersetzt die platonische Expertokratie durch eine Summationstheorie37. Die Summe der Urteile der Normalbürger ist demnach dem Urteil der Fachleute gleichwertig oder sogar überlegen. Experten für Politik sind wir alle, und ob das Essen schmeckt, entscheidet nicht der Koch, sondern der Gast. Die Freunde der Dezision seien gefragt, ob denn jeder Tag der große Tag der Entscheidung ist. Wird denn jeden Tag geheiratet, ein Beruf gewählt, eine Konversion vollzogen oder ein Krieg erklärt? Mit dem Pathos der großen Entscheidung von Tag zu Tag leben zu wollen, ist eine Überspannung des Daseins38. Die Normalform des Ethos ist die Gewohnheit, daß man das tut, was gewöhnlicherweise, da wo man wohnt, getan wird. Der Spielraum politischen Handelns scheint heutzutage sowieso recht klein geworden zu sein. Die Verfassung ist schon gegeben. Der Haushalt liegt größtenteils fest. Die Koalitionen fordern ihren Preis. Manche Systeme scheinen sogar ganz von selber zu laufen. Sie sind diskurs- und dezisionsentlastet, seltsam selbständig, Debakel der Subjektivität, die in ihnen rein gar nichts mehr zu besorgen hat. Entscheidungen sind der Stolz des Subjekts. Sie sind aber ebenso eine Last. Wie gerne würden wir das Eine tun und doch das Andere nicht lassen! Mit jeder Entscheidung wird das Reich der Möglichkeiten kleiner und ärmer. Jede Entscheidung ist eine Festlegung. Jede Entscheidung ist ein Fehler. Man muß nicht gleich an tragische Entscheidungen denken, für die der Satz »jede Entscheidung ist ein Fehler« uneingeschränkt gilt. Auch ein ganz gewöhnlicher Lebenslauf hat an der Last der Entscheidung zu tragen. Vergleichen Sie doch einmal, wie viele Möglichkeiten Sie hatten, als Sie jung waren, und wie dieses Reich der Möglichkeiten Jahr um Jahr geschmolzen ist! Das Leben ähnelt da einem Film, an dessen Ende das Bild klein und kleiner wird, bis es auf einen Punkt zusammenschmilzt, von dem man dann sagt: »das war dein Leben«. Dezisionisten glauben an Wunder, und das sei ihnen, soweit sie es religiös verstehen, unbenommen. Fragwürdig ist der Übergang vom Wunder zum Ausnahme36 Das Klugheitswissen (phronesis) ist bei Aristoteles epitaktisch. Es befiehlt, während der bloßen Ver-

ständigkeit (synesis) nur eine Urteilsfunktion zukommt (Nikomachische Ethik VI, 11). 37 Politik III, 11. 38 In diesem Sinne schließen sich meine Überlegungen an die Versuche an, eine entspannte Form des

Dezisionismus zu finden. Siehe Hermann Lübbe, Zur Theorie der Entscheidung (1965), in: ders., Theorie und Entscheidung, 1971, S. 7–31; Christian Schwaabe, Liberalismus und Dezisionismus. Zur Rehabilitierung eines liberalen Dezisionismus im Anschluß an Carl Schmitt, Jacques Derrida und Hermann Lübbe, in: Politisches Denken (2001), S. 175–201.

dezisionistische modelle der politik

zustand. Zwar existiert eine gewisse Parallelität. Das Wunder durchbricht das Naturgesetz so wie der Ausnahmezustand die gesetzliche Norm. Bei jeder Ausnahme ist jedoch erst einmal zu fragen, ob sie denn eine Ausnahme von der Norm oder nicht nur die Ausnahme der Norm ist. Die Billigkeit beispielsweise ist nach klassischer Lehre keine Ausnahme von der Gerechtigkeit. Sie ist vielmehr etwas, was zu dieser selbst gehört. Das Beispiel, das manche momentan zur Bestätigung des Ausnahmezustandes heranziehen, der Terrorismus, rechtfertigt es nicht, von einem globalen Ausnahmezustand auszugehen. Wer im Namen dieses Ausnahmezustandes das Recht selber suspendiert, geht dem Terroristen damit in die Falle. Er bestätigt ihm genau das Bild, das dieser von seinem Feinde hat. Alle Norm stammt aus der Normalität, und um diese, nicht um die Ausnahme sollten wir besorgt sein.

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Der Begriff des Politischen bei den politikwissenschaftlichen Klassikern des 20. Jahrhunderts

I. II. III. IV. V.

Der Begriff des Politischen und das Kriterium der Macht . . . . . . . . . . . . . . Die existentielle Revolte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politik und Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Normativität des Politischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlußbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Geschichte der Politischen Wissenschaft ist die Geschichte von Bemühungen, den Gegenstand des Fachs auf den Begriff zu bringen. Dies gehört insbesondere zum Geschäft der Politischen Theorie, insoweit sie sich den vorletzten Fragen zuwendet: Was ist das Politische? Wie kann man das Politische definieren? Und kann man es überhaupt definieren? In den unterschiedlichen Versuchen spiegeln sich zugleich die Theorien und die Methoden der verschiedenen Richtungen. Es sind vor allem die klassischen Autoren des Fachs, die sich mit den vorletzten Fragen beschäftigt haben1. Dabei gingen die Antworten zumeist schon an der Wurzel auseinander. Schon ein kurzer Blick auf die Geschichte der Bemühungen zeigt eine bunte Vielfalt von Begriffen und Wortbedeutungen: mal ist die Politik das Streben nach Macht, mal das 1 Vgl. nur Julien Freund, Qu’est-ce que la politique?, Paris 1967; Hannah Arendt, Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß, hrsgg. v. Ursula Ludz, 2003.

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Handeln des Staates, mal die Kunst des Möglichen, mal das Formulieren von kollektiv verbindlichen Entscheidungen, mal die Bewahrung des Friedens. Fast könnte man meinen, hier sei von ganz verschiedenen Dingen die Rede. Dies charakterisiert bereits die Lage kurz vor Beginn des 20. Jahrhunderts. In seiner Abhandlung Über den wissenschaftlichen Begriff der Politik resümiert Albert Schäffle die Klage vieler Kollegen, »dass sie die Frage sozialwissenschaftlich nicht beantwortet finden und dass man auch in staatswissenschaftlichen Werken nach einer scharfen Begriffsbestimmung und Auseinandersetzung des Wesens der Politik fast vergeblich suche und Uebereinstimmung darüber nirgends anzutreffen sei«. Das liege daran, daß »nicht bloss im gemeinen Sprachgebrauch, sondern auch in der Wissenschaft die Politik ein höchst schwankender Begriff ist, ein vielgestaltiger Proteus, welcher jedes Versuches einer festen Anpassung zu spotten scheint, ein gummiartiges Ding, welches sich beliebig dehnen und zusammenziehen lässt«2. An dieser amorphen Lage hat sich im Laufe der letzten hundert Jahre nicht viel geändert. Folgt man Reinhart Koselleck, dann liegt die semantische Vielfalt der meisten zentralen politischen Begriffe gewissermaßen in der Natur der Sache: Da sich hier »die Fülle eines politisch-sozialen Bedeutungs- und Erfahrungszusammenhanges« kristallisiert, muß der Begriff »vieldeutig bleiben, um ein Begriff sein zu können«3. Im folgenden soll diese Vieldeutigkeit des Politikbegriffs bei den klassischen Autoren des 20. Jahrhunderts etwas genauer in den Blick genommen werden, um der Frage nachzugehen, ob sich in ihr nicht dennoch spezifische Typen oder Entwicklungslinien erkennen lassen.

I. Der Begriff des Politischen und das Kriterium der Macht Die Geschichte des Politikbegriffs im 20. Jahrhundert beginnt mit einem starken Auftakt. Gegen die zitierte pessimistische Bestandsaufnahme Albert Schäffles stellt Georg Jellinek drei Jahre später in seiner Allgemeinen Staatslehre (1900) eine apodiktische, prägnante Formel: »›Politisch‹ heißt ›staatlich‹; im Begriff des Politischen hat man bereits den Begriff des Staates gedacht.«4 Das markante Publikationsjahr der Allgemeinen Staatslehre bringt es mit sich, daß mit diesem Satz die Geschichte des

Albert Schäffle, Über den wissenschaftlichen Begriff der Politik, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 53 (1897), S. 579–600 (579). 3 Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte (1972), in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 1979, S. 107–129 (119). 4 Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1922, S. 180. Dazu Jens Kersten, Georg Jellinek und die klassische Staatslehre, 2000, S. 192 ff. 2

der begriff des politischen bei den politikwissenschaftlichen klassikern

Politikbegriffs im 20. Jahrhundert beginnt. Man kann zwar nicht von einer Stunde Null sprechen, da jeder Begriff an einen anderen Begriff anknüpft und auch Jellineks Versuch nicht voraussetzungslos ist, aber dennoch wird hier ein Fanal gegeben, das noch nach Jahrzehnten nachhallt. Daß diese Formel für Jahrzehnte die herrschende Meinung repräsentierte, verdankte sich nicht nur der Prägnanz der Formulierung, sondern auch der Popularität ihres Autors, der rasch in der Staatslehre und Politikwissenschaft zum Klassiker wurde5. Dabei ist sie in ihrer Schlichtheit im Grunde kaum zu übertreffen: Der Begriff des Politischen wird einfach mit dem des Staates gleichgesetzt. Womöglich war diese Identifikation von Staat und Politik auch deshalb so erfolgreich, weil sie communis opinio in der zeitgenössischen Staatswissenschaft war. Bereits Jellineks akademischer Lehrer Johann Caspar Bluntschli postulierte: »Politisch denken heiszt vom Stat aus denken.«6 Darin folgte ihm nicht nur Jellinek, sondern auch der Großteil der zeitgenössischen Staatslehre, nicht zuletzt auch Albert Schäffle, der zu dem Ergebnis kam, der Begriff des Politischen sei »auf den Kreis der staatlichen Erscheinungen, auf das Handeln am Staat und durch den Staat« gerichtet7. Gleiches gilt auch für die Wissenschaft von der Politik, die in dieser Zeit schlicht als »Politik« firmiert8. Jellinek versteht sie als »praktische Staatswissenschaft«9, wobei die »praktische« Dimension vor allem in der Ausrichtung des Fachs auf Staatszwecke und Staatsaufgaben liegt. Als solche ist die »Politik« für ihn eine spezifisch normative Disziplin, denn: »Alle politischen Urteile … sind teleologische Werturteile.«10 In der Diktion seiner zitierten Gleichheitsformel gesprochen, könnte man sagen: Politisch heißt wertend. Diese Wertgebundenheit wiederum macht es für den Politikwissenschaftler notwendig, stets die eigene Werthaltung offenzulegen. Für Jellinek haben entsprechend nur solche »politische Untersuchungen wissenschaftlichen Wert«, die sich ihrer Normativität bewußt sind11. Er sieht es sogar als zentrale Aufgabe des Fachs, »Werturteile« zu formulieren; allein dies könne »der Politik wissenschaftliche Selbstberechtigung sichern«12.

Vgl. Kersten, Georg Jellinek (Fn. 4); Andreas Anter (Hrsg.), Die normative Kraft des Faktischen. Das Staatsverständnis Georg Jellineks, 2004. 6 Johann Caspar Bluntschli, Politik als Wissenschaft, 1876, S. 7. 7 Schäffle, Begriff (Fn. 2), S. 580. 8 Vgl. Hermann Rehm, Allgemeine Staatslehre, 1899, S. 9; Jellinek, Staatslehre (Fn. 4), S. 15. 9 Jellinek, Staatslehre (Fn. 4), S. 13. Auch darin folgt er Bluntschli, Politik (Fn. 6), S. 1. 10 Jellinek, Staatslehre (Fn. 4), S. 237. 11 Jellinek, Staatslehre (Fn. 4), S. 13 f. 12 Jellinek, Staatslehre (Fn. 4), S. 13. Mit dieser Position korrespondiert indes eine spezifische Aufgabenverteilung. Anders als die Werturteile produzierende Politikwissenschaft liefere die juristische Staatsrechtslehre hingegen reine »Erkenntnisurteile« (ebd.). 5

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Mit dieser klaren Position spricht Jellinek bis heute all jenen aus dem Herzen, die die Normativität des Fachs für evident halten. Er unternimmt zudem den ambitionierten Versuch einer Neubegründung der Politikwissenschaft, die sich zu seiner Zeit in einem kümmerlichen Zustand befand13. Auch von der zeitgenössischen Rechtswissenschaft fordert er, sie müsse sich endlich mit politischen Fragen beschäftigen, da ein »gänzliches Abstrahieren von aller Politik zu leeren Ergebnissen führe«14 und die »realen politischen Kräfte« sich nach ihren eigenen Gesetzen bewegen und »von allen juristischen Formen unabhängig wirken«15. Worum es Jellinek geht, ist die Untersuchung »der gegenseitigen Beziehungen von ›rechtlicher‹ und ›politischer‹ Betrachtung«, wie ihm Max Weber in einem enthusiastischen Brief bescheinigt16. Die Komplexität der Sicht des Politischen wird bei Jellinek noch einmal dadurch erhöht, daß er die »Politik«, insoweit es um praktisches politisches Handeln geht, als das »Streben nach Machterwerb und Machtbehauptung« im Staat versteht17. Dabei argumentiert er nach folgendem Muster: Politik sei ein Interessentenbetrieb; um Interessen durchzusetzen, sei Macht erforderlich; daher müsse jede Interessengruppe nach »Machterwerb und Machtbehauptung« streben18. Bis in die Formulierung hinein finden wir diese Position bei Max Weber wieder, der von Jellinek auch in anderen Punkten stark beeinflußt wurde19. Er übernimmt Jellineks Formel fast gleichlautend, denn er definiert »Politik« als das »Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung, sei es zwischen Staaten, sei es innerhalb eines Staates«20. Dies ist für ihn, anders als für Jellinek, so selbstverständlich, daß er sich nicht mit der Begründung aufhält, warum Politik auf Macht gerichtet sei, sondern sich mit dem Verweis auf den üblichen »Sprachgebrauch« be-

13 Dazu Andreas Anter, Georg Jellineks wissenschaftliche Politik. Positionen, Kontexte, Wirkungsli-

nien, in: Politische Vierteljahresschrift 39 (1998), S. 503–526. 14 Jellinek, Staatslehre (Fn. 4), S. 16. 15 Georg Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung. Eine staatsrechtlich-politische Ab-

handlung, 1906, S. 72. Positionen wie diese stehen der umstandslosen Einordnung Jellineks als Rechtspositivist entgegen. 16 Max Weber, Brief an Georg Jellinek vom 27. August 1906, in: ders., Briefe 1906–1908, Max Weber Gesamtausgabe, Bd. II/5, hrsgg. v. M. Rainer Lepsius und Wolfgang J. Mommsen, 1990, S. 149. 17 Jellinek, Staatslehre (Fn. 4), S. 17. 18 Jellinek, Staatslehre (Fn. 4), S. 17. 19 Dazu Stefan Breuer, Georg Jellinek und Max Weber. Von der sozialen zur soziologischen Staatslehre, 1999; Andreas Anter, Max Weber und Georg Jellinek. Wissenschaftliche Beziehung, Affinitäten und Divergenzen, in: Stanley L. Paulson / Martin Schulte (Hrsg.), Georg Jellinek. Beiträge zu Leben und Werk, 2000, S. 67–86. 20 Max Weber, Politik als Beruf (1919), in: ders., Gesammelte Politische Schriften, hrsgg. v. Johannes Winckelmann, 3. Aufl. 1971, S. 505–560 (506). Sein Politikbegriff orientiert sich also an den beiden Jellinekschen Bezugspunkten und erweitert sie nur um die außenpolitische Komponente.

der begriff des politischen bei den politikwissenschaftlichen klassikern

gnügt: politische Fragen seien eben immer Machtfragen21. Darüber hinaus gibt es bei Weber noch ein weiteres Telos des Politischen: daß Politik nämlich immer »Kampf« bedeute22. Dies ist ein Motiv, das seine politischen Schriften fast leitmotivisch durchzieht; Weber wiederholt stereotyp: »das Wesen aller Politik ist, wie noch oft zu betonen sein wird: Kampf«23. Wie die meisten seiner Zeitgenossen ist auch Weber fest davon überzeugt, daß Politik auf Machtgewinn und Machtbehauptung gerichtet sei24. Dabei sind die Machtkämpfe für ihn stets etwas, das sich im Staat abspielt. Bevor Weber über den Begriff der »Politik« spricht, definiert er bezeichnenderweise immer zunächst den Staat25. Insofern besteht hier eine klare Prioritätsverteilung, die sich schon bei Albert Schäffle findet: Bevor man bestimmen kann, was »Politik sei, muss man wissen, was der Staat ist«26. In der politikwissenschaftlichen Rezeption des Weberschen Politikbegriffs stand indes zumeist nur der Machtaspekt im Vordergrund. Eine ganze Generation hat sich, ob kritisch oder zustimmend, an dieser Machtfixierung abgearbeitet. Diese Frage war für das Fach aus verständlichen Gründen zentral. Denn wenn man Politik als Machtstreben definiert, dann ist die Politikwissenschaft eine Machtwissenschaft. Auf diese Weise wurde Weber in den fünfziger und sechziger Jahren zu einer kontroversen Figur. Man kann die prominenten Vertreter des Fachs geradezu danach einteilen, wie sie sich zu ihm stellten: Sage mir, was du von Weber hältst, und ich sage dir, wer du bist. Die breite Mehrheit sah Politik mit Weber als Machtstreben und verstand die Macht folglich als zentralen Gegenstand der Politikwissenschaft, etwa Harold D.

21 Weber, Politik (Fn. 20), S. 506. Auch der Staatsbezug ist so selbstverständlich, daß er ihn nicht the-

matisiert. 22 Max Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland (1918), in: ders., Schriften

(Fn. 20), S. 306–443 (329): »Politik ist: Kampf«; »das Wesen aller Politik ist, wie noch oft zu betonen sein wird: Kampf« (ebd., S. 347); »Politik zu treiben« heiße »immer: Kampf« (ebd., S. 351). 23 Weber, Parlament (Fn. 22), S. 347. 24 Heinrich von Treitschke schreibt seiner Generation ins Stammbuch, daß die Machtbehauptung der »Hauptzweck der Politik« sei (Treitschke, Politik (1898), hrsgg. v. Max Cornicelius, Bd. 1, 4. Aufl. 1918, S. 101). 25 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, hrsgg. v. Johannes Winckelmann, 5. Aufl. 1985, S. 29; ders., Politik (Fn. 20), S. 506. 26 Schäffle, Begriff (Fn. 2), S. 586.

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Lasswell und Abraham Kaplan27, Hans J. Morgenthau28, Karl Loewenstein29, Paul Ricœur30, Ossip K. Flechtheim31 und Gottfried-Karl Kindermann32. Die normativ orientierte Freiburger Schule indes opponierte gegen die von Weber inspirierte »herrschende Meinung«, daß Macht das »Spezifikum des Politischen« sei und die Politikwissenschaft sich folglich »mit den Fragen des Erwerbs, der Verteilung, des Gebrauchs und der Kontrolle von Macht befasse«33. Nicht nur Kurt Sontheimer, Manfred Hättich34 und der Freiburger Doyen Arnold Bergstraesser35 opponierten gegen das Machtparadigma; auch der mit der Freiburger Schule lose verbundene junge Wilhelm Hennis ärgerte sich über den »fast klassischen Rang« der Politikdefinition Webers36 und warnte angesichts der Identifikation von Macht und Politik vor einer »Entleerung« des Fachs, der »Einhalt geboten werden« müsse37. Auch wenn Hennis sein Weberbild später vollständig revidierte und von seinen frühen kritischen Positionen deutlich abrückte38, ist aus heutiger Perspektive zu sagen, daß die Kritik der Freiburger Schule, die sich später räumlich nach München verlagerte, nicht unberechtigt war. Denn sie monierte eine einseitige Fixierung auf die Macht, die tatsächlich zu einer verengten Perspektive und zu einer Hypostasierung der Macht führt. Man kann den komplexen Phänomenen des Politischen nicht gerecht werden, wenn man sie nur durch die Brille der Macht betrachtet. 27 Harold D. Lasswell / Abraham Kaplan, Power and Society. A Framework for Political Inquiry, Lon-

don / New Haven 1951, S. XIV (»the study of shaping and sharing of power«). 28 Hans J. Morgenthau, Politics Among Nations. The Struggle for Power and Peace, New York 1961, S.

27 (Politik als »struggle for power« und Macht als zentraler Gegenstand der Politikwissenschaft). 29 Karl Loewenstein, Verfassungslehre, 3. Aufl. 1975, S. 3: Politik ist »nichts anderes als der Kampf um

die Macht«. 30 Paul Ricœur, Le paradoxe politique, in: ders., Histoire et vérité, Paris 1955, S. 260–285 (269). »Poli-

tik« ist für ihn die Menge der Handlungen, die sich mit der Ausübung, Gewinnung und Erhaltung von Macht beschäftigen. Er beruft sich auf Max Weber. 31 Ossip K. Flechtheim, Grundlegung der politischen Wissenschaft, 1958, S. 70: Politikwissenschaft untersuche »den Staat unter seinem Machtaspekt«. 32 Gottfried-Karl Kindermann, Philosophische Grundlagen und Methodik der Realistischen Schule von der Politik, in: Dieter Oberndörfer (Hrsg.), Wissenschaftliche Politik, 2. Aufl. 1966, S. 251–296. 33 Kurt Sontheimer, Zum Begriff der Macht als Grundkategorie der politischen Wissenschaft, in: Oberndörfer, Politik (Fn. 32), S. 197–209. 34 Manfred Hättich, Der Begriff des Politischen bei Max Weber, in: Politische Vierteljahresschrift 8 (1967), S. 40–50. 35 Arnold Bergstraesser, Politik in Wissenschaft und Bildung, 1961, zu Weber bes. S. 63 ff. 36 Wilhelm Hennis, Politik und praktische Philosophie (1963), in: ders., Politikwissenschaftliche Abhandlungen, Bd. II: Politikwissenschaft und politisches Denken, 2000, S. 1–126 (7). 37 Wilhelm Hennis, Aufgaben einer modernen Regierungslehre, in: Politische Vierteljahresschrift 6 (1965), S. 422–441 (431). 38 Wilhelm Hennis, Max Webers Fragestellung. Studien zur Biographie des Werks, 1987; ders., Max Webers Wissenschaft vom Menschen. Neue Studien zur Biographie des Werks, 1996; ders., Max Weber und Thukydides. Nachträge zur Biographie des Werks, 2003.

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II. Die existentielle Revolte Die Geschichte des Politikbegriffs im 20. Jahrhundert ist trotz – oder gerade wegen – der vielfachen filiatorischen Beziehungen von steten Emanzipationsversuchen geprägt. So erwächst auch der bei weitem prominenteste Begriff, Carl Schmitts Begriff des Politischen, einem solchen Akt. Schmitt, in seiner Zeit als junger Dozent in München Mitglied in Webers »Dozentenseminar« und Hörer von Webers Vorlesung zur Wirtschaftsgeschichte39, versucht sich später radikal von Weber zu emanzipieren. Sein markanter Versuch aus dem Jahr 1927 ist zugleich eine Wendung gegen Weber, auch wenn er ihm, ob »legitim« oder »illegitim«, filiatorisch zwangsläufig verbunden bleibt40. Schließlich will er einen Begriff des Politischen entwickeln, der die Bindungen an die überkommenen Bezugsgrößen wie etwa den Staat abstreift. »Im allgemeinen«, so Schmitt in Anspielung auf Weber und Jellinek, »wird ›Politisch‹ in irgendeiner Weise mit ›Staatlich‹ gleichgesetzt oder wenigstens auf den Staat bezogen. Der Staat erscheint dann als etwas Politisches, das Politische aber als etwas Staatliches – offenbar ein unbefriedigender Zirkel.«41 Damit trifft Schmitt einen wunden Punkt der herrschenden Lehre. Diese beruht nämlich auf der Voraussetzung, daß der Staat eine identifizierbare und erkennbare Größe ist. Das ist jedoch nicht immer der Fall. Schmitts Versuch beginnt zunächst mit einer Umkehrung der Prioritäten. Das Politische soll nicht mehr vom Staat her regiert und verstanden werden, sondern umgekehrt. Die berühmte Ouvertüre der Schrift lautet: »Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus.«42 Damit steht Schmitt aber vor der Aufgabe, selbst eine Alternative anbieten zu müssen, nämlich einen Begriff des Politischen, der sich nicht auf den Staat bezieht. Diese Alternative ist nur zu bekannt: »Die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche 39 Vgl. Reinhard Mehring, Carl Schmitt. Aufstieg und Fall, 2009, S. 118; Gangolf Hübinger, Editori-

scher Bericht, in: Max Weber, Allgemeine Staatslehre und Politik (Staatssoziologie), Max Weber Gesamtausgabe Bd. III/7, hrsgg. v. Gangolf Hübinger in Zusammenarbeit mit Andreas Terwey, 2009, S. 50. 40 Zur Beziehung Weber/Schmitt siehe Kjell Engelbrekt, What Carl Schmitt picked up in Weber’s Seminar: A historical Controversy revisited, in: European Legacy 14 (2009), S. 667–684; Catherine ColliotThélène, Carl Schmitt contre Max Weber; rationalité juridique et rationalité économique, in: CarlosMiguel Herrera (Éd.), Le droit, le politique, Paris 1995, S. 205–227; Gottfried Eisermann, Max Weber und Carl Schmitt, in: Der Staat 33 (1991), S. 76–103; Gary L. Ulmen, Politischer Mehrwert. Eine Studie über Max Weber und Carl Schmitt, 1991 (mit weiteren Nachweisen S. 22 f.); ders., The Sociology of the State: Carl Schmitt and Max Weber, in: State, Culture, and Society 1 (1985), S. 3–57; Pier Paolo Portinaro, Max Weber e Carl Schmitt, in: Sociologia del diritto 8 (1981), S. 155–182. 41 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, 1963, S. 21. 42 Schmitt, Begriff (Fn. 41), S. 20.

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sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind.«43 Diese Formel ist von dem erklärten Willen getragen, die Dogmatik der zeitgenössischen Politik- und Rechtswissenschaft hinter sich zu lassen, wenn nicht zu negieren. Ideengeschichtlich gesehen handelt es sich hier allerdings um einen Rückgriff. Denn Schmitt entlehnt seine Formel wörtlich bei dem spanischen Gelehrten Baltasar Álamos de Barrientos, und zwar aus dem Vorwort seiner 1614 erschienenen Sammlung von Tacitus-Aphorismen. Dort heißt es: »lo politico es la distinción entre amigo e enemigo.«44 In Schmitts Schrift kommt zweimal das Wort »Aphorismus« vor, jeweils in abschätziger Konnotation. Wenn er an einer Stelle sagt, ein Aphorismus sei nicht ausreichend, um eine politische Theorie aufzustellen, dann liegt eine gewisse Ironie darin, daß sein Begriff des Politischen ganz wesentlich auf die Lektüre einer Aphorismensammlung zurückgeht. Im folgenden sollen nicht die methodischen Prämissen der Schmittschen Begriffsbildung thematisiert werden, also die These, das Politische müsse »in eigenen letzten Unterscheidungen liegen, auf die alles im spezifischen Sinn politische Handeln zurückgeführt werden kann«45; auch nicht die existentialistische These, der Feind sei »eben der andere, der Fremde, und es genügt zu seinem Wesen, daß er in einem besonders intensiven Sinne existenziell etwas anderes und Fremdes ist«46; auch nicht die philologischen Feinheiten des Feindbegriffs, die Unterscheidung von hostis und inimicus, πολεμιοϚ und εχθροϚ 47; auch nicht die theologischen Fragen von Matth. 5, 44 (diligite inimicos vestros). Vielmehr scheint mir ein Aspekt wichtig, der die steile These doch etwas relativiert: Wenn Schmitt sagt, daß zum Begriff des Feindes der »Kampf« gehört, und die »reale Möglichkeit des Kampfes … immer vorhanden sein muß, damit von Politik gesprochen werden kann«48, dann läuft seine Theorie doch letztlich auf die tradierte Sicht der Politik als »Kampf« hinaus – und ist weit weniger revolutionär, als man auf den ersten Blick meinen könnte. Dies zeigt 43 Schmitt, Begriff (Fn. 41), S. 26. 44 Baltasar Álamos de Barrientos, Tácito español ilustrado con aforismos, Madrid 1614, zit. n. Günter

Maschke, Der Tod des Carl Schmitt. Apologie und Polemik, 1987, S. 80. Baltasar Álamos de Barrientos (1555–1640) gab 1614 diese aus Tacitus’ Werk zusammengestellte Sammlung von Aphorismen heraus. Die Vorrede ist eine Art Programm des Tacitismus. Leichter zugänglich ist die Ausgabe Baltasar Álamos de Barrientos, Aforismos al Tácito Español, hrsgg. v. J. A. Fernández-Santamaria, 2 Bde., Madrid 1992 (Vorrede: Bd. 1, S. 31–39). Dort bezieht er sich auf Lipsius, der zuvor eine Tacitus-Ausgabe herausgebracht hatte. Vgl. hierzu Wolfgang Lasinger, Aphoristik und Intertextualität bei Baltasar Gracián, 2000, S. 25 f. 45 Schmitt, Begriff (Fn. 41), S. 27. 46 Schmitt, Begriff (Fn. 41), S. 27. 47 Schmitt, Begriff (Fn. 41), S. 29: »Feind ist hostis, nicht inimicus im weiteren Sinne; πολεμιοϚ, nicht εχθροϚ.« 48 Schmitt, Begriff (Fn. 41), S. 33.

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sich auch ex negativo, wenn Schmitt – mit spürbarer Verachtung – die utopische Welt eines ewigen Friedens beschreibt: »Eine Welt, in der die Möglichkeit eines solchen Kampfes restlos beseitigt oder verschwunden ist, ein endgültig pazifizierter Erdball, wäre eine Welt ohne die Unterscheidung von Freund und Feind und infolgedessen eine Welt ohne Politik.«49 Wir finden also auch bei Schmitt eine Vorstellung davon, wie Politik für ihn beschaffen sein muß, nämlich existentiell, kämpferisch. Insofern ist auch hier die Frage von Belang, ob und inwieweit sich dieses Verständnis mit inhaltlichen politischen Präferenzen verbindet. In den ersten beiden Fassungen von 1927 und 1932 ist hiervon kaum etwas zu erkennen. Schmitt stellt eine solche Verbindung erst später selber her, im Jahr 1936, in einem Beitrag für das Handbuch der neuzeitlichen Wehrwissenschaften, wo er sein Konzept mit der Politik des Führers identifiziert. Nunmehr will er »alle maßgebenden politischen Begriffe vom Volke her« bestimmen: »Politisch ist alles, was die Lebensfragen eines Volkes als eines einheitlichen Ganzen betrifft … Das ist auch die Auffassung vom Wesen der Politik, die der … Politik des Führers und Reichskanzlers Adolf Hitler zugrunde liegt.«50 Es wäre eine falsche Rückprojektion zu sagen, daß sich hier erst sein Konzept des Politischen erfüllte. Dennoch realisierte das Kämpferisch-Existentielle der »Bewegung« zweifellos etwas, von dem er sich angezogen fühlte. Schmitts Begriff des Politischen ist auf vielfache Weise mit der neueren Geschichte der Politikwissenschaft untrennbar verknüpft. Nicht weil es, nach einer Sottise von Jacob Taubes, jahrzehntelang zum guten Ton eines politologischen Habilitationsvortrags gehörte, zunächst Schmitt einen Tritt zu versetzen51. Die gesamte Phalanx der Nachkriegspolitologie stellte sich gegen ihn, unter ihnen Dolf Sternberger52, Christian Graf von Krockow53, Kurt Sontheimer54, Wilhelm Hennis55, Jürgen Fijalkowski56. Dabei wurde sein Begriff des Politischen sozusagen im Fach geboren, 49 Schmitt, Begriff (Fn. 41), S. 35. 50 Carl Schmitt, Art. Politik, in: Hermann Franke (Hrsg.), Handbuch der neuzeitlichen Wehrwissen-

schaften, 1936, Bd. 1, S. 547 und 549. 51 Jacob Taubes, Ad Carl Schmitt. Gegenstrebige Fügung, 1987, S. 50. 52 Dolf Sternberger, Das Wort »Politik« und der Begriff des Politischen, in: Politische Vierteljahres-

schrift 24 (1983), S. 6–14; ders., Begriff des Politischen, in: ders., Schriften, Bd. IV, 1980, S. 293–320. 53 Christian Graf von Krockow, Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt,

Martin Heidegger, 1958. 54 Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, 2. Aufl. 1983, S. 78 ff.,

152 ff., 171ff. 55 Wilhelm Hennis, Zum Problem der deutschen Staatsanschauung, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 6 (1959), S. 1–23; ders., Politik (Fn. 36), S. 1–126 (7). 56 Jürgen Fijalkowski, Die Wendung zum Führerstaat. Ideologische Komponenten in der politischen Philosophie Carl Schmitts, 1958. Vgl. auch Peter Schneider, Ausnahmezustand und Norm. Eine Studie zur Rechtslehre von Carl Schmitt, 1957.

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denn er geht auf einen Vortrag zurück, den Schmitt am 10. Mai 1927 an der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin hielt. Theodor Heuss war der damalige Studienleiter dieser Hochschule. Kein anderes Konzept des Politischen hat eine auch nur annähernd starke Resonanz im Fach erlebt. Die Geschichte des Politikbegriffs im 20. Jahrhundert ist ein langer ruhiger Fluß, der sich im Jahr 1927 plötzlich in einen reißenden Wildwasserkanal verwandelt. Noch Jahrzehnte später blickte die bundesdeutsche Politikwissenschaft mit einer Mischung aus Faszination und Schrecken auf dieses eruptive Ereignis zurück, wobei zumeist die Abwehrreflexe überwogen, beschwörende Formeln, daß Schmitts Begriff eine Verirrung sei, ein Atavismus, politischer Expressionismus. Die vorherrschenden Versuche entwickelten sich zumeist in Opposition zu seinem Begriff57. Ähnliches gilt auch für seine Positionen etwa zu Parlamentarismus, Staat und Demokratie58. Bereits im Jahr 1963 konstatiert Schmitt in einer Fußnote zu seinem Vorwort zur Neuausgabe des Begriffs des Politischen eine »Unmasse der ihm gewidmeten Widerlegungen«, von denen er glaubt, sie hätten seinen Text »übertönt«59. Die Empfindung, die Kritik habe seine Schrift übertönt, mag aus subjektiver Sicht plausibel und für das Jahr 1963 sogar zutreffend scheinen; aus heutiger Sicht aber sind die Widerlegungsversuche längst in Vergessenheit geraten, während Schmitt zu einem Klassiker des politischen Denkens aufstieg60, zu einer Sphinx, über die eine Dissertation nach der anderen geschrieben wird. Die Skepsis gegenüber seiner Schrift ist geblieben, aber gleichzeitig auch die Faszination, ja es scheint, als sei die Faszination heute stärker denn je61. Schmitts Formel war rezeptionsgeschichtlich ein Schlag ins Kontor. Sie wurde und wird international breit rezipiert und ist insofern »erfolgreich«, aber ob die Freund-Feind-Unterscheidung ein überzeugendes Kriterium des Politischen sein kann, ist immer wieder bezweifelt worden. Die Linie der Interpretation und Kritik ist bis heute nicht abgerissen. Schon unmittelbar nach der Publikation des Vortrags im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik im August 1927 erschien ein Dut57 Vgl. Hans-Joachim Arndt, Der Begriff des Politischen in der Politikwissenschaft nach 1945, in:

Helmut Quaritsch (Hrsg.), Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt, 1988, S. 509–515. 58 Vgl. allgemein Dirk van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der

Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, 2. Aufl. 2002, S. 213 ff.; Jan-Werner Müller, A Dangerous Mind. Carl Schmitt in Post-War European Thought, New Haven 2003; Frieder Günther, Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration, 2004, S. 112 u. 264 ff. 59 Schmitt, Begriff (Fn. 41), S. 116. 60 Pier Paolo Portinaro, La crisi dello jus publicum europaeum. Saggio su Carl Schmitt, Milano 1982, S. 217 (»un classico del pensiero politico«). 61 Bis hin zum gelehrten Kommentar: vgl. Reinhard Mehring (Hrsg.), Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Ein kooperativer Kommentar, 2003.

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zend Aufsätze, die sich mit seiner These beschäftigten. Schmitt indes interessierte sich allein für ein Manuskript, das ihm ein junger Wissenschaftler zuschickte, ein Mitarbeiter an der Akademie für die Wissenschaft des Judentums in Berlin: Leo Strauss. Schmitt war von seinem Text so affiziert, daß er sich für die Publikation im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik einsetzte. Am 10. Juni 1932 schrieb er an seinen Verleger Ludwig Feuchtwanger: »Über den Begriff des Politischen sind inzwischen etwa hundert Besprechungen erschienen, aus denen ich aber wenig gelernt habe. Von Interesse ist nur, dass Herr Dr. Leo Strauss, der Verfasser eines Buches über Spinoza, einen sehr guten Aufsatz darüber geschrieben hat, sehr kritisch natürlich, den ich in Lederers Archiv für Sozialwissenschaft unterzubringen hoffe.«62

III. Politik und Ordnung Mit der einsetzenden Korrespondenz zwischen Carl Schmitt und dem jungen Leo Strauss spinnt sich erneut ein Faden fort. Für Strauss hat die Schmitt-Lektüre den Charakter einer Selbstverständigung – was auch für viele andere Schmitt-Lektüren gilt. Strauss geht es in seiner Schrift darum, »einen Horizont jenseits des Liberalismus zu gewinnen«63, das heißt auch: den Horizont der Vormoderne zurückzugewinnen64. Er kann sich mit dem modernen Denken nicht anfreunden, etwa das Politische als Kulturphänomen zu verstehen, als eine Erfindung des menschlichen Geistes, womit das Politische nur einen begrenzten Geltungsanspruch hätte. Genau das will Strauss nicht akzeptieren. Für ihn ist das Politische genau wie die Religion eine »ursprüngliche Tatsache«. Schließlich sei die Religion kein Produkt des menschlichen Geistes, sondern sie werde vielmehr als Offenbarung dem Menschen gegeben65. Hier handelt es sich, wie oft festgestellt wurde, um eine Radikalisierung von Schmitts Position, nämlich seiner Liberalismuskritik. Strauss versucht ihn noch zu übertreffen, wobei er jedoch das eigentlich politische Terrain verläßt und in das ide-

62 Carl Schmitt, Brief an Ludwig Feuchtwanger vom 10. Juni 1932, in: Carl Schmitt / Ludwig Feucht-

wanger, Briefwechsel 1918–1935, hrsgg. v. Rolf Rieß, 2007, S. 377. – Was die Zahl der Besprechungen angeht, handelt es sich um eine Übertreibung. 63 Leo Strauss, Anmerkungen zu Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen (1932), in: Heinrich Meier, Carl Schmitt, Leo Strauss und »Der Begriff des Politischen«. Zu einem Dialog unter Abwesenden, 2. Aufl. 1998, S. 97–125 (125). 64 Zur Beziehung Strauss/Schmitt vgl. Meier, Schmitt (Fn. 63), S. 9–96; Clemens Kauffmann, Leo Strauss zur Einführung, 1997, S. 85 ff.; John P. McCormick, Fear, Technology, and the State. Carl Schmitt, Leo Strauss, and the Revival of Hobbes in Weimar and National Socialist Germany, in: Political Theory 22 (1994), S. 619–652. 65 Dazu Kauffmann, Leo Strauss (Fn. 64), S. 89 f.

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engeschichtlich-philosophische Feld ausweicht66. Im Moment der größten Annäherung hält er inne und dreht in die Richtung eines »ideengeschichtlichen Forschungsprojekts« ab67. Auf diesem Weg avanciert er zu einer der markantesten Figuren der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts. Aber an einem eigenständigen Begriff des Politischen versucht er sich nicht mehr68. Strauss glaubt, Schmitts Begriff des Politischen stehe »im Dienst der Frage nach der ›Ordnung der menschlichen Dinge‹, d. i. nach dem Staat«69. Das ist sicher nicht richtig. Denn der Staat ist ja genau der Bezugspunkt, den Schmitt loswerden möchte. Er hält ihn für eine anachronistische Instanz, deren Tage gezählt sind. Schmitt fragt also gar nicht nach dem Staat. Carl Schmitt und Leo Strauss sind dezidierte Ordnungsdenker, ihre Konzepte aber gehen schon an der Wurzel auseinander. Während Strauss sich an der besten Ordnung orientiert, findet Schmitt unmittelbar darauf zu seinem ideologisch grundierten »konkreten Ordnungsdenken«70. Die Orientierung am Kriterium der Ordnung wiederum verbindet beide – jenseits aller Divergenzen – mit Hermann Heller, Schmitts schärfstem Opponenten der Weimarer Zeit. Bei ihm steht der Gesichtspunkt der Ordnung ganz im Vordergrund, wenn er Politik als die »Ordnung des Zusammenwirkens menschlicher Gegenseitigkeitsbeziehungen« definiert und als Zweck der Politik »die Ordnung gesellschaftlicher Beziehungen«, ja die »Ordnung um der Ordnung willen« begreift71. Folgt man Heller, dann ist Ordnung das Telos des Politischen schlechthin. 66 McCormick, Fear (Fn. 64); vgl. Alfons Söllner, Leo Strauss’ Denkweg gegenüber der Moderne – der

Weimarer Ausgangspunkt, in: Herfried Münkler (Hrsg.), Bürgerreligion und Bürgertugend. Debatten über die vorpolitischen Grundlagen politischer Ordnung, 1996, S. 182–202; Shadia B. Drury, The Political Ideas of Leo Strauss. Updated Edition, New York 2005. Zusammenfassend Harald Bluhm, Die Ordnung der Ordnungen. Das politische Philosophieren von Leo Strauss, 2002, S. 91. 67 Söllner, Denkweg (Fn. 66), S. 192. 68 Bluhm, Ordnung (Fn. 66), S. 97. 69 Strauss, Anmerkungen (Fn. 63), S. 99; er zitiert hier Schmitt, Begriff (Fn. 41), S. 95. 70 Carl Schmitt, Die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, 1934; dazu Andreas Anter, Die Macht der Ordnung. Aspekte einer Grundkategorie des Politischen, 2. Aufl. 2007, S. 194 ff.; Günter Meuter, Gerechtigkeitsstaat contra Rechtsstaat. Bemerkungen zum Ordnungsdenken Carl Schmitts, in: Rüdiger Voigt (Hrsg.), Mythos Staat. Carl Schmitts Staatsverständnis, 2001, S. 83–116 (85 ff.); Adalgiso Amendola, Carl Schmitt tra decisione e ordinamento concreto, Napoli 1999, S. 108 ff.; Hasso Hofmann, Legitimität gegen Legalität. Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts, 4. Aufl. 2002, S. 177 ff.; Oliver Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung, 1994, S. 205 ff.; Bernd Rüthers, Entartetes Recht. Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich, 1994, S. 62 ff.; Joseph H. Kaiser, Konkretes Ordnungsdenken, in: Quaritsch, Complexio (Fn. 57), S. 319–331; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Art. Konkretes Ordnungsdenken, in: Joachim Ritter / Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, 1984, Sp. 1312–1315; Friedrich August von Hayek, Rechtsordnung und Handelnsordnung, in: ders., Freiburger Studien, 2. Aufl. 1994, S. 161–198 (192 ff.). 71 Hermann Heller, Der Sinn der Politik (1924), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1: Orientierung und Entscheidung, hrsgg. v. Christoph Müller, 1992, S. 431–435 (433).

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Anders als Strauss biegt Heller an diesem Punkt aber nicht ins Philosophische ab, im Gegenteil, für ihn ist die Politikwissenschaft eine in eminentem Sinn praktische Wissenschaft, auf praktische Bedürfnisse gerichtet. Somit ist auch die Politik für ihn keine wissenschaftsfreie Sphäre. Sein Anliegen war es, die Wertgebundenheit politischen Denkens wie auch die Wertgebundenheit wissenschaftlicher Arbeit deutlich zu machen. Hier übernahm er – bis ins Detail – Webersche und Jellineksche Positionen72. Zu Schmitt hingegen hat Heller ein oft polemisches Verhältnis; er verspottet ihn als »kulturmüden Gewaltästheten«73. Vor allem beharrt Heller darauf, daß der Staat der Bezugspunkt des Politischen sein müsse, da nur unter Bezug auf den Staat ein »klarer Grundbegriff« des Politischen gefaßt werden könne74. Wenn man so will, dann wird bei Heller der Etatismus reflexiv, denn er versucht die Infragestellung des Staates abzuwehren und begründet, warum Staatlichkeit die Bedingung der Möglichkeit von Demokratie ist. Das macht ihn zu einem bleibend wichtigen und aktuellen Autor. Geht man davon aus, daß Politik einer Ordnung bedarf, die in der Lage ist, demokratisch getroffene Entscheidungen auch gegen Widerstände durchzusetzen, und geht man ferner davon aus, daß dies nach Lage der Dinge nur der Staat sein kann, dann ist klar, warum ein Begriff des Politischen auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht völlig vom Staat abstrahieren kann.

IV. Die Normativität des Politischen Die meisten Begriffe des Politischen erweisen sich als normativ grundierte Begriffe. Wer »Politik« definiert, demonstriert zugleich, was er von ihr erwartet, wie sie nach seinen Vorstellungen aussehen sollte, woran sie sich orientieren sollte. Insofern liegt der Kampf um die vermeintlich »richtige« Begrifflichkeit sozusagen in der Natur der Sache, und es ist nicht erstaunlich, daß der Begriff stets umstritten war. Er gehört, mit Terence Ball zu reden, zu den »contingently contested concepts«75. Die normative Grundierung tritt besonders klar hervor, wenn vom »Wesen« der Politik bzw. des Politischen gesprochen wird, prominent etwa in Julien Freunds klassischem Werk 72 Dazu Andreas Anter, Hermann Heller und Max Weber. Normativität und Wirklichkeit des Staates,

in: Marcus Llanque (Hrsg.), Souveräne Demokratie und soziale Homogenität. Das politische Denken Hermann Hellers, 2010, S. 119–136 (126 ff.). 73 Hermann Heller, Staatslehre (1934), 6. Aufl. 1983, S. 252. 74 Heller, Staatslehre (Fn. 73), S. 204. 75 Terence Ball, Confessions of a Conceptual Historian, in: Finnish Yearbook of Political Thought 6 (2002), S. 11–31 (25). »Macht« und »Freiheit« sind für ihn solche umstrittenen Begriffe. – Zur Entwicklung siehe Willibald Steinmetz, Neue Wege einer historischen Semantik des Politischen, in: ders. (Hrsg.), »Politik«. Situationen eines Wortgebrauchs im Europa der Neuzeit, 2007, S. 9–40.

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L’essence du politique76. Die Normativität seines politischen Denkens zeigt sich auch in Freunds späteren Publikationen nicht zuletzt in der Orientierung am Kriterium einer pragmatisch verstandenen »guten Politik«. Diese »bonne politique« hat bei Freund nichts mit der Postulierung von abstrakten Zielen und Aufgaben zu tun. Sie berücksichtigt vielmehr die schlichte Tatsache, daß die Interessen der Mitglieder der politischen Gemeinschaft häufig gegensätzlich sind. Die Politik hätte demnach die Aufgabe, die Unterschiede, Antagonismen und Spannungen im Auge zu behalten und die potentiell daraus resultierende Gewaltsamkeit zu unterbinden77. Besonders klar zeigt sich die auf das »Wesen« des Politischen gerichtete Perspektive bei Dolf Sternberger, bei dem »die Grundfrage aller politischen Philosophie« sich darauf richtet, »was denn Politik oder was ›das Politische‹ eigentlich sei. Es ist die einfachste und die anspruchsvollste, die erste und die letzte Frage des politischen Denkens«78. Wenn es um das A & O geht, um die ersten und die letzten Dinge, vorgetragen im hohen Ton, dann wird bereits sprachlich signalisiert: hier geht es ums Ganze. Sternbergers Begriff des Politischen ist denn auch ein dezidiert normativer Begriff. Deutlicher als die meisten anderen klassischen Autoren des 20. Jahrhunderts identifiziert er nicht nur die »Politik« mit dem »Begriff der guten Politik«79, sondern gibt auch eine klare inhaltliche Ausrichtung vor: »Das Politische müssen und wollen wir zu begreifen versuchen als den Bereich der Bestrebungen, Frieden herzustellen, Frieden zu bewahren, zu gewährleisten, zu schützen und freilich auch zu verteidigen.«80 Abstrahiert man von der Emphase, mit der seine Reflexionen vorgetragen werden, dann wird deutlich, daß Sternberger, ähnlich wie Julien Freund und Carl Schmitt, von der prinzipiellen Gegensätzlichkeit der Interessen und Vorstellungen der Menschen ausgeht, die zwangsläufig zu Spannungen und Konflikten führen. Politik hat demgegenüber die Aufgabe, solche Konflikte einzudämmen. Ob Max Weber oder Julien Freund, Carl Schmitt oder Hermann Heller, Leo Strauss oder Dolf Sternberger, sie alle denken Politik im Angesicht einer durch den Kampf um Ideen und Interessen geprägten Welt81. Die These vom »Ende der Politik«, seit Jahrzehnten 76 Julien Freund, L’essence du politique, Paris 1965. 77 Julien Freund, La politique politique, in: Tijdschrift voor de Studie van de Verlichting en van het

Vrije Denken 16 (1988), S. 197–212. 78 Dolf Sternberger, Notizen über das Wort ›Politik‹, seine Wanderungen und Wandlungen, in: ders.,

Die Politik und der Friede, 1986, S. 89. 79 Dolf Sternberger, Drei Wurzeln der Politik, 1984, S. 440. 80 Sternberger, Begriff (Fn. 52), S. 304 f. 81 Darin liegt ein elementarer Unterschied zum Politikbegriff Hannah Arendts. Dieser Begriff ist zwar nicht weniger normativ grundiert, aber geht an der prinzipiellen Konfliktlage vorbei. Bei ihr erscheint Politik als die Sphäre des ungezwungenen kommunikativen Handelns; entsprechend lautet ihre Formel: »Der Sinn von Politik ist Freiheit.« Arendt, Politik (Fn. 1), S. 28.

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in regelmäßigen Abständen neu aufgelegt82, hat sich demgegenüber als Chimäre erwiesen. Die jeweiligen Politikbegriffe fallen zwar sehr verschieden aus, sie treffen sich aber darin, daß sie im Blick auf die Hegung der Konfliktlagen auf den demokratischen Verfassungsstaat setzen. Carl Schmitt stellt insofern eine Ausnahme dar, als er hier agnostizistisch bleibt. Bei den weitaus meisten politischen Denkern des 20. Jahrhunderts werden die Begriffe »die Politik« und »das Politische« synonym verwendet. Dies zeigt sich etwa bei Sternberger, der die »Politik« und das »Politische« en passant gleichsetzt83. Bei einzelnen Autoren sind kleine semantische Differenzen zu erkennen, aber generell ist die Bemühung der Unterscheidung eher gekünstelt, wie bereits Niklas Luhmann bemerkt84. Dies kommt sogar in einigen Unterscheidungsanstrengungen zum Ausdruck, etwa bei Paul Ricœur85, aber auch bei Julien Freund86. Selbst bei Carl Schmitt, bei dem das substantivierte Adjektiv ideengeschichtlich zur Prominenz gelangt, ist der Unterschied zur »Politik« eigentlich nicht essentiell87, sondern eher rhetorisch motiviert88. Systematische Unterscheidungsversuche konnten sich schon allein deshalb nicht durchsetzen, weil jeder den Unterschied anders definiert89. 82 Vgl. Joe Klein, Vom Ende der Politik, 2008; Albert Scharenberg / Oliver Schmidtke (Hrsg.), Das

Ende der Politik? Globalisierung und der Strukturwandel des Politischen, 2003; Ernst Vollrath, Was ist das Politische? 2003, S. 177 ff.; Carl Boggs, The End of Politics. Corporate Power and the Decline of the Public Sphere, New York 2001; Peter Ulrich, Von der Metaphysik des Weltmarkts zur globalen Vitalpolitik, in: Zeitschrift für Politik 48 (2001), S. 375–396; Michael Felder, Die Transformation von Staatlichkeit, 2001, S. 109 ff.; Zygmunt Bauman, Die Krise der Politik, 2000; Jean-Marie Guéhenno, Das Ende der Demokratie, 1996, S. 39 ff.; Maurice Weyembergh / Jean-Marc Piret (Hrsg.), La fin du politique. Tijdschrift voor de Studie van de Verlichting en van het Vrije Denken 16 (1988); Pierre Birnbaum, La fin du politique, Paris 1975; Wilhelm Hennis, Ende der Politik? Zur Krisis der Politik in der Neuzeit (1971), in: ders., Politikwissenschaft (Fn. 36), S. 228–249. 83 So bei Sternberger, »Politik« (Fn. 52), S. 8, obwohl der Titel eine Verwendung der Differenz erwarten lassen könnte. 84 Niklas Luhmann, Das Ende der alteuropäischen Politik, in: Tijdschrift voor de Studie van de Verlichting en van het Vrije Denken 16 (1988), S. 249–257 (249). Hierzu kritisch Vollrath, Was ist das Politische? (Fn. 82), S. 21 f. Er verurteilt Luhmanns Position als unpolitisch und erklärt sie allen Ernstes mit »der entpolitisierten Lage der Bundesrepublik Deutschland in der Mitte der siebziger und achtziger Jahre« (ebd., S. 22). 85 Ricœur, paradoxe (Fn. 30), S. 260–285 (268): »Le politique est organisation raisonnable, la politique est décision: analyse probable de situation, pari probable sur l’avenir.« 86 Vgl. Freund, L’essence (Fn. 76), S. 21 ff. 87 Vgl. nur Schmitt, Begriff (Fn. 41), S. 35. 88 Die ostentative Rede von »dem« Politischen, die Substantivierung des Adjektivs, soll das Bemühen unterstreichen, die Politik aus dem Arcanum des Staates zu lösen. 89 Vgl. nur Sternberger, Notizen (Fn. 78), S. 89. – Zur Unterscheidung vgl. Kari Palonen, Politics or the Political? An Historical Perspective on a Contemporary Non-debate, in: European Political Science 6 (2007), S. 69–78. Zur französischen Differenzierung zwischen »le politique« und »la politique« bereits ders., Die Thematisierung der Politik als Phänomen. Eine Interpretation der Geschichte des Begriffs Po-

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V. Schlußbemerkung Die Bemühungen um einen Begriff des Politischen verlaufen bei den klassischen Autoren des 20. Jahrhunderts in vier Phasen. Wird die Politik am Anfang des Jahrhunderts noch unisono als eine Angelegenheit der staatlichen Sphäre verstanden, so vollzieht sich im Jahr 1927 mit Carl Schmitts Versuch, das Politische vom Staat zu trennen, ein radikaler Bruch. Auf diesen Emanzipationsversuch folgt in der ohnehin kathartischen Nachkriegszeit eine Rückbesinnung auf ein traditionelles Politikverständnis, welches dann in den siebziger Jahren erneut herausgefordert wird, nicht zuletzt in Gestalt des nonchalanten Funktionalismus’ Niklas Luhmanns. Wie Schmitt hält er eine Bindung des Politikbegriffs an den Staat für obsolet, da der Staatsbegriff zum alten Eisen gehöre, als bloßes semantisches Artefakt. Man habe jedoch den Politikbegriff »immer wieder ermutigt, sich vom Staatsbegriff zu lösen, ohne daß geklärt wäre, wohin er dann treibt. Die funktionale Definition der Politik als Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen für das Gesellschaftssystem dürfte derzeit das einzig solide Angebot sein«90. Eines ist jedoch bezeichnend: Wenn Luhmann über Politik spricht, kommt er stets auf den Staat und die »Staatssemantik« zurück. In seinen späten Schriften greift er zudem auf eine weitere Kategorie zurück, mit der man die Politik bereits im frühen 20. Jahrhundert identifizierte: die Macht. Er versteht sie als »die Quintessenz von Politik schlechthin«91. Damit schließt sich der Kreis. Auch in der Theorie gibt es weniger Fortschritte als man glaubt.

litik im Frankreich des 20. Jahrhunderts, Helsinki 1989, S. 41 ff. »Fast jeder Autor hat aber seine eigene, intuitive Deutung des Unterschieds zwischen le und la politique« (ebd., S. 86). 90 Niklas Luhmann, Staat und Politik. Zur Semantik der Selbstbeschreibung politischer Systeme, in: Udo Bermbach (Hrsg.), Politische Theoriengeschichte, 1984, S. 99–125 (102). 91 Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, 2000, S. 75.

Sektion II: Wissenschaft ohne Politik?

Horst Dreier

Max Webers Postulat der Wertfreiheit in der Wissenschaft und die Politik

I. Zur Bedeutung von Webers Wertfreiheitspostulat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .36 II. Mißdeutungen des Wertfreiheitspostulats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .37 1. (Keine) Wertfreiheit der Themenwahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .38 2. (Keine) Wertfreiheit des Untersuchungsgegenstandes . . . . . . . . . . . . . . . .41 3. Wertfreiheit meint (nicht) Wertnihilismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .42 III. Grundlegende Orientierungspunkte des Wertfreiheitspostulats . . . . . . . . . . .44 1. Dualismus von Sein und Sollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .44 2. Ethischer Evolutionismus als Diskussionskontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . .46 3. Dignität und Differenz von Werturteil und Tatsachenfeststellung . . . . . . .48 4. Kathederwertungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .50 IV. Der Sinn der Wertfreiheit oder: Vom Beruf der Wissenschaft . . . . . . . . . . . .52 1. Polytheismus der Werte, Kampf der Götter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .53 2. Die Möglichkeit rationaler »Wertdiskussionen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .57 a) Zweck-Mittel-Relationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .58 b) Herausarbeitung von Wertaxiomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .61 3. Die Sinnfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .62 a) Gesamtgesellschaftliche Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .63 b) Individuelle Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .66 V. Bezug zur Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .68

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I. Zur Bedeutung von Webers Wertfreiheitspostulat Kaum ein »anderes Lehrstück für Geist und Selbstverständnis der Wissenschaft«, so hat es kein Geringerer als Wilhelm Hennis formuliert, sei im 20. Jahrhundert so bestimmend geworden und habe so sehr »Selbstverständlichkeitscharakter« gewonnen wie Max Webers Forderung nach Wertfreiheit der Wissenschaft1. Und verstärkend fügte Hennis hinzu, diese Forderung habe mittlerweile den »Status eines wissenschaftlichen Gebotes« erhalten2. Man mag es als Indiz für die Richtigkeit dieser Feststellung nehmen, daß es in der Welt der Wissenschaft nicht allzu oft vorkommt, wenn aus Anlaß des 100. Geburtstages des Erscheinens einer eher methodologischen Abhandlung (in diesem Fall: Webers sog. »Objektivitäts«-Aufsatz3) eine mehrtägige Tagung organisiert wird, wie sie in dem 2006 erschienenen Sammelband »Werte in den Wissenschaften« dokumentiert ist4. Außerdem liegt natürlich auf der Hand, wie sehr Thematik und Ort unserer Tagung Max Weber verpflichtet sind – hatte er doch Wissenschaft einerseits, Politik andererseits in das Zentrum seiner beiden berühmten Münchner Vorträge von 1917 und 1919 gestellt: »Wissenschaft als Beruf« und »Politik als Beruf«5. Wilhelm Hennis, Der Sinn der Wertfreiheit. Zu Anlaß und Motiven von Max Webers »Postulat«, in: Der demokratische Verfassungsstaat – Theorie, Geschichte, Probleme. Festschrift für Hans Buchheim zum 70. Geburtstag, hrsgg. v. Oscar W. Gabriel u. a., München 1992, S. 97–114 (97). 2 Hennis, Sinn (Fn. 1), S. 97 f. 3 Max Weber, Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904), in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre [im folgenden: GAWL], hrsgg. v. Johannes Winckelmann, 5. Aufl., Tübingen 1982, S. 146–214. Bei diesem Text handelt es sich um die programmatische Stellungnahme aus Anlaß der Übernahme der Redaktion des »Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik« gemeinsam mit Werner Sombart und Edgar Jaffé, dort zuerst abgedruckt 1904. – Rekapitulation des Gedankenganges des Aufsatzes bei Herbert Keuth, Wissenschaft und Werturteil. Zu Werturteilsdiskussion und Positivismusstreit, Tübingen 1989, S. 12 ff. 4 Werte in den Wissenschaften. 100 Jahre nach Max Weber, hrsgg. v. Gerhard Zecha, Tübingen 2006. Die diesem Band zugrundeliegende Tagung fand vom 13. bis zum 16. Oktober 2004 in Salzburg statt; zu den Mitwirkenden gehörten Hans Albert, Michael Sukale, Paul Weingartner, Franz von Kutschera u. a. Der Herausgeber sprach in diesem Band zu Recht davon, daß Webers Beiträge Auslöser anhaltender Diskussionen der Wert(freiheits)problematik gewesen und ihr bis heute maßgeblicher und bestimmender Bezugspunkt geblieben seien (siehe Gerhard Zecha, Der Wertbegriff und das Wertfreiheitspostulat, ebd., S. 109–124 [109 f.]). 5 Beide Texte liegen in zahlreichen Ausgaben vor. Maßgeblich ist nun die Edition in der Max Weber Gesamtausgabe (MWG): Max Weber, Wissenschaft als Beruf (1917/1919); Politik als Beruf (1919), hrsgg. v. Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Birgitt Morgenbrod, Tübingen 1992 (MWG I/17), S. 71–111 (Wissenschaft als Beruf ) bzw. S. 157–252 (Politik als Beruf ); dort S. 43 ff., 113 ff. auch Hinweise zur lange Zeit umstrittenen bzw. ungeklärten Datierung von »Politik als Beruf« auf Januar 1919. 1

max webers postulat der wertfreiheit in der wissenschaft und die politik

II. Mißdeutungen des Wertfreiheitspostulats Daß sein Postulat anfällig für allerlei Mißverständnisse sein würde, hat schon Weber selbst klar erkannt und ausgesprochen – und auch insofern recht behalten. Die Einwände bzw. Angriffe gegen ihn sind geradezu Legion. Was wurde ihm nicht alles vorgeworfen: das Postulat sei sinnlos oder, wenn das nicht ohnehin das gleiche ist, unerfüllbar; Wertungsabstinenz sei unmöglich, ja führe geradewegs in den Nihilismus6; die Forderung nach ihr entspringe der Entscheidungsschwäche und -unfähigkeit ihrer Vertreter7; Weber reduziere Wissenschaft auf rein technische Fragen, leugne die Existenz von Werten oder Wertungen und übersehe die Wertorientierung des handelnden Menschen8. Vielleicht hat der Titel seines Beitrages über den Sinn der Wertfreiheit von 19179 etwas irreführend gewirkt, der – wenn man Hennis folgen will – alles Mögliche behandelt, nur nicht den Sinn der Wertfreiheit, vielmehr in erster Linie Notwendigkeit und Sinn wissenschaftlicher Wertdiskussionen bzw. Wertdiskussionen auf wissenschaftlicher Grundlage thematisiert10. Freilich hat Weber gerade in diesem Beitrag die gängigsten inhaltlichen Mißverständnisse auszuräumen versucht11, so daß nach wie vor gilt, was René König in einem noch heute lesenswerten Beitrag aus den 1960er Jahren so formulierte: »Es kann den interessierten und beteiligten Betrachter nur zutiefst deprimieren, wenn man neueste Äußerungen zum »Ich behaupte, daß Webers These mit Notwendigkeit zum Nihilismus … führt« (Leo Strauss, Naturrecht und Geschichte [1956], Frankfurt/M. 1977, S. 44). Dazu kritisch u. a. Keuth, Wissenschaft (Fn. 3), S. 56 ff. 7 René König, Einige Überlegungen zur Frage der »Werturteilsfreiheit« bei Max Weber (1964), in: Hans Albert / Ernst Topitsch (Hrsg.), Werturteilsstreit, 3. Aufl., Darmstadt 1990, S. 150–188 (156) nennt es die unter allen Fehlurteilen »törichtste Vorstellung, … Weber und seine Nachfolger legten sich fest auf Enthaltung von Werturteilen, weil sie zu solchen unfähig, weil sie ›nicht engagiert‹ und letzten Endes nur Lobredner der bestehenden Zustände seien«; dort S. 155 ff. eine Blütenlese von Vorwürfen. 8 Zur Analyse und Kritik dieser und anderer Einwände etwa Hans Albert, Theorie und Praxis. Max Weber und das Problem der Wertfreiheit und der Rationalität (1966), in: ders./Topitsch, Werturteilsstreit (Fn. 7), S. 200–236 (200 ff.). 9 Max Weber, Der Sinn der »Wertfreiheit« der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften (1917), in: GAWL (Fn. 3), S. 489–540. 10 Hennis, Sinn (Fn. 1), S. 104 f., 113. Zu diesem Aspekt näher unter IV. 11 Weber, Sinn (Fn. 9), S. 461 f.: »Unendliches Mißverständnis und vor allem terminologischer, daher gänzlich steriler, Streit hat sich an das Wort ›Werturteil‹ geknüpft, welches zur Sache offenbar gar nichts austrägt. (…) Daß die Wissenschaft 1. ›wertvolle‹, d. h. logisch und sachlich gewertet richtige und 2. ›wertvolle‹, d. h. im Sinne eines wissenschaftlichen Interesses wichtige Resultate zu erzielen wünscht, daß ferner schon die Auswahl des Stoffes eine ›Wertung‹ enthält, – solche Dinge sind trotz alles darüber Gesagten allen Ernstes als ›Einwände‹ aufgetaucht. Nicht minder ist das fast unbegreiflich starke Mißverständnis immer wieder entstanden: als ob behauptet würde, daß die empirische Wissenschaft ›subjektive‹ Wertungen von Menschen nicht als Objekt behandeln könne …«. 6

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gleichen Thema liest und plötzlich feststellen muß, daß ausnahmslos alle von Max Weber erwähnten ›Mißverständnisse‹ heute noch genauso lebendig sind wie vor mehr als einem halben Jahrhundert.«12 Da dieser Befund unverändert zutrifft, seien zunächst einige der gängigsten Mißverständnisse und Fehlinterpretationen des Wertfreiheitspostulates erörtert, bevor die Grundlagen seiner Position behandelt (III.) sowie die eigentlich zentralen Fragen nach dem Beruf der Wissenschaft (IV.) sowie dem Bezug zur Politik (V.) thematisiert werden. 1. (Keine) Wertfreiheit der Themenwahl

Weder konnte noch wollte Weber zunächst den subjektiven Faktor beim Zugriff des Forschers auf »sein« Thema in Abrede stellen. Denn ganz offensichtlich beruht die Stoffauswahl, also die Wahl des Themas im allgemeinen und die danach einsetzende jeweilige Schwerpunktsetzung im besonderen, auf subjektiven Werturteilen des Wissenschaftlers. In einer seiner typisch prägnant-kräftigen Wendungen spricht Weber in geradezu poetischer Formulierung davon, daß es sich bei Themen- und Stoffauswahl um die »Farbenbrechung der Werte im Spiegel der Seele des Forschers« handele13. Etwas weniger bildhaft heißt es dann 1917, es seien »Kultur- und das heißt: Wertinteressen … welche auch der rein empirisch-wissenschaftlichen Arbeit die Richtung weisen.«14 Das trifft nicht nur auf die Auswahl des Stoffes, sondern nach Weber auch auf die folgenden Etappen der Analyse und Darstellung des Forschungsobjekts zu, die ebenfalls von Wertgesichtspunkten geprägt seien. Demgemäß gibt es für ihn »keine schlechthin ›objektive‹ wissenschaftliche Analyse des Kulturlebens oder … der ›sozialen Erscheinungen‹ unabhängig von speziellen und ›einseitigen‹ Gesichtspunkten, nach denen sie … als Forschungsobjekt ausgewählt, analysiert und darstellend gegliedert werden.«15 Dazu hat Detlef J. K. Peukert in einem seiner kurzen, aber überaus tief bohrenden Beiträge resümierend festgestellt: »Nicht nur … die Definition des auswählenden Forschungsinteresses unterliegt der unüberbrückbaren Konkurrenz von Wertbeziehungen, sondern auch Analyse und Darstellung. Das heißt: kein ›Idealtyp‹ und keine ›kausale Zurechnung‹, ohne daß nicht konsensunfähige inhaltliche letzte Wertbeziehungen hineinspielten«16. So geht also zunächst einmal ganz in die Irre jene Kritik, derzufolge Weber die Macht und die Kraft von Wertüberzeugungen für Konstitution und Praxis der Wis12 13 14 15 16

König, Überlegungen (Fn. 7), S. 152. Weber, Objektivität (Fn. 3), S. 182. Weber, Sinn (Fn. 9), S. 512. Weber, Objektivität (Fn. 3), S. 170. Detlef J. K. Peukert, Max Webers Diagnose der Moderne, Göttingen 1989, S. 20.

max webers postulat der wertfreiheit in der wissenschaft und die politik

senschaft übersehen und gleichsam eine aseptische Vorstellung von Wissenschaft hegen würde, die dem einzelnen Forscher einen übermenschlich anmutenden Heroismus der Entsagung abverlangen müßte. Im Gegenteil betont Weber mit nicht erlahmender Kraft, daß »Wertbeziehungen«17 geradezu konstitutiv für die Herausarbeitung (sozial-)wissenschaftlicher Themenstellungen sind; mit ihrer Hilfe werden sozusagen aus dem Meer der unendlichen Tatsachen und historischen Einzelereignisse die (jeweiligen, nicht immer konstant bleibenden) wichtigen Aspekte herausgefiltert18 – von Prophetie bis Prostitution19. »Die Frage«, so Weber in einer Debattenrede des Vereins für Sozialpolitik, »welche Probleme wir uns stellen sollen, für was wir uns also interessieren sollen, was wissenswert sei, ist eine Wertfrage und kann nur von subjektiven Wertungen aus entschieden werden.«20 Ob sich der Historiker mit der Antike oder der Frühen Neuzeit, mit den großen Herrschergestalten oder dem Alltag der 17 Dies der von Rickert übernommene terminus technicus (vgl. etwa Max Weber, Roscher und Knies

und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie [1903–1906], in: GAWL [Fn. 3], S. 1–145 [51 f., 91]; besonders deutlich Weber, Sinn [Fn. 9], S. 473). Zur näheren Erläuterung vgl. Alexander von Schelting, Max Webers Wissenschaftslehre, Tübingen 1934, S. 220 ff.; Fritz Loos, Zur Wert- und Rechtslehre Max Webers, Tübingen 1970, S. 13 ff.; Rainer Prewo, Max Webers Wissenschaftsprogramm, Frankfurt/M. 1979, S. 60 ff.; besonders differenzierend Johannes Weiß, Max Webers Grundlegung der Soziologie, München 1975, S. 33 ff. 18 Vgl. Weber, Objektivität (Fn. 3), S. 171: »Nun bietet uns das Leben, sobald wir uns auf die Art, in der es uns unmittelbar entgegentritt, zu besinnen suchen, eine schlechthin unendliche Mannigfaltigkeit von nach- und nebeneinander auftauchenden und vergehenden Vorgängen, ›in‹ uns und ›außer‹ uns. Und die absolute Unendlichkeit dieser Mannigfaltigkeit bleibt intensiv durchaus ungemindert auch dann bestehen, wenn wir ein einzelnes ›Objekt‹ – etwa einen konkreten Tauschakt – isoliert ins Auge fassen, – sobald wir nämlich ernstlich versuchen wollen, dies ›Einzelne‹ erschöpfend in allen seinen Bestandteilen auch nur zu beschreiben, geschweige denn es in seiner kausalen Bedingtheit zu erfassen. Alle denkende Erkenntnis der unendlichen Wirklichkeit durch den endlichen Menschengeist beruht daher auf der stillschweigenden Voraussetzung, daß jeweils nur ein endlicher Teil desselben den Gegenstand wissenschaftlicher Erfassung bilden, daß nur er ›wesentlich‹ im Sinne von ›wissenswert‹ sein solle.« 19 Der Umstand, daß Weber gerade keine festen und für alle verbindlichen Maßstäbe oder Werte (aner-)kannte, nach denen man aus der Mannigfaltigkeit des Geschehens wichtig von unwichtig, wertvoll von wertlos trennen könne (und dies also wiederum Sache des einzelnen Wissenschaftlers ist), mag Leo Strauss zu der Formulierung geführt haben, kraft Webers Wertbeziehung »heben sich die Gegenstände der Sozialwissenschaften aus dem Ozean oder Morast von Tatsachen heraus« (Strauss, Naturrecht [Fn. 6], S. 42). Neutraler Friedrich Tenbruck, Die Wissenschaftslehre Max Webers (1994), in: ders., Das Werk Max Webers. Gesammelte Aufsätze zu Max Weber, hrsgg. v. Harald Homann, Tübingen 1999, S. 219–240 (235 f.): »Aus der unerschöpflichen Wirklichkeit sondern wir gewisse Teile und Momente aus, die uns als ›wissenswert‹ gelten; sie erregen unser Interesse, weil wir an ihre nähere Erkenntnis irgendwelche Erwartungen knüpfen, die sich unvermeidlich bis in stille Vorannahmen erstrecken.« Weiß, Grundlegung (Fn. 17), S. 34: »Um überhaupt ein Objekt seiner Untersuchungen zu besitzen, muß der Forscher die Wirklichkeit aus der Perspektive bestimmter Werte aufgefaßt haben.« 20 Debattenrede Webers auf der Tagung des Vereins für Sozialpolitik in Wien 1909, abgedruckt in: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik (1924) [im folgenden: GASSp], 2. Aufl., Tübingen 1988, S. 412–423 (420). Siehe auch Weber, Objektivität (Fn. 3), S. 183 f.

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kleinen Bürger, mit der Wirtschaft, der Verfassung oder mit der Kunst jener Epochen befaßt, ob der Ökonom die langfristigen Wirtschaftszyklen des neuzeitlichen Kapitalismus oder die statistisch erfaßbaren Entscheidungen der Marktteilnehmer in einem bestimmten Segment studiert, ob der Jurist sich in die Subtilitäten des Zivilprozeßrechts, die philosophischen Grundlagen des Strafrechts oder die Details der Staatsorganisation vertieft – das alles beruht auf einer wertenden Entscheidung. Insofern ist also eine »spezifische Selektivität«21 und subjektive Färbung der Wissenschaft ganz unvermeidbar, weil es der einzelne Wissenschaftler selbst ist, der sein Thema nach seinen Vorlieben aussucht und behandelt22. Und oft liegt in der (womöglich nicht selten von eher unbewußten Wertungen oder Präferenzen bestimmten) Themenwahl und im spezifisch fragenden Zugriff auf das Material die eigentliche fachliche Innovation23. Aber, das bleibt festzuhalten: Wertbeziehung meint gerade nicht das Werturteil über ein Objekt 24, sondern beschreibt die je besondere Fragestellung des Wissenschaftlers, seinen Forschungsgesichtspunkt, also die Auswahl sowie Analyse und Darstellung des Objekts 25.

21 Hans Albert, Max Webers Auffassungen zur Wertproblematik und die Probleme von heute, in:

Zecha, Werte in den Wissenschaften (Fn. 4), S. 5–25 (12). 22 Wobei eine andere Frage wiederum ist, ob nicht etwa zu große Nähe zum Gegenstand blind machen

und die gebotene Distanz zum Untersuchungsobjekt gefährden kann. Der engagierte Tier- und Umweltfreund muß nicht automatisch der beste juristische Kommentator der Tier- und Umweltschutzgesetze sein. Hans Kelsen hat die darin liegende Problematik zugespitzt auf die (von ihm bejahte) Frage, ob nicht auch ein Anarchist eine gute Staatsrechtsvorlesung halten könne, während Gustav Radbruch meinte, der Feind von Demokratie und Republik lese die Verfassung wie der Teufel die Bibel (Belege hierzu bei Horst Dreier, Hans Kelsens Wissenschaftsprogramm, in: Staatsrechtslehre als Wissenschaft, hrsgg. v. Helmuth Schulze-Fielitz, Berlin 2007, S. 81–114 [93 mit Fn. 73]). Schon Weber, Sinn (Fn. 9), S. 496 hatte befunden: »Der Anarchist kann sicherlich ein guter Rechtskundiger sein.« Wenige Sätze später fügte er hinzu: »Denn der radikalste Zweifel ist der Vater der Erkenntnis.« Unter Bezugnahme auf diese Stelle schreibt Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat, 1974 (amer. The Dual State, 1941), S. 181: »Diese Sätze sind die methodologische Rechtfertigung des vorliegenden Buches.« 23 Vgl. Lorenz Engi, Wissenschaft und Werturteil – Wissenschaft und Politik, in: Ancilla Iuris (anci.ch) 2009, S. 25–33 (27 f.). 24 Im Gegenteil: ermöglicht wird gerade, »praktische Wertung und theoretische Wertbeziehung zu trennen« (Loos, Wert- und Rechtslehre [Fn. 17], S. 13); Weiß, Grundlegung (Fn. 17), S. 37: »Damit bestimmte Wertgesichtspunkte auswählend und formend in die Begriffs- und Theoriebildung einfließen, müssen sie nicht vom Forscher aktuell bejaht sein.« Siehe auch Prewo, Wissenschaftsprogramm (Fn. 17), S. 60, 63 ff. 25 Deutlich Weber, Sinn (Fn. 9), S. 511: »Es sei… nur daran erinnert, daß der Ausdruck ›Wertbeziehung‹ lediglich die philosophische Deutung desjenigen spezifisch wissenschaftlichen ›Interesses‹ meint, welches die Auslese und Formung des Objektes einer empirischen Untersuchung beherrscht.« Dieter Henrich, Die Einheit der Wissenschaftslehre Max Webers, Tübingen 1952, S. 17 bemerkt, daß es sich im Grunde um einen recht »einfachen Gedanken« handele. Doch steckt in der zitierten Stelle natürlich eine erhebliche Distanzierung zu Rickert (dazu Prewo, Wissenschaftsprogramm [Fn. 17], S. 50 ff.).

max webers postulat der wertfreiheit in der wissenschaft und die politik

2. (Keine) Wertfreiheit des Untersuchungsgegenstandes

Ganz ähnliches gilt zweitens für den Untersuchungsgegenstand selbst. Denn natürlich kann und natürlich wird der Gegenstand der wissenschaftlichen Behandlung von Wertphänomenen konstituiert sein, wenn und soweit es sich um Kulturphänomene im weitesten Sinn handelt. Niemals wollte Weber mit der »Forderung nach einer wertfreien Soziologie den thematischen Bereich der Werte aus der Sozialforschung ausklammern«26. Aber das sind eben Phänomene im »Objektbereich« der Wissenschaften27; und diese Wissenschaften behandeln subjektive Wertungen als Objekte. Werte und vor allem wertorientierte Handlungen können Gegenstand der Beschreibung, Erklärung und Kritik sein, ohne daß man sich mit den Wertphänomenen identifizieren oder ihre objektive Geltung zugrundelegen müßte: »Wenn das normativ Gültige Objekt empirischer Untersuchung wird, so verliert es, als Objekt, den Norm-Charakter: es wird als ›seiend‹, nicht als ›gültig‹ behandelt.«28 Hier ist vielleicht am ehesten der Hinweis angebracht, daß man anstelle von wertfrei klarer und unmißverständlicher von wertungsfrei sprechen sollte29, weil nicht die Objekte der Untersuchung frei von Werten und Wertbezügen sind, wohl aber die Aussagen über diese Objekte von subjektiven Wertungen des Wissenschaftlers nicht affiziert werden sollten30. Es ist also mithin keineswegs so, daß Werte die Wissenschaft gar nichts angehen und für sie praktisch keine Rolle spielen würden31. Doch bedarf es für die Beschreibung und Erklärung sozialer Vorgänge über die im Untersuchungsgegenstand selbst liegenden Wertphänomene hinaus keiner zusätzlichen praktischen Werturteile des Wissenschaftlers. Bewerten muß man die Vorgänge nur in dem Sinne, daß man sie als Fachmann verstehen, d. h. den Gegenstand seinem inneren Sinn nach richtig deu26 So schon Ralf Dahrendorf, Sozialwissenschaft und Werturteil (1957), in: ders., Gesellschaft und

Freiheit, München 1961, S. 27–48 (39). 27 Albert, Auffassungen (Fn. 21), S. 10. Grundlegend ders., Traktat über kritische Vernunft (1968), 5.

Aufl., Tübingen 1991, S. 76. 28 Weber, Sinn (Fn. 9), S. 531. 29 So zu Recht Prewo, Wissenschaftsprogramm (Fn. 17), S. 63. Zuweilen spricht Weber selbst von

einer »wertungsfreien Wissenschaft« (Weber, Sinn [Fn. 9], S. 515). Herbert Keuth, Die Abhängigkeit der Wissenschaft von Wertungen und das Problem der Werturteilsfreiheit, in: Hans Lenk (Hrsg.), Wissenschaft und Ethik, Stuttgart 1991, S. 116–133 (123) favorisiert »›These der Unmöglichkeit wissenschaftlichen Wertens‹ oder ›wissenschaftlicher Werturteile‹«. 30 Deutlich Max Weber, Diskussionsbeitrag, in: Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages vom 19.–22. Oktober 1910 in Frankfurt a. M., Tübingen 1911, S. 323–330 (324): »Wir behandeln selbstverständlich auch ›Werturteile‹, die wir vorfinden, soweit diese Lebensäußerungen für unsere Feststellungen Wichtigkeit haben, als Objekt unserer Betrachtung und suchen sie erklärend zu ›verstehen‹«. 31 Siehe nur König, Überlegungen (Fn. 7), S. 184, wonach »die Soziologie das soziale Geschehen als durch und durch von Normen mannigfaltigster Art geregelt sieht«.

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ten kann32. Jenseits dieses Punktes aber steht für Weber fest, »daß, wo immer der Mann der Wissenschaft mit seinem eigenen Werturteil kommt, das volle Verstehen der Tatsachen aufhört.«33 Weber exemplifiziert das Problem an der Architektur- und Kunstgeschichte, welche die Veränderungen der Stile zu beschreiben und zu erklären, sich aber in ästhetischer Hinsicht schlichter Fortschrittsurteile oder vermeintlicher Verfallsanalysen zu enthalten hat, weil es für Fortschritt oder Verfall keine allgemeingültigen, objektiven Beurteilungsmaßstäbe gibt34. Das führt direkt zum nächsten Punkt. 3. Wertfreiheit meint (nicht) Wertnihilismus

Die bloße Existenz subjektiver und daher naturgemäß divergenter Werturteile ist eine unbezweifelbare Tatsache. Für Weber als maßgeblichem Vertreter des Wertrelativismus35 steht nun darüber hinaus fest, daß es objektiv gültige und sozusagen mit naturwissenschaftlichem Richtigkeitsanspruch auftretende Werturteile nicht geben kann. Werturteile entziehen sich einer rationalen, intersubjektiv verbindlichen Beweisführung, können also objektive Gültigkeit nicht für sich reklamieren. Die wissenschaftliche Feststellung letzter Zwecke ist danach unmöglich. Weber hat diese Position wortmächtig und konsequent wie kaum ein anderer vertreten und gegen alle Einwände behauptet36. Allerdings besagt das nun keineswegs, daß man in lebenspraktisch-moralischen oder in gesamtgesellschaftlich-politischen Fragen keine praktischen Urteile fällen oder entsprechende Standpunkte mit größtmöglicher Entschiedenheit vertreten könnte. Niemand, der die objektive wissenschaftliche Beweisbarkeit bestimmter Werturteile negiert, muß sich daran gehindert sehen, eben diese in seiner eigenen Lebensgestaltung strikt zu befolgen oder als Maximen seines ge32 Wolfgang Schluchter, Religiöse Wurzeln frühkapitalistischer Berufsethik. Die Weber-These in der

Kritik (2009), in: ders., Die Entzauberung der Welt, Tübingen 2009, S. 40–62 (58 f.) hat das im Zusammenhang mit Webers Protestantismus-Schrift noch einmal betont: »Die religiösen Grundlagen analysiert er [scil. Max Weber] nicht im Hinblick auf die normative, sondern im Hinblick auf die empirische Geltung. Nicht Wert- und Glaubensurteile strebt er an, sondern historische Zurechnungsurteile. Um sie angemessen fällen zu können, muss allerdings der wissenschaftliche Beobachter, der Historiker oder Soziologe, an die Wert- und Glaubensurteile des Teilnehmers, des Theologen und des gläubigen Laien, anknüpfen. Dies erfordert es, auch die dogmatischen Grundlagen einer Religion durchzusehen.« Deutlich auch Weber, Sinn (Fn. 9), S. 524. 33 Weber, Wissenschaft als Beruf (Fn. 5), S. 98. 34 Weber, Sinn (Fn. 9), S. 519 ff. 35 Eingehend Arnold Brecht, Politische Theorie. Die Grundlagen politischen Denkens im 20. Jahrhundert, 2. Aufl., Tübingen 1976, S. 252 ff. (insb. 261 ff. zu den »Vätern« des wissenschaftlichen Wertrelativismus, zu denen Simmel, Rickert, Georg Jellinek und Max Weber gezählt werden). 36 Dazu mehr unter IV.1.

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sellschaftlichen Engagements zu wählen37. Der Relativismus gehört, wie es Gustav Radbruch einmal plastisch formuliert hat, der theoretischen, nicht der praktischen Vernunft an: »Er bedeutet Verzicht auf die wissenschaftliche Begründung letzter Stellungnahmen, nicht Verzicht auf die Stellungnahme selbst.«38 Und Weber hat, dem Zeugnis seiner Frau Marianne in ihrer Biographie seines Lebens gemäß, die Deutung seines Standpunkts als Relativismus (im eben erwähnten Sinne von Beliebigkeit) als »gröblichstes Mißverständnis« zurückgewiesen39. Für ihn lag vielmehr die ganze »Würde der ›Persönlichkeit‹ darin beschlossen, daß es für sie Werte gibt, auf die sie ihr eigenes Leben bezieht«40 – und dies gerade im vollen Bewußtsein um die mangelnde objektive Beweisbarkeit jener Werte. Es kann also gar keine Rede davon sein, daß Webers Wertfreiheitspostulat zu Nihilismus, Indifferentismus oder Wertverleugnung führe: entgegen dieser bereits kurz angesprochenen These von Leo Strauss41 führt Webers Wertfreiheitspostulat nicht zur Indifferenz gegenüber dem Wertproblem, sondern eher umgekehrt zur Bedeutungssteigerung der – freilich individuell zu be- und verantwortenden – Wertfrage42. Und weil diese Wertfrage nur subjektiv zu beantworten ist, darf sie mit der objektiven Feststellung von Tatsachen nicht vermengt werden. Im Objektivitätsaufsatz hat Weber es im Grunde unmißverständlich formuliert: »Die stete Vermischung wissenschaftlicher Erörterung der Tatsachen und wertender Raisonnements ist eine der zwar noch immer verbreitetsten, aber auch schädlichsten Eigenarten von Arbeiten unseres Faches. Gegen diese Vermischung, nicht etwa gegen das Eintreten für die eigenen Ideale richten sich die vorstehenden Ausführungen.« Und lapidar fügt er

37 Um einen Geistesverwandten Webers zu zitieren, sei verwiesen auf die klare Formulierung von Hans Kelsen, Juristischer Formalismus und reine Rechtslehre, in: Juristische Wochenschrift, Bd. 58, 1929, S. 1723–1726 (1724): »Wissenschaft treiben zwingt ja nicht, auf politische Werturteile zu verzichten, verpflichtet nur: das Eine vom Anderen, Erkennen und Wollen, voneinander zu trennen.« 38 So Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, § 2, S. 18 (zitiert nach der Studienausgabe, hrsgg. von Stanley L. Paulson und Ralf Dreier, 2. Aufl., Heidelberg 2003). 39 Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild (1926), Tübingen 1984, S. 339. Das »gröblichste Mißverständnis« zitiert Weber, Sinn (Fn. 9), S. 508. 40 Weber, Objektivität (Fn. 3), S. 152. 41 Vgl. oben bei Fn. 6. Dagegen kurz und knapp Loos, Wert- und Rechtslehre (Fn. 17), S. 84: »einen Relativismus der gleichberechtigten Werte akzeptiert Weber gerade nicht.« – Der Nihilismus-Vorwurf hat nach eigenem Bekunden auch Wilhelm Hennis eine Zeitlang irregeführt (vgl. Hennis, Sinn [Fn. 1], S. 101). Zur Kritik an Strauss noch Albert, Theorie (Fn. 8), S. 208 ff. 42 Siehe Friedrich Tenbruck, Nachwort [scil. zu Max Webers »Wissenschaft als Beruf«] (1995), in: ders., Werk (Fn. 19), S. 243–260 (254): Weber werde gründlich »mißverstanden, ja geradezu verleumdet, wenn man ihm ›Dezisionismus‹, also das Recht zur beliebigen Entscheidung vorwirft. (…) Weber stellt die Wertentscheidungen, die wir ständig treffen müssen, gerade nicht in das jeweilige Belieben, sondern schiebt sie allen in ihr Gewissen.«

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hinzu: »Gesinnungslosigkeit und wissenschaftliche ›Objektivität‹ haben keinerlei innere Verwandtschaft.«43

III. Grundlegende Orientierungspunkte des Wertfreiheitspostulats Damit sind wir schon bei den methodologischen Grundlagen Webers, den für ihn gleichsam unhintergehbaren und basalen Ausgangs- und Orientierungspunkten. Zu den entsprechenden Evidenzen zählt Weber, wie hervorzuheben geboten scheint, nicht, daß Wissenschaft und ihre Erkenntnisse von objektivem Wert und Nutzen seien. Auch hier bleibt er skeptischer Wertrelativist, der die Vorverständnisse und Einschätzungen seiner Zeit nicht naiv für objektiv gegeben hält oder als universal gültig einstuft. Distanziert hält er fest, daß »der Glaube an den Wert wissenschaftlicher Wahrheit … Produkt bestimmter Kulturen und nichts Naturgegebenes« sei, und wem diese Wahrheit nicht wertvoll erscheine, »dem haben wir mit den Mitteln unserer Wissenschaft nichts zu bieten«44. Aber wenn man Wissenschaft betreibt, dann ist man sozusagen an ihre inneren Voraussetzungen gebunden. 1. Dualismus von Sein und Sollen

Hier war nun erstens der von Hume und Kant begründete Dualismus von Sein und Sollen45 selbstverständlich für Weber, war ihm umgekehrt das »Hineinmengen eines Seinsollens in wissenschaftliche Fragen … eine Sache des Teufels«46 – und zwar nicht 43 Weber, Objektivität (Fn. 3), S. 157. Nicht minder deutlich Weber, Sinn (Fn. 9), S. 500: »Aber es han-

delt sich doch ausschließlich um die an sich höchst triviale Forderung: daß der Forscher und Darsteller die Feststellung empirischer Tatsachen (einschließlich des von ihm festgestellten ›wertenden‹ Verhaltens des von ihm untersuchten empirischen Menschen) und seine praktisch wertende, d. h. diese Tatsachen … als erfreulich oder unerfreulich beurteilende, in diesem Sinn: ›bewertende‹ Stellungnahme unbedingt auseinanderhalten solle, weil es sich da nun einmal um heterogene Probleme handelt.« Hier liegt sozusagen der von Weber selbst als trivial eingestufte Aspekt des Wertfreiheitspostulats. Ganz ähnlich auch Weber, Wissenschaft als Beruf (Fn. 5), S. 97. 44 Weber, Objektivität (Fn. 3), S. 213. Dazu etwa Karl Löwith, Max Weber und Karl Marx (1932), in: ders., Gesammelte Abhandlungen. Zur Kritik der geschichtlichen Existenz, Stuttgart 1960, S. 1–67 (9 ff., insb. 10: »Ob eine solche Wissenschaft überhaupt einen ›Sinn‹ hat bzw. welche Art von Bedeutung sie hat, das kann nicht aus ihr selbst heraus – wissenschaftlich – begründet werden …«); richtig auch König, Überlegungen (Fn. 7), S. 171: »die Stellungnahme für die Wissenschaft ist selbst eine Wertentscheidung, die – logischerweise – ebenfalls unbeweisbar ist.« Für die einzelnen Wissenschaften wird das in kursorischer Knappheit noch einmal exemplifiziert bei Weber, Wissenschaft als Beruf (Fn. 5), S. 94 f. 45 Zu diesem Dualismus, der hier nicht in extenso diskutiert werden kann, nur Loos, Wert- und Rechtslehre (Fn. 17), S. 35 ff. 46 Weber, Debattenrede (Fn. 20), S. 417.

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etwa wegen der Bedeutungslosigkeit des Normativen, sondern im Gegenteil wegen dessen hohen Wertes47. Auch das wird in der soeben zitierten längeren Diskussionsbemerkung ganz deutlich, wenn er fortfährt: »Der Grund, weshalb ich so außerordentlich scharf bei jeder Gelegenheit, mit einer gewissen Pedanterie meinetwegen, mich wende gegen die Verquickung des Seinsollens mit dem Seienden, ist nicht der, daß ich die Fragen des Sollens unterschätze, sondern gerade umgekehrt: weil ich es nicht ertragen kann, wenn Probleme von weltbewegender Bedeutung, von größter ideeller Tragweite, in gewissem Sinne höchste Probleme, die eine Menschenbrust bewegen können, hier in eine technisch-ökonomische ›Produktivitäts‹Frage verwandelt und zu einem Gegenstand der Diskussion einer Fachdisziplin, wie es die Nationalökonomie ist, gemacht werden.«48 In seinen Diskussionsbeiträgen wie in seinen Publikationen schärft Weber immer wieder ein, worauf es ihm im Kern ankommt: »daß einerseits die Geltung eines praktischen Imperativs als Norm und andererseits die Wahrheitsgeltung einer empirischen Tatsachenfeststellung in absolut heterogenen Ebenen der Problematik liegen«49. Dabei kommt es, wie wiederholt sei50, entscheidend darauf an, die Feststellung bestimmter Tatsachen einerseits, deren Bewertung (als gut, richtig, erfreulich bzw. als schlecht, falsch, unerfreulich) andererseits auseinanderzuhalten – nicht jedoch, auf Bewertung zu verzichten. Deshalb ist es auch überhaupt kein tragfähiger Einwand gegenüber Weber, daß dieser selbst – »und zwar nicht zu knapp«51 – gewertet habe. Das trifft zu, aber er hat dies, vielleicht nicht immer erfolgreich, auseinanderzuhalten versucht. Bei seinen Debattenreden im Verein für Sozialpolitik lassen sich jedenfalls signifikante Beispiele für die Betonung dieser Differenz finden52. 47 Vgl. Max Weber, Diskussionsrede beim ersten Soziologentag Frankfurt 1910, in: GASSp (Fn. 20), S.

449–456 (449 f.): Es sei »natürlich gewiß richtig … daß für alle unsere Arbeit der Glaube an einen Wert der Wissenschaft Vorbedingung ist – was aber auch nicht bestritten worden ist. Sondern es wurde gesagt, daß wir hier praktische Wertfragen des Lebens ausschließen wollen. Nicht weil wir sie für minderwertige Dinge hielten. Im Gegenteil. Ich möchte glauben, daß grade auch die spezifische Wichtigkeit, die jeder einzelne von uns diesen, seine ganze Subjektivität in Mitleidenschaft ziehenden, eben deshalb aber auf dem Boden einer ganz anderen Provinz des Geistes sich abspielenden praktischen Problemen zumessen wird, dazu führen muß, sie nicht als trockene Tatsachenfragen zu behandeln und also sie, mit den streng objektiven kühlen Tatsachenfeststellungen, mit denen wir es hier zu tun haben, nicht zu vermengen, weil sonst beide Arten von Fragestellungen zu kurz kommen.« 48 Weber, Debattenrede (Fn. 20), S. 419. 49 Weber, Sinn (Fn. 9), S. 501. 50 Vgl. die Hinweise in Fn. 22 und 37. 51 Paul Honigsheim, Die Gründung der deutschen Gesellschaft für Soziologie in ihren geistesgeschichtlichen Zusammenhängen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 11 (1959), S. 3–10 (9). 52 Siehe etwa in seinen »Diskussionsreden auf den Tagungen des Vereins für Sozialpolitik (1905, 1907, 1909, 1911)« sowie »Geschäftsbericht und Diskussionsreden auf den deutschen soziologischen Tagungen (1910, 1912)«, abgedruckt in: GASSp (Fn. 20), S. 394–491, z. B. S. 394 (»Dies ist meine persönliche

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Die dahinter stehende fundamentale Überzeugung lautet: Es gibt eine unüberwindbare Kluft zwischen praktischen Stellungnahmen und empirisch erhobenen Tatsachenbefunden, einen »prinzipiellen Dualismus zwischen Tatsachenbehauptungen und Wertaussagen, ›facts‹ und ›standards‹«53. Oder noch knapper: Normative Sätze lassen sich aus deskriptiven Sätzen nicht ableiten54. 2. Ethischer Evolutionismus als Diskussionskontext

Zum besseren Verständnis ist es vermutlich hilfreich, sich die »zeitgeschichtliche Folie«55 der Entwicklung von Webers Position zu vergegenwärtigen. In der seinerzeit Stellung zu dieser Bemerkung über den sittlichen Stand der Arbeiter«), S. 398 (»Ich persönlich stehe ganz offen auf dem Standpunkt, daß, gleichviel ob die Gewerkvereine viel oder wenig faktisch im offenen Kampf erreichen, sie für mich einen Eigenwert darstellen«), S. 402 (»Denn, meine Herren, ich müßte mich dagegen verwahren, daß ich, wenn ich hier rede, in meiner Eigenschaft als Mann der Wissenschaft spreche. Hier spricht der Mensch und sonst niemand …«), S. 452 (»Das ›großartig‹ war soeben ein Werturteil, wie ich offen zugestehe, und ich nehme es wieder zurück.«) etc. pp. Zu diesem Punkt auch noch Uta Gerhardt, Zäsuren und Zeitperspektiven. Überlegungen zu »Wertfreiheit« und »Objektivität« als Problemen der Wissenschaftsgeschichte, in: Rüdiger vom Bruch / Uta Gerhardt / Aleksandra Pawliczek (Hrsg.), Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2006, S. 39–67 (47 f.). 53 Gebhard Kirchgässner, Wertfreiheit und Objektivität in den Wirtschaftswissenschaften: Mythos oder Realität?, in: Zecha, Werte in den Wissenschaften (Fn. 4), S. 137–171 (143). Ausführlicher zum »Postulat der Unterscheidung von Aussagen und Werturteilen« Keuth, Wissenschaft (Fn. 3), S. 27 ff.; speziell für den Bereich der Rechtswissenschaft siehe Eric Hilgendorf, Das Problem der Wertfreiheit in der Jurisprudenz, in: ders./Lothar Kuhlen, Die Wertfreiheit in der Jurisprudenz, Heidelberg 2000, S. 1–32. 54 Fritz Loos, Max Webers Beitrag zu Rechtphilosophie und Rechtstheorie, in: Gerhard Sprenger (Hrsg.), Deutsche Rechts- und Sozialphilosophie um 1900 (= Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 43), Stuttgart 1991, S. 66–78 (70). Für diesen Aspekt hat Weber im Sinn-Aufsatz (Weber, Sinn [Fn. 9], S. 509) einen seiner typischen ellenlangen Schachtelsätze geprägt, der sich aber im Kern genau auf diese Aussage reduzieren läßt. »Ich muß abwarten, ob sich wirklich Leute finden, welche behaupten, daß die Frage: ob eine konkrete Tatsache sich so oder anders verhält?, warum der betreffende konkrete Sachverhalt so und nicht anders geworden ist?, ob auf einen gegebenen Sachverhalt nach einer Regel des faktischen Geschehens ein anderer Sachverhalt, und mit welchem Grade von Wahrscheinlichkeit, zu folgen pflegt? – dem Sinn nach nicht grundverschieden seien von den Fragen: was man in einer konkreten Situation praktisch tun solle?, unter welchen Gesichtspunkten jene Situation praktisch erfreulich oder unerfreulich erscheinen könne? (…) endlich, daß einerseits die Frage: welche Ansicht sich bestimmte Personen unter konkreten, oder eine unbestimmte Vielheit von Personen sich unter gleichen, Umständen über ein Problem welcher Art immer mit Wahrscheinlichkeit (oder selbst mit Sicherheit) bilden werden? und andererseits die Frage: ob diese mit Wahrscheinlichkeit oder Sicherheit entstehende Ansicht richtig sei?, – daß die Fragen jedes dieser Gegensatzpaare miteinander dem Sinn nach auch nur das mindeste zu tun haben?, daß sie wirklich, wie immer wieder behauptet wird, ›voneinander nicht zu trennen‹ seien?, daß diese letztere Behauptung nicht mit den Anforderungen des wissenschaftlichen Denkens in Widerspruch stehe?« 55 König, Überlegungen (Fn. 7), S. 169.

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konkret gegebenen Diskussionslage handelte es sich bei den von Weber bekämpften Gegnern insbesondere um Vertreter eines »ethischen Evolutionismus«56, wie er zumindest in Webers Wahrnehmung und Rezeption namentlich in Gestalt der Historischen Schule der Nationalökonomie begegnete57. Gespeist aus Hegelscher Geschichtsmetaphysik einerseits, biologischen Entwicklungslehren andererseits, postulierte man Fähigkeit und Verpflichtung zum Handeln gemäß historischen Entwicklungstrends. Denn die Nationalökonomie glaubte eindeutige und erkennbare, wenn nicht gar in gesetzmäßiger Abfolge voranschreitende Entwicklungsprinzipien identifizieren zu können und fand das Seinsollende somit im »unvermeidlich Werdenden«58. Sich zur »Dignität einer ›ethischen‹ Wissenschaft auf empirischer Grundlage zu erheben«59, schien vor allem deshalb realisierbar, weil man »von einem fortschreitenden Erfahrungswissen eine Einigung über Wertfragen« erwartete60. Stark vergröbert formuliert galt sozusagen der Grundsatz »aus Werden folgt Sollen«61, eine Position, für die es auch im Bereich der Rechtswissenschaft plastische Beispiele gibt62. Weber kritisiert diese Identifikation von Werdendem und Gesolltem ausführlich als Trugschluß und naive Vorstellung eines Fortschritts der Menschheit, die sich entweder ihrer Abhängigkeit von bestimmten Werturteilen gar nicht bewußt ist63 bzw. nicht erkennt, daß »aus noch so eindeutigen ›Entwicklungstendenzen‹ … eindeutige Imperative des Handelns doch nur bezüglich der voraussichtlich geeignetsten Mittel

56 So Webers eigene Formulierung: Weber, Objektivität (Fn. 3), S. 148. 57 Siehe hierzu Loos, Wert- und Rechtslehre (Fn. 17), S. 42 ff.; Harald Homann, Gesetz und Wirklich-

keit in den Sozialwissenschaften, Diss. jur. Tübingen 1989, S. 68 ff. 58 Keuth, Wissenschaft (Fn. 3), S. 15. 59 Weber, Objektivität (Fn. 3), S. 148. 60 Steffen Augsberg, Die aktuelle Methodendiskussion: eine wissenschaftstheoretische Renaissance?, in:

Öffentliches Recht und Wissenschaftstheorie, hrsgg. v. Andreas Funke und Jörn Lüdemann, Tübingen 2009, S. 145–199 (159). 61 Äußerst knappe, aber präzise Darstellung bei Loos, Beitrag (Fn. 54), S. 69 ff. mit hochinteressanten Bezügen zum »geschichtsphilosophischen Normbegründungsparadigma der 60er Jahre« (70). Systematischer Vergleich des Werturteilsstreites im Anschluß an Weber mit dem sog. Positivismusstreit der 1960er Jahre (Theodor W. Adorno u. a., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied u. a. 1969) bei Keuth, Wissenschaft (Fn. 3); Homann, Gesetz (Fn. 57), S. 94 ff., 289 ff.; zusätzlich noch die Kontroverse Menger–Schmoller sowie den Methodenstreit in der Weimarer Staatsrechtslehre behandelnd Augsberg, Methodendiskussion (Fn. 60), passim. 62 Siehe etwa Franz v. Liszt, Das ›richtige Recht‹ in der Strafgesetzgebung, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 26 (1906), S. 553–557 (556): »Indem wir das Seiende als ein geschichtlich Gewordenes betrachten und darnach das Werdende bestimmen, erkennen wir das Seinsollende. Werdendes und Seinsollendes sind insoweit identische Begriffe. Nur die erkannte Entwicklungstendenz gibt uns über das Seinsollende Aufschluß …«. Zu diesem Evolutionismus knapp Hans Welzel, An den Grenzen des Rechts, Köln–Opladen 1966, S. 23 f. 63 Siehe Weber, Roscher (Fn. 17), S. 51 ff.; ders., Sinn (Fn. 9), S. 512 ff.

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bei gegebener Stellungnahme, nicht aber bezüglich jener Stellungnahme selbst zu gewinnen«64 seien. Genausowenig resultiert die objektive Gültigkeit praktischer Wertungen aus der (hypothetisch unterstellten oder tatsächlich gegebenen) faktischen Einmütigkeit, mit der sie gegebenenfalls vertreten werden. Denn ganz davon abgesehen, daß eine solche Einmütigkeit nach Webers Zeitdiagnose längst verlorengegangen ist65, kann das einmütige ethische Urteil schon deswegen keine feste und objektive Wertgrundlage bilden, weil der Wissenschaft gerade »das konventionell Selbstverständliche zum Problem«66 werde und sie sich mit faktisch herrschenden Meinungen eben nicht beruhigen dürfe. Es bleibt also dabei: das Fällen von Werturteilen ist das eine, die Gewinnung wissenschaftlicher Tatsachenerkenntnis das andere. 3. Dignität und Differenz von Werturteil und Tatsachenfeststellung

Weber spricht im gleichen thematischen Zusammenhang ausdrücklich von der »spezifischen Dignität« empirischer Tatsachenfeststellung einerseits, der Geltung eines praktischen Imperativs andererseits und davon, daß der Dignität »jeder von beiden Abbruch getan wird, wenn man … beide Sphären zusammenzuzwingen sucht.«67 Damit ist zunächst noch einmal die Hochschätzung wertfreier Tatsachenwissenschaft 64 Weber, Sinn (Fn. 9), S. 512. 65 Der frühere Glaube an die Existenz solcher verbindenden gemeinsamen Überzeugungen und Ein-

stellungen wird eindrucksvoll illustriert durch die Eröffnungsrede Gustav Schmollers bei den Verhandlungen des Vereins für Sozialpolitik im Jahre 1893 in Berlin: »Wir stehen im Dienste der Wissenschaft, der Wahrheit. Wir suchen nach der Wahrheit, die dem praktischen Leben, dem Vaterlande frommt; aber zugleich nach der Wahrheit, die jedem Unbefangenen einleuchtet, die über den Parteien und Klassen steht, die nur eine einzige, jedem normalen Verstande evidente sein kann. Wir leben der Hoffnung, daß diese Art wissenschaftlicher unbestreitbarer Erkenntnis einen zunehmenden Einfluß auf alles Staats- und Gesellschaftsleben gewinnen werde, daß der Staat am höchsten stehe, der hierin am weitesten gehe, in dem eine unwiderstehliche öffentliche Meinung sich bilde, die nicht auf Interessenleidenschaft und Mißverständnis, sondern auf wissenschaftlicher Erkenntnis beruhe.« (Gustav Schmoller, Zur Eröffnung, in: Verein für Sozialpolitik [Hrsg.], Verhandlungen der am 20. und 21. März 1893 in Berlin abgehaltenen Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik über die ländliche Arbeiterfrage und über die Bodenbesitzverteilung und die Sicherung des Kleingrundbesitzes, Leipzig 1893, S. 1–5 [3]). Webers entgegengesetzte Position wird etwa formuliert auf der Wiener Tagung 1909: »Immer wieder geschah es, daß man geglaubt hat, ein Mensch sei deshalb wissenschaftlich erledigt, weil er unsere ethischen Urteile nicht teilt. Das ist unmöglich, das können wir bei allem Respekt für die Generation, die die großen Kämpfe der Vergangenheit geführt hat und deren Epigonen wir heute sind, und ohne deren mächtigen Unterbau unsere Arbeiten gar nicht möglich wären, nicht mitmachen. Das ist der Punkt, wo wir den Versuch machen müssen, auf einen anderen Boden zu kommen …« (Weber, Debattenrede [Fn. 20], S. 419 f.; s. noch Weber, Sinn [Fn. 9], S. 501 f.). Zu dieser Differenz auch Homann, Gesetz (Fn. 57), S. 193 ff. 66 Weber, Sinn (Fn. 9), S. 502. Zur Differenz von Tatsachenaussage und Werturteil vgl. die gute Rekapitulation bei Hilgendorf, Problem (Fn. 53), S. 9 ff. 67 Weber, Sinn (Fn. 9), S. 501. Vgl. auch das Zitat oben in Fn. 47.

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wie auch die Hochschätzung praktischer Wertung unterstrichen. Man darf darin aber vielleicht auch einen Hinweis darauf sehen, daß die Vermengung mit Werturteilen der Wissenschaft schadet, weil sie vorurteilsfreier Forschung im Wege steht und wissenschaftliche Erkenntnisse gleichsam deformiert. Subjektive Wertungen kontaminieren den objektiven Befund. Das Wertfreiheitsprinzip soll neben der Bewahrung der Integrität des Forschers auch sicherstellen, daß sich wissenschaftliche Forschung »möglichst frei von den Einflüssen politischer Interessen und Ideologien aller Art entfalten kann.«68 Insofern wohnt dem Ethos der Unbestechlichkeit und »intellektuelle(n) Rechtschaffenheit«69 des Wissenschaftlers ein objektives Moment inne. »Werturteilsfreiheit ist Ideologie- und Weltanschauungsschutz.«70 Denn die Eigenlogik des Subsystems Wissenschaft verträgt sich nicht mit direkter politischer Instrumentalisierung; ideologische Vereinnahmung oder Indienstnahme führt nur in die Irre, insbesondere auch zu unbrauchbaren oder schädlichen Ergebnissen. Wer unter Kuratel steht, dem fällt selten etwas Originelles ein. Den Extremfall einer »Deutschen Physik«, wie sie im NS-System gegen die angeblich jüdische Relativitätstheorie propagiert wurde, hat Max Weber ebensowenig erleben müssen wie die nicht minder obskure, Mendel und Darwin ignorierende und daher wissenschaftlich unhaltbare »Biologie« des glühenden Stalinanhängers Lyssenko, demzufolge nicht genetische Faktoren, sondern Umwelteinflüsse zu Veränderungen der Erbanlagen führten71. Aber Weber hatte bezeichnenderweise für bewußt tendenzhafte, gezielt interessengeleitete Wissenschaft nur Verachtung und wenige wegwerfende Bemerkungen übrig72. Freilich sind auch jenseits solcher krassen Fälle einer Unterordnung der Wissenschaft unter die Wunschvorstellungen der Politik gestern wie heute die Beispiele dafür »Legion«73, daß praktische Werturteile und eigene Überzeugungen als objektive wissenschaftliche Wahrheiten ausgegeben werden. Hier redet dann, um das Schopenhauer-Wort zu bemühen, Absicht unter der Maske der Einsicht. Es scheint eine »ewige Verlockung« des Wissenschaftlers zu sein, die eigenen politischen Meinungen oder sonstige starke Überzeugungen »in quasi-wissenschaftliche Aussagen zu kleiden«74, um ihnen so höhere Glaubwürdigkeit und Durchschlagskraft zu vermit68 Albert, Auffassungen (Fn. 21), S. 11. Ähnlich Hennis, Sinn (Fn. 1), S. 99: »Sicherung der Unbefangenheit des Wissenschaftlers«. 69 Ein von Weber des öfteren benutzter Terminus: vgl. etwa Weber, Wissenschaft als Beruf (Fn. 5), S. 97, 110; Weber, Sinn (Fn. 9), S. 491. 70 Henning Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. IV/1, Stuttgart u. a. 2010 (i. E.), im Ms. S. 10. 71 Hinweis auf diese beiden Standardbeispiele bei Kirchgässner, Wertfreiheit (Fn. 53), S. 144 f. 72 Etwa Weber, Sinn (Fn. 9), S. 494 f. 73 König, Überlegungen (Fn. 7), S. 161. 74 Gebhard Kirchgässner, Diskussionsbemerkung, in: Zecha, Werte in den Wissenschaften (Fn. 4), S. 128.

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teln und sich zugleich – und vor allem – gegen Kritik zu immunisieren75. Dem kann und muß man mit beharrlicher Kritik entgegentreten. Dabei sind es heute wohl weniger individuelle Einforderungen intellektueller Rechtschaffenheit und stärker Mechanismen institutionalisierter binnenwissenschaftlicher Kritik, Expertise und Bewertung anhand bestimmter Qualitätsmaßstäbe, die ein einigermaßen wirksames Gegengift bereithalten können76. Denn wenn Wissenschaft in unseren Tagen, wie man es mit einem von Webers Lieblingsbegriffen sagen könnte, in mancherlei Hinsicht zu einem »Betrieb« geworden ist, dann hat das eben auch zur Folge, daß nicht die Persönlichkeit des einzelnen Forschers, sondern der organisierte, arbeitsteilige Prozeß mit entsprechenden Produktvorgaben und Qualitätskontrollen im Vordergrund steht und seine eigenen Kontrollmöglichkeiten bereithält. 4. Kathederwertungen

Es bleibt freilich die Problematik der Kathederwertungen77, also die Frage, ob der Dozent im Hörsaal seine eigenen Werturteile präsentieren darf oder sich unter Zurückhaltung dieser ganz auf die Vermittlung des wissenschaftlichen Stoffes beschränken sollte. Weber hält diese Frage, weil die Antwort auf einem Werturteil beruht, für wissenschaftlich nicht entscheidbar: es sei »eine gänzlich von praktischen Wertungen abhängige und eben deshalb unaustragbare Frage«78. Doch beim wertenden Abwägen des Für und Wider gewinnt für seine Einschätzung entscheidende Bedeutung wiederum die (Mindest-)Forderung, auch hier das eine vom anderen klar zu trennen und die Hörer nicht darüber im unklaren zu lassen, was Werturteil, was wissenschaftliche Aussage ist. Die Präsentation von eigenen Wertungen sei überhaupt nur dann »akzeptabel, wenn der akademische Lehrer sich zur unbedingten Pflicht setzt, in jedem einzelnen Falle, auch auf die Gefahr hin, seinen Vortrag dadurch reizloser zu gestalten, seinen Hörern und, was die Hauptsache ist, sich selbst unerbittlich klar 75 Wobei als weiterer Faktor durchaus die Interessen und Bedürfnisse von Politik, Wirtschaft und Ver-

bänden nach »wissenschaftlicher« Absicherung und entsprechende Erwartungen hinzukommen. Siehe die Bemerkung von Albert, Theorie (Fn. 8), S. 201: »Immer noch pflegen Vertreter dieser Wissenschaften ihre praktischen Empfehlungen als Ergebnisse wissenschaftlicher Erkenntnis hinzustellen. Im allgemeinen scheint die Öffentlichkeit sogar etwas Derartiges von der Wissenschaft zu erwarten und zu fordern.« 76 Albert, Auffassungen (Fn. 21), S. 11 hat unter Hinweis auf einschlägige Passagen bei Popper von einer »institutionellen Stützung für die Objektivität der Wissenschaft« gesprochen, wie sie »durch interpersonelle Kritik und Konkurrenz« gefördert werden könne. Ähnlich Kirchgässner, Wertfreiheit (Fn. 53), S. 159 ff. (und in der folgenden Diskussion Lindenberg, S. 180: »institutionelle Wende«). 77 Sie wird eingehend zu Beginn des Sinn-Aufsatzes erörtert (Weber, Sinn [Fn. 9], S. 489 ff.) und hat vielleicht von daher, gemessen an ihrer Relation zu anderen Aspekten der Wertfreiheit, überproportional viel Aufmerksamkeit gefunden (diese Einschätzung auch bei Keuth, Abhängigkeit [Fn. 29], S. 121). Vgl. noch Weber, Wissenschaft als Beruf (Fn. 5), S. 95 ff., 101 ff. 78 Weber, Sinn (Fn. 9), S. 489.

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zu machen: was von seinen jeweiligen Ausführungen entweder rein logisch erschlossen oder rein empirische Tatsachenfeststellung und was praktische Wertung ist.«79 Für sich selbst zieht er allerdings den kompletten Verzicht auf Kathederwertungen vor80. Sein Hauptgrund besteht in der Ablehnung dessen, was er mit der spöttischen Wendung von der »Kathederprophetie«81 bzw. »Professoren-Prophetie«82 bedenkt, welche letztere er unter allen Arten von Prophetien »die einzige ganz und gar unerträgliche«83 nennt. Gegen die Verkündung von Werturteilen im akademischen Unterricht wendet er sich vor allem, weil es die von ihm favorisierte autonome Urteilsbildung eines jeden (Studenten im Hörsaal) gefährdet, wenn der Dozent versucht, »seinerseits dem Zuhörer eine Stellungnahme aufoktroyieren oder ansuggerieren zu wollen«84. Dabei stand ihm die Gefahr mehr oder minder subtiler Indoktrination der Studenten vor Augen, der diese sich sozusagen nicht entziehen können85. Weber stört sich gerade an dem, was er die »Sturmfreiheit des Katheders«86 und somit die privilegierte Situation des Dozenten nennt, sich keiner offenen oder gar öffentlichen Diskussion unter Gleichberechtigten stellen zu müssen, sondern seine Hörer »zu stempeln nach seiner persönlichen politischen Anschauung«87. Dort, in der Öffentlichkeit, in Vereinen, Versammlungen etc. sieht er den angemessenen 79 Weber, Sinn (Fn. 9), S. 490; ähnlich ebd., S. 497 f. Siehe auch Weber, Wissenschaft als Beruf (Fn.

5), S. 97: »Nun kann man niemandem wissenschaftlich vordemonstrieren, was seine Pflicht als akademischer Lehrer sei. Verlangen kann man von ihm nur intellektuelle Rechtschaffenheit: einzusehen, daß Tatsachenfeststellungen, Feststellung mathematischer oder logischer Sachverhalte oder der inneren Struktur von Kulturgütern einerseits, und andererseits die Beantwortung der Frage nach dem Wert der Kultur und ihrer einzelnen Inhalte und danach: wie man innerhalb der Kulturgemeinschaft und der politischen Verbände handeln solle – daß dies beides ganz und gar heterogene Probleme sind.« 80 Weber, Sinn (Fn. 9), S. 491 ff., wo er deutlich macht, daß auch die Frage des »Ob« eine subjektive Wertungsfrage ist, die er (siehe S. 491, 495) negativ beantwortet. 81 Vgl. Weber, Wissenschaft als Beruf (Fn. 5), S. 106, 110. 82 Weber, Sinn (Fn. 9), S. 492. 83 Weber, Sinn (Fn. 9), S. 492; ebd., S. 493 geht der Spott noch weiter: »Für persönliche Prophetie aber gibt es keine Fachqualifikation …«. 84 Weber, Wissenschaft als Beruf (Fn. 5), S. 104; ähnlich ebd., S. 96 f. 85 Aufgrund mannigfacher Umstände wie etwa der Ermangelung von Informations- und Diskussionsalternativen und einer sehr viel stärker autoritär geprägten Gesamtsituation war diese Gefahr zu Webers Zeiten vermutlich sehr viel stärker als heute ausgeprägt, wo man lapidar sagen könnte »Es kann ja widersprechen, wer will« (so Ottmann, Geschichte [Fn. 70], Ms. S. 11). Trotzdem gibt es auch heute eine strukturelle Asymmetrie, die man nicht übersehen sollte. Im Sinne Webers argumentierend etwa Henning Zwirner, Politische Treupflicht des Beamten (Diss. jur. Göttingen 1956), Baden-Baden 1987, S. 254 f.; desgleichen Hilgendorf, Problem (Fn. 53), S. 29 ff. 86 Weber, Sinn (Fn. 9), S. 493; ebd. auch die Wendung von der Ausbeutung einer »Zwangslage des Studenten«. Ironisch spricht Weber, Wissenschaft als Beruf (Fn. 5), S. 103 vom »Bekennermut« des Dozenten da, »wo die Anwesenden und vielleicht Andersdenkenden zum Schweigen verurteilt sind.« 87 Weber, Wissenschaft als Beruf (Fn. 5), S. 97; vgl. ebd., S. 99: »Vermeidung eines Aufdrängens persönlicher Stellungnahme«.

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Platz für das Verkünden und Vertreten eigener Überzeugungen, während »der Prophet und der Demagoge nicht auf den Katheder eines Hörsaals gehören«88 und sich der akademische Lehrer nicht zum »Führer auf dem Gebiet der praktischen Lebensorientierung«89 aufspielen sollte. Ein weiteres Argument Webers geht dahin, daß eine prinzipielle Inanspruchnahme des Rechts der Kathederwertung aus Gründen der Gleichbehandlung im Grunde die halbwegs repräsentative Vertretung der unterschiedlichen Meinungen (auch und gerade politischer Art) sicherstellen müßte, wovon naturgemäß damals so wenig die Rede sein konnte wie heute, so daß es für Weber der »Würde der Vertreter der Wissenschaft allein zu entsprechen (scheint): auch über solche Wertprobleme, die man ihnen zu behandeln freundlichst erlaubt, zu schweigen.«90

IV. Der Sinn der Wertfreiheit oder: Vom Beruf der Wissenschaft Nun ist diese gleichsam »einfache« oder methodologische Wertfreiheit im Sinne einer Nichtvermengung von Werturteil und Tatsachenfeststellung, von Sollen und Sein, von politischer Position und wissenschaftlicher Erkenntnis für Weber selbst im Grunde eine »Trivialität«91, wie er mehr als einmal hervorhebt92. Aber woher rührt dann der »lebenspraktische, um Disziplin bemühte Ernst«93, woher das Pathos und die existentielle Wucht seiner Ausführungen? Warum müht er sich in den umfangreichen Studien, die ja alles andere als Gelegenheitsschriften sind94, in immer neuen Anläufen der Problematik Herr zu werden bzw. sie so eindringlich und klar wie möglich zu formulieren? Die eigentliche Frage war die nach dem, was Weber den Beruf für die Wissenschaft und den Beruf der Wissenschaft95 nennt – individuell als Beruf im Sinne von Berufung (vocatio, vocation) und nicht im Sinne von Arbeitsberuf (professio, Weber, Wissenschaft als Beruf (Fn. 5), S. 97. Weber, Wissenschaft als Beruf (Fn. 5), S. 102. Weber, Sinn (Fn. 9), S. 497. Hennis, Sinn (Fn. 1), S. 99. Vgl. nur Weber, Objektivität (Fn. 3), S. 147; ders., Sinn (Fn. 9), S. 500; ders., Wissenschaft als Beruf (Fn. 5), S. 97. 93 Hennis, Sinn (Fn. 1), S. 99. Desgleichen hebt Tenbruck, Wissenschaftslehre (Fn. 19), S. 223 »den Aufwand, den Ernst, die Eindringlichkeit und die Beharrlichkeit« der Themenbehandlung Webers hervor. 94 Gegen diese gelegentlich geäußerte Einschätzung treffend Tenbruck, Wissenschaftslehre (Fn. 19), S. 221 ff.: »die Legende von den polemischen Gelegenheitsschriften«. Hennis, Sinn (Fn. 1), S. 107 spricht von einer »lebenslangen Auseinandersetzung«. Zu diesem Punkt schon v. Schelting, Wissenschaftslehre (Fn. 17), S. 6 f. mit Fn. 2. 95 Weber, Wissenschaft als Beruf (Fn. 5), S. 88. 88 89 90 91 92

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profession) verstanden96, institutionell als Bedeutung der Wissenschaft »innerhalb des Gesamtlebens der Menschheit«97. Was kann sie dem bieten, der ihr sein Leben widmet? Und welchen Sinn hat sie überhaupt98? Diese Frage birgt deswegen erhebliches Verstörungs- oder doch Enttäuschungspotential, weil Wissenschaft uns Weber zufolge keine objektive Wahrheit im Bereich praktischer Fragen (mehr) aufzeigen und insofern gerade nicht als Sinnstiftungsinstanz fungieren kann (dazu 1.); wenn Wissenschaft aber keine absolute Wertorientierung oder Wertbegründung zu leisten vermag, drängt sich sofort die Frage auf, worin dann eigentlich über das bloße Sammeln von Fakten und Daten hinaus noch ihr eigener Wert bzw. ihr Sinn liegen soll (dazu 2. und 3.). 1. Polytheismus der Werte, Kampf der Götter

Der Dualismus von Sein und Sollen, von Tatsachenfeststellung und Werturteilen sagt für sich genommen noch nichts darüber aus, ob im Bereich des Sollens mit wissenschaftlicher Objektivität die Geltung letzter und höchster ethischer Werte dargetan werden könnte99. Die Differenz von Sein und Sollen schließt die absolute Erkenntnis des Seinsollenden nicht von vornherein aus. Es könnte ja, etwa in Gestalt eines überpositiven Naturrechts oder einer kognitivistischen Ethik neben dem »Tatsachenoder Erfahrungswissen« ein genauso gut beweis- und demonstrierbares »Wertewissen« geben, es könnte ja der Aufweis objektiver Richtigkeit letzter Werte möglich sein100. Der sichere Anker- und Orientierungspunkt unserer sozialen Existenz läge 96 Hierzu nur Tenbruck, Nachwort (Fn. 42), S. 244 ff. 97 Weber, Wissenschaft als Beruf (Fn. 5), S. 88. 98 Treffend Tenbruck, Wissenschaftslehre (Fn. 19), S. 237: »Es wird über die Richtigkeit der Erkennt-

nis hinaus gefragt nach ihrem Sinn.« In relativ früher Abgeklärtheit auch und gerade gegenüber den Verurteilungen durch die Kritische Theorie und den Zeitgeist der 1968er-Generation hält Prewo, Wissenschaftsprogramm (Fn. 17), S. 23 fest: »Nun, die Wertfreiheit, die Weber forderte, ist nicht, als was sie gewöhnlich mißverstanden wurde: Ausdruck eines Wissenschaftsverständnisses, das die Reflexion auf die mögliche gesellschaftliche Rolle, die Wissenschaft spielen könnte, von sich abschnitte. Sie ist im Gegenteil … Moment einer Wissenschaftslehre, die durch diese Reflexion hindurch lernte und ausspricht, was Wissenschaft gesellschaftlich allenfalls vermag.« 99 Vgl. Loos, Beitrag (Fn. 54), S. 70. 100 Daß »der Schluß von der radikalen Ungleichartigkeit zwischen Sein und Sollen auf die Unmöglichkeit einer wertenden Sozialwissenschaft offenbar nicht zwingend« ist, hat klar gesehen Strauss, Naturrecht (Fn. 6), S. 43, wo es weiter heißt: »Nehmen wir an, wir besäßen echte Kenntnis von Recht und Unrecht oder dem Seinsollen bzw. vom wahren Wertsystem. Wenn diese Erkenntnis auch nicht von der empirischen Wissenschaft herstammt, so würde sie doch mit Recht alle empirische Sozialwissenschaft leiten … (…) Gäbe es echte Erkenntnis der Zwecke, dann würde diese Erkenntnis natürlich alles Suchen nach Mitteln leiten … (…) Auf der Grundlage echter Erkenntnis der wahren Zwecke würde die Sozialwissenschaft nach den geeigneten Mitteln für diese Zwecke suchen. Sie würde zu objektiven und spezifischen Werturteilen in bezug auf Verhaltens- und Handlungsweisen führen.«

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dann nicht bei den empirischen Tatsachenwissenschaften (Geschichte, Ökonomie), sondern in einer allgemeingültigen Sozialphilosophie oder einer überpositiv verankerten Naturrechtslehre. Das hat eine lange Tradition, da man von Philosophie und Wissenschaft über Jahrtausende »sowohl die Verbesserung der äußeren Daseinsbedingungen wie auch eine verläßliche Weltanschauung mit bindender Antwort auf geistig-moralische Fragen«101 erwartete. Jedoch schließt Weber, wie wir wissen, diese Möglichkeit kategorisch aus, und erst die Addition beider Positionen verleiht seiner Haltung die enorme Spreng- und Provokationskraft, vor allem die oft bemerkte Attitüde des Tragischen102. Denn er lehnt eben nicht nur die Vermengung von Tatsachenfeststellung und Werturteil ab, sondern negiert zugleich die Möglichkeit der Erlangung eines »Wertewissens« in Parallele zum Tatsachenwissen103. Letzte und höchste Werte sind für ihn wissenschaftlich nicht beweisbar. Er ging von der unwiderleglichen »Möglichkeit prinzipiell und unüberbrückbar abweichender letzter Wertungen« aus104. Die »›Unaustragbarkeit‹ gewisser letzter Wertungen«105, sozusagen ein Polytheismus der Werte – das war für ihn der alles entscheidende Punkt106. Zwar werden, wie er sagt, Werte vom Einzelnen als objektiv geltend empfunden; aber »die Geltung solcher Werte zu beurteilen, ist Sache des Glaubens, daneben vielleicht eine Aufgabe spekulativer Betrachtung und Deutung des Lebens in der Welt«107. Den knappsten Ausdruck hat seine Überzeugung wohl in einem Satz gefunden, den er bei der Wiener Tagung des Vereins für Sozialpolitik 1909 in expliziter Wendung gegen Gustav Schmoller ausgesprochen hat: »Wir kennen keine wissenschaftlich beweisbaren Ideale.« Und er schließt die berühmten Worte an: »Gewiß, die 101 Tenbruck, Nachwort (Fn. 42), S. 248; s. auch ebd., S. 252: »Dies war die große Zeit, in der die

Wissenschaft noch hoffen konnte, durfte und mußte, in der Welt eine sinnvolle Ordnung zu entdecken.« Derartigen Vorstellungen gibt Weber den definitiven Abschied (Weber, Wissenschaft als Beruf [Fn. 5], S. 105): Wissenschaft sei heute ein Beruf »im Dienst der Selbstbesinnung und der Erkenntnis tatsächlicher Zusammenhänge, und nicht eine Heilsgüter und Offenbarungen spendende Gnadengabe von Sehern, Propheten oder ein Bestandteil des Nachdenkens von Weisen und Philosophen über den Sinn der Welt«. 102 Statt vieler Stefan Breuer, Max Webers tragische Soziologie. Aspekte und Perspektiven, Tübingen 2006. 103 Siehe Albert, Auffassungen (Fn. 21), S. 6: eine solche »Ontologisierung von Werten« könne Weber nicht nachvollziehen. Nochmals Strauss, Naturrecht (Fn. 6), S. 43: »Der wahre Grund, weshalb Weber auf dem wertneutralen Charakter der Sozialwissenschaft wie auch der Sozialphilosophie beharrte, war somit nicht sein Glaube an den fundamentalen Gegensatz zwischen Seiendem und Seinsollendem, sondern seine Überzeugung, daß es keine echte Erkenntnis des Seinsollenden geben kann.« 104 Weber, Sinn (Fn. 9), S. 503. 105 Weber, Sinn (Fn. 9), S. 499 Anm. 1. 106 Eindringliche Darstellung bei Hartmann Tyrell, Max Weber: Wertkollision und christliche Werte, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 37 (1993), S. 121–138. 107 Weber, Objektivität (Fn. 3), S. 152.

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Arbeit ist nun härter, sie aus der eigenen Brust holen zu sollen in einer Zeit ohnehin subjektivistischer Kultur.«108 Insofern nimmt Max Weber die Tatsache eingetretener Pluralisierung so folgenreich ernst wie nur wenige andere109. Was für den einzelnen der letzte und höchste Wert, das alles überragende Ideal, der Leitstern seines bewußt und konsequent gelebten Lebens sein soll – das läßt sich nicht objektiv und für alle gleich beantworten, darauf kann es verschiedene Antworten geben und darauf gibt es verschiedene Antworten110. Nun ist zwar insbesondere die Negation der Möglichkeit objektiver Normenbegründung gerade in der philosophischen Reflexion keineswegs neu, sondern entspricht weitgehend zeitgenössischen Vorstellungen, wird aber von Weber gewissermaßen totalisiert und mit denkbar größter Verve und überaus prägnanten Formulierungen herausgestellt, ja geradezu herausgemeißelt. Er konstatiert »die Unvereinbarkeit und also die Unaustragbarkeit des Kampfes der letzten überhaupt möglichen Standpunkte zum Leben, die Notwendigkeit also: zwischen ihnen sich zu entscheiden.«111 Radikalisiert wird dieser Befund daher noch dadurch, daß für Weber Wertpluralität jedenfalls auf einer letzten oder höchsten Ebene zwangsläufig zum Wertkonflikt führt112. Diese Überzeugung von der Existenz eines unversöhnlichen »Kampfes der Götter der einzelnen Ordnungen und Werte«113 und des durch keine intellektuelle Rationalität mehr gebändigten oder geleiteten Widerstreits zwischen unterschiedlichen Auffassungen vom letzten oder höchsten Gut wird in besonders eindringliche Bilder gekleidet: »Je nach der letzten Stellungnahme ist für den einzelnen das eine der Teufel und das andere der Gott, und der einzelne hat sich zu entscheiden, welches für ihn der Gott und welches der Teufel ist. Und so geht es durch alle Ordnungen des Lebens hindurch. (…) Die alten vielen Götter, entzau108 Weber, Debattenrede (Fn. 20), S. 420. 109 Die neue Wertpluralität löst Weber zufolge die lange Epoche der Dominanz christlicher Ethik ab:

»Schicksal unserer Kultur aber ist, daß wir uns dessen [scil. der Pluralität letzter Wertungen] wieder deutlicher bewußt werden, nachdem durch ein Jahrtausend die angeblich oder vermeintlich ausschließliche Orientierung an dem großartigen Pathos der christlichen Ethik die Augen dafür geblendet hatte« (Weber, Wissenschaft als Beruf [Fn. 5], S. 101). Siehe auch Weber, Sinn (Fn. 9), S. 492. 110 Wiederum sehr deutlich die Wiedergabe der Position Webers bei Strauss, Naturrecht (Fn. 6), S. 43 f.: »Er stellte vollständig in Abrede, daß es für Menschen irgendeine empirische oder rationale Wissenschaft oder irgendeine wissenschaftliche oder philosophische Erkenntnis des wahren Wertsystems geben könnte: das wahre Wertsystem existiert nicht; es gibt eine Vielfalt gleichrangiger Werte, deren Forderungen einander widersprechen und deren Konflikt durch menschliche Vernunft nicht gelöst werden kann.« 111 Weber, Wissenschaft als Beruf (Fn. 5), S. 104 f. 112 Vgl. Weber, Wissenschaft als Beruf (Fn. 5), S. 99: »Die Unmöglichkeit ›wissenschaftlicher‹ Vertretung von praktischen Stellungnahmen – außer im Falle der Erörterung der Mittel für einen als fest gegeben vorausgesetzten Zweck – folgt aus weit tiefer liegenden Gründen. Sie ist prinzipiell deshalb sinnlos, weil die verschiedenen Wertordnungen der Welt in unlöslichem Kampf untereinander stehen.« S. 100: »Und über diesen Göttern und in ihrem Kampf waltet das Schicksal, aber ganz gewiß keine ›Wissenschaft‹«. 113 Weber, Wissenschaft als Beruf (Fn. 5), S. 100.

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bert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf.«114 Wissenschaft kann diese Pluralität und Unversöhnlichkeit der (letzten) Werte nur konstatieren, nicht aber korrigieren oder als ethische Letztentscheidungsinstanz fungieren. Sie ist kein Sinnproduzent, kein Ersatz für verloren gegangene religiöse Gewißheiten oder den Fortfall des Naturrechts. »Eine empirische Wissenschaft«, so dekretiert Weber im Objektivitätsaufsatz, »vermag niemanden zu lehren, was er soll, sondern nur, was er kann und – unter Umständen – was er will.«115 Die Frage, wie wir leben und was wir tun sollen, an welchen letzten und höchsten Werten wir unser Leben auszurichten haben, kann die Wissenschaft nicht beantworten116. Wir können eben »den Sinn des Weltgeschehens nicht aus dem noch so sehr vervollkommneten Ergebnis seiner Durchforschung ablesen«117. Karl Löwith hat das einmal dahingehend umschrieben, es sei »der Glaube der Wissenschaft an objektive Normen und deren wissenschaftliche Begründbarkeit, den Weber mit den Mitteln der Wissenschaft und um der wissenschaftlichen ›Unbefangenheit‹ willen von Grund aus bekämpft«118. Freilich, dies muß unbedingt betont und kann gar nicht kräftig genug unterstrichen werden: all dies gilt nur für letzte Wertungen im Sinne ganz fundamentaler Grundentscheidungen119. Weber begnügt sich keineswegs damit, alle möglichen 114 Weber, Wissenschaft als Beruf (Fn. 5), S. 101. 115 Weber, Objektivität (Fn. 3), S. 151. Fein hat Löwith, Max Weber (Fn. 44), S. 12 angemerkt, Webers

»Rückwendung auf den Sinn wissenschaftlicher Objektivität entspringt ihrerseits einem ganz bestimmten Glauben – nämlich dem Un-glauben an die traditionellen Wertideen wissenschaftlicher Forschung.« 116 Weber bezieht sich auf Leo Tolstoi und dessen Diktum, die Wissenschaft sei sinnlos, weil sie auf die wichtigsten Fragen: ›Was sollen wir tun? Wie sollen wir leben?‹ keine Antwort gebe. Er schließt daran an und schreibt: »Die Tatsache, daß sie diese Antwort nicht gibt, ist schlechthin unbestreitbar. Die Frage ist nur, in welchem Sinne sie ›keine‹ Antwort gibt, und ob sie statt dessen nicht doch vielleicht dem, der die Frage richtig stellt, etwas leisten könnte.« (Weber, Wissenschaft als Beruf [Fn. 5], S. 93). Seine »Wertdiskussionen« sind m. E. ein Versuch, die Frage richtig zu stellen. 117 Weber, Objektivität (Fn. 3), S. 154. Dazu auch v. Schelting, Wissenschaftslehre (Fn. 17), S. 4 f. 118 Löwith, Max Weber (Fn. 44), S. 13. 119 Es fällt ja auf, wie konsequent Weber auf diesem Punkt insistiert mit Formulierungen wie: Werturteile »in letzter Instanz« bzw. »Wertideen als letzte Instanz« (Weber, Objektivität [Fn. 3], S. 149 bzw. 193), »diejenigen letzten Axiome«, »die letzten Wertmaßstäbe«, »diese letzten Maßstäbe« (alles ebd., S. 151), die »letzte sinnhafte Struktur« der Wertungen (Weber, Sinn [Fn. 9], S. 508), »letzte Axiome« (ebd., S. 530), die Rede von der »eigenen letzten Stellungnahme zum Leben« oder den »letzten Idealen« (Weber, Wissenschaft als Beruf [Fn. 5], S. 93, 96, siehe auch S. 101) etc. – Was hat man sich darunter vorzustellen? Weber selbst ist mit Exempeln außerordentlich zurückhaltend. Ich glaube, daß man die ›letzten‹ Axiome sinnvollerweise auf die von ihm immer wieder angeführten Lebensordnungen beziehen sollte, also etwa auf die Sphären der Politik (1), der Wirtschaft (2) oder der persönlichen Lebensführung (3). Und hier ließen sich – sehr tentativ – folgende Beispiele denken: (1) Ist die Sicherheit oder die Freiheit des Einzelnen im Staat der letzte und höchste Wert? Kommt dem Leben oder der Würde eines Menschen der höhere Rang zu? Gilt der Wille der jeweiligen demokratischen Mehrheit oder gelten höherrangige Ver-

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und denkbaren »statements« zu allen möglichen moralischen, politischen oder sozialen Fragen in ihrer Punktualität als gleich gültig und somit als gleichgültig einfach nebeneinander zu stellen und ein resigniertes ignoramus zu sprechen. Gerade weil er das nicht tut, ist ihm die Darlegung der Möglichkeiten und Grenzen von Wertdiskussionen so wichtig120. Das führt uns zum nächsten Punkt. 2. Die Möglichkeit rationaler »Wertdiskussionen«

»Wertdiskussionen« bzw. »Wertungsdiskussionen« ist ein Terminus, der bei Weber selbst begegnet121 und überraschend lediglich für all jene kommt, die das Wertfreiheitspostulat fälschlich mit absoluter Wertungsabstinenz identifizieren. Denn Wissenschaft kann für ihn mehr leisten als nur technisches Verfügungswissen produzieren122. Sie kann – wenn auch in deutlichen Grenzen – Wertdiskussionen führen und anleiten, vor allem rationale Kritik an Werturteilen üben. Es gibt also eine wissenschaftliche Art und Form des Umgangs mit Werturteilen. Weber anerkennt durchaus einen »Sinn von Diskussionen über praktische Wertungen«123 und resümiert nach Durchmusterung der sogleich näher vorzustellenden Möglichkeiten: »Sehr weit entfernt davon also, ›sinnlos‹ zu sein, haben Wertungsdiskussionen dieses Typus … ihfassungsrechtssätze oder gar überpositives Recht? (2) Genießt Ökologie Vorrang vor Ökonomie? Wird staatliche Versorgung nach individueller Leistung oder nach Bedürftigkeit gewährt? Gilt unbeschränkter Wettbewerb oder staatliche Wohlfahrt? (3) Folgt man in seiner persönlichen Lebensführung einer umfassenden Brüderlichkeitsethik oder individuellem Erwerbsstreben? Geht individuelle Selbstverwirklichung vor Verantwortung und Pflichterfüllung gegenüber Partnern und Familie? 120 Nach Hennis, Sinn (Fn. 1), S. 104 geht es Weber eigentlich »nur darum«. 121 Weber, Sinn (Fn. 9), S. 503, 511, 512. Zu »Wertungsdiskussionen« auch Keuth, Abhängigkeit (Fn. 29), S. 126 ff. 122 Das war für Weber ganz evident, aber nicht weiter interessant (Weber, Wissenschaft als Beruf [Fn. 5], S. 86 nach dem Hinweis auf die praktisch-technischen Zwecke: »Gut. Aber das bedeutet nur etwas für den Praktiker.« Und S. 88: »Hat der ›Fortschritt‹ als solcher einen erkennbaren, über das Technische hinausreichenden Sinn, so daß dadurch der Dienst an ihm ein sinnvoller Beruf würde?«). Rätselhaft also, warum er so oft und so hartnäckig beschuldigt worden ist, Wissenschaft auf rein technische Fragen zu reduzieren (der vielzitierte »Erzpositivist«, als der er denunziert wurde). Die Tatsache, daß die Erkenntnisse der modernen Wissenschaften technische Fortschritte herbeiführen, die Arbeit erleichtern, die Medizin verbessern, die Lebenserwartung erhöhen – sie ist augenfällig und unbestreitbar, aber nicht sinnstiftend. Daß mit bloßem technischen Fortschritt zu den eigentlichen Fragen noch gar nichts gesagt ist, wird vollends deutlich bei Weber, Wissenschaft als Beruf (Fn. 5), S. 92: »Daß man schließlich in naivem Optimismus die Wissenschaft, das heißt: die auf sie gegründete Technik der Beherrschung des Lebens, als Weg zum Glück gefeiert hat – dies darf ich wohl, nach Nietzsches vernichtender Kritik an jenen ›letzten Menschen‹, die ›das Glück erfunden haben‹, ganz beiseite lassen. Wer glaubt daran? – außer einigen großen Kindern auf dem Katheder oder in Redaktionsstuben?« Die eigentlichen Fragen sind mit alledem noch gar nicht berührt. 123 Weber, Sinn (Fn. 9), S. 510.

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ren sehr erheblichen Sinn.«124 Wovon ist hier die Rede? Wie und in welcher Hinsicht können Wertungsdiskussionen mit Anspruch auf wissenschaftliche Objektivität geführt werden? Hier kommen zwei grundsätzliche Möglichkeiten in Betracht125. a) Zweck-Mittel-Relationen

Eine eher »technologisch-empirische Seite«126 betrifft die Relation von Mitteln und Zwecken127. Das ist die am schlichtesten anmutende Form rationaler Diskussion von Werturteilen. Hier geht es im Sinne der oben zitierten zentralen Aussage128 Webers darum, was man überhaupt »kann«, also zunächst um die Feststellung, welche Mittel zur Erreichung eines bestimmten, vorgegebenen Zweckes prinzipiell geeignet sind. Weber schreibt: »Der wissenschaftlichen Betrachtung zugänglich ist nun zunächst unbedingt die Frage der Geeignetheit der Mittel bei gegebenem Zwecke. Da wir (innerhalb der jeweiligen Grenzen unseres Wissens) gültig festzustellen vermögen, welche Mittel zu einem vorgestellten Zwecke zu führen geeignet oder ungeeignet sind, so können wir auf diesem Wege die Chancen, mit bestimmten zur Verfügung stehenden Mitteln einen bestimmten Zweck überhaupt zu erreichen, abwägen und mithin indirekt die Zwecksetzung selbst, auf Grund der jeweiligen historischen Situation, als praktisch sinnvoll oder aber als nach Lage der gegebenen Verhältnisse sinnlos kritisieren.«129 Die Zwecksetzung als solche ist und bleibt kontingent, die Erkundung der zu seiner Erreichung tauglichen Mittel nicht130. Natürlich kann die Erkundung 124 Weber, Sinn (Fn. 9), S. 511. Er fügt ebd. an, daß der »Nutzen einer Diskussion praktischer Wer-

tungen … mit solchen direkten ›Ergebnissen‹ keineswegs erschöpft« sei, sondern auch »die empirische Arbeit auf das Nachhaltigste« befruchte, »indem sie ihr die Fragestellungen für ihre Arbeit liefert.« 125 Vgl. Loos, Beitrag (Fn. 54), S. 67 f. – Die Zählung schwankt nicht zuletzt deshalb, weil Webers Äußerungen selbst eine unterschiedliche Anzahl von Aspekten oder Formen rationaler Wertdiskussionen aufweisen, wie sie im Objektivitäts- und im Sinnaufsatz begegnen (vgl. Weber, Objektivität [Fn. 3], S. 148 ff.; ders., Sinn [Fn. 9], S. 510 ff.). Aber Zweck-Mittel-Relationen einerseits, das Herausarbeiten von Axiomen ›aufwärts‹ und deren Anwendung ›abwärts‹ scheinen die beiden Säulen, auf denen alles ruht. Bei beiden spielt übrigens schon die Folgenberücksichtigung eine Rolle. Daher die im folgenden gewählte Zweiteilung. 126 Loos, Beitrag (Fn. 54), S. 67. 127 v. Schelting, Wissenschaftslehre (Fn. 17), S. 19 ff. nennt das die »Klärung unter dem Aspekt der realkausalen Zusammenhänge des Handelns (Zweck-Mittel-Nebenerfolg)«; Loos, Wert- und Rechtslehre (Fn. 17), S. 52 ff. wählt als Überschrift schlicht »Technologie«. Siehe auch Prewo, Wissenschaftsprogramm (Fn. 17), S. 72: »konditionale Zweckreferenz«. 128 Vgl. bei und in Fn. 115. 129 Weber, Objektivität (Fn. 3), S. 149; siehe auch Weber, Sinn (Fn. 9), S. 508. 130 Der Staatsrechtler fühlt sich bei der Lektüre dieser und ähnlicher Sätze Webers in eine ganz erstaunliche Nähe zu Struktur und Reichweite der Verhältnismäßigkeitsprüfung im Verfassungsrecht versetzt. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip, ohne Zweifel eine der ganz großen Errungenschaften neuer Verfassungsrechtsdogmatik, unterwirft die grundrechtseinschränkenden Maßnahmen des Gesetzgebers

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auch und gerade zu dem Befund führen, daß es für bestimmte Zwecke keine zur Verfügung stehenden Mittel (oder nur sehr eingeschränkt taugliche) gibt. Doch wenn es sie gibt, sind die Aussagen über ihre Tauglichkeit objektiv, weil sie – Prognoseunsicherheiten ignoriert – die bloße Umkehrung von Kausalsätzen darstellen: wenn auf x mit Notwendigkeit y folgt, dann muß ich x tun, um y zu bewirken131. Konkrete und extrem simplifizierende Beispiele aus Politik, Wirtschaft und Lebensführung: wenn Deutschland einen Sitz im Sicherheitsrat unter der Bedingung stärkerer Beteiligung an internationalen Kriegseinsätzen erhält, dann müssen, so man diesen Sitz unbedingt haben will, deutsche Truppen in höherer Anzahl an derartigen Einsätzen mitwirken; wenn ein niedrigerer Zinssatz zu einem wirtschaftlichen Aufschwung mit höherem Sozialprodukt und geringerer Arbeitslosenquote führt, so muß man, um einen solchen Aufschwung zu bewirken, einen niedrigeren Zinssatz verordnen; wenn man als strenggläubiger Katholik ein gottgefälliges Leben führen will, so muß man die Regeln des Katholischen Katechismus befolgen. Hier gibt es – nochmals: alle Prognoseprobleme ignoriert – Berechenbarkeit und entsprechende Sicherheit des Urteils. Aber das Entscheidende ist und bleibt: die technische Richtigkeit der Mittel sagt über Wert und Unwert der (letzten) Zwecke, zu deren Realisierung sie eingesetzt werden, gar nichts aus, sie kann das »Gewirr … möglicher Wertungen« nicht beheben, weil »noch so zweifellos ›technisch richtige‹ ökonomische Rationalisierungen durch diese ihre Qualität allein noch in keiner Art vor dem Forum der Bewertung legitimiert« sind132. Und schon gar nicht läßt sich eine allgemeinverbindliche Anteiner mehrstufigen Kontrolle: nämlich der Frage, ob die Einschränkung des jeweiligen Grundrechts (a) geeignet, (b) erforderlich und (c) verhältnismäßig i. e. S. (proportional, angemessen, zumutbar) ist. Die Geeignetheit setzt wiederum den Bezug auf einen vorgängigen bestimmten legislativen Zweck voraus. Bei dessen Fixierung genießt der Gesetzgeber denkbar große Freiheit (nur eine evident unsittliche oder verfassungswidrige Zwecksetzung würde die Maßnahme schon ab ovo zu einer illegitimen machen). Der Bezug auf diesen Zweck ist für die gesamte Prüfung zentral (sehr klar herausgearbeitet bei Lothar Michael / Martin Morlok, Grundrechte, Baden-Baden 2008, Rn. 611 ff.). Dabei läßt sich die Frage, ob die legislative Maßnahme zur Erreichung des angegebenen Zweckes überhaupt geeignet ist, ohne eigene Wertungen prüfen und wird vom Verfassungsgericht auch so gehandhabt. Für eine derartige Zweckverfehlung gibt es durchaus – wenngleich nicht allzu viele – Beispiele. Vgl. zum ganzen Horst Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, 2. Aufl., Tübingen 2004, Vorbemerkungen vor Art. 1 GG Rn. 145 ff. (147). 131 Weber, Sinn (Fn. 9), S. 517: »Der Satz: x ist das einzige Mittel für y, ist in der Tat die bloße Umkehrung des Satzes: auf x folgt y.« Siehe noch ebd., S. 526, 529 (»Das alles sind einfache Umkehrungen von Kausalsätzen, und soweit sich daran ›Wertungen‹ knüpfen lassen, sind sie ausschließlich solche des Rationalitätsgrades einer vorgestellten Handlung.«), 537 f. mit eingehender Erörterung. 132 Beide Zitate bei Weber, Sinn (Fn. 9), S. 530, wo es resümierend heißt: »Ueberall und ausnahmslos haftet der in unseren Disziplinen legitime Fortschrittsbegriff am ›Technischen‹, das soll hier, wie gesagt, heißen: am ›Mittel‹ für einen eindeutig gegebenen Zweck. Nie erhebt er sich in die Sphäre der ›letzten‹ Wertungen.« Zustimmend Albert, Traktat (Fn. 27), S. 79: »Die reine Wissenschaft gibt uns also in Anwendung auf praktische Probleme Mittel an die Hand, praktische Möglichkeiten zu untersuchen und

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wort auf die Frage geben, ob der Zweck jedes bzw. dieses spezielle Mittel heiligt oder nicht133. Allerdings macht Weber bereits hier, bei den rein technisch-instrumentellen Relationen, auf das Folgenproblem aufmerksam, nämlich auf die sei es ganz offenkundige, sei es möglicherweise weder bedachte noch intendierte Bewirkung von Nebenfolgen: »Wir können weiter, wenn die Möglichkeit der Erreichung eines vorgestellten Zwecks gegeben erscheint, natürlich immer innerhalb der Grenzen unseres jeweiligen Wissens, die Folgen feststellen, welche die Anwendung der erforderlichen Mittel neben der eventuellen Erreichung des beabsichtigten Zweckes, infolge des Allzusammenhanges alles Geschehens, haben würde.«134 Es geht also um die »Abwägung von Zweck und Folgen des Handelns gegeneinander«135. Um auf die genannten Beispiele zurückzukommen: die verstärkte Beteiligung der Bundeswehr an Kriegseinsätzen fordert mit statistischer Wahrscheinlichkeit einen höheren Blutzoll deutscher Soldaten und zieht möglicherweise den internationalen Terrorismus stärker nach Deutschland; die Senkung der Zinsen führt vermutlich zu einer niedrigeren Sparquote und kann Anleger dazu verleiten, sich spekulativeren Geschäften mit allen nachteiligen Folgen individueller wie gesamtwirtschaftlicher Art zuzuwenden; die getreue Befolgung des Katholischen Katechismus steht der Auflösung einer zerrütteten Ehe entgegen, auch wenn die Ehegatten ihr weiteres Leben lieber mit einem anderen (womöglich gleichgeschlechtlichen) Partner verbringen würden. Hat man sich aber diese Folgen und Nebenfolgen vor Augen geführt, so wird – und das geht über die reine Zweck-Mittel-Relation hinaus – eine Abwägung möglich, die wiederum im Extremfall136 dazu führen kann, daß man von der Gesamtmaßnahme Abstand nimmt: man verzichtet auf den Sitz im Sicherheitsrat, die Senkung der Zinsen oder die Befolgung der cann. 2351 ff. des Katechismus der Katholischen Kirche. Wohlgemerkt handelt es sich hierbei natürlich wieder um Wertentscheidungen, die sich einer wissenschaftlichen Diskussion ebenso entziehen wie die Gewichtung bestimmter unerwünschter Nebenfolgen oder die Bewältigung von Wertkollisionen: das ist, wie Weber sagt, »Sache der Wahl oder des Kompromisses. damit herauszubekommen, wie wir die vorliegende Situation bewältigen können, aber sie sagt uns nicht, daß wir irgendeine der in Frage kommenden Möglichkeiten realisieren sollen, sie schreibt uns also nicht unsere Entscheidung vor.« 133 Das hat Weber des öfteren herausgestellt: Weber, Sinn (Fn. 9), S. 508; ders., Wissenschaft als Beruf (Fn. 5), S. 103; ders., Politik als Beruf (Fn. 5), S. 238, 240. 134 Weber, Objektivität (Fn. 3), S. 149 f. Stark verfeinert findet sich die Folgenproblematik später bei Weber, Sinn (Fn. 9), S. 510 f. u. ö. wieder. 135 Weber, Objektivität (Fn. 3), S. 150. 136 Weber, Sinn (Fn. 9), S. 511 spricht zurückhaltender davon, daß dem Vertreter eines entsprechenden praktischen Postulats »seine Wertentscheidung zwischen Zweck, Mittel und Nebenerfolg ihm selbst zu einem neuen Problem wird«.

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Es gibt keinerlei (rationales oder empirisches) wissenschaftliches Verfahren irgendeiner Art, welches hier eine Entscheidung geben könnte.«137 b) Herausarbeitung von Wertaxiomen

Bei der zweiten zu betrachtenden Variante rationaler Wertdiskussion geht es zunächst weniger um die Konsequenzen einer bestimmten, aber kontingenten zweckgerichteten Maßnahme, sondern eher um die innere Konsequenz und Konsistenz des eigenen Handelns, ja im Endergebnis der Lebensführung insgesamt. Steht bei der Zweck-Mittel-Relation die Rationalisierungsfunktion im Vordergrund (welches sind die besten Mittel für das angestrebte verfolgte Ziel?), so ist es bei der Herausarbeitung der Wertaxiome138 die Kritik- und Selbstvergewisserungsfunktion: kritische Prüfung der eigenen wie auch anderer Werturteile auf innere Stimmigkeit und zugleich Aufstieg von der disparaten Beurteilung dieser oder jener Frage zu den letzten für die eigenen Stellungnahmen maßgeblichen Maßstäben oder Idealen. Hier geht es im Sinne des angeführten Zitates139 um die Frage, was man eigentlich »will« bzw. konsequenterweise wollen müßte. Weber charakterisiert eine solche »Herausarbeitung der letzten, innerlich ›konsequenten‹ Wertaxiome« als eine »von der Einzelwertung und ihrer sinnhaften Analyse ausgehende, immer höher zu immer prinzipielleren wertenden Stellungnahmen aufsteigende Operation.«140 Vorausgesetzt sind also verschiedene Äußerungen zu verschiedenen Sachverhalten (»Einzelwertungen«) durchaus unterschiedlicher Abstraktionshöhe, die auf ihre innere Stimmigkeit geprüft werden: »Prüfung der Ideale an dem Postulat der inneren Widerspruchslosigkeit des Gewollten«141. Zu dieser Stimmigkeitsprüfung gehört dann auch der faktische oder hypothetische Abgleich, welche Ergebnisse sich bei Anlegung des so gewonnenen höchsten Maßstabs auf andere, weitere Sachprobleme ergeben würden: »Deduktion der ›Konsequenzen‹ für die wertende Stellungnahme, welche aus bestimmten letzten Wert137 Weber, Sinn (Fn. 9), S. 508. 138 v. Schelting, Wissenschaftslehre (Fn. 17), S. 21 ff. nennt das die »axiologische Analyse der Voraus-

setzungen sinnvollen Handelns«; Loos, Wert- und Rechtslehre (Fn. 17), S. 57 ff. spricht schlicht von »Sozialphilosophie«. Siehe auch Prewo, Wissenschaftsprogramm (Fn. 17), S. 73 ff. 139 Vgl. nochmals bei und in Fn. 115. 140 Weber, Sinn (Fn. 9), S. 510. – Denkbares Beispiel: A ist (erste Stellungnahme) Gegner der Todesstrafe und (zweite Stellungnahme) auch der Abtreibung sowie (dritte Stellungnahme) ganz generell Menschenrechtsaktivist und bei amnesty international engagiert. Daraus und aus weiteren konsequenten Stellungnahmen könnte sich das Wertaxiom »Heiligkeit menschlichen Lebens« ergeben. 141 Weber, Objektivität (Fn. 3), S. 151. Albert, Theorie (Fn. 8), S. 205 spricht von der »Analyse des ›Sachgerüsts‹ der jeweiligen Wertungen«. Zu den Schwierigkeiten entsprechender (Re-)Konstruktion etwa Keuth, Abhängigkeit (Fn. 29), S. 127 f.

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axiomen folgen würde, wenn man sie, und nur sie, der praktischen Bewertung von faktischen Sachverhalten zugrunde legte.«142 Weber schwebt hier offenbar so etwas wie eine virtuelle Gesamtkonsistenzprüfung vor, eine »möglichst erschöpfende Kasuistik derjenigen empirischen Sachverhalte, welche für eine praktische Bewertung überhaupt in Betracht kommen können.«143 Diese Prüfung aufwärts und abwärts hat eine Doppelfunktion: sie dient (aufwärts) einmal dem Aufdecken derjenigen Wertmaßstäbe, die der Mehr- oder auch Vielzahl bestimmter Stellungnahmen zu verschiedenen Problemkonstellationen zugrundeliegen144; und (abwärts) zur Prüfung der Bewährung dieses Maßstabs an anderen und weiteren Fallkonstellationen. Beide Denkschritte dienen, soweit sie sich auf die eigenen Wertungen beziehen, der Selbstreflexion; sie können »dem Wollenden verhelfen zur Selbstbesinnung auf diejenigen letzten Axiome, welche dem Inhalt seines Wollens zugrundeliegen, auf die letzten Wertmaßstäbe, von denen er unbewußt ausgeht oder – um konsequent zu sein – ausgehen müßte.«145 Bezogen auf andere, den argumentativen Gegner sozusagen146, ermöglichen sie wissenschaftliche Kritik, sofern offene Widersprüche oder zumindest Inkonsistenzen nachgewiesen werden können147. Diese beiden zentralen Stichworte (Selbstbesinnung, wissenschaftliche Kritik) führen noch einmal zur Frage nach dem verbleibenden Sinn der Wissenschaft unter den Bedingungen der Moderne. 3. Die Sinnfrage

Bei der Sinnfrage sollte man aus Gründen der Klarheit unterscheiden zwischen individueller und gesamtgesellschaftlicher Betrachtung: bei der letztgenannten ist die 142 Weber, Sinn (Fn. 9), 510. In Weiterführung des Beispiels aus Fn. 140: Wie stellt sich A (1) zur

Zulässigkeit des finalen (also tödlichen) polizeilichen Rettungsschusses, (2) zur sog. medizinischen Indikation in ihrer engsten Auslegung, also der Tötung des Fötus, um das Leben der Mutter zu retten und (3) zu sog. humanitären Interventionen unter Einsatz militärischer Streitkräfte und somit sicherem Verlust von Menschenleben? 143 Weber, Sinn (Fn. 9), S. 510. 144 Augsberg, Methodendiskussion (Fn. 60), S. 160. 145 Weber, Objektivität (Fn. 3), S. 151. Es ist (nur) diese Kritikimmunität bzw. Unkorrigierbarkeit von letzten Stellungnahmen, die auf die Kritik von Albert, Traktat (Fn. 27), S. 83 ff., 88 ff. stößt, der aber S. 91 treffend konzediert, von Weber werde »die Möglichkeit einer rationalen Wertkritik … schon in einem Umfang eingeräumt, der weit über das hinausgeht, was ein extremer ethischer Irrationalismus gestatten würde.« Siehe auch Albert, Theorie (Fn. 8), S. 229 ff. 146 Weber, Sinn (Fn. 9), S. 510 hat diese agonale Situation vor Augen, wenn er von der Herausarbeitung der Wertaxiome spricht, »von denen die einander entgegengesetzten Meinungen ausgehen«, fügt aber sogleich hinzu: »Nicht nur über die der Gegner, sondern auch über die eigenen täuscht man sich oft genug.« 147 Wiederum ein Beispiel: L befürwortet vollmundig die Idee der Menschenrechte unter ausdrücklichem Bezug auf die Freiheitsphilosophie Immanuel Kants, spricht sich aber unter Hinweis auf die »Heiligkeit des Lebens« gegen die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen aus.

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Möglichkeit wissenschaftlicher Kritik von Werturteilen zentral (dazu a), bei der erstgenannten die Selbstbesinnung auf die eigenen letzten Wertmaßstäbe (b). a) Gesamtgesellschaftliche Perspektive

Der Sinn der Wissenschaft erwächst in gesamtgesellschaftlicher Betrachtung daraus, daß sich das vorhandene, wissenschaftlich gestützte technische Verfügungswissen in den Dienst von Zweck-Mittel-Relationen und der Bewertung ihrer Tauglichkeit stellen läßt. Wissenschaft kann so vor allem die innere, technische Rationalität von Entscheidungen oder Handlungen steigern, also auch und gerade – wenn auch bei weitem nicht nur – mit dem Instrument der Folgenabschätzung eine Rationalisierungs- und Orientierungsfunktion erfüllen. Denn mit Hilfe wissenschaftlicher Erkenntnisse über Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge lassen sich taugliche Maßnahmen für die Erreichung bestimmter Zwecke benennen und untaugliche ausscheiden. Dem wohnt eine kritische Funktion inne: denn neben der instrumentellen Zur-Verfügung-Stellung tauglicher Instrumente steht immer auch die nicht minder wissenschaftlich fundierte Kritik an der Ungeeignetheit untauglicher. Für beides böte sich eine Fülle von Beispielen an: etwa aus dem Bereich der Ökonomie mit ihren chronischen finanzpolitischen Problemen (magisches Viereck)148, aber auch der Rechtswissenschaft, sofern diese sich in Gestalt von Rechtssoziologie oder spezifischer der Wirkungsforschung mit den erwartbaren und kontrollierbaren Wirkungen von Rechtsnormen etwa im Bereich des Umweltrechts, aber auch des Strafrechts oder anderer Rechtsgebiete beschäftigt149. So ließe sich etwa die Frage, was nur symbolische, was effektive Gesetzgebung ist oder sein könnte, wenn überhaupt, nur mithilfe wissenschaftlicher Kenntnisse und Verfahren hinlänglich valide evaluieren. Für alle Politikfelder von der Schul- über die Innen- bis hin zur Gesundheitspolitik gilt, daß hier permanent bestimmte zweckgerichtete Entscheidungen getroffen werden; daß man sich dafür bestimmter Mittel (Ge- und Verbote, Leistungen, Strukturmaßnahmen) bedient, deren Effekte für die einen vorteilhaft, die anderen nachteilig sind; und daß praktisch mit jeder Maßnahme jeweils ein Wert höher eingestuft wird als ein anderer (Integration höher als Leistung, Sicherheit höher als Freiheit, Versorgung höher als Wettbewerb – oder eben umgekehrt). Jede Tagesordnung einer 148 Vgl. auch das bei Kirchgässner, Wertfreiheit (Fn. 53), S. 164 angeführte Beispiel: Begrenzung der Inflationsrate auf ein Band zwischen Null und zwei Prozent eine politische Wertfrage, Aufzeigen der Konsequenzen einer solchen Entscheidung aber mit wirtschaftswissenschaftlichen Mitteln möglich. Vgl. zu den seltenen Fällen absoluter Ungeeignetheit gesetzlich bestimmter Zwecke nochmals bei und in Fn. 130. 149 Vgl. nur die Beiträge in: Hagen Hof / Gertrude Lübbe-Wolff (Hrsg.), Wirkungsforschung zum Recht, Bd. 1, Baden-Baden 1999.

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beliebigen Bundestags- oder Bundesratssitzung bietet reichliches Anschauungsmaterial für die Fragen: welche Zwecke werden (widerspruchsfrei?) verfolgt, und welcher (tauglicher oder untauglicher?) Mittel bedient man sich zu ihrer Erreichung unter (bewußter oder unbewußter?) Inkaufnahme welcher Nebenfolgen? Nun war niemandem klarer als Weber, daß Politik der Paradefall der Kompromißbildung ist, bei der Konsequenz und Konsistenz notwendigerweise auf der Strecke bleiben. Aber auch hier gilt: wissenschaftliche Wertdiskussion kann transparent machen, zu wessen Lasten bzw. Gunsten die Kompromisse im einzelnen ausfallen. Oder noch knapper gesagt: sie kann Gewinner und Verlierer benennen, die es oft auch dort gibt, wo eine Maßnahme oder Strategie vermeintlich nur Gewinner kennt150. Und das wiederum gelingt nur, wenn die von Weber beharrlich eingeklagte Unterscheidung von eigener politischer Wertung und wissenschaftlich belegbaren Ergebnissen beachtet wird. Zum anderen aber ließen sich auf einer gewissermaßen höheren und abstrakteren Ebene, sozusagen als wissenschaftliche Dienstleistung, diejenigen letzten Wertmaßstäbe herauspräparieren, die im alltäglichen »Gewirr der Wertungen« (Weber) nur allzu leicht untergehen. Klar ist: die Wissenschaft hat allein »Methode, nicht Sinn« zu bieten151, vermag nicht die letzten Maßstäbe zu liefern. Wohl aber kann sie die letzten Maßstäbe ins Bewußtsein heben, welche sich in einem konkreten Werturteil manifestieren, also die Sinnfrage zwar nicht beantworten, aber in ein klareres Licht rücken. Und so kann sie auf der darunter liegenden Ebene für Konsistenz sorgen resp. Inkonsistenzen aufdecken. Für die realistischerweise anzunehmende Mehrzahl von Letztorientierungen mit ihren jeweils eigenen Konsistenzproblemen bedeutet das: Wissenschaft vermag in das »Gewirr der Wertungen« insofern Klarheit zu bringen, als sie bei Werturteilen auf Konsequenz und Folgerichtigkeit pochen oder zumindest Inkonsequenzen demonstrieren kann. Die wichtigste, etwa in politischen Diskussionen zu erbringende Leistung besteht dabei weniger darin, dem ohnehin illusorischen Ideal einer in sich stimmigen Gesamtweltanschauung oder einem widerspruchsfreien politischen oder ökonomischen System nachzujagen als mit den Mitteln der Wissenschaft Wertkonflikte offenzulegen und die entsprechenden Alternativen darzutun. Das hat Weber selbst insbesondere mit Blick auf die Produktivitätsfrage der ostelbischen Agrarverfassung auf anschauliche Weise demonstriert und damit vor allem gezeigt, daß es den einen, für die Gestaltung der agrarischen Verhältnisse angeblich unbestrittenen Höchstwert der Produktivität nicht gibt, sondern das Produktionsinteresse mit dem sozialpolitischen Interesse kollidieren könne. Man muß sich also entscheiden: will man möglichst viel Korn produzieren (dann sind 150 Am Beispiel der These vom wohlfahrtsfördernden Effekt des Freihandels, von dem angeblich alle

(Länder) profitieren, dargelegt bei Kirchgässner, Wertfreiheit (Fn. 53), S. 152 ff. (153: »Man kann vom Anstieg der verfügbaren Güter jedoch nicht logisch auf einen Wohlfahrtsgewinn schließen.«). 151 Peukert, Diagnose (Fn. 16), S. 16.

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Großbetriebe das Mittel der Wahl) oder will man die Existenz möglichst vieler (deutscher) Bauern sichern (dann Klein- und Mittelbetriebe)152? Wer diesen Wertkonflikt verschleiert, der »betrügt sich und andere, wenn er dies verschweigt.«153 Wilhelm Hennis sieht hierin zu Recht »die Vorführung eines Wertungsproblems, das durch die Wissenschaft nicht entschieden, wohl aber durch sie geklärt werden kann.«154 Allgemeiner ausgedrückt: wenn der Polytheismus der Werte und der Kampf der alten Götter unausweichlich ist, wenn dieser Kampf also ausgefochten werden muß, dann ist für Weber die Wissenschaft der »einzige Ort diskursiver Vernunft, an dem sich die rivalisierenden Weltanschauungen und die in ihren letzten Werten unvereinbaren Ethiken begegnen und sich – bei Einhaltung der logisch-methodischen Spielregeln – über Gemeinsamkeiten und Unvereinbarkeiten vernünftig klar werden können.«155 Sie steckt sozusagen den »Turnierplatz«156 ab, auf dem bestimmte Regeln für den geistigen Kampf gelten. Günstigstenfalls herrscht am Ende dieses virtuellen Turniers nicht etwa Wahrheit, wohl aber Klarheit157. 152 Das wurde von ihm des öfteren thematisiert. Prägnant Max Weber, Agrarstatistische und sozialpolitische Betrachtungen zur Fideikommißfrage in Preußen (1904), in: GASSp (Fn. 20), S. 323–393 (332 f.): »Es besteht nicht der mindeste Zweifel, daß, wenn es sich um die Erzeugung von möglichst viel Getreide von der gegebenen Fläche handelt, mindestens alle mittleren und kleineren bäuerlichen Besitz- und Betriebseinheiten schlechterdings von Uebel sind, und wer die Deckung des deutschen Getreidebedarfs durch inländische Produktion anstrebt – und sei es auch nur als ideales Ziel –, muß für deren Beseitigung, damit aber für die Schärfung der sozialen Gegensätze auf dem Lande und für die numerische Schwächung der Landbevölkerung eintreten …«. 153 Weber, Betrachtungen (Fn. 152), S. 333. 154 Hennis, Sinn (Fn. 1), S. 103 f. – Klärung hier verstanden im Sinne einer Analyse der Problemlage, ihrer transparenten Darstellung und der Vorstrukturierung von Alternativen. 155 Peukert, Diagnose (Fn. 16), S. 15. 156 Peukert, Diagnose (Fn. 16), S. 15. 157 Webers Turnierplatz waren oft Diskussionen im Verein für Sozialpolitik oder auf den Soziologentagungen, in denen er seine Position häufig ebenso kompakt wie eindringlich präsentiert. Siehe etwa Weber, Debattenrede (Fn. 20), S. 417 f.: »Zunächst: Ich kann jemandem, der mir mit einem bestimmten Werturteil entgegentritt, sagen: mein Lieber, du irrst dich ja über das, was du eigentlich willst. Sieh: ich nehme dein Werturteil und zergliedere es dir dialektisch, mit den Mitteln der Logik, um es auf seine letzten Axiome zurückzuführen, um dir zu zeigen, daß darin die und die ›letzten‹ möglichen Werturteile stecken, die du gar nicht gesehen hast, die vielleicht sich untereinander gar nicht oder nicht ohne Kompromisse vertragen und zwischen denen du also wählen mußt. (…) Nun kann ich ferner sagen: wenn du gemäß diesem bestimmten, wirklich eindeutigen Werturteil im Interesse eines bestimmten Sollens handeln willst, dann mußt du, nach wissenschaftlicher Erfahrung, die und die Mittel anwenden, um deinen, jenem Wertaxiom entsprechenden, Zweck zu erreichen. Passen diese Mittel dir nicht, so mußt du wählen zwischen Mittel und Zweck. Und endlich kann ich ihm sagen: du mußt bedenken, daß du, nach wissenschaftlicher Erfahrung, mit den für die Realisierung deines Werturteils unentbehrlichen Mitteln noch andere, unbeabsichtigte Nebenerfolge erzielst. Sind dir diese Nebenerfolge auch erwünscht: ja oder nein? Bis an die Grenze dieses ›Ja‹ oder ›Nein‹ kann die Wissenschaft den Mann führen … (…) Dieses ›Ja‹ oder ›Nein‹ selbst aber ist keine Frage der Wissenschaft mehr, sondern eine solche des Gewissens oder des

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b) Individuelle Perspektive

Mit Klarheit ist das entscheidende Stichwort für die individuelle Frage nach dem Sinn der Wissenschaft gefallen. Klarheit ist die verbindende Klammer zwischen gesamtgesellschaftlichem und individuellem »Nutzen« freier und unbefangener (i. S. v.: nicht gefangener) Wissenschaft. Denn wenn sich der objektive Sinn des Tuns des Wissenschaftlers nicht beweisen läßt, dann bleibt im Grunde nur »Selbstbesinnung«158 übrig. Sie ermöglicht, was Weber in seinem Vortrag über »Wissenschaft als Beruf« letztendlich als Antwort auf die Frage nach dem Beruf zur Wissenschaft159 für seine Hörer bereithält: es ist nicht die Steigerung des technischen Wissens, und es sind auch nicht die wissenschaftlichen Methoden mit entsprechender Schulung: »Aber damit ist die Leistung der Wissenschaft glücklicherweise noch nicht zu Ende, denn wir sind in der Lage, Ihnen zu einem Dritten zu verhelfen: zur Klarheit.«160 Und die letzte Klarheit, um die es geht, ist die Herausarbeitung von Wertaxiomen, die jeden einzelnen zu seiner »letzten weltanschauungsmäßigen Grundposition« führen kann161. Ziel ist es, »sich selbst Rechenschaft zu geben über den letzten Sinn seines eigenen Tuns.«162 Hier gilt es, dem Wertepluralismus (Stichwort: »Polytheismus der Werte«) unerschrocken ins Auge zu sehen und für sich selbst eine Entscheidung zu treffen. Diese Wahl kann und darf die Wissenschaft dem Individuum nicht abnehmen163. Aber durch die Herausarbeitung von Wertaxiomen gewinnt die rationale Wertdiskussion sozusagen sittliche Kraft, und Weber spricht im unmittelbaren Zusammenhang mit der soeben subjektiven Geschmacks – jedenfalls eine solche, deren Beantwortung in einer anderen Ebene des Geistes liegt.« 158 Ein Begriff, der nicht zufällig des öfteren an zentraler Stelle auftaucht: siehe Weber, Objektivität (Fn. 3), S. 150, 151, 216, 217; ders., Wissenschaft als Beruf (Fn. 5), S. 105. 159 Weber, Wissenschaft als Beruf (Fn. 5), S. 103: »Sie werden schließlich die Frage stellen: … was leistet denn nun eigentlich die Wissenschaft Positives für das praktische und persönliche ›Leben‹?« 160 Weber, Wissenschaft als Beruf (Fn. 5), S. 103. Und in den folgenden Sätzen exemplifiziert Weber noch einmal die bekannten Wertdiskussionen: wenn man zu einem Wertproblem eine bestimmte Stellung einnimmt, muß man die Mittel anwenden, um sie zur Durchführung zu bringen. Vielleicht lehnt man aber schon die Mittel oder die Folgen des Mitteleinsatzes ab. 161 Im Zusammenhang zitiert: »wir können – und sollen – Ihnen auch sagen: die und die praktische Stellungnahme läßt sich mit innerer Konsequenz und also: Ehrlichkeit ihrem Sinn nach ableiten aus der und der letzten weltanschauungsmäßigen Grundposition – es kann sein, aus nur einer, oder es können vielleicht verschiedene sein –, aber aus den und den anderen nicht. Ihr dient, bildlich geredet, diesem Gott und kränkt jenen anderen, wenn Ihr Euch für diese Stellungnahme entschließt.« (Weber, Wissenschaft als Beruf [Fn. 5], S. 104). 162 Weber, Wissenschaft als Beruf (Fn. 5), S. 104. 163 Weber, Sinn (Fn. 9), S. 508: »Am allerwenigsten kann diese Wahl unsere streng empirische Wissenschaft dem Einzelnen zu ersparen sich anmaßen, und sie sollte daher auch nicht den Anschein erwecken, es zu können.«

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zitierten Stelle nicht zufällig davon, hier stünde man im Dienst »›sittlicher‹ Mächte: der Pflicht, Klarheit und Verantwortungsgefühl zu schaffen …«164. Entscheidend ist für Weber dabei gerade, daß jeder Einzelne dazu in die Lage versetzt wird, seine eigene, autonome »Letztentscheidung« zu treffen165 – und dies nicht nur einmal, weil man ja sehen müsse, »daß jede einzelne wichtige Handlung und daß vollends das Leben als Ganzes, wenn es nicht wie ein Naturereignis dahingleiten, sondern bewußt geführt werden soll, eine Kette letzter Entscheidungen bedeutet«166. Das führt zu einer gewaltigen Belastung, einer Überbürdung von Entscheidungslasten auf den Einzelnen – und nimmt ihm gerade die Möglichkeit des erleichternden Verweises auf andere, höhere Mächte oder vorgeblich objektive Wahrheiten, die es nur zu erkennen und zu befolgen gilt167. Jeder ist letztlich ganz auf sich selbst gestellt168. Auch von hier aus erklärt sich Webers Aversion gegen Kathederwertungen, weil auf diese Weise eine höchstpersönliche Wertentscheidung mit bloßer Fachschulung vermengt wird und dadurch ihrer besonderen Dignität verlustig gehen könnte169. Friedrich Tenbruck hat aus alledem in treffender Weise die Quintessenz gezogen: es gehe Weber gerade um die Frage, »was die Wissenschaft, die keine Antworten mehr auf Sinnfragen geben kann, uns jedenfalls noch für die eigene Selbstbesinnung leistet.«170 164 Weber, Wissenschaft als Beruf (Fn. 5), S. 104. Als eine »sittliche Leistung« sieht Weber es zudem

an, wenn der akademische Lehrer den Schülern beibringt, »unbequeme Tatsachen« anzuerkennen, d. h. solche, »die für seine Parteimeinung unbequem sind« (ebd., S. 98 f.); desgleichen Weber, Sinn (Fn. 9), S. 493. 165 Tenbruck, Nachwort (Fn. 42), S. 257: »Aus einem methodischen Axiom der Wissenschaft ist die Werturteilsfreiheit zu dem Gebot der Besinnung auf die eigenen letzten Werte geworden.« 166 Weber, Sinn (Fn. 9), S. 507 f. 167 Daß bei Weber wie an vielen anderen Stellen seines Werkes auch und gerade in »Wissenschaft als Beruf« ein gewaltiges Pathos mitschwingt, ist unverkennbar (Löwith, Max Weber [Fn. 44], S. 36 spricht von der »Rettung des menschlichen Helden«, Ottmann, Geschichte [Fn. 70], Ms. S. 5 von einem »aristokratischen Individualismus«), doch wird dadurch seine Position nicht falsch. 168 Auch insoweit besteht eine klare Parallele zu Hans Kelsen, der diese Konsequenz für die Frage des Verhältnisses von Individuum und staatlicher Rechtsordnung so deutlich wie möglich herausgearbeitet hat. Vgl. Horst Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen (1986), 2. Aufl., Baden-Baden 1990, S. 228 ff. (Verwiesenheit auf sich selbst, Überbürdung der Wertfrage auf die subjektive Wahrhaftigkeit des Individuums). Vgl. noch einmal die bei und in Fn. 7 referierten Vorwürfe der Enscheidungsschwäche oder -unfähigkeit. 169 Vgl. Weber, Sinn (Fn. 9), S. 491, wo er zunächst klarstellt, daß man ja nicht wünsche, daß alle zu möglichst reinen Fachmenschen würden, um fortzufahren: »Sondern gerade umgekehrt, weil man die letzten höchst persönlichen Lebensentscheidungen, die ein Mensch aus sich heraus zu treffen hat, nicht mit Fachschulung (…) in denselben Topf geworfen und ihre Lösung aus eigenem Gewissen heraus dem Hörer nicht durch eine Kathedersuggestion abgenommen zu sehen wünscht.« 170 Tenbruck, Nachwort (Fn. 42), S. 254 (Hervorhebung nicht i. O., H. D.); ebd., S. 257 heißt es zum Sinn der Wissenschaft: »Und richtig betrieben kann sie sogar, ihr letzter, größter Dienst, aber auch ihre Grenze, sogar der Besinnung auf die letzten eigenen Werte dienen, sofern sie uns nämlich verdeutlicht,

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V. Bezug zur Politik Läßt sich von Webers hier rekapitulierend entfalteter Position nun überhaupt eine Brücke zur Politik schlagen? Das kann letztlich mit guten Gründen bejaht, hier aber nur ganz knapp entfaltet werden. Schlüsselfunktion kommt einer Stelle im Objektivitätsaufsatz von 1904 zu, in der Weber noch einmal auf die Relation von Mitteln und Zwecken eingeht. Wir können nämlich nicht nur prinzipiell die Tauglichkeit bestimmter Mittel zur Erreichung eines bestimmten Zwecks feststellen. Wir können, so sagt er, auch die Folgen der Anwendung dieser Mittel, unerwünschte Nebenfolgen eingeschlossen, feststellen (immer gedacht natürlich als: in den Grenzen unseres jeweiligen Wissens und unserer Möglichkeiten), und zwar wegen des »Allzusammenhanges alles Geschehens«171. Und dann fallen die folgenden interessanten Sätze: »Wir bieten alsdann dem Handelnden die Möglichkeit der Abwägung dieser ungewollten gegen die gewollten Folgen seines Handelns und damit die Antwort auf die Frage: was ›kostet‹ die Erreichung des gewollten Zweckes in Gestalt der voraussichtlich eintretenden Verletzung anderer Werte? Da in der großen Überzahl der Fälle jeder erstrebte Zweck in diesem Sinne etwas ›kostet‹ oder kosten kann, so kann an der Abwägung von Zweck und Folgen des Handelns gegeneinander keine Selbstbesinnung verantwortlich handelnder Menschen vorbeigehen, und sie zu ermöglichen, ist eine der wesentlichsten Funktionen der technischen Kritik, welche wir bisher betrachtet haben. Jene Abwägung selbst nun aber zur Entscheidung zu bringen, ist freilich nicht mehr eine mögliche Aufgabe der Wissenschaft, sondern des wollenden Menschen: er wägt und wählt nach seinem eigenen Gewissen und seiner persönlichen Weltanschauung zwischen den Werten, um die es sich handelt. Die Wissenschaft kann ihm zu dem Bewußtsein verhelfen, daß alles Handeln, und natürlich auch, je nach den Umständen, das Nicht-Handeln, in seinen Konsequenzen eine Parteinahme zugunsten bestimmter Werte bedeutet, und damit – was heute so besonders gern verkannt wird – regelmäßig gegen andere. Die Wahl zu treffen, ist seine Sache.«172 auf welchen letzten Standpunkten zum Leben unsere praktischen Stellungnahmen beruhen, und uns dadurch eben zur Rechenschaft über den letzten Sinn des eigenen Lebens zwingt.« 171 Weber, Objektivität (Fn. 3), S. 150. 172 Weber, Objektivität (Fn. 3), S. 150. – Auch hier läßt sich eine instruktive Parallele mit der grundrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung ziehen. Auf deren dritter Stufe geht es um die sog. Verhältnismäßigkeit i. e. S. (auch: Proportionalität, Angemessenenheit, Zumutbarkeit, Güterabwägung) und somit eine angemessene Abwägung zwischen der Schwere der grundrechtlichen Beeinträchtigung einerseits, der Bedeutung des mit der Maßnahme verfolgten öffentlichen Belanges (oder eben Zweckes) andererseits. Der Grundrechtseingriff muß in Maß und Umfang »noch in einem vernünftigen Verhältnis zu den der Allgemeinheit erwachsenden Vorteilen stehen« (BVerfGE 76, 1 [51]). Für unverhältnismäßig wurde etwa der risikoreiche medizinische Eingriff der Liquorentnahme zur Aufklärung einer Bagatellstraftat

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Nach einer treffenden Beobachtung von René König könnten diese Sätze aus dem Objektivitätsaufsatz von 1904 auch in »Politik als Beruf« stehen173. Und tatsächlich kehren sie dort an der zentralen Stelle implizit wieder, an der Weber die noch heute geläufige und oft angeführte Differenz zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik einführt174. Der wollende Mensch, von dem Weber 1904 spricht, muß eben nicht nur der Privatmensch, sondern kann auch und gerade der in sozialen und politischen Bezügen lebende und agierende Bürger, es kann letzten Endes durchaus auch der in seiner Rolle als Berufspolitiker handelnde Mensch sein. Und wenn er nach der Maxime verfährt, »daß man für die voraussehbaren Folgen seines Handelns aufzukommen hat«, dann handelt er nach Webers maßgeblicher Unterscheidung zwischen Verantwortungsethik und Gesinnungsethik175 verantwortungsethisch. Dabei ist wichtig die Erinnerung daran, daß für Weber Gesinnungsethik keineswegs Verantwortungslosigkeit und Verantwortungsethik nicht Gesinnungslosigkeit meint176. Auch hält Weber fest, daß im realen Leben sich beide Haltungen oft mischen werden und auch der Verantwortungsethiker an einen Punkt gelangen kann, wo der Aufopferung zentraler Werte zugunsten eines Kompromisses oder eines bestimmten Zieles Grenzen gesetzt sind177. Aber der entscheidende systematische Unterschied besteht genau darin, ob man auf die Folgen des eigenen Handelns bzw. seiner politischen Ziele schaut oder nicht. erklärt (BVerfGE 16, 194 [201 ff.]). In der Staatsrechtslehre herrscht Einigkeit darüber, daß hier deutlich weniger als auf den ersten beiden Stufen rationale und objektive Kriterien zur Verfügung stehen, sondern subjektive Wertungen des Rechtsanwenders dominieren, weswegen Zurückhaltung gegenüber den Wertungen des Gesetzgebers geboten ist (vgl. Dreier [Fn. 130], Vorb. Rn. 149). 173 König, Überlegungen (Fn. 7), S. 181. 174 Der Geläufigkeit dieser Unterscheidung und ihrer Präsenz in öffentlicher, speziell politischer Rede korrespondiert leider nicht eine entsprechende Kenntnis ihrer Herkunft und näheren Bedeutung. 175 Locus classicus für die Unterscheidung ist: Weber, Politik als Beruf (Fn. 5), S. 237 f., 240, 248 ff., insb. 237: »Aber es ist ein abgrundtiefer Gegensatz, ob man unter der gesinnungsethischen Maxime handelte – religiös gesprochen –: ›der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim‹, oder unter der verantwortungsethischen: daß man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat.« Die Sache ist aber schon präsent im Sinn-Aufsatz von 1917 (Weber, Sinn [Fn. 9], S. 505 [Gesinnung und Verantwortung], 514 [Erfolgswert, Gesinnungswert]). Weber, Wissenschaft als Beruf (Fn. 5), S. 104 spricht an zentraler Stelle vom »Verantwortungsgefühl«. 176 Siehe nur die klaren Worte von Weber, Politik als Beruf (Fn. 5), S. 237, 249. Aus der Literatur treffend Johannes Fischer u. a., Grundkurs Ethik. Grundbegriffe philosophischer und theologischer Ethik, 2. Aufl., Stuttgart 2007, S. 428 ff. 177 Weber, Politik als Beruf (Fn. 5), S. 250 bezeichnet es als »erschütternd …, wenn ein reifer Mensch … der diese Verantwortung für die Folgen real und mit voller Seele empfindet und verantwortungsethisch handelt, an irgendeinem Punkte sagt: ›ich kann nicht anders, hier stehe ich.‹ (…) Insofern sind Gesinnungsethik und Verantwortungsethik nicht absolute Gegensätze, sondern Ergänzungen, die zusammen erst den echten Menschen ausmachen, den, der den ›Beruf zur Politik‹ haben kann.« Zu diesem Punkt auch Günther Patzig, Noch einmal: »Gesinnungsethik« und »Verantwortungsethik« (1984), in: ders., Gesammelte Schriften I, Göttingen 1994, S. 163–173.

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Man kann also mit gewissem Recht sagen, daß die Haltung der Verantwortungsethik »in der praktischen Sphäre das Pendant zur Rationalität in der theoretischen Dimension darstellt«178, auch wenn natürlich die Irrationalität der Letztentscheidung davon ganz unberührt bleibt. Dieser Zusammenhang wurde von Wolfgang Schluchter noch vertieft und pointiert179. Während für den Gesinnungsethiker die mit wissenschaftlichen Mitteln aufgedeckten Handlungsfolgen und der Nachweis bestimmter Kosten einer Wertverwirklichung sozusagen gleichgültig sind, ist der Verantwortungsethiker gerade auf entsprechende Informationen angewiesen. Er braucht die Wissenschaft, die ihm durch Analyse der Ursache-Folge-Zusammenhänge erst die Voraussetzung für seine Entscheidung schafft180. Die Wissenschaft stellt gleichsam die Möglichkeit für verantwortungsethisches Handeln sicher. Der Bezug ist geradezu innerlich notwendig: »Wertfreiheit und Verantwortungsethik gehören zusammen.«181 Die Verantwortungsethik erscheint hier als implizites Ziel oder doch als kompatible Größe, wenn nicht gar als Komplementärfunktion. So zeigt sich am Ende, was eingangs angedeutet wurde: daß wohl kaum ein zweiter Autor beide Komplexe, Wissenschaft und Politik, so intensiv analysiert und durchdacht hat wie Max Weber.

178 König, Überlegungen (Fn. 7), S. 181. 179 Wolfgang Schluchter, Wertfreiheit und Verantwortungsethik. Zum Verhältnis von Wissenschaft und

Politik bei Max Weber (1971), in: ders., Rationalismus der Weltbeherrschung. Studien zu Max Weber, Frankfurt/M. 1980, S. 41–74 mit eingehenden Erörterungen. 180 Das wurde schon betont bei v. Schelting, Wissenschaftslehre (Fn. 17), S. 9: »denn die Möglichkeit, sich im Handeln (insbesondere im politischen Handeln) an der Verantwortungsethik sinnvollerweise zu orientieren, steht und fällt mit der Möglichkeit, objektiv gültige Erkenntnisse über den vom Standpunkt des Handelnden jeweils relevanten Bereich von Zusammenhängen (insbesondere des sozialen und ökonomischen Lebens) zu erlangen, und diese Möglichkeit hängt am Vorhandensein der aufweisbaren und als Kontrollinstanz verwertbaren formalen Grundlagen der wissenschaftlichen Forschung.« 181 Schluchter, Wertfreiheit (Fn. 179), S. 59.

Helmuth Schulze-Fielitz

Politische Voraussetzungen wissenschaftlicher Forschung

I. Problemstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Schichten politischer Voraussetzungen für wissenschaftliche Forschung . . . . 1. Politische Voraussetzungen für Wissenschaft als geistige Individualfreiheit zur Mitteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Politische Voraussetzungen für die Organisation des Forschungsprozesses. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Universitäre Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Industrieforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ressortforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Außeruniversitäre Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Politische Voraussetzungen für die Finanzierung der Forschung . . . . . . . 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Aktuelle Wandlungen der politischen Rahmenbedingungen wissenschaftlicher Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtliche Kollektivierung forschungsethischer Entscheidungen . . . . . . . 2. Umbau der Universitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Forschungsrelevante Veränderungen der Ausbildung (»Bologna-Prozess«) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Umstellung auf universitäre Wettbewerbsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . 3. Wachsende Forschungsabhängigkeit von Drittinteressen . . . . . . . . . . . . .

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a) Stärkere Anbindung der Forschung an gesellschaftliche und wirtschaftliche Nutzenerwartungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 b) (Mit-)Steuerung der Universitätsforschung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 4. Rückwirkungen auf die außeruniversitäre Forschung . . . . . . . . . . . . . . . 97 a) Verwissenschaftlichung der Ressortforschung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 b) Folgen für Einrichtungen in der außeruniversitären Forschung . . . . . . 99 5. Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 IV. Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen für die Wissenschaftsund Hochschulpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 1. Forschungsverbote in der Stammzellforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 2. Forschungsfreiheit als Grenze beim Umbau zum Hochschulmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 3. Eigengesetzlichkeit der Wissenschaft bei Forschungsevaluation . . . . . . . 103 4. Forschungsfreiheit im Wissenschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

I. Problemstellungen Die mir gestellte Frage nach politischen Voraussetzungen wissenschaftlicher Forschung lässt sich in dieser allgemeinen Form kaum angemessen beantworten, wenn man nur an die Bandbreite einiger weniger zwingend notwendiger Differenzierungen denkt. Um mit den Dimensionen wissenschaftlicher Forschung zu beginnen: Geht es um die wissenschaftliche Individualforschung, um Forschung im Team oder um kollektive Forschungsverbünde in Großorganisationen, etwa auch der Großforschung? Soll es fachlich um geisteswissenschaftliche, medizinische, technik- und ingenieurwissenschaftliche oder um naturwissenschaftliche Forschung gehen, um anwendungsbezogene oder Grundlagenforschung, um Erkenntnisgewinnung oder Erkenntnisvermittlung, um die Forschung an wissenschaftlichen Hochschulen, an den Institutionen der Großforschung oder an solchen in der Privatwirtschaft? Auch eine Explikation der »politischen Voraussetzungen« kann sich auf die Hochschul-, die Wissenschafts- oder die gesamtgesellschaftliche Politik beziehen, müsste dabei zwischen den politischen Ebenen von Europa, Bund, Ländern und auch Kommunen differenzieren und die unterschiedlichen politischen Akteure in den gesetzgebenden Körperschaften, den fiskalischen Finanziers oder der allgemeinen Verwaltung in Ministerien und Hochschulen (einschließlich ihrer Konferenzgremien wie Wissenschaftsrat oder Rektorenkonferenzen) einbeziehen. Der Begriff der Voraussetzungen kann notwendige oder hinreichende Bedingungen, aber auch nur tatsächliche Rah-

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menbedingungen meinen. Selbst die Dimensionen des Politischen variieren zwischen Recht als »geronnener Politik«1 und den mehr oder weniger konkretisierten Gestaltungsabsichten (partei-)politischer Akteure, zwischen politiktheoretischer Abstraktion und konkreten politisch-historischen Entwicklungslinien2, zwischen politischen Inhalten und erkenntnistheoretisch-methodischen Verbindungslinien von Politik und Wissenschaft. Man sieht: das Thema lässt sich nur durch eine ebenso entschlossene wie akzentuierte selektive (und deshalb nicht risikolose) Schwerpunktbildung behandeln. Nachstehend geht es – im Wesentlichen (nur) am Beispiel Deutschlands – vor allem um Fragen, ob, inwiefern und warum die politischen Voraussetzungen für wissenschaftliche Forschung sich in der Gegenwart wandeln (III.), um dann an einzelnen ausgewählten Problemfeldern die Ambivalenz der wissenschafts- und hochschulpolitischen Intentionen i. S. einer Gleichzeitigkeit ihrer Notwendigkeiten und Gefahren als verfassungsrechtliche Probleme zu verdeutlichen (IV.). Vorab aber gilt es, sich die herkömmlichen Schichten politischer Voraussetzungen des deutschen institutionellen Systems wissenschaftlicher Forschung durch einen Rückblick auf seinen Entstehungsprozess zu vergegenwärtigen (II.).

II. Schichten politischer Voraussetzungen für wissenschaftliche Forschung 1. Politische Voraussetzungen für Wissenschaft als geistige Individualfreiheit zur Mitteilung

Die Wissenschaftsfreiheit entwickelte sich als individuelle Freiheit zur geistig autonomen Vernunfterkenntnis im 17. Jahrhundert gegen staatlich-kirchlichen Zwang in Glaubens- und Erkenntnisfragen als das Recht, frei zu denken, seine Erkenntnisse frei zu äußern und vor allem zu lehren3, in engem Entwicklungszusammenhang mit der Entfaltung der Freiheit der geistigen Mitteilung auch in der allgemeinen Öffentlichkeit4. Der selbständige Begriff der Wissenschaft akzentuiert diese Suche nach Dieter Grimm, Recht und Politik, in: Juristische Schulung 9 (1969), S. 501–510 (502). Vgl. Rüdiger vom Bruch / Uta Gerhardt / Aleksandra Pawlicek (Hrsg.), Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, 2006. 3 Walter A. E. Schmidt, Die Freiheit der Wissenschaft, 1929, S. 26 ff. 4 Ausf. Hans-Heinrich Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, 1994, S. 17 ff.; Christian Starck, Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit, in: Walther Fürst / Roman Herzog / Dieter C. Umbach (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Zeidler, Bd. 2, 1987, S. 1539–1552. 1 2

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und die Vermittlung von Erkenntnissen in ihrer Eigengesetzlichkeit und in diesem Sinne als Selbstzweck5. Hier gründet eine erste Schicht politischer Voraussetzungen auch für gute wissenschaftliche Forschung, die sich gegen die Unterdrückung dieser elementaren individuellen geistigen Freiheit zur Mitteilung – oft genanntes Beispiel: die Karlsbader Beschlüsse6 – wendet, wie sie dann in § 152 des Grundrechtskatalogs der Paulskirchenverfassung von 1849 erstmals auf Reichsebene in einer Verfassungsurkunde ihren grundrechtlichen Niederschlag gefunden hat7. Der Schutz dieser Freiheit i. S. individueller autonomer wissenschaftlicher Selbstbestimmung8 ist eine elementare Bedingung für wissenschaftlichen Erfolg, wie jeder Vergleich mit Bereichen zeigt, wo historisch oder aktuell in anderen Staaten religiöse oder politische Tabugrenzen errichtet werden. Sie folgt einem elementaren menschlichen Bedürfnis der Neugier auf Erkenntnis und Erklärung, deren neuartige Resultate den jeweiligen herrschenden gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, religiösen oder politischen Anschauungen oder Interessen widersprechen können. In diesem Sinne behauptet das Bundesverfassungsgericht vom Telos der Wissenschaftsfreiheit unverändert (auch), »dass eine von gesellschaftlichen Nützlichkeits- und politischen Zweckmäßigkeitsvorstellungen freie Wissenschaft Staat und Gesellschaft im Ergebnis am besten dient«9. 2. Politische Voraussetzungen für die Organisation des Forschungsprozesses

Wissenschaftliche Forschung als eigenständige Praxis im modernen Sinn entstand jenseits der Akademien der Wissenschaften als bis dahin bedeutendsten Forschungsstätten erst im Laufe des 19. Jahrhunderts mit der grundlegenden Transformation der Universitätslandschaft i. S. einer Ablösung von der Lehre gesicherter philosophischer Wahrheiten hin zur zweckfreien Erforschung des Neuen als selbsttätiges Denken, das Wissenschaft zur Forschung nach »nie ganz Aufzufindendes« macht10. Dieser Ute Mager, Freiheit von Forschung und Lehre, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band VII, 3. Aufl. 2009, § 166 Rn. 7. 6 Mager, Freiheit (Fn. 5), § 166 Rn. 3; Matthias Ruffert, Grund und Grenzen der Wissenschaftsfreiheit, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 65 (2006), S. 146–216 (162 f.) m. ausf. Nw. 7 Vgl. zur verfassungsgeschichtlichen Entwicklung Mager, Freiheit (Fn. 5), § 166 Rn. 4 f.; Ingolf Pernice, in: Horst Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Band 1, 2. Aufl. 2004, Art. 5 III (Wissenschaft) Rn. 1; ausf. Rainer A. Müller, Vom Ideal zum Verfassungsprinzip. Die Diskussion um die Wissenschaftsfreiheit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Rainer Christoph Schwinges (Hrsg.), Humboldt International, 2001, S. 349–366; Schmidt, Freiheit (Fn. 3), S. 64 ff. 8 Vgl. BVerfGE 35, 79 (113); 47, 327 (367); 90, 1 (12); 111, 333 (354). 9 BVerfGE 111, 333 (354), im Anschluss an E 47, 327 (370). 10 Formulierung von Wilhelm von Humboldt, zit. in BVerfGE 35, 79 (113). 5

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Begriff der wissenschaftlichen Forschung geht über die individuelle Wissenschaftsfreiheit hinaus, und er umfasst im Laufe seiner Entwicklung mehr als nur die Suche nach reiner Erkenntnis um ihrer selbst willen11. Vielmehr verbindet sich eine zweite Schicht politischer Voraussetzungen von Anfang an mit der Ausbildung eines Wissenschaftssystems in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und seinen spezifischen Handlungsorientierungen und Rationalitäten wissenschaftlicher Forschung12 sowie deren Anpassung an veränderte gesamt-gesellschaftliche Rahmenbedingungen durch politische Gestaltung. Die Empirisierung, Dynamisierung und Temporalisierung des Wissens als Kennzeichen der sich schnell entwickelnden Naturwissenschaften löste den Vorrang der Philosophie in den Universitäten ab und machte experimentelle Forschung zu einem Leitbegriff von Wissenschaft überhaupt. Sie führte zur immer differenzierteren Ausbildung wissenschaftlicher Disziplinen mit strukturellen Folgen der Veränderung der wissenschaftlichen Kommunikation als einem sozialen Handlungszusammenhang: durch die Ausbildung von scientific communities, wissenschaftlichen Gesellschaften13, Fachzeitschriften14 und räumlich entgrenzten Kommunikationszusammenhängen. Diese Veränderungen waren zugleich eingebettet in politische Voraussetzungen, durch die die neuere Wissenschaftsentwicklung sich mit den besonderen Interessen von Staat, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft an spezifischen Erscheinungsformen wissenschaftlicher Forschung und ihren Resultaten im Zuge der Ausbildung zum modernen Industrie- und Interventionsstaat verband15: Begrifflich bildet sich seit Ende des 19. Jahrhunderts eine aktive, paternalistische Wissenschaftspolitik aus, die eng mit dem »System Althoff«, benannt nach dem ein Vierteljahrhundert im preußischen Kultusministerium wirkenden Ministerialdirektor, und dessen stark interventionistisch geprägter, zukunftsweisender Modernisierung des Universitäts- und Hochschulsystems verknüpft ist16. Damit entstand schon vor dem Ersten Weltkrieg 11 Peter Weingart, Die Stunde der Wahrheit?, 2001, S. 62 f. 12 Dietmar Braun, Die politische Steuerung der Wissenschaft, 1997, S. 88 ff.; Trute, Forschung (Fn. 4),

S. 20 ff. 13 Vgl. Frank R. Pfetsch, Zur Entwicklung der Wissenschaftspolitik in Deutschland. 1750–1914, 1974, S. 193 ff., 225 ff., 252 ff. 14 Vgl. Sigrid Stöckel u. a. (Hrsg.), Das Medium Wissenschaftszeitschrift seit dem 19. Jahrhundert, 2009. 15 Braun, Steuerung (Fn. 12), S. 99 ff. 16 Braun, Steuerung (Fn. 12), S. 103; Trute, Forschung (Fn. 4), S. 32 ff.; ausf. Bernhard vom Brocke, Von der Wissenschaftsverwaltung zur Wissenschaftspolitik. Friedrich Althoff (1839–1908), in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 11 (1988), S. 1–26; ders., Preußische Bildungspolitik. 1700–1930, in: Deutsches Verwaltungsblatt 96 (1981), S. 727–746 (738 ff.); ders., Hochschul- und Wissenschaftspolitik in Preußen und im Deutschen Kaiserreich 1882–1907: das »System Althoff«, in: Peter Baumgart (Hrsg.), Bildungspolitik in Preußen zur Zeit des Kaiserreichs, 1980, S. 9–118 (47 ff.); umfassend ders. (Hrsg.),

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ein System wissenschaftlicher Forschung, dessen strukturelle Grundzüge i. S. eines stabilen institutionellen Arrangements sich bis heute erhalten haben17. a) Universitäre Forschung

Diese Entwicklung führte erstens zu neuen Formen der Organisation und Professionalisierung der Forschung an den Universitäten als tragender Säule des nationalen Forschungssystems18. Gegen den Widerstand der Universitäten und ihre allgemeinen Vorbehalte gegenüber experimentellen Naturwissenschaften, die die Spezialisierungsprozesse als Abkehr vom eigentlichen Bildungsauftrag der Universitäten ansahen, entstanden zunehmend Forschungsinstitute – oft in Übernahme zunächst privater Institute – und mit ihnen eine allmähliche Veränderung der Universitätsidee mit der Ausbildung der verselbständigten Berufsrolle des universitären Forschers in enger Verschränkung mit der Lehre, bei der Forschung nicht nur eine private Angelegenheit neben der Lehre war. Die Universitäten entwickelten sich zu Zentren wissenschaftlicher Forschung, gegenüber denen die Bedeutung der noch im 18. Jahrhundert in der Forschung führenden Akademien an Gewicht verlor19. Zudem bildeten sich seit den ersten polytechnischen Anstalten (Karlsruher Polytechnische Schule 1825) neu gegründete Technische Hochschulen aus, die einen Bedarf von Staat und Wirtschaft an gut ausgebildeten Ingenieuren und Naturwissenschaftlern widerspiegelten, den die Universitäten nicht decken konnten; gegen den erbitterten Widerstand der Universitäten führte diese Entwicklung mit internationaler Vorbildwirkung zur gleichberechtigten Anerkennung der Technischen Hochschulen20 und der reinen und der angewandten Wissenschaften. Zugleich stieß die traditionelle Einheit von Forschung und Lehre angesichts der (bis heute wachsenden) Ausbildungsfunktion der Universitäten auf Grenzen zu Lasten der Forschung, die eine bis heute bleibende Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftspolitik im Industriezeitalter. Das »System Althoff« in historischer Perspektive, 1991. 17 S. zuletzt Andreas Knie / Dagmar Simon, Stabilität und Wandel des deutschen Wissenschaftssystems, in: Dagmar Simon / Andreas Knie / Stefan Hornbostel (Hrsg.), Handbuch Wissenschaftspolitik, 2010, S. 26–38 (27 ff.); Thomas Wieland, Neue Technik auf alten Pfaden? Forschungs- und Technologiepolitik in der Bonner Republik, 2009, S. 50 ff. 18 Otto Keck, The National System for Technical Innovation in Germany, in: Richard R. Nelson (Hrsg.), National Innovation Systems. A Comparative Analysis, New York / Oxford 1993, S. 115–157 (117 ff.). 19 Wieland, Technik (Fn. 17), S. 52, mit Verweis auf Charles E. McClelland, State, Society and University in Germany 1700–1914, Cambridge 1980, S. 239 ff.; Weingart, Stunde (Fn. 11), S. 60. 20 Keck, System (Fn. 18), S. 120, 123; ausf. Karl-Heinz Manegold, Geschichte der Technischen Hochschulen, in: Laetitia Boehm / Charlotte Schönbeck (Hrsg.), Technik und Bildung, 1989, S. 204–234 (227 ff.).

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Spannung zwischen Forschung und Lehre an den Universitäten konstituierte und das klassische Humboldtsche Universitätsverständnis hinter sich ließ21. b) Industrieforschung

Wissenschaftspolitisch entstanden mit der Ausdifferenzierung des Forschungssystems neue funktional eigenständige Typen wissenschaftlicher Forschung in den drei Erscheinungsformen industrieller, staatlicher und außeruniversitärer Forschung, zusätzlich zu den Universitäten. Sie drängen den Selbstwertcharakter wissenschaftlicher Forschung zugunsten außerwissenschaftlicher Leistungsbezüge zurück und prägen strukturell bis heute das bestehende Wissenschaftssystem, dessen Voraussetzungen politischer Gestaltung unterlagen und unterliegen. Aus der wissenschaftlichen Beratung von Unternehmen heraus entstand im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in den Laboratorien namentlich der chemischen und elektrotechnischen Industrie eine auf Marktbedürfnisse und entsprechende Produkte zugeschnittene neue Erscheinungsform der institutionalisierten Industrieforschung22, die sich aus reinen Theoriezusammenhängen löst, zunehmend professionalisiert und interdisziplinär-problembezogen nach Maßgabe von Unternehmenszielen gesteuert werden kann23. (Auch heute gelten gut 2/3 aller Bruttoinlandsausgaben für Forschung und Entwicklung diesen Bereichen24, die sich auf das verarbeitende Gewerbe und insoweit auf die Hauptexportindustrien Deutschlands – Fahrzeugbau, Elektroindustrie, Chemie und Maschinenbau – konzentrieren25). Ihre Forschungsthemen sind an der technologischen Kompetenz des Unternehmens, an den Marktchancen der Produktinnovation und der Rentabilität des Mitteleinsatzes orientiert, hinter der eine Eigengesetzlichkeit der Wissensgewinnung zurücktritt. Die politischen Voraussetzungen der wissenschaftlichen Forschung und der Rahmenbedingungen für unternehmerisches Handeln am Markt fallen zusammen: Der Staat förderte hier meist 21 Rüdiger vom Bruch, Langsamer Abschied von Humboldt?, in: Mitchell G. Ash (Hrsg.), Mythos

Humboldt, 1999, S. 29–57 (34 ff.); zur neueren Entwicklung der Lehr- und Ausbildungsfunktion zu Lasten der Forschungsaufgaben Uwe Schimank, Hochschulforschung im Schatten der Lehre, 1995, S. 40 ff., 58 ff. 22 Wieland, Technik (Fn. 17), S. 52 f.; Keck, System (Fn. 18), S. 125 ff.; ausf. zsfssd. Ulrich Schmoch, Hochschulforschung und Industrieforschung, 2003, S. 185 ff. 23 Trute, Forschung (Fn. 4), S. 25 f., 104 ff. 24 Bundesbericht Forschung und Innovation 2008 (BT-Drs. 16/9260), S. 47, 55; s. auch Martin Schulte, Grund und Grenzen der Wissenschaftsfreiheit, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 65 (2006), S. 110–145 (117). 25 Zuletzt wieder (krit.) Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI), Gutachten zu Forschung, Innovation und technologischer Leistungsfähigkeit Deutschlands 2010 (vom 24.2.2010), 2010, S. 37.

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indirekt durch Ausbildung der Industrieforscher an seinen Hochschulen, durch Rahmengesetze etwa zu Patenten oder technischen Normen oder auch als Abnehmer hochtechnischer Produkte, z. B. auch im militärischen Bereich26. In neuerer Zeit lässt sich mit der Konzentration der Unternehmen auf ihre Kernkompetenzen eine stetige Steigerung der externen Forschungs- und Entwicklungsausgaben der Wirtschaft und ein Wachstum von strategischen Partnerschaften mit Universitäten und Forschungseinrichtungen beobachten27. c) Ressortforschung

Ein ähnliches, zeitgleich mit der Ausbildung der Industrieforschung entstandenes Eigeninteresse steht hinter der staatlichen Forschung als einer zweiten außeruniversitären Säule, nicht nur im militärischen Arkanbereich, sondern vor allem auch in Orientierung an Aufgaben des Staates im Bereich der Daseinsvorsorge und Innovationsbewältigung, dessen spezifischer Wissensbedarf von den autonomen Universitäten nicht erfüllt wird28. Seit der Gründung des Kaiserlichen Gesundheitsamts (1876), dem späteren Reichsgesundheitsamt (1918) und Bundesgesundheitsamt (1952, aufgelöst 1994) oder (auf Reichsebene) der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt (1887)29, der heutigen Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig und Berlin, wächst die Zahl und Intensität von meist institutionell verselbständigten staatlichen Forschungseinrichtungen zur Beratung der Regierung, Feststellung des Wissensstandes oder der Umsetzung in bestimmte Maßnahmen30, namentlich auf den Gebieten von Gesundheit, Landwirtschaft und Ernährung, aber auch sonst entsprechend dem jeweiligen Bedarf31. 26 Wieland, Technik (Fn. 17), S. 53; vgl. bilanzierend Helmuth Trischler, Nationales Sicherheitssystem

– nationales Innovationssystem. Militärische Forschung und Technik in Deutschland in der Epoche der Weltkriege, in: Bruno Thoß / Hans-Erich Volkmann (Hrsg.), Erster Weltkrieg. Zweiter Weltkrieg. Ein Vergleich, 2002, S. 107–131. 27 Holger Braun-Thürmann, Wandel der Wissensproduktion, in: Simon u. a., Handbuch (Fn. 17), S. 71–88 (81); Wissenschaftsrat (Hrsg.), Empfehlungen zur Interaktion von Wissenschaft und Wirtschaft, Drs. 7865–07 vom 25.5.2007, S. 18 m. Nw. 28 Typisch waren zunächst die Felder des Gesundheitswesens, der Tierhygiene, Pflanzenschutz, technische Standards, vgl. Peter Lundgreen / Bernd Horn / Wolfgang Krohn / Günter Küppers / Rainer Paslack, Staatliche Forschung in Deutschland 1870–1980, 1986, S. 17 ff., ausf. S. 27 ff. 29 S. näher Braun, Steuerung (Fn. 12), S. 104 f.; Keck, System (Fn. 18), S. 123 ff.; Hans-Willy Hohn / Uwe Schimank, Konflikte und Gleichgewichte im Forschungssystem, 1990, S. 63 ff.; Pfetsch, Entwicklung (Fn. 13), S. 103 ff., 109 ff. 30 Trute, Forschung (Fn. 4), S. 26 f., 99 ff.; Hohn/Schimank, Konflikte (Fn. 29), S. 303 ff.; aktuelle Übersicht der 40 Ressortforschungseinrichtungen des Bundes: Bundesbericht 2008 (Fn. 24), S. 146 ff. 31 Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur Entwicklung der Rahmenbedingungen der Forschung in Ressortforschungseinrichtungen: am Beispiel der Forschungsanstalten in der Zuständigkeit des Bundes-

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Diese Einrichtungen der Ressortforschung zielen wie auch sonstige Einrichtungen wissenschaftlicher Politikberatung32 nicht primär auf autonome Wissensgewinnung als solche, sondern auf Entscheidungshilfe bei staatlichen Entscheidungsprozessen als Leistungen für andere gesellschaftliche Bereiche, indem sie als forschende staatliche Behörden (meist weisungsabhängige nicht rechtsfähige Anstalten des öffentlichen Rechts) primär vorhandenes wissenschaftliches Wissen handlungsbezogen reformulieren und für den jeweiligen Praxiszusammenhang zuschneiden33. Zu dieser Ressortforschung zählen (1) observierende Forschung für die Planungsberatung, (2) technische Normung, (3) die Erscheinungsformen der kurzfristigen Vergabe von Forschungs- und Rechercheaufträgen an Dritte, etwa an Universitäten, ohne dass deren Ergebnisse ohne Weiteres nach Maßstäben der akademisch-disziplinären Forschung zu beurteilen wären, sowie (4) Vorsorgeforschung mit Langfristperspektive34, gerade weil diese (etwa in Form der Vorlaufforschung) oft den Kurzfristperspektiven der Politik (zunächst) widerspricht35. Politische Voraussetzungen sind organisatorischadministrative Vorgaben zur jeweils sinnvollen Erfüllung der Regierungs- oder Verwaltungsaufgaben. Im Jahre 2002 gingen mit 1,29 Mrd. Euro 11,6 Prozent der Ausgaben des Bundes für Wissenschaft und Forschung an damals 52 bundeseigene Forschungseinrichtungen36 (vom Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa in Oldenburg über das Flugmedizinische Institut der Luftwaffe in Fürstenfeldbruck hin zum Bundesamt für Naturschutz in Köln, um drei [von 25] der seit 2006 zu evaluierenden Einrichtungen beispielhaft zu nennen37); die Höhe ministeriums für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (BMVEL), Drs. 5910-04 vom 30.1.2004, S. 8 ff., 12 ff., 50 ff.; vgl. konkret am Beispiel der Bundesforschungsanstalt für Landwirtschaft (mit 137 Wissenschaftlern auf Planstellen und weiteren 90 Wissenschaftlern auf Drittmittelstellen) Hiltrud Nieberg, Wissenskommunikation zwischen Wissenschaft, Administration und Politik im Bereich der Landwirtschaft – Möglichkeiten und Probleme, in: Cordula Kropp / Frank Schiller / Jost Wagner (Hrsg.), Die Zukunft der Wissenskommunikation, 2007, S. 79–102 (82 ff.). 32 Dazu näher Peter Weingart / Justus Lentsch, Wissen – Beraten – Entscheiden, 2008, S. 19 ff.; diese Ressortforschung wird weithin übersehen in: Svenja Falk / Dieter Rehfeld / Andrea Römmele / Martin Thunert (Hrsg.), Handbuch Politikberatung, 2006. 33 Vgl. Marian Döhler, Die politische Steuerung der Verwaltung, 2007, S. 189; ausf. Eva Barlösius, Zwischen Wissenschaft und Staat? Die Verortung der Ressortforschung, 2008 (WZB-Discussion Paper P 2008-101), S. 7 ff., 15 ff.; zuletzt Thomas Groß, Ressortforschung, Agenturen und Beiräte – Zur notwendigen Pluralität der staatlichen Wissensinfrastruktur, in: Hans Christian Röhl (Hrsg.), Wissen – Zur kognitiven Dimension des Rechts, 2010, S. 135–155 (141 ff., 146 ff.). 34 Wissenschaftsrat, Empfehlungen (Fn. 31), S. 11. 35 Nieberg, Wissenskommunikation (Fn. 31), S. 91. 36 Wissenschaftsrat, Empfehlungen (Fn. 31), S. 9 f. 37 Vgl. Wissenschaftsrat, Kriterien des Ausschusses Ressortforschung für die Begutachtung von Bundeseinrichtungen und FuE-Aufgaben, Drs. 7693-07 vom 29.1.2007, S. 14 f.

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der Ausgaben der Deutschen Forschungsgemeinschaft (im Jahre 2002) war nahezu identisch (1,26 Mrd. Euro)38. d) Außeruniversitäre Forschung

Schließlich ist der Zweig der (staatlich finanzierten) außeruniversitären Forschung zu nennen. Er hat sich neben den und zusätzlich zu den Akademien der Wissenschaften39, die durch ihre Gründung (in Reaktion auf den Bedeutungsverlust der Universitäten) seit dem 17. und 18. Jahrhundert die außeruniversitäre Forschung zunächst stark geprägt hatten, entwickelt und wird in seinen unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen oft als »deutsches Modell« für vorbildlich angesehen40. Diese Forschungseinrichtungen finden ihre wissenschaftspolitische Begründung in ihren von Universitäten nicht zu erfüllenden Aufgaben, weil diese von Universitätslehrern wegen der wachsenden Lehrverpflichtungen, der defizitären Einrichtungen der Universitäten und des erheblichen Ressourcenaufwandes, aber auch wegen mangelnder Berücksichtigung neuer Disziplinen innerhalb des herkömmlichen Fächerkanons nicht bewältigt werden konnten41. Der Erfolg der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt im Bereich der Grundlagenforschung gab den Anstoß zur Gründung etwa auch der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (1911) als kooperativer privatrechtlicher Gründung von Staat und Industrie42. Sie begründete einen neuen Forschungstyp: Forschung ohne Lehrbelastungen, Verfolgung spezieller Fragestellungen in verselbständigten Forschungsinstitutionen, weitgehende Unabhängigkeit von staatlicher Lenkung (auch wegen der umfassenden Finanzierung durch die Industrie)43 und eine Mischung von Grundlagen- und angewandter Forschung mit Öffnung zur Gesellschaft hin44 38 Statistisches Jahrbuch 2005 für die Bundesrepublik Deutschland, 2005, S. 160. – Die Zahl der in

den Einrichtungen der Ressortforschung des Bundes tätigen Personen umfasst mit fast 17.000 Personen etwa ein Viertel so viele wie in den nachstehend skizzierten Einrichtungen der außeruniversitären Forschung, vgl. Bundesbericht 2008 (Fn. 24), S. 568 ff. 39 Zur Transformation der Akademien heute vgl. Justus Lentsch, Akademien der Wissenschaft: Wissenschaftsmakler für Politik und Gesellschaft, in: Simon u. a., Handbuch (Fn. 17), S. 406–426. 40 EFI, Gutachten 2010 (Fn. 25), S. 44. 41 Trute, Forschung (Fn. 4), S. 27 ff.; ausf. Hohn/Schimank, Konflikte (Fn. 29). 42 Vgl. Braun, Steuerung (Fn. 12), S. 105; Hohn/Schimank, Konflikte (Fn. 29), S. 72 ff.; ausf. Bernhard vom Brocke, Die Kaiser-Wilhelm Gesellschaft im Kaiserreich. Vorgeschichte, Gründung und Entwicklung bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs, in: Rudolf Vierhaus / Bernhard vom Brocke (Hrsg.), Forschung im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft. Geschichte und Struktur der Kaiser-Wilhelm-/ Max-Planck-Gesellschaft, 1990, S. 17–162 (63 ff., 84 ff.). 43 Braun, Steuerung (Fn. 12), S. 164 ff. 44 So Trute, Forschung (Fn. 4), S. 29; ausf. zur MPG Doris Kaufmann (Hrsg.), Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus, 2 Bände, 2000; (auf dem Stand von 1990) Hohn/ Schimank, Konflikte (Fn. 29), S. 79 ff.

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(heute: Max-Planck-Gesellschaft, seit dem Zweiten Weltkrieg aber an Grundlagenforschung orientiert45). Die allmähliche »Transformation eines wirtschaftsnahen zu einem primär staatsorientierten, öffentlich finanzierten Forschungssystem« nach dem Ersten Weltkrieg veränderte die hier angelegte Schwerpunktsetzung der staatlichen Forschungspolitik auf anwendungsorientierte und industrienahe Forschungsbereiche im Kern bis heute nicht46. Heute kommen hinzu47 die – z. T. auch schon vor 1900 gegründeten – heutigen 84 heterogenen Forschungsinstitute und Serviceeinrichtungen der Bund-LänderInstitutionen, die in der (seit 1997) bestehenden Wissenschaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibniz (WGL) verbunden sind (früher: Einrichtungen der Arbeitsgemeinschaft »Blaue Liste«). Sie erfüllen sehr unterschiedliche Aufgaben: Die Liste reicht von Museen über Serviceeinrichtungen für Industrie und Politik bis hin zu Instituten, die auf Aufgaben sei es der Atmosphärenforschung, sei es der Sozialen Sicherungssysteme spezialisiert sind. – Weiter sind die 15 Großforschungseinrichtungen der 2001 gegründeten, aus der AG Großforschungseinrichtungen hervorgegangenen Hermann von Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren e.V. (HGF) zu nennen48. Sie sind ebenfalls sowohl im Bereich der Grundlagen- wie der anwendungsorientierten Forschung tätig, sind Ausdruck mittel- und langfristiger forschungspolitischer Zielsetzungen des Bundes und insoweit von Finanzentscheidungen von großer Tragweite abhängig. Sie entstanden nach Wiedererlangung der staatlichen Souveränität der Bundesrepublik Deutschland ab 1955 in Ausbildung wissenschaftspolitischer Kompetenzen des Bundes (mit einem eigenen Bundesministerium) dort, wo die Länder finanziell zu schwach waren und die Universitäten wegen ihrer grundlagenorientierten Forschungstradition kein Interesse zeigten (Militär-, Kernforschung, später Luftfahrt- und Raumfahrtforschung, Datenverarbeitung, Mikroelektronik) und im internationalisierten Wettbewerb zwischen nationalen Forschungssystemen eine »technologische Lücke« geschlossen werden sollte49. – Schließlich sind die Einrichtungen der 1949 gegründeten Fraunhofer-Gesellschaft

45 Vgl. Braun, Steuerung (Fn. 12), S. 210 ff. 46 Martin Lengwiler, Kontinuitäten und Umbrüche in der deutschen Wissenschaftspolitik des 20. Jahr-

hunderts, in: Simon u. a., Handbuch (Fn. 17), S. 13–25 (14 f.). 47 Übersichtlich Thomas Groß / Natalie Arnold, Regelungsstrukturen der außeruniversitären For-

schung, 2007, S. 17 ff., 25 f., 44, 97; ausf. auf dem Stand von 1990: Hohn/Schimank, Konflikte (Fn. 29), S. 135 ff., 233 ff. 48 Zur Herausbildung der Großforschung nach 1955 vgl. Margit Szöllösi-Janze / Helmuth Trischler, Einleitung: Entwicklungslinien der Großforschung in der Bundesrepublik Deutschland, in: dies. (Hrsg.), Großforschung in Deutschland, 1990, S. 13–20 (14 ff.). 49 Vgl. Lengwiler, Kontinuitäten (Fn. 46), S. 17 f., 20; s. auch Susanne Mutert, Großforschung zwischen staatlicher Politik und Anwendungsinteresse der Industrie (1969–1984), 2000, S. 10 f., 19 ff.

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zur Förderung der angewandten Forschung50, d. h. vorrangig durch ingenieurwissenschaftliche Auftragsforschung zu nennen. Die Forschungsausgaben aller dieser außeruniversitären Einrichtungen betrugen 2004 6,5 Mrd. Euro, die der Hochschulen 9 Mrd. Euro51. Schließlich wächst die Bedeutung von Institutionen internationaler Forschungszusammenarbeit52. Politische Voraussetzung der wissenschaftlichen Forschung in solchen Einrichtungen der außeruniversitären Forschung ist eine (Mindest-)Distanz zum Staat, die trotz der immer stärker zunehmenden Staatsfinanzierung im Interesse der autonomen Eigengesetzlichkeit des Forschungsprozesses in den Instituten durch ihre organisationsrechtliche Ausgestaltung gewahrt bleibt. Andererseits impliziert die Art der Finanzierung dieser – oft aus politischen Gründen, etwa im Falle der Atomforschung besonders geförderten53 – Forschungseinrichtungen auch wesentliche inhaltliche Impulse für die Ausrichtung der Forschungsarbeit54, haben die staatlichen Vertreter in den Aufsichtsgremien oft erhebliche Mitwirkungsrechte55. 3. Politische Voraussetzungen für die Finanzierung der Forschung

Parallel zu diesen organisatorischen Veränderungen lief eine Umstellung der Forschungsfinanzierung von einer rein staatlichen, durch neutrale Mittelverteilung wahrgenommenen Verwaltungsaufgabe einerseits zu einer zunehmenden ergänzenden Finanzierung durch private wissenschaftliche Fördergesellschaften, Stiftungen und Vereine nach dem Vorbild der Göttinger Vereinigung zur Förderung der angewandten Physik und Mathematik im Jahre 189856. Andererseits kam es zugleich zu einer Selbstverwaltung der staatlichen Mittel durch Peer-Review der Wissenschaftler selbst in der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft (1920) als Selbstverwaltungseinrichtung der Wissenschaft (zunächst in Antwort auf die Finanzierungsprobleme nach dem Ersten Weltkrieg)57, der späteren Deutschen Forschungsgemein50 Vgl. Hohn / Schimank, Konflikte (Fn. 29), S. 171 ff.; ausf. Helmuth Trischler / Rüdiger vom Bruch,

Forschung für den Markt. Geschichte der Fraunhofer-Gesellschaft, 1999. 51 Groß/Arnold, Regelungsstrukturen (Fn. 47), S. 18. 52 Mager, Freiheit (Fn. 5), § 166 Rn. 53 f. 53 S. näher zuletzt Wieland, Technik (Fn. 17), S. 95 ff.; grdl. Joachim Radkau, Aufstieg und Krise der

deutschen Atomwirtschaft 1945–1975, 1983. 54 Hans-Heinrich Trute, Innovationssteuerung im Wissenschaftsrecht, in: Wolfgang Hoffmann-Riem /

Jens-Peter Schneider (Hrsg.), Rechtswissenschaftliche Innovationsforschung, 1998, S. 208–245 (226 ff.). 55 Groß/Arnold, Regelungsstrukturen (Fn. 47), S. 27, 29, 54, 61, 67, 73 f., 81 f., 89 f., 91, 94, 111 f.,125,

136 f., 150 f., 162 f. 56 Trute, Forschung (Fn. 4), S. 29 f. 57 Braun, Steuerung (Fn. 12), S. 166 ff.; ausf. Ulrich Marsch, Notgemeinschaft der Deutschen Wissen-

schaft. Gründung und frühe Geschichte 1920–1925, 1994.

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schaft58. Alles das erfolgte gegen den Widerstand großer Teile der weiterhin dominierenden Universitäten und ihrer Professoren insbesondere der klassischen Fakultäten, die darin eine »Materialisierung und Amerikanisierung« der Wissenschaft sahen59 und auch in der Forschungspraxis im Übrigen maßgeblich von der Lehre als eigentlicher wissenschaftlicher Kommunikationsform geprägt waren60. 4. Zwischenergebnis

Im Ergebnis ist die Ausbildung der bis heute im Kern stabilen Grundlagen der Wissenschaftslandschaft nicht »naturwüchsig« oder nach Eigengesetzlichkeiten autonomer wissenschaftlicher Wahrheitssuche, sondern in Abhängigkeit von wissenschaftspolitischen Gestaltungsabsichten im Rahmen des modernen Sozial- und Interventionsstaats erfolgt. Wissenschaftliche Forschung im modernen Sinne war insoweit schon immer politisch voraussetzungsvoll. Solche Aktivitäten erstrecken sich aber immer auf die äußeren, d. h. organisatorischen und finanziellen Rahmenbedingungen wissenschaftlicher Forschung, denn bestimmte inhaltliche Forschungsergebnisse lassen sich nicht befehlen, Innovationsprozesse nur begrenzt planen und steuern61; die Definition von wissenschaftlicher Qualität ist bei den Fachgemeinschaften monopolisiert62. Besonders sensibel sind jeweils Bereiche der Forschung im universitären und außeruniversitären Bereich, die auf die Herausarbeitung neuen Wissens und seine Validität abzielen, während Industrie- und Ressortforschung insoweit weitgehend auf die Umsetzung von Zweckvorgaben beschränkt sind. Die verschiedenen Teilbereiche der Wissenschaftslandschaft entfalteten sich im Laufe der Entwicklung relativ unabhängig voneinander.

III. Aktuelle Wandlungen der politischen Rahmenbedingungen wissenschaftlicher Forschung Nachstehend sollen einige aktuelle Wandlungen der politischen Voraussetzungen skizziert werden, die den Prozess wissenschaftlicher Forschung beeinflussen. Hin58 Trute, Forschung (Fn. 4), S. 30 ff.; ausf. Notker Hammerstein, Die Deutsche Forschungsgemeinschaft in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, 1999; Kurt Zierold, Forschungsförderung in drei Epochen, 1968. 59 Trute, Forschung (Fn. 4), S. 33. 60 Trute, Forschung (Fn. 4), S. 35. 61 Wissenschaftsrat, Interaktion (Fn. 27), S. 18; Jochen Gläser / Stefan Lange, Wissenschaft, in: Arthur Benz / Susanne Lütz / Uwe Schimank / Georg Simonis (Hrsg.), Handbuch Governance, 2007, S. 437– 451. 62 Knie/Simon, Stabilität (Fn. 17), S. 35 f.

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tergrund bilden die unterschiedlichen Eigengesetzlichkeiten von Politik und wissenschaftlicher Forschung. Einerseits folgt wissenschaftliche Forschung spezifischen eigenen Gesetzmäßigkeiten; (wissenschafts-)politische Ingerenzen können Gefahren für diese Eigengesetzlichkeiten der Autonomie der Forschungsprozesse hervorbringen. Andererseits ist die Beobachtung, dass 80–90 Prozent aller Wissenschaftler, die jemals gelebt haben, gegenwärtig leben und wissenschaftlich aktiv sind63, Symptom eines seit dem Ende des 2. Weltkrieges überaus großen Bedeutungswachstums der Wissenschaft für die moderne Industriegesellschaft (und deren Überleben). Mit diesem Wachstum ist ein wachsender Rechtfertigungsbedarf für die Politik verbunden, die in einer Demokratie den fiskalischen Sinn der Wissenschaftsausgaben nicht nur dem Wähler plausibel machen (können) muss, sondern den optimalen Einsatz von Wissen als Ressource im globalen Wettbewerb der Volkswirtschaften zu beeinflussen sucht – mit der Folge von zunehmenden Rechtfertigungszwängen auch für das Wissenschaftssystem64. Der Gang der folgenden Darstellung orientiert sich dabei nicht primär an den vorgenannten vier »Säulen« der Organisation der Forschung in Deutschland, sondern teilweise auch an den übergreifenden Gemeinsamkeiten ihrer Entwicklung. Dabei müssen viele Probleme vernachlässigt werden: die weltweiten Entwicklungstrends in der forschungspolitischen Steuerung der Wissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg65 ebenso wie das Wachstum forschungspolitisch motivierter Anreize der Politik namentlich für die außeruniversitäre Forschung seit den 1950er Jahren. Ausgeklammert bleiben auch die allgemeinen politischen Rahmenbedingungen in Deutschland, etwa Veränderungen aufgrund fiskalischer Zwänge, die spezifischen Folgen des Bund-Länder-Verhältnisses im Rahmen föderaler Vielfalt66 – nämlich eine weltweit einmalige selbständige Position der Förder- und Forschungseinrichtungen gegenüber dem Staat67 – oder die Anstoßwirkung der deutschen Wiedervereinigung für die Systemevaluationen der deutschen Forschungsorganisation insgesamt68. Im Hintergrund bleiben auch die forschungsbezogenen Einrichtungen und Akteure, die solche Wandlungen (mit) initiiert oder bewirkt haben69: Man denke Peter Weingart, Wissenschaftssoziologie, 2003, S. 36. Knie/Simon, Stabilität (Fn. 17), S. 33 f. Dazu Braun, Steuerung (Fn. 12), S. 279 ff. S. etwa Braun, Steuerung (Fn. 12), S. 215 ff. Braun, Steuerung (Fn. 12), S. 232, 308 ff. Dazu Wilhelm Krull / Simon Sommer, Die deutsche Vereinigung und die Systemevaluation der deutschen Wissenschaftsorganisationen, in: Peter Weingart / Niels C. Taubert (Hrsg.), Das Wissensministerium, 2006, S. 200–235 (202 ff.). 69 Vgl. übersichtlich Andreas Stucke, Staatliche Akteure in der Wissenschaftspolitik, in: Simon u. a., Handbuch (Fn. 17), S. 363–376. 63 64 65 66 67 68

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in Deutschland nur an die forschungsrelevanten Ministerien70, an die föderalen wissenschaftsrelevanten Institutionen wie die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz (GWK) von Bund und Ländern oder den Wissenschaftsrat71, an die internationalen Expertenkommissionen zur Evaluation der deutschen Forschungsorganisationen, aber auch an die Kultusministerkonferenz oder die Hochschulrektorenkonferenz, an die staatlichen Gesetzgeber, die Formen und Grenzen fiskalischer Forschungsförderung oder an private Fördereinrichtungen und Think Tanks wie das Centrum für Hochschulentwicklung der Bertelsmann-Stiftung72 – jede einzelne Entscheidung der Politik kann sich immer auch auf einen konkreten Rat bedeutender sachverständiger Professoren berufen –, schließlich auch an die organisierten Widerstände gegen solche Entwicklungen und deren Protagonisten. Auch geht es nachstehend nur um die Folgen für die wissenschaftliche Forschung, nicht um die Folgen für Lehre und Ausbildung an den Universitäten. 1. Rechtliche Kollektivierung forschungsethischer Entscheidungen

Auf der ersten Schicht politischer Voraussetzungen, der individuellen geistigen (Lehr- und) Forschungsfreiheit, lässt sich ein Prozess der Kollektivierung forschungsethischer Entscheidungen feststellen. Vor allem ethisch umstrittene Fragen der Forschung am Menschen in Biowissenschaften und Medizin, besonders am Beginn und Ende menschlichen Lebens, werden wissenschaftspolitisch zunehmend nicht mehr der Freiheit des individuellen Forschers, sondern spezialisierten Kollektivorganen überlassen. Ethikkommissionen73, der parlamentarische Gesetzgeber oder auch Einrichtungen der Europäischen Kommission begrenzen durch faktische oder rechtliche Vorgaben den Forschungsprozess; dabei werden moralische Entscheidungen auf Basis 70 Vgl. zur späten Stärkung des Bundes als forschungspolitischer Akteur mit der Gründung des Atom-

ministeriums 1955: Braun, Steuerung (Fn. 12), S. 223 ff.; ausf. jetzt Weingart/Taubert, Wissensministerium (Fn. 68). 71 Vgl. Andreas Stucke, Der Wissenschaftsrat, in: Falk u. a., Handbuch (Fn. 32), S. 248–254; ausf. Olaf Bartz, Der Wissenschaftsrat. Entwicklungslinien der Wissenschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1957–2007, 2007. 72 Vgl. (krit.) Wolfgang Lieb, Vom humboldtschen Bildungsideal zur unternehmerischen Hochschule, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 92 (2009), S. 272–288 (281 ff.). 73 Vgl. etwa Margit Seckelmann, Institutionalisierte Sachverständige in Wissenschaft und Medizin?, in: Wissenschaftsrecht 41 (2008), S. 188–205; Helmuth Schulze-Fielitz, Bioethische Beratungs- und Entscheidungsgremien als Schutzmechanismen für Menschenrechte?, in: Eckart Klein / Christoph Menke (Hrsg.), Menschenrechte und Bioethik, 2004, S. 203–237; s. schon Trute, Forschung (Fn. 4), S. 166 ff.; vgl. auch speziell zu nationalen Ethikkommissionen Robert Gmeiner, Nationale Ethikkommissionen: Aufgaben, Formen, Funktionen, in: Alexander Bogner / Helge Torgersen (Hrsg.), Wozu Experten?, 2005, S. 133–148.

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religiöser Vorentscheidungen als allgemeinverbindlich verrechtlicht, Entscheidungen über das Ob einer Forschung nach Maßgabe ihres Gewichts staatlichen Instanzen zugewiesen (z. B. dem Robert-Koch-Institut). Die Freiheit der Forschung (etwa an neueren Stammzelllinien) kann so in die Abhängigkeit vom Meinungswandel evangelischer Bischöfe geraten, wie man an der Verschiebung des Stichtages für die Zulässigkeit des Imports von embryonalen Stammzellkulturen beobachten konnte. Mag schon die Begrenztheit der Anwendungsbereiche und die internationale Vielfalt solcher politischen Rahmenbedingungen der Forschungsaktivitäten den Schaden für die Forschung begrenzen, auch weil hierdurch empirisch offenbar kein Standortwettbewerb um Forscher ausgelöst wird74, so zeigt sich doch, dass die neuzeitliche Spannung zwischen geistiger Freiheit und religiös-staatlichen Restriktionen auch unter den Bedingungen des Grundgesetzes durchaus virulent geblieben ist75. 2. Umbau der Universitäten

Auch die Organisation der Universitäten befindet sich in einem Prozess des politisch initiierten Umbaues, der auf veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen reagieren will: Die Ausbildungsfunktion der Universitäten soll gestrafft (a), ihre Forschungsorganisationen auf wettbewerbliche Strukturen umgestellt werden (b). Forschung und Lehre werden in eine veränderte Balance gebracht. a) Forschungsrelevante Veränderungen der Ausbildung (»Bologna-Prozess«)

Die aktuelle Lage der Universitäten (und Fachhochschulen) spiegelt sich in einem einfachen Faktum: In den 1960er Jahren erwarben 8 % eines Geburtsjahrganges die Hochschulreife und studierten76; im Jahre 2009 sind es nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 43,3 % eines Altersjahrgangs77. (Dennoch soll der Anteil der Hochschulabsolventen von derzeit einem Fünftel auf mehr als ein Drittel eines Altersjahrgangs gesteigert werden78.) Diesem Größenwachstum, das immer noch un74 So Rüdiger Wink, Wissenschaftspolitik als Standortpolitik? Stammzellpolitik als Beispiel der Steue-

rung kontroversen Wissens durch nationale Politik, in: Renate Mayntz / Friedhelm Neidhart / Peter Weingart / Ulrich Wengenroth (Hrsg.), Wissensproduktion und Wissenstransfer, 2008, S. 125–144 (132 ff.): Maßgeblich ist weniger das Verbotsniveau als die Kalkulierbarkeit der Rahmenbedingungen für die Forschung der Zukunft. 75 Tendenziell anders Schulte, Grund (Fn. 24), S. 140. 76 Peter Lundgreen, Mythos Humboldt in der Gegenwart: Lehre – Forschung – Selbstverwaltung, in: Ash, Mythos (Fn. 21), S. 145–169 (146). 77 FAZ Nr. 275 vom 26.11.2009, S. 4. 78 Wissenschaftsrat, Empfehlungen (Fn. 31), S. 29.

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terhalb des OECD-Durchschnitts liegt79, korrespondierte kein paralleles Wachstum an Ressourcen80; es musste die Universitäten und ihre Studienverhältnisse verändern. Nachdem sich Bildungsrat, Wissenschaftsrat und der Gesetzgeber des Hochschulrahmengesetzes schon seit Ende der 1970er Jahre vergeblich bemüht haben, mindestens die Hälfte der Studierenden auf anwendungsbezogene Fachhochschulen oder Kurzstudiengänge in Gesamthochschulen umzulenken81 und die Lehr- und Ausbildungsverhältnisse i. S. einer Großen Studienreform vor allem durch konsekutive Studiengänge den gewachsenen Ausbildungsaufgaben aller Hochschulen anzupassen82, dient die von den entscheidenden politischen Institutionen einmütig und nachdrücklich geförderte Umwandlung der Studiengänge in Bachelor- und Masterstudiengänge83 drei Jahrzehnte später mit demselben Ziel dazu, aus dem vordergründigen Anlass der Bemühungen um eine Vereinheitlichung der europäischen Hochschulabschlüsse zur Schaffung eines europäischen Hochschulraums84 die deutschen Universitäten intrainstitutionell zu differenzieren: Durch eine immer stärkere Verschulung soll nach einem berufsqualifizierenden B.A. nur noch ein kleinerer Teil besonders qualifizierter Absolventen den Zugang zur Wissenschaft über den Master-Abschluss und ggf. die Promotion finden können85, im Übrigen die Zahl der Studienabbrecher gesenkt (und dadurch die Quote der Hochschulabsolventen erhöht werden). Die Folgen dieser seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland erstmals durchgreifenden Studienreform86 sind ambivalent und unabsehbar: Einerseits verstärken sich die Prüfungsbelastungen etwa im Bachelor-Studium, andererseits könnte die wissenschaftliche Forschung an den Universitäten in den Phasen des Master- und Promotionsstudiums profitieren. Wie immer auch dieses Experiment ausgehen mag: Die Überforderung der Universitäten mit Lehraufgaben im Rahmen ihrer Ausbildungsfunktion ist ein von Anfang an erörtertes politisches Problem der Universitäten mit Folgen auch für die wissenschaftliche Forschung87. 79 Datenbelege: Autorengruppe Bildungsberichterstattung, Bildung in Deutschland 2008, 2008, S.

118 ff. 80 Siehe nur Lieb, Bildungsideal (Fn. 72), S. 280; Schmoch, Hochschulforschung (Fn. 22), S. 195;

Schimank, Hochschulforschung (Fn. 21), S. 70 ff. 81 Dazu Klaus Peters, Mussten die Gesamthochschulen »scheitern«?, in: Wissenschaftsrecht 42 (2009),

S. 256–273 (257 f.); Bartz, Wissenschaftsrat (Fn. 71), S. 153 ff. 82 Peters, Gesamthochschulen (Fn. 81), S. 260 ff., 265 ff.; Lundgreen, Mythos (Fn. 76), S. 152 ff. 83 Zuletzt wieder EFI, Gutachten 2010 (Fn. 25), S. 53 ff.; Kritik gilt immer nur der Art der universitä-

ren Umsetzung. 84 Mager, Freiheit (Fn. 5), § 166 Rn. 56; ausf. jetzt Tim.-C. Bartsch, Europäische Hochschulpolitik,

2009, S. 198 ff., 304 ff. 85 Vgl. nur Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur Einführung neuer Studienstrukturen und –abschlüsse (Bakkalaureus/Bachelor – Magister/Master) in Deutschland, 2000 (Drs. 4418/00). 86 So Bartz, Wissenschaftsrat (Fn. 71), S. 217. 87 Lundgreen, Mythos (Fn. 76), S. 158 ff.

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b) Umstellung auf universitäre Wettbewerbsstrukturen

Ein zweiter politisch gewollter Trend (in OECD-Staaten) ist unter dem Einfluss eines angelsächsisch geprägten administrativen Verständnisses vom New Public Management die Umstellung der universitären Forschungsorganisation auf wettbewerbliche Strukturen bei künstlich geschaffenen Verteilungssituationen88. Ziel ist eine Leistungssteigerung auch im Bereich der wissenschaftlichen Forschung zur Erhöhung der (vor allem auch internationalen) Wettbewerbsfähigkeit89, namentlich im Vergleich mit den USA. Gesetzgeber und Hochschulverwaltungen drehen dabei an vielen »Stellschrauben«90. Man denke universitätsintern individuell an die Senkung des Professorengrundgehalts zugunsten von (schwierig zu operationalisierenden) Leistungszulagen auf Zeit91; an die Befristung von Forschungsressourcen und Stellen bei Berufungen; an Zielvereinbarungen der Hochschulverwaltungen mit einzelnen Professoren, Instituten oder Fakultäten, auch im Verteilungswettbewerb untereinander (ohne dass eine Verhaltenswirksamkeit bislang erkennbar würde92); an eine (in 13 von 16 Bundesländern eingeführte) leistungsorientierte Mittelvergabe, die die jährlichen Mittelzuweisungen teilweise an die Erfüllung von quantitativ messbaren Leistungsindikatoren (z. B. Höhe eingeworbener Drittmittel) bindet93 und so – je nach Wertung – die freiheitsschützende Grundausstattung zurückfährt94 oder die Ressourcen statt nach dem 88 Übersichtlich Uwe Schimank, Governance-Reformen nationaler Hochschulsysteme, in: Jörg Bogu-

mil / Rolf G. Heinze (Hrsg.), Neue Steuerung von Hochschulen, 2009, S. 123–137; Frank Meier, Die Universität als Akteur, 2009, S. 123 ff., 132 ff.; Stefan Lange / Uwe Schimank, Zwischen Konvergenz und Pfadabhängigkeit. New Public Management in den Hochschulsystemen fünf ausgewählter OECDLänder, in: Katharina Holzinger / Helge Jörgens / Christoph Knill (Hrsg.), Transfer, Diffusion und Konvergenz von Politiken, 2007, S. 522–548; krit. Lieb, Bildungsideal (Fn. 72), S. 272 ff. 89 Vgl. Uwe Schimank, Einführung in die Podiumsdiskussion: Die forschungspolitischen Thesen der Forschergruppe »Governance der Forschung«, in: Dorothea Jansen (Hrsg.), Neue Governance für die Forschung, 2009, S. 109–116 (110). 90 S. jetzt Max-Emanuel Geis / Christian Bumke, Universitäten im Wettbewerb, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 69 (2010), S. 364–406 bzw. S. 407–461; Christian von Coelln, Universitäten im Wettbewerb, Deutsches Verwaltungsblatt 124 (2009), S. 1090–1098; Ute Lanzendorf / Peer Pasternack, Hochschulpolitik im Ländervergleich, in: Bogumil/Heinze, Steuerung (Fn. 88), S. 13–28; Andreas Musil, Wettbewerb in der staatlichen Verwaltung, 2005, S. 325 ff. 91 Vgl. Wolfgang Löwer, Rechtspolitische und verfassungsrechtliche Kritik der Professorenbesoldungsreform, 2003, S. 3 ff., zu verfassungsrechtlichen Einwänden S. 18 ff. 92 So Michael Jaeger, Steuerung durch Anreizsysteme an Hochschulen, in: Bogumil/Heinze, Steuerung (Fn. 88), S. 45–65 (62). 93 Zuletzt Stefan Lange / Jochen Gläser, Performanzsteigerung durch Selektivität? Erwartbare Effekte von Forschungsevaluationen an deutschen Universitäten im Lichte internationaler Erfahrungen, in: der moderne staat 2 (2009), S. 411–432 (414). 94 Vgl. zur Kritik Klaus Ferdinand Gärditz, Evaluationsbasierte Forschungsfinanzierung im Wissen-

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»Gießkannenprinzip« nach fachlich-qualitativen Kriterien verteilt. Insofern wird die Universität auch organisatorisch Unternehmen nachgebildet, zunächst nur begrifflich hin zu einer professionelle(re)n Managementverwaltung95 durch Hochschulräte mit hochschulexternen Vertretern96, sodann aber auch sachlich durch Zentralisierung und Stärkung der Leitungsfunktionen, Vorgaben der Universitätsverwaltung als Akteurin bei der Ausgestaltung von Zielvereinbarungen und dauerhafte Evaluationsprozesse nach ausländischen Vorbildern97. Die interne Förderungspolitik und die Profilbildungsmaßnahmen werden deutlich wichtiger für die Wahl und Veränderung von Forschungslinien98. Da es Wettbewerb ohne Autonomie nicht geben kann, werden auch traditionelle haushaltsrechtliche und personalrechtliche Strukturen i. S. von mehr Flexibilität durch Deregulierung gelockert (z. B. durch Globalhaushalte), mitunter Universitäten zu Stiftungen verselbständigt99. Gegner dieser »Wettbewerbspolitik« ist die akademische Selbstverwaltung100, deren Konsensstruktur mit ihren hohen Entscheidungskosten, dem Missverhältnis von korporativer und individueller Autonomie, der Vorherrschaft von Partialinteressen und der mangelnden Professionalität wettbewerbsfeindlich erscheint101 und den darin angelegten strukturellen Konservatismus von Hochschulen und Professorenschaft102 unterstützt. Universitätsextern suchen die Wissenschaftsministerien durch Zielvereinbarungen mit den Universitäten Leistungsvorgaben – teils eher kooperativ, teils eher hierarchisch – zu implementieren103. Auch Exzellenzinitiativen mit ihren Vorgaben für Graduiertenschulen, Exzellenzcluster und Zukunftskonzepte suchen universischaftsrecht, in: Wissenschaftsrecht 42 (2009), S. 353–392 (369 ff., 384 f.). 95 Zu den wissenschaftsspezifischen Grenzen des Wissenschaftsmanagements vgl. Georg Krücken, Lässt sich Wissenschaft managen?, in: Wissenschaftsrecht 41 (2008), S. 345–358 (349 ff.). 96 Zum Telos von Hochschulräten: Sascha Gerber / Jörg Bogumil / Rolf G. Heinze / Stephan Grohs, Hochschulräte als neues Steuerungsinstrument, in: Bogumil/Heinze, Steuerung (Fn. 88), S. 93–122 (103 ff.); Uwe Schimank, Welche Chancen und Risiken können unterschiedliche Modelle erweiterter Universitätsautonomie für die Forschung und Lehre der Universität bringen?, in: Stefan Titscher u. a. (Hrsg.), Universitäten im Wettbewerb, 2000, S. 94–147 (113 ff., 141 ff.). 97 Vgl. am Beispiel der Forschungsevaluation Lange/Gläser, Performanzsteigerung (Fn. 93), S. 413 ff.; krit. zu den Folgen Richard Münch, Unternehmen Universität, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 45/2009, S. 10–16. 98 Dorothea Jansen, Neue Governance im deutschen Forschungssystem. Umsetzung und Wirkungen auf der Arbeitsebene der Forschung, in: dies. (Hrsg.), Governance (Fn. 89), S. 37–59 (40 ff., 55). 99 Vgl. am Beispiel Niedersachsen Tanja Klenk, Modernisierung der funktionalen Selbstverwaltung, 2008, S. 76 ff. 100 Gerber u. a., Hochschulräte (Fn. 96), S. 99 ff. 101 Dazu zsfssd. Klenk, Modernisierung (Fn. 99), S. 52 ff.; Schimank, Chancen (Fn. 96), S. 134 ff. 102 Dazu Peters, Gesamthochschulen (Fn. 81), S. 264 f., mit Verweis auf Alexander W. Astin, Academic Gamesmanship. Student-Oriented Change in Higher Education, New York / Washington / London 1976, S. 75 ff., 122 ff.; ausf. Schimank, Hochschulforschung (Fn. 21), S. 222 ff. 103 Karsten König, Hierarchie und Kooperation, in: Bogumil/Heinze, Steuerung (Fn. 88), S. 29–44.

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tätsinterne Reflexions- und Reorganisationsprozesse anzuregen und im Wettbewerb mit anderen Universitäten die Universitätslandschaft zu hierarchisieren. Ziel ist es, auf Dauer ressourcen- und leistungsstärkere Universitäten mit Spitzenforschung von vielen anderen abzuschichten104; Universitäten, die noch vor wenigen Jahrzehnten aus Gründen regionaler Standortpolitik gegründet wurden, sind dabei strukturell von vornherein im Nachteil gegenüber Traditionsuniversitäten mit einem regionalen Umfeld mit vielen außeruniversitären Forschungseinrichtungen105. Vor allem setzt Exzellenz auch eine bestandsfähige Forschung auf mittlerem Leistungsniveau voraus, um leistungsfähig zu bleiben106. Auf der Suche nach Maßstäben des wettbewerblichen Vergleichs im Zuge des deutlich spürbaren Wachstums von wissenschaftsexternen Evaluationsprozessen107 gewinnen zunehmend quantifizierbare und sichtbare Größen (namentlich von finanziellen Drittmitteln, aber etwa auch bibliometrische Indikatoren wie die Zahl der Veröffentlichungen, Impact-Faktor der referierten Zeitschriften, Zahl betreuter Promotionen und Habilitationen, Zahl der angemeldeten Patente, wissenschaftliche Preise usw.) immer größeres Gewicht108, so sehr qualitative Kriterien wie Reputation und Peer-Review überlegen sind und unverzichtbar bleiben109, sich aber direkter politischer Steuerung entziehen110. Dabei müssten die erheblichen Unterschiede der verschiedenen Disziplinen hinsichtlich der unterschiedlichen Produktionslogiken und Produktionsprofile stärker durch fachspezifische Indikatorensysteme berücksichtigt werden111. Sehr mittelbar könnten auch unterschiedliche Studiengebühren Forschungsrelevanz gewinnen. 104 Mager, Freiheit (Fn. 5), § 166 Rn. 47; Lange/Gläser, Performanzsteigerung (Fn. 93), S. 425; Bartz, Wissenschaftsrat (Fn. 71), S. 244 ff.; krit. Richard Münch / Max Pechmann, Der Kampf um Sichtbarkeit, in: Bogumil/Heinze, Steuerung (Fn. 88), S. 67–92 (88 f.); Michael Hartmann, Die Exzellenzinitiative – ein Paradigmenwechsel in der deutschen Hochschulpolitik, in: Leviathan 34 (2006), S. 447–465 (451 ff.). 105 Vgl. Münch, Unternehmen (Fn. 97), S. 13. 106 Vgl. Schimank, Einführung (Fn. 89), S. 114. 107 Übersichtlich Stefan Hornbostel, (Forschungs-)Evaluation, in: Simon u. a., Handbuch (Fn. 17), S. 293–309 (296 ff.); ausf. Hildegard Matthies / Dagmar Simon (Hrsg.), Wissenschaft unter Beobachtung. Effekte und Defekte von Evaluationen, 2008. 108 Hans-Ulrich Küpper, Evaluation von Forschung und Lehre, in: Max-Emanuel Geis (Hrsg.), Hochschulrecht im Freistaat Bayern, 2009, Rn. II 256–298 (269); krit. Gärditz, Forschungsfinanzierung (Fn. 94), S. 381 ff.; Münch/Pechmann, Kampf (Fn. 104), S. 69 ff.; Martina Röbbecke, Evaluation als neue Form der »Disziplinierung« – ein nicht intendierter Effekt?, in: Hildegard Matthies / Dagmar Simon (Hrsg.), Wissenschaft unter Beobachtung, 2007, S. 161–177 (166). 109 Siehe nur Gärditz, Forschungsfinanzierung (Fn. 94), S. 374 ff. 110 Dazu Braun, Steuerung (Fn. 12), S. 66 ff. 111 Jansen, Governance (Fn. 98), S. 47; Schimank, Einführung (Fn. 89), S. 112; ausf. Dorothea Jansen / Andreas Wald / Karola Franke / Ulrich Schmoch / Torben Schubert, Drittmittel als Performanzindikator der

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Solche Veränderungen lassen sich nicht mit einer schlichten Gegenüberstellung der unterschiedlichen Handlungsrationalitäten von wissenschaftlicher Wahrheit und ökonomischer Rentabilität verurteilen112, denn auch das Wissenschaftssystem arbeitet unvermeidlich unter Bedingungen der Knappheit von Ressourcen. Dennoch ist weithin ungewiss, ob solche betriebswirtschaftlich-ökonomische und quantifizierende Betrachtungsweisen selbst im Bereich der naturwissenschaftlichen Forschung stets den spezifischen Funktionsvoraussetzungen universitärer Forschung entsprechen und nicht gegenteilig demotivierende Wirkungen haben113. Empirisch lassen sich vor dem Hintergrund ausländischer Erfahrungen und ungeachtet einer in Deutschland stärker pluralistischen, reichen und neutralen »Drittmittellandschaft« in der Forschungsevaluation als problematische Effekte absehen114: »goal displacement«, also eine Orientierung an Verbesserung von Leistungsindikatoren statt an der Qualitätsverbesserung der zu messenden Leistung; ein bias zugunsten DFG-geförderter Grundlagenforschung; die Vernachlässigung aller anderen universitären Aufgaben mangels komplementärer Anreizstrukturen. Vor allem ist schon die Prämisse empirisch problematisch, insofern die Forschungsqualität tatsächlich breiter verteilt ist als die wertende Benotung nahe legt, und sind die Folgen bedenklich, insofern das Forschungsspektrum thematisch durch Abwendung von anwendungsfernen, riskanten und nonkonformistischen Forschungen verengt wird115 oder spezifische Teildisziplinen strukturell bevorzugt werden116.

wissenschaftlichen Forschung, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 59 (2007), S. 125–149 (134 ff.). 112 So etwa Peter-Alexis Albrecht, Anmerkungen zum Verfall der Wissenschaft an deutschen Universitäten, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 92 (2009), S. 266–271 (267 f.). 113 Gärditz, Forschungsfinanzierung (Fn. 94), S. 376 ff.; s. auch zur Kritik Richard Münch, Globale Eliten, lokale Autoritäten, 2009, S. 109 ff., 124 ff., 139 ff. u. ö. 114 S. näher dazu Lange/Gläser, Performanzsteigerung (Fn. 93), S. 423 ff.; Schimank, Chancen (Fn. 96), S. 139. 115 Gärditz, Forschungsfinanzierung (Fn. 94), S. 379; Jochen Gläser / Stefan Lange / Grit Laudel, Auswirkungen der evaluationsbasierten Forschungsfinanzierung an Universitäten auf die Inhalte der Forschung. Australien und Deutschland im Vergleich, in: Wissenschaftsrecht 42 (2009), S. 329–352 (344, 347 ff.); Lange/Gläser, Performanzsteigerung (Fn. 93), S. 427 f. 116 Vgl. beispielhaft für den Typ der (in begutachteten Zeitschriften entfalteten) »professionellen« zulasten der »kritischen«, »öffentlichen« oder »policy-orientierten« Soziologie Richard Münch / Christian Baier, Die Konstruktion der soziologischen Realität durch Forschungsranking, in: Berliner Journal für Soziologie 19 (2009), S. 295–319 (297 ff.).

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3. Wachsende Forschungsabhängigkeit von Drittinteressen

Eng mit der Wettbewerbsorientierung verknüpft ist ein Rückzug der Universitäten als Forschungsfinanziers – der Staat finanziert zwar die Kosten für die Ausbildung voll, beschränkt sich aber im Forschungsbereich zunehmend auf eine Grundfinanzierung der Forschung. In der Folge wird das Einwerben von Drittmitteln zu einem flächendeckenden zentralen Modus universitärer Forschungsfinanzierung, wo eine solche Selbstbeschränkung nicht disziplinspezifisch wie z. B. in einigen Geisteswissenschaften oder in der reinen Mathematik ohne Folgeprobleme möglich ist117. Die Universitätsforschung und ihr von den zentralen Universitätsgremien mitgestalteter Forschungsprozess werden so von den Werturteilen und Strategien Dritter abhängig und zunehmend durch Orientierung an deren Vorgaben außengesteuert118. Das gilt nicht nur für die enge Anbindung der (Universitäts-)Forschung an gesellschaftliche und wirtschaftliche Nutzenerwartungen (a), wie sie universitätsintern etwa durch eine das Drittmittelaufkommen honorierende (formelgebundene) Mittelvergabe oder auch durch eine Neuorganisation des Wissens- und Technologietransfers119 zum Ausdruck kommt, sondern auch für die traditionellen Formen der Forschungsfinanzierung durch die Selbstverwaltung staatlicher Mittel durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (b). a) Stärkere Anbindung der Forschung an gesellschaftliche und wirtschaftliche Nutzenerwartungen

Als eine wesentliche politische Voraussetzung (nicht nur, aber vor allem auch) drittmittelfinanzierter wissenschaftlicher Forschung erweist sich zunehmend, dass Entscheidungen über Fragestellungen und Forschungsrichtungen im Kontext von Erwägungen der Folgen sozialen und wirtschaftlichen Nutzens getroffen werden120. In der 117 Jochen Gläser / Stefan Lange / Grit Laudel / Uwe Schimank, Evaluationsbasierte Forschungsfinanzie-

rung und ihre Folgen, in: Mayntz u. a., Wissensproduktion (Fn. 74), S. 145–170 (166 f.). 118 Vgl. ausf. Jansen, Governance (Fn. 98), S. 37 ff.; Hans-Heinrich Trute, Verwaltungskompetenzen

nach der Föderalismusreform – Zwischen Entflechtung und Verflechtung, in: Friedhelm Hufen (Hrsg.), Verfassungen. Zwischen Recht und Politik. Festschrift für Hans-Peter Schneider, 2008, S. 302–322 (321). 119 Vgl. Albert Berger, Wissens- und Technologietransfer, in: Geis, Hochschulrecht (Fn. 108), Rn. II 444 ff.; Wissenschaftsrat, Interaktion (Fn. 27), S. 25, 55 ff., 74 ff.; Schmoch, Hochschulforschung (Fn. 22), S. 339 ff.; allg. zum Wachstum von Patentanmeldungen aus dem Hochschulbereich ebd. S. 227 ff., 243 f. 120 Vgl. Ute Mager, Die Universität im Zeichen von Ökonomisierung und Internationalisierung, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 65 (2006), S. 274–315 (277); Helmuth Schulze-Fielitz, Responses of the Legal Order to the Loss of Trust in Science, in: Helga Nowotny / Dominique Pestre / Eberhard Schmidt-Aßmann / Helmuth Schulze-Fielitz / Hans-Heinrich Trute, The Public Nature of Science under Assault, 2005, S. 63–86 (66).

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Wissenschaftssoziologie wird darin z. T. ein fundamentaler Wandel zu einem neuartigen Modus von Wissenschaft gesehen. Mag diese sich traditionell an disziplinären Fragestellungen vor allem an Universitäten in klarer Trennung von den Erwartungen der gesellschaftlichen Umwelt nach den Maßstäben der akademischen Fachgemeinschaften vollziehen (»mode 1«), so sei wissenschaftliche Forschung heute zunehmend am Kontext ihrer Anwendungsmöglichkeiten, d. h. vor allem transdisziplinär an der Lösung von bestimmten gesellschaftlichen Problemen orientiert, die den Ausgangs- und Bezugspunkt von Forschung bilden (»mode 2«)121. Die Anwendungsrelevanz wird als Forschungsmotiv wichtiger122, ohne dass die herkömmliche Form der Forschung abgelöst würde. Das gilt, oft verbunden mit der »Marktgängigkeit als Wissenschaftsziel«123, nicht mehr nur in den traditionellen ergebnisorientierten angewandten Wissenschaften (z. B. Ingenieurwissenschaften124 oder Medizin), sondern auch bei der Grundlagenforschung im herkömmlichen Sinne, wie ungewiss die damit verbundenen Hoffnungen (z. B. bei der Stammzellforschung) oder die wirtschaftliche Verwertbarkeit (z. B. in der Nanoforschung) auch – noch – sein mögen125. Diese Kontextualisierungstendenz in Abkehr von einer (Humboldt zugeschriebenen) zweckfreier wissenschaftlicher Forschung verpflichteten Universitätsidee bindet Forschung i. S. einer »Vergesellschaftung der Wissenschaft«126 an außeruniversitäre Interessen, und sei es nur die des Steuerzahlers, und lädt die Politik zur aktiven Gestaltung potenzieller Forschungsinhalte ein, um Wissenschaft, Wirtschaft und Politik stärker zu verschränken. 121 Übersichtlich Braun-Thürmann, Wandel (Fn. 27), S. 78 ff.; Georg Krücken, Wissenschaft im Wan-

del? Gegenwart und Zukunft an deutschen Hochschulen, in: Erhard Stölting / Uwe Schimank (Hrsg.), Die Krise der Universitäten, 2001, S. 326–345 (329 ff.); grdl. Helga Nowotny / Peter Scott / Michael Gibbons, Wissenschaft neu denken, 2004, S. 69 ff.; zsfssd. Helga Nowotny, Experten, Expertisen und imaginierte Laien, in: Bogner/Torgersen (Hrsg.), Experten (Fn. 73), S. 33 (34 ff.); zuerst Michael Gibbons / Camille Limoges / Helga Nowotny / Simon Schwartzmann / Peter Scott / Martin Trow, The New Production of Knowledge, Beverly Hills / London 1994; krit. Münch, Unternehmen (Fn. 97), S. 16; Falk Schützenmeister, Zwischen Problemorientierung und Disziplin, 2008, S. 8 ff., 16 ff., 32 ff. u. ö; s. auch Gerd Bender (Hrsg.), Neue Formen der Wissenserzeugung, 2001. 122 Jansen, Governance (Fn. 98), S. 46, 55, am Beispiel von Astrophysik, Nanotechnologie und Mikroökonomie; am Beispiel der Entdeckung des Hochtemperatur-Superleiters Nowotny, Experten (Fn. 121), S. 36, unter Verweis auf Helga Nowotny / Ute Felt, After the Breakthrough: the Emergence of High Temperature Superconductivity as a Research Field, 1997; am Beispiel der Molekularbiologie/Biotechnologie Wieland, Technik (Fn. 17), S. 213 ff., 225 ff. 123 So Martin Nettesheim, Grund und Grenzen der Wissenschaftsfreiheit, in: Deutsches Verwaltungsblatt 120 (2005), S. 1072–1082 (1073). 124 Vgl. zuletzt Henning Tolle, Über die Ingenieurwissenschaften an der Universität, FAZ Nr. 40 vom 17.2. 2010, S. N 5. 125 Vgl. Helmuth Schulze-Fielitz, Forschung, in: Geis, Hochschulrecht (Fn. 108), Rn. II 197. 126 So Hans-Heinrich Trute, Wissenschaft und Technik, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch (Fn. 5), Band IV, 3. Aufl. 2006, § 88 Rn. 9.

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In diesem Sinne sucht die Forschungspolitik der Bundesregierung neuestens durch eine »Hightech-Strategie« staatliche Fördermittel nicht mehr nur »einseitig forschungsgetrieben« zu vergeben127. Sie kann sich dabei in einer forschungspolitischen Tradition des Bundes sehen, die schon immer (spätestens seit den 1970er Jahren) Wissenschaftspolitik als flankierenden Bestandteil einer volkswirtschaftlichen Strukturpolitik angesehen hat128, namentlich auch in der Großforschung129. Auch auf europäischer Ebene sucht das Siebente Rahmenprogramm der EU-Kommission (auf Basis von Art. 163 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 EGV) alle forschungsverwandten EUInitiativen zu bündeln, die eine zentrale Rolle im Streben nach Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplätzen spielen130 – auch wenn auf dieser Basis dann Exzellenz das maßgebliche Auswahlkriterium des Europäischen Forschungsrats sein mag131 und ein Achtel der Gesamtsumme allein für rein erkenntnisgetriebene Pionierforschung nur nach Exzellenzkriterien reserviert sein soll132; jährlich werden so ca. 8 Mrd. Euro europaweit als Fördermittel vergeben. Im Ergebnis wird durch eine zunehmende Drittmittelabhängigkeit die wissenschaftliche Forschung (auch) an den Universitäten über die »goldenen Zügel« der Finanzierung an die Interessen der Industriegesellschaft zurückgebunden133, das Nebeneinander von Industrieforschung und Hochschulforschung (noch) stärker verknüpft134, kurz- und mittelfristige Forschungsziele zulasten von langfristigen Forschungsprojekten favorisiert135, eher interdisziplinäre Problemstellungen gegenüber disziplininternen akzentuiert, auch die universitäre Forschung insgesamt kommerzialisiert – zulasten (vermutlich) weniger 127 Beschluss der Bundesregierung vom 29.8.2006, zit. nach FAZ vom 30.8.2006, S. 2; ausf. BT-

Drs. 16/2577 vom 11.9.2006 (Unterrichtung durch die Bundesregierung: Die Hightech-Strategie für Deutschland); s. auch Wissenschaftsrat, Interaktion (Fn. 27), S. 62 ff. 128 Lengwiler, Kontinuitäten (Fn. 46), S. 22 f.; s. auch Schmoch, Hochschulforschung (Fn. 22), S. 189 ff. 129 Ausf. Mutert, Großforschung (Fn. 49), S. 22 ff., 40 ff., 69 ff. 130 Vgl. auch den der Generaldirektion für Forschung erstatteten Bericht einer Expertengruppe: Ute Felt u. a., Taking European Knowledge Society Seriously, Brüssel 2007. 131 Vgl. Thomas Groß, Der Europäische Forschungsrat – ein neuer Akteur im europäischen Forschungsraum, in: Europarecht 45 (2010), S. 299–308 (300 f.); Mager, Freiheit (Fn. 5), § 166 Rn. 58; Armin von Bogdandy / Dietrich Westphal, Der rechtliche Rahmen eines europäischen Wissenschaftsrats, in: Wissenschaftsrecht 37 (2004), S. 224–255; zur parallelen Dominanz ökonomischer Begründungen einer europäischen Bildungspolitik Bartsch, Hochschulpolitik (Fn. 84), S. 246 ff. 132 Vgl. Bundesbericht 2008 (Fn. 24), S. 56, 437 ff. 133 Vgl. auch in positiver Akzentsetzung Wissenschaftsrat, Interaktion (Fn. 27), S. 11 ff., 23 ff. 134 Zur jüngeren Entwicklung Schmoch, Hochschulforschung (Fn. 22), S. 193 ff., 201 ff., zsfssd. S. 365 ff., 378 ff.; zu den Interaktionsformen ebd. S. 262 ff., zsfssd. S. 369 f.; jüngste Verbesserungsempfehlungen (insgesamt) zum Verhältnis von öffentlicher Forschung und industrieller Innovation EFI, Gutachten 2010 (Fn. 25), S. 46 ff. 135 Zur Kurzfristorientierung der Industrieforschung als Nachteil der Zusammenarbeit Schmoch, Hochschulforschung (Fn. 22), S. 274 ff.

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lukrativer Wissenschaften, vielleicht auch der individuellen Forschungsfreiheit136. Organisatorischer Ausdruck sind über die herkömmliche Auftragsforschung hinaus die zunehmenden institutionalisierten Erscheinungsformen der Interaktion von Hochschulen und Wirtschaft durch kooperative Forschung, An-Institute, Stiftungsprofessuren, Neugründungen gemeinsamer Forschungseinrichtungen und Bildung von Clustern, Ausgründung von Spin-off-Unternehmen u. a. m.137 Eine solche Praxis sucht durch »neue wissenschaftliche Produktionsformen« verstärkt eine »Finalisierung« von wissenschaftlicher Forschung zu implementieren138 und wendet sich gegen die (wie in den USA nach 1945 auch hierzulande noch bis in die 1960er Jahre ganz dominierende) Vorstellung, eine ungesteuerte Grundlagenforschung sei am besten in der Lage, Wissen zur Lösung gesellschaftlicher Probleme hervorzubringen139. Dass wissenschaftsgeschichtlich die wahre soziale oder wirtschaftliche Bedeutung zahlreicher Entdeckungen und Erfindungen erst nachträglich erkennbar wurde, bleibt bei diesen neuen Forschungsstrategien unberücksichtigt (oder wird als nur historisch richtig, unter heutigen Rahmenbedingungen aber als überholt angesehen) ebenso wie die empirische Erkenntnis, dass historisch die wirtschaftlichen Entwicklungen nach sprunghaften Steigerungen der Wissenschaftsausgaben in der Vergangenheit (in den 1870/1880er140, 1920er und 1960/1970er Jahren) von wirtschaftlicher Stagnation gekennzeichnet waren und wissenschaftliche Grundlagenforschung sich jedenfalls nicht umstandslos in wirtschaftsrelevante Innovationen umsetzen lässt141. Finalisierungsansätze fragen nach der sozialen Relevanz von Wissenschaft und führen zwar zu Mustern der wissenschaftlichen Entwicklung, die von der traditionell autonomen wie auch der angewandten Forschung abweichen142, doch heißt das nicht, dass sich wissenschaftliche Forschung wirklich genau finalisieren lässt: Das staatliche Steuerungspotential hängt von einer komplexen Figuration von staatlichen und nichtstaatlichen Akteurskonstellationen und Organisa136 So Gärditz, Forschungsfinanzierung (Fn. 94), S. 366 ff. 137 Wissenschaftsrat, Interaktion (Fn. 27), S. 92 ff.; s. auch EFI, Gutachten 2010 (Fn. 25), S. 42. 138 Vgl. Andreas Knie / Dagmar Simon, Verlorenes Vertrauen? Auf der Suche nach neuen Governance-

Formen in einer veränderten Wissenschaftslandschaft, in: Sebastian Otzen u. a. (Hrsg.), Governance als Prozess, 2009, S. 527–545 (534 ff.); zsfssd. zur Finalisierungsdebatte der 1970er Jahre: Schmoch, Hochschulforschung (Fn. 22), S. 53 ff.; grdl. Gernot Böhme / Wolfgang van den Daele, Die Finalisierung der Wissenschaft, Zeitschrift für Soziologie 2 (1973), S. 128–144. 139 Zu diesem »Science-Push-Modell« Braun, Steuerung (Fn. 12), S. 225 f., 259 f., 270, 277 f., 281, 374, 377 u. ö. 140 Vgl. Pfetsch, Entwicklung (Fn. 13), S. 166 ff., 173 ff. 141 Wieland, Technik (Fn. 17), S. 56 m. w. N.; s. auch Wissenschaftsrat, Interaktion (Fn. 27), S. 87 ff. 142 Wieland, Technik (Fn. 17), S. 15, unter Hinweis auf Wolfgang van den Daele / Wolfgang Krohn / Peter Weingart, Die politische Steuerung der wissenschaftlichen Entwicklung, in: dies. (Hrsg.), Geplante Forschung, 1979, S. 11–63 (59).

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tionsstrukturen ab143. Jedenfalls besteht die Gefahr, dass durch solche Steuerungstendenzen die Diversität von bearbeiteten Themengebieten und Arbeitsformen an der Universität abnimmt144. b) (Mit-)Steuerung der Universitätsforschung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft

Auch die Selbstverwaltungsgremien der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) entfalten Steuerungswirkung für die wissenschaftliche Forschung an den Universitäten. Das geschieht zwar – anders als etwa in Australien145 oder anderen Staaten – nicht unmittelbar unter dem Gesichtspunkt eines erkennbaren »nationalen Nutzens« i. S. einer Kontextualisierung sozialer und wirtschaftlicher Interessen. Die im internationalen Vergleich starke wissenschaftliche Selbststeuerung der staatlichen Forschungsförderung in Deutschland erweist sich als Hindernis für eine unmittelbare wissenschaftspolitische Instrumentalisierung146. Aber die verschiedenen (vor allem projektorientierten147) Förderprogramme entfalten fakultätsübergreifende Rück- und Anreizwirkungen auf die Selbstorganisation der Universitäten quer zu Disziplinen vor dem Hintergrund fortschreitender Spezialisierung, namentlich unter den Gesichtspunkten der Interdisziplinarität etwa von Sonderforschungsbereichen, Graduiertenkollegs oder Exzellenzclustern und interregionalen Forschungsverbünden, aber ebenso der Beurteilungskriterien bei den Exzellenzinitiativen148. Das geschieht auch im Blick auf eine Zusammenarbeit mit der Wirtschaft149 und folgt den Empfehlungen der internationalen Kommission zur Evaluierung von DFG und Max-Planck-Gesellschaft von 1999150. Es geht dabei um eine stärkere Vernetzung der verschiedenen Zweige des Wissenschaftssystems untereinander und je mit der Wirtschaft. In jedem Falle formuliert die Forschungspolitik der DFG politische Voraussetzungen wissenschaftlicher Forschung mit, die Steuerungswirkungen für das So allg. Edgar Grande / Jürgen Häusler, Industrieforschung und Forschungspolitik, 1994, S. 49. Gläser u. a., Forschungsfinanzierung (Fn. 117), S. 165 f. Gläser u. a., Forschungsfinanzierung (Fn. 115), S. 158 ff. Krücken, Wissenschaft (Fn. 121), S. 335 ff. Ausf. jetzt (besonders auch am Beispiel der Schweiz) Cristina Besio, Forschungsprojekte: Zum Organisationswandel in der Wissenschaft, 2009, S. 15 ff., 253 ff., pass. 148 Das alles kommt in der Schwerpunktverlagerung von der Einzelförderung zu koordinierten Programmen zum Ausdruck, vgl. übersichtlich Karola Franke / Andreas Wald / Katinka Bartl, Die Wirkung von Reformen im deutschen Forschungssystem, 2006, S. 18 ff.; Krücken, Wissenschaft (Fn. 121), S. 336 f. 149 Wissenschaftsrat, Interaktion (Fn. 27), S. 65 f., 88. 150 Volkswagen-Stiftung (Hrsg.), Forschungsförderung in Deutschland. Bericht der internationalen Kommission zur Systemevaluation der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Max-Planck-Gesellschaft, 1999. 143 144 145 146 147

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individuelle Verhalten der Forscher an den Universitäten entfalten sollen, etwa zur Förderung der Kooperation mit außeruniversitären Forschungseinrichtungen, auch wenn sie auf der Ebene des operativen Forschungsalltags erst selten zu qualitativen Veränderungen zu führen scheinen. Diese Forschungssteuerung folgt wissenschaftlichen Qualitätskriterien i. S. formaler Exzellenz, ist aber nicht an bestimmten inhaltlichen Zielen ausgerichtet. Fraglich ist, ob Steuerungsintentionen sich nicht auch auf die Forschungsinhalte erstrecken könnten. So könnten z. B. politische Aufgaben zunehmen, die der Forschungspolitik der DFG eine kompensatorische Funktion zuweisen, indem sie als allgemeine staatliche Wissenschaftsförderung solche Bereiche stärkt, an denen gerade kein besonderes gesellschaftliches Interesse besteht151. Man denke beispielsweise an die Erforschung von Medikamenten für sehr seltene Krankheiten, deren Entwicklung mangels Rentabilität von der Industrieforschung nicht vorangetrieben wird. Auch die Wirkungsforschung im Blick auf zweifelhafte Medikamente erfolgt in der Industrieforschung nicht unbedingt wahrheitsgetrieben, sondern unterbleibt. Eine solche an inhaltlichen Ergebnissen orientierte Förderpolitik entspricht freilich nicht der Tradition der DFG. 4. Rückwirkungen auf die außeruniversitäre Forschung a) Verwissenschaftlichung der Ressortforschung?

Auch die Ressortforschung zur Erfüllung von Aufgaben der Exekutive bleibt von den neueren Anforderungen an die politischen Voraussetzungen wissenschaftlicher Forschung nicht unberührt. Nach Maßgabe von Evaluationskriterien des Wissenschaftsrats152 (auf Initiative von Bundestag und Bundesregierung) sollen wissenschaftsinterne Qualitätskriterien bei der Vergabe von Forschungsaufträgen und bei der Organisation von Forschungseinrichtungen des Bundes und der Länder stärkere Berücksichtigung finden: Kern der Begutachtungen durch den Wissenschaftsrat ist eine Bewertung der wissenschaftlichen Qualität insbesondere durch »Überprüfung der Forschungsbasierung der Aufgabenerfüllung« der verschiedenen Bundeseinrichtungen im Einklang mit deren Selbstverständnis, den aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik zu nutzen153. Es geht um die Notwendigkeit eigener wissenschaftlicher Forschung und Entwicklung für die Aufgabenerledigung und deren 151 Vgl. allg. Gärditz, Forschungsfinanzierung (Fn. 94), S. 383. 152 Vgl. Wissenschaftsrat, Kriterien (Fn. 37); Eva Barlösius, »Forschen mit Gespür für politische Umset-

zung« – Position, interne Strukturierung und Nomos der Ressortforschung, der moderne staat 2 (2009), S. 347–366 (359 ff.); dies., Wissenschaft (Fn. 33), S. 21 ff. 153 Wissenschaftsrat, Kriterien (Fn. 37), S. 5.

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hinreichende methodische und theoretische Fundierung154. Entscheidend soll sein, dass im Grundsatz dieselben Bewertungskriterien anzulegen sind wie in den anderen Sektoren des Wissenschaftssystems auch155, und dass die Politikberatung auf originäre Forschungsarbeiten in Orientierung an Erkenntniszielen der scientific community gestützt werden kann, um dem state of the art zu entsprechen und einen ständigen Austausch von Wissenschaftlern mit anderen Institutionen des Wissenschaftssystems zu ermöglichen156. Hintergrund ist der Umstand, dass die Komplexität der wissenschaftlichen Politikberatung nicht mehr in einzelnen Einrichtungen monopolisiert sein kann157. Demgemäß sucht die 2005 gegründete »Arbeitsgemeinschaft der Ressortforschungseinrichtungen«, in der 39 (von jetzt 46) Ressortforschungseinrichtungen zusammenwirken158, die üblichen Qualitätskriterien der akademischen Forschung für die Ressortforschung fruchtbar zu machen159. Auf der anderen Seite weichen die Kriterien wissenschaftlicher Validität bei Beratungswissen nach dem Selbstverständnis von Ministerien und vieler Ressortforschungseinrichtungen von den etablierten akademischen Qualitätskriterien durch die Orientierung an kontextspezifischen sozialen, politischen oder wirtschaftlichen Kriterien ab160 mit der Folge, dass zielgerecht z. B. »sozial robustes« Wissen ausreicht161. Ressortforschung und wissenschaftliche Politikberatung unterliegen insoweit spezifischen Besonderheiten, die sich primär in organisations- und verfahrensrechtlichen Leitlinien für eine gute Praxis wissenschaftlicher Politikberatung nach Maßgabe der Prinzipien der Distanz, Pluralität, Transparenz und Öffentlichkeit niederschlagen müssen162, wie sie in neueren deutschen Gesetzen auch zum Ausdruck kommen163. Die Ausgestaltung der Ressortforschungseinrichtungen erweist sich dabei als überaus

Wissenschaftsrat, Kriterien (Fn. 37), S. 7. Wissenschaftsrat, Kriterien (Fn. 37), S. 9 ff. Wissenschaftsrat, Empfehlungen (Fn. 31), S. 53, 56 ff. So Wissenschaftsrat, Empfehlungen (Fn. 31), S. 54. – Zu weiteren Problemen etwa der (oft fehlenden) Präzision und Konkretionsgrade handlungsanleitender Forschungsempfehlungen, der Vertraulichkeit der Aufträge, der Ziele der Forschung, der begrifflichen Genauigkeit und der Vorläufigkeit des Wissens vgl. Nieberg, Wissenskommunikation (Fn. 31), S. 93 ff. 158 Vgl. AG Ressortforschung, http://www.ressortforschung.de; übersichtlich zu den Ressortforschungseinrichtungen heute: Bundesbericht 2008 (Fn. 24), S. 146 ff. 159 Barlösius, Forschen (Fn. 152), S. 354, s. auch Groß, Ressortforschung (Fn. 33), S. 150 f. 160 Barlösius, Forschen (Fn. 152), S. 355 ff., 361 ff.; dies., Wissenschaft (Fn. 33), S. 18 ff. 161 Weingart/Lentsch, Wissen (Fn. 32), S. 22 f., unter Verweis auf Helga Nowotny, Democratising Expertise and Socially Robust Knowledge, in: Science and Public Policy 30 (2003), S. 151–156; ähnlich wird von usable knowledge (Peter M. Haas) oder serviceable truth (Sheila Jasanoff ) gesprochen, vgl. ebd. m. w. N. 162 Dazu jetzt ausf. Weingart/Lentsch, Wissen (Fn. 32), S. 207 ff., 233 ff., 262 ff., 273 ff., 284 ff., pass.; s. auch Kai Buchholz, Professionalisierung der wissenschaftlichen Politikberatung?, 2008, S. 9 m. w. N. 163 Weingart/Lentsch, Wissen (Fn. 32), S. 276 ff. (bearb. von Eberhard Schmidt-Aßmann). 154 155 156 157

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heterogen164; wissenschaftlich ist ungeklärt, ob es sich um einen eigenen Typ von Forschung handelt oder um Einrichtungen zwischen Staat und Wissenschaft, die zugleich (u. U. konfligierenden) wissenschaftlichen und politisch-administrativen Ansprüchen gerecht werden müssen165. b) Folgen für Einrichtungen in der außeruniversitären Forschung

Auch die Einrichtungen der außeruniversitären Forschung haben sich nach ihrer Evaluierung in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre166 organisatorisch auf eine stärkere Verknüpfung mit der Wirtschaft und ihren Bedürfnissen umgestellt, zum Beispiel durch Unternehmensgründungen von Wissenschaftlern der Max-PlanckGesellschaft, durch Betreuung von Unternehmensausgründungen in der FraunhoferGesellschaft oder Vermarktungsagenturen in der Helmholtz-Gemeinschaft167. Auch Verwissenschaftlichungsprozesse lassen sich feststellen. So wurde der Leibniz-Wissenschaftsgemeinschaft in den letzten Jahren die Erstellung von Programmbudgets und Kosten-Leistungs-Rechnungen auferlegt, die mit einer regelmäßigen externen Evaluierung durch z. T. international besetzte Gutachterkommissionen verbunden wird168. Auch hier wird ein Teil der öffentlichen Mittel in wettbewerblichen Verfahren an die Institute und Serviceeinrichtungen vergeben169; insgesamt lässt sich auch in der Helmholtz-Gemeinschaft und Leibniz-Wissenschaftsgemeinschaft eine neue leistungsorientierte Form der Förderung feststellen170, ohne dass die praktischen Auswirkungen der Veränderung der alten Form der institutionellen Förderung signifikant wären171. 5. Folgerungen

Die Institutionen wissenschaftlicher Forschung unterliegen politisch gestalteten Rahmenbedingungen, die sich für alle Forschungsinstitutionen in einem Wandel befinden. Für diesen Wandel sind wesentlich kennzeichnend: (1) die Verrechtlichung 164 Barlösius, Forschen (Fn. 152), S. 350 ff., 363; s. auch Döhler, Steuerung (Fn. 33), S. 185. 165 Vgl. zuletzt Barlösius, Forschen (Fn. 152), S. 348 ff. m. ausf. Nw.; Döhler, Steuerung (Fn. 33), S.

187 f. Übersichtlich Franke/Wald/Bartl, Wirkung (Fn. 148), S. 15 ff. Wissenschaftsrat, Interaktion (Fn. 27), S. 25 ff, Groß/Arnold, Regelungsstrukturen (Fn. 47), S. 22, 142 f., 145. Groß/Arnold, Regelungsstrukturen (Fn. 47), S. 96. Vgl. für die HGF Jürgen Mlynek, Starre Säulen oder tragende Pfeiler? Die Rolle der außeruniversitären Forschungsorganisationen im Forschungssystem Deutschlands, in: Jansen (Hrsg.), Governance (Fn. 89) S. 99–106 (102). 171 Groß/Arnold, Regelungsstrukturen (Fn. 47), S. 144 f. 166 167 168 169 170

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innerer ethischer Forschungsgrenzen durch gesetzgeberische Entscheidungen, (2) die Umstellung des Wissenschaftssystems durch Implantierung des Wettbewerbsgedankens jenseits des herkömmlichen Reputationswettbewerbs, (3) eine engere und unmittelbarere Rückkoppelung der inhaltlichen Forschungsprozesse an die wirtschaftlichen Wachstumsbedürfnisse der Industriegesellschaften zu Lasten der Forschung um der reinen Erkenntnis als solcher willen, und (4) eine stärkere institutionalisierte Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Teilbereichen im System der Forschungsorganisationen. Für den einzelnen Wissenschaftler ist damit im Regelfall kein Zuwachs an individueller Wissenschaftsfreiheit verbunden172. Gemeinsames Kennzeichen ist eine stärkere Abhängigkeit des Forschungsprozesses von bewusst politisch gestalteten und gestaltbaren Rahmenbedingungen mit der Folge, dass dadurch die Akzeptanz der allgemeinen Öffentlichkeit als Medium für das Wirken von Wissenschaftspolitikern an Bedeutung gewinnt. Der allgemeine Prozess der Medialisierung der Wissenschaft trägt zu dieser Akzeptanz bei, muss aber die Folgen allgemein des Wettbewerbs der Medien um Aufmerksamkeit (vor allem auch durch negative Skandalisierung) in Kauf nehmen. Umgekehrt muss die Politik angesichts der mit dem Wissenswachstum stets wachsenden Bedeutung von Nichtwissen und Ungewissheiten Entscheidungsstrukturen dafür ausbilden, nach welchen Maßstäben sie relativ valides Wissen als »brauchbar« oder »robust« und damit politisch-praktisch verwendbar verantworten kann173. Eine damit verbundene Folge ist eine Tendenz in der wissenschaftlichen Politikberatung, diese durch Partizipation von Betroffenen oder von allgemeiner Öffentlichkeit zu »demokratisieren«174, d. h. namentlich bei Ungewissheiten lebensweltliche Perspektiven von Laien in solche Beratungsprozesse zu integrieren, Expertendefinitionen aufzuweichen und politische Lernprozesse aller Beteiligten zu initiieren175.

172 Mager, Freiheit (Fn. 5), § 166 Rn. 48. 173 Vgl. Friedhelm Neidhardt / Renate Mayntz / Peter Weingart / Ulrich Wengenroth, Wissensproduktion

und Wissenstransfer. Zur Einleitung., in: Mayntz u. a., Wissensproduktion (Fn. 74), S. 19–37 (27 ff.); Nowotny, Experten (Fn. 121), S. 40 ff.; am Beispiel des Agrarbereichs Cordula Kropp / Jost Wagner, Wissensaustausch in Entscheidungsprozessen: Kommunikation an den Schnittstellen von Wissenschaft und Agrarpolitik, in: Mayntz u. a., Wissensproduktion (Fn. 74), S. 173 ff. 174 Vgl. Übersichtlich Renate Martinsen, Partizipative Politikberatung – der Bürger als Experte, in: Falk u. a., Handbuch (Fn. 32), S. 138–151. 175 Vgl. in diesem Sinne Alexander Bogner / Helge Torgersen, Sozialwissenschaftliche Expertiseforschung. Zur Einleitung in ein expandierendes Forschungsfeld, in: dies. (Hrsg.), Experten (Fn. 73), S. 7–29 (14); Nowotny, Experten (Fn. 121), S. 36, 38 f.; Simon Joss, Challengers for Participatory Governance of Science and Technology, in: Bogner/Torgersen ebd., S. 197–219.

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IV. Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen für die Wissenschafts- und Hochschulpolitik Jenseits der wissenschaftlichen Bewertung dieser Veränderungsprozesse steht jede Form auch nur mittelbarer politischer Einflussnahme auf die wissenschaftliche Forschung und ihre Organisation vor dem Problem, dass sie insbesondere die personalen Bedingungen für erfolgreiche Forschungsprozesse nicht untergraben darf. Sieht man in intrinsischer Motivation und im geistigen Forschertrieb zentrale Voraussetzungen dafür, so dürfen diese nicht durch politische Organisationsgestaltung wesentlich behindert oder gar zerstört werden, ohne wissenschaftliche Forschung als Existenzvoraussetzung unserer Industriegesellschaft und ihrer Zukunftsfähigkeit zu gefährden. Abschließend sollen einige rechtliche Schnittstellen benannt werden, an denen die Rechtsordnung solche – in jenem Sinne abwegigen – hochschul- und wissenschaftspolitischen Gestaltungsansprüche begrenzt. 1. Forschungsverbote in der Stammzellforschung

Auf der Ebene der individuellen Forschungsfreiheit gibt es seit etwa einem Jahrzehnt gesetzliche Forschungsverbote im Bereich der Embryonenforschung, die ethische Bedenken verrechtlichen und diesen dadurch unbedingte Geltung verschaffen. Dabei wird das Grundrecht der an sich vorbehaltlos garantierten Forschungsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG) unter Berufung auf eine sehr ausdehnende Auslegung der verfassungsrechtlichen Garantie der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) als verfassungsunmittelbarer Grenze beschränkt. Solche Forschungsverbote laufen Gefahr, unter einseitiger Überdehnung der Auslegung der Menschenwürdegarantie Partialethiken verfassungsrechtlich festzuschreiben (und damit sogar der Entscheidungsbefugnis eines verfassungsändernden Gesetzgebers zu entziehen, vgl. Art. 79 Abs. 3 GG). Sie dürften verfassungswidrig sein, etwa das Verbot im Bereich der Embryonenforschung durch das Stammzellgesetz176 oder des therapeutischen Klonens177. Dafür spricht auch schon der Umstand, dass in vielen Staaten dieser Welt solche Forschung nicht als elementarer Verstoß gegen die Menschenwürde angesehen wird178. Wenn man 176 Vgl. etwa Kyrill-A. Schwarz, Strafrechtliche Grenzen der Stammzellenforschung?, Medizinrecht 21

(2003), S. 158–163 (161); ausf. Karsten Klopfer, Verfassungsrechtliche Probleme der Forschung an humanen pluripotenten embryonalen Stammzellen und ihre Würdigung im Stammzellgesetz, 2006. 177 Horst Dreier, in: ders., GG I (Fn. 7), Art. 1 I Rn. 112 ff.; Kyrill-A. Schwarz, Therapeutisches Klonen – ein Angriff auf Lebensrecht und Menschenwürde des Embryos?, Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 84 (2001), S. 182–210 (191 ff.). 178 Vgl. Helmuth Schulze-Fielitz, Verfassungsvergleichung als Einbahnstraße? Zum Beispiel der Men-

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die gesetzlichen Einschränkungen der Forschung an embryonalen Stammzellen ganz oder teilweise für verfassungswidrig hält179, macht es stutzig, dass es – anders als zur Reichweite von Tierversuchen – bis heute keine gerichtliche, geschweige verfassungsgerichtliche Klärung dieser Fragen gibt. Offensichtlich vermeiden die betroffenen Forscher zur eigenen Entlastung und der ihrer Familien gerichtliche Klagen, um sich dem öffentlichen Druck zu entziehen. Eine solche Situation erscheint rechtsstaatlich mehr als problematisch. Die elementare individuelle Forschungsfreiheit ist jedenfalls keineswegs frei von verfassungsrechtlich aktuellen Gefährdungen. 2. Forschungsfreiheit als Grenze beim Umbau zum Hochschulmanagement

Gegen den Widerstand und die wohl herrschende Meinung unter den Universitätsjuristen haben die Verfassungsgerichte von Bund und Ländern bislang in der hochschulgesetzlichen Umstellung der Universitäten auf Managementstrukturen keine Verfassungsverstöße gesehen180, aber dennoch relativ präzise Grenzen identifiziert. Bundesverfassungsgericht und Bayerischer Verfassungsgerichtshof haben die Umstellung auf die Managementverwaltung im Grundsatz gebilligt; ihre Neuregelung liege im Rahmen des politischen Gestaltungsermessens des parlamentarischen Gesetzgebers. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof sieht etwa in der Integration hochschulexterner Mitglieder im Hochschulrat eine akzeptanzfördernde Ermöglichung von Forschungsentscheidungen der Hochschulen in wissenschaftlicher Verantwortung bei breiten gesellschaftlichen Diskussionen181. Dennoch hat diese Rechtsprechung negative Wirkungen auf die Forschung zumindest ins Auge gefasst. Hinsichtlich der Organisationsstrukturen einer Managementverwaltung nach den Möglichkeiten einer Fremdsteuerung von Forschungsprozessen durch Hochschulräte182 wurde die strukturelle Gefährdung der Wissenschenwürde in der biomedizinischen Forschung, in: Alexander Blankenagel / Ingolf Pernice / Helmuth Schulze-Fielitz (Hrsg.), Verfassung im Diskurs der Welt. Liber Amicorum für Peter Häberle, 2004, S. 355–379. 179 Schulze-Fielitz, Forschung (Fn. 125), Rn. II 209; anders jetzt wieder Ralf Müller-Terpitz, Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch VII (Fn. 5), § 147 Rn. 86 ff., 91; ausf. ders, der Schutz des pränatalen Lebens, 2007, S. 333 ff., 488 ff., pass. 180 Vgl. BVerfGE 111, 333 (356 ff.); BayVerfGH, in: Bayerische Verwaltungsblätter 139 (2008), S. 592 ff. 181 Vgl. BayVerfGH, in: Bayerische Verwaltungsblätter 139 (2008), S. 592 (595). 182 Krit. etwa Wolf-Rüdiger Schenke, Das neue baden-württembergische Hochschulgesetz auf dem Prüfstand, in: Klaus Grupp / Ulrich Hufeld (Hrsg.), Recht – Kultur – Finanzen. Festschrift für Reinhard Mußgnug, 2005, S. 439–456 (446 ff.); Jens Kersten, Alle Macht den Hochschulräten?, in: Deutsches Verwaltungsblatt 114 (1999), S. 1704–1709; Bernhard Kempen, Bayerische Hochschulräte, in: Bayerische Verwaltungsblätter 130 (1999), S. 454–459; zu ersten empirischen Erfahrungen Gerber u. a., Hochschulräte (Fn. 96), S. 117 ff.

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schaftsfreiheit als Grenze betont183, auch im Blick auf die Stärkung monokratischer Leitungsorgane184. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof sieht aber derzeit keine Anhaltspunkte dafür, hält freilich Fehlentwicklungen in Form von negativen Wirkungen auf die Wissenschaftsfreiheit nicht für ausgeschlossen; durch die Befristung des Gesetzes bis 2017 sei gewährleistet, dass sich solche Fehlentwicklungen nicht verfestigen185. Das Bundesverfassungsgericht argumentiert regelmäßig mit einer Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers, sobald Fehlentwicklungen – hier Gefahren für die Wissenschaftsfreiheit186 – auftreten, ohne dass eine solche – soweit ersichtlich – jemals praktisch gerichtlich durchgesetzt worden wäre. Dieser Grundgedanke einer strukturellen Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit lässt sich auf viele andere Zusammenhänge übertragen, etwa auf Zielvereinbarungen über Forschungsinhalte, die die Autonomie der forschenden Hochschulangehörigen nicht angemessen berücksichtigen, indem leistungsbezogene Finanzierungsanteile die Aufgaben adäquater Grundausstattung gefährden oder inhaltliche Forschungsziele vorgeben187. Auch eine zu starke Abhängigkeit der universitären, den Eigengesetzlichkeiten von Wissenschaft verpflichteten Forschung von staatlichen oder privaten Drittmitteln, die anderen Gesetzlichkeiten folgt188, kann die Wissenschaftsfreiheit – etwa schon allein durch die zeitlich stark verzögerte Veröffentlichung von Forschungsergebnissen189 – ebenso gefährden wie eine Ausgestaltung von Exzellenzwettbewerben, die die Qualitätsbewertung im Wissenschaftssystem zu stark von externen, wissenschafts- oder disziplininadäquaten Vorgaben abhängig macht190. Die Kraft dieser Grenze ist bislang allerdings kaum operationalisiert. 3. Eigengesetzlichkeit der Wissenschaft bei Forschungsevaluation

Hinsichtlich der verfahrensrechtlichen Rahmenbedingungen einer Evaluation der Forschung hat das Bundesverfassungsgericht im Wege der Verfassungsauslegung eine 183 Vgl. BVerfGE 111, 333 (356); Wolfgang Kahl, Hochschulräte – Demokratieprinzip – Selbstver-

waltung, in: Archiv des öffentlichen Rechts 130 (2005), S. 225–262 (251 f.); Josef-Franz Lindner, Zum Rechtsstatus der Fakultät, in: Wissenschaftsrecht 40 (2007), S. 254–282 (269); krit. Mager, Freiheit (Fn. 5), § 166 Rn. 40. 184 BVerfGE 111, 333 (357); ebenso BayVerfGH, in: Bayerische Verwaltungsblätter 139 (2008), S. 592 (594). 185 BayVerfGH, in: Bayerische Verwaltungsblätter 139 (2008), S. 592 (594). 186 BVerfGE 111, 333 (360; 361). 187 Vgl. Schulze-Fielitz, Forschung (Fn. 125), Rn. II 224; Mager, Universität (Fn. 120), S. 289 ff. 188 Mager, Freiheit (Fn. 5), § 166 Rn. 42, 44. 189 Trute, Forschung (Fn. 4), S. 106; vgl. zum deutlich geringeren Interesse der Industrieforschung an Publikationen Schmoch, Hochschulforschung (Fn. 22), S. 239 f., 243 f., 372 f. 190 Ausf. Simon Sieweke, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Fortsetzung der Exzellenzinitiative, in: Die öffentliche Verwaltung 62 (2009), S. 946–954 (950 ff.).

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Reihe von verfahrensrechtlichen Bedingungen formuliert, die die Eigengesetzlichkeit wissenschaftlicher Wahrheitsfindung und Qualitätsstandards sichern will. So müssen die Kriterien einer Evaluation in einem kooperativen Verfahren unter angemessener Beteiligung der Vertreter der Wissenschaft festgelegt werden, die Kriterien müssen wissenschaftsadäquat und dem Zweck der Evaluation angemessen sein und die wesentlichen Unterschiede zwischen den verschiedenen Disziplinen berücksichtigen, etwa die Unterschiede von Grundlagenforschung und anwendungsorientierter Forschung191 oder Natur- und Kulturwissenschaften. Vor allem das Kriterium der Einwerbung von Drittmitteln darf nicht »allein oder ganz wesentlich« die Evaluation bestimmen (namentlich in Disziplinen ohne Drittmittelkultur oder -notwendigkeit), und es müssten Drittmittel ganz unberücksichtigt bleiben, »deren Entgegennahme Anreize für eine auftrags- und ergebnisorientierte Forschung setzt«192. Forschungsleistungen werden durch weit mehr Dimensionen gekennzeichnet (z. B. Beitrag zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses, Leistungen bei der Beratung von Unternehmen, Herausgeberschaft von Zeitschriften)193. Wegen der Schwierigkeiten einer Operationalisierung solcher Anforderungen194 wird darin gelegentlich auch eine Aufgabe für den Gesetzgeber gesehen195. Auch die Evaluation in der außeruniversitären Forschung wird durch solche rechtlichen Maßstäbe beeinflusst196. 4. Forschungsfreiheit im Wissenschaftsrecht

Die Veränderungen im Wissenschaftssystem zeitigen Folgen im Rechtssystem auch dort, wo keine verfassungsgerichtlichen Leitentscheidungen Vorgaben enthalten. Das Wissenschaftsrecht als Recht der Verwaltungsorganisation und des Verwaltungsverfahrens zur Förderung der Wissenschaftsfreiheit erfährt eine deutliche Umgestaltung197. 191 BVerfGE 111, 333 (359); Reinhard Hendler, Die Universität im Zeichen von Ökonomisierung und Internationalisierung, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 65 (2006), S. 238–273 (257); Mager, Universität (Fn. 120), S. 293 f. 192 BVerfGE 111, 333 (359); Max-Emanuel Geis, Zwischen »Entfesselung« und neuen Restriktionen. Rechtsprechungsbericht zum Hochschulrecht 2002–2007, in: Die Verwaltung 41 (2008), S. 77–98 (83 f.); s. auch allg. Musil, Wettbewerb (Fn. 90), S. 340 ff. 193 S. näher Jansen, Governance (Fn. 98), S. 47 ff. 194 Zu den Schwierigkeiten der Operationalisierung Schulze-Fielitz, Forschung (Fn. 125), Rn. II 243 f. 195 Gärditz, Forschungsfinanzierung (Fn. 94), S. 387 ff.; Mager, Freiheit (Fn. 5), § 166 Rn. 46; dies., Universität (Fn. 120), S. 294. 196 Groß/Arnold, Regelungsstrukturen (Fn. 47), S. 164 f.; für die Kriterien der Exzellenzinitiativen Sieweke, Anforderungen (Fn. 190), S. 49 f. 197 Vgl. zuletzt grds. Jens Kersten / Sophie-Charlotte Lenski, Die Entwicklungsfunktion des Allgemeinen Verwaltungsrechts, in: Die Verwaltung 42 (2009), S. 501 (515 f.); Gärditz, Forschungsfinanzierung (Fn.

politische voraussetzungen wissenschaftlicher forschung

Speziell für die Forschung in den Ressortforschungseinrichtungen gibt es eine neuere Tendenz, entgegen der bislang vorherrschenden Ansicht den in ihnen tätigen Wissenschaftlern (wie schon immer auch in den anderen Bereichen der außeruniversitären Forschung198) über den einfachgesetzlichen Schutz der Forschungstätigkeit hinaus auch den verfassungsrechtlichen Schutz der Wissenschaftsfreiheit zuzusprechen199 mit der Folge, dass verzerrende politische Rücksichtnahmen als wissenschaftliches Fehlverhalten zu qualifizieren sind200. Das gilt ungeachtet der Unvermeidlichkeit, dass Ressortforschung im Blick auf die Themenwahl definitionsgemäß nicht frei entscheiden kann, wohl aber hinsichtlich Methoden und Ergebnisinterpretation als Kern wissenschaftlicher Forschung201.

V. Fazit Im Ergebnis scheint sich die Frage nach politischen Voraussetzungen wissenschaftlicher Forschung in einem bejahenden Sinne von selbst zu beantworten. Wissenschaftspolitische Umgestaltungsabsichten beziehen sich aber in aller Regel nicht unmittelbar auf Forschungsinhalte, sondern auf die Rahmenbedingungen von Forschung, die i. S. einer rechtlich regulierten Selbstregulierung202 individuelle wissenschaftliche Antriebskräfte nur mittelbar steuern können. Eine politische Veränderung dieser Rahmenbedingungen erfolgt in Antwort auf gesamtgesellschaftliche Veränderungen. Sie entfalten insoweit auf einer abstrakten Ebene eine mittelbare inhaltliche Bedeutung, ohne die individuelle Forschungsfreiheit im Regelfall wirklich zu gefährden. Wissenschaftliche Forschung ist – unter welchen institutionellen Rahmenbedingungen auch immer – keine politikfreie Zone. Das damit verbundene Risiko einer wissenschaftsfremden Wissenschaftspolitik lässt sich vielleicht nur 94), S. 385 ff.; ausf. ders., Hochschulorganisation und verwaltungsrechtliche Systembildung, 2009, S. 23 ff., 439 ff. 198 Vgl. Michael Fehling, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, 110. Lfg. März 2004, Art. 5 Abs. 3 (Wissenschaftsfreiheit), Rn. 115, 120; Groß/Arnold, Regelungsstrukturen (Fn. 47), S. 153 ff.; Claus Dieter Classen, Wissenschaftsfreiheit außerhalb der Hochschule, 1994, S. 142 ff., 156 ff. 199 In diesem Sinne Groß, Ressortforschung (Fn. 33), S. 149 f.; Weingart/Lentsch, Wissen (Fn. 32), S. 229 ff. (bearbeitet von Eberhard Schmidt-Aßmann); Trute, Wissenschaft (Fn. 126), § 88 Rn. 25, 44; Classen, Wissenschaftsfreiheit (Fn. 198), S. 348 ff. 200 Schmidt-Aßmann ebd. S. 232. 201 Schmidt-Aßmann ebd. S. 230; s. schon Barlösius, Forschen (Fn. 152), S. 357 ff. 202 Siehe zu dieser Figur grdl. Wolfgang Hoffmann-Riem, Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen – Systematisierung und Entwicklungsperspektive, in: ders. / Eberhard Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen, 1996, S. 261–336 (300 ff.); ausf. zuletzt Anselm Christian Thoma, Regulierte Selbstregulierung im Ordnungsverwaltungsrecht, 2008, S. 30 ff., 42 ff.

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minimieren, wenn verstärkt Wissenschaftler auch als Wissenschaftspolitiker, nicht als Standespolitiker für Professoren wirken – ob in Parlamenten oder außerhalb als Wissenschaftslobbyisten: Wissenschaftspolitik als Aufgabe auch für die Wissenschaft dürfte generell an Gewicht gewinnen.

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Naturwissenschaften als politikfreie Forschung?1

I. Zwei banale Antworten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Politische Implikationsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Naturwissenschaft vs. Technologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Naturwissenschaft vs. Weltanschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Argumente für die Politikfreiheit der Naturwissenschaften . . . . . . . . . . . . . 1. Das Argument der Forschungsfreiheit als Wert an sich . . . . . . . . . . . . . 2. Das Argument der politischen Inkompetenz von Naturforschern . . . . . 3. Polányis Argument der Unvorhersehbarkeit naturwissenschaftlicher Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Gefahr einer Experten-Diktatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Kritik der Argumente für eine politikfreie Naturwissenschaft . . . . . . . . . . . 1. Forschung und Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gute Naturforscher und gute Politiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die prinzipielle Vorhersehbarkeit von Forschungsprogrammen . . . . . . .

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Meinen Mitarbeitern Dr. Holger Andreas und Herrn Ralph Cahn verdanke ich wertvolle Bemerkungen zu einer früheren Fassung dieses Aufsatzes, die zu Verbesserungen und Ergänzungen geführt haben. Natürlich trage ich die alleinige Verantwortung für den Inhalt dieses Beitrags.

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a) Vorhersehbare politische Implikationen von Forschungsprogrammen: Ein paradigmatisches historisches Beispiel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 b) Politisch engagierte Naturforscher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 V. Wie weit darf das politische Engagement von Naturwissenschaftlern gehen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124

I. Zwei banale Antworten Die Möglichkeit einer politikfreien Naturwissenschaft wird oft im Kontext der spätestens seit Max Weber klassisch gewordenen Debatte über die Wertfreiheit der wissenschaftlichen Forschung überhaupt diskutiert. Um möglichen falschen Erwartungen beim Leser gleich vorzubeugen, möchte ich zu Beginn dieses Aufsatzes klarstellen, dass die Frage nach der Möglichkeit einer politikfreien Naturwissenschaft hier nicht, bzw. nicht unmittelbar, innerhalb der viel breiteren Debatte um die Wertfreiheit der Wissenschaft gestellt werden soll. Vielmehr geht es mir in diesem Beitrag darum, innerhalb eines enger abgesteckten Diskussionsrahmens die möglichen Beziehungen zwischen politischer Aktivität als solcher und naturwissenschaftlicher Forschung als solcher, seien sie nun mit bestimmten allgemeinen Wertvorstellungen verbunden oder nicht, zu eruieren. In diesem Sinn erlaubt die Frage, ob die Naturwissenschaften als politikfreie Forschung aufzufassen sind, zunächst einmal zwei banale Lesarten, die jeweils zu ebenfalls banalen Antworten führen, allerdings ist die eine Antwort eindeutig positiv, die andere eindeutig negativ. Ich beginne mit der positiv-banalen Antwort: Ja, Naturforschung ist stets politikfrei. Denn ihr ureigener Forschungsgegenstand, die Natur, hat mit Politik nichts zu tun. Was immer die verschiedenen Objekte naturwissenschaftlicher Forschung sein mögen, so scheint es klar, dass sie nicht die von Menschen geschaffenen politischen Systeme, Ideologien und Parteien umfassen. Was haben denn die Untersuchungen über die Struktur schwarzer Löcher oder die Dynamik tektonischer Platten oder die Entstehung neuer Tierarten zu tun mit der Frage etwa, ob eine sozialdemokratische Politik für die Gestaltung unserer Gesellschaft adäquater oder inadäquater sei als eine konservative? Offensichtlich nichts! Somit wäre die Frage nach der Politikfreiheit naturwissenschaftlicher Forschung in einfacher Weise ein für allemal positiv beantwortet. Auf der Gegenseite mag der Befürworter der negativ-banalen Antwort auf unsere Frage darauf hinweisen, dass Naturwissenschaft auf keinen Fall politikfrei sei, weil jede Form kollektiv organisierter Betätigung der Menschen von politischen Überle-

naturwissenschaften als politikfreie forschung?

gungen und Entscheidungsprozessen abhängt. Politik im Allgemeinen ist die Kunst, ein Menschenkollektiv so zu organisieren, dass bestimmte gemeinsame Ziele am besten erreicht werden können, wobei die Machtfrage als eine spezifisch zwischenmenschliche Beziehung eine zentrale Rolle in einer solchen Unternehmung spielt. Und in diesem Sinn ist naturwissenschaftliche Forschung selbstverständlich von der politischen Betätigung ihrer Protagonisten wesentlich abhängig. Der naturwissenschaftliche Forscher ist seit langem nicht mehr der neugierige Einzelgänger, der seine Forschung allein betreibt, so wie es ihm Spaß macht. Die naturwissenschaftlichen Disziplinen haben sich seit geraumer Zeit zu straff organisierten Unternehmungen entwickelt, und das Erreichen ihrer Forschungsziele hängt wesentlich davon ab, wie die Machtstrukturen innerhalb des disziplinären Gesamtgefüges aussehen. Weiterhin ist eine solche Unternehmung natürlich auch davon abhängig, wie die jeweilige Disziplin sich zu ihrer »Außenwelt« (z. B. zu anderen Forschungsgebieten, zu staatlichen Institutionen, zur Privatwirtschaft) verhält. Das alles ist nichts anderes als eine disziplin-spezifische Art von Politik. So gesehen sind also sowohl die positiv-banale als auch die negativ-banale Antwort auf unsere Eingangsfrage zweifellos richtig – jede auf ihre Weise: Gemäß ihrem Untersuchungsobjekt ist naturwissenschaftliche Forschung im Allgemeinen politikfrei, gemäß ihrer kollektiven Organisationsform ist sie ein durch und durch politisches Unterfangen. Wenn diese Trivialitäten alles darstellen sollten, was zur Frage des Verhältnisses zwischen Naturwissenschaft und Politik zu sagen wäre, dann hätten wir das Thema in einfacher Weise erledigt. Dem ist aber, wie ich meine, nicht so. Wenn wir genau hinschauen, stellen wir in der Entwicklung der modernen Naturwissenschaften Zusammenhänge mit der Politik fest, die viel interessanter sind als die soeben gemachten banalen Feststellungen. Dabei geht es nicht um Politik im Sinne der wissenschaftsinternen Organisationsform, sondern um Politik im üblichen Sinn, d. h. um die gesamte Gesellschaft betreffende Politik. Wenn ich also im Folgenden die möglichen Beziehungen zwischen Naturwissenschaft und Politik behandle, so meine ich den Terminus »Politik« in diesem üblichen, gesamtgesellschaftlichen Sinn, und die Frage ist dann, ob die Tätigkeit der Naturforscher als Naturforscher (und nicht etwa als Bürger irgendeines Staates) bedeutsame Verbindungen zur allgemeinen Politik hat bzw. haben kann oder haben soll. Diese Frage ist recht kompliziert, und es ist nicht zu erwarten, dass sie in einem kurzen Aufsatz restlos ausdiskutiert werden kann. Ich will dennoch einige wissenschaftstheoretische Überlegungen anstellen und einige Beispiele aus der Geschichte von Wissenschaft und Politik angeben, die hoffentlich eine Idee von der Komplexität und deshalb auch der Nicht-Trivialität des Zusammenhangs zwischen Naturwissenschaft und Politik vermitteln mögen. Ich will im Folgenden aus mehreren Perspektiven zeigen oder besser gesagt, andeuten, dass die Antwort auf unsere Eingangsfrage differenziert ausfallen muss – auf

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jeden Fall nicht als ein pauschales »Nein« oder »Ja«. Um meine Schlussfolgerung, für die ich argumentieren werde, gleich zu verraten: Meine Antwort wird sein, dass zwar nicht immer, wohl aber in einer beträchtlichen Anzahl von Fällen, der Naturwissenschaftler in die Lage gerät, sich grundsätzliche politische Fragen zu stellen und politische Entscheidungen (im Sinne der »Politik der Politiker«) treffen zu müssen – und zwar aufgrund seiner eigenen naturwissenschaftlichen Forschung und seiner eigenen wissenschaftlichen Geisteshaltung. Im Großen und Ganzen sind es zwei Bereiche, die den Naturforscher dazu führen können, sich zugleich als Naturforscher und als zoon politikon zu betätigen: Diese sind der Bereich der Technologie und der Bereich der weltanschaulichen Einstellungen.

II. Politische Implikationsmöglichkeiten 1. Naturwissenschaft vs. Technologie

Fangen wir mit der Technologie-Problematik an. Für unsere Diskussionszwecke ist es angemessen, zwischen Technik und Technologie klar zu unterscheiden. Technik hat es in der Menschheit immer gegeben, seitdem es den Homo sapiens gibt (eigentlich schon früher). Technologie dagegen gibt es erst, seit es die modernen Naturwissenschaften gibt, also etwa seit dem 17. Jahrhundert. Es gab zwar schon Ansätze zu einer wissenschaftlich fundierten Technik in der Antike, etwa bei Archimedes, aber das waren eher Randphänomene. Verkürzt gesagt: Technologie ist nichts anderes als der angewandte Aspekt der modernen Naturwissenschaft. Nun ist es in den modernen Gesellschaften so, dass ihre Gestaltung aufgrund bestimmter politisch gestellter Ziele stark von der Technologie abhängt. Spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts brauchen die Berufspolitiker in zunehmendem Maße die Ergebnisse der Technologen. Aus diesem doppelten Abhängigkeitsverhältnis (der Technologie bezüglich der Naturwissenschaft und der Politik bezüglich der Technologie) folgt bereits ein einfaches Theorem, das die Abhängigkeit der Politik bezüglich der Naturwissenschaft feststellt: Politische Entscheidungs- und Gestaltungsprozesse setzen grundsätzlich technologische Entwicklungen voraus, und technologische Entwicklungen setzen naturwissenschaftliche Befunde voraus. Also: Moderne Politik setzt Naturwissenschaft voraus. Oder anders herum formuliert: Naturwissenschaft impliziert Technologie und Technologie impliziert Politik. Da die Beziehung der Implikation, wie die Logiker sagen, transitiv ist, so können wir daraus folgern, dass Naturwissenschaft Politik impliziert. Heißt dieses Implikationsverhältnis unwiderruflich, dass der Naturwissenschaftler als Naturwissenschaftler, auch dann, wenn er sich dessen vielleicht nicht bewusst

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ist, automatisch Politik betreibt? Die Antwort auf diese Frage ist, trotz des einfachen, gerade dargestellten logischen Verhältnisses, alles andere als klar. Denn Naturwissenschaftler können mit gewisser prima facie Plausibilität dagegen hinhalten – und tun es oft –, dass die Ziele, die sie bei ihrer Forschung verfolgen, mit dem politischen Aufbau der Gesamtgesellschaft nichts zu tun haben. Eine Verantwortung tragen sie lediglich für die wissenschaftlichen Befunde, die sie anstreben oder erlangen – nicht für das, was andere Leute, etwa Technologen oder Politiker, damit machen. Um die Terminologie der Philosophen hier zu bemühen: Die Werte und die Ziele der Naturwissenschaften sind rein epistemischer, nicht aber praktischer, geschweige denn politischer Natur. Diese Auffassung ist unter praktizierenden Naturwissenschaftlern in aller Welt weit verbreitet. Und das war schon von Anfang an so, seitdem es Naturwissenschaften in ihrer modernen Ausprägung gibt. Es ist auch bezeichnend, dass zwei der ältesten Institutionen, die der naturwissenschaftlichen Forschung im modernen Sinn gewidmet sind, nämlich die britische Royal Society und die französische Académie des Sciences (beide im 17. Jahrhundert, also zu Zeiten der sog. »wissenschaftlichen Revolution«, gegründet) als Zweck ihrer Gründung explizit die »reine« naturwissenschaftliche Forschung als unabhängiges, erstrebenswertes Ziel postulierten, das keiner weiteren Begründung bzw. Rechtfertigung bedarf. Nicht nur die heutigen Mitglieder beider Akademien, sondern die vieler anderer wissenschaftlicher Institutionen, halten bis zum heutigen Tag, bewusst oder unbewusst, an diesem Verständnis der Natur ihrer Forschung fest – ein Verständnis, welches u. a. impliziert, dass die Naturwissenschaften für sich allein politikfrei, oder wenigstens politikneutral, sind und es auch bleiben sollten. 2. Naturwissenschaft vs. Weltanschauung

Allerdings hat es im Laufe der Geschichte immer wieder besondere Umstände gegeben, unter denen bestimmte Forschergruppen, die sich zwar dem rein epistemischen, politikfreien Ideal ihres Selbstverständnisses nach wie vor verpflichtet fühlten, sich dennoch nolens volens dazu gezwungen sahen, in einem gewissen Sinn politisch zu handeln. Denn es hat immer wieder Zeiten und Länder gegeben, in denen die Regierenden mit mehr oder weniger Erfolg versucht haben, die Arbeit der Naturwissenschaftler für ihre politischen, ideologischen bzw. propagandistischen Zwecke zu instrumentalisieren und zu manipulieren. In totalitären Regimes ist dies nicht weiter verwunderlich. Denn Totalitarismus, wie der Name schon sagt, besteht in der Auffassung, dass alle Bereiche des menschlichen Lebens, einschließlich Kultur, Kunst und Wissenschaft, einem von den Machthabenden festgesetzten politischen Zweck untergeordnet werden sollen. Und dann kann auch die reinste naturwissenschaftliche

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Forschung leicht unter die Räder geraten. Ein besonders dramatisches Beispiel dafür stellt der sog. »Fall Lysenko« in der Sowjetunion unter Stalin dar. Der Agrarwissenschaftler Trofim Lysenko meinte, auf der Grundlage von botanischen Experimenten, die angeblich wissenschaftlich gründlich durchgeführt worden waren, die Mendelsche Genetik und die Darwinsche Evolutionstheorie »widerlegt« und einen neuen Lamarckismus für die Erklärung der Evolution begründet zu haben; nach diesem Neolamarckismus würden neue biologische Arten aufgrund der Anpassung einzelner Individuen an die Umwelt entstehen, was natürlich weder mit Darwin noch mit Mendel vereinbar ist. Doch Stalin, der keine Ahnung von Naturwissenschaft hatte, war überzeugt, dass allein Lysenkos Theorie dem Geist des dialektischen Materialismus entsprach, und ließ alle anders meinenden Biologen ihrer Ämter entheben; viele landeten im Gulag und einige sind dabei umgekommen. Zur Ehrenrettung der Zunft der sowjetischen Biologen (auch vieler, die ehrliche Kommunisten waren) sei gesagt, dass es ihrem hartnäckigen, lebensgefährlichen Widerstand zu verdanken ist, dass ziemlich bald nach Stalins Tod die sowjetischen Machthaber aufhörten, Lysenkos Neolamarckismus zu unterstützen, so dass sie ohne Weiteres zuließen, dass Lysenko von seinen Kollegen als das entlarvt wurde, was er war – nämlich ein wissenschaftlicher Betrüger2. Doch auch die innerhalb einer demokratischen Gesellschaftsform arbeitenden Naturwissenschaftler sind nicht immer gegen »Druck von oben« gefeit. Jüngstes (und erschreckendes) Beispiel dafür stellt eine Reihe von unverfroren politisch, wirtschaftlich und weltanschaulich motivierten Manipulationen naturwissenschaftlicher Ergebnisse dar, die sich die US-amerikanische Administration während der Präsidentschaft von George W. Bush erlaubt hat und die von dem Wissenschaftsjournalisten Seth Shulman in seinem noch während dieser Präsidentschaft veröffentlichten Bericht akribisch dargelegt werden3. Die zeitweise erfolgreichen Ansätze der BushAdministration, naturwissenschaftliche Ergebnisse zu vertuschen oder zu manipulieren, reichen von der Ankündigung der angeblichen Korrelation zwischen Abtreibung und erhöhtem Krebsrisiko für die Frau sowie der Leugnung bereits bestehender Daten über den Treibhauseffekt, bis hin zum Vorhaben, den Kreationismus als eine mit der Evolutionstheorie ebenbürtige wissenschaftliche Hypothese hinzustellen, die ihren Platz in der Schulbildung einnehmen sollte. Die Bush-Attacke auf die freie Naturwissenschaft ist im Großen und Ganzen gescheitert, nicht zuletzt weil sich sechzig namhafte Naturwissenschaftler fanden, darunter viele Nobel-Preisträger, die sich öffentlich und vehement gegen jene Attacke gewehrt haben. Ihr Manifest mit der Über2 Die wichtigste allgemeine Abhandlung Lysenkos liegt in englischer Übersetzung vor: Trofim D. Lysenko, The Situation in Biological Science, Moscow 1953. Siehe auch: Vladimir N. Sojfer, Lysenko and the Tragedy of Soviet Science, New Brunswick / NJ 1994. 3 Seth Shulman, Undermining Science, Berkeley/CA (u. a.) 2006.

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schrift Restoring Scientific Integrity in Policy Making, das zunächst 2004 veröffentlicht wurde, war bereits zwei Jahre später von 8.000 US-amerikanischen Forschern mitunterschrieben worden4. Durch diese Aktion konnten sie das Schlimmste verhindern, und man kann wohl sagen, dass die US-amerikanische Naturwissenschaft eine große Schlacht gewonnen hat – wenn auch nicht den Krieg: Man kann ja nicht wissen, was eine künftige Regierung mit einem ähnlichen Profil wie die Bush-Administration in dieser Hinsicht noch veranstalten könnte. (Die Tatsache, dass im Rahmen des Umwelt-Gipfels in Kopenhagen prominente Führer der republikanischen Partei der Vereinigten Staaten von Amerika erneut und lautstark den Treibhauseffekt angezweifelt haben, lässt nur Ungutes ahnen.) Nun, in solchen Fällen, wie den soeben geschilderten, können wir zwar sagen, dass die Naturwissenschaften von der Politik nicht unabhängig sind – jedoch nur in einem besonderen, sehr eingeschränkten Sinn, in dem Sinn nämlich, dass die Naturwissenschaftler sich manchmal gezwungen sehen, politisch zu agieren, um ihre Forschungsfreiheit und ihre Integrität zu bewahren. Wir könnten sagen: Naturwissenschaft ist grundsätzlich politikfrei; nur in Extremfällen, wo Politiker und Ideologen (sei es in einem totalitären oder in einem demokratischen Regime – das spielt jetzt keine Rolle) in unberechtigter Weise in die naturwissenschaftliche Forschung eingreifen, müssen die Forscher notgedrungen eine Art Gegenpolitik machen, um Widerstand gegen die Eingriffe der Politiker zu leisten und ihre eigenen Forschungsinteressen zu verteidigen.

III. Argumente für die Politikfreiheit der Naturwissenschaften 1. Das Argument der Forschungsfreiheit als Wert an sich

Die dargelegten Beispiele über die negativen Folgen der Verflechtung von Politik und Naturwissenschaft scheinen denjenigen Recht zu geben, die meinen, die Naturwissenschaften sollten sich gefälligst von der Alltagspolitik fernhalten, so lange sie nicht in die extremen Situationen geraten, von denen wir zwei Beispiele gegeben haben. Die Naturforscher dürften also im Normalfall die altehrwürdigen Ideale der wissenschaftlichen Akademien des 17. Jahrhunderts niemals verraten und niemals ihren ureigenen Weg verlassen, der in der freien, unvoreingenommenen, von politischen Zwängen unabhängigen Erforschung der Natur besteht. Das stellt zweifellos ein hehres Ideal dar: Was kann es Schöneres für einen Forscher geben, als die Erlangung von Erkenntnis um der reinen Erkenntnis willen? So wie es »l’art pour l’art« gibt, so soll 4

Shulman, Undermining (Fn. 3), S. XI ff.

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es auch »la science pour la science« geben. Das ist ein starkes positives Statement zugunsten einer politikfreien Naturwissenschaft. Es scheint zwangsläufig aus der These zu folgen, dass naturwissenschaftliche Forschung einen selbstständigen (hohen) Wert an sich darstellt, der anderen etwaigen Zielsetzungen – etwa politischer Natur – nicht untergeordnet werden sollte. Diese Sicht der Dinge entspricht letzten Endes dem Postulat der Forschungsfreiheit, das sogar im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland fest verankert ist. 2. Das Argument der politischen Inkompetenz von Naturforschern

Zusätzlich können mindestens drei negative Argumente zugunsten der radikalen Trennung von Politik und Naturwissenschaft angebracht werden. Das erste könnten wir als das »Inkompetenz-Argument« bezeichnen. Es rührt von einer, so könnte man sagen, »sozialpsychologischen« Annahme: Aufgrund ihrer ureigenen Mentalität und ihrer Art der Sozialisation stellen Naturwissenschaftler die denkbar schlechtesten Kandidaten für eine seriöse Handhabung politischer Belange dar. Seit ihren jungen Jahren sind sie auf nichts anderes getrimmt worden, als höchst konzentriert auf diffizile Probleme der Naturforschung einzugehen, die von den Niederungen der Alltagspolitik in astronomischer Entfernung liegen. Ihrer Motivation und ihrer Denkweise ist das Verständnis für politische Probleme völlig fremd. Zur Stützung dieser Vermutung werden in der Literatur immer wieder Beispiele von großen Naturwissenschaftlern angeführt, die angesichts eines politischen Auftrags völlig versagt haben – etwa der Fall von Pierre Simon de Laplace, dem bedeutendsten französischen Naturforscher seiner Zeit, der von dem ihn bewundernden Napoleon zu seinem Innenminister (!) ernannt wurde, um nur sechs Wochen später wegen seiner (angeblich) haarsträubenden politischen Inkompetenz wieder entlassen zu werden. In seinen Erinnerungen kurz vor seinem Tod beklagte sich Napoleon, dass Laplace zwar ein großartiger Mathematiker gewesen sei, sich jedoch als ein miserables Regierungsmitglied entpuppt hätte, der unfähig war, die politischen Probleme richtig zu erfassen, weil er sich nur um Kleinigkeiten kümmerte, indem er »den Geist der Infinitesimalrechnung ins Reich der Verwaltung brachte«5. Hier haben wir also das Paradigma eines genialen Wissenschaftlers, der aber als politisch Verantwortlicher eine Null ist. Deshalb sollten Naturforscher stets der Versuchung widerstehen, sich für Bereiche einsetzen zu lassen, für die sie denkbar schlecht ausgestattet sind.

Zitiert nach Roger Hahn, Pierre Simon de Laplace – A Determined Scientist, Cambridge/MA 2005, S. 129. Siehe auch: John Theodore Merz, A History of European Scientific Thought in the Nineteenth Century, Bd. I, 1912 (Peter-Smith-Ausgabe, Gloucester/MA 1976, S. 122 f.).

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3. Polányis Argument der Unvorhersehbarkeit naturwissenschaftlicher Ergebnisse

Ein zweites Argument gegen die Verflechtung von Naturwissenschaft und Politik ist wissenschaftstheoretischer Natur und fundamentaler als das vorangehende. Das Argument lautet, verkürzt dargelegt, dass dem Wesen der naturwissenschaftlichen Forschung eine radikale Unvorhersehbarkeit ihrer eigenen Ergebnisse zugrunde liegt. Sie führt immer wieder, sozusagen aus eigener Kraft, zu absolut unvorhersehbaren Resultaten. Das ist ja das Spannende an ihr. Deswegen lässt sich Naturforschung so schlecht für politische Zwecke instrumentalisieren. Und deswegen sollte der Politiker auch nicht dem Wissenschaftler nahe legen, geschweige denn aufzwingen, was Ziel und Ergebnis seiner Forschung sein soll. Der prominenteste Verfechter dieses Arguments ist der britische Physiker und Wissenschaftstheoretiker Michael Polányi. In seinem Aufsatz »The Republic of Science«6, kennzeichnet er die Naturwissenschaft als eine Art Unterfangen, das in einem doppelten Sinn unvorhersehbar ist: Sie ist es erstens in dem Sinne, dass das Ergebnis eines zunächst eingeschlagenen Forschungsvorhabens niemals vorhersehbar ist. Zudem ist Naturforschung in einem zweiten Sinn unvorhersehbar, nämlich bezüglich der Richtung und der Möglichkeiten ihrer eventuellen technologischen Anwendungen: Aufgrund der Komplexität der Resultate moderner naturwissenschaftlicher Forschung ist es menschenunmöglich – auch dann wenn die wissenschaftlichen Ergebnisse bereits vorliegen – vorauszusagen, zu welchen technologischen Anwendungen (und, wohlgemerkt, das ist genau das, was die Politiker am meisten interessiert) sie führen mögen. Typisches Beispiel: Als James Clerk Maxwell gegen Ende des 19. Jahrhunderts seine Gleichungen für das elektromagnetische Feld aufstellte, konnte er, bei all seiner Genialität, unmöglich vorhersehen, dass sie ein paar Jahrzehnte später für die Entwicklung des Rundfunks herangezogen werden würden. Noch weniger konnte er voraussehen, welche enormen politischen Konsequenzen der Einsatz des Rundfunks haben würde. 4. Die Gefahr einer Experten-Diktatur

Ein drittes Argument gegen die Intervention der Naturwissenschaftler in die politische Gestaltung der Gesamtgesellschaft wollen wir das »Experten-Diktatur-Argument« nennen. Es besagt, dass eine sozialpolitische Machtübernahme seitens der Naturwissenschaftler die kaum abwendbare Gefahr des Aufbaus einer völlig entmenschlichten Gesellschaft mit sich bringen würde, in der die Menschen zu bloßen Zombies Michael Polányi, The Republic of Science – Its political and economic theory, in: Minerva 1/1 (1962), S. 54–73.

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degradiert wären, so dass die Menschheit, wie wir sie heute kennen, aufhören würde zu existieren. Dieses Horrorszenario hat bekanntlich Aldous Huxley in seinem dystopischen Roman Schöne Neue Welt in besonders einprägsamer Form dargelegt7. Da ich annehme, dass Huxleys Roman dem Leser wohl bekannt ist, will ich auf die Einzelheiten des Inhalts gar nicht eingehen. Dem argumentativen Gebrauch von Huxleys Vision könnte allerdings entgegengehalten werden, dass Huxleys Buch, obwohl brillant konzipiert, nur einen Roman darstellt, der in einer ernstzunehmenden philosophisch-wissenschaftlichen Diskussion nichts zu suchen hat. Dagegen ist jedoch festzustellen, dass bereits ein Jahr vor Erscheinen von Huxleys Roman einer der einflussreichsten Philosophen des 20. Jhds. in einer ausgesprochen wissenschaftlichen Abhandlung auf die Gefahren einer naturwissenschaftlichen Diktatur hingewiesen hat: Ich meine die letzten Kapitel von Bertrand Russells The Scientific Outlook8. Es lohnt sich, einige einschlägige Passagen aus Russells Buch ausführlich wiederzugeben, denn seine sachliche, »kühle« Beschreibung einer völlig verwissenschaftlichten Gesellschaft stellt das eindrucksvollste Argument gegen eine Experten-Diktatur dar, das ich kenne: »the scientific rulers will provide one kind of education for ordinary men and women, and another for those who are to become holders of scientific power. Ordinary men and women will be expected to be docile, industrious, punctual, thoughtless and contented. Of these qualities probably contentment will be considered the most important. In order to produce it, all the researches of psychoanalysis, behaviourism, and biochemistry will be brought into play. Children will be educated from their earliest years in the manner which is found least likely to produce complexes. Almost all will be normal, happy, healthy boys or girls. Their diet will not be left to the caprices of parents, but will be such as the best biochemists recommend. They will spend much time in the open air, and will be given no more book-learning than is absolutely necessary. Upon the temperament so formed, docility will be imposed by the methods of the drill-sergeant, or perhaps by the softer methods employed upon Boy Scouts. All the boys and girls will learn from an early age to be what is called »co-operative«, i. e. to do exactly what everybody is doing. Initiative will be discouraged in these children, and insubordination, without being punished, will be scientifically trained out of them. (…) Those children, on the other hand, who are destined to become members of the Aldous Huxley, Brave New World, London 1932. Bertrand Russell, The Scientific Outlook, 1931 (2. revidierte Auflage, London 1949). Mir ist nicht bekannt, ob Huxley Russells Schrift vor der Konzipierung seines Romans bereits gelesen hatte, was allerdings nicht ganz unplausibel erscheint, da er Russell gut kannte und bewunderte. Russell selbst deutet diese Möglichkeit im Vorwort zur 2. Auflage seiner Abhandlung an.

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governing class, will have a very different education. They will be selected, some before birth, some during the first three years of life, and a few between the ages of three and six. All the best-known science will be applied to the simultaneous development of intelligence and will-power. Eugenics, chemical and thermal treatment of the embryo, and diet in early years will be used with a view to the production of the highest possible ultimate ability. The scientific outlook will be instilled from the moment that a child can talk, and throughout the early impressionable years the child will be carefully guarded from contact with the ignorant and unscientific. (…) They will not be allowed to question the value of science, or the division of the population into manual workers and experts. They will not be allowed to coquette with the idea that perhaps poetry is as valuable as machinery, or love as good a thing as scientific research. (…) The latest stage in the education of the most intellectual of the governing class will consist of training for research. Research will be highly organized, and young people will not be allowed to choose what particular piece of research they shall do. (…) A great deal of scientific knowledge will be concealed from all but a few. There will be arcana reserved for a priestly class of researchers, who will be carefully selected for their combination of brains with loyalty. One may, I think, expect that research will be much more technical than fundamental. (…) By means of governmental microphones the censors will listen-in to their conversations, and if these should at any time become tinged with sentiment disciplinary measures will be adopted. All the deeper feelings will be frustrated, with the sole exception of devotion to science and the State.”9 Nach dieser niederschmetternden Beschreibung einer möglichen, durch und durch verwissenschaftlichten Gesellschaft schließt Russell seine Warnung mit den Worten ab: »The scientific society which has been sketched in the chapters of this Part is, of course, not to be taken altogether as serious prophecy. It is an attempt to depict the world which would result if scientific technique were to rule unchecked.”10

9 Russell, Outlook (Fn. 8), S. 251 ff. 10 Russell, Outlook (Fn. 8), S. 269.

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IV. Kritik der Argumente für eine politikfreie Naturwissenschaft Aus all den bis hier angeführten Überlegungen scheint zu folgen, dass in Bezug auf das Verhältnis Politik/Naturwissenschaft nur folgendes, doppeltes Motto akzeptabel ist: »Liebe Naturwissenschaftler, mischt Euch nicht in die Angelegenheiten der Politiker ein; und liebe Politiker, mischt Euch nicht in die Angelegenheiten der Naturwissenschaftler ein!« Zusammenfassend ist festzustellen, dass der Verfechter einer innigen Bindung von Naturwissenschaft und Politik mit vier schlagkräftigen Einwendungen konfrontiert ist: dem (positiven) Argument der Forschungsfreiheit und den drei (negativen) Argumenten der »Inkompetenz«, der »Unvorhersehbarkeit« und der Gefahr einer »Experten-Diktatur«. Es ist zwar nicht ganz klar, ob die angeführten Argumente ein kohärentes Ganzes bilden, das jeder Gegner der besagten Bindung gleichermaßen übernehmen mag. Jedenfalls scheinen alle zusammen genommen stark für eine scharfe Trennung von Politik und Naturwissenschaft zu sprechen. Ist dies nun das letzte Wort zu unserem Thema? Ich meine nicht. Ich meine, die Sachlage sollte noch genauer, und vor allem auch historischer, untersucht werden. Nicht, dass die dargelegten Argumente für die Trennung von Naturwissenschaft und Politik völlig abwegig wären. Sie haben eine gewisse Kraft. Doch die Dinge sind komplizierter gelagert als es zunächst erscheint. Wir wollen die angeführten Argumente genauer unter die Lupe nehmen. 1. Forschung und Macht

Zunächst zum positiven Argument der Forschungsfreiheit: Ja, das Ideal des Wissens um des Wissens willen, das die Royal Society und die Académie des Sciences seinerzeit vorgegeben haben, ist ein großartiges, ein schönes Ideal. Nur: Die moderne Naturwissenschaft hat sich aller Beteuerungen zum Trotz nie ganz daran gehalten. Dieses Ideal war von Anfang an von Machtansprüchen sozusagen einigermaßen »befleckt«. Schon Francis Bacon, der britische Philosoph und Politiker des 17. Jahrhunderts, dessen Anschauungen maßgebend für die Gründung der Royal Society waren, hat den neuen Geist der Naturwissenschaft in dem bekannten Spruch zusammengefasst: »Scientia est potentia« (»Wissenschaft ist Macht«)11. Nun ist »Macht« ein ausgesprochen politischer Begriff. Man mag zwar einwenden, die Macht, um die es bei Bacons Slogan geht, stelle nicht die Macht über Menschen, sondern die Macht über die Natur dar. Aber das wäre ein scheinheiliger bzw. kurzsichtiger Einwand. Denn 11 Francis Bacon, Novum Organum (1620) (Fowler-Ausgabe, 1889), § 1, 3.

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es ist klar, dass die Macht, die Natur zu kontrollieren, zu manipulieren, zu verändern, notwendigerweise auch zu Veränderungen im Leben der Menschen führt, da sie schließlich selbst Teil der Natur sind. Die Macht über die Natur bringt direkt oder indirekt Veränderungen der menschlichen Gesellschaft mit sich (wie es Bacon selber anvisiert hatte), und das ist ein durch und durch politisches Ziel. Eine saubere Trennung von Naturwissenschaft und Technologie (im weitesten Sinn), um dadurch eine »politikfreie Zone« für die Naturwissenschaft zu reservieren, ist einfach nicht möglich – heute weniger denn je. Das wissen die »reinsten« Naturwissenschaftler auch. Und da technologische Innovationen stets »politisch gefärbt« sind, so folgt daraus, dass die rein wissenschaftlichen Gedankengänge, die zu ihnen geführt haben, genauso »politisch gefärbt« sind – zwar indirekt, aber nachweislich. 2. Gute Naturforscher und gute Politiker

Betrachten wir nun das erste angeführte negative Argument zugunsten der Trennung von Naturwissenschaft und Politik. Gewiss, es hat in der Geschichte bedeutende Naturwissenschaftler gegeben, die der ihnen auferlegten politischen Aufgabe nicht gewachsen waren. Es gibt jedoch mindestens genau so viele Beispiele für Forscher, die auch erfolgreiche Politiker waren. Nicht nur das: Sie waren erfolgreiche Politiker, weil sie gute Wissenschaftler waren. Ein außerhalb Frankreichs wenig bekanntes, und dennoch beachtliches Beispiel dafür, stellt der Fall von Paul Bert dar. Er war im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine entscheidende Figur beim Aufbau der Dritten Republik, insbesondere des vorzüglichen Bildungssystems Frankreichs, und er war auch der wichtigste Vorkämpfer des französischen Laizismus, also der Trennung von Staat und Kirche (die erfolgreich durchgeführt wurde) – eines ausgesprochen politischen Ziels. Gleichzeitig war er aber einer der wichtigsten Physiologen seiner Zeit, vergleichbar mit Claude Bernard (was inzwischen etwas in Vergessenheit geraten ist), und außerdem der Begründer der modernen Theorie des barometrischen Drucks12. Ein früheres ähnliches Beispiel für einen erfolgreichen Naturwissenschaftler, der zugleich zu einem weitsichtigen Politiker wurde, stellt Benjamin Franklin dar – einer der founding fathers der Vereinigten Staaten von Amerika, der zugleich bahnbrechende Leistungen in der Elektrizitätslehre erbracht hat. Wie sein Biograph Edmund Morgan ausführlich belegt, hat Franklin seit seiner frühen Jugend und im Laufe seines langen Lebens stets mit beträchtlichem Erfolg versucht, seine naturwissenschaftlichen Untersuchungen mit seinen politischen Aktivitäten gleichzeitig zu kombinieren, wobei er allerdings in den entscheidenden Momenten (vor allem im Kontext des Unabhängigkeitskriegs) der Politik die Priorität gab, da er meinte, 12 Vgl. Jean-Pierre Soisson, Paul Bert – l’idéal républicain, Messigny-et-Vantoux 2008.

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die Naturforschung ist eine Sache des langen Atems, die vor einer dringlichen politischen Aufgabe, die keine Wartezeit zulässt, hintenan gestellt werden darf13. Man könnte zwar gegen solcherart Beispiele anführen, dass sie so etwas wie zersplitterte Persönlichkeiten darstellen: als Dr. Jekyll Naturwissenschaftler, als Mr. Hyde Politiker; ihre jeweiligen Tätigkeiten in Forschung und in Politik verliefen völlig unabhängig voneinander. Wenn wir aber die Laufbahnen solcher Menschen wie Franklin, Bert und vieler anderer genau analysieren, stellen wir fest, dass ihre politische Motivation mit ihrer naturwissenschaftlichen zwar nicht auf der Oberfläche, wohl aber bei genauer Betrachtung eng verwoben war: Sie haben bewusst bestimmte Forschungen (etwa über die Elektrizität oder über die menschliche Physiologie) betrieben, von denen sie erwarteten, dass sie auf lange Sicht positive Konsequenzen für die Gesellschaft mit sich bringen würden; und andererseits war ihre politische Tätigkeit von einem basalen naturwissenschaftlichen Geist geprägt, der sich zu ihrem Vorteil in der Alltagspolitik zeigte. 3. Die prinzipielle Vorhersehbarkeit von Forschungsprogrammen

Was Polányis Argument für die Unvorhersehbarkeit naturwissenschaftlicher Ergebnisse anbelangt, so scheint es zweifellos einen wahren Kern zu enthalten: Die Naturwissenschaften können zwar alle Sorten von Naturphänomenen voraussagen: Sonnenfinsternisse, Bahnen von Kometen, den Verlauf chemischer Reaktionen und die Verbreitung ansteckender Krankheiten; nur eins können sie nicht voraussagen: ihre eigene Entwicklung. Darin hat Polányi Recht. Sein Argument ist aber zu kurz gefasst, um die absolute Trennung von Politik und Naturforschung zu begründen. Das Argument ist sozusagen nur auf lokaler, punktueller Ebene richtig. Einzelne, konkrete Befunde können in der Tat meistens nicht vorhergesagt werden. Doch die allgemeine Richtung, in die ein bestimmtes Forschungsprogramm läuft bzw. laufen wird, wenn man nichts dagegen unternimmt, kann oft mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit vorhergesagt werden. Dieser Punkt, der in der Diskussion oft vernachlässigt wird, ist in einer erst vor kurzem erschienenen Abhandlung des australischen Wissenschaftstheoretikers John Forge überzeugend dargelegt worden14. Forges Analyse macht klar, dass es – entgegen Polányis These – einfach nicht wahr ist, dass die Naturforscher unter normalen Bedingungen nicht, wenigstens annäherungsweise, eine Vorstellung von dem haben, was ihre Forschung zutage bringen wird. Der Grund dafür ist folgender: Normalerweise arbeiten Naturforscher innerhalb dessen, was Thomas Kuhn 13 Vgl. Edmund S. Morgan, Benjamin Franklin – A Biography, New Haven / CT (u. a.) 2002 (deutsche Übersetzung von Thomas Schmidt, Benjamin Franklin – Eine Biographie, 2006, insbesondere S. 35 f.). 14 John Forge, The Responsible Scientist, Pittsburgh/PA 2008.

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ein »Paradigma« bzw. eine »disziplinäre Matrix« genannt hat. Und wie Kuhn selber in seinem berühmten Werk über die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen bereits festgestellt hatte15, schreibt das Paradigma den in ihrem Rahmen forschenden Wissenschaftlern die Sorte von Befunden vor, die sie zu suchen und mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten haben. Nur in Zeiten einer wissenschaftlichen Revolution wird plötzlich alles ungewiss und völlig unvorhersehbar. Aber solche Zeiten sind im Wissenschaftsbetrieb die Ausnahme und nicht die Regel. a) Vorhersehbare politische Implikationen von Forschungsprogrammen: Ein paradigmatisches historisches Beispiel

Forges Abhandlung behandelt schwerpunktmäßig die Frage der moralischen Verpflichtungen von Naturwissenschaftlern und nicht die ihrer politischen Verflechtungen, was unser eigentliches Thema darstellt. Doch können wir seine Argumentation mit leichten Abwandlungen auch auf die Problematik anwenden, die uns hier bewegt. In Analogie zu Forges Argumentation können wir feststellen, dass der heutige Naturforscher zwar nicht immer, wohl aber sehr oft nicht umhin kommt, sich der politischen Implikationen seiner wissenschaftlichen Befunde bewusst zu werden. Um dies zu verdeutlichen, will ich kurz auf ein exemplarisches Beispiel eingehen, das die politische Relevanz der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung in geradezu dramatischer Weise unter Beweis stellt. Als Pierre Joliot, Marie Curie und andere Forscher um 1900 damit anfingen, das Phänomen der Radioaktivität zu untersuchen, konnten sie natürlich nicht ahnen, dass dies irgendwelche technologischen, geschweige denn politischen Implikationen haben könnte. Ihre Situation war vergleichbar mit der Situation Maxwells in Bezug auf den Rundfunk, die weiter oben dargelegt wurde. Für ein paar Jahrzehnte blieb das auch so. Doch Ende der 1930er Jahre änderte sich plötzlich die Lage. 1938 fanden Otto Hahn und Fritz Strassmann durch ihre Experimente in Berlin heraus, dass ein Neutronenstrahl einen Atomkern spalten kann. Für die Kernphysiker bedeutete dies einen äußerst spannenden wissenschaftlichen Befund, dem aber kaum jemand eine besondere Relevanz für Anwendungen außerhalb der Grundlagenforschung beimaß – auch Hahn und Strassmann nicht. Doch knapp ein Jahr später, kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, gelang es Frédéric Joliot, dem Sohn von Pierre Joliot und Marie Curie, in seinem Pariser Labor zu zeigen, nicht nur dass Neutronenstrahlen Atomkerne spalten können, sondern dass unter bestimmten Umständen dies zu einer sog. Kettenreaktion führt, bei der die Anzahl der durch befreite Neutronen gespaltenen Kerne exponen15 Thomas S. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions, 1962 (2. erweiterte Auflage, Chicago/Il

[u. a.] 1970).

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tiell zuwächst, was wiederum zur Befreiung einer kaum vorstellbaren Menge von Energie führt. Bevor Frédéric Joliot seine Ergebnisse veröffentlichte, wurde Leo Szilard darüber informiert. Dieser war ein ungarischer Forscher, der angesichts der Verbreitung des Faschismus in Mitteleuropa in die USA ausgewandert war. Als er von Joliots Ergebnissen erfuhr, wurde ihm sofort klar, was dies technologisch und politisch bedeutete – dass nämlich eine Bombe mit unvorstellbarer zerstörerischer Kraft dadurch gebaut werden konnte, und dass es leicht vorzustellen sei, was ein Machthaber wie Hitler daraus machen würde. Er schrieb umgehend einen Brief an Joliot mit der Bitte, er möge seine Ergebnisse nicht publizieren, wenigstens so lange sich die politische Lage in Europa nicht beruhigte. Daraufhin antwortete Joliot, er hätte reine Grundlagenforschung betrieben, von der er sich nicht vorstelle, sie könnte für irgendwelche politisch-militärischen Zwecke benutzt werden. Joliot beschloss also, seinen Bericht zu veröffentlichen. Glücklicherweise haben die führenden Nationalsozialisten Joliots Befund nicht beachtet (obwohl einige Forscher in Deutschland erste Ansätze in Richtung einer Kettenreaktion gemacht hatten)16. Was ist nun die Moral dieser Geschichte für unser Thema? Unabhängig von der ethischen Bewertung der Einstellungen der verschiedenen Protagonisten, dürfen wir wohl Folgendes feststellen: Beide, Szilard und Joliot, haben durch ihre Handlungen als Naturwissenschaftler Politik gemacht – Szilard bewusst, Joliot unbewusst. Szilard, indem er eine selbstbewusste anti-nationalsozialistische Haltung einnahm und Joliot empfahl, das Gleiche zu tun. Joliot, indem er unbewusst auch eine politische Entscheidung traf – allerdings im Sinn einer Vogelstraußpolitik. Diese hätte extrem gravierende Konsequenzen für die ganze Zivilisation haben können. (Um fair gegenüber Joliot zu sein, soll hier noch angemerkt werden, dass er nach dem Krieg sehr aktiv in der Anti-Kernwaffen-Bewegung tätig wurde; er war auch einer der Mitzeichner des berühmten Russell-Einstein-Manifests zur Verbannung der Kernwaffen17.) b) Politisch engagierte Naturforscher

Der Szilard-Joliot-Fall zeigt in besonders markanter Weise, was spätestens seit 1945 im Bewusstsein aller praktizierenden Naturforscher stets präsent sein sollte: Dass nämlich nicht immer, aber ziemlich häufig (vermutlich immer häufiger) sie im Laufe 16 Für weitere Einzelheiten dazu siehe Richard Rhodes, The Making of the Atomic Bomb, New York 1986. 17 Das Russell-Einstein-Manifest führte wiederum zur Gründung der sog. Pugwash-Bewegung (vom Namen des kleinen kanadischen Orts, wo sich die Teilnehmer, darunter Joliot, ab 1957 regelmäßig trafen). Die Pugwash-Bewegung bestand (und besteht immer noch) aus hoch anerkannten, politisch engagierten Naturforschern aus aller Welt, die während des Kalten Kriegs maßgeblich zur Abwendung des nuklearen Holocausts beigetragen haben.

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ihrer rein wissenschaftlichen Forschung Entscheidungen mit politischer Bedeutung treffen müssen – ob sie es wollen oder nicht. Das betrifft natürlich nicht nur die Physik und die Chemie, sondern auch die Biologie und die Neurowissenschaften. Wenn heutzutage jemand ein bestimmtes Forschungsvorhaben unternimmt, kann er im Regelfall zwar nicht die konkreten Ergebnisse im Voraus kennen, die er erst nach gelungener Forschung erzielt haben wird; doch kann er oft recht gut die Art von Ergebnissen voraussehen, die wahrscheinlich zu bekommen sind. Und dann bedarf es in den meisten Fällen keiner übermäßigen geistigen Anstrengung, um sich zwar nicht ihre konkrete Anwendung, wohl aber die Formen von technologischer Anwendung auszumalen, die der rein wissenschaftliche Befund ermöglichen kann. Und schließlich bedarf es oft auch keiner außerordentlichen Phantasie, um zu erahnen, was eine bestimmte Regierung unter den gegebenen politischen Verhältnissen mit einer bestimmten Art von technologischer Anwendung anfangen wird, bzw. was diese Regierung erlauben wird, das Dritte (etwa Unternehmen oder Konsortien) damit anfangen. Aufgrund dieser möglichen doppelten Implikation muss der heutige Naturforscher einsehen, dass auch die »reine Naturwissenschaft« nicht immer, oder nicht mehr, politikfrei ist. Die erste bedeutende Gruppe von Naturforschern, die sich ihrer politischen Verantwortung als Berufsgruppe bewusst wurde, waren die Nuklearphysiker und die Nuklearchemiker – was nach Hiroshima 1945 und dem Bikini-Test der Wasserstoffbombe 1954 auch nicht besonders verwunderlich ist. Auf die internationale Bedeutung des Russell-Einstein-Manifests und der Pugwash-Bewegung ist bereits hingewiesen worden. Doch auch auf nationaler Ebene, vornehmlich in Deutschland, wurde um die gleiche Zeit der politische Verantwortungssinn der Nuklearforscher immer schärfer und breiter. Als 1957 die Adenauer-Regierung das Vorhaben bekanntgab, die Bundeswehr mit in Deutschland entwickelten Atombomben zu bewaffnen, formierte sich in erstaunlich kurzer Zeit eine dezidierte Protestbewegung deutscher Nuklearforscher, welche in die berühmte Erklärung der »Göttinger Achtzehn« einmündete, die vor den Plänen der Regierung eindringlich warnte. Die Göttinger Achtzehn erklärten zudem förmlich, dass sie sich strikt weigern würden, ihre Kenntnisse der Nuklearphysik für den Bau von Atombomben einzusetzen. Diese Erklärung war entscheidend dafür, dass die Regierung ihre Pläne zurückzog und dass seitdem eine atomare Aufrüstung in Deutschland undenkbar geworden ist. (Die Göttinger Erklärung ging übrigens auf die Initiative des 2007 verstorbenen, korrespondierenden Mitglieds unserer Akademie Carl Friedrich von Weizsäcker zurück18.)

18 Vgl. C. Ulises Moulines, Nachruf zu Carl Friedrich von Weizsäcker, in: Bayerische Akademie der

Wissenschaften (Hrsg.), Jahrbuch 2007, S. 146–149 (147).

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Doch nicht nur die Nuklearforscher haben sich in den letzten Jahrzehnten politisch betätigt. In den 1970er Jahren entstand allmählich eine neue Welle von »politischer Einmischung« seitens der wissenschaftlichen Gemeinschaft aufgrund der durch die außer Kontrolle geratene Industrialisierung aufkommenden Bedrohung der natürlichen Umwelt. Auslöser dieser Bewegung war der sog. Meadows-Report, 1972 vom Club of Rome veröffentlicht, welcher großes Aufsehen erregte. Diesmal kamen die Warnstimmen nicht von Physikern oder Chemikern, sondern hauptsächlich von Ökologen, Demographen und Ökonomen. Mehr noch als im Fall der Atomforscher war die Stoßrichtung der Vertreter des Club of Rome und verwandter Organisationen ausdrücklich politisch. Sie wollten »Politik machen«, um gegen die drohende Umweltkatastrophe anzugehen. Seitdem kann man von einer auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und Argumenten begründeten »politischen Ökologie« sprechen19. Diese am Anfang vornehmlich von Naturwissenschaftlern getragene politisch-wissenschaftliche Entwicklung hat maßgeblich dazu beigetragen, dass in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten überall in Europa (und anderswo) politische Parteien im klassischen Sinn gegründet wurden, welche die Rettung der natürlichen Umwelt zu ihrem Programm machten und inzwischen in der politischen Landschaft der entwickelten Länder fest etabliert sind.

V. Wie weit darf das politische Engagement von Naturwissenschaftlern gehen? Wir haben mindestens drei historische Beispiele dafür ausgemacht, dass bedeutende Gruppen von Naturforschern unter bestimmten Umständen explizit bereit sind, sich als Wissenschaftler politisch zu engagieren – und dies in einer besonders aktiven, durchdachten und effizienten Weise auch tun. Dieses Vorgehen dient nicht nur den Forschungsinteressen der eigenen Zunft, sondern auch den Interessen der ganzen Menschheit. Dass dieses Phänomen kein Privileg von Atomphysikern und Ökologen zu sein braucht, liegt auf der Hand. Auch auf anderen aktuellen, »heiklen« Forschungsgebieten – etwa in der Genetik oder der Gehirnforschung – dürfte (vielleicht auch: sollte) man vergleichbare politisch-wissenschaftliche Einsätze erwarten. Allerdings ist auch nicht zu übersehen, dass die vorgestellten, durchaus positiv zu bewertenden Beispiele für eine »Politik von Naturwissenschaftlern« ein besonderes Charakteristikum aufweisen: Sie sind alle reaktiv. Es handelt sich bei ihnen zwar um echte politische Bewegungen, jedoch eher im Sinn einer »Widerstandsbewegung«: 19 Vgl. Dominique Bourg, Planète sous contrôle, Paris 1998. Siehe auch: Jean-Paul Fitoussi / Eloi Lau-

rent, La nouvelle écologie politique, Paris 2008.

naturwissenschaften als politikfreie forschung?

Die von solchen Forschergruppen wie der Pugwash-Conference, den »Göttinger Achtzehn« oder dem Club of Rome getragene politische Aktivität stellt eine Politik des Widerstands gegen Vorhaben dar, welche »normale« Berufspolitiker, das Militär oder bestimmte Konzerne in Gang gesetzt haben, bzw. in Gang setzen wollen. Gegen diese Art von politischer Tätigkeit seitens einiger Forschergruppen dürfte seitens der breiten Öffentlichkeit (wie der naturwissenschaftlichen Gemeinschaft) grundsätzlich wenig einzuwenden sein. Dies gilt insbesondere dann, wenn dieses Engagement leistungsfähig ist und sich nicht als Ersatz für die »normale« Politik, sondern vielmehr als ihr Korrektiv versteht. Die spannende Frage ist aber, ob es in unserer Zivilisation auch einen Platz für eine »Politik von Naturwissenschaftlern« geben kann, bzw. geben darf, die sich nicht nur reaktiv, sondern auch propositiv versteht, das heißt, eine Politik zur Neugestaltung der Gesamtgesellschaft, deren Verfahrensweisen und Ziele, vielleicht nicht ausschließlich, so doch wenigstens in der Hauptsache naturwissenschaftlich bestimmt werden sollen. Ein solcher politischer Einsatz der Naturwissenschaftler würde etwa von folgendem Postulat ausgehen: Die beste Politik ist diejenige, die vollständig von der Vernunft geleitet wird, und die ausgeprägte Form der Vernunft stellt die naturwissenschaftliche Methode dar. Das war eben das Ideal des Francis Bacon, der zwar selbst kein praktizierender Naturforscher war, wohl aber als der Chefideologe der Gründerzeit der modernen Naturwissenschaft gelten kann. Interessanterweise schien die Utopie einer weitgehend naturwissenschaftlich orientierten Gestaltung der res publica bis vor fünfzig oder sechzig Jahren für viele Betrachter in greifbarer Nähe zu sein. Heutzutage dagegen redet kaum einer mehr davon – weder die praktizierenden Naturwissenschaftler selber, noch die öffentliche Meinung; und dies, obwohl die Anzahl der innovativen Ergebnisse der naturwissenschaftlichen Forschung – auch derjenigen, die eine hohe gesellschaftliche Relevanz haben – seit dem Zweiten Weltkrieg exponentiell gewachsen ist. Es wäre lohnend zu untersuchen, warum und wieso dieser Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung der gesellschaftspolitischen Potenzialitäten der Naturwissenschaften stattgefunden hat. Doch eine solche Untersuchung würde den Rahmen dieses Aufsatzes offensichtlich sprengen. Nur eine abschließende Bemerkung möchte ich zu dieser Frage machen. Die Utopie einer völlig verwissenschaftlichten Gesellschaftsordnung wurde bereits in den 1930er Jahren von Russell, Huxley und anderen klar und deutlich als Dystopie entlarvt; heute will sie keiner mehr realisieren (jedenfalls nicht explizit). Und dabei sollte es auch bleiben; darüber besteht, so glaube ich, ein breiter Konsens. Kehren wir zur Eingangsfrage dieses Aufsatzes zurück: Ist die Naturwissenschaft als solche politikfrei? Oder sollte sie es sein? Meine Antwort lautet: Weder noch. Wir haben mehrere historische Beispiele gesehen, wo sie es tatsächlich nicht war, und wo sie es aufgrund der allgemeinen hier vorgebrachten Gegenargumente auch nicht hätte sein sollen. Allerdings sprechen diese Beispiele und auch die prinzipiellen

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Argumente, die sie stützen, für eine Art der »Politisierung der Naturwissenschaft«, die als »reaktiv« charakterisiert worden ist. In diesen Fällen fungiert der politisch engagierte Naturforscher als eine Art »Metapolitiker«: Er schaut sich das an, was Politiker (und Technologen) machen, bzw. machen wollen, und stellt gegebenenfalls Warnsignale auf. Versteht man aber unter »Politisierung der Naturwissenschaft« eine inhaltsreichere, propositive Aufgabe, nämlich die Verwissenschaftlichung der Gesellschaft, dann haben uns bereits Russell und Huxley gezeigt, dass dies der falsche Weg ist. Höchstens wäre es zu begrüßen, dass Berufspolitiker im Allgemeinen auch eine naturwissenschaftliche Ausbildung (wenigstens in Ansätzen) hätten, weil dies helfen würde, unter denjenigen Umständen vernünftige Entscheidungen zu treffen, wo naturwissenschaftliche Erkenntnisse eine signifikante Rolle spielen – was in der heutigen Welt zunehmend der Fall ist. (Dafür haben wir bereits einige Beispiele gesehen.) Dennoch sollten diese Entscheidungen von übergeordneten Zielsetzungen geleitet werden, die nicht naturwissenschaftlich determiniert sind. In diesem übergeordneten Sinn sollte also nicht nur die Naturforschung ihre Freiheit gegenüber der Politik, sondern auch die Politik ihre Freiheit gegenüber der Naturwissenschaft bewahren.

Sektion III: Wissenschaft statt Politik?

Hasso Hofmann

Politik durch Wissenschaft überholen – Der Atlantis-Traum der Aufklärer

I. Der Staat der Philosophenkönige im Kampf mit Atlantis . . . . . . . . . . . . . II. »Neu-Atlantis« und das »Haus Salomons« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Relativierung der Politik durch Rationalisierung der Welt – Die Akademiebewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Der revolutionäre Traum vom Fortschritt zu irdischer Vollkommenheit durch Wissenschaft und Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Das universelle Atlantis der Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Der Staat der Philosophenkönige im Kampf mit Atlantis Alles, was der Mensch für die allgemeine Wohlfahrt erreichen kann, beruht auf »richtige(r) Erkenntnis der Wahrheit«. Das ist der Kernsatz der »Deutschen« (im Unterschied zu der später lateinisch geschriebenen) »Politik« von Christian Wolff 1. Sie erschien zu Lebzeiten dieses Königs der deutschen Aufklärungsphilosophie, des ersten deutschen Philosophen, der eine (alsbald die philosophischen Lehrstühle Christian Wolff, Vernünftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen (»Deutsche Politik«), bearb., eingel. u. hrsgg. v. Hasso Hofmann, 2004, § 309 (S. 231 f.).

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erobernde) Schule begründet hat, zwischen 1721 und 1747 in sechs unveränderten Auflagen und dann posthum noch einmal 1756. Wenn die Politik ihre hier von der aufgeklärten Vernunft definierten Ziele: Sicherheit und allgemeine Wohlfahrt in höchstmöglichem Maße erreichen will, muss sie danach auf wissenschaftliche Einsicht bauen. Davon, dass einst sie das Gemeinschaftsleben ordnet und lenkt, haben die Intellektuellen seit alters geträumt. Den Anfang macht bekanntlich Platons Plan eines Idealstaates in dem berühmten Dialog Politeia über die gute Verfassung eines Gemeinwesens, gemeinhin »Staat« genannt. Danach sollen die Philosophen – so nennt Platon die geistig am besten Ausgebildeten und Trainierten – den obersten Stand der kraft ihrer Einsicht Herrschenden bilden aus und über der mittleren Kaste der Wächter wie über der untersten Schicht der Erwerbstätigen. Außer der Beherrschung von Arithmetik, Geometrie, Stereometrie und Astronomie, Harmonielehre und dialektischer Methode müssen sie von der Einsicht in die Idee des Guten her auch Einsicht haben in das, was für die Errichtung des Staates nach Platon das »Allergrößte und Notwendigste« ist: to dikaion, das Gerechte; denn dies ist es, was das Ganze zusammenhält2. »Wenn nicht […] entweder die Philosophen Könige werden in den Staaten«, lautet die wohl berühmteste Sentenz in Platons Politeia, »oder die jetzt so genannten Könige und Gewalthaber wahrhaft und gründlich philosophieren […], gibt es keine Erholung von dem Übel für die Staaten […] und […] auch nicht für das menschliche Geschlecht, noch kann jemals zuvor diese [sc. ideale] Staatsverfassung […] gedeihen«3. Aber wie könnte jenes »Musterbild eines Staates« verwirklicht werden? Ganz konsequent – und für einen Griechen sozusagen natürlich – sah Platon die Lösung des Problems in Erziehung und Bildung4. In den Dialogen Timaios und Kritias wird zudem als Beweis für die Realisierbarkeit des Idealstaats ein »historischer« Bericht angeführt. Diese – ausdrücklich als logos, nicht als mythos bezeichnete5 – Erzählung besagt, dass das schon 9000 Jahre vor Solon existierende Ur-Athen dem philosoPoliteia 505 a 2–5, 540 e 1. Bei den »Philosophen« handelt es sich also eigentlich nicht um einen selbständigen Stand, sondern um die vollkommenen Wächter über den »normalen« Wächtern: Hans Herter, Platons Staatsideal in zweierlei Gestalt, in: ders., Kleine Schriften, 1975, S. 259–278 (260 f.). 3 Politeia 473 c 11–e 1. 4 Dazu längst klassisch Werner Jaeger, Paideia – Die Formung des griechischen Menschen, 3 Bde., 2. Aufl. 1936–1954. 5 Kritias 113 b 5. 2

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phischen Idealstaat entsprochen habe. Und dessen Vorzüge hätten das relativ kleine Ur-Athen in den Stand gesetzt, einem übermächtigen Angreifer siegreich zu widerstehen6. Um den Ruhm Ur-Athens mit seiner idealen Verfassung um so heller strahlen zu lassen, schildert Kritias die feindliche Macht unter dem Namen der »Insel des Atlas« (naesos Atlantis) sehr detailliert als ein riesiges Reich enormer militärischer Stärke, größten Reichtums und höchster Zivilisation. Offenbar mischt er hier Züge der beiden Erzfeinde der Griechen im Mutterland und auf Sizilien: der Landmacht Persien und der Seemacht Karthago7. Und dabei geschieht etwas Merkwürdiges und Folgenreiches: Der Atlantis-Mythos beginnt sich zu verselbständigen. Nicht nur, dass Platon von seinen profunden Kenntnissen antiker Kulturen und seiner spürbaren Fabulierlust fortgetragen wird, er beginnt auch eine neue Geschichte. Darin spielt, entgegen der ursprünglichen Konzeption, nicht mehr Ur-Athen mit seiner Stärke kraft seiner Idealverfassung die Hauptrolle, sondern Atlantis, das nun als komplementäres Beispiel für den Niedergang eines mächtigen Reiches mit höchster Zivilisation durch moralischen Verfall dient. Entsprechend dieser pädagogischen Zwecksetzung erfährt jetzt zunächst die Verfassung von Atlantis eine Stilisierung zur überaus segensreichen Herrschaft einer Elite8. Hier stehen freilich nicht die Philosophen, sondern zehn Könige an der Spitze. Vom Schöpfer der Insel Poseidon her göttlicher Abstammung, vom göttlichen Geist durchdrungen sind sie untereinander treu verbunden, wahrhaftig und großherzig, dazu vernünftig und höchst tugendhaft, namentlich von selbstloser Bescheidenheit. Als aber, erzählt Kritias weiter, infolge der Vermischung mit gewöhnlichen Menschen der göttliche Geist in ihnen schwächer wurde und schwand, gewann der menschliche Charakter die Oberhand. Mit Besitzstreben und üppigem Leben setzte der Niedergang der ganzen Zivilisation ein. Da erkannte Zeus, dass »ein wackeres Geschlecht beklagenswerten Sinnes (geworden) sei, und beschloss ihnen eine Strafe aufzuerlegen, damit sie zur Besonnenheit gebracht, verständiger würden …«9. Und diesem Zweck sollte wohl die Inszenierung des Krieges gegen Ur-Athen dienen. Offenkundig passt diese Version der Geschichte, wonach der Sieg Ur-Athens statt als Frucht höchster Tugend vornehmlich als Instrument eines vom Göttervater über Atlantis verhängten Timaios 24 d 6–25 c 6; Kritias 108 e 1–120 c 4. Dazu sehr eingehend Hans Herter, Urathen der Idealstaat, in: ders., Schriften (Fn. 2), S. 279–304; Brigitte Wilke, Vergangenheit als Norm in der platonischen Staatsphilosophie, 1997, S. 167, 174; Christopher Rowe, Myth, History, and Dialectic in Plato’s Republic and Timaeus-Critias, in: Richard Buxton (Ed.), From Myth to Reason?, Oxford 1999, ND 2005, S. 263–278; eingehend auch schon Ernst Gegenschatz, Platons Atlantis, Diss. Zürich 1943, S. 12 ff. u. passim. 7 Dazu Heinz-Günther Nesselrath, Platon und die Erfindung von Atlantis, 2002, S. 8, 28 ff.; zum Folgenden ebd. S. 40 ff. 8 Dazu Heinz-Günther Nesselrath, Platons Kritias, Übersetzung und Kommentar, 2006, S. 308 ff., 430. 9 Kritias 121 a 7–c 1. 6

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Strafgerichts erscheinen muss, aber nicht mehr recht zu ihrem Anfang10: Der Dialog bricht ab. Indes kennen wir das – allerdings gar nicht pädagogische – Ende der ganzen Geschichte schon aus dem Timaios. Darin hatte Kritias früher berichtet, dass Ur-Athen nach dem Sieg über Atlantis mit seiner ganzen Heeresmacht infolge gewaltiger Erdbeben und Überschwemmungen »während eines einzigen schrecklichen Tages und einer Nacht mit einem Male unter die Erde (versank)«. »Und in gleicher Weise«, so dort weiter, »verschwand auch die Insel Atlantis, indem sie in das Meer versank«11. Uns kann der Atlantis-Mythos, dieses Bild einer idealen Gesellschaft, als Leitmotiv der Betrachtung des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik dienen. Groß wie das philosophische Gefälle zeigt sich hier beim ersten Auftritt des Themas der stilistische Abstand der Aufklärungsphilosophie Platons, welche die Mythologie in den Dienst des Logos nimmt12, von der schulmeisterlich-trockenen, stets auf Alltagsnützlichkeit bedachten Art, in der Wolff seinen Glauben an die Vernunft auf allen Feldern der Wissenschaft und des Lebens enzyklopädisch ausgearbeitet hat. Sachlich sind für uns die beiden zentralen Punkte von besonderer Bedeutung, in denen sich Wolff von der Tradition der klassischen politischen Philosophie auf spezifisch moderne Weise unterscheidet. Nämlich: die utilitaristische Reduktion der Staatszwecke auf Sicherheit und Wohlfahrt und die Entmoralisierung oder Technisierung des Wissenschaftsbegriffs. Als »höchste(s) und letzte(s) Gesetz im gemeinen Wesen« nennt die »Deutsche Politik« nicht das Streben nach dem Guten und Gerechten, nach dem dikaion, sondern eudämonistisch die »gemeine Wohlfahrt und Sicherheit«13. Im Sinne der sich herausbildenden bürgerlichen Gesellschaft meint »Sicherheit« »die innere Ruhe und Einigkeit« sowohl wie »den äußeren Frieden und das gute Verständnis mit Auswärtigen«14. Die allgemeine Wohlfahrt wird jetzt mit der Möglichkeit identifiziert, dass »der Mensch« (d. h. jeder Mensch als Individuum in gleicher Weise) den natürlichen Pflichten gegen sich selbst, gegen Gott und die anderen Menschen »desto bequemer« – ein Lieblingsausdruck Wolffs – »ein Genügen tun kann und daran nicht von anderen gehindert wird«15, um so sein Glück zu finden16. Nach die10 Der Harmonisierungsversuch von Wilke, Vergangenheit (Fn. 6), S. 174 f., vermag nicht zu überzeu-

gen. 11 Timaios 25 c 6–d 3. 12 Dazu Theo Kobusch, Die Wiederkehr des Mythos, in: Markus Janka / Christian Schäfer (Hrsg.),

Platon als Mythologe, 2002, S. 44–57. Wolff, Politik (Fn. 1), § 215 (S. 173). Ebd. § 224 (S. 175). Ebd. §§ 224, 227 (S. 175, 178). Zum individuellen Glück, der staatlichen Wohlfahrt sowie dem Verhältnis beider Diethild Maria Meyring, Politische Weltweisheit, Diss. Münster 1963, S. 70 ff., 74 ff.; auch Clemens Schwaiger, Das Problem des Glücks im Denken Christian Wolffs, 1995, S. 94. 13 14 15 16

politik durch wissenschaft überholen – der atlantis-traum der aufklärer

sen Vorgaben auf staatliche Gerichtsbarkeit gemäß allgemeinen Gesetzen reduziert17, verschwindet Iustitia, wie sie in antiker Tradition noch in Ambrogio Lorenzettis berühmter Sieneser Allegorie der guten Regierung gegen Mitte des Trecento als beherrschende Gestalt erscheint, aus den allegorischen Darstellungen der Herrschaft18. Die epochale Wende ist freilich nicht erst von Wolff ins Werk gesetzt. Sie datiert vielmehr vom Anfang des neuzeitlichen französischen Rationalismus oder Intellektualismus und des englischen Empirismus, in deren Horizont sich Wolffs Aufklärungsphilosophie bewegt19.

II. »Neu-Atlantis« und das »Haus Salomons« Die anschaulichste Wendemarke stellt ein Text dar, der 100 Jahre vor Wolffs Deutscher Politik erschien. Er stammt aus dem Nachlass des englischen Juristen, Philosophen und Staatsmanns Francis Bacon, der es unternahm, Philosophie und Wissenschaften auf der Grundlage von Beobachtung und Experiment zu erneuern und die logisch-wissenschaftstheoretischen Schriften des Aristoteles durch sein Novum organum scientiarum abzulösen, und dessen tantum possumus quantum scimus (wie wir es eingangs ähnlich ja schon von Christian Wolff hörten) zu einer Art Schlachtruf geriet: »Wissen ist Macht«. In der Nachfolge des späthumanistischen Staatsromans Utopia des englischen Juristen und Staatsmanns Thomas Morus von 1516, der seinerseits an zentrale Motive von Platons Politeia anknüpfte20 – und fast zeitgleich mit dem »Sonnenstaat« des Dominikanermönchs Tommaso Campanella von 1602 – erzählt das 1627 unter dem Titel »New Atlantis« (Nova Atlantis) aus Bacons Nachlass edierte Textfragment21 – mit ausdrücklichem Bezug auf Platons Mythos – von der Entdeckung eines hochentwickelten geheimnisvollen Inselreichs22. Die Pointe: Bacon macht aus Platons Atlantis-Mythos des Niedergangs einer zunächst dank 17 Wolff, Politik (Fn. 1), § 469 (S. 394 ff.), § 470 (S. 396 f.). 18 Dazu Hasso Hofmann, Bilder des Friedens oder Die vergessene Gerechtigkeit, 2. Aufl. 2008. 19 Zu diesem großen und schwierigen Thema Hans Werner Arndt, Rationalismus und Empirismus

in der Erkenntnislehre Christian Wolffs, in: Werner Schneiders (Hrsg.), Christian Wolff 1679–1754, 2. Aufl. 1986, S. 31–47; Jan Rachold, Die aufklärerische Vernunft im Spannungsfeld zwischen rationalistisch-metaphysischer und politisch-sozialer Deutung, 1999, S. 156 ff.; umfassend und eindringlich Panajotis Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, 2002. 20 Dazu Richard Saage, Politische Utopien der Neuzeit, 1991, S. 15 ff., 323 ff. Zum Folgenden Klaus J. Heinisch (Hrsg.), Der utopische Staat, 1960; Burchard Brentjes, Atlantis – Geschichte einer Utopie, 2. Aufl. 1994, S. 66 ff., 81 ff. 21 In: Works, Ed. James Spedding, Vol. III, London 1859, ND 1963, S. 119–166. 22 Zum Folgenden Wolfgang Krohn, Francis Bacon, 2. Aufl. 2006, S. 167 ff. Die folgenden Zitate im Text nach der von Jürgen Klein hrsgg. Übers., 2003.

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höchster Tugend der Herrschenden überragend reichen Kultur durch moralischen Verfall ein Märchen vom höchstmöglichen Fortschritt einer naturwissenschaftlichtechnisch geprägten Zivilisation. Durch strenge Gesetze eines urzeitlichen Königs am Verkehr mit der Außenwelt gehindert, sei jene Insel, genannt »Bensalem« (was wohl »Land des Friedens« bedeuten soll23), »in dem abgeschiedensten Teil des weiten Weltmeeres« (S. 20) verborgen und unbekannt geblieben. Gleichwohl hat man dort aber zum nicht geringen Erstaunen unserer Seefahrer sogar von den neuesten Entwicklungen in allen Weltgegenden genaueste Kenntnisse. Der Vorsteher des Fremdenheims, in dem die Entdecker zunächst interniert wurden, erklärt es ihnen so: Jener König habe so etwas wie einen Orden gegründet, eine Gesellschaft, die man das »Haus Salomons« nennt und die »der gründlichen Erforschung der wahren Natur aller Dinge« dient (S. 27 f.). Ein Mittel dazu sei auch der »Lichtkauf« (S. 54). Mitglieder der Bruderschaft reisten nämlich incognito regelmäßig in die verschiedensten Weltgegenden, um vor allem »über die Wissenschaften, die Künste, das Gewerbe und die Erfindungen der ganzen Welt« Kunde zu bringen und »bei ihrer Rückkehr Bücher, Instrumente und Muster jeder Art mitzubringen« (S. 29). Mit Geld hinreichend ausgestattet erlangten sie das alles durch Kauf oder durch Belohnung der ihnen gefälligen Leute, offenbar also auch durch das, was man heutzutage Industriespionage nennt24. Einer der »Väter« des »Hauses Salomons«, dessen Auftritt als eine Art von Papst-Prozession geschildert wird25, gibt später in einer Privat-Audienz genaueren Aufschluss über das »Haus Salomons«. Entsprechend dem schon in Bacons »Neuem Organ der Wissenschaften« bestimmten »wahren Ziel der Wissenschaft«, nämlich der »Bereicherung des menschlichen Geschlechts mit neuen Kräften und Erfindungen«26, nennt jener Wissenschaftspapst als Zweck seines Hauses »die inneren Kräfte der Natur zu erforschen und die Grenzen der menschlichen Macht so weit auszudehnen«, wie überhaupt möglich (S. 43)27. Die dafür in Neu-Atlantis eingerichteten Forschungsanlagen, Labors, Versuchsgärten und Werkstätten sind ebenso zahlreich wie vielfältig. Hier eine kleine Auswahl der genannten Gegenstände: Materialforschung; Erzeugung künstlicher Mineralien und Metalle, von Dünger und Treibstoffen; Lebensmittelforschung, Strömungsforschung; Meerentsalzung, Wetterkunde; Züchtungsforschung; Erzeugung und Wirkung von Wärme; optische und akustische Geräte, Flugzeuge, Unterwasserschiffe, Automaten usw. Ganz aktuell: Es gibt sogar ein Kontrolllabor zum Schutz der seriösen Forschung. Dergestalt hebt die Helmut Minkowski, Die Neu-Atlantis des Francis Bacon, Diss. Berlin 1936 (Teildruck), S. 72 f. Dazu Hellmut Bock, Staat und Gesellschaft bei Francis Bacon, Diss. habil. Kiel 1937, S. 141. Dazu Brentjes, Atlantis (Fn. 20), S. 90. Franz Bacon, Neues Organ der Wissenschaften, übers. u. hrsgg. v. Anton Theobald Brück (1830), Nachdr. 1981, S. 60 (Aph. 81 des 1. Buches). 27 Zum Folgenden eingehend Krohn, Bacon (Fn. 22), S. 173 ff. 23 24 25 26

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Bruderschaft das zivilisatorische Niveau, treibt die Entwicklung voran und bestimmt dabei auch deren Richtung. Denn sie allein entscheidet nach ihrem Gutdünken, »ob sich […] eine Entdeckung zur allgemeinen Bekanntgabe eignet oder nicht« (S. 56) und folglich unter die von den Brüdern beschworene Verschwiegenheitspflicht fällt. Damit ist die Frage nach dem Verhältnis dieser wissenschaftlich-technischen zur politischen Macht aufgeworfen. Aber von der staatlichen Ordnung erfahren wir nur beiläufig: Es gibt einen König – Bacon war ein Anhänger der absoluten Monarchie –, einen Senat und Stadtpräfekten. Das ist alles28. Dagegen wird der patriarchalische Aufbau der Familien detailreich und anschaulich geschildert. Eine strenge Sexualmoral schützt die Monogamie. Die gesellschaftliche Ordnung ist vollkommen statisch; die Menschen agieren in der Öffentlichkeit höchst diszipliniert. Ansonsten scheint die Lebensart offen und tolerant. Es herrscht Religionsfreiheit. Die hohe Wissenschaftskultur beruht indes auf jüdisch-christlicher Religiosität, die als integrierende Basis29 freilich keine konfessionellen Konturen erkennen lässt. Die täglichen Liturgien und Gesänge der Brüder des Hauses Salomons gelten dem Lobpreis des Schöpfers all der wunderbaren Werke der sechs Tage, ihre Gebete dem göttlichen Segen ihrer Arbeit. Es ist derselbe aufklärerisch-deistische Ton, wie er bei Christian Wolff wiederkehrt30. Die Verbindung von grenzenlosem Drang der Naturbeherrschung, Geheimhaltung, wie man sie an sich aus Zünften und Geheimbünden kennt, und religiöser Demut demonstriert etwas Neues: die Verantwortung der Wissenschaftler für den gesellschaftlichen Nutzen der Wissenschaft, für die Förderung des Gemeinwohls, die Hebung des Lebensstandards aller und den Fortschritt in der Humanität. Und Bacon stellt alles das mit jener Arkanpraxis über die Staatsräson31. Neu-Atlantis wird so zu einer Chiffre für die Menschheitsutopie einer die Politik dominierenden Wissenschaft, des wissenschaftlichen Fortschritts, der Lösung sozialer Probleme durch wachsenden Wohlstand und befriedender wissenschaftlicher Methodik32. Bacons Hauskaplan und Vertrauter William Rawley, der das Fragment über NeuAtlantis herausgegeben hat, schrieb in seinem Vorwort dazu, der Verfasser habe »im Sinne (gehabt), in dieser Fabel ein Buch über die Gesetze [!] oder über die beste Staatsverfassung [!] zu schreiben« (S. 175). Doch drohte das Werk ihn allzu lang von seinen naturwissenschaftlichen Arbeiten abzuhalten. Aber angesichts der 12jährigen 28 Dass der König aus dem Kreis der Väter des Hauses Salomons hervorgegangen sei (so Bock, Staat

[Fn. 24] S. 147), ist aus Bacons Text nicht zu belegen. Zum Folgenden Friedemann Richert, Der endlose Weg der Utopie, 2001, S. 37 ff. 29 Gerhard Kanthak, Der Akademiegedanke zwischen utopischem Entwurf und barocker Projektmacherei, 1987, S. 30. 30 Dazu Günter Gawlick, Christian Wolff und der Deismus, in: Schneiders, Wolff (Fn. 19), S. 139– 147. 31 Krohn, Bacon (Fn. 22), S. 176 ff. 32 Dazu Kanthak, Akademiegedanke (Fn. 29), S. 26 f.

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Bearbeitungszeit mit zahlreichen Umgestaltungen33 klingt das wenig überzeugend. Die Wahrheit ist wohl: Eine Weiterführung in dieser Richtung wäre einfach zu heikel gewesen34. Es gab allen Grund, die Zensur zu fürchten. Wie alle anderen Modernisierer und Aufklärer war sich Bacon bewusst, dass es eine Sache ist, für die Wissenschaft eine neue, fortschrittliche Orientierung anzuregen oder zu fordern, eine ganz andere, eine bessere politische Ordnung zur Diskussion zu stellen. Denn, so hatte er schon im »Neuen Organon« geschrieben, »in (wissenschaftlichen Angelegenheiten) hat man keineswegs Gefahr von der Aufklärung, wie in jenen (bürgerlichen) von einem Aufruhr zu befürchten. In Staatssachen ist nun selbst eine Verbesserung wegen der damit verknüpften Störung bedenklich, weil die gesellschaftlichen Verhältnisse auf Ansehen, Übereinkunft, Ruf und Meinung, nicht auf Gründen beruhen«35. Dasselbe Muster einer Zwei-Welten-Praxis zeigt sich in dem rationalistischen oder intellektualistischen Gegenstück zu Bacons empiristischem »Neuen Organ«, der nur wenige Jahre jüngeren »Abhandlung über die Methode« von René Descartes. Diese der Sache nach Bacons Unternehmen durchaus verwandte Schrift – die ja ebenfalls auf die Überwindung der Schulphilosophie durch eine Wissenschaft zielt, geeignet, uns »zu Herrn und Eigentümern der Natur zu machen«36 – zeigt, dass die radikale Selbstvergewisserung der subjektiven Vernunft und ihrer Fähigkeit der Naturerkenntnis und -beherrschung politische, moralische und religiöse Anpassung zur Grundlage hat. Lautet der erste der (freilich nicht mehr dogmatischen, sondern nur noch provisorischen, d. h. vorläufigen) moralischen Grundsätze Descartes’ doch, »den Gesetzen und Sitten (des) Vaterlands zu gehorchen, die [sc. angestammte] Religion standhaft beizubehalten […], in allen übrigen Dingen [sich] nach den mäßigsten […] Ansichten zu richten […]«. Dem Politiker und Wissenschaftler Francis Bacon gelang es nicht, die beiden Sphären in seinem Leben zu integrieren; er schwankte beständig zwischen beiden37. Was sie verklammerte, war allein der Gedanke der Macht: Macht über Menschen, Macht über die Natur. In der Tat gab es für die Idee einer Erneuerung aller Lebensverhältnisse durch eine Gesellschaft von Gelehrten weder im Absolutismus der Tudor-Restauration noch unter dem französischen Sonnenkönig eine Möglichkeit der Entfaltung. Doch resultierten aus dem barocken Sinn für fürstliche Repräsentation 33 Bock, Staat (Fn. 24), S. 31. 34 Dazu Bock, Staat (Fn. 24), S. 32 ff.; Minkowski, Neu-Atlantis (Fn. 23), S. 46 f.; zur politischen Vor-

sicht Bacons als Schriftsteller auch Wilhelm Richter, Bacons Staatsdenken, in: Zeitschr. f. Öffentl. Recht VII (1928), S. 367–393 (369). 35 Bacon, Neues Organ (Fn. 26), S. 71. 36 René Descartes, Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Wahrheitsforschung, zit. nach der Übers. v. Kuno Fischer, 1963, S. 58. Das folgende Zit. ebd. S. 23. 37 Dazu Minkowski, Neu-Atlantis (Fn. 23), S. 16 ff.; Bock, Staat (Fn. 24), S. 26, 135 f.

politik durch wissenschaft überholen – der atlantis-traum der aufklärer

und dem Interesse an nützlichen Erkenntnissen und Erfindungen immerhin Nischen für Gelehrtensozietäten. Ihre wissenschaftliche Grundlage hatten sie in England im Baconism, inspiriert waren sie vom »Haus Salomons«. Insbesondere gilt das für die 1662 in London gegründete Royal Society. Der Wahlspruch dieser privaten Gesellschaft lautete: Nullius in Verba, was so viel bedeutet wie: Nicht auf das Wort irgend einer Autorität schwören! Der königliche Titel beruhte auf einer Charta Karls II. mit einigen wichtigen Privilegien: Druckerlaubnis, Freiheit der Korrespondenz auch mit dem Ausland, Gründung eines College als Versammlungs- und Arbeitsort und Zugang zu Leichen für anatomische Studien. Dafür verlangte die Tudor-Restauration Unterordnung in allen theologischen und politischen Fragen samt Verzicht auf das gesellschaftliche Reformprogramm und die Erziehungspläne38. Das kontinentale Gegenstück zur Royal Society von 1662, die Académie des Sciences Ludwigs XIV. von 1666, signalisierte schon mit ihrem Namen, dass in der wissenschaftsorganisatorischen Bewegung des 17. und 18. Jahrhunderts außer dem utopischen »Haus Salomons« noch ein anderes, ein historisches Vorbild wirkte: die Akademie Platons.

III. Relativierung der Politik durch Rationalisierung der Welt – Die Akademiebewegung Von dem gescheiterten Versuch, auf den Tyrannen von Syrakus, den älteren Dionysios, unmittelbar staatsphilosophisch einzuwirken, zurückgekehrt, gründete Platon, sein politisch-pädagogisches Ziel geistiger und moralischer Erneuerung nach wie vor im Blick, eine Schule39. Dort wirkte er die nächsten 20 Jahre, bevor er das Experiment direkter Politikberatung im Sinne seiner Politeia beim jüngeren Dionys noch zweimal wiederholte, mit eher katastrophalem Ergebnis freilich40. Jene Philosophenschulen, rechtlich gesehen private Kultvereine zur Verehrung der Musen41, 38 Dazu Krohn, Bacon (Fn. 22), S. 190 ff.; siehe auch Minkowski, Neu-Atlantis (Fn. 23), S. 5; Margery

Purver, The Royal Society: Concept and Creation, London 1967, bes. S. 22 ff., 63 ff., 128 ff.; Wolfgang van den Daele, Die soziale Konstruktion der Wissenschaft, in: Gernot Böhme u. a. (Hrsg), Experimentelle Philosophie, 1977, S. 129–182 (136 f., 140); Kanthak, Akademiegedanke (Fn. 29), S. 59 ff. 39 Dazu Kurt Wachsmuth / Paul Natorp, Art. Akademie, in: August F. Pauly / Georg Wissowa, Real-Encyklopädie der classischen Altertumswissenschaft, Bd. I, 1894, Sp. 1132–1137; Otto Seel, Die platonische Akademie, 1953, S. 13 ff. 40 Nach der Vorgeschichte sah sich Platon veranlasst, in seinem siebenten und achten Brief wortreich zu erklären, warum er sich auf die zweimalige Wiederholung seiner so ernüchternden Sizilienreise überhaupt eingelassen hatte. Dazu Jaeger, Paideia (Fn. 4), Bd. 3, 1947, S. 271 ff. 41 Dazu Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorff, Antigonos von Karystos, 2. Aufl. 1965, S. 263 ff.: Exkurs über die rechtliche Stellung der Philosophenschulen; siehe auch Otto Immisch, Academia, 1924, S. 4 f.

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waren Stätten der Wissenschaft. Aus dem schon erwähnten Dialog Timaios wissen wir, dass in Platons Schule, die, wie üblich, nach ihrer Lage am Hain des Akadaemos »Akadaemeia« genannt wurde, neben der Philosophie im engeren Sinn auch Einzelwissenschaften gepflegt wurden, von der Astronomie und Elementenlehre bis zur Anatomie, Physiologie und Medizin42. Unter einer langen Reihe von Schulhäuptern bestand die Akademie ungefähr 900 Jahre bis sie als widerständige heidnische Einrichtung 529 vom christlichen byzantinischen Kaiser Justinian geschlossen wurde (der allerdings seinerseits durch ein heidnisches Werk ewigen Ruhm erlangte: das Corpus Iuris Civilis 43). Abermals 900 Jahre später erlebte die Schule im Mediceischen Florenz eine Wiedergeburt in Gestalt der Accademia Platonica 44. Sie war im Gegensatz zum Athener Vorbild ein eher lockerer Kreis um den vielseitigen und stimulierenden Marsilio Ficino, der indes nur als Übersetzer Platons in Erinnerung geblieben ist45. Man beschäftigte sich mit Platon, dem Theologen und Moralphilosophen. Der (Neu-)Platonismus der Florentiner Akademie richtete sich also nicht gegen Glaube und Kirche, sondern gegen die dogmatische Theologie und den auf Logik und Physik verengten scholastischen Aristotelismus. Mit der neuplatonisch durchwirkten griechischen Patristik rückte sie die Freiheit und gottgleiche geistige Schöpferkraft des Menschen in den Mittelpunkt46. Den »zweiten Gott« nannte ihn aus demselben Geist wenig später Nikolaus von Kues 47. Ficinos Akademie hatte eine große Ausstrahlung, galt als Ideal einer wissenschaftlichen Gesellschaft, nicht von ungefähr namentlich in Frankreich48, wo mit Katharina ja eine Medici Königin geworden war und wo am Hofe der 42 Kritisch zu dieser Annahme Ernst Howald, Die Platonische Akademie und die moderne Universitas

Litterarum, 1921, S. 17 ff., und passim; Antikritik bei Immisch, Academia (Fn. 41), S. 11 ff. 43 Dazu Hasso Hofmann, Das antike Erbe im europäischen Rechtsdenken, in: Walter Jens / Bernd

Seidensticker (Hrsg.), Ferne und Nähe der Antike, 2003, S. 33–47 (35). 44 Hierzu und zum Folgenden Arnaldo della Torre, Storia dell’Accademia Platonica di Firenze, 1902,

S. 563 ff.; Eugenio Garin, Der italienische Humanismus, 1947, S. 105 ff.; Paul Oskar Kristeller, Die platonische Akademie in Florenz, in: Studia humanitatis, 1959, S. 35–47 = ders., The Platonic Academy of Florence, in: Renaissance News XIV (1961), S. 147–159; August Buck, Die humanistischen Akademien in Italien, in: Fritz Hartmann / Rudolf Vierhaus (Hrsg.), Der Akademiegedanke im 17. und 18. Jahrhundert, 1977, S. 11–25 (13 ff.); Tamara Albertini, Marsilio Ficino, 1997. Zu Ficinos Beschäftigung mit Platon jetzt maßgeblich Eckhard Keßler, Die Philosophie der Renaissance, 2008, S. 102 ff., 107 ff. 45 Siehe aber die umfassende und facettenreiche Würdigung durch Paul Oskar Kristeller, Die Philosophie des Marsilio Ficino, 1972. 46 Zu dieser Tradition und zum Folgenden einige Hinweise bei Hasso Hofmann, Methodische Probleme der juristischen Menschenwürdeinterpretation, in: Ivo Appel / Georg Hermes (Hrsg.), Festschrift für Rainer Wahl, 2008, S. 47–78 (56 f.). 47 Zu der Aktualisierung dieser bis in die Antike zurückreichenden Bezeichnung durch den Cusaner Vinzenz Rüfner, Homo secundus Deus, in: Philosophisches Jahrbuch 63 (1955), S. 248–291 (267 ff.). 48 Dazu Albertini, Ficino (Fn. 44), S. 26, 31 ff., 34 ff.; siehe auch Kristeller, Philosophie (Fn. 45), S. 46 bzw. S. 157 f.

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Margarete von Navarra die Florentiner Autoren gelesen wurden. Des »Akademikers« Giovanni Pico della Mirandola große Oratio de hominis dignitate hat heutzutage sogar Eingang in die juristischen Kommentare zu Art. 1 des Grundgesetzes über die Unantastbarkeit der Menschenwürde gefunden49. Weitere Akademiegründungen folgten. Galt das Interesse zunächst vornehmlich der Sprache und Literatur, traten später mehr und mehr die Naturwissenschaften in den Vordergrund. Genannt seien nur die Academia Secretorum Naturae in Neapel 1560, die Academia dei Lincei in Rom 1603, die Academia Naturae Curiosorum in Schweinfurt 1652 (die spätere Leopoldina)50 und die von dem großen Reformer unter Ludwig XIV., Jean-Baptiste Colbert, nicht zuletzt aus militärtechnischem Interesse an Nautik und Ballistik gegründete und der Pariser Académie française von 1635 angegliederte hoch bedeutende Académie des Sciences 1666 in Paris51. Sie hatte Sektionen für Naturgeschichte, Physik, Chemie sowie Mathematik und vergab jährlich beachtliche Preisgelder für die nützlichste Entdeckung. Geleitet wurde sie von ständigen Sekretären. Seit 1776 war es der junge Mathematiker Condorcet 52. Eine gewichtige Rolle in der Akademiebewegung, die im 18. Jahrhundert allein in Frankreich etwa 40 derartige Einrichtungen hervorbrachte53, spielte nach anfänglichen Schwierigkeiten auch die Preußische Akademie der Wissenschaften, 1700 als Churfürstlich-Brandenburgische Societät der Wissenschaften gegründet54. Initiator und dann ihr erster Präsident auf Lebenszeit war bekanntlich Leibniz, Mitglied der Royal Society seit 1673. (Um die Aufnahme in die Académie des Sciences hatte er sich vergeblich bemüht.) In dem aufklärerischen Bestreben rationaler »Generalreform« der Welt betonte Leibniz die Verbindung von Theorie und Praxis55. Denn davon versprach er sich und den Förderern des Projekts (der Kurfürstin Sophie Charlotte und dem Hofprediger Jablonski) vielfältig reichen Nutzen: für die fürstliche Repräsentation, die Förderung der christlichen Religion und für die allgemeine Wohlfahrt und Zivilisierung. So 49 Siehe nur Horst Dreier, in: ders (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Art. 1 I Rn.

9. Zu Pico jetzt vorzüglich Keßler, Philosophie (Fn. 44), S. 114 ff. 50 Dazu Rolf Winau, Zur Frühgeschichte der Academia Naturae Curiosorum, in: Hartmann/Vierhaus,

Akademiegedanke (Fn. 44), S. 117–137. 51 Dazu Werner Krauss, Studien zur deutschen und französischen Aufklärung, 1963, S. 42 f. 52 Keith Michael Baker, Condorcet – From natural philosophy to social mathematics, Chicago 1975, franz. Übers. u. d. T. Condorcet – Raison et Politique, Paris 1988, S. 52 ff. 53 Ernst Schulin, Die Französische Revolution, 1988, S. 175. 54 Dazu Kanthak, Akademiegedanke (Fn. 29), S. 89 ff.; Adolf Harnack, Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Bd. I.1, 1900 (ND 1970), S. 73 ff. 55 Seine nachfolgend zit. Denkschrift vom März 1700 bei Adolf Harnack, Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Bd. II, 1900 (ND 1970), S. 76–78. Dazu Kanthak, Akademiegedanke (Fn. 29), S. 72 ff.

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heißt es in seiner Denkschrift vom März 1700: »[…] man müste gleich Anfangs das Werck samt der Wissenschaft auf den Nutzen richten, und auf solche Specimina dencken, davon der hohe Urheber Ehre und das gemeine Wesen ein Mehreres zu erwarten Ursach habe.« Und weiter würde durch den »Zweck theoriam cum praxi zu vereinigen […] die überschwängliche Ehre Gottes mehr ausgebreitet, und dessen Wunder besser als bisher erkennt, mithin die christliche Religion, auch gute Policey, Ordnung und Sitten theils bei heidnischen, theils noch rohen, oder wol gar barbarischen Völkern gepflanzet oder mehr ausgebreitet [werden]«. Unter dem »Soldatenkönig«, der an der Gründung seines Vaters wenig Interesse hatte, kam die Akademie, allerdings auch durch Untätigkeit der Mitglieder, ganz herunter. Immerhin aber schätzte der König Mediziner und Chemiker ob ihrer praktischen Nützlichkeit und beschränkte seine gelegentlichen Misshandlungen daher auf die geisteswissenschaftlichen Akademiemitglieder56. Der Organisationserlass Friedrichs des Großen von 1744 zum Neuaufbau der Akademie57 ist – fast möchte man sagen: selbstverständlich – ein gänzlich säkularer Text. Statt von der Ehre Gottes und des Fürsten ist nun von der landesväterlichen Fürsorge, dem Glück der Untertanen und der Wohlfahrt des Landes, auch der Ehre des Volkes die Rede, wenn es dort heißt: der »gemeine Nutzen« erfordere »die Aufnahme, Verbesserung und Ausbreitung der Wissenschaften und aller guten Künste, die einem Volcke zum Nutzen und zur Ehre gereichen«. Die Naturwissenschaften einschließlich der Naturgeschichte wurden durch die beiden Klassen für Physik und Mathematik abgedeckt, die philosophische Klasse hatte sich auch um das Naturrecht zu kümmern und der Klasse für Philologie oblag nicht nur die Pflege der Sprachen, sondern auch der Altertumskunde, der Kirchen- sowie der Profangeschichte und der Literatur. »Gäntzlich ausgeschlossen« waren die »geoffenbahrte Theologie«, die »bürgerliche Rechtsgelehrsamkeit« und die »bloße Poesie und Beredsamkeit«. Für einen Moment ist die Preußische Akademie der Wissenschaften in der europäischen Wahrnehmung sogar an die Spitze des aufklärerischen Fortschritts getreten, und zwar mit einer Preisfrage. Mit solchen Preisfragen stellten die Akademien des 18. Jahrhunderts zentrale Probleme aus dem ganzen Spektrum ihrer Arbeitsbereiche zur öffentlichen Diskussion und aktivierten damit im Interesse des wissenschaftlichen, geistigen und gesellschaftlichen Fortschritts in weitem Umfang außerakademischen Sachverstand58. Zwei derartige Preisfragen sind in die Geschichte eingegangen – durch die Antworten, die Rousseau der Akademie von Dijon in seinen beiden berühmten 56 Dazu Harnack, Geschichte I.1 (Fn. 54), S. 215 ff.; zum Folgenden ebd. S. 245 ff. 57 Harnack, Geschichte II (Fn. 55), S. 263–268. 58 Dazu eingehend Andreas Kraus, Die Bedeutung der deutschen Akademien des 18. Jahrhunderts für

die historische und naturwissenschaftliche Forschung, in: Hartmann/Vierhaus, Akademiegedanke (Fn. 44), S. 139–170 (140 ff.).

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Diskursen über »Kunst und Wissenschaft« und »Über die Ungleichheit« 1750 (erfolgreich) und 1755 (ohne Erfolg)59 gegeben hat. 1780 nun fragte die Preußische Akademie der Wissenschaften, ob es für das Volk nützlich sei, getäuscht zu werden, sei es durch Verleitung zu neuen oder durch Erhaltung vorhandener Irrtümer60. Vor dem Hintergrund der Kabinettspolitik des Absolutismus mit seiner Arkanpraxis schien das kühn. Die Pointe: Die Preisfrage stammte von dem aufgeklärtesten Kopf Preußens: dem König selbst. Er, der seit 1763 die Präsidentschaft führte – beraten durch den Mathematiker und Enzyklopädisten d’Alembert, den »heimlichen Präsidenten«, der nicht nach Berlin hatte kommen wollen – stürzte seine Akademie damit in nicht geringe Verlegenheit. Sollte sie eine der Einsendungen krönen, die mehrheitlich die Preisfrage verneinten, und damit die Geheimpolitik der Könige sittlich verurteilen oder mit der Auszeichnung einer der positiven Antworten eine machiavellistische Position amoralischer Politik einnehmen? Der politisch vorsichtige Christian Wolff hätte wahrscheinlich gesagt, es gäbe vernünftige Gründe für beide Optionen. Tatsächlich zog sich die Akademie auf dieser Linie aus der Affäre: Man teilte den Preis und krönte sowohl eine Bejahung wie eine Verneinung der Preisfrage. Hatten die Akademien aufs Ganze gesehen auch keine unmittelbaren politischsozialen Wirkungen, ist doch dreierlei bemerkenswert. Die Akademiebewegung des 17. und 18. Jahrhunderts markiert den Anfang einer zentralistisch-hierarchischen Wissenschaftsorganisation. Zum zweiten war die Binnenstruktur der Akademien durch wissenschaftliche Freiheit und zunehmend durch die Gleichheit der als Philosophen, Mathematiker, experimentierende Naturwissenschaftler, Erfinder und Ärzte ausgewiesenen Mitglieder bestimmt und stand so in einem inneren Widerspruch zu den Bauprinzipien des Ancien régime 61. Drittens schließlich und hauptsächlich waren in den Akademien starke Motive der Menschheitsbeglückung sozusagen eingekapselt62: der Humanismus und die schöpferische Freiheitsphilosophie der Florentiner Renaissance, der naturwissenschaftliche Baconism, der den Impuls einer »Reformation der ganzen weiten Welt« aus den Tagen der puritanischen Revolution Englands aufgenommen hatte, und die Utopie der Bruderschaft von Neu-Altantis, diese Verheißung wissenschaftlichen und sozialen Fortschritts und einer alle Zwietracht über-

59 Jean-Jacques Rousseau, Über Kunst und Wissenschaft – Über den Ursprung der Ungleichheit unter

den Menschen, zweisprachige Ausg. v. Kurt Weigand, 1955. Maßgebliche Grundlage für die Arbeit mit dem philosophisch bedeutenderen 2. Diskurs ist dessen vorbildliche Edition von Heinrich Meier, 5. Aufl. 2001. 60 Hierzu und zum Folgenden Harnack, Geschichte I.1 (Fn. 54), S. 417 ff. 61 Über die zunehmende »Zivilisierung« des Adels in den Akademien Schulin, Revolution (Fn. 53), S. 176. 62 Siehe dazu in der umgekehrten Blickrichtung Kanthak, Akademiegedanke (Fn. 29), S. 63.

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windenden wissenschaftlichen Methode63. Von hier aus konnten diese Ideen auch wieder aufblühen, wie das bei Wolff und Condorcet zu sehen ist. Wolff, schon in jungen Jahren als europaweit anerkannter Mathematiker in die Preußische Akademie und die Royal Society aufgenommen, gibt in seiner Politik dem Akademiegedanken breiten Raum64. Die Hauptaufgabe sieht er, Systematiker der er ist, darin, alle behaupteten Wahrheiten zu sammeln, einer scharfen Prüfung zu unterziehen und das für richtig Befundene »in gehörige Ordnung [zu] bringen« sowie »miteinander [zu] verknüpfen«, um dann in einem zweiten Schritt weitere Erkenntnisse daraus zu ziehen und neue Erfindungen zu machen (§ 309, S. 224). In ähnlicher Weise habe die Akademie insbesondere auch alles, was zu Acker- und Weinbau sowie zur Viehzucht gehört, zu untersuchen und »in Form einer Wissenschaft zu bringen« (§ 488, S. 431). Eine »sehr nützliche Arbeit« für die Akademie sah Wolff ferner darin, »die Gesetze, welche an allerhand Orten und bei allerhand Völkern üblich sind«, daraufhin zu prüfen, ob man sie unter Berücksichtigung der jeweiligen Lebensverhältnisse und Geltungsbedingungen dort und hier als überall nützlich zum gemeinen Besten übernehmen könnte (§§ 413 u. 414, S. 339/40). Schließlich spricht auch noch der Mathematiker Wolff: Nur die Akademie der Wissenschaften habe das Vermögen, durch Beurteilung der Wahrscheinlichkeiten nützliche Geschicklichkeits-, aber auch Strategiespiele (in denen es auf das »Nachdenken« ankommt) von schädlichen Glücksspielen zu unterscheiden, die verboten werden müssten (§ 395, S. 320 f.). Wolffs Ausführungen gipfeln in den Worten: »Da alles sich auf richtige Erkenntnis der Wahrheit gründet, was der Mensch vornehmen kann, so ließe sich gar leicht erweisen […], wie die Glückseligkeit des menschlichen Geschlechts und aller Stände unter ihnen von einer wohl eingerichteten Akademie der Wissenschaft abhängt« (§ 309, S. 223). Die Überzeugung, dass eine »wohl eingerichtete Akademie« die Gesellschaft insgesamt zu ihrem Heil umformen könne, teilte mit Wolff der größte der Fortschrittsoptimisten der Aufklärung, der ständige Sekretär der Pariser Académie des Sciences: Marie Jean Antoine Nicolas Caritat, Marquis von Condorcet 65. Folglich begrüßte er den Durchbruch der Aufklärungsphilosophie in seiner Akademie mit dem Ausruf: La verité a vaincu, le genre humain est sauvé.66 Dazu van den Daele, Konstruktion (Fn. 38), S. 142, 152 f., 164. Die folgenden Zitate im Text wiederum nach der in Fn. 1 genannten Ausgabe. Dazu Baker, Condorcet (Fn. 52), S. 75. Zit. nach Krauss, Studien (Fn. 51), S. 46. Siehe zum Folgenden in erster Linie Rolf Reichardt, Reform und Revolution bei Condorcet, 1973; Horst Dippel, Individuum und Gesellschaft, 1981, S. 155 ff.; David Williams, Condorcet and Modernity, Cambridge 2004; ferner Baker, Condorcet (Fn. 52); Ronald V. Sampson, Progress in the Age of Reason, Melbourne (u. a.) 1956, S. 118 ff.; Robert Nisbet, History of the Idea of Progress, New York 1980, S. 209 ff.; Alberto Cento, Condorcet e l’Idea di progresso, Firenze 1956, S. 67 ff. 63 64 65 66

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IV. Der revolutionäre Traum vom Fortschritt zu irdischer Vollkommenheit durch Wissenschaft und Technik Der Adel, aus dem er kam, bedeutete ihm nichts. Der militärischen Laufbahn verweigerte sich der Sohn eines Kavallerieoffiziers und studierte stattdessen Mathematik. Condorcets Leben war die Wissenschaft und dann die Politik. Als Mathematiker ist er durch die Begründung der »sozialen Mathematik« in die Geschichte eingegangen. Sie suchte die Wahrscheinlichkeitsrechnung auf alle Arten von kollektiven Willensund Urteilsbildungen anzuwenden, namentlich auf Mehrheitsentscheidungen. Von der Überzeugung getragen, dass es auch in der Politik um Wahrheit gehe und nicht bloß um Leidenschaften, Meinungen und Interessen, und dass auch diese Wahrheit mit naturwissenschaftlicher Exaktheit bestimmbar sei, glaubte er das Regieren auf die Anwendung fester Regeln nach bestimmten Entscheidungsverfahren einschränken und schließlich ganz überflüssig machen zu können. So gut wie nichts solle der Willkür überlassen bleiben. Presque rien ne reste arbitraire, notiert Condorcet67. In der Politik engagierte er sich als enger Mitarbeiter des Reformministers Turgot. Er kämpfte gegen die Frondienste und verfocht die Freiheit des Getreidehandels, schrieb Traktate zur Emanzipation der Protestanten, gegen die Sklaverei der Neger und für eine Strafrechtsreform. 1789 schloss er sich der Revolution an und wurde 1791 in die Gesetzgebende Nationalversammlung gewählt. In deren Auftrag verfasste er den Entwurf einer »Nationalerziehung«. Darin forderte er die Beseitigung aller Klassenunterschiede im Bildungswesen, dessen Unabhängigkeit von Staat und Kirche, sowie eine umfassende Weiterbildung der Erwachsenen68. Als Mitglied des Verfassungsausschusses des 1792 gewählten Nationalkonvents arbeitete er am (girondistischen) Entwurf einer Verfassung mit69. Im Kampf der »Bergpartei« gegen die Girondisten70 verfolgt, konnte er sich der Verhaftung zunächst entziehen und bis März 1794 verborgen halten. Auf der Flucht gefasst, wurde er am nächsten Morgen tot in seiner Zelle gefunden. Ob er durch Gift oder an Erschöpfung starb, ist ungeklärt. Während in Frankreich der Schrecken herrscht, schreibt Condorcet, der Geächtete, in seinem Pariser Versteck, unerschüttert in seinen Überzeugungen, ohne ein einziges Buch zur Hand zu haben, seinen »Entwurf einer historischen Darstellung 67 Zit. nach Reichardt, Reform (Fn. 66), S. 243; dazu auch Williams, Condorcet (Fn. 66), S. 103 ff. 68 Dazu Dippel, Individuum (Fn. 66), S. 187 ff.; Wiltrud Ulrike Drechsel, Erziehung und Schule in der

Französischen Revolution, 1969, S. 11 ff.; jetzt Stephan Lüchinger, Das politische Denken von Condorcet (1743–1794), Bern (u. a.) 2002, S. 38 f., 308 ff., 316 f. 69 Dazu Alfred Stern, Condorcet und der girondistische Verfassungsentwurf von 1793, in: Historische Zeitschrift 141 (1930), S. 479–496; jetzt Lüchinger, Condorcet (Fn. 68), S. 47 ff., 231 ff., 241 ff. 70 Dazu Schulin, Revolution (Fn. 53), S. 198 ff.

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der Fortschritte des menschlichen Geistes«71. Diese »begeisterte Skizze«72 gliedert die Menschheitsgeschichte in neun Epochen. Sie sollen zeigen, »dass die Natur der Vervollkommnung der menschlichen Fähigkeiten keine Grenzen gesetzt hat« (S. 29), weder den intellektuellen noch den moralischen, auch nicht den physischen. Als erster Höhepunkt und großes Vorbild erscheinen die »Fortschritte des menschlichen Geistes in Griechenland« (4. Epoche). Demokrit und Pythagoras treten als Vorläufer von Descartes und Newton auf, Sokrates als philosophischer Vorkämpfer gegen den Aberglauben der Priester. Die einzige neue Wissenschaft, die wir Rom verdanken, ist die Rechtswissenschaft; im Übrigen formt das Imperium das Gefäß, in das sich die »Flut des neuen Aberglaubens ergießt« (5. Epoche, S. 147, 157). Der »Niedergang der Aufklärung« unter der Papstkirche macht die 6. Epoche aus. Ab hier frönt Condorcet jener leidenschaftlichen Kirchenfeindschaft, die – unter den Verhältnissen des Ancien régime nur allzu verständlich – die französische Aufklärung von der deutschen unterscheidet. Viel freundlicher wird – wegen der anfänglichen Förderung der Wissenschaften – der arabische Islam behandelt. Das Ergebnis ist allerdings paradox. Condorcet schreibt (S. 187): »Ich werde darlegen, warum die Religion des Mohammed, die in ihren Dogmen die allereinfachste, in ihren Übungen die am wenigsten widersinnige und in ihren Prinzipien die toleranteste ist, jenen gewaltigen Teil der Erde, auf den sie ihre Herrschaft ausgedehnt hat, anscheinend zu ewiger Knechtschaft, zu unheilbarer Stumpfheit verurteilt, während wir den Genius der Wissenschaft und der Freiheit inmitten des abgeschmacktesten Aberglaubens, der barbarischsten Unduldsamkeit [sc. der Papstkirche] werden glänzen sehen.« Knappen Bemerkungen über die »ersten Fortschritte der Wissenschaften nach ihrer Wiederherstellung im Abendland« seit dem Hochmittelalter (7. Epoche) folgen in der 8. Epoche die Erfindung des Buchdrucks, die Entdeckung Amerikas, die Reformation (die dem Menschen doch wenigstens une sorte de liberté de penser gebracht und das »Joch der priesterlichen Autorität« von ihnen genommen hat) und die Erkenntnisse Bacons, Galileis und des großen Descartes. Das 9. Kapitel »Von Descartes bis zur Entstehung der französischen Republik« listet alle wissenschaftlichen Errungenschaften seiner Zeit auf, nennt aber auch die politischen, die Condorcet selbst durch seine Mitarbeit im Verfassungsausschuss des Konvents gefördert hat. Die für die politische Propaganda rasch entworfene, nie in Kraft getretene Jakobiner-Verfassung vom 24. 6. 1793 führte sie fort73: Anerken71 Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain (1793/94); dt. Übers. v. Wilhelm

Alff u. d. T. Condorcet – Entwurf einer Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes, 1976. Hier zit. nach der zweisprachigen Ausgabe von Wilhelm Alff, 1963. 72 Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen (1949/1953), jetzt in: ders., Sämtliche Schriften 2, 1983, S. 101. 73 Text in: Günther Franz (Hrsg.), Staatsverfassungen, 2. Aufl. 1964, S. 372–396. Dazu Walter Markov,

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nung der Menschenrechte und der politischen Gleichheit, Volkssouveränität und demokratische Gesetzgebung mit Gesetzesreferendum; Einrichtung eines Verfahrens der Verfassungsänderung. Selbst gegenüber der amerikanischen Verfassung sieht Condorcet in der strengen Durchführung des Prinzips demokratischer Gesetzgebung bei Garantie der Menschenrechte und der Ablehnung der konservativen ständischen Gewaltenbalance im Sinne Montesquieus einen weiteren Fortschritt (S. 258 f., 290 f., 294)74. Übrigens enthält dieser Abschnitt auch einen Überblick über die sozialen Anwendungsmöglichkeiten der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Condorcet verweist über das Feld der Mehrheitsentscheidungen hinaus namentlich auf das Gesundheitswesen, die Demographie, die politische Ökonomie, das Versicherungs- und das Steuerwesen. Wenn nun aber trotz der wiederkehrenden Hemmungen und Rückschläge von einem im Ganzen unaufhaltsamen zivilisatorischen Aufstieg auszugehen ist, »warum sollte man es dann noch für ein phantastisches Unterfangen halten, das Bild der künftigen Geschicke des Menschengeschlechts nach den Ergebnissen seiner bisherigen Geschichte mit einiger Wahrscheinlichkeit zu entwerfen?« (S. 345). Im Sinne einer Wissenschaft, die auf der Grundlage der historischen Fortschritte in der Lage ist, »die Fortschritte des Menschengeschlechts vorauszusehen, zu lenken und zu beschleunigen« (S. 43), ergänzt Condorcet seinen Entwurf um ein 10. Kapitel über die »künftigen Fortschritte des menschlichen Geistes« (»10. Epoche«) unter drei maßgeblichen Gesichtspunkten: »Beseitigung der Ungleichheit zwischen den Nationen«; »Fortschritte in der Gleichheit in einem und demselben Volke«; »wirkliche Vervollkommnung des Menschen«. Im Vordergrund steht danach also, modisch gesprochen, die ›Globalisierung‹ des Traumes der Aufklärung: Die Zukunft soll und wird der Ausbeutung der Kolonialvölker ein Ende setzen, ihnen die Unabhängigkeit bringen, sie von ihren Despoten befreien, die europäischen Monopole beseitigen und den freien Handel etablieren (S. 348–355). So wird die Zeit kommen, da die Sonne nur noch auf freie Menschen scheint, »die nichts über sich anerkennen als ihre Vernunft; da es Tyrannen und Sklaven, Priester und ihre stumpfsinnigen und heuchlerischen Werkzeuge nur noch in den Geschichtsbüchern und auf dem Theater geben wird« (S. 355). Differenziert beRevolution im Zeugenstand, Bd. 1, 1987, S. 321 ff.; Albert Soboul, Précis d’histoire de la revolution française, Paris 1962, dt. u. d. T. Die Große Französische Revolution, 5. Aufl. 1988, S. 279 ff.; François Furet / Denis Richet, La Révolution, Paris 1965/66, dt. u. d. T. Die Französische Revolution, 1989, S. 302 f.; Peter Claus Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte der Neuzeit (1450–1980), 1985, S. 51 ff. 74 Siehe dazu Hasso Hofmann, Geschichtlichkeit und Universalitätsanspruch des Rechtsstaats, in: Der Staat 34 (1995), S. 1–32 (20 ff.), u. insbes. Lüchinger, Condorcet (Fn. 68), S. 248 ff., der Condorcets politisches Denken in vorzüglicher Weise unter systematischen Gesichtspunkten darstellt.

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handelt Condorcet das Problem gesellschaftlicher Gleichheit (S. 356–365). Für die Ungleichheit der Lebensverhältnisse nennt er drei Hauptgründe: Ungleichheit des Reichtums; Ungleichheit des Einkommens aus vererblichem Vermögen und aus der zeitlich begrenzten Arbeitskraft; Ungleichheit des Unterrichts. Diese tatsächlichen Ungleichheiten müssen abnehmen, ohne jedoch ganz zu verschwinden, da sie »natürliche und notwendige Ursachen (haben), die beseitigen zu wollen unsinnig und gefährlich wäre« (S. 357). Es kommt vielmehr darauf an, die Kluft zwischen arm und reich zu vermindern und die Lage der Lohnabhängigen durch eine Sozialversicherung zu verbessern. Schließlich will Condorcet zeigen, dass man durch Auswahl des Wissensstoffes und der Unterrichtsmethoden »die ganze Masse eines Volkes über all das belehren kann, was jedermann zur Verwaltung seiner Angelegenheiten, seiner häuslichen Wirtschaft und zur freien Entfaltung seines Fleißes und seiner Anlagen wissen muss« (S. 363). Man kann jedermann über seine Rechte und Pflichten belehren, ihm eine gewisse Gefühlskultur und politisches Urteilsvermögen beibringen, ihn gegen allerlei Aberglauben immunisieren und gegen das »Blendwerk von Scharlatanen« rüsten, »die es auf sein Vermögen abgesehen haben« (S. 363). So wird gut geleiteter Unterricht die natürliche Ungleichheit der Anlagen ausgleichen, werden gute Gesetze der natürlichen Ungleichheit der Unterhaltsmittel abhelfen und wird die verfassungsmäßige Freiheit in den egalitären Gesellschaften größer sein »als in dem unabhängigen Leben der Wilden« (S. 365). Im Mittelpunkt des Schlussabschnitts über die Vervollkommnung des Menschen stehen der Fortschritt von Wissenschaft und Technik, die Verbesserung der Produktionsverhältnisse und die Vermehrung und Verbesserung der Nahrungsmittel. Sollte eine Überbevölkerung die Folge sein, so werde »bis dahin die Vernunft fortgeschritten (sein)« und »die lächerlichen Vorurteile des Aberglaubens aufgehört haben« (S. 375). Und dann werden die Menschen auch wissen, dass ihre Verpflichtung gegenüber den kommenden Generationen nicht darin besteht, ihnen das Leben zu geben, sondern das Glück. Und demgemäß könnte gegen das »kindische Vorhaben, die Erde mit unnützen und unglücklichen Wesen zu bevölkern« eine Schranke der Bevölkerungsvermehrung gesetzt sein, ohne »eine der Natur wie dem Gedeihen der Gesellschaft widersprechende Vernichtung eines Teils der Wesen […], die das Leben empfangen haben« (S. 375). Die Anwendung von Kombinatorik und Wahrscheinlichkeitskalkül auf soziale und politische Gegenstände und die Entwicklung der Sprachwissenschaft bis hin zu einer universalen Sprache von Zeichen und Symbolen wird der Wissenschaft von Politik und Moral zu einer quasi naturwissenschaftlichen Präzision verhelfen und damit letztlich zur Perfektion der staatlichen Einrichtungen und Gesetze führen (S. 376–383, 388–393). Einer der wichtigsten Fortschritte des menschlichen Geistes für das allgemeine Wohl sei »die völlige Beseitigung der Vorurteile […], die

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zwischen den beiden Geschlechtern eine Ungleichheit der Rechte gestiftet haben« (S. 383). Condorcet sieht hier einen Zusammenhang mit nationalen Sitten aus Versagung, heuchlerischem Schein, Furcht vor Schmach und religiösen Schrecken und deutet deren potentielle Unfriedlichkeit an. Natürlich kennt Condorcet den epochalen Traktat Saint-Pierres vom ewigen Frieden75 und spielt darauf an, setzt aber über den Gedanken eines europäischen Bündnissystems hinaus auf die moralische Entwicklung. So werden, meint er, die aufgeklärten Völker allmählich lernen, den Krieg als das größte aller Verbrechen anzusehen und zur Völkerverständigung, zur »Brüderlichkeit unter den Nationen« fortzuschreiten (S. 385). Zum Stichwort physischer Vervollkommnung wagt Condorcet schließlich die Prognose steigender, aber nicht definierbarer Lebenserwartung (S. 394–399), womit er ein altes Motiv aufnimmt. Denn die Verlängerung des menschlichen Lebens gehört schon seit Roger Bacon, also seit dem 13. Jahrhundert, zum Repertoire aller Fortschrittstheorien76.

V. Das universelle Atlantis der Zukunft In diesem Fortschrittstraum taucht nun noch einmal Atlantis auf. Die Rede ist von einem der Fragmente, die die berühmte Esquisse sozusagen umkränzen. Die Nr. 9, in Frankreich seit 1804 bis 1988 mehrfach gedruckt, in Deutschland jedoch ziemlich unbekannt, trägt die Überschrift: »Atlantis oder die vereinten Kräfte des Menschengeschlechts für den Fortschritt der Wissenschaft«77. Condorcet nimmt ausdrücklich auf Bacon und dessen Idee einer nur der Erforschung der Wahrheit gewidmeten Sozietät Bezug. Was ihn dabei besonders fasziniert, ist zum einen Bacons Gedanke einer weltumspannenden Sammlung von Forschungsdaten und Erkenntnissen und zum anderen die Erzählung von den zahlreichen und vielfältigen großen Laboratorien, Beobachtungsstationen und Versuchsanlagen, die eine generationenübergreifende Langzeitforschung ermöglichen. Am Ende dieser Einleitung präzisiert Condorcet sein Thema: la réunion générale des savans du globe dans une république universelle des sciences (S. 877). 75 Abbé Charles-Irénée Castel de Saint-Pierre, Der Traktat vom ewigen Frieden (1713), hrsgg. v. Wolf-

gang Michael, 1922. 76 Roger Bacon, Liber de retardatione accidentium senectutis, zit. nach Joachim Ritter, Art. Fortschritt,

in: ders. (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, 1972, Sp. 1032–1059 (1036 f.). 77 Atlantide ou efforts combinés de l’espèce humaine pour le progrès des sciences, zit. nach Marie Jean An-

toine Condorcet, Tableau historique des progrès de l’esprit humain – Projets, Esquisse, Fragments et Notes, Éd. Jean-Pierre Schandeler et Pierre Crépel, Paris 2004, S. 871–919. Eine engl. Teilübers. bei Keith Michael Baker (Ed.), Condorcet – Selected Writings, Indianapolis 1976, S. 283–300.

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Aber bevor er es in Angriff nimmt, folgen zunächst allgemeine Erwägungen über die Möglichkeit, die Aussichten und die Hindernisse im Hinblick auf ein einzelnes Land (S. 877–882). Dabei kommt auch die Notwendigkeit eines guten Forschungsplans zur Sprache, der verschiedene wissenschaftliche Disziplinen koordiniert und großräumige kontinuierliche Langzeitbeobachtungen organisiert, kurz: die Abhängigkeit der wissenschaftlichen Entdeckungen vom Zufall minimiert (S. 883). Als Beispiele dienen Astronomie, Meteorologie, die Naturgeschichte des Menschen und die Landwirtschaft (ebd.). Damit sind die Grenzen einer bloß nationalen Betrachtung des Projekts überschritten. Als geeignetes Forschungsprogramm der genannten Art behandelt Condorcet im Detail die »unendliche Vervollkommnungsfähigkeit der menschlichen Fähigkeiten« (la perfectibilité indéfinie des facultés humaines) (S. 888). Damit wird das schon am Ende der Esquisse angeschlagene Thema über ca. 10 Seiten in einer intensiven und anthropologisch interessanten Weise ausgeführt (S. 888–897). Mit der Gleichheit der Fähigkeiten beider Geschlechter folgt ein weiteres Lieblingsthema Condorcets (S. 897–901). Noch einmal gut 10 Seiten verwendet er darauf, eine Fülle offener Fragen vornehmlich der Naturwissenschaften aufzuführen, deren Beantwortung die Kräfte oder die Lebenszeit eines einzelnen Forschers übersteigen oder die nach ihrer Art globale Beobachtungen voraussetzen und deren Lösung weder unmittelbaren Nutzen noch Gewinn verspricht, wo also kein anderer Ruhm winkt als der, die Untersuchungen unternommen zu haben (S. 907). So umschrieb Condorcet das, was wir heute Grundlagenforschung nennen. Die bunte Palette reicht beispielsweise von der synthetischen Herstellung von Mineralien über die Messung der Unregelmäßigkeiten im Erdumlauf, die physikalischen Gesetze des Widerstands von Flüssigkeiten bis zur vergleichenden Anatomie. Erst auf den letzten 7–8 Seiten (S. 912–919) kommt der Autor auf das zu sprechen, was man im Hinblick auf das eingangs angesprochene Vorbild das zukünftige Haus Salomons nennen könnte und was am Ende der Einleitung als république universelle des sciences apostrophiert worden war. Der Aufbau dieser Gesellschaft von Wissenschaftlern sieht etwa so aus: Alle Interessierten melden sich an und erklären sich einverstanden, durch Briefwahl eine gewisse Zahl von Wissenschaftlern zu bestimmen, die einen Plan der Vereinigung ausarbeiten. Nach dessen Veröffentlichung steht es jedem frei, sich an der Verwirklichung zu beteiligen oder nicht. Die notwendigen Mittel für die Realisierung sollen durch Subskription auf die regelmäßig publizierten Forschungsergebnisse und durch Spenden aufgebracht werden. Die Art ihrer Verteilung muss Gewähr bieten, dass die Förderung zeitweilig besonders favorisierter Forschungen nicht ganz auf Kosten des allgemeinen Fortschritts geht oder zur Dominanz gewisser Individualinteressen führt. Auch ist sicherzustellen, dass Langzeitvorhaben stetig finanziert werden können. Öffentliche Gelder dürften nur

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bei Wahrung der vollen wissenschaftlichen Unabhängigkeit angenommen werden (S. 915). Dem kritischen Punkt der Weiterentwicklung des Plans und der Beständigkeit seiner Realisierung widmet der Verfassungskonstrukteur Condorcet natürlich besondere Aufmerksamkeit: Je nach Art des Entscheidungsgegenstands (z. B. Erweiterung oder Aufgabe eines Vorhabens; Grundsatzproblem oder wissenschaftliche Spezialfrage) müssen unterschiedliche Entscheidungsgremien mit verschiedenen Entscheidungsregeln eingerichtet werden. Die zunächst im Blick auf eine aufgeklärte Nation konzipierte Vereinigung der aufgeklärten Wissenschaftler (S. 877 f.) könne sich auf alle aufgeklärten Völker ausweiten und über den nationalen Sozietäten etablieren, die auf ihren Feldern unabhängig, aber im ständigen Vergleich ihrer Erkenntnisse weiterarbeiteten (S. 918 f.). Diese Ausweitung wird in allen Ländern voranschreiten, in denen »die menschliche Intelligenz ihre Rechte und ihre Freiheit wiedererlangt haben wird« (S. 882). Die Bedingungen dafür sind nach Condorcet Volkssouveränität und Garantie der individuellen Rechte, die nur an denen der anderen ihre Grenze finden (S. 913). Das 10. Kapitel der Esquisse über die »künftigen Fortschritte des menschlichen Geistes«, zu dem das hier referierte Fragment Nr. 9 sachlich gehört, endet mit Sätzen, die Mitgefühl mit dem geächteten und zum Tode verurteilten Autor wecken. Condorcet selbst fühlte sich allerdings nicht als Märtyrer, sondern nur als Opfer unglücklicher Zufälle, wie sie bei großen Aufschwüngen hin zum Sieg der Vernunft kaum zu vermeiden seien. Trost fand er in dem »Bild eines Menschengeschlechts […] das sicher und tüchtig auf dem Wege der Wahrheit, der Tugend und des Glücks vorwärts schreitet […]. Seine Betrachtung ist ihm (dem Philosophen) eine Stätte der Zuflucht, wohin ihn die Erinnerung an seine Verfolger nicht begleiten kann; wo er in Gedanken mit dem Menschen, der in seine Rechte wie in die Würde seiner Natur wieder eingesetzt ist, lebt und wo er den Menschen vergisst, den Habgier, Furcht und Missgunst quälen oder verderben; dort ist er wahrhaft zusammen mit seinesgleichen in einem Elysium, das seine Vernunft sich zu erschaffen wusste und das seine Liebe zur Menschheit mit den reinsten Freuden verklärt« (S. 399)78. Tatsächlich blieb am Ende nicht alles bloß ein Traum79.

78 Dazu Wilhelm Alff, Vernunft, Moral, Gesellschaft – Ein Text Condorcets – Einleitung und Über-

setzung, in: Theodor W. Adorno (Hrsg.), Sociologica – Aufsätze, Max Horkheimer zum 60. Geburtstag gewidmet, 1955, S. 411–421 (414); James G. Frazer, Condorcet on the Progress of the Human Mind, Oxford 1933, S. 10 f. 79 Sehr lehrreich dazu Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt – Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, 2009.

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Können Bildungspolitiker planen?

I. Die Pläne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Erfahrungen bei der Konkretisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schulentwicklungsplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Hochschulplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Politik, Verwaltung, Dritte Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kann der Bildungspolitiker planen? Oder ist er nicht so etwas wie der Stationsvorsteher in Thomas Manns Roman »Königliche Hoheit«, der sich immer überlegt, ob der Zug nun eigentlich fährt, weil er das Signal gibt – oder ob er ohne das Signal genau fahren würde? Sind die ganzen Daten und Pläne etwas, das die Wirklichkeit gestaltet, oder sind es nur symbolische Abbildungen eines Prozesses, der auch ohne den Bildungspolitiker so verlaufen wäre, wie er verlaufen ist? Vorläufige Antwort: Der Bildungspolitiker kann planen. Unter planen verstehe ich dabei im allgemeinsten Sinn: die Wirklichkeit gestalten durch Pläne, die eine Reihe von Zielen in eine Zeitfolge einordnen, so dass Fortschritte kalkulierbar und kontrollierbar werden. Der Bildungspolitiker kann planen – aber erfolgreich offenbar nur in Zeiten einer allgemeinen Expansion, die über den Bildungsbereich hinausreicht. Das ist jedenfalls meine persönliche Erfahrung, mein Fazit aus den sechziger und siebziger

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Jahren des 20. Jahrhunderts – der gewiss größten Bildungsexpansion in jüngster Zeit. Trendverlängernde, trendfortschreibende Exponentialplanung – darin war Deutschland erfolgreich seit 1964, als die bildungspolitische Planung im Anschluss an Georg Pichts »Bildungskatastrophen«-Buch in Gang kam1. Austerity-Planung, Setzung von Alternativen, Zwang zur Wahl – solche Planung ist bisher bei uns wenig erprobt, jedenfalls gibt es – in der Bildungspolitik – bis zur Stunde kaum erfolgreiche, überzeugende, verallgemeinerungsfähige Beispiele. Ich stelle im Folgenden zunächst knapp dar, wie die bildungspolitische Landschaft der sechziger und siebziger Jahre aussah – konkret, welche Pläne für das Bildungswesen damals entworfen wurden (I). Dann will ich der Frage nachgehen, welche Erfahrungen man bei der Konkretisierung dieser Pläne – ihrem Gelingen, ihrer halben oder ganzen Realisierung – gemacht hat und was daraus für die Zukunft zu lernen wäre (II). Speziell in Deutschland muss dabei auch das komplexe Verhältnis von Politik, Verwaltung und Dritter Gewalt (insbesondere Verfassungsgerichtsbarkeit) behandelt werden (III).

I. Die Pläne Pläne zum Ausbau des Schul- und Hochschulwesens gab es in Deutschland schon seit Anfang der sechziger Jahre. Picht erwähnt in seinem Buch als frühestes Dokument im Bereich der Schulen den Bayerischen Schulentwicklungsplan2. Dieser sah in seiner Erstfassung die Errichtung von 7 Wirtschaftsschulen, 27 Berufsaufbauschulen und 38 Realschulen sowie 35 Maßnahmen für Gymnasien vor3. In den siebziger Jahren schlossen sich weitere Länder (Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz) Bayern an. In dieser Zeit tauchen auch erstmals die Begriffe »Bildungsplanung« (als Übersetzung von educational planning), Bildungsökonomik, Bildungspolitik in Deutschland auf (vorher meist Schulpolitik, Hochschulpolitik, Kulturpolitik). Wichtig war, dass im Jahr 1969 das Grundgesetz geändert und der Artikel 91b (Gemeinschaftsaufgaben) eingefügt wurde. Damit wurde eine gemeinsame Bildungsplanung von Bund und Ländern möglich. Zur selben Zeit wurde eine BundLänder-Kommission für Bildungsplanung geschaffen, die einen Bildungsgesamtplan und ein Bildungsbudget erarbeiten sollte. Den Reigen der Bundespläne eröffnete dann der 1966 geschaffene Deutsche Bildungsrat mit seinem »Strukturplan für das Bildungswesen« (1970). Er enthielt einen Georg Picht, Die deutsche Bildungskatastrophe. Analyse und Dokumentation, 1964. Picht, Bildungskatastrophe (Fn. 1), S. 23, 65. Hans Maier, Der Bayerische Schulentwicklungsplan, in: Peter Lerche / Hans Zacher / Peter Badura (Hrsg.), Festschrift für Theodor Maunz, 1981, S. 229–245 (auch zum Folgenden).

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Gesamtaufriss des Bildungswesens – ein unbestreitbares Verdienst –, verzichtete aber auf eine Quantifizierung der einzelnen Ausbauschritte; auch der Finanzbedarf wurde nur geschätzt, wobei man vom gegebenen Schulsystem ausdrücklich absah. Konkreter sind die gleichzeitig vorgelegten Empfehlungen des Wissenschaftsrates »Zur Struktur und zum Ausbau des Bildungswesens im Hochschulbereich nach 1970« (1970): sie enthalten Kapazitätsberechnungen, Kostenanschläge und einen Finanzierungsplan. Die bildungspolitische Konzeption der Bundesregierung verdeutlichte der »Bildungsbericht 70« (1970). Er übernahm einige Strukturvorstellungen von Bildungsrat und Wissenschaftsrat und dehnte die quantitativen Zielsetzungen stark aus. Auf Finanzierungsfragen ging er allerdings nur am Rande ein. Es dauerte drei Jahre, bis aus diesen Plänen in gemeinsamer Arbeit von Bund und Ländern der »Bildungsgesamtplan« (1973) wurde, mit Zeitplan, Kostenrechnung, Finanzierungsplan und Fortschreibung. Aber auch dieser Plan kam in entscheidenden Punkten – Gesamtschule, Orientierungsstufe, Lehrerbildung – nicht zu gemeinsamen Vorstellungen: gegenüber der sozialliberalen Mehrheit brachten die unionsgeführten Länder ihre Konzeption in einer Reihe von Sondervoten zur Geltung – so dass auch die schon beschlossene Finanzierung wieder fraglich wurde. Mit solchen Planfragmenten konfrontiert, versuchte die Verwaltung, das Beste daraus zu machen. Das fiel umso schwerer, als die Planer – vom Wissenschaftsrat einmal abgesehen4 – anfänglich kaum besondere Neigung zeigten, die Verwaltung an ihren Planungen zu beteiligen. Der »Bildungsbericht 70« beispielsweise war kaum in die Sprache der Verwaltung zu übersetzen – und schon im Deutschen Bildungsrat stieß die Beteiligung der Verwaltung immer wieder auf Schwierigkeiten. Verwaltungsleute störten; für einige Ratsmitglieder beschnitten sie in ärgerlicher Weise die Fülle der Denkmöglichkeiten, das freie Schweifen der Gedanken und Entwürfe5. Kein Wunder also, dass die Pläne verhältnismäßig verwaltungsfern ausfielen – und dass die Verwaltungen demgemäß auch nicht durchweg planungsfreundlich gestimmt waren. Macht man sich diese Ausgangslage klar, dann wundert man sich allenfalls, wie viel an Bildungsreformen in den siebziger Jahren dennoch verwirklicht werden konnte. Ich zähle nur kursorisch auf: Reformen im Elementarbereich, in der gymnasialen Oberstufe, Lehrplanrevisionen, Neugestaltung der Lehrerfortbildung, Verbesserungen der beruflichen Bildung, des Sonderschulwesens, stärkere Kooperation in der Erwachsenenbildung und vieles andere mehr. Dort waren die Vertreter der Verwaltung von Anfang an im Gremium integriert – was sich für die gemeinsame Beschlussfassung als höchst förderlich erwies. 5 So mein – gewiss subjektives – Fazit aus den Erfahrungen im Deutschen Bildungsrat, in dem ich von 1966–1970 Vorsitzender der Bildungskommission war. 4

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Oft hat dabei die Verwaltung den guten Absichten und weitgreifenden Zielvorstellungen erst Umriss und Realitätsnähe gegeben. Oft hat sie aber auch einfach vor den neuen Konzeptionen und Terminologien kapituliert – zum Schaden der Sache. Dann schlugen pädagogische Moden unmittelbar in die Bildungseinrichtungen durch – ohne ausreichende Filterung, ohne zureichende Realitätskontrolle. Die berühmtesten Beispiele waren die Ganzheitsmethode (beim Erstlernen) und die Mengenlehre. Es gab Jahre, in denen Bildungspolitiker heftig angegriffen wurden, wenn sie sich gegen diese neuen Errungenschaften stellten; Widerstand war fast zwecklos. Ebenso schnell schlug später die Stimmung um: nun wurden sie angegriffen, weil sie »diesen Unsinn« nicht verhindert hatten! Die heute oft beklagte »Stoffüberflutung« der Schulen war viel weniger die Folge mangelnder »Entrümpelung« der Lehrpläne durch die Verwaltung, sie geht vielmehr darauf zurück, dass nach dem Zusammenbruch des alten Bildungskanons neue Bildungsinhalte mit dem Anspruch der »Wissenschaftlichkeit« und der »Gesellschaftsrelevanz« in die Schule drängten – und dass die neuen curricularen Lehrpläne diesen Fluss nicht ordneten, sondern stauten6. Hinzu kam das, was man in den sechziger und siebziger Jahren euphemistisch die »Demokratisierung der Lehrplanarbeit« nannte: Wo früher ein bärbeißiger Ministerialmann, meist mit Schulerfahrung, einen Lehrplan für Normalschüler, Normallehrer und Normalzeiten konzipiert hatte, Wucherungen beschneidend und Überflüssiges tilgend, tagten jetzt Dutzende von Kommissionen mit Hunderten von Pädagogen und Wissenschaftlern, so dass im Zweifel jede Hilfswissenschaft Gelegenheit erhielt, ihr Antlitz im Lehrplan der Schule abzudrücken. Das Ergebnis war Erschöpfung bei Schülern, Lehrern und Eltern.

II. Erfahrungen bei der Konkretisierung Soweit ein erster, nur andeutender Überblick. Und damit bin ich schon beim zweiten Teil: bei der Frage, welche Erfahrungen man in den siebziger Jahren bei der praktischen Realisierung der Bildungspläne und -entwürfe gemacht hat. Ich will das an zwei Beispielen zeigen, die ich aus der Nähe verfolgen konnte: an dem bereits erwähnten Bayerischen Schulentwicklungsplan und an einem Beispiel aus der bayerischen Hochschulplanung, der Gründung und dem Ausbau der Universität Passau. Die gleichzeitige – gegenläufige – Tendenz zur Verminderung der verfügbaren Schulzeit (Einzug der Samstage, Ausdehnung der Ferien, Kurzstunden usw.) versetzte die Schule in der »Reformzeit« der sechziger und siebziger Jahre in eine regelrechte Atemnot: Mehr Fächer sollten berücksichtigt werden bei ständig schrumpfender Lern- und Übzeit!

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1. Schulentwicklungsplanung

Der Schulentwicklungsplan war ein Beispiel dafür, dass es unter besonderen Umständen gelingen kann, Planungen über die normale Planungsfrist einer Legislaturperiode hinaus auf einen längeren Zeitraum zu erstrecken. Der Plan wurde von 1964 bis zur Mitte der achtziger Jahre vollzogen und lief dann allmählich aus, weil sich die Bedarfslage geändert hatte (Stichwort Geburtenrückgang). Wichtig war, dass der Schulentwicklungsplan eine stabile finanzielle Grundlage hatte, weil er von Anfang an in die Mittelfristige Finanzplanung (Mifrifi) und später, nach 1970, auch in die Landesplanung einbezogen war. Die Federführung lag beim Kultusministerium; aber der Plan wurde von Anfang an von der gesamten Staatsregierung getragen. Die Praxis vollzog sich so, dass der Schulentwicklungsplan in einem System der laufenden Fortschreibung jedes Jahr neu überprüft und berichtigt oder ergänzt wurde. Auf diese Weise sollte er stetig an die Entwicklung angepasst werden. Wesentlicher Teil des Plans war eine Zusammenstellung darüber, in welchen kreisfreien Städten und Landkreisen Bayerns nach dem festgestellten Bedarf noch mittlere Schulen oder Gymnasien zu errichten waren. Der Plan sollte alle mittleren und höheren Schulen, also auch die Privatschulen, erfassen. Mit zahlreichen Neuerrichtungen sollte eine verbesserte, lückenlose und gleichmäßige Streuung der weiterführenden Schulen über das ganze Land erreicht werden. Alle für den Besuch dieser Schulen geeigneten Kinder in Stadt und Land, insbesondere auch die Mädchen, sollten damit die gleichen Bildungschancen erhalten. Bei der Planung wurde darauf geachtet, dass durch die vorgesehenen neuen Schulen die vorhandenen öffentlichen oder privaten Schulen der gleichen oder einer anderen Art in ihrem Bestand nicht gefährdet wurden. Dabei sollte nicht nur der bereits gegebene, sondern der für die nächsten Jahre vorhersehbare Bedarf an zusätzlichen Schuleinrichtungen festgestellt werden. Die Bevölkerungsstatistik (Entwicklung der Geburtenzahlen), regionale Strukturveränderungen in wirtschaftlicher und soziologischer Hinsicht (z. B. durch Industrialisierung), Verschiebungen der Einwohnerzahlen und Siedlungsdichten, nicht zuletzt auch Garnisonsgründungen sollten bei der Bedarfsfeststellung berücksichtigt werden. Seiner Natur nach war der Schulentwicklungsplan eine Richtlinienplanung für den systematischen Ausbau der weiterführenden Schulen, die auf einer detaillierten Bedarfsfeststellung beruhte. Er enthielt keine unveränderlichen oder rechtsverbindlichen Festlegungen, sondern stellte eine programmatische Bekundung der Staatsregierung dar. Die Durchführung der geplanten Maßnahmen war eine Gemeinschaftsaufgabe: Sie setzte die Bewilligung der erforderlichen Mittel durch den Bayerischen Landtag ebenso voraus wie die entsprechenden Organisations- und Verwaltungsakte der staatlichen Behörden und die Mitwirkung der kommunalen Körperschaften.

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Auch wenn eine Schulmaßnahme in den Plan aufgenommen war, konnte keine Kommune in Zugzwang geraten. Denn die Bedarfsplanung enthielt keinerlei zeitliche Festlegungen. In oft langen Verhandlungen zwischen dem Kultusministerium und den künftigen Sachaufwandsträgern wurde jeweils im Einzelfall der Zeitpunkt festgelegt, zu dem sowohl von staatlicher wie von kommunaler Seite die Errichtung möglich war. In dieser bewusst locker gehaltenen Form wurde der Schulentwicklungsplan jedes Jahr fortgeschrieben. Schwierigkeiten bei der Bedarfsaufbringung durch die Kommunen ergaben sich nicht. Insgesamt ergab sich ein hoher Vollzugsgrad: von den insgesamt (einschließlich beruflicher Schulen) 397 Maßnahmen, die von 1964 bis 1980 in die jährlichen Schulentwicklungspläne Eingang fanden, waren am 1. Januar 1980 lediglich 27 im Bereich der Gymnasien und Realschulen unerledigt geblieben7. Der Geburtenrückgang hatte dann freilich eine drastische quantitative Einschränkung der Planungen ab 1975 zur Folge. So konnten in dünn besiedelten Gebieten zusätzliche Schuleinrichtungen selbst dann nicht mehr geplant werden, wenn sie eigentlich zur Vervollständigung des Schulnetzes wünschenswert gewesen wären. Vielfach ging man jetzt in Großstädten zur Teilung überfüllter Schulen über – oder man entlastete solche Schulen durch Neugründungen im Einzugsgebiet der Ballungsräume. In den achtziger Jahren lief der Bayerische Schulentwicklungsplan im Bereich der Gymnasien und Realschulen allmählich aus. Eine entgegengesetzte »AusterityPlanung« wurde nicht entwickelt – auch deshalb nicht, weil der Geburtenrückgang in Bayern nicht den Umfang erreichte, der anderswo – vor allem in den östlichen Ländern der Bundesrepublik – in den neunziger Jahren zu drastischen Reduktionen des Schulbestands zwingen sollte. 2. Hochschulplanung

Verglichen mit den Planungen im Schulbereich wies die Hochschulplanung einen wesentlich diffuseren Charakter auf – in Bayern wie auch anderswo. Die Expansion des Hochschulwesens vollzog sich im Wesentlichen ungeplant und ungeregelt – fast wie ein Naturereignis. Die Hochschulexpansion 1965 bis 1980 war die weitaus größte in unserer Universitätsgeschichte8. Nie sind im deutschsprachigen Raum in einem Jahrhundert Maier, Schulentwicklungsplan (Fn. 3), S. 238. Christoph Oehler / Christiane Bradatsch, Die Hochschulentwicklung seit 1945, in: Christoph Führ / Carl-Ludwig Furck (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. VI, 1, 1998, S. 412–446 (dort weitere Literatur); Hans Maier, Gründerzeiten. Aus der Sozialgeschichte der deutschen Universität (1989), jetzt in: ders., Kultur und politische Welt (= Gesammelte Schriften Bd. III), 2008, S. 197–209.

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so viele Universitäten neu entstanden wie im 20. Jahrhundert – knapp gerechnet 35, die Umwandlungen und Aufstockungen bestehender Hochschulen, die neuen Kunst- und Musikhochschulen, Fachhochschulen, Spezialhochschulen nicht mitgezählt. Die Gründungswelle kam in den sechziger Jahren in Gang: 1965 Bochum, 1966 Konstanz, 1967 Regensburg, 1968 Dortmund, 1969 Bielefeld, Düsseldorf und Ulm, 1970 Augsburg und Trier-Kaiserslautern (beide 1975 verselbständigt), 1971 Bremen und Kassel, 1972 Paderborn und Eichstätt, 1973 Oldenburg, 1974 Osnabrück, 1975 Bayreuth, 1978 Passau, 1979 Bamberg, 1980 Siegen – ich habe nur die wichtigsten genannt. Die Welle der Bildungsexpansion, die mit ihr einhergehenden Neugründungen und Neubauten, die schnellere Gangart in der Schul- und Hochschulpolitik, unterstützt durch die damals noch reichlich fließenden öffentlichen Mittel – das alles bildete auch den Hintergrund für die Entwicklungen in Passau nach dem Zweiten Weltkrieg. Dort konkretisierten sich in den späten sechziger und in den siebziger Jahren alte Pläne zur Gründung einer Universität. Sie realisierten sich rascher, als man gedacht hatte: es brauchte kaum acht Jahre Vorbereitung, bis die neue Universität in der Donaustadt ihre Tore öffnen konnte. Trotz mancher Widerstände und Verzögerungen kam man rasch zum Ziel9. Die Initiative ging vom Parlament aus. Am 2. Juli 1970 beschloss der Bayerische Landtag, eine »hochschulmäßige Ausbildungseinrichtung in Ostbayern« zu schaffen. Bereits wenige Tage später, am 16. Juli, wurde als Standort Passau festgelegt. Ende 1971 konkretisierte der Bayerische Landtag seinen Beschluss vom Vorjahr und entwarf eine Folge von Schritten zu seiner Realisierung. Drei Stufen wurden ins Auge gefasst: 1. die Erarbeitung der Struktur der Universität Passau im Rahmen des Landesentwicklungsplanes für Hochschulen und die Errichtung eines Unterausschusses Passau der Hochschulplanungskommission; 2. die Festlegung des Standorts der Universität Passau und die Einleitung der Grundstücksverhandlungen; 3. die Festlegung der Planungsziele und Teilschritte bis zum Jahr 1975. Damit war die Sache der Exekutive anvertraut, konkret dem Kultusministerium, der Staatsbauverwaltung und dem Finanzministerium, die alsbald mit ihren Strukturplanungen und Standortuntersuchungen begannen. Gleichzeitig nahmen sie Kontakt auf mit dem für die Hochschulplanung zuständigen Wissenschaftsrat und mit dem nach dem Hochschulbauförderungsgesetz mitfinanzierenden Bundesbildungsministerium. Im Juni 1972 gab die Hochschulplanungskommission des

9 Vgl. 30 Jahre Universität Passau, in: Schriftenreihe der Universität Passau, Heft Nr. 30, hrsgg. v. Walter Schweitzer, 2009.

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Kultusministeriums ihre Empfehlung zum Aufbau der Universität Passau ab. Im September beschloss der Wissenschaftsrat – nach einer Besichtigung in Passau – einen Bebauungsplan, der die Universitätsgründung berücksichtigte. Dann legte die Oberste Baubehörde ihre Gutachten zur Lage der Universität am Altstadtrand und am Inn vor. Auf dieser Grundlage beschloss dann der Bayerische Landtag am 22. Dezember 1972 das Gesetz über die Errichtung der Universität Passau. Die weiteren Schritte sind rasch aufgezählt: Im Februar 1974 konstituierte sich der Strukturbeirat der Universität Passau und wählte den Regensburger Slawisten Karl-Heinz Pollok zu seinem Vorsitzenden. Im Oktober desselben Jahres wurde die Universitäts-Geschäftsstelle in der Residenz eröffnet. Im Frühjahr 1976 wurde mit der Sanierung des Nikolaklosters begonnen, das die Deutschordensschwestern nicht mehr im alten Umfang brauchten und das der Orden daher dem Staat abzutreten bereit war – es bildete die erste Betriebseinheit der neuen Universität. Die Grundstückskäufe schritten fort. Die Strukturplanung wurde 1977 abgeschlossen. Im März 1976 zeichnete sich das Profil der neuen Universität bereits deutlich ab, mit Studiengängen für Sprach- und Kulturwissenschaften, Wirtschaftswissenschaften, Informatik und Mathematik. Der Bayerische Ministerrat beschloss, dass der Lehr- und Forschungsbetrieb an der Universität Passau im Wintersemester 1978/79 aufgenommen werden sollte – und so geschah es auch.

III. Politik, Verwaltung, Dritte Gewalt Ich habe schon erwähnt, wie im Bereich der Schulplanung in den achtziger Jahren der Bedarf an weiterführenden Schulen massiv zurückging – eine Folge des Ausbaus und der Vermehrung der entsprechenden Kapazitäten, vor allem aber eine Folge des Geburtenrückgangs. Es war unvermeidlich, dass die expansiven Pläne der sechziger Jahre in den achtziger Jahren begradigt wurden. Zum Teil liefen sie einfach aus. Auch die Hochschulexpansion stieß in den achtziger Jahren erstmals an ihre Grenzen. Doch entwickelten sich in den Hochschulen die Probleme ganz anders als im Schulbereich. Das hatte mehrere Gründe. Zum einen bestimmten die geburtenstarken Jahrgänge noch zwei Jahrzehnte lang die Hochschulpolitik: Während der Druck auf die Schulen sich verringerte, nahm der Druck auf die Hochschulen zunächst noch zu; der Geburtenrückgang erreichte die Hochschulen erst Ende der achtziger Jahre, rund zwanzig Jahre nach dem ersten Jahrgang mit »Pillenknick« (1967). Zweitens war die Nachfrage nach Studienplätzen noch weit größer als die – seit den sechziger Jahren stark gestiegene – Nachfrage nach weiterführenden Schulen. Das war eine Folge mannigfacher »Öffnungen« des Hochschulzugangs, doch vor allem war es ein Resultat der speziell für Deutschland typischen Nähe, ja Identi-

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tät von Abitur und Hochschulzugang10. So wuchsen die Hochschulbewerber in den siebziger, achtziger Jahren noch einmal exponentiell, während die Schulen bereits Schüler verloren und schrumpften. Das führte in den Hochschulen der siebziger und achtziger Jahre zu einer starken Anspannung, ja zu einer Zerreißprobe. Obwohl die Studienplätze durch den geschilderten massiven Ausbau erheblich vermehrt worden waren, reichten sie für die spektakulär gesteigerte Nachfrage nicht aus – dies um so weniger, als in dieser Zeit auch die finanziellen Grenzen der Bildungsexpansion sichtbar wurden11 und die Möglichkeit schwand, die Dynamik der Nachfrage durch eine – noch größere – Dynamik des Auf- und Ausbaus auszugleichen. In dem Maß, in dem die wirtschaftliche Dynamik schwand, gewannen statische Ausgleichsbemühungen an Boden. Das nicht mehr unbegrenzt Vermehrbare sollte wenigstens »gerecht« verteilt werden. Zum Anwalt dieser Politik wurde in den siebziger Jahren das Bundesverfassungsgericht12. Sein grundlegendes Urteil zum Numerus clausus vom 18. Juli 197213 erweiterte die »breite« Auslegung des Artikels 12 GG: das Gericht verstand ihn nicht mehr nur im klassisch-liberalen Sinn als Garantie des Rechts auf freie Berufswahl, sondern folgerte aus ihm ein (Grund)Recht auf Zulassung zum Hochschulstudium14 – und, parallel dazu, eine generelle »Zurverfügungstellungspflicht« des Staates.

10 Von den ersten statistisch erfassten Anfängen des Abiturs im 19. Jahrhundert bis etwa 1959 lag die

Zahl der Abiturienten in Deutschland immer unter 4 %. In den sechziger und siebziger Jahren stieg sie deutlich an, um sich schließlich zu verdoppeln, zu verdreifachen, zu verfünffachen – eine Frucht der Bildungsexpansion und der mit ihr verbundenen Bildungswerbung. Hier lag die deutsche Entwicklung durchaus im internationalen Trend. Ein deutsches (lange Zeit übersehenes) Spezifikum der Bildungsexpansion bestand aber darin, dass sich die traditionelle Verklammerung von Abiturerwerb und Studienentschluss nicht – wie anderswo – im Zug der Bildungsexpansion zu lockern oder aufzulösen begann. Ganz im Gegenteil: Fast 90 % der Abiturienten nahmen in Deutschland nach wie vor ein Studium auf, was den Druck auf die Hochschulen erheblich verschärfte. 11 Der Rückzug des Bundes aus der Mitfinanzierung des Hochschulbaus setzte bereits in den späten siebziger Jahren ein – eine Entwicklung, die später zur Abkehr vom Konzept der »Gemeinschaftsaufgaben« überhaupt führen sollte (den Schlusspunkt setzte die Föderalismusreform in den Jahren nach 2000!). 12 Die einschlägige Rechtsprechung – und ihre sozialethische Begründung – ist vor allem mit dem Namen des evangelischen Juristen und Kirchentagspräsidenten Helmut Simon (Bundesverfassungsrichter von 1970–1987) verbunden. 13 BVerfGE 33, 303. 14 Voraussetzung einzig und allein: das Abitur, das im Numerus-clausus-Urteil – erstmals – in den Rang eines verfassungsrechtlich relevanten Anspruchsinstituts erhoben wird. Hier wiederholt sich der Pichtsche »Tunnelblick« ausschließlich auf Abitur und Studium, das offenkundige Manko seiner in vielen Punkten berechtigten Warnungen. Der Zusammenhang von Bildung und Beruf gerät gänzlich aus dem Blick.

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Auch dem Bundesverfassungsgericht war klar, dass eine solche Pflicht nicht bedingungslos gelten konnte, dass sie an wirtschaftliche und soziale Rahmenbedingungen gebunden war. Die Lösung suchten die Richter in der – im Notfall eintretenden – Umwandlung des Rechts auf Ausbildung in ein Teilhaberecht. Wenn nicht hier und heute die Zulassung zum Medizinstudium möglich sei (wegen des Mangels an Kapazitäten), so argumentierten sie, dann müsse sie doch morgen oder übermorgen, ja notfalls lebenslang möglich sein. Eine zeitliche Begrenzung dieses – in steile grundrechtliche Höhen transponierten – Anspruchs, wie sie Bayern als Antragsgegner verlangte, lehnten die Richter ab15. Damit sanktionierten sie nicht nur die traditionelle deutsche Koppelung von Bildungs- und Berechtigungswesen, sie erzeugten alsbald auch die bekannten langen Warteschlangen vor den Türen der Numerus-clausus-Fächer. Und die Forderung, Kapazitäten, die vorhanden seien, bis zum letzten Platz auszunutzen, führte in nicht wenigen Fächern – vor allem in der Medizin – zu erheblichen Erschwerungen und Engpässen, ja teilweise zum Zusammenbruch einer geregelten Ausbildung16. Eine Bedarfsplanung ließ das Gericht nur in strengen Grenzen und nur für die künftigen Kapazitäten zu. Dabei wurde auf Einheitlichkeit größter Wert gelegt – für ein föderales Konkurrenz- und Wettbewerbssystem, das eine neue Dynamik entwickelt und neue Kapazitäten geschaffen hätte, zeigten die Richter kein Verständnis17. Das Ergebnis war schließlich ein überregionales Vergabeverfahren mit einheitlichen Kriterien. Die Dortmunder Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen (ZVS) entstand – ein überdimensionaler bürokratischer Apparat. Als typische Mängelverwaltung beendete sie das Zeitalter der frisch-fröhlichen Aufbrüche im Bildungswesen – und blockierte die Chancen einer zukunftsgerichteten Planung. Ich versuche in wenigen Sätzen Bilanz zu ziehen. An sich hätten die in den siebziger Jahren deutlich hervortretenden Kapazitätsgrenzen, die langfristige Abschwä15 Eine Darstellung des Prozessverlaufs in meinem Aufsatz: Kann der Bildungspolitiker planen?, in:

Die Zukunft der Bildungspolitik. Bilanz und Perspektiven (= Tutzinger Studien 1/1976), S. 35–48. 16 Die immer länger werdenden Warteschlangen der Bewerber erreichten schließlich in den klini-

schen Semestern das Krankenbett nicht mehr. Die praktische Ausbildung der Medizinstudenten lief weitgehend leer. Die verständliche Reaktion der Mediziner auf das, was sie als »Kaputtverwaltung« durch staatliche Reglements empfanden – die Einführung eines nachträglichen »Praxisjahres« – verlängerte ihrerseits die Studiendauer. 17 Die Praxis zweier Länder – Hamburg und Bayern –, mehr teure Studienplätze in Medizin und Naturwissenschaft zu schaffen als andere Länder, dafür aber ihren »Landeskindern« einen Bonus zu geben, wurde vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich verworfen – was zur Folge hatte, dass von da an kein Land mehr Sonderleistungen erbrachte, da sie ihm ohnehin »wegsozialisiert« wurden. Allgemeine Nivellierung – bis heute andauernd – war die Folge. Ein effizientes föderalistisches Wettbewerbs- und Prämiensystem wurde durch eine – grundrechtlich verbrämte – zentralstaatliche Nivellierung ersetzt. Die Numerus-clausus-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bestätigte so die alte Beobachtung: »Judex non calculat«.

können bildungspolitiker planen?

chung des Bedarfs, die beginnende Zunahme der Akademikerarbeitslosigkeit, vor allem in den Lehrberufen, zu neuen Planungsmodellen, zu einer Planung unter Knappheitsgesichtspunkten führen müssen. Das war jedoch nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1972, das die erschöpfende Nutzung des Vorhandenen auf seine Fahnen schrieb, kaum mehr möglich. Das Gericht entfesselte auf der einen Seite neue Ansprüche in einer Zeit zurückgehenden Bedarfs im Bildungswesen. Es machte anderseits die Schaffung neuer Kapazitäten durch föderalistischen Wettbewerb unmöglich, indem es den Ländern, die Mehrleistungen bei der Schaffung neuer Studienplätze erbrachten, einen Bonus strikt verbot. Fazit: mit zwei gewaltigen Worten, nämlich Gleichheit der Lebensverhältnisse und lückenloser Grundrechtsschutz, wurde jede differenzierte, die rechtlichen und wirtschaftlichen Gegebenheiten einbeziehende Planung im Schul- und Hochschulwesen praktisch unmöglich gemacht. Und dabei ist es – trotz des partiellen »Rückruderns« des Gerichts bei späteren Entscheidungen18 – im Grunde bis heute geblieben. Ich schließe mit Worten, die ich am 27. März 1976 in einem Streitgespräch mit Peter Glotz – meinem »geschätzten Gegner«19 – in der Evangelischen Akademie in Tutzing sagte: »Wenn wir die Bilanz der bisherigen Bildungsplanung … einmal kritisch beleuchten, dann ist für mich die Frage sehr offen, nach welcher Richtung wir weitergehen sollen. Die Richtung, die Herr Glotz angedeutet hat, heißt: Mehr Planung, Vervollständigung der Instrumente, wobei die Frage, wer die Instrumente handhabt, Bund oder Länder, dann im Grunde ein sekundäres Problem ist. Ich möchte die Gegenforderung aufstellen: Weniger Planung; denn ich glaube, die Planung hat ihren zulässigen, nützlichen und vernünftigen Effekt bereits überschritten. Jetzt kommt es darauf an, die spontanen Kräfte im Bildungswesen wieder zu beleben und die Fesselung in Vorschriften, Reglements, bis in einzelne durchformulierte Lehrpläne hinein, aufzubrechen – das ist eine Aufgabe, die der gemeinsamen Arbeit von Eltern, Lehrern, Schülern und Bildungspolitikern bedarf. Sie ist nicht zu machen ohne globale Vorausschau, aber noch weniger wird sie verzichten können auf den Appell an den einzelnen Bürger, von dem zuletzt Initiative und Spontaneität unseres Bildungswesens abhängen.«20

18 So hat das Gericht nicht widersprochen, als der Katalog der Auswahlkriterien bei den »harten«

Numerus-clausus-Fächern im Lauf der Zeit erweitert und den Hochschulen eine partielle Mitwirkung bei der Auswahl eingeräumt wurde. 19 So Peter Glotz über mich in seiner Autobiografie »Von Heimat zu Heimat«, 2005, S. 237; die Wertschätzung war wechselseitig, trotz harter Wortgefechte im Bayerischen Landtag und anderswo. 20 Maier, Zukunft (Fn. 15), S. 47 f.

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Politischer Wille oder ökonomisches Gesetz? Einige Anmerkungen zu einem großen Thema1

I. II. III. IV. V. VI.

Manifestationen politischen Willens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Wirken des »ökonomischen Gesetzes« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Zinsverbot – Ein historisches Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Staatliche Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Staatliche Eingriffe und Systemwirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Europäische Währungsunion – Politischer Wille und ökonomische Gesetzmäßigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . VII. Die Interdependenzen der Ordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Manifestationen politischen Willens Das Motto »Politik ist die Kunst des Möglichen« deutet Spielraum und Grenzen des Machbaren an. Im Verhältnis von Politik und Wirtschaft stoßen Wollen und Können, Wunsch und Wirklichkeit im großen Ganzen wie in Einzelbereichen permanent aufeinander.

Für wertvolle kritische Anmerkungen habe ich Marcel Bluhm, Eckhard Janeba, Helmut Hesse und Olaf Sievert zu danken.

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Zeiten des Wahlkampfes liefern hier besonders eindrucksvoll umfangreiches Anschauungsmaterial. Dabei öffnet sich die Skala der vermeintlichen Macht der Politik weit nach oben. Die Versprechungen von Parteien und einzelnen Politikern scheinen keine Grenzen zu kennen. Von den Steuern über die Renten bis zur Umwelt soll in Zukunft alles besser werden, vorausgesetzt der Wähler erteilt mit seiner Stimme das Mandat für die Durchführung einer entsprechenden Politik. Es muß hier offenbleiben, inwieweit die Wahlkämpfer ihren Verheißungen selbst trauen. Es soll jedenfalls der Eindruck erweckt werden, die Verhältnisse ließen sich gemäß dem behaupteten politischen Willen tatsächlich gestalten. Der Bürger muss sich dabei nicht nur fragen, inwieweit er der Absicht Glauben schenkt, sondern auch, ob diese Versprechungen realisierbar sind – ein entsprechendes Wahlergebnis unterstellt. Die Ankündigung etwa, viele neue Arbeitsplätze zu schaffen, trifft auf den allgemeinen Wunsch, die Arbeitslosigkeit deutlich zu verringern. Im nächsten Schritt überlegt der Wähler: Handelt es sich hier um eine seriöse, realistische Zielsetzung? Welchen Einfluß hat der Staat überhaupt auf die Beschäftigung? Soweit es um Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor geht, müssen dann nicht die Steuern und/oder die staatliche Kreditaufnahme erhöht werden, um die zusätzlichen Ausgaben zu finanzieren? Haben diese Maßnahmen aber nicht womöglich den Verlust von Arbeitsplätzen an anderer Stelle zur Folge? Unversehens ist der Bürger hineingezogen in schwierige, komplexe Überlegungen. Die Frage nach der Möglichkeit, den politischen Willen auch durchzusetzen, stellt sich grundsätzlich bei jeder wirtschaftspolitischen Maßnahme des Gesetzgebers wie der Exekutive: Kann das vorgegebene Ziel auch tatsächlich erreicht werden, und wenn ja, mit welchen Mitteln und zu welchen Kosten? Längst äußert sich der politische Wille im Übrigen nicht mehr nur auf der Ebene des Nationalstaates. Wichtige Entscheidungen werden mittlerweile »in Europa« oder darüber hinaus auf der Bühne globaler Regelungen getroffen. Eine wirksame, umfassende Umweltpolitik etwa sprengt den nationalen Rahmen. Die Konferenz von Kopenhagen Ende 2009 hat die globale Dimension des Problems geradezu demonstrativ offenbart. Auf der einen Seite ist das Mitwirken möglichst aller Länder, auf jeden Fall aber der wichtigsten unverzichtbar. Auf der anderen Seite sind die Präferenzen der Akteure so verschieden, die Divergenzen in der Zielsetzung und der Einschätzung der möglichen Wirkung einzelner umweltpolitischer Maßnahmen (und deren Kosten) so groß, dass es nicht überraschen kann, wenn ein Konsens nicht erreicht wurde. Globale Zusammenarbeit erweitert zwar grundsätzlich das Potential des Machbaren. Die Schwierigkeiten, einen gemeinsamen politischen Willen zu formieren, sind aber nur sehr schwer zu überwinden. Seit jeher haben sich Ökonomen nicht nur mit der Frage auseinandergesetzt, welche Maßnahmen geeignet sind, bestimmte Ziele zu erreichen, sondern auch die

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Grenzen des Machbaren ausgelotet. Spätestens seit der Suche Platons nach dem idealen Staat begleiten Entwürfe, die solche Grenzen ignorieren, die Geschichte der Menschheit. Im Anschluß an Thomas Morus hat sich die Kennzeichnung »Utopie« eingebürgert, wenn der irreale Charakter eines Werkes offenkundig erscheint2. Die Beziehung zwischen politischem Willen, der sich einen solchen Entwurf zu eigen macht, und dem ökonomischen Sachzwang, der diesem entgegensteht, löst sich in der Welt der Utopie vollständig auf, das »Reich der Freiheit« überwindet das »Reich der Notwendigkeit«. Die kommunistische Gesellschaft verheißt nach Karl Marx den Zustand, dass »die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden«3. Es fällt leicht, den utopischen Charakter dieser Vorstellung zu konstatieren. Aber wo fängt der politische Wille an, »utopische Dimensionen« anzunehmen? Wo liegen die Grenzen politischer Machbarkeit? Oder dominiert der Zwang ökonomischer Gesetzmäßigkeit in einer Weise, die der Gestaltung durch die Politik keinen Spielraum lässt?

II. Das Wirken des »ökonomischen Gesetzes« Mit diesen zuletzt genannten Fragen setzt sich ein berühmter Aufsatz eines der zu seiner Zeit bekanntesten Ökonomen auseinander. 1914 veröffentlichte Eugen von Böhm-Bawerk den bis heute viel beachteten Beitrag »Macht oder ökonomisches Gesetz?«4. Auf einen kurzen Nenner gebracht lässt sich das Ergebnis seiner Analyse folgendermaßen zusammenfassen: Von Spezialfällen abgesehen, die hier nicht weiter interessieren, können Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen – Böhm-Bawerk spricht von »künstlichen Eingriffen« – temporär tiefgreifende Wirkungen erzielen5. Auf Siehe Ulrich Dierse, Art. Utopie, in: Joachim Ritter / Karlfried Gründer / Gottfried Gabriel (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, 2001, Sp. 510–526; Thomas Morus, Utopia (1516), übersetzt von Gerhard Ritter, 1979. 3 Karl Marx / Friedrich Engels, Die Deutsche Ideologie, in: Hans-Joachim Lieber / Peter Furth (Hrsg.), Karl Marx, Frühe Schriften, Zweiter Band, 1971, S. 5–655 (36). 4 Eugen von Böhm-Bawerk, Macht oder ökonomisches Gesetz?, in: Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung, Bd. XXIII (1914), S. 205–271. Der Verein für Socialpolitik, die Gesellschaft der deutschsprachigen Wirtschaftswissenschaftler, hat ihre Jahrestagung im Jahre 1972 in Bonn unter das Generalthema »Macht und ökonomisches Gesetz« gestellt (siehe den Tagungsband: Hans K. Schneider / Christian Watrin [Hrsg.], Macht und ökonomisches Gesetz, Verhandlungen auf der Tagung des Vereins für Socialpolitik, Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Bonn 1972, Bd. 74, 1973). 5 »Man müßte heutzutage ein Idiot sein, wenn man einen Einfluß der sozial geschaffenen Einrichtun-

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Dauer siegen jedoch die Gegenkräfte rein wirtschaftlicher Natur. »Und eines kann … auch das gebieterischste Machtdiktat nicht: es kann nicht gegen, sondern nur innerhalb der ökonomischen Wert-, Preis- und Verteilungsgesetze wirken, sie nicht aufhebend, sondern bestätigend und erfüllend.«6 Er hält dies für das wichtigste und das sicherste Ergebnis seiner Analyse, die sich zwar auf Fragen der Einkommensverteilung beschränkt, aber, der ganzen Argumentation nach, generelle Gültigkeit beansprucht. Ich habe das Thema für meinen Beitrag in bewusster Anlehnung an Böhm-Bawerk gewählt, den Terminus »Macht« aber aus doppeltem Grunde durch »Politischer Wille« ersetzt. Zum einen spricht zwar Böhm-Bawerk von »Macht«, bezogen insbesondere auf Einflüsse von Marktmacht der Gewerkschaften auf die Lohnhöhe, doch kann man dies stellvertretend für jegliche Eingriffe in das Marktgeschehen nehmen. Zum anderen verlangt das Generalthema dieser Tagung geradezu nach dieser Formulierung. Mit der Ausweitung der Fragestellung habe ich mir jedoch gleichzeitig eine Aufgabe gestellt, die fast unlösbar erscheint, unlösbar jedenfalls im Rahmen eines solchen Beitrags. Es kann hier deshalb nur darum gehen, das komplexe Thema aufzufächern und einzelne Facetten näher auszuleuchten. Lassen Sie mich mit dem Term »ökonomisches Gesetz« beginnen7. Folgt das ökonomische Geschehen unabänderlichen, ehernen Gesetzen, ist es müßig, nach dem (politischen) Spielraum zur Beeinflussung der Wirtschaft zu fragen, so wie niemand auf die Idee käme, physikalische Projekte realisieren zu wollen, die gegen Naturgesetze verstoßen. Immer wieder haben mathematisch ausgerichtete Ökonomen die Exaktheit der Naturwissenschaft quasi zur Messlatte für die Wissenschaftlichkeit ihres Faches erhoben8. Die Literatur berichtet von einer Fülle sogenannter »Gesetze«. Ferdinand Lasalle spitzt den Gültigkeitsanspruch noch zu, wenn er vom »ehernen Lohngesetz« spricht. Seine These, dass der Lohn wegen der von seiner Höhe abhängigen und daher endogenen Bevölkerungsentwicklung auf lange Sicht durch das Existenzminimum bestimmt ist, zählt wohl zu den Auffassungen, die durch die Wirklichkeit gen und Maßregeln auf die Güterverteilung leugnen wollte…«, Böhm-Bawerk, Macht (Fn. 4), S. 207. 6 Böhm-Bawerk, Macht (Fn. 4), S. 266. 7 Siehe dazu: Karl Popper, Logik der Forschung, 8. Aufl. 1984; Hans Albert, Der Gesetzesbegriff im ökonomischen Denken, in: Hans K. Schneider / Christian Watrin (Hrsg.), Macht und ökonomisches Gesetz, Schriften des Vereins für Socialpolitik, Verhandlungen auf der Jubiläumstagung in Bonn vom 4.–7. September 1972, Bd. 74 II, 1973, S. 129–161. 8 Als ein Beispiel für diesen Anspruch siehe den Titel des Buches eines frühen Vertreters: Léon Walras, Théorie mathématique de la richesse sociale (1883). Zum Verhältnis von Naturwissenschaften und Wirtschaftswissenschaften siehe etwa: Friedrich August von Hayek, Die Anmaßung von Wissen, in: Wolfgang Kerber (Hrsg.), Neue Freiburger Studien, 1996, S. 3–16. Zur Diskussion: Albert, Gesetzesbegriff (Fn. 7).

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besonders deutlich widerlegt sind, und im Übrigen auch der Entwicklung der Theorie nicht standgehalten haben. Vom »Greshamschen Gesetz« – das schlechte Geld verdrängt unter bestimmten Bedingungen das gute – kann man dagegen möglicherweise behaupten, dass es bisher nicht widerlegt werden konnte. Die meisten »Gesetze« beziehen sich auf einzelne Phänomene. Dagegen erhebt Karl Marx den Anspruch, »das Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen«, im Sinne einer objektiven Erkenntnis, eines »Naturgesetzes«9. Ohne diese Diskussion weiter vertiefen zu wollen sei darauf verwiesen, dass es im Vergleich nur relativ wenige nomologische Hypothesen zur terminologischen Ehre eines »Gesetzes« schaffen. Daneben existiert eine unübersehbare Vielfalt von »Theoremen« und »Effekten«, wobei die Zuordnung einer nomologischen Aussage zu der jeweiligen Kategorie schlichtweg willkürlich erscheint10. Viele nomologische Hypothesen, die zunächst als uneingeschränkt gültig präsentiert wurden, haben sich in ihrem Gültigkeitsanspruch als abhängig von den Umständen (abhängig von der Erfüllung bestimmter Rahmenbedingungen) erwiesen und sind bis heute Gegenstand wissenschaftlicher Kontroversen. Das Objekt »Wirtschaft« in seinen gesellschaftlichen und historischen Umweltbedingungen wie in seiner vom Verhalten der Personen abhängigen Ausprägung, eignet sich grundsätzlich nicht für die Ableitung »eherner Gesetze«. Im Übrigen sind so gut wie alle »Gesetze« etc. unter teilweise sehr restriktiven Annahmen abgeleitet, die in der Wirklichkeit so nicht zutreffen11. Genauso falsch wäre es aber, jegliche »Gesetzmäßigkeit« in den Zusammenhängen zu bestreiten. Ganz im Gegenteil – es gibt zahlreiche Gesetzmäßigkeiten im Wirtschaftsgeschehen. Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen, bei denen der Urheber solche ökonomischen Gesetzmäßigkeiten ignoriert, verfehlen die damit verbundene Absicht, beziehungsweise sind mit je nach den Umständen mehr oder minder starken negativen Wirkungen verbunden12. Siehe Werner Krawietz u. a., Art. Gesetz, in: Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, 1974, Sp. 480–514. 10 Die Zeitschrift Wirtschaftswissenschaftliches Studium z. B. führt seit vielen Jahren eine Rubrik »Gesetze, Effekte, Theoreme«. 11 Nach dem sogenannten Modigliani-Miller-Theorem zum Beispiel ist der Wert einer Unternehmung oder Investition unabhängig von der Art der Finanzierung (Eigen- oder Fremdkapital). Eine zentrale Voraussetzung dieses Ergebnisses ist die Abwesenheit von Steuern. Trotz dieser offenkundig unrealistischen Annahme hat dieses Theorem aber Wege zu wichtigen Erkenntnissen der Finanzierungstheorie geöffnet. 12 Ökonomische Gesetzmäßigkeiten entfalten sich innerhalb einer staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung. Gleichzeitig wirkt das ökonomische Geschehen auf diese zurück. Die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten sind nicht unabhängig von den staatlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wie auch den ethisch bedingten Verhaltensweisen. Diesen Zusammenhang haben die klassischen Nationalökonomen nie aus dem Auge verloren. Dies kommt schon im Titel »Politische Ökonomie« zum Ausdruck. Adam Smith ist im übrigen nicht von ungefähr nicht nur der Autor des »Wealth of Nations« – ein 9

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Gleichzeitig beruht jeder Eingriff in das Wirtschaftsgeschehen auf Annahmen über seine Wirkungen und damit auf Hypothesen über entsprechende ökonomische Gesetzmäßigkeiten. In Gutachten und Beratungen, im Sachverstand, der in der Administration selbst vorhanden ist, fließt die ökonomische Wissenschaft in die Vorbereitung der staatlichen Maßnahmen ein. Dies gilt für die Begründung staatlichen Handelns ebenso wie für Warnungen vor negativen Folgen von Eingriffen. Nicht selten äußert sich der fragwürdige Charakter politischer Versprechungen bereits auf der Ebene rein formaler Logik. Slogans wie »die Renten werden nicht sinken« (die Aussage suggeriert »niemals«) sind vereinfacht an der Beziehung zwischen folgenden Variablen zu messen: Unter der Annahme gegebener demographischer Entwicklung sieht sich die Politik in einem strikt beitragsfinanzierten Rentensystem mit wenigen Parametern konfrontiert: Die Höhe der Rente, der Eintritt in den Rentenbezug und der Beitragssatz. Es liegt auf der Hand, dass die Politik nicht alle drei Parameter gleichzeitig nach Gutdünken oder sozialer Absicht beliebig festlegen kann. Werden die Rentenhöhe und das Eintrittsalter fixiert, folgt der dazu nötige Beitragssatz den Zwängen der Sachlogik. Eine Abhängigkeit der Rentenhöhe von der Lohnentwicklung bringt erst im eigentlichen Sinne ökonomische Zusammenhänge – »Gesetzmäßigkeiten« – ins Spiel, wie Erwerbsquote, Produktivität etc. Mit etwaigen Zuschüssen aus dem allgemeinen Staatsbudget erweitert sich das Geschehen um eine weitere Variable, und mit einer teilweise steuerlichen Finanzierung (oder zusätzlicher öffentlicher Verschuldung) und deren Rückwirkungen auf Wachstum und Beschäftigung öffnet sich dann der ganze Kosmos wirtschaftlicher Interdependenzen. Die steigende Komplexität der Anforderungen an die politische Gestaltung offenbart die grundsätzliche Begrenzung politischer Macht durch das Wirken wirtschaftlicher Gesetzmäßigkeiten. Dies führt weiter zu der Frage, inwieweit die Politik überhaupt in der Lage ist, die Wirtschaft durch Eingriffe nach einem vorliegenden Entwurf rational zu gestalten. Hayek spricht von »Konstruktivismus« und stellt dem die sich spontan bildende Marktordnung der Wirtschaft gegenüber. Der fundamentale Fehler des Konstruk-

Werk, das dem ganzen Kosmos der Rahmenbedingungen Rechnung trägt –, sondern auch der »Theory of Moral Sentiments«. Mit der zunehmenden Spezialisierung haben sich andere Wissenschaften, wie z. B. die Soziologie, dem Bereich gewidmet, der bei den Ökonomen mehr und mehr in den Kanon der »Ceteris-Paribus-Bedingungen« gewandert ist. Man denke nur an Max Webers Arbeiten zum Zusammenhang zwischen Religion und wirtschaftlicher Aktivität. Inzwischen haben Überlegungen der Evolutionstheorie und der Biologie Eingang in ökonomische Untersuchungen gefunden. Die Diskussion über »ökonomische Gesetzmäßigkeiten« darf nicht an den Grenzen der Ceteris-Paribus-Bedingungen enden. In diesem Sinne haben Ökonomen wie Mancur Olson eine »Umfassende Ökonomie« gefordert. (Mancur Olson, Umfassende Ökonomie, 1991.)

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tivismus liegt in einer »Anmaßung von tatsächlichem Wissen« – Wissen, das auch durch den wissenschaftlichen Fortschritt nicht erlangt werden kann13.

III. Das Zinsverbot – Ein historisches Beispiel Die Geschichte kennt eine Unzahl von Eingriffen in das Marktgeschehen. Als ein historisch herausragender Fall ist das kanonische Zinsverbot von 789 zu nennen14. Besonders interessant an diesem Fall ist das Zusammenwirken mehrerer Faktoren, nämlich einer theoretischen Begründung, dem Verweis auf das Gebot der Religion und die generelle negative Einstellung der Gesellschaft gegenüber einem Marktphänomen. Eine stärkere Fundierung »politischen Willens« – um in der Terminologie dieses Beitrages zu bleiben – kann man sich kaum vorstellen15. Auf die Lehren der großen Weltreligionen kann hier nur verwiesen werden, und der Abscheu gegenüber dem »Wucher« hat die Jahrhunderte überdauert, wobei hier der Konsumentenkredit, oft verstanden als Ausnutzung einer Notlage, im Vordergrund steht. Die theoretische Begründung des kanonischen Zinsverbots geht in erster Linie auf Aristoteles zurück. Nach seinem Urteil ist das Geld für den Tausch entstanden, »der Zins aber weist ihm die Bestimmung an, sich durch sich selbst zu vermehren«. Damit ist das Gewerbe des »Wucherers mit vollstem Recht eigentlich verhaßt, weil es aus dem Gelde selbst Gewinn zieht und nicht aus dem, wofür das Geld doch allein erfunden ist«. Der Zins stammt »als Geld vom Gelde. Daher widerstreitet auch diese Erwerbsweise unter allen am meisten dem Naturrecht«16. Die Scholastik und insbesondere Thomas von Aquin nehmen diesen Gedanken von Aristoteles wieder auf, das Zinsverbot wird jetzt nicht nur mit Berufung auf die Schrift, sondern juristisch-ökonomisch, wissenschaftlich begründet. Thomas von Aquin bezieht sich ausdrücklich auf »den Philosophen«, nach dem das Geld hauptsächlich zum Zweck des Tausches eingeführt wurde; es ist dazu da, verbraucht oder verausgabt zu werden. »Dieserhalb ist es an sich unerlaubt, für den Gebrauch des ausgeliehenen Geldes den Preis zu nehmen, der Zinswucher heißt. Und wie sonst ungerecht Erworbenes der Mensch gehalten ist, zurückzuerstatten, so auch das Geld, das 13 von Hayek, Wissen (Fn. 8), S. 26. 14 Zum Folgenden siehe Otmar Issing, Minderheiten im Spannungsfeld von Markt und Regulierung,

in: Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse 8, Akademie der Wissenschaften und der Literatur, 1991, S. 17 ff. 15 Der Islam verbietet bis heute das Zinsnehmen. Das sog. »Islamic Banking« mit seinen Sonderformen hat inzwischen einen bemerkenswerten Marktanteil im Weltfinanzsystem errungen. 16 Aristoteles, Politik, Erstes Buch, Kapitel X (1258 b 5), übersetzt von Eugen Rolfes, 1981, S. 23.

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er durch Zinswucher bekommen hat.«17 Zinsnehmen ist also nicht nur eine Sünde – der Abschnitt zur »Zinssünde« steht unmittelbar nach dem über die Betrügerei –, sondern als Verstoß gegen die Gerechtigkeit auch ein weltliches Verbrechen18. Mit der wissenschaftlichen Betrachtung eröffnet die Scholastik aber nicht nur den Blick auf eine Vielfalt von zinsnahen Phänomenen – und damit Möglichkeiten zur Umgehung des Zinsverbots –, sondern bereitet auch den Boden für eine nachfolgende kritische Diskussion des Zinsverbotes. Lange Zeit aber steht das Zinsnehmen auf der Stufe der Kapitalverbrechen. Das kirchliche Denken wurde noch auf lange Zeit von solchen Vorstellungen bestimmt19. Wie die Geschichte gerade in diesem Fall lehrt, kann man zwar das Zinsnehmen verbieten und sogar die Existenz eines Phänomens wie den Zins leugnen – in der Realität setzen sich aber die wirtschaftlichen Notwendigkeiten durch. Wie die theoretische Entwicklung später herausgearbeitet hat, – der bereits in anderem Zusammenhang genannte Eugen von Böhm-Bawerk hat dazu einen wichtigen Beitrag geleistet – ist der Zins der Preis für die zeitweise Überlassung von Finanzmitteln, also der Preis für Kredit. Mit dem Zinsverbot kann man den Bedarf an Kredit nicht aus der Welt schaffen. Von Ausnahmefällen abgesehen wird aber niemand bereit sein, Kredit ohne Kompensation, also ohne ein Zinsversprechen zu geben. Diese Erkenntnis blieb schon den Scholastikern nicht verborgen20. Eine Vielzahl von Umgehungsmöglichkeiten wurde geschaffen, wie Kauf einer Ware gegen Kredit über dem Marktpreis und sofortiger Verkauf zum niedrigeren Preis, durch Handgelder oder Renten17 Thomas von Aquino, Summe der Theologie, zusammengefaßt, eingeleitet und erläutert von Joseph

Bernhart, Bd. III, Der Mensch und das Heil, 3. Aufl. 1985, S. 357 (= S. Th. II-II 78.1 corp. a. E.). 18 Dazu Wilhelm Endemann, Die nationalökonomischen Grundsätze der canonistischen Lehre, Jahr-

bücher für Nationalökonomie und Statistik, 1863, S. 26–47 (41). Zu den Bemühungen der Kirche, gerade über die Wuchergesetze eine »kirchliche Wirtschaftspolitik im Staat durchzusetzen«, siehe: Bruno Kuske, Die Entstehung der Kreditwirtschaft und des Kapitalverkehrs, in: Die Kreditwirtschaft, Erster Teil, Kölner Vorträge, Bd. I, 1926/27, S. 1–79 (8 ff.). In derselben Quelle auf S. 7 weist Bruno Kuske auch darauf hin, dass es neben dem »ethischen« auch einen »geschäftlichen« Wucherbegriff gab, der völlig moralfrei war. 19 Siehe dazu auch die drei Schriften: Martin Luther, Großer Sermon von dem Wucher (1520); Martin Luther, Von Kauffshandlung und Wucher (1524); Martin Luther, An die Pfarrherren, wider den Wucher zu predigen (1540). Zu einer Interpretation aus heutiger Sicht siehe insbesondere: Helmut Hesse, Über Luthers »Von Kauffshandlung und Wucher«, in: Horst Recktenwald / Wolfram Engels / Herbert Hax / Friedrich August von Hayek (Hrsg.), Vademecum zu einem frühen Klassiker der ökonomischen Wissenschaft, 1987, S. 25–57. 20 »Die menschlichen Gesetze lassen manche Sünden straflos wegen der Lage der unvollkommenen Menschen, bei denen vieles Nützliche unterbliebe, wenn alle Sünden streng durch Strafanwendung verhütet würden. Darum hat das menschliche Gesetz die Zinsnahme gestattet, nicht als ob sie der Gerechtigkeit entspräche, sondern damit der Nutzen vieler nicht verhindert wird.« Thomas von Aquino, Theologie (Fn. 17), S. 357 (= S. Th. II-II 78.1 ad 3).

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kauf21. Außenseiter der Gesellschaft wurden vom Zinsverbot ausgenommen. Durch das Zinsgesetz von 1255 wurde Nichtchristen und Fremden, d. h. de facto Juden und Lombarden das Zinsgeschäft erlaubt22. In dieser unübersichtlichen Gemengelage war die Kreditvergabe mit hohen Risiken verbunden. Teilweise exorbitant hohe Zinssätze waren die zwangsläufige Folge23. Das (prinzipielle) Verbot des Zinsnehmens hatte die aus der Sicht des Gesetzgebers perverse Konsequenz, den Zins bei aus der wirtschaftlichen Notwendigkeit heraus erlaubten Kreditgeschäften weit über das sonst mögliche Niveau hinaus zu treiben. Adam Smith bemerkt dazu: »In einigen Ländern wurde der Geldzins durch Gesetz verboten. (…) Wie die Erfahrung lehrt, hat das Zinsverbot das Übel des Wuchers noch vergrößert, anstatt es zu verhindern. Der Schuldner muss nun nicht nur für den Gebrauch des Geldes, sondern auch für das Risiko bezahlen, welches ein Gläubiger eingeht, wenn er einen Ausgleich für die Nutzung annimmt. Der Schuldner ist gleichsam verpflichtet, seinen Gläubiger gegen die Strafe zu versichern, die für Wucher droht.«24 Das kanonische Zinsverbot steht beileibe nicht allein in der Geschichte. Der Zins hat seinen »moralischen Schatten« (Böhm-Bawerk) nie verloren25. Die politische Versuchung, in die Kreditbeziehungen einzugreifen und den Zins bzw. die Zinshöhe zu begrenzen, ist offenbar so groß, dass es immer wieder zu entsprechenden Maßnahmen gekommen ist. Die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten schlagen jedoch unweigerlich zurück. Der Marktzins bleibt sozusagen der unerbittliche Richter über die Knappheit des Kapitalangebots im Allgemeinen und über relative Renditen unter Unsicherheit im Besonderen26. Die Unterdrückung des Zinses und die willkürliche Festlegung seiner Höhe verlangen ökonomisch und gesellschaftlich gesehen einen hohen Preis27. 21 Maximilian Neumann, Geschichte des Wuchers in Deutschland bis zur Begründung der heutigen

Wuchergesetze (1654), 1865. 22 Franz Xaver Funk, Geschichte des kirchlichen Zinsverbotes, 1876, S. 25.

Diese Ausgrenzung einer Minderheit und die potenziell spannungsvolle Beziehung zwischen Gläubiger und Schuldner trug zu einer Situation bei, die sich allenthalben in den furchtbaren Pogromen entlud. Siehe dazu Otmar Issing, Minderheiten (Fn. 14), S. 22 ff. und die dort angegebenen Literaturhinweise. 23 Siehe Otmar Issing, Minderheiten (Fn. 14), S. 25. 24 Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen (1776), aus dem Englischen übertragen von Horst Recktenwald, 1974, S. 294. 25 Siehe Otmar Issing, Vom Stigma befreit?, in: Konferenz der Deutschen Akademien der Wissenschaften (Hrsg.), Geld, Musik, Mythos, Macht: Geisteswissenschaften im Dialog, 1996, S. 29–44. 26 Der Einfachheit halber wird hier jeweils mit »dem« Zins argumentiert. In der Wirklichkeit existiert eine Vielzahl von Zinssätzen. Damit sind entsprechende Eingriffe in ihren Folgen noch schwieriger zu übersehen. 27 In den kommunistischen Planwirtschaften warf das marxistische Dogma von der Nichtexistenz des

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IV. Staatliche Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen Gegenüber diesem krassen Fall des Verbotes eines so wichtigen wirtschaftlichen Phänomens wie des Zinses findet sich über Zeit und Länder hinweg eine Vielzahl von staatlichen Eingriffen in Form von Höchst- und Mindestpreisen. Auch wenn diese Art von Eingriff inzwischen hinreichend diskreditiert erscheint, wird sie immer wieder praktiziert. Im Übrigen lässt sich am Beispiel eines Höchstpreises das Spannungsverhältnis zwischen politischem Willen und ökonomischer Gesetzmäßigkeit anschaulich demonstrieren. Ein mit sozialer Absicht erlassener Höchstpreis, zum Beispiel für Brot, schafft unweigerlich ein Defizit des Angebots gegenüber der Nachfrage. Rationierung der Nachfrage oder Subventionierung des Angebots, Höchstpreise für Substitutionsgüter etc. sind die Folgen aus den ökonomischen Gesetzmäßigkeiten. Eingriffe in den Wohnungsmarkt in Form von Mietbeschränkungen, ein besonders »beliebter Fall«, lösen ebenfalls eine ganze Kette von zusätzlichen Eingriffen (Berechtigungsscheine etc.) aus. Eine weitere Begleiterscheinung solcher Eingriffe, mit der die ökonomische Gesetzmäßigkeit quasi zurückschlägt, ist das Aufkommen »schwarzer Märkte«. Ein aktueller und in Deutschland seit einiger Zeit politisch heftig umstrittener Fall betrifft den Mindestlohn. Es ist hier nicht der Ort, auf die vielen Varianten eines Mindestlohnes (nach Branchen etc.) einzugehen. Der umfassendste staatliche Eingriff wäre ein allgemein gültiger gesetzlicher Mindestlohn. Dessen Wirkung auf den Arbeitsmarkt und vor allem auf die Beschäftigung hängt naheliegenderweise von seiner Höhe ab. Ab einer nicht einfach zu bestimmenden Höhe, die über dem markträumenden Gleichgewichtswert liegt, kann ein solcher Eingriff zwar den Lohn derer erhöhen, die zu diesem Preis Arbeit finden. Gleichzeitig zerstört es die Chancen, eine Beschäftigung zu finden, für alle diejenigen, deren Produktivität unter dem staatlich verordneten Lohnniveau liegt. Kommt es als Folge eines derart festgelegten gesetzlichen Mindestlohnes zu erhöhter Arbeitslosigkeit, wird die ursprüngliche soziale Absicht in ihr Gegenteil verkehrt. Die ökonomische Gesetzmäßigkeit kann durch das politische Wollen nicht überwunden werden. Von dieser unmittelbaren ökonomischen Wirkung abgesehen können von einem gesetzlichen Mindestlohn nicht zu unterschätzende Gefahren für das Gemeinwesen ausgehen. Mit dem gesetzlichen Mindestlohn greift der Staat in das Marktgeschehen ein. Er beansprucht eine Kompetenz, die vorher dem Markt bzw. den Tarifparteien Zinses kaum lösbare Schwierigkeiten auf. Inhaltlich wie terminologisch (in der DDR wurde 1966/67 eine »Produktionsfondsabgabe« eingeführt) mussten alle möglichen Kunstgriffe aufgeboten werden, um den Kapitaleinsatz ökonomisch sinnvoll – d. h. eben unter Berücksichtigung des Zinses – zu planen, ohne dass dies je wirklich gelungen wäre.

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überlassen war. Dieser Anspruch wird unvermeidbar dazu führen, dass die Höhe des gesetzlichen Mindestlohnes in die politische Auseinandersetzung einbezogen wird. Muss man nicht befürchten, dass im nächsten Wahlkampf ein Überbietungswettbewerb in Sachen Mindestlohnhöhe stattfindet? In jedem Falle folgt aber aus der staatlichen Einmischung eine politische Verantwortung für die Folgen. Es besteht die große Gefahr, dass die Erwartungen an den Staat seine Möglichkeiten übersteigen und das Vertrauen in die Politik im Falle des Misserfolgs leidet. Die Erfahrungen in der Weimarer Republik sollten als ernste Warnung dienen. Staatliche Schlichtung von Tarifkonflikten bis hin zur Zwangsschlichtung entließen die Tarifparteien aus ihrer Verantwortung und bürdeten diese dem politischen Prozess auf. Als die mit der Übernahme dieser Verantwortung anscheinend legitimierten Ansprüche nicht eingelöst werden konnten, richtete sich die Enttäuschung schließlich auf das »System« schlechthin28. Auch wenn sich die Lage in Deutschland heute mit der äußerst labilen Situation von damals nicht vergleichen lässt, bleibt das Argument richtig und wichtig, dass die Marktwirtschaft als prinzipiell unpolitisches Zuteilungssystem eine bedeutende Entlastung der Politik darstellt, die man nicht aufs Spiel setzen sollte. Andere hinreichend bekannte Fälle sind Mindestpreise für Nahrungsmittel in der Europäischen Union, die zu den berüchtigten Butterbergen oder Milchseen und zu für die öffentliche Hand teuren Vernichtungsaktionen für ein Überangebot an Obst geführt haben. Die dargelegten Beispiele veranschaulichen die Grenzen der Umsetzung politischen Willens gegenüber ökonomischen Gesetzmäßigkeiten. Obgleich einfachen theoretischen Überlegungen folgend und empirisch bestätigt, unternimmt die Politik immer wieder derartige Versuche. Sie macht sich dagegen die Marktbeziehungen zunutze, wenn sie etwa Umweltnutzungen versteigert oder durch sog. Pigou-Steuern zu umweltfreundlichem Verhalten oder Einschränkungen des Konsums bestimmter als schädlich angesehener Güter veranlassen möchte. Hier trifft die oben zitierte Aussage Böhm-Bawerks zu – die »Wert-, Preis- und Verteilungsgesetze« werden genutzt und bestätigt. Daher spricht man von marktkonformen Maßnahmen. Die von Böhm-Bawerk behauptete bloß temporäre Wirkung von Eingriffen kann allerdings in dem Maße zeitlich verlängert werden, in dem die Politik an ihren Maßnahmen festhält und sie durch weitere Eingriffe unterstützt oder sogar verstärkt. Die ökonomische Gesetzmäßigkeit zeigt sich dann in entsprechenden Weiterungen zum Beispiel in Form höherer Ausgaben für Arbeitslosigkeit im Falle des gesetzlichen Mindestlohnes, größeren Defiziten in den öffentlichen Haushalten oder höheren 28 Siehe Kurt Borchardt, Wirtschaftliche Ursachen des Scheiterns der Weimarer Republik, in: Karl

Dietrich Erdmann / Hagen Schulze (Hrsg.), Weimar – Selbstpreisgabe einer Demokratie: eine Bilanz heute, 1980, S. 211–251 (218 ff.).

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Steuern (mit weiteren negativen Folgen für Wachstum und Beschäftigung). Nach der Vorstellung Böhm-Bawerks setzt sich aber das ökonomische Gesetz auf längere Sicht durch. In der Modell-Welt Böhm-Bawerks führt das »ökonomische Gesetz« auf lange Sicht die ökonomischen Variablen (z. B. den Lohn) auf den von den exogenen Rahmenbedingungen determinierten Gleichgewichtswert zurück. Diese Annahme erscheint insofern problematisch, als das Gleichgewicht selbst durch die Eingriffe verändert werden könnte. Führt z. B. steigender Lebensstandard zu einem Rückgang des Bevölkerungswachstums, wird der vom »ehernen Lohngesetz« behauptete Zusammenhang aufgehoben. Das nächste Kapitel greift diese Zusammenhänge auf. Auf die Möglichkeit multipler Gleichgewichte sei hier nur verwiesen.

V. Staatliche Eingriffe und Systemwirkungen Die ökonomische Gesetzmäßigkeit in den bisher beschriebenen Fällen von Eingriffen äußert sich auf Einzelmärkten. Böhm-Bawerk sieht die Auflösung des mit dem Eingriff geschaffenen Ungleichgewichts in der Durchsetzung des Marktgeschehens in Richtung Gleichgewicht. Dies muss, wie oben dargelegt, nicht das »alte« Gleichgewicht sein. Wegen des komplexen Wirkungszusammenhangs erscheint es ohnehin fraglich, dass dies auch das Ziel des Eingriffs gewesen ist. Das politische Wollen kann jedoch gegen diese immanenten Wirkungen gerichtet sein, es kann darauf zielen, die soziale oder wie auch immer motivierte, vom Marktergebnis verschiedene Absicht dauerhaft durchzusetzen. Die anfängliche Maßnahme zieht dann unweigerlich weitere Eingriffe nach sich: Auf den Höchstpreis für Brot folgen ein Höchstpreis für Getreide, Höchstpreise für andere Nahrungsmittel etc. Am Ende dieser Kette – wenn nicht bereits am Anfang eines darauf ausgerichteten Konzepts – ergibt sich dann ein umfassendes Bewirtschaftungssystem. So folgt ein Eingriff dem anderen, die Maßnahmen breiten sich wie ein »Ölfleck« aus. Die Problematik marktwidriger Eingriffe wächst mit dem Umfang und der Komplexität solcher Maßnahmen. Mit der Zunahme der Dichte der regulierenden Maßnahmen verändert sich, möglicherweise zunächst kaum bemerkt, auch der Charakter einer Gesellschaft. Niemand hat diesen schleichenden Prozess eindrucksvoller beschrieben als Alexis de Tocqueville: »Nachdem der Souverän auf diese Weise den einen nach dem anderen in seine mächtigen Hände genommen und nach seinem Gutdünken zurechtgeknetet hat, breitet er seine Arme über die Gesellschaft als Ganzes aus; er bedeckt ihre Oberfläche mit einem Netz verwickelter, äußerst genauer und einheitlicher kleiner Vorschriften, die die ursprünglichsten Geister und kräftigsten Seelen nicht zu durchbrechen vermögen, um sich über die Menge hinauszuschwingen; er bricht ihren Willen nicht, aber er weicht ihn auf und beugt und lenkt ihn;

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er zwingt selten zu einem Tun, aber er wendet sich fortwährend dagegen, daß man etwas tue; er zerstört nicht, er hindert, daß etwas entstehe; er tyrannisiert nicht, er hemmt, er drückt nieder, er zermürbt, er löscht aus, er stumpft ab, und schließlich bringt er jedes Volk soweit herunter, dass es nur noch eine Herde ängstlicher und arbeitsamer Tiere bildet, deren Hirte die Regierung ist.«29 Tocqueville beschreibt die – nicht notwendigerweise beabsichtigte – Wirkung eines Prozesses, der über eine Vielzahl von Eingriffen in das Alltagsleben private Initiative lähmt sowie persönliches Verantwortungsbewusstsein untergräbt, und damit die Sphäre persönlicher Freiheit in fataler Weise immer mehr einschränkt30. Haben diese Überlegungen noch einen Bezug zum Thema? In den ökonomischen Gesetzmäßigkeiten spiegeln sich die wirtschaftlichen Entscheidungen der Individuen wider, ob als Konsument oder Produzent, als Sparer oder Investor, als Anbieter von Arbeit oder als Nachfrager. Die Entscheidungen der Individuen gehen wiederum auf deren Präferenzen zurück. Der Staat kann also – wählt er nicht marktkonforme Maßnahmen – zum Beispiel einen Höchstpreis für Brot festsetzen, aber er kann nicht gleichzeitig bestimmen, welche Menge der Einzelne zu diesem Preis freiwillig anbieten beziehungsweise nachfragen will. Die daraus entstehende Diskrepanz führt unweigerlich zu weiteren Eingriffen wie Rationierung und so weiter. Die ökonomische Gesetzmäßigkeit zwingt den Staat entweder zur Rücknahme des marktwidrigen Eingriffs oder zu weiteren Maßnahmen, die wiederum auf die von der ökonomischen Gesetzmäßigkeit gezogenen Grenzen stoßen. Mit der Fülle der Eingriffe und der Ausbreitung erzwungenen Verhaltens verändert sich der Charakter der Gesellschaft. Denn die Wirtschaft verkörpert nun einmal einen alles andere als unwesentlichen Teil der Gesellschaft als Ganzes. Eine freiheitliche Gesellschaft ist nicht denkbar ohne Freiheit für wirtschaftliche Entscheidungen der Individuen, ob als Unternehmer oder Konsument. Wirtschaftliche Entscheidungen wie Investitionen sind auf die Zukunft gerichtet und sind daher unter Unsicherheit zu treffen. Die Dynamik von Wirtschaft und Gesellschaft hängt fundamental davon ab, wie sie mit den im Prinzip unvermeidlichen Zukunftsrisiken umgeht. Die Überlegenheit der Marktwirtschaft gegenüber anderen Systemen liegt gerade im immanenten Anreiz für Private, Chancen gegen Risiken abzuwägen und mit der Aussicht auf Gewinn etwas zu unternehmen. Im Wettbewerb der Ideen und Aktivitäten werden die Möglichkeiten ausgelotet, das in vielen Individuen verkörperte Wissen wird im Interesse der Gesamtheit ausgeschöpft, der Markt fungiert 29 Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika (1835/40), aus dem Französischen übertra-

gen von Hans Zbinden, 2. Aufl. 1984, S. 815. 30 »In den demokratischen Zeitaltern ist daher, wie mir scheint, der Despotismus besonders zu fürch-

ten. Ich hätte, denke ich, die Freiheit in allen Zeiten geliebt; in der heutigen Zeit aber neige ich dazu, sie zu vergöttern.« Tocqueville, Demokratie (Fn. 29), S. 818.

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als »Entdeckungsverfahren«. Der liberale Rechtsstaat setzt den Rahmen innerhalb dessen sich die Einzelnen frei entfalten können. Eine Wirtschaft ohne Unternehmer schöpft ihre Möglichkeiten bei weitem nicht aus und muss im internationalen Wettbewerb zurückfallen. Nach den vorliegenden Erfahrungen kann man von einer »Gesetzmäßigkeit« sprechen. In der Diskussion um die Ordnung der Finanzmärkte werden die Prinzipien deutlich: Akteure auf den Finanzmärkten können die Gewinne (nach Steuern) aus ihren Aktivitäten behalten, sie haften aber uneingeschränkt für verlustreiche Entscheidungen mit der finalen Sanktion der Insolvenz. Wachsen Finanzinstitute in eine Dimension, in der ihr Untergang systemische Risiken verursachen könnte, also das ganze Finanzsystem – und möglicherweise die Wirtschaft insgesamt – bedroht, werden die Prinzipien einer freiheitlichen Ordnung der Märkte gefährdet. »Too big to fail« verzerrt die Aktivitäten in Richtung überhöhter Risiken (Moral Hazard), da im Verlustfall der Staat einspringen wird. Die Gesellschaft, die Steuerzahler werden von privaten Akteuren quasi zur Geisel genommen. »Die Wirtschaft« bestimmt insoweit das politische Handeln, das Verhältnis von Politik und Wirtschaft wird auf den Kopf gestellt. Regeln zu etablieren, die diesem Problem dauerhaft abhelfen, ohne das System freier Finanzmärkte zu gefährden, stellt die größte Herausforderung für das Bemühen dar, eine neue Ordnung für die Finanzmärkte zu schaffen31. In den Beziehungen zwischen Wirtschaft und Gesellschaft spielen ökonomische Gesetzmäßigkeiten dynamischen Charakters eine wichtige Rolle. Es geht nicht mehr (nur) um die Prozesse, die durch staatliche Eingriffe im Sinne der Störung eines Gleichgewichts ausgelöst werden, sondern um Bedingungen von Wachstum und Fortschritt. Tocqueville beschreibt, wie Selbständigkeit und Initiativen in der Dichte staatlicher Regulierung zum Erlahmen kommen. Im Umkehrschluss lässt sich beschreiben, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit sich möglichst viele Akteure an der Suche nach neuen und besseren Lösungen wirtschaftlicher Probleme beteiligen32. Wie bereits erläutert setzt die Wirtschaftspolitik einerseits Rahmen- und Randbedingungen für privates Wirtschaften. Sie greift andererseits häufig mit nichtmarktkonformen wie marktkonformen Maßnahmen in das Wirtschaftsgeschehen ein. Damit löst die Wirtschaftspolitik vielfältige, im Einzelfall beabsichtigte, häufig aber auch unbeabsichtigte Wirkungen aus. Gute Wirtschaftspolitik zeichnet sich dadurch aus, dass sie ihre Möglichkeiten nicht überschätzt, sich nicht in komplexen, 31 Siehe Otmar Issing, Some Lessons from the Financial Market Crisis, in: International Finance 12 (2009), S. 431–444. 32 Siehe z. B. eine neuere Veröffentlichung über Erfahrungen verschiedener Länder: Leszek Balcerowicz / Stanley Fisher (Hrsg.), Living Standards and the Wealth of Nations: Successes and Failures in Real Convergence, Cambridge and London, 2006.

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vielfältigen Eingriffen selbst um die notwendige Zielgenauigkeit bringt, vor allem aber die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten beachtet. Je besser ihr das gelingt, desto mehr entsprechen die Wirkungen der wirtschaftspolitischen Maßnahmen den Ankündigungen, desto stärker wird das Vertrauen der Bürger in die Politik. Man mag lange darüber streiten, inwieweit man hier noch von »Gesetzmäßigkeiten« sprechen sollte. Gleichwohl bieten Theorie und Empirie Evidenz für bestimmte Muster, die Wachstum und Wohlfahrt förderlich sind, und solche, für die das Gegenteil gilt. Zwischen den extremen Polen, etwa der Rahmenordnung eines liberalen Rechtsstaats und der zentralistischen Planwirtschaft finden sich so viele Varianten, dass es schwierig fallen dürfte, hier eindeutige Zuordnungen vornehmen zu wollen. Es bleibt wohl nur der Weg, die Beziehung zwischen politischem Wollen und der ökonomischen Gesetzmäßigkeit in der ständigen Auseinandersetzung zu orten und die richtigen, das heißt zielgerechten Entscheidungen zu treffen. Die Methode von Versuch und Irrtum, in der Politik wie in der Wirtschaft, kann dabei einen wichtigen Beitrag leisten. Die Wirkungen politischen Willens auf die Wirtschaft, genauer auf die Handlungen der Akteure, können einsetzen, bevor entsprechende Maßnahmen getroffen wurden. Nach der Theorie der rationalen Erwartungen nehmen die Wirtschaftssubjekte wirtschaftspolitische Entscheidungen bereits vorweg, stellen sich also in ihren Plänen über Sparen und Investieren etc. darauf ein. Es ist hier nicht der Ort, diesen wichtigen Beitrag im Detail zu diskutieren. Die Wirtschaftspolitik hat jedenfalls die Erwartungen der wirtschaftlichen Akteure zu berücksichtigen. Genießt die Politik Glaubwürdigkeit, kann bereits die Ankündigung wirtschaftspolitischer Maßnahmen das Verhalten positiv beeinflussen. Mangelnde Glaubwürdigkeit drückt sich im entsprechenden Zweifeln und aus der Sicht der Politik negativen Reaktionen der Bürger aus. Als frühes Beispiel für ein erfolgreiches politisches Vorgehen sei auf folgenden Vorgang aus dem alten Rom verwiesen. Als die Seeräuber begannen, das Mittelmeer zu beherrschen, wurde die Getreidezufuhr aus Sizilien und Nordafrika immer häufiger unterbrochen. In dieser kritischen Lage übertrug Rom (67 v. Chr.) das militärische Kommando auf Gnaeus Pompejus und bewilligte ihm ein riesiges Aufgebot. Ein Jahr später berichtet Cicero in seiner ersten politischen Rede: »An dem Tag, da er von euch zum Oberbefehlshaber im Seeräuberkrieg bestimmt wurde, fiel der Getreidepreis nach schlimmster Not und Teuerung plötzlich auf einen so niedrigen Stand, wie ihn anhaltender Friede trotz größter Fruchtbarkeit des Bodens kaum hätte bewirken können. Das vermochten die Erwartungen und der Name, die sich an einen Mann knüpften.«33 33 Marcus Tullius Cicero, Sämtliche Reden, eingeleitet, übersetzt und erläutert von Manfred Fuhr-

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In der Geschichte mangelt es nicht an Beispielen für glaubwürdige wie für unglaubwürdige Maßnahmen und die entsprechenden Auswirkungen.

VI. Die Europäische Währungsunion – Politischer Wille und ökonomische Gesetzmäßigkeiten Ein für das Spannungsverhältnis von politischem Willen und ökonomischen Gesetzmäßigkeiten herausragendes Beispiel aus der jüngeren Geschichte stellt die Gründung der Europäischen Währungsunion dar. Die Gründe für diesen historisch einmaligen Fall liegen sowohl im politischen Willen wie in wirtschaftlichen Erfahrungen. So wie die europäische Integration nach 1945 vorrangig von dem politischen Willen bestimmt war, eine Wiederholung der Schrecken zweier Weltkriege für immer auszuschließen, entsprang auch die Schaffung einer Währungsunion der Absicht, den Weg der Integration in Europa irreversibel zu machen34. Die im Wirtschaftlichen liegenden Gründe, den einheitlichen Markt durch eine einheitliche Währung zu vollenden, wurden nicht zuletzt durch die Währungskrisen der Jahre 1992/93 verstärkt. Umstritten blieben im wesentlichen zwei Aspekte. Der eine betrifft das Verhältnis von Politischer Union und Währungsunion. Es war nicht zuletzt der damalige Bundeskanzler Kohl, der in seiner Regierungserklärung vom 6. November 1991 betonte: »Man kann dies nicht oft genug sagen. Die Politische Union ist das unerläßliche Gegenstück zur Wirtschafts- und Währungsunion. (…) Die jüngere Geschichte, und zwar nicht nur die Deutschlands lehrt uns, daß die Vorstellung, man könne eine Wirtschafts- und Währungsunion ohne Politische Union auf Dauer erhalten, abwegig ist.« Da die Währungsunion am 1. Januar 1999 ohne entsprechendes Pendant im Politischen begann – und sich auch seitdem in diesem Zustand befindet – stellt sich die Frage, ob entweder das Kohlsche Diktum widerlegt oder die Währungsunion tatsächlich von diesem inneren Zwiespalt existentiell bedroht ist. Kritische Ökonomen, an denen es vor allem in Deutschland nicht mangelte, verwiesen dagegen auf den zweiten Aspekt, nämlich die wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten, die den Erfolg des ganzen Vorhabens in Frage stellten. Die Argumente bezogen sich dabei im Wesentlichen auf Kriterien der Theorie optimaler Währungsräume. Mit der Einführung einer einheitlichen Währung verlieren die Mitgliedsländer die Möglichkeit, über Änderungen des Wechselkurses und die nationale Geldpomann, Bd. 1, Zürich, 1970, S. 26. Siehe auch Otmar Issing, Rationale Erwartungen – im Jahre 67 vor Christus, Bd. 38, 1985, S. 104 f. 34 Zum Folgenden siehe: Otmar Issing, Der Euro – Geburt, Erfolg, Zukunft, 2008.

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litik auf Schocks individuell zu reagieren. Zu den Erfolgsbedingungen der einheitlichen Geldpolitik in der Währungsunion zählt daher eine hinreichende Flexibilität der Märkte, insbesondere der Arbeitsmärkte in den Ländern, die eine Währungsunion bilden. Diese Bedingungen waren nach Meinung vieler Ökonomen zum Start der Währungsunion mit 11 Ländern nicht erfüllt. Seit Beginn der Europäischen Währungsunion am 1. Januar 1999 stellt sich somit die Frage: Kann (bzw. wird) die Währungsunion zerbrechen, der politische Wille an ökonomischen Gesetzmäßigkeiten scheitern? Das Projekt der Europäischen Währungsunion ist ein historisch einmaliges Experiment. Auch wenn es zu früh ist, ein abschließendes Urteil zu treffen, spricht der bisherige unbestreitbare Erfolg gegen die fundamentalen Einwände der kritischen Ökonomen. Dies könnte auf zwei Ursachenkomplexe zurückzuführen sein35. Zum einen ist nach wie vor umstritten, inwieweit man bei den genannten Kriterien tatsächlich von strikten Bedingungen im Sinne von Gesetzmäßigkeiten sprechen kann. Zum anderen löst der politisch determinierte Beginn der Währungsunion Prozesse aus, die eine »endogene« Anpassung an die Bedingungen des Funktionierens der Währungsunion befördern. Dieser Prozess ist alles andere als abgeschlossen. Das Projekt der Europäischen Währungsunion verkörpert jedenfalls auch einen Vorgang, in dem sich die Interaktion zwischen dem Willen zur politischen Gestaltung und ökonomischen Gesetzmäßigkeiten in komplexer Weise vollzieht.

VII. Die Interdependenzen der Ordnungen Das Thema »Politischer Wille oder ökonomisches Gesetz« könnte die Vorstellung zweier isolierter Welten suggerieren. Hier der Staat, die Politik, die sozusagen nach ihren eigenen Gesetzen die Wirtschaftspolitik gestaltet, dort die Wirtschaft, die über ihre Reaktionen die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten wirken lässt. Damit wäre jedoch nur ein Teil des Ganzen erfasst. Diesen zu absolutieren müsste zu gravierenden Fehleinschätzungen führen. Inwieweit ist »die Politik«, »der Staat«, überhaupt unabhängig von »der Wirtschaft«, die ihren Einfluss häufig mit »ökonomischen Gesetzmäßigkeiten« zu begründen versucht36? In dem Maße, in dem die Politik ihre wirtschaftspolitischen Entscheidungen wissenschaftlich zu fundieren sucht, wird jeder Versuch der Einflussnahme 35 Siehe Otmar Issing, Economic and Monetary Union in Europe: political priority versus economic

integration?, in: Ingo Barens / Volker Caspari / Bertram Schefold (Hrsg.), Political Events and Economic Ideas, Northampton, 2004, S. 37–54. 36 In marxistischer Perspektive wird der Hinweis auf das unerbittliche Wirken der ökonomischen Gesetzmäßigkeiten zum Machtinstrument. »Das ökonomische Gesetz ist Macht«, u. z. die Macht des Kapi-

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zumindest transparent. Im Suchen nach den richtigen Maßnahmen wird die Politik jedoch in einen Dialog mit Wirtschaft und Wissenschaft treten (müssen). Der demokratische Staat kann von den Interessengruppen nicht vollständig unabhängig sein. Diese Verbindung wird nicht einfach dadurch aufgelöst, dass der Staat direkt wirtschaftliche Verantwortung übernimmt – von den negativen Auswirkungen auf das Wirtschaftssystem insgesamt gar nicht zu reden. Der Hinweis auf die Fälle, in denen etwa staatliche Regulierungsbehörden im Laufe der Zeit nach der »capture theory« immer stärker von den Interessen des kontrollierten Wirtschaftsbereiches beherrscht werden, soll hier genügen. In der zentralen Planwirtschaft, die konzeptionell eine Allmacht des Staates gegenüber der Wirtschaft behauptet, wird dieser Zusammenhang im Übrigen keineswegs aufgehoben. Bei der Aufstellung und Einhaltung der Pläne haben sich in der Praxis faktisch die Interessen der Betriebe häufig zu einem dominierenden Einfluss entwickelt. Der politische Wille vermag im Guten wie im Schlechten das Wirken ökonomischer Gesetzmäßigkeiten in verschiedene Richtungen zu lenken. Die Beziehungen sind freilich nicht einseitig. Staatliche Ordnung, politischer Wille und Wirtschaftsordnung sind nicht unabhängig voneinander. Ist der politische Wille darauf gerichtet, die wirtschaftliche Freiheit der Individuen einzuschränken und ökonomische Gesetzmäßigkeiten auszuschalten, werden die dafür erforderlichen Zwangsmaßnahmen auf Dauer auch die staatliche Ordnung und den Charakter der Gesellschaft verändern. Walter Eucken spricht in diesem Zusammenhang von der »Interdependenz der Wirtschaftsordnung und Staatsordnung«37. Die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten spielen in dieser Interdependenz eine wichtige Rolle.

tals. Siehe Winfried Vogt, Das ökonomische Gesetz als Macht, in: Schneider/Watrin, Macht (Fn. 7), Bd. 74 II, S. 947–987 (948, 955). 37 Walter Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 2. Aufl. 1955, S. 332 ff.

Oliver Lepsius

Prognose als Problem von Wissenschaft und Politik

I. Prognosen im Schnittfeld von Politik und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . II. Perfektionierung von Prognosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Quantitative Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Problem des Zeitrahmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Auswahl der Prädikatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Qualitativ-heuristische Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Konsens als Prognosevoraussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Alternativen als Prognosevoraussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Bedingungen politischer Verwertbarkeit von Prognosen . . . . . . . . . . . . . . 1. Nicht-Determinierbarkeit als Prognosevoraussetzung . . . . . . . . . . . . . . 2. Offene Entwicklungen als Prognosevoraussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Institutionalisierung eines Prognosediskurses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Prognosen im Schnittfeld von Politik und Wissenschaft Winston Churchill soll einmal gesagt haben: »Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.« Derselbe Satz wird auch Niels Bohr, George Bernhard Shaw, Kurt Tucholsky, Mark Twain und Bruno Kreisky zugeschrieben oder Karl

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oliver lepsius

Valentin – um auch einen Münchener Autor zu zitieren. Wenn so viele höchstgestellte Persönlichkeiten, Nobelpreisträger und andere unbestrittene Autoritäten ihres Fachs derselben Auffassung sind, sprechen Juristen gerne von der herrschenden Meinung. Es darf also als weithin konsentiert gelten, daß die Aussagekraft von Prognosen mit Vorsicht zu behandeln ist, manche sprechen sogar »von einer gewissen Krise der wissenschaftlichen Bemühungen um die Vorausschau«1. Andererseits gilt die Fähigkeit zur Prognose vielfach als wesentliches Zeichen wissenschaftlicher Tätigkeit2. Dabei gehe es um die Vorhersage von Einzelereignissen aufgrund allgemeiner Gesetze, wodurch Abschätzungen von Handlungsfolgen verbessert und gezielte Eingriffe in natürliche Abläufe ermöglicht werden. Der Physiker Heinrich Hertz meinte sogar, es sei die wichtigste Aufgabe der Naturwissenschaft, uns zu befähigen, zukünftige Erfahrungen vorauszusehen, um nach dieser Voraussicht unser gegenwärtiges Handeln einrichten zu können3. Und in der Tat beobachten wir, daß Prognosen auf Menschen eine fast magische Anziehungskraft ausüben. Sie sind Antrieb für Politik, erzeugen Erwartungen und politischen Handlungsdruck. Sie liefern zudem eine Rechtfertigung für politische Maßnahmen. Kaum etwas verknüpft Wissenschaft und Politik so intensiv wie Prognosen. Die Rationalität der Politik verlangt nach Prognosen. Über Prognosen gewinnt die Wissenschaft Einfluß auf die Politik und die Politik sichert ihr Handeln ab unter Berufung auf wissenschaftliche Annahmen und Voraussagen4. Liegt im Fall einer Prognose also für Politiker und Wissenschaftler gleichermaßen eine win-win-Situation vor, in der sich beide der Rationalität der anderen Handlungssphäre bedienen können? Eine Situation, in der der Wissenschaftler Politik anleiten und der Politiker Begründungen So schon 1979 Knut Borchardt, Produktions- und Verwertungsbedingungen von Langfristprognosen in historischer Perspektive, in: Allgemeines Statistisches Archiv 63 (1979), S. 1–25 (2). 2 Martin Carrier, Art. Prognose, in: Jürgen Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 3, 1995, S. 350–352 (351). 3 Heinrich Hertz, Die Prinzipien der Mechanik, Gesammelte Werke III, hrsgg. v. Philipp Lenard, 1895, 1. 4 Aus der umfangreichen Literatur zur wissenschaftlichen Politikberatung vgl. nur etwa Sheila Jasanoff, The Fifth Branch. Science Advisers as Policymakers, Cambridge/MA (u. a.) 1990; Peter Weingart, Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft, 2001, insbes. S. 127–169; ders., Wissenschaftssoziologie, 2003, S. 89 ff.; Birger Priddat / Theresia Theurl (Hrsg.), Risiken der Politikberatung, 2004; Martin Führ / Kilian Bizer / Peter Henning (Hrsg.), Menschenbilder und Verhaltensmodelle in der wissenschaftlichen Politikberatung, 2005; Heidelberger Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Politikberatung in Deutschland, 2006; Andreas Voßkuhle, Sachverständige Beratung des Staates, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl. 2005, §43; erhellend auch Stefan Fisch / Wilfried Rudloff (Hrsg.), Experten und Politik: Wissenschaftliche Politikberatung in geschichtlicher Perspektive, 2004. Als Fallstudie der Politikberatung lesenswert: Wolfgang van den Daele, Über den Umgang mit unlösbaren moralischen Konflikten im nationalen Ethikrat, in: Dieter Gosewinkel / Gunnar F. Schuppert (Hrsg.), Politische Kultur im Wandel von Staatlichkeit, WZB-Jahrbuch 2007, 2008, S. 357–384 (367 ff.). 1

prognose als problem von wissenschaft und politik

delegieren darf? Oder bergen Prognosen nicht eher Gefahren der institutionellen Delegitimierung? Denn wenn sie nicht eintreten oder anderes als das Vorhergesagte passiert, droht die Wissenschaft ihre Glaubwürdigkeit und die Politik ihre Gestaltungsfähigkeit zu verlieren. Welche Auswirkungen das Unvermögen der Wirtschaftswissenschaften, die Finanz- und Wirtschaftskrise zu erahnen und über ihren Verlauf Auskunft zu geben5, zeitigte, kann man aktuell an der weitgehenden Ignoranz wirtschaftswissenschaftlicher Expertise durch die Bundesregierung beobachten. Man zitiert gerne wieder Ludwig Erhards Diktum, Wirtschaftspolitik sei zu 50 % Psychologie, und man hat nicht selten den Eindruck, als ob der Prozentsatz in der politischen Wahrnehmung inzwischen deutlich darüber rangiert. Von der Prognosegläubigkeit droht das Pendel nun in die Richtung der Prognosegleichgültigkeit zu schlagen. Die Finanzkrise hat die Wirtschaftswissenschaft in eine Glaubwürdigkeitskrise gebracht, die es etwa der Bundesregierung leicht macht, Wirtschaftsprognosen als Korrektiv oder Leitbild der Wirtschaftspolitik zu ignorieren6. Stellen wir die Frage anders: Wann ist Politik gut beraten, wissenschaftlichen Prognosen zu vertrauen und sie Zukunftserwartungen zugrunde zu legen und wann sollte sie ihnen mit Skepsis begegnen? Zwei Antworten sind denkbar. Eine Antwort könnte auf die Güte und Qualität der Prognoseverfahren verweisen und darauf drängen, Prognosen generell methodologisch zu verbessern. Ihr Ziel wäre die möglichst perfekte Prognose. Die zweite Antwort würde diese Hoffnung nicht teilen und statt dessen für einen institutionalisierten Umgang mit imperfekten Prognosen plädieren.

Freilich fehlte es nicht an warnenden Stimmen, vgl. vor allem Max Otte, Der Crash kommt: die neue Weltwirtschaftskrise und wie Sie sich darauf vorbereiten, 2006, 13. Aufl. 2008; Neuauflagen unter dem Titel: Der Crash kommt: die neue Weltwirtschaftskrise und was Sie jetzt tun können, 2008, 4. Aufl. 2009. Vgl. auch Friedhelm Hengsbach, Ein anderer Kapitalismus ist möglich!, 2009, dessen Analyse auf Fehlentwicklungen fußt, die der Finanzkrise vorausgingen. Skeptische Einschätzungen konnte man auch in der sozialwissenschaftlichen Literatur finden, vgl. etwa Paul Windolf (Hrsg.), Finanzmarkt-Kapitalismus. Analysen zum Wandel von Produktionsregimen, Sonderheft 45 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 2005; Johannes Berger, Der diskrete Charme des Marktes, 2009, S. 101 ff. 6 Vgl. die mißmutigen Reaktionen von Regierungsmitgliedern auf die äußerst kritische Begutachtung der Wirtschaftspolitik durch das Herbstgutachten 2009 des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Die Zukunft nicht aufs Spiel setzen, Jahresgutachten 2009/2010. Zu Rolle und Einfluß dieses Gremiums siehe etwa Stephan Kohns, Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, in: Stephan Bröchler (Hrsg.), Politikberatung, 2008, S. 493–507; Ansgar Strätling, Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, in: Svenja Falk (Hrsg.), Handbuch Politikberatung, 2006, S. 353–362. 5

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II. Perfektionierung von Prognosen Beschäftigen wir uns zunächst mit der ersten Strategie, nämlich der Hoffnung, durch eine Perfektionierung der Prognoseverfahren die Fehlerhäufigkeit zu reduzieren und auf diese Weise die Güte politischer Entscheidungen zu verbessern. Bei näherer Betrachtung der Prognoseverfahren stößt man auf ein ganzes Arsenal anerkannter Leitsätze und Methoden. Man unterscheidet vor allem qualitativ-heuristische und quantitative Verfahren. 1. Quantitative Methoden

Quantitative Methoden werden bei kurz- und mittelfristigen Prognosezeiträumen verwendet, wenn sich die Aussage mengen- oder wertmäßig darstellen läßt. Zugrunde liegen Schätzungen. Aus Beobachtungswerten errechnet man Vorhersagen unter Zuhilfenahme mathematisch-statistischer Verfahren. Man unterscheidet hier Extrapolationsmethoden (z. B. statistische Zeitreihenanalysen), Indikatormethoden (z. B. beim Geschäftsklimaindex), Befragungstechniken und Methoden der qualitativen Modellbildung. Oft kommt eine Mischung dieser Verfahren zur Anwendung. Die Prognosezuverlässigkeit hängt im wesentlichen von zwei Faktoren ab: dem Zeitrahmen und der Auswahl der Prädikatoren, also der Parameter, die der Prognose zugrunde gelegt werden. a) Problem des Zeitrahmens

Ist der Zeitrahmen kurz und sind die Parameter eindeutig, gelingen in aller Regel treffsichere Prognosen. Man denke an die Wahlprognose am Abend der Bundestagswahl um 18 Uhr. Sie beruht auf nach Erfahrungswerten statistisch hochgerechneten Befragungsergebnissen. Wie wir am 27. September 2009 sahen, war diese Hochrechnung sehr gut. Das sollte auch zu erwarten sein, weil der Zeitpunkt der Prognose minimal ist (ca. sechs Stunden bis zur Bekanntgabe des vorläufigen Endergebnisses) und die Parameter begrenzt sind (»Welche Partei haben Sie gewählt?«). Wird aber bereits der Zeitrahmen länger, steigt die Fehleranfälligkeit erheblich7. Wir erinnern uns an die Bundestagswahl 2005, als noch eine Woche vor der Wahl ganz andere Ergebnisse prognostiziert wurden als tatsächlich eintraten8. Was uns hier als Zeitpro7 Für eine skeptische Bewertung von Langfristprognosen vgl. etwa Sam Cole / John Clark / Melanie Archer, Long-term Forecasting in Western Europe, in: Futures 7 (1975), S. 485–514 (491). 8 Dazu neuestens Jochen Groß, Die Prognose von Wahlergebnissen. Ansätze und empirische Leistungsfähigkeit, 2010.

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blem begegnet, drückte Winston Churchill mit den Worten aus »Der sicherste Zeitpunkt für eine Prognose ist kurz nach dem Ereignis.« Die Wahlforschung bestätigt das auf das Schönste. Und quantifizierbare Prognosen mit einem Zeithorizont von mehr als zehn Jahren gelten vielen als wissenschaftlich unseriös9. Ein anderes Beispiel für das Zeitproblem bietet die Bewertung des Salzstocks Asse II bei Salzgitter als atomares Zwischenlager. In den 1960er Jahren, als in der Politik noch Euphorie gegenüber der Kernkraft herrschte, suchte man geradezu nach einer Rechtfertigung, den Salzstock Asse II zur Lagerung von Atommüll heranziehen zu können. Die deutungsfähigen Gefahrenprognosen wurden ergebnisorientiert verwertet, so daß Asse II kurzerhand für geeignet erklärt wurde, obwohl die unvermeidbaren Wassereinbrüche bekannt waren und die Nachbarschächte Asse I und III wegen Grundwassereinbruchs bereits aufgegeben werden mußten10. Zu viele Wissenschaftler beugten sich den politischen Erwartungen nach atomaren Endlagern. Ob ein Zwischenlager sicher ist, beurteilt sich letztlich nach der Frage, wie lange »zwischen« dauert. b) Auswahl der Prädikatoren

Quantitative Prognosen leiden aber nicht nur am Zeitproblem, sondern auch an der Veränderung der Rahmenbedingungen und dementsprechend latent falschen Prognosemodellen. Ein handgreifliches Beispiel lieferten die Wachstumsprognosen der Wirtschaftsforschungsinstitute im Herbst 2008. Noch im Oktober 2008 sah das Herbstgutachten für das gesamte Jahr 2008 ein Wachstum von 1,8 % voraus. Zwei Monate später waren es dann tatsächlich aber nur 1,3 %. Im Januar 2009 prophezeite das DIW für 2009 ein Minus von 1,0 %. Drei Monate später lautete die Prognose dann – 4,9 %. Obwohl wir es hier mit sehr kurzen Prognosezeiträumen zu tun haben, ist die Fehlerhaftigkeit erstaunlich. Der Grund liegt in falschen Modellannahmen. Jedes Modell ist bekanntlich nur so stark oder schwach wie die Daten und Annahmen, die ihm zugrunde gelegt werden. Den Wirtschaftsprognosen (wie im übrigen auch den Risikoprognosen der Investment-Banker) lagen keine Szenarien der Systemkatastrophe zugrunde. Die hochgerechneten Erfahrungswerte beruhten 9 Vgl. Nachweise bei Borchardt, Langfristprognosen (Fn. 1), Fn. 9. 10 Die politische Entscheidung und die wissenschaftliche Expertise werden analysiert durch Detlev

Möller, Endlagerung radioaktiver Abfälle in der Bundesrepublik Deutschland: administrativ-politische Entscheidungsprozesse zwischen Wirtschaftlichkeit und Sicherheit, zwischen nationaler und internationaler Lösung, 2009. Für eine hellsichtige Analyse der Langzeitfolgen der Kernkraft aus juristischer Sicht vgl. Hasso Hofmann, Rechtsfragen der atomaren Entsorgung, 1981, insbes. S. 17 ff., 61 ff. Interessanter Rückblick etwa bei Jürgen Trittin, Welche Beratung braucht die Umweltpolitik?, in: Jahrbuch Ökologie 2004, S. 123–131 (123 ff.).

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auf Daten und Erfahrungsmodellen, die nur aus den letzten fünf Jahren stammten und deswegen Konjunkturphasen nur unvollständig abbildeten. Ungeahnte oder mit der Zeit vergessene Risiken liegen solchen Prognosen dann nicht zugrunde, so daß die Vorhersagen falsche Tendenzen transportieren. Mit anderen Worten: Quantitative Prognoseverfahren haben ihre Stärke bei wiederkehrenden standardisierten Erfahrungsgrößen in vergleichsweise kleinen Zeitabständen. Für die Abschätzung neuer Risiken, plötzlicher Ereignisse oder systematisch fehleingeschätzter Erwartungen eignen sie sich nicht. Das aber wären gerade die Fälle, in denen politische Entscheidungen auf Prognosen angewiesen sind. Man kann es auch zugespitzt ausdrücken: In den Fällen, in denen politische Entscheidungen Prognosen am dringendsten benötigen, dürfen sie von diesen am wenigsten erwarten. Hinterher freilich ist man immer schlauer. Nun kann man die Prognosemodelle nachbessern und die Annahmen ex nunc korrigieren. Und deswegen können Wissenschaftler im nachhinein auch genau erklären, warum die Prognosen falsch sein mußten11. In diesem Zusammenhang darf ein letztes Mal Churchill als Gewährsmann zitiert werden mit dem Satz: »Ein Experte ist ein Mann, der hinterher genau sagen kann, warum seine Prognose nicht gestimmt hat.« Aus Churchills Mund spricht die Skepsis des Politikers gegenüber Prognosen. Und in der Tat ließen sich weitere Beispiele finden für Fehlprognosen, die zu schlechten Entscheidungen führen. Ein immer wieder Erstaunen erregendes Phänomen ist das Unvermögen, den Bedarf an Lehrern frühzeitig vorauszuberechnen, obwohl die Parameter der Prognose (zu erwartende Schülerzahl, zu erwartende Pensionierung der Lehrkräfte) bereits jahrelang vorher feststeht12. Wir sehen, wie schwer offenbar selbst solche Prognosen zu treffen sind, vermutlich weil langjährige andersartige Erfahrungssätze in den Modellen fortleben. Ein anderes Beispiel: 2002 wurde in Dortmund Deutschlands modernste Kokerei nach nur acht Jahren Produktion geschlossen, abgebaut und nach Shandong verkauft. Die Prognose ging von fallenden Kokspreisen bei steigendem Angebot auf den Weltmärkten aus. Sie beruhte auf der gewonnenen Erfahrung der letzten zehn Jahre, in denen der Kokspreis ständig fiel. Die Entwicklung der letzten Dekade wurde der 11 Beispielhaft: »Sonst steht die Welt bald wieder am Abgrund«, Interview mit Hans-Werner Sinn,

Süddeutsche Zeitung v. 19.9.2009, S. 24. 12 Vgl. Klaus Klemm, Zur Entwicklung des Lehrerinnen- und Lehrerbedarfs in Deutschland, www.

uni-due.de/isa/lehrerbedarf_2009.pdf. Danach werden bis 2015 300.000 Lehrer altersbedingt ausscheiden, es werden aber momentan nur 26.000 jährlich (statt der erforderlichen 38.000) ausgebildet. Manche Länder, darunter Bayern, bilden deutlich unter Bedarf aus und werden auf den Import von Lehrern, die von anderen Ländern ausgebildet wurden, m. a. W. auf Abwerbeaktionen bei den ohnehin knappen Lehrkräften, nicht verzichten können.

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Verlaufshypothese zugrunde gelegt. Der Konjunkturverlauf wurde zum Marktgesetz hypostasiert. Daß aber auch das Gegenteil passieren kann, blendete die Prognose völlig aus, was um so erstaunlicher ist, als man den wesentlichen Grund steigender Kokspreise – Chinas Hunger nach Stahl – schon absehen konnte. Warum auch hätte China die Kokerei Kaiserstuhl in Dortmund sonst kaufen wollen? Nur kurze Zeit später hatte sich der Kokspreis vervielfacht13 und die Dortmunder Kokerei wäre eine Goldgrube geworden. Welch grandiose unternehmerische Fehlentscheidung, welch einschneidende soziale und kommunale Folgen – aber auf vermeintlich solider Prognose. Die Vermutung lautet also, daß quantitative Prognosen für politische Entscheidungen nur eingeschränkt verwertbar sind, weil sie entweder zwar exakt aber zu kurzfristig oder zwar langfristig aber ungenau sind. Man mag dann die Hoffnung auf andere Prognoseverfahren setzen, nämlich qualitative, um mit diesem Problem besser umgehen zu können. 2. Qualitativ-heuristische Verfahren

Qualitativ-heuristische Verfahren werden angewendet, wenn das Phänomen nicht quantifizierbar ist oder wegen der Komplexität oder Langfristigkeit mengenmäßig nur unzureichend prognostiziert werden kann. Man denke etwa an die Gefahren neuer Technologien, mit denen noch keine Erfahrungen gesammelt worden sind. Bei qualitativ-heuristischen Methoden bedient man sich z. B. einer Szenariotechnik: Verschiedene Annahmen über die Entwicklung der Randbedingungen werden entwickelt und in ihrer Wahrscheinlichkeit abgeschätzt. Man kann sich auch einer Befragung von Experten bedienen (sog. Delphi-Methode), wobei es oft zu einem mehrstufigen Brainstorming-Prozeß kommt, bei dem das Ergebnis über mehrere Befragungsrunden zu einer einheitlichen Prognose verdichtet wird. Insgesamt hängen qualitativ-heuristische Verfahren daher stärker von Schätzungen ab, auch von Einschätzungen und Beurteilungen, müssen also verstärkt subjektive Elemente enthalten. Dann aber sind Prognosen Beurteilungskonsense der Berufenen – mit allen Vor- und Nachteilen. a) Konsens als Prognosevoraussetzung

Man mag in der Unvermeidbarkeit subjektiver Einschätzungen, deren Objektivität einem Beurteilungskonsens entspricht, einen Nachteil sehen. Freilich bietet die Subjektivität auch einen Vorteil: Über die Einschätzungsgrundlagen muß ein Konsens 13 2002 lag er bei rund 70$/t, 2004 bei rund 500$/t.

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erzielt werden. Die trügerische Exaktheit von Zahlen wird zurückgebunden an einen Berechnungskonsens Berufener. Relevante und irrelevante Faktoren müssen diskutiert werden; die Wahrscheinlichkeit bestimmter Szenarien begründet werden. Was zuerst als Nachteil erschien, kann auch als Vorzug begriffen werden, nämlich ein Gespür für die Dynamik und Offenheit der Entwicklung, auch für ihre Beeinflussung und Gestaltbarkeit zu erzeugen. Es bleibt jedenfalls ein Bewußtsein erhalten für die unvermeidliche Auswahl der jeweiligen Bedingungen, die einer Prognose zugrunde gelegt werden. Und wir wissen: Von der Auswahl der Bedingungen hängen die Ergebnisse der Prognose maßgeblich ab. Qualitativ-heuristische Verfahren gewinnen daher nicht nur an Überzeugungskraft, wenn wir keine andere Wahl haben, weil die Phänomene nicht quantifizierbar sind, sondern sie überzeugen auch dann, wenn auf die Auswahl und Begründungen der jeweils zugrunde gelegten Bedingungen verwiesen wird, wenn also keine absoluten Prognosen gewagt werden, sondern relative oder relationale. Man darf dann aber Prognosen nur als bedingte Aussagen verstehen nach dem Muster: Unter der Bedingung von A wird wahrscheinlich B eintreten. b) Alternativen als Prognosevoraussetzung

Man könnte nun meinen, bedingte Prognosen helfen wenig weiter, weil sie eine zusätzliche Unsicherheit offenbaren. Wenn B unter den Bedingungen von A eintritt, müßte eine weitere Prognose über das Eintreten der Bedingung A gestellt werden. Diese würde ihrerseits weitere Bedingungssätze formulieren müssen. Was wäre, außer wissenschaftlicher Redlichkeit, damit gewonnen? Meine Antwort lautet: Die Abhängigkeit von Bedingungen öffnet den Blick für Alternativen, nicht indes für eindeutige Handlungsanweisungen. In der Auswahl von Alternativen aber liegt ein erheblicher Gewinn für politisches wie eigenverantwortliches Handeln. Die wissenschaftlich zu verantwortende Aussage lautet dann: Unter welchen Bedingungen wird eher X als Y passieren – und das ist zugleich eine politisch verwertbare Aussage, denn sie determiniert nicht politisches Handeln, sondern zwingt zur Auswahlentscheidung und zur Reflexion der Bedingungsparameter. Mit Hilfe alternativer Szenarien und Modelle kann eine prognostische Wissenschaft eine hilfreiche Rolle für die Politik spielen. Der Beitrag von Prognosen liegt dann in einer relationalen Funktion, nämlich abzuschätzen, was sinnvolle oder zweckmäßige Relationen sind. Relationen aufzudecken, nicht Letztbegründung zu suchen, ist bekanntlich der eigentliche Gegenstand der Wissenschaft14, während um14 Vgl. etwa Ernst Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, 1910, insbes. S. 410 ff.; John Dewey, Die Suche nach Gewißheit, 1929, übersetzt von Martin Suhr, 1998, S. 107, 128, 148, 181 und öfter.

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gekehrt der Glaube, soziales Handeln an determinierbaren Kausalverläufen ausrichten zu können, ein Zeichen primitiver Gesellschaften ist15. Die Bestimmung sinnvoller und zweckmäßiger Relationen ist etwa für eine Rechtspolitik wichtig, die erreichbare Ziele (und nicht utopische Zustände) bestimmen und Mittel auswählen muß, die zur Erfüllung des Zwecks geeignet sind16. Nicht aber darf man von Prognosen hier eindeutige Kausalverläufe und dementsprechend eindeutige Antworten erwarten. Das wäre eine falsche Hoffnung, die Wissenschaftler nicht wecken sollten. Leider aber besteht wissenschaftlichen Prognosen gegenüber oft genau diese Erwartung, und die Magie der Zahlen, die per se Exaktheit vortäuschen, tut ihr übriges. Auch ziehen manche Wissenschaftler aus einem determinierenden Anspruch eindeutiger Kausalverlaufshypothesen erhebliche publizistische Bedeutsamkeit.

III. Bedingungen politischer Verwertbarkeit von Prognosen 1. Nicht-Determinierbarkeit als Prognosevoraussetzung

Demgegenüber ist an folgendes zu erinnern: Nehmen wir an, die Zukunft ließe sich nach dem Muster naturwissenschaftlicher Gesetzmäßigkeiten vorhersagen. Wäre dies eine gute Grundlage für Prognosen? Gelänge dann nicht die Exaktheit der Vorhersage, die so viele von der Prognose erwarten? Hier darf man sich indes keinen Fehlvorstellungen hingeben. Aus determinierbaren Kausalverläufen folgt politisch nichts. Derlei Prognosen sind für politisches Handeln irrelevant, weil sie weder zur politischen Konsensbildung beitragen noch bei der Abschätzung von Alternativen helfen. Konsense und Alternativen aber waren, wie wir eben gesehen haben, genuine Voraussetzungen gelingender Prognosen. Es wäre nun ein Irrtum zu glauben, eine Prognose, die ohne Konsens über die Prädikatoren und ohne relationale Abschätzung der Alternativen auskommt, müßte eine politisch besonders gut verwertbare Prognose sein. Sie mag vielleicht an Exaktheit nicht übertroffen werden können, darin aber liegt nicht unbedingt ein Vorteil für ihre politische Verwertbarkeit. Wenn wir nach der Relevanz von Prognosen für politisches Handeln fragen (und nicht nach der Maximierung wissenschaftlicher Exaktheit), dann ist solchen Erwartungen mit Skepsis zu begegnen. Welche Funktion könnten solche Vorhersagen noch für politische Entscheidungen haben? Wenn man den Charakter einer politischen Hand15 Dazu unter Verarbeitung umfangreichen anthropologischen Materials Hans Kelsen, Vergeltung und

Kausalität, 1941, insbesondere S. 259 ff. 16 Dazu näher am Beispiel von Risikoentscheidungen Richard Münch, Risikopolitik, 1996; Rainer

Wahl (Hrsg.), Prävention und Vorsorge, 1995.

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lung im Konsens erblickt, also in der Erhöhung der Legitimationsgrundlage, oder in der Auswahl von Handlungsoptionen, ergo in der Erhöhung der Erfolgswahrscheinlichkeit, dann stellen sich Prognosen nach dem Muster determinierter physikalischer Kausalverläufe als besonders unbrauchbar für politische Entscheidungsprozesse dar. Ein Beispiel: Der Eintritt der nächsten Sonnenfinsternis läßt sich präzise prognostizieren. Es geht um eine naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeit, die in der Zukunft vorausberechnet werden kann. Doch besteht kein Grund, auf eine solche Prognose politisch zu reagieren und zwar deshalb, weil alle Bedingungen des Phänomens feststehen und nicht verändert werden können. Hier besteht kein Bedürfnis mehr für politisches Handeln, weil die Politik die Eintrittsbedingungen nicht verändern könnte. Es handelt sich letztlich nicht um eine Prognose, sondern um vorausberechenbare Tatsachen. Wenn wir aber wissen, was genau sich in der Zukunft ereignen wird und wir zudem wissen, daran nichts ändern zu können, dann verfügen wir zwar über perfektes Wissen, aber dieses Wissen lähmt zugleich unsere Entschlußfähigkeit17. Man kann sich diesen zukünftigen Tatsachen gegenüber nur noch passiv verhalten, nicht aber willentlich, aktiv tätig werden, um in den Verlauf der Welt einzugreifen. Insofern sind unabänderliche Kausalverläufe politisch irrelevant. Man kann sich auch den umgekehrten Fall vorstellen, nämlich die falsche Annahme eines deterministischen Verlaufs. Greifen wir auf einen Fall zurück, den das Bundesverfassungsgericht kürzlich zu entscheiden hatte18. Ein 59jähriger Beschwerdeführer verbüßte wegen Mordes eine lebenslange Freiheitsstrafe. Inzwischen war die Mindesthaftdauer von 15 Jahren abgelaufen. Landgericht und Oberlandesgericht lehnten die Aussetzung des Rests der lebenslangen Freiheitsstrafe ab, da eine Aussetzung angesichts der bisher unterbliebenen Erprobung des Häftlings in Vollzugslockerungen mit unvertretbar hohem Risiko verbunden sei. Die Gerichte gingen davon aus, daß die Gefährlichkeit des Täters bei der Begehung der Tat vor 15 Jahren ohne weiteres bis in die Gegenwart weiterwirkte. Sie stellten für ihre Gefährlichkeitsprognose, die bei einer Aussetzung der Freiheitsstrafe vorgenommen werden muß, auf Tatsachen ab, die 15 Jahre zurücklagen und rechneten diese Tatsachen in die Zukunft hoch. Die zugrunde gelegte Tatsachenbasis berücksichtigte daher nicht die zwischenzeitlich eingetretene Persönlichkeitsentwicklung. Mit anderen Worten: Land- und Oberlandesgericht gingen von einer deterministischen Annahme aus: Der Täter war zur Tatzeit gefährlich, deswegen bleibt er gefährlich. Daher sahen die Gerichte keinen Handlungsspielraum gegeben und wiesen die Aussetzung der Freiheitsstrafe ab. Man kann es auch so formulieren: Die Gerichte begingen denselben Prognosefehler wie die Verkäufer der Kokerei Kaiserstuhl: Sie setzten lineare Kausalverläufe voraus. 17 Immer noch instruktiv Dewey, Suche (Fn. 14), S. 10 ff. 18 BVerfG, 3. Kammer des 2. Senats, 2 BvR 328/09 v. 20.7.2009.

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Diese Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht aufgehoben: Es werde nicht erkennbar, worauf die Gerichte die Annahme stützten, daß von einem bereits eingetretenen charakterlichen Wandel derzeit noch nicht ausgegangen werden könne. Nach einem so langen Zeitraum wie 15 Jahren müsse das Gericht seine Entscheidung auch auf eine sachverständige Beratung stützen, also eine neue Prognose einholen und dürfe nicht die veraltete einfach fortschreiben. Sonst fehle es einem Gericht regelmäßig an Beurteilungsgrundlagen, die es erlauben, eine gesicherte Prognose über die fortbestehende Gefährlichkeit zu treffen19. Das Bundesverfassungsgericht hat im Grunde nur festgestellt, daß der Kausalverlauf nicht determiniert war und deshalb ein Entscheidungsspielraum (zur Strafaussetzung) bestand, den die Gerichte auch wahrnehmen müssen. Nicht indes können sie sich auf einen vermeintlich determinierten Prognoseverlauf berufen, der Entscheidungsspielräume ausschließe20. 2. Offene Entwicklungen als Prognosevoraussetzung

Politisch erheblich sind demgegenüber Kausalverläufe, deren Bedingungen noch nicht feststehen oder veränderlich sind. Eine politisch erhebliche Prognose wäre etwa die Vorhersage, wann und wo sich Erdbeben ereigneten, weil auf den Verlauf des Erdbebens – nicht die Erdstöße selbst, sondern deren Auswirkungen – noch reagierend eingewirkt werden kann. Genau in solchen Fällen wird die Abhängigkeit der Prognose von unbekannten Bedingungen deutlich. Hier sind alle unbekannten Parameter (Zeit, Ort, Stärke) politisch relevant. Ein anders gelagertes Beispiel unbekannter Kausalverläufe betrifft den Lehrermangel. Man könnte meinen, hier stünden tatsächlich alle wesentlichen Parameter vorher fest (Zahl der Neugeborenen und Zeitpunkt des Renteneintritts der Lehrer). Doch dem ist nicht so, weil beide Parameter sich nicht linear entwickeln. Das Renteneintrittsalter kann erhöht oder gesenkt werden; Vorruhestand, Krankheit, Tod verändern die Zahlen. Ähnliches gilt für die Zahl der Kinder: Migration verändert ihre Summe. Vor allem bei der Aufteilung von Kindern und Lehrern auf die einzelnen Schularten und beim Kalkulieren des Lehrkräftebedarfs in einzelnen Fächern, die Konjunkturen unterliegen (Latein, Informatik, Ethik) ist die scheinbar gegebene Prognosegrundlage nicht mehr gegeben. Trotz eindeutiger Ausgangsdaten unterliegt der weitere Entwicklungsverlauf Veränderungen. Die Sicherheit der Ausgangsdaten

19 Ebd., Tz. 19. 20 Vgl. für einen ähnlichen Fall, in dem gleichfalls Prognosen auf Tatsachen gestützt wurden, die älter

als 15 Jahre waren: BVerfG, 1. Kammer des 2. Senats, 2 BvR 1044/08 v. 9.9.2008; siehe ferner BVerfGE 109, 133; 117, 71.

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(Zahl der Kinder, Zahl der Lehrer) mag sogar über die Schwierigkeiten hinwegtäuschen, Verlaufshypothesen in die Prognose einzustellen und statt dessen linear vorzugehen und einem Irrtum im Glauben an eine determinierbare Entwicklung zu unterliegen. 3. Konsequenzen

Aus diesen Überlegungen folgt nun zweierlei. Zum einen darf man nicht von Prognosen feststehende Kausalverläufe erwarten, weil diese Aussagen politisches Handeln lähmen würden. Was sollte noch entschieden werden, wenn der Gang der Dinge feststünde? Bisweilen hat man den Eindruck, als ob gerade in Deutschland die Hoffnung verbreitet ist, über die Bedingungen des Handelns vor dem Handeln vollständige Aufklärung zu erlangen. Man mag dann meinen, richtiges Handeln setze vollständiges Wissen voraus21. Das aber kann in letzter Konsequenz nicht stimmen, weil es nichts zu behandeln gäbe, wenn sich wegen vollständigen Wissens über den Gang des Geschehens dieses nicht beeinflussen ließe. Schon deswegen darf man von Prognosen keine Vorhersagen klarer Kausalverläufe erwarten, nicht nur, weil diese ohnehin selten festzustellen sind, sondern auch, weil mit ihnen keine Verhaltensänderung verbunden sein könnte. Anders gewendet: Die Vorhersage der Sonnenfinsternis versinnbildlicht nicht den erstrebenswerten Idealtyp einer Prognose. Zum anderen rückt die Unvollständigkeit der Prognosegrundlage als eine Grunderfahrung in den Vordergrund. Man muß sich immer klar darüber sein, daß Prognosen, jedenfalls wenn sie sich an politisch Handelnde richten, keine Kausalverläufe betreffen, sondern Hypothesen. Wird indes das Hypothetische des Kausalverlaufs in den Vordergrund gerückt (und nicht ein determinierbares Ergebnis), dann hat dies Auswirkungen auf den Umgang mit Prognosen und die Erwartungen an Prognosen. Um eine Prognose für politisches Handeln nutzen zu können, wird man daran interessiert sein, die variablen Bedingungen zu kennen, die diesen Hypothesen zugrunde gelegt wurden. Die Aufmerksamkeit wird weniger dem Ergebnis der Vorhersage als den variablen Parametern gelten, weil diese durch politisches Handeln veränderbar sind. Unter dieser Perspektive (offene Bedingungen) bereichern Prognosen politische Handlungen erheblich, denn sie stecken Bereiche ab, in denen politisches Handeln sinnvoll ist und ergebnisrelevant werden kann – anders als bei einer Perspektive, die auf Prognoseergebnisse fixiert ist, weil diese tendenziell die Handlungsfreiheit begrenzt.

21 Aufschlußreich Christoph Engel / Jost Halfmann / Martin Schulte (Hrsg.), Wissen – Nichtwissen –

Unsicheres Wissen, 2002.

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Nur auf den ersten Blick mag es paradox erscheinen, daß für politisches Handeln Prognosen sinnvoller sind, die einräumen, ungenau zu sein, weil sie die offenen Eintrittsbedingungen benennen. In Wirklichkeit sind solche Prognosen nicht nur prinzipiell realistischer, weil sie den Zeitablauf und die damit notwendig verbundenen Unsicherheiten thematisieren, sondern sie sind politisch auch besser verwertbar, weil sie diejenigen Parameter benennen, die beeinflußbar und unsicher sind und dadurch politische Handlungsfelder ausmachen. Die von ihrem Anspruch her offen gehaltene Kausalverlaufshypothese ist daher der determinierten Ergebnisvorhersage überlegen, jedenfalls wenn es um einen sinnvollen Austausch von Wissenschaft und Politik geht. Die Erwartungshaltung in der Öffentlichkeit scheint demgegenüber meistens umgekehrt ausgerichtet zu sein: Eine Prognose gilt als desto schlechter, je mehr offene Parameter sie benennt. Ergebnisvorhersagen gelten oft als Ausdruck wissenschaftlicher Sachkunde, während offen gehaltene Kausalverlaufshypothesen eher Bedenken auslösen. Diesem Eindruck sollte man entgegentreten und statt dessen umgekehrt dafür werben, im bewußt Unvollständigen einer Prognose einen Vorteil zu sehen, der nicht zuletzt politisches Handeln beflügelt, während man Ergebnisvorhersagen mit einer größeren Gleichgültigkeit begegnen sollte, als es bislang getan wird.

IV. Institutionalisierung eines Prognosediskurses Das Ziel sollte es daher sein, in Politik und Wissenschaft einen Umgang mit imperfekten Prognosen zu institutionalisieren. Die Wissenschaft sollte keine eindeutigen, sondern bewußt relationale Prognosen unterbreiten. Und die Politik sollte sich ihrerseits an der Modellierung der Rahmenbedingungen beteiligen, also die Wissenschaft nach relationierbaren Aussagen befragen, nicht indes nach Letztgültigem oder Objektivem22. Sowohl im politischen Diskurs als auch in der Wahrnehmung der breiten Öffentlichkeit scheint die Notwendigkeit für einen solchen relationalen Umgang mit Prognosen noch nicht hinreichend entwickelt. Wird nicht oft von Prognosen die Exaktheit einer Sonnenfinsternisvorhersage erwartet und dabei verkannt, daß gerade solche Prognosen politisch wertlos sind? Aus der Relationsbedürftigkeit von 22 Näher dazu Oliver Lepsius, Nachhaltigkeit und Parlament, in: Wolfgang Kahl (Hrsg.), Nachhaltig-

keit als Verbundbegriff, 2008, S. 326–350 (336 ff.); Nancy Cartwright, From Causation to Explanation and Back, in: Brian Leiter (Ed.), The Future for Philosophy, 2004, S. 230–245 (230 ff.); dies., Against »The System«, in: Christoph Engel / Lorraine Daston (Ed.), Is there Value in Inconsistency, 2006, S. 17–38 (17 ff.). Für ein auf Relationierung und Repräsentation fußendes Theorieangebot, wie Politiker und Wissenschaftler in einen Diskurszusammenhang gebracht werden können, vgl. etwa Bruno Latour, Das Parlament der Dinge, 2001, insbes. S. 94 ff., 272 ff.

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Prognosen (»Unter welchen Bedingungen ist was wahrscheinlich?«) darf nun nicht gefolgert werden, daß Politik irrational oder kopflos reagiere oder Wissenschaftler ihr Handwerk nicht verstünden. Deutlich sollte vielmehr werden: Wissenschaft und Politik konkurrieren um Lösungsangebote, denen oft unterschiedliche Bedingungen zugrunde gelegt werden. Wir dürfen nicht übersehen, daß Politik selbst laufend Prognosen aufstellt, von ihnen lebt und aus ihnen Wahlversprechen ableitet (Wirtschaftswachstum, Steuergesetzgebung, Rentenrecht). Es gehört zur Aufgabe der Politik und ihrer Gesetzgebung, Prognosen zu formulieren, und diese Aufgabe ist verfassungsrechtlich sogar institutionell abgesichert23. Das Bundesverfassungsgericht etwa spricht regelmäßig dem Gesetzgeber einen Prognose-, Wertungs- und Einschätzungsspielraum zu24, der gerichtlich nicht kontrollierbar ist25. Wissenschaft und Politik müssen daher in ein sinnvolles Gespräch miteinander gebracht werden, in dem sie sich jeweils auf die Szenarien und die ihnen zugrunde gelegten Bedingungen einlassen und sie gegenseitig reflektieren. Nur dann kann auch die Wissenschaft politische Ziele und die zu ihrer Erreichung intendierten Mittel kritisch würdigen und Verbesserungsvorschläge unterbreiten. Das aber verlangt den Mut alternativer Prognosen je nach der Modellierung der Ausgangsbedingungen – und das ist oft ein Preis, den weder Politik noch Wissenschaft bezahlen möchten, weil dann Politik keine berechenbaren Aussagen treffen kann (Wahlversprechen lassen sich nicht halten, Unglaubwürdigkeit ist die Folge) 23 Umfassend m. w. N. Klaus Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, insbes. S. 954 ff. 24 Näher Oliver Lepsius, Verfassungsrechtlicher Rahmen der Regulierung, in: Michael Fehling / Matt-

hias Ruffert (Hrsg.), Regulierungsrecht, 2010, §4 Rn. 14 ff., 85 ff.; Ralf Poscher, Funktionenordnung des Grundgesetzes, in: Wolfgang Hoffmann-Riem / Eberhard Schmidt-Aßmann / Andreas Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band I, 2006, §8 Rn. 11 f., 43 ff.; Franz Reimer, Das Parlamentsgesetz als Steuerungsmittel und Kontrollmaßstab, ebd., §9 Rn. 10 ff. 25 Vgl. als maßgebliche Entscheidung BVerfGE 106, 62 (142–153) – Altenpflege [2002]. Freilich überprüft das Gericht, ob den gesetzgeberischen Einschätzungen das erforderliche Tatsachenmaterial zugrunde gelegen hat und ob dieses fehlerhaft gewichtet wurde. Den Prognosen müssen Sachverhaltsannahmen zugrunde gelegt werden, die sorgfältig ermittelt sind und sich gerichtlich bestätigen lassen. »Prognostische Urteile gründen auf Tatsachenfeststellungen, die ihrerseits einer Prüfung und Bewertung zugänglich sind. Überprüfbar ist hier ebenso wie bei der Beurteilung gegenwärtiger oder vergangener Sachverhalte vor allem, ob der Gesetzgeber seine Entscheidung auf möglichst vollständige Ermittlungen gestützt oder ob er relevante Tatsachen übersehen hat. Dabei kann sich die Forderung nach möglichst »vollständigen« Ermittlungen vernünftigerweise nur auf Tatsachen beziehen, die für den jeweiligen Regelungsbereich gewichtig sind, und dem Gesetzgeber muß in gewissen Grenzen überlassen sein, auf welche Weise er die relevanten Tatsachen ermittelt. Soweit hingegen Unsicherheiten der Prognose durch gesicherte empirische Daten und verlässliche Erfahrungssätze ausgeräumt werden können, scheidet ein Prognosespielraum aus« (Nachweise weggelassen), BVerfGE 106, 62 (151). Zum Problem auch BrunOtto Bryde, Tatsachenfeststellungen und soziale Wirklichkeit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Peter Badura / Horst Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. I, 2001, S. 533–561 (533 ff.); Lepsius, Rahmen (Fn. 24), Rn. 77, 97.

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und Wissenschaft als nicht exakt gilt (überlegener Sachverstand wird bezweifelt). Beides scheint Wissenschaft und Politik zu bedrohen: Was ist eine Politik der leeren Versprechungen wert, was eine Wissenschaft der irrtumsbehafteten Vorhersagen? Darüber sollten wir aber nicht klagen. Stellen wir uns vor, exakte Prognosen wären möglich – welch entsetzliche Vorstellung. Die Kausalverläufe wären determiniert und es bestünde dementsprechend keine Notwendigkeit mehr, sich zu entscheiden. In einer kausal determinierten Welt müßte der Mensch unfrei sein, Politik entbehrlich, die Menschheit ausgeliefert den Gesetzen der Natur. Das Leben wäre eine einzige Sonnenfinsternis. Für das Phänomen der Prognoseunsicherheit sollten wir daher kognitiv dankbar sein und nicht dem Irrtum verfallen zu glauben, es bedürfe der Erkenntnis, um danach erst handeln zu können, sondern uns vielmehr im klaren sein, daß Handeln notgedrungen auf unklaren Erwartungen beruhen muß. Die Ungewißheit ist ein konstitutives Merkmal praktischer Tätigkeit, das nicht eliminiert werden kann – und die Wissenschaft sollte weder versprechen es zu eliminieren noch dies als Ziel der Wissenschaft glorifizieren. Erst die Unsicherheit der Zukunft garantiert die kognitive Freiheit. Es wäre also kein erstrebenswerter Gedanke, die Unsicherheit der Zukunft beseitigen zu wollen, und dementsprechend kann es kein sinnvolles Ziel von Wissenschaft oder Politik sein, derlei zu versprechen. Wissenschaftlich und politisch sinnvolle Prognosen sollten sich daher mit Relationen beschäftigen, also Fragen, unter welchen Umständen und in welchem Zeitraum bestimmte Ereignisse wahrscheinlich eintreten werden.

V. Zusammenfassung 1. Prognosen sind bedingte Aussagen. Sie beanspruchen wissenschaftliche Aussagekraft nur unter Beachtung der Bedingungen. Sie dürfen daher nie mit Aussagen über die reale Welt verwechselt werden. 2. Prognosen erhalten daher notwendig wertende Elemente, zumindest nämlich bei der Auswahl der für relevant gehaltenen Bedingungen und den ihnen zugrunde liegenden Relationierungen. 3. Sinnvolle prognostische Aussagen dürfen daher keine Objektivität oder Zwangsläufigkeit beanspruchen, sondern müssen die zugrunde liegenden Modelle und Szenarien offen legen, damit sie diskurs- und abwägungsfähig bleiben. 4. Deterministische Prognosen (»wann tritt die nächste Sonnenfinsternis ein«) sind politisch wertlos. Von Prognosen darf man keine objektiven Aussagen erwarten, weil dies die Handlungsfreiheit des Menschen dementieren würde. 5. Die Prognosekraft der Wissenschaft konkurriert mit jener der Politik. Es gibt

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keine klar abgrenzbare Kompetenzsphäre, in der sich etwa die Wissenschaft die Prognosekompetenz vorbehalten könnte. 6. Deswegen ist ein Umgang mit Prognosen zu institutionalisieren, so daß die jeweiligen Rahmenbedingungen reflektiert und korrigiert werden können.

Sektion IV: Wissenschaft in der Politik?

Dietmar Willoweit

Rat und Entscheidung in deutschen Monarchien des 17. und 18. Jahrhunderts

I. Zwiespalt der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Dezisionismus absolutistischer Herrschergewalt als idealtypisches Konstrukt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das realgeschichtliche Erscheinungsbild politischer Meinungsbildung und Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Jurisprudenz und Rechtsschutz in den obrigkeitlichen Entscheidungsprozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Zeugnis der Ratsprotokolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Quellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Exemplarische Einblicke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der kurfürstlich brandenburgische Rat im 17. Jahrhundert . . . . . . . b) Der Gebrechensenat des Hochstifts Würzburg im 18. Jahrhundert . . aa) Themen und Verfahren des Ratskollegiums . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Rechtliche und pragmatische Aspekte der Beratung . . . . . . . . . . cc) Die Approbation der Ratsbeschlüsse durch fürstliche Entschließungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Politikfelder »dezisionistischen« Charakters . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zusammenfassende Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Zwiespalt der Wissenschaft 1. Der Dezisionismus absolutistischer Herrschergewalt als idealtypisches Konstrukt

Die Arbeit der Vernunft, Unterschiede festzustellen, führt in Anwendung auf die Geschichte zur Annahme epochaler Zäsuren, die Verständnis fördern sollen, aber auch Kontinuitäten zerreißen und Zusammenhänge verdunkeln. Mit der Unterscheidung der frühen Neuzeit vom späten Mittelalter sind in der Geschichtsschreibung und historischen Wahrnehmung seit langem Vereinfachungen üblich geworden, die nicht nur Umbrüche voraussetzen, sondern geradezu Entwicklungssprünge beschreiben. Wenn auch der allzu einfache Kontrast zwischen dem »dunklen« Mittelalter und der vom Licht der Vernunft erfüllten Epoche der Aufklärung durch die Beobachtung zunehmender Rationalität seit dem hohen Mittelalter relativiert worden ist, so herrscht doch die Überzeugung vor, seit dem 17. Jahrhundert manifestiere sich in den glanzvoll auftretenden Herrschergestalten eine ganz neuartige Freiheit politischen Handelns. An die Stelle des Zusammenspiels von »Herrschaft und Genossenschaft«, das noch die ständischen Elemente der selbstbewussten, aber konfessionell eingebundenen Obrigkeitsstaaten in der Zeit bis zum Dreißigjährigen Kriege prägte, tritt nun die Alleinherrschaft des Monarchen. Das Schlagwort vom »Zeitalter des Absolutismus«, das lange Zeit unser Geschichtsbild prägte1, aber nicht mehr als eine geschichtliche Tendenz zur Sprache bringt2, lebt im Spiegel der Staatstheorie jener Zeit bis in die Gegenwart fort. Die Wissenschaft neigt dazu, die völlig neuartig zu denkende Rechtssetzungsfreiheit des princeps legibus solutus in den Schriften der großen Staatsdenker Jean Bodin3 und Thomas Hobbes4 auch auf die RegierungsZwei Beispiele aus älterer und neuerer Zeit mögen genügen: Ernst Forsthoff, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 3. Aufl. 1967, S. 36 ff.; Karl Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 3, 4. Aufl. 2005, S. 9 ff. 2 In neueren historischen und rechtshistorischen Darstellungen ist das »Zeitalter …« fast verschwunden, nicht zuletzt, weil die Bedeutung des Reiches richtiger eingeschätzt wird. Zur Problematik und Charakteristik des Absolutismus vgl. Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 6. Aufl. 2009, S. 160 ff. Zur aktuellen Diskussion vgl. Lothar Schilling (Hrsg.), Absolutismus, ein unersetzliches Forschungskonzept? Eine deutsch-französische Bilanz, 2007. 3 Henning Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. 3, 1, 2006, S. 213 ff. Die kaum zu überblickende Literatur erschließt die Bibliographie bei Peter-Cornelius Mayer-Tasch, Jean Bodin. Eine Einführung, 2000, S. 65 ff.; wichtige englischsprachige Aufsätze von 1939 bis 2000 enthält der Sammelband: Jean Bodin, 2006. 4 Ottmann, Geschichte (Fn. 3), S. 265 ff. Aus der gleichfalls umfangreichen Literatur vgl. zuletzt Wolfgang Kersting (Hrsg.), Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, 2008; ferner die Sammlung der wichtigsten englischsprachigen Aufsätze aus den Jahren 1945 bis 2002 in: Gabriella Slomp (Ed.), Thomas Hobbes, Aldershot (u. a.) 2008. 1

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praxis der europäischen Staaten zu projizieren5. Wie soll man Absolutismus auch erklären, ohne auf Hobbes hinzuweisen? In Hinblick auf diesen Zusammenhang scheint unser Thema ohne Sinn. Denn danach liegt in der frühneuzeitlichen Monarchie die Entscheidung beim Fürsten und nur bei ihm, der erteilte Rat mag nützlich sein oder nicht, beliebig und unverbindlich ist er allemal. Auf diese Weise konnte der absolute Herrscher zur Symbolfigur der freien politischen Entscheidung schlechthin avancieren und Theoretiker der Politik wie auch Historiker begeistern. Carl Schmitt hat auf diesem Wege das ihm genehme historische Weltbild konstruiert und darauf sein politisches Denken gegründet. Das einschlägige Zitat aus seiner »Verfassungslehre« darf auch hier nicht fehlen: »Das ›Absolute‹ liegt darin, dass der Fürst ›legibus solutus‹, d. h. berechtigt und imstande ist, aus politischen Gründen, über die er allein entscheidet, die legitimen Forderungen der Stände und die bestehenden Privilegien und Vereinbarungen zu missachten … Wer die höchste Macht hat … dauernd und aus eigenem Recht, d. h. kraft eigener Existenz, ist souverän: Er ist an göttliches und natürliches Recht gebunden, aber darum handelt es sich bei der Frage der Souveränität gar nicht, sondern nur darum, ob der legitime status quo für seine politischen Entscheidungen ein unübersteigliches Hindernis sein soll, ob jemand ihn zur Verantwortung ziehen kann und wer im Konfliktsfall entscheidet. Der Souverän kann, wenn Zeit, Ort und individuelle Besonderheiten es erfordern, Gesetze ändern und durchbrechen. Darin äußert sich eben seine Souveränität …«6 Die Exegese dieses Textes könnte mehrere Seiten füllen. Carl Schmitt lässt sich von einem Vorbegriff »absolut« genannter Herrschaftsgewalt leiten, in dem die faktisch höchste Macht und das unbeschränkte Recht, Recht zu setzen, in eins fallen. Dieses gedankliche Konstrukt ist philosophisch nur durch einen göttlichen Auftrag oder einen fiktiven Vertrag mit den Herrschaftsunterworfenen und historisch überhaupt nicht zu begründen. Denn jede höchste Macht begegnet immer schon bestehenden Rechten, die man zwar brechen kann, dies aber nicht von Rechts wegen. Nur der gewaltsame Umbruch, die Revolution, schafft tabula rasa. Ihr sind vergleichbar spektakuläre, aber politisch erfolgreiche Verletzungen des Reichsrechts, wie die Entscheidung zur kriegerischen Eroberung Schlesiens, oder des Bundesrechts, wie im Jahre 1866. Die preußisch-deutsche Geschichtsschreibung hat sie als politische Großtaten auf dem Weg zur deutschen Einigung gefeiert. Doch die Vermengung philosoForsthoff, Verfassungsgeschichte (Fn. 1), S. 37 f. hat das Problem klar erkannt, aber doch der »Parallelisierung der Souveränität mit der Allmacht Gottes« das Wort geredet. Die deutschen Staaten im Heiligen Römischen Reich galten nach den Grundsätzen des zeitgenössischen Ius publicum jedoch nicht als souverän. Vgl. a. Hans Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 1, 1984, S. 224 ff.; Volker Press, Kriege und Krisen. Deutschland 1600–1715, 1991, S. 328 ff. 6 Carl Schmitt, Verfassungslehre, 6. Aufl. 1983, S. 48 f. 5

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phischen Denkens und politischer Praxis führt letztlich in die Irre. In der geschichtlichen Wirklichkeit bildeten sowohl das göttliche und natürliche Recht Schranken, die zu überschreiten zumindest politische Kosten nach sich zog, wie auch die Rechte Dritter, die keineswegs immer absolutistischen Willkürakten schutzlos ausgeliefert waren. Juristen bemühten sich auch um die »Verrechtlichung« der Herrschaftssphäre des Monarchen7. 2. Das realgeschichtliche Erscheinungsbild politischer Meinungsbildung und Entscheidung

Die Geschichte der Staatsphilosophie gibt keine Auskunft über die tatsächlichen politischen Aktivitäten der Fürsten in ihren Staaten. Sie sagt nichts über ihre Gesetzgebung aus und nichts darüber, ob sie bestehende Gesetze respektierten oder durchbrachen. Jene Epoche, in der sich die neuzeitliche politische Philosophie zu entfalten begann, das 16. und 17. Jahrhundert, ist zugleich Zeuge umfassender administrativer Reformen auch in den deutschen Fürstenstaaten. Die am Hofe des Landesherrn tätigen Amtsträger, Räte und Diener erhielten damals in sorgfältig redigierten Ordnungen Verfahrensregeln und Kompetenzzuweisungen, deren Ziel die Entlastung des Fürsten, nicht die Perfektion seiner Machtstellung gewesen ist. Der tägliche Betrieb des Hofes, der Geschäftsgang des Rates und die für die Einnahmen zuständige Kammer sowie die Kanzlei bedurften nach der Überzeugung jener Zeit genauer Regelungen. Teils wurden für diese vier Tätigkeitsbereiche je eigene Ordnungen erlassen, teils fasste man mehrere Materien in einer Ordnung zusammen. Aber Gesetze dieser Art, die der Herrscher typischerweise beim Regierungsantritt erließ, gab es fast überall. Dabei gehörte zu den Aufgaben des fürstlichen Rates nicht nur die Wahrung der eigenen Rechtspositionen in seinem Territorium, in der Region gegenüber den Nachbarn und im Reich, sondern auch die Entscheidung zahlreicher, durch Appellationen und Supplikationen an ihn herangetragener Parteistreitigkeiten der Untertanen. Daher hatten sich die – meist so benannten – Hofratskollegien mehrmals in der Woche im Auftrag des Fürsten sowohl mit dem »Unsrigen«, also seinen eigenen Rechten und Interessen und genuin politischen Angelegenheiten zu befassen, wie auch mit Konflikten der Untertanen. In größeren Territorien geschieht das meist in Abwesenheit des Herrschers unter dem Vorsitz eines hohen Hofbeamten. Dieser erfragte die Meinung der Räte – in der Regel ihrer Anciennität folgend – in einer offenen »Umfrage«. Der Fürst konnte zwar jederzeit den Vorsitz selbst übernehmen Dietmar Willoweit, Rechtsprobleme der absoluten Monarchie, in: Festschrift für Martin Heckel zum 70. Geburtstag, 1999, S. 641–657 (641 ff.), Neudr. in: Dietmar Willoweit, Staatsbildung und Jurisprudenz. Gesammelte Aufsätze 1974–2002, Bd. 2, 2010, S. 333–349.

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und von dem mehrheitlichen Votum seiner Räte abweichen. Das verstand sich in der Monarchie von selbst, entsprach aber nicht dem eigentlichen Zweck des Verfahrens8. Diese Organisation der höchsten Beratungs- und Entscheidungsstrukturen blieb bis zum Ende des 18. Jahrhunderts im Wesentlichen, wenn auch mit einigen Modifikationen, erhalten. Vielfach entstehen seit dem frühen 17. Jahrhundert für die politisch gewichtigeren Sachen zusätzlich »geheime« Ratskollegien, für die bald aber auch Verfahrensregeln festgelegt wurden. Im frühen 18. Jahrhundert kristallisieren sich geheime »Konferenzen« im Kabinett des Monarchen heraus, die dann einem ähnlichen Formalisierungsprozess unterliegen. Die früheren Hofratskollegien teilen sich häufig auf, in Kollegien für Rechtssachen von allgemeiner Bedeutung einerseits, in Justizsenate für Streitigkeiten der Untertanen andererseits9. Allein regiert der Fürst in aller Regel überhaupt nicht, auch dann nicht, wenn er seinen Willen auf irgendwelchen Schriftstücken durch Marginalbemerkungen kundtut. Diese Papiere setzen eben einen von Räten oder ähnlichen Amtspersonen schon durchgesehenen und oft bearbeiteten Vorgang voraus. Die Fülle der aufkommenden Fragen, eingehenden Anfragen und entstehenden Konflikte wächst seit dem ausgehenden Mittelalter derart an, dass sich die obrigkeitlichen Pflichten nicht mehr im Einmannbetrieb erledigen lassen. In welchem Umfang ein Monarch »einsame« Entscheidungen traf, vom Votum seiner Räte abwich oder gar Recht brach, lässt sich nur durch räumlich und zeitlich begrenzte Einzelstudien klären. 3. Jurisprudenz und Rechtsschutz in den obrigkeitlichen Entscheidungsprozessen

Den angedeuteten Prozess begleiten Juristen, die am Königshof schon in der Stauferzeit und in den deutschen Fürstenstaaten spätestens seit dem Beginn des 15. Jahrhunderts in Erscheinung treten10. Die allmähliche Juridifizierung der Gesellschaft schreitet zwar langsam, aber stetig und unaufhaltsam voran. Sie beginnt am frühesten in der Kirche, erfasst danach die zwischenherrschaftlichen Beziehungen der reichsunmittelbaren Gewalten, an denen ja häufig kirchliche Institutionen samt den dort seit langem tätigen Juristen beteiligt waren, und beginnt sich schließlich mit der Zunahme des juristischen Personals auch an den weltlichen Fürstenhöfen auf die bürgerlichen Rechtsbeziehungen zu erstrecken. Juristen aber gehörten stets und Dietmar Willoweit, Allgemeine Merkmale der Verwaltungsorganisation in den Territorien, in: Kurt G. A. Jeserich / Hans Pohl / Georg-Christoph von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1, S. 289–346 (307 ff.). 9 Willoweit, Merkmale (Fn. 8), S. 318 ff. 10 Vgl. dazu die Beiträge in: Roman Schnur (Hrsg.), Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates, 1986; Rainer Christoph Schwinges (Hrsg.), Gelehrte im Reich, 1996 (Zs. f. histor. Forschung, Beih. 18). 8

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mit zunehmender Tendenz auch den skizzierten Hofratskollegien an, neben Adeligen mit nur höfischer Erziehung und Militärs11. Doch schon im 16., spätestens im 17. Jahrhundert dominieren die Juristen, da zunehmend auch der Adel das Studium der Jurisprudenz auf sich nimmt. Es ergießt sich also ein kontinuierlicher Strom juristischen Wissens in die Ratskollegien. In welchem Maße es dort wirksam geworden oder angesichts der vorgeblichen Handlungsfreiheit des Herrschers ohne Bedeutung geblieben ist, kann weder an der Zusammensetzung dieser Ratskollegien abgelesen, noch der zeitgenössischen Rechtsliteratur entnommen werden. Die Lektüre der juristischen Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts lehrt uns freilich, dass zum juristischen Grundwissen über die öffentlichen Verhältnisse noch immer die schon in der mittelalterlichen Jurisprudenz vielfach traktierten Leitbegriffe iurisdictio, imperium, dominium gehören. Man sehe einmal nach, auf welche Literatur sich Autoren wie Bodin oder Grotius stützen. Nach einer viele Jahrhunderte andauernden Inkubationszeit, in der Juristen von hoher Professionalität über Fragen der iurisdictio, der utilitas publica, des bonum commune und ähnliche, die res publica betreffende Angelegenheiten nachgedacht haben, entsteht die juristische Disziplin des Ius publicum12. Die Erschütterung nicht nur des Reiches, sondern der abendländischen Welt durch einen Religionskonflikt bisher unbekannter Dimension, mag wie eine Initialzündung gewirkt haben13. Aber seine Substanz gewinnt das Rechtsdenken der frühneuzeitlichen Publizistik aus der mittelalterlichen Jurisprudenz jedenfalls solange, wie es – vor Naturrecht und Gesetzesherrschaft – aus methodischen Gründen nötig ist, juristische Argumente durch die Autoritäten des römischen oder mittelalterlichen Rechts zu begründen14. Hinzu kommt, dass dieses Rechtswissen überall mit den verschiedenartigsten Rechtsverhältnissen konfrontiert worden ist. Nirgendwo existierten rechtsfreie Räume wie nach dem Ende des Naturzustands. Mehr oder weniger mussten sich alle Herrscher bis zu den revolutionären Umbrüchen der napoleonischen Ära mit dem Geflecht verschiedenartiger Partikularrechte und Privilegien, Herrschafts- und Nutzungsrechte auseinandersetzen. Wie fern vor dem Höhepunkt der Aufklärung 11 Vgl. exemplarisch Rainer A. Müller, Zur Akademisierung des Hofrates. Beamtenkarrieren im Her-

zogtum Bayern 1450–1650, in: Schwinges, Gelehrte (Fn. 10), S. 291–307 (296 f.). 12 Vgl. dazu das Forschungsprojekt von Gerhard Dilcher und Diego Quaglioni (Hrsg.), Gli inizi des

diritto publico. Die Anfänge des öffentlichen Rechts, Bd. 2, 2008, und den in Vorbereitung befindlichen Bd. 3 mit dem Untertitel: Auf dem Wege zur Etablierung des öffentlichen Rechts zwischen Mittelalter und Moderne. 13 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1, 1988, S. 126 ff., 154 ff. 14 Klaus Luig, Usus modernus, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 5, 1998, Sp. 628–636; Dietmar Willoweit, Der Usus modernus oder die geschichtliche Begründung des Rechts, in: ders. (Hrsg.), Die Begründung des Rechts als historisches Problem, 2000, S. 229–245, Neudr. in: ders., Staatsbildung (Fn. 7), Bd. 2, S. 373–389

rat und entscheidung in deutschen monarchien des 17. und 18. jahrhunderts

der Gedanke lag, das Recht, so wie es bisher das Leben lenkte, en bloc beiseite zu schieben, zeigt ein Blick auf die um 1700 weiterentwickelte Organisation der Kammerverwaltung, also der für die Einnahmen und in mancher Hinsicht auch für das Verhalten der Untertanen zuständigen Behörden. Die in Österreich, Preußen und anderswo eingerichteten Provinzialdepartements mit umfassenden Zuständigkeiten waren eine Antwort auf die Notwendigkeit, auch in der Zentralverwaltung Beamte mit intimer Kenntnis der Rechtsverhältnisse einzelner Landesteile heranzuziehen. Dieses Verwaltungssystem war den gegebenen Verhältnissen adäquat. Fachministerien mit Zuständigkeiten für das ganze Staatswesen wären der Vielfalt des überkommenen Rechts nicht gewachsen gewesen15.

II. Das Zeugnis der Ratsprotokolle 1. Die Quellen

Die Konsequenzen dieser institutionellen Rahmenbedingungen der alteuropäischen Monarchie sind den Protokollen der Ratskollegien – wo solche überliefert sind – zu entnehmen. Hier, nicht in abstrakten Reflexionen über den frühneuzeitlichen Staat, hat unser Thema seinen realgeschichtlichen Sitz im Leben. Von der »Monarchie«, nicht vom »Staat« soll deshalb die Rede sein, weil die nominelle Alleinherrschaft der durch die Gnade Gottes – den Zufall der Geburt – zur Regierung berufenen Person eine allgegenwärtige Selbstverständlichkeit gewesen ist und der Staat nur so in Erscheinung trat. Ob aber ein politischer Wille des Monarchen überhaupt festzustellen ist, in welchem Umfang er welche Ziele verfolgte und in welchem Maße er die sozialen Verhältnisse zu gestalten vermochte – das alles sind Fragen, die geeignet sind, das Schlagwort vom »Absolutismus« zu relativieren. Welches Maß von »absolutem« Herrscherwillen hat sich in der Monarchie jeweils verwirklicht? Die geradezu paradigmatische Beschwörung dieser vorgeblich ungehemmt rechtserzeugenden Willensmacht bei manchem Staatstheoretiker ist der Grund unserer Frage. Die folgenden Beispiele sind zwei sehr unterschiedlichen deutschen Territorialstaaten entnommen: dem Kurfürstentum Brandenburg im ersten Jahrzehnt nach dem Westfälischen Frieden – beruhend auf einer schon älteren Studie des Verfassers – und dem Hochstift Würzburg zu verschiedenen Zeiten des 18. Jahrhunderts. Aus Brandenburg liegen die – seit langem edierten – Protokolle des 1604 gegrün15 Was die Kritik am vormodernen Verwaltungswesen gerne verkennt. Treffend dazu schon Friedrich J.

Kühns, Die Ressortverhältnisse des preußischen Geheimen Staatsraths bis in das 18. Jahrhundert, in: Zs. für preußische Geschichte und Landeskunde 8 (1871), S. 141–170 (162).

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deten Geheimen Rates vor, der dort das erste durch eine Ordnung geregelte Ratskollegium gewesen ist und daher trotz seines Namens auch die Funktionen eines Hofrates wahrnahm16. Aus dem Hochstift Würzburg sind – mit wenigen Lücken im 17. Jahrhundert – seit 1659 bis zum Ende des geistlichen Staates die Protokolle des sog. Gebrechensenates erhalten. Es handelt sich um ein Hofratskollegium, von dem sich ein Justizsenat für die Parteistreitigkeiten schlichter Untertanen schon 1684 abgetrennt hatte. Hier ermöglicht die Kontinuität der Protokollserie im Prinzip auch den Vergleich zwischen verschiedenen Herrschern, der allerdings mit Rücksicht auf den Umfang dieses Materials – insgesamt vielleicht 70 000 doppelseitig beschriebene Blätter – auf einer äußerst schmalen Quellenbasis bestenfalls exemplarisch zu nennen ist, da nur wenige Bände durchgesehen werden konnten17. 2. Exemplarische Einblicke a) Der kurfürstlich brandenburgische Rat im 17. Jahrhundert

Der kurbrandenburgische Rat hatte noch bis zur Einrichtung einer besonderen Justizkommission im Jahre 1658 einfache Parteistreitigkeiten zu erörtern, deren Entscheidung durch das Kollegium mehr oder weniger rechtsförmlich erfolgte18. So im Verfahren des Frankfurter Rats gegen einen der Untreue verdächtigen Akziseeinnehmer, im Streit um eine städtische Hütungsgerechtigkeit, in Erbstreitigkeiten19. Aufschlussreich sind Fälle, in denen der Streit früher erteilte Privilegien oder Vermögensrechte der Untertanen betrifft. Eine unter der Jurisdiktion des kurfürstlichen Amtes stehende Stadt darf dennoch selbst die Gerichtsbarkeit über die Stadtheide ausüben – aufgrund einer älteren Verleihung durch den Landesherrn20. Die Beschwerde, die Erteilung einer Konzession an einen Gewandschneider verletze ein Privileg von 1335, lässt der Kurfürst gutachtlich untersuchen21. Das Recht einer Stadt, für die Betäti16 Protokolle und Relationen des Brandenburgischen Geheimen Rathes aus der Zeit des Kurfürsten

Friedrich Wilhelm, Bd. 1–7, 1889–1919, hrsgg. von Otto Meinardus; Fritz Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 9. Aufl. 1969, S. 108. 17 Staatsarchiv Würzburg (zitiert: StAW), Gebrechenprotokolle. Herangezogen wurden aus den Regierungszeiten verschiedener Fürstbischöfe die folgenden Jahrgänge: 1713 (Johann Philipp von Greiffenclau), 1720 (Johann Philipp Franz von Schönborn), 1725 (Christoph Franz von Hutten), 1730 und 1740 (Friedrich Karl von Schönborn), 1747 (Anselm Franz von Ingelheim), 1750 (Karl Philipp von Greiffenclau), 1760 (Adam Friedrich von Seinsheim), 1780 (Franz Ludwig von Erthal). 18 Dietmar Willoweit, Rat und Recht im Regiment des Großen Kurfürsten von 1648 bis 1658, in: Schnur, Rolle (Fn. 10), S. 797–822, Neudr. in: Willoweit, Staatsbildung (Fn. 7), Bd. 2, S. 523–548 (529 ff.). Zitate nach dieser Ausgabe. 19 Protokolle (Fn. 16), Bd. 4 Nr. 181 S. 201 ff.; Willoweit, Rat (Fn. 18), S. 537 f. 20 Protokolle (Fn. 16), Bd. 4 Nr. 50 S. 50 ff.; Willoweit, Rat (Fn. 18), S. 541. 21 Protokolle (Fn. 16), Bd. 4 Nr. 350 S. 392 f.; Willoweit, Rat (Fn. 18), S. 541 f.

rat und entscheidung in deutschen monarchien des 17. und 18. jahrhunderts

gung im Handel und die Eröffnung eines Ausschanks das Bürgerrecht zu fordern, respektiert der Kurfürst durch Korrektur einer von ihm bereits getroffenen Entscheidung22. Das Recht bietet freilich auch Möglichkeiten, in politisch wichtigeren Sachen Lösungswege zu finden, die dem Interesse des Landesherrn besser entsprechen als andere. Als der Berliner Rat einen jungen Adeligen wegen Beteiligung an einem Duell in Haft nimmt und dabei auf Reskripte der Vorgänger des jetzigen Landesherrn hinweist, ahnen die Angehörigen des Geheimen Rates wohl, der Vorgang werde – in der jetzt beginnenden Spätblüte der Adelsgesellschaft – dem Kurfürsten nicht gefallen. Sie weisen ihren Herrn daher darauf hin, dass ihm die »potestas privilegia concessa interpretandi, ampliandi vel etiam restringendi« zustehe. Davon macht der Kurfürst denn auch Gebrauch, indem er der Stadt zwar das Recht zur Ergreifung des Täters, nicht aber das Recht der Aburteilung zubilligt23. Mit schönen juristischen Argumenten ließ sich auch dem Streben einer Johanniterkomturei nach Reichsunmittelbarkeit begegnen24. Doch gibt es auch ganz oder annähernd rechtsfreie Räume, in denen der Kurfürst dem Rat seiner Räte nicht folgen muss und mag, weil er deren konservative Gesinnung nicht teilt. Gegen die privilegierte Ansiedlung von »neuen Holländern« beschwören die Ratgeber die Höhe der Kosten, die Benachteiligung der Alteingesessenen, Religionsprobleme und die Konfusion des Justizwesens. Friedrich Wilhelm bleibt unbeeindruckt, weil es sich bei der Urbarmachung bisheriger Wildnis um ein Werk zu »des ganzen Landes Besten« handele25. Selbst in Angelegenheiten der großen Politik bleiben die Räte einem vorsichtigen Pragmatismus und auch ihrem gewohnten juristischen Denken verhaftet. Der Kurfürst wollte wissen, ob er ein Bündnis mit Schweden schließen solle. Die warnende Stimme des Geheimen Rates verweist auf die drohende Beeinträchtigung kaiserlicher und polnischer Interessen, auf die Belastung der Untertanen durch die fremden und die Kosten der eigenen Soldaten, schließlich auch darauf, dass eine aktuelle Bedrohung, die ein solches Bündnis erforderlich machen könnte, gar nicht gegeben sei. Mangels »großer Necessität, ohne welcher und der Untertanen Wohlfahrt keine Verbündnuß vor rechtmäßig kann gehalten werden«, wollen die Räte einen solchen Vertrag nicht empfehlen. Von diesem – nicht weiter begründeten – juristischen Argument bleibt der Kurfürst allerdings unbeeindruckt. Er hält aus allein machtpolitischen Erwägungen an seiner Idee fest, bis ihn die politischen Realitäten eines Besseren belehren26. Das den Reichsständen 22 23 24 25 26

Protokolle (Fn. 16), Bd. 5 Nr. 159 S. 175 f.; Willoweit, Rat (Fn. 18), S. 542. Protokolle (Fn. 16), Bd. 5 Nr. 291 S. 330 ff.; Willoweit, Rat (Fn. 18), S. 539 f. Protokolle (Fn. 16), Bd. 4 Nr. 194 S. 220 ff.; Willoweit, Rat (Fn. 18), S. 547. Protokolle (Fn. 16), Bd. 4 Nr. 219 S. 252 ff. und Nr. 228 S. 260.; Willoweit, Rat (Fn. 18), S. 543 f. Ausführlich dazu mit umfassenden Quellennachweisen Willoweit, Rat (Fn. 18), S. 535 ff.

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im Westfälischen Frieden wenige Jahre zuvor garantierte Bündnisrecht27 spielt in diesen Beratungen jedenfalls explizit keine Rolle. Den brandenburgischen Räten lag ein nur politisches Verständnis der Bündnisfrage offenbar ebenso fern, wie es dem Großen Kurfürsten wohl selbstverständlich war. Dabei mochte sein Denken von den Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges stärker beeindruckt gewesen sein als von der Existenz einer Rechtsnorm, die eher das Rechtsherkommen im Reiche bewahren wollte. b) Der Gebrechensenat des Hochstifts Würzburg im 18. Jahrhundert aa) Themen und Verfahren des Ratskollegiums

Im Hochstift Würzburg lässt sich das Verhältnis von Rat und Entscheidung einige Jahrzehnte später, also in der Glanzzeit fürstlicher Selbstdarstellung, noch genauer beobachten. Hier geht es natürlich nicht um große europäische Politik, sondern um den Herrschaftsalltag in einem Territorium mittlerer Größe, das gewiss als Exempel deutscher geistlicher Staaten dienen kann. Ein von weltlichen Dynasten regiertes Land wie das Kurfürstentum Bayern mit einer noch viel umfangreicheren, aber noch kaum erschlossenen Überlieferung wäre damit für das 18. Jahrhundert zu vergleichen – eine Zukunftsaufgabe, von der die Geschichtsforschung noch lange wird zehren können. Vorauszuschicken ist, dass der wichtigste Unterschied zwischen den geistlichen und weltlichen Staaten des Heiligen Römischen Reiches ohne Bedeutung zu sein scheint: die Tatsache, dass es sich bei den geistlichen Fürstentümern um Wahlmonarchien handelte. Denn die Wähler, also die Angehörigen des Domkapitels, spielen bei den hier zu erörternden Themen ebenso wenig eine Rolle wie der bei den Wahlen spürbare Einfluss des Kaiserhofes, wiewohl die bekannte Reichstreue des deutschen Episkopats stets zu unterstellen ist. Das im Würzburger Gebrechensenat behandelte Themenspektrum vermittelt einen ersten Eindruck von den vielfältigen rechtlichen und politischen Strukturen eines solchen Gemeinwesens ohne Berücksichtigung der in diesem Gremium nicht verhandelten eigentlichen Kammersachen, die mit den Finanzen des Hochstifts zu tun haben28. Die Beratungen drehen sich um Frohnen, Zölle, Handwerkersachen, um Zuständigkeiten der Zentgerichte und das Verhältnis zu den Augsburgischen Konfessionsverwandten, um Jagd, Wald- und Wiesennutzung, um Vermarkungen, 27 Art. VIII §2 Satz 2 IPO. Dazu Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Westfälische Frieden und das Bündnisrecht der Reichsstände, in: Der Staat 8 (1969), S. 449–478 und kritisch zur Überschätzung des Bündnisrechts durch moderne Juristen Georg Schmidt, Der Westfälische Frieden – eine neue Ordnung für das Alte Reich?, in: Wendemarken in der deutschen Verfassungsgeschichte, 1993 (Der Staat, Beih. 10), S. 45–72 (68 ff.). 28 Die Akten der Hofkammer wurden im 19. Jahrhundert makuliert.

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Bürgerrechte und Judensachen, um Eheschließungen Vermögensloser, Schildgerechtigkeiten der Wirtshäuser, Gewerbesachen, Bierbrauen und Branntweinbrennen, Hebammen und Physici, um den Zehnten und den Handlohn – das ist eine Abgabe bei Besitzwechsel –, um die Anlegung von Mühlen, Straßen- und Brückenbau und anderes mehr. Wohl jedes Jahr bewilligten die Räte eine Reihe von »Ledigzehlungen«, d. h. Entlassungen aus der Leibeigenschaft, oft wegen Verehelichung an einen anderen Ort, gegen Entrichtung einer Gebühr unterschiedlicher Höhe. Gelegentlich spielen die Beziehungen zum Reich hinein, etwa mit der Einquartierung kaiserlicher Soldaten, mit den unerwünschten preußischen Werbungen um Soldaten und Siedler, mit den Verfahren vor dem Reichskammergericht, mit der Beherbergung einer kaiserlichen Kommission, die samt Exekutionstruppe zu einem überschuldeten Reichsritter unterwegs ist. Irrungen mit den benachbarten Reichsständen, den Landesherren von Brandenburg-Ansbach, Bamberg, Fulda, Hohenlohe, Castell und anderen, sind so häufig, dass sie immer wieder mit deren Räten in besonderen Konferenzen abgearbeitet werden müssen29. Angesichts dieser umfassenden und politisch bedeutsamen Zuständigkeiten des Gebrechensenates wird das Gremium etwa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts auch als »Regierung« bezeichnet. Die Sitzungen des Gebrechensenats mit etwa einem Dutzend, manchmal viel weniger Teilnehmern, finden mehrmals wöchentlich in der Regel ohne den Fürstbischof unter dem Vorsitz des Kanzlers oder eines anderen hohen Würdenträgers am Hofe statt. Beschwerden, Supplikationen, Schreiben der lokalen Beamten sind oft der Anlass für das Tätigwerden des Kollegiums. Die in der Regel sehr ausführliche Darstellung des Sachverhalts mit den dazu anzustellenden Erwägungen schließt eine Conclusio ab, die dann manchmal, aber in einer eindeutigen Minderzahl der Fälle, einige Tage später von zwei oder drei Räten dem Fürstbischof überbracht und diesem wohl in der Regel vom Referenten vorgetragen wird30. Oft bestand dazu kein Anlass, weil ohnehin nur eine Zwischenentscheidung zu treffen war, etwa mit Einholung eines Berichts des vor Ort zuständigen Kellers oder Amtmanns, mit dem Schreiben an einen anderen Beteiligten, wegen Befassung einer anderen Behörde, insbesondere der Kammer. Aber auch die Anordnung von Schadensersatzleistungen und natürlich der Hinweis auf bestehende gesetzliche Regelungen bedürfen keiner Absegnung durch den Landesherrn. Kommt eine Sache vor den Fürsten, stimmt dieser dem Entscheidungsvorschlag seiner Räte überwiegend zu. Mancher Herrscher, zum Beispiel Friedrich Karl von Schönborn, liebte es, die von ihm grundsätzlich akzeptierte Ent29 Die meisten Bände sind zwar durch Ortsregister mit Hinweisen auf die Beratungsthemen, nicht

aber durch Sachregister erschlossen. 30 StAW Gebrechenprotokoll 1713 fol. 307v: »Dieses und alle vorhergehende Conclusa in dieser Sache

seynd Celsissimo wegen erfolgter Abwesenheit des Hrn. Referentii durch … Secretario Schäffner … referiert, und von deroselben alles … approbirt worden …«

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scheidung der Räte mit klugen Bemerkungen zu kommentieren oder Ergänzungen hinzuzufügen, wohl, um sein Verständnis einer Sache dieser Art gegenüber den Räten zu verdeutlichen. Gelegentlich, aber doch eher selten, ist der Fürstbischof anderer Meinung als in der Conclusio des Rates vorgesehen. Sein Wille ist dann selbstverständlich maßgebend. Wenn ihm eine Mindermeinung mehr einleuchtet als die der Majorität, kann er ihr folgen31. Immer wieder kommt es auch vor, dass die Räte nichts endgültig beschließen, sondern gleich die Entscheidung ihres Herrn einholen. Zu den wichtigeren Angelegenheiten, die ziemlich regelmäßig dem Fürsten vorgelegt worden sein dürften, gehören die schon erwähnten »Irrungen« mit den benachbarten Herrschaften, daher auch Zollsachen und nicht zuletzt die delikaten Beziehungen zu den Augsburgischen Konfessionsverwandten, die es ja infolge der Festsetzung eines »Normaljahres« durch den Westfälischen Frieden auch im Hochstift Würzburg gab. Der Fürstbischof selbst scheint nur ausnahmsweise an den Sitzungen des Gebrechensenats teilgenommen zu haben. Ein solcher Fall ist für den 13. März 1750 ausführlich dokumentiert. Es waren Beschlüsse über einen Vergleich mit den Erben des Juden Zachariä Fränckel in einer Schuldensache des Hochstifts zu fassen. An dieser Beratung war außer »Seine Hochfürstliche Gnaden« fast die gesamte Führungsmannschaft des kleinen Staates beteiligt: der geistliche und der weltliche Präsident der Regierung, der Kammerpräsident, der Oberhofmarschall, der Vizekanzler, dafür nur zwei Geheimräte32. Die Ergebnisse vorangegangener Vergleichsverhandlungen über ein offenbar bedeutendes Finanzvolumen abzusegnen, war eine Aufgabe, die aus dem gewöhnlichen Geschäftsanfall des Gebrechensenats herausragte. bb) Rechtliche und pragmatische Aspekte der Beratung

Die Lektüre der Protokolle dieses wichtigsten Ratskollegiums der Fürstbischöfe bestätigt zunächst die schon für Kurbrandenburg festgestellte Bedeutung des Rechts als Richtschnur hoheitlichen Handelns im deutschen Territorialstaat jener Epoche. So ist es selbstverständlich, dass ein schuldhaft verursachter Schaden zu ersetzen ist, wie zum Beispiel auf Beschwerde der Kitzinger Judenschaft der Metzger von Iphofen zu spüren bekommt, nachdem er die Mauer des benachbarten Judenfriedhofs eingerissen hat33. Aber auch der Landesherr macht insofern für sich keine Ausnahme. Sein Wunsch, vor dem Rennweger Tor eine »Wasserkunst« zu errichten, veranlasste die Räte, den dafür benötigten Bach überprüfen zu lassen, weil dessen Wasser auch Mühlen nutzten. Der Fürst ist damit einverstanden und lässt hinzufügen, »wann 31 Majoritäten und Minoritäten werden allerdings selten erwähnt, vgl. aber StAW Gebrechenproto-

kolle 1760 fol. 10r sq., wo der Fürstbischof in einem Streit um ein altes Recht des Propstes von Holzkirchen auf Lieferung von Holz »die minora gnädigst approbirt«. 32 StAW Gebrechenprotokolle 1750 fol. 1029v sqq. 33 StAW Gebrechenprotokolle 1713 fol. 36sq.

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auch einiger Schaden sich ergeben … sollte, Ihro Hochfürstliche Gnaden denselben satificiren wollten …«34. In ganz anders gelagerten Fällen ist es die juristische Distinktion, welche logisch einsichtige Entscheidungen in Übereinstimmung mit einer bestehenden Rechtslage ermöglicht, ohne dass der Fürstbischof bemüht werden muss. Als sich die Lengfurter Bürgerschaft über die Einfuhr auswärtigen Weins in ihre Gemeinde beschwert, lässt sie das Ratskollegium wissen, dass die Lengfurter »Fleckenordnung« zwar den Vertrieb und Ausschank auswärtigen Weins verbiete, nicht aber seine bloße »Niederlage« im Ort35. Komplizierter begründet wird die Ablehnung eines Gesuchs zweier Juden aus Fürth, in Würzburg mit Spezereien handeln zu dürfen. Zwar sei »fremdherrlichen Juden«, also nicht etwa vagierenden, »gegen reciprocation« der Handel auf den Messen und Jahrmärkten gestattet, also dann, wenn dieses Recht auch den eigenen Juden am fremden Orte eingeräumt werde. Aber mit Spezereien zu handeln sei wegen der Betrugsgefahr nicht einmal den »Hochstiftlichen Juden, welche ihr Schutzgeld entrichten«, ebenso wenig den zugelassenen ritterschaftlichen Juden erlaubt – woraus sich die Ablehnung des Gesuchs der Fürther Juden von selbst ergibt36. Weniger zwingend, aber nach den damaligen sozialethischen Maximen plausibel, begründen die Räte aufgrund eines Berichts des zuständigen Kellers die Zurückweisung des Gesuchs einer Frau aus Volkach, die auf dem Lande mit Kramwaren Hausierhandel treiben wollte. Ledigen Standes, aber Mutter eines Kindes, scheine es, »daß die Supplicantin lediglich als eine Vagantin im Lande herumziehen wolle, ihr vorgeführtes Leben aber ohnehin verdächtig seye«37. Wie in diesem Falle, spielen auch sonst die Berichte der lokalen Beamten für die Entscheidungsfindung des Gebrechensenates eine große Rolle. Diese Verwaltungspraxis erweckt geradezu den Eindruck einer umsichtigen Sorgfalt, mit der die Entscheidungen vorbereitet wurden. Als Preis dafür zogen sich die Verfahren oft in die Länge, so dass sich die Räte im Laufe von Monaten häufig mehrfach mit derselben Sache zu befassen hatten. Zu einem Antrag, das Recht zur Einrichtung einer »Schildwirtschaft«, also eines Gasthauses, zu verleihen, weil es im »populosen« Dorfe 34 StAW Gebrechenprotokolle 1720 fol. 413r sqq.: Räumung des Grabens auf Kosten der Kammer,

Auftrag an den Ingenieurhauptmann Neumann. 35 StAW Gebrechenprotokolle 1760 fol. 79v sqq.: die aber nicht zum Nachteil der Lengfurter gesche-

hen dürfe. 36 StAW Gebrechenprotokolle 1750 fol. 1060v. Die Tendenz zur unveränderten Beibehaltung der die

Juden betreffenden Verhältnisse ist auch sonst erkennbar, vgl. Gebrechenprotokolle 1740 fol. 467v: Nach Erteilung des Schutzbriefes für einen neu hinzuziehenden Juden entscheidet der Fürstbischof auf Anfrage der Räte, dass die Anzahl der Juden in dem betreffenden Ort – Erlenbach im Amt Homburg am Main – im Prinzip gleich bleiben solle, so dass, wenn künftig ein Jude in Erlenbach »abgeht«, dieser ledig gewordene Judenschutz nicht einem anderen Juden verliehen werden solle. 37 StAW Gebrechenprotokolle 1760 fol. 8r sq.: jedenfalls außer auf Messen und Jahrmärkten ist ihr der Handel nicht zu erlauben.

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Stangenroth keine gebe, berichtet der Keller, es könnten durch diese neue Wirtschaft dem herrschaftlichen Wirtshaus im nahen Burkardsroth Einbußen entstehen. Mit dieser Auskunft sind die Räte noch nicht zufrieden. Sie fordern darüber ein Gutachten der Rentkammer an38. Ähnlich behandelt man die Bitte der Judenschaft von Steinach, »in einem entlegenen Ort« eine Judenschule errichten zu dürfen; gleich beigefügt war ein Attest des katholischen Pfarrers, aus dem hervorging, dass dieses Vorhaben dem katholischen Gottesdienst am vorgesehenen Ort »im geringsten hinderlich seye«. Den Räten genügt das nicht. Sie fordern einen Bericht des Kellers an, ob es eventuell Einwendungen der Gemeinde gebe.39 Zu berichten hatten die lokalen Beamten wohl auch immer dann, wenn es Beschwerden über ihre Amtsführung oder die anderer Obrigkeiten gab. Als sich aus Kitzingen die Bürgerschaft durch zwei Deputierte über Unregelmäßigkeiten des städtischen Rates beklagt, erhält der dortige Amtmann den Auftrag, der Sache nachzugehen40. Die Monarchie dieses Zeitalters kannte keine öffentlich-rechtlichen subjektiven Rechte der Untertanen, mit deren Hilfe Fehlverhalten der Hoheitsträger hätte gerügt werden können. Aber es gab das gemeinsame Interesse von Landesherr und Untertanen an der korrekten Amtsführung des für die Herrschaft auf dem flachen Lande handelnden Personals. Die Notwendigkeit, dieses zu kontrollieren, hatte zur Folge, dass die Beschwerden der Untertanen durchaus aufmerksam zur Kenntnis genommen wurden. cc) Die Approbation der Ratsbeschlüsse durch fürstliche Entschließungen

Trugen zwei oder drei Abgesandte des Kollegiums dessen Beschluss einige Tage später dem Fürstbischof vor, so notierte der Sekretär in der Mehrzahl dieser ohnehin nicht sehr oft vorkommenden Fälle ein schlichtes »Celsissimus approbavit«. Aber es gab Ausnahmen. Gelegentlich kommt es vor, dass der Herrscher eine zu Lasten von Untertanen ergangene Entscheidung noch verschärft. Im Jahre 1725 kommt es zu Arbeitsniederlegungen der Fuhrknechte, denen die Räte mit aller Härte zu begegnen versuchen. Es sei ihnen »zu bedeuten, daß sie sogleich in die Arbeit gehen, widrigenfalls sie durch behörige Mittel darzu gebracht, wie auch denen … Thürwirthen befohlen werden solle, daß er diesenselben weder umb das Gelt noch auf borg Wein und Speiß geben solle, und warum dieselbe auch nicht zum Thor hinaus zu lassen.« Dem Fürstbischof Christoph Franz von Hutten reichten diese drakonischen Maßnahmen nicht aus. Er bestätigte die ihm vorgetragene Conclusio, fügte dem Befehl, sogleich in die Arbeit zu gehen aber noch hinzu: »widrigfalls sie mit Schläg darzu gebracht werden sollen.«41 Was sich hier abspielt, gilt den Räten als »Aufstand« und 38 39 40 41

StAW Gebrechenprotokolle 1713 fol. 110r, 165v sq. StAW Gebrechenprotokolle 1713 fol. 84v sq. StAW Gebrechenprotokolle 1760 fol. 305r. StAW Gebrechenprotokolle 1725 fol. 116v sq.

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bewegt sich in einem rechtsfreien Raum, in dem das einzige Element des Rechts, der Vertrag, unmittelbaren Zwang offenbar gestattete. Aber überwiegend scheinen sich die Fürstbischöfe als gnädige Landesherren begriffen zu haben. In Eisingen findet man eine Leiche, ein klarer Fall für den überörtlich tätigen Zentgrafen von Remlingen. Aber der Schultheiß von Eisingen lässt aus unerfindlichen Gründen diese Leiche von acht Leuten bewachen und leistet gegen den am Ort erscheinenden Zentgrafen Widerstand. Die empörten Räte des Fürstbischofs beschließen, den Schultheiß und seine acht Helfer nach Würzburg führen zu lassen. Celsissimus indessen ist der Meinung, »militari manu« solle man nur den Schultheißen und zwei Hauptbeteiligte ergreifen42. Ein anderer Schultheiß war wegen Unterschlagung zu drei Monaten Zuchthaus verurteilt worden. Das Gesuch der Kinder des über siebzigjährigen gebrechlichen Mannes, ihn wegen der bei fortdauernder Gefangenschaft eintretenden Lebensgefahr aus der Haft zu entlassen, lehnen die Räte brüsk ab, während Hochfürstliche Gnaden Gnade walten lässt43. Und auch einen weiteren Schultheiß, der sich einer militärischen Exekution gegen säumige Steuerzahler – »Güterbesitzer« – in seinem Dorfe widersetzt hatte, möchte der Fürstbischof entgegen der Meinung der Räte »aus besonderer Consideration, mithin ohne nachtheil Sr. landesherrlichen Befugniß vor diesmahl« nicht bestrafen, vermutlich, um die Autorität dieses örtlichen Amtsträgers, der auch die Interessen der Obrigkeit wahrzunehmen hatte, nicht zu gefährden44. Vorsicht ist auch gegenüber den Untertanen Augsburgischer Konfession zu beobachten. Über umständliche Erwägungen seiner Räte zur Einstellung eines lutherischen Schulmeisters setzt sich der katholische Landesherr mit dem Bemerken hinweg, »es seye gar kein bedenkhen darbey und man solle denen Hüttenheimern gleich sagen, damit sie wüßten, woran sie weren …«45. Der Meinung des Ratskollegiums, die Beschwerde eines lutherischen Pfarrers über die in seinem Dorf ohne vorherige Mitteilung durch einen benachbarten katholischen Pfarrer durchgeführte Taufe eines Kindes katholischer Eltern sei unbegründet, zumal der Beschwerdeführer auch die Gebühren erhalten habe, schließt sich der Fürstbischof nicht an: Der katholische Pfarrer hätte seinen evangelischen Kollegen vorher informieren müssen46.

42 StAW Gebrechenprotokolle 1725 fol. 147r sqq. 43 StAW Gebrechenprotokolle 1750 fol. 1061v. 44 StAW Gebrechenprotokolle 1760 fol. 272v sq., 283v sq. In der Hauptsache aber, der Steuerschuld,

soll allein nach Recht und »gottgefälliger Justiz« verfahren werden. 45 StAW Gebrechenprotokolle 1720 fol. 39r. 46 StAW Gebrechenprotokolle 1740 fol. 98r sqq. Die Information des evangelischen Dorfpfarrers war

nur durch die Familie erfolgt.

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dd) Politikfelder »dezisionistischen« Charakters

Am deutlichsten ist eine politisch motivierte Anteilnahme der Fürstbischöfe an den täglichen Geschäften ihrer Regierung im Gewerbewesen festzustellen. Als ein ehemals am kurpfälzischen Hof tätig gewesener Miniaturmaler in Würzburg sein Glück versuchen will, informiert der Bürgermeister die Hofräte, die aber der Meinung sind, ihr Herr solle selbst über die Erteilung einer Konzession entscheiden. Dieser ist recht positiv gestimmt, »denn es weren die Künstler eben nit wie andere hergeloffene burschen zu tractiren«47. Das Gesuch des Hof- und Universitätstanzmeisters, einem billigeren Konkurrenten den Unterricht zu verbieten, veranlasst die Räte zu dem Beschluss, »weilen dergleichen ding fürnemblich ad placitum Celsissimi ankommeten, … solches Ihro hochfürstliche Gnaden lediglich zu referieren …«. Der vorsichtig hinzugefügte Rat, von dem zugewanderten Tanzlehrer eine Probe seines Könnens zu verlangen, findet allerhöchste Billigung, das vom Hof- und Universitätstanzmeister gewünschte Monopolprivileg wird nicht erteilt48. Das Interesse des Fürstbischofs am Gewerbewesen erstreckt sich auch auf die einfacheren Ränge der Gesellschaft. Die Supplik einer Barbierswitwe, die Baderstube verpachten zu dürfen, weil sie für deren Erhaltung ihre Mitgift eingesetzt habe, verstößt zwar nach der Stellungnahme des Ratskollegiums gegen die erteilte Konzession für das »Barbierstubenrecht«, weil diese gratis gewährt worden sei und daher nicht entgeltlich veräußert werden dürfe. »Jedoch steht bei Euer hochfürstliche Gnaden, ob höchstdieselbe der Supplicantin eine gnad … erzeigen wollen«, was dann in der Tat auch geschah49. Dem Gesuch eines höheren Beamten, sein auf zehn Jahre befristetes »privilegium speziale et privativum«, allein Torf stechen zu dürfen, auf 24 Jahre auszudehnen, möchten die Räte entsprechen, weil dieses Vorhaben »eine pro publico nüzliche Sach seye und Niemand zu schaden gereiche«, obwohl sonst niemand Torf graben dürfe, auch nicht auf eigenem Grund! Das leuchtet dem Fürstbischof nicht ein. Es bleibt bei den zehn Jahren50. Der Fürstbischof kümmert sich auch um die Zulassung einer besonders befähigten Person zum Meisterrecht als »Supernumerarius«51, um die Visitation der Apotheken52, um das Würzburger »Kauff- und Waaghaus«, über das 47 StAW Gebrechenprotokolle 1720 fol. 161r. 48 StAW Gebrechenprotokolle 1720 fol. 320r sq. 49 StAW Gebrechenprotokolle 1740 fol. 453v sq. Erwähnenswert fand der Fürstbischof die vorlie-

gende Fürbitte des Bruders der Witwe. Selbst mit der Übertragung eines Badstubenrechts befasst sich Celsissimus, ebda. fol.721r sqq. 50 StAW Gebrechenprotokolle 1740 fol. 378r sqq. 51 StAW Gebrechenprotokolle 1740 fol. 219r, mit der Auflage, die nächste erledigte Meisterstelle zu »supprimieren«. 52 StAW Gebrechenprotokolle 1760 fol. 307r sqq. Der Visitationsbericht enthielt zahlreiche Beanstandungen, zu deren Abstellung der Rat Anweisungen erteilt, während die Entschließung des Fürsten Hinweise zur Durchführung der nächsten Apothekenvisitation enthält.

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er mit dem Obristen Neumann sprechen wolle53, selbst um die Erlaubnis für einen Marionettenspieler, auf dem Würzburger Markt eine Bude aufzuschlagen, was der städtische Oberrat unzulässigerweise schon gestattete, obwohl nur hochfürstliche Gnaden eine solche Bewilligung auszusprechen habe54. Die Kompetenz in Gewerbesachen nimmt die Regierung selbst dann in Anspruch, wenn sie für einen so weit von der Hauptstadt entfernten Ort wie Stadtlauringen zu entscheiden sind, wo Bürgermeister und Rat unzulässigerweise eine Badstube verliehen haben55. Und selbst die leicht verständliche Weigerung der geheimen Räte, einem Nürnberger Kaufmann in Würzburg die »Aufrichtung eines Glückshafens« zu gestatten, wird vorsichtshalber dem Landesherrn vorgelegt, der den Räten zustimmt56. Nicht allzu häufig scheint sich ein Fürstbischof aus übergeordneten politischen Erwägungen gegen den gut begründeten Entscheidungsvorschlag seiner Räte gestellt zu haben. Doch gibt es solche Situationen im Bereich der Landesverteidigung. Das Verständnis der Räte für die Weigerung eines kraft alter Privilegien von militärischen Lasten befreiten Hofinhabers, für ein Festungswerk zu fronen, kritisiert der Fürstbischof mit der Bemerkung, »es seye von dieser frohn Niemand exempt, weilen das ganze land seinen Nutzen und Sicherheit davon schöpfte, müsste auch das gantze land darzu frohnen, dann wann man einmal die thür aufmache, so würden dieser Memoralien noch viel kommen.«57 Das geschah in der Tat bald darauf durch das seit altersher ebenso befreite Kloster Komburg, dessen Exemtion vom allgemeinen Schanzgeld die Räte zu respektieren gedachten. Nicht aber der Fürstbischof, der auf das »Beste« und die »Sicherheit« der Untertanen hinwies, weshalb es hier »allein heiße …, necessitas non habet legem«. Er lässt dazu eine ausführliche Entschließung protokollieren, deren Tenor lautet: Es kommt nicht auf alte Freiheiten an, sondern auf die Notwendigkeiten58. Es kann kein Zweifel sein, dass der Gebrauch einer solchen Parömie in der gewaltigen Textmasse der Protokolle des Gebrechensenats kaum singulär geblieben ist. Aber in Hinblick auf den in diesem Gremium zu beobachten53 StAW Gebrechenprotokolle 1750 fol. 872r sqq. Der Fürstbischof hatte ein Gutachten über das

Haus angefordert. 54 StAW Gebrechenprotokolle 1740 fol. 693r sqq. Diese fällt positiv aus, nachdem der Oberrat zu

bedenken gegeben hatte, es sei besser dem Gesuch stattzugeben, als wenn der Antragsteller mit seinen Sachen auf dem Buckel in den Gassen herumlaufe, und die Räte der Meinung waren, die von ihm schon aufgewendeten großen Kosten seien zu berücksichtigen. – Der Oberrat war eine mit Vertretern der Bürgerschaft und des Klerus besetzte, besondere Würzburger Einrichtung für Gewerbesachen. 55 StAW Gebrechenprotokolle 1750 fol. 1125r sq.: »aber als einer geschehenen Sache hätte es sein Verbleiben«. Dem Fürstbischof legten die Räte diesen Fall nicht vor. 56 StAW Gebrechenprotokolle 1720 fol. 33v sq.: »weilen diese Leuthe gemeiniglich viel Geld aus dem Land tragen und mancher gemeine Mann dadurch in Hader gesetzt werde.« 57 StAW Gebrechenprotokolle 1720 fol. 75r sq. 58 StAW Gebrechenprotokolle 1720 fol. 121v sqq.

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den Stil der Beratungen und die Art der dort benutzten Argumente, auch wegen der im allgemeinen weitgehenden Zurückhaltung aller hier überprüften Landesherren gegenüber der Tätigkeit des Regierungskollegiums, dürfte die Idee einer souveränen Gestaltung der innenpolitischen Verhältnisse doch sehr ferngelegen haben. Die im wissenschaftlichen Schrifttum viel erörterten Formeln des Gemeinen Rechts und des Naturrechts, die eine solche Politik zu gestatten scheinen, haben in der politischen Realität wahrscheinlich nur die hier erkennbar gewordene Rolle gespielt: als Korrektiv solcher rechtlicher Strukturen, die schon nach dem Empfinden der Zeitgenossen als gänzlich überaltert und obsolet anzusehen waren. Dass insofern ein Landesherr des 18. Jahrhunderts selbst im Hochstift Würzburg Handlungsbedarf gerade im Bereich des Militärwesens sah, ist gewiss kein Zufall. Ohne konkreten Nachweis ist es daher kaum erlaubt, weitere politische Handlungsoptionen einfach zu unterstellen, die der Fürst unter Missachtung bestehender rechtlicher Bindungen ohne weiteres hätte wahrnehmen können. Doch findet sich in den durchgesehenen Quellen wenigstens ein Hinweis, dass sich auch der Landesherr dieses noch ganz auf traditionalem Grunde ruhenden Staatswesens in geeigneten Fällen Eingriffe in die politischen Strukturen gestattete. Jemand bewirbt sich mit einer an den Fürsten gerichteten Supplik um eine Stelle im Rat von Kitzingen. Die Hofräte meinen, er könne sie erhalten, wenn er gewählt werde. Damit ist auch der Herrscher zufrieden. Aber er fügt hinzu: werde der Supplikant nicht gewählt, behalte er sich die »Disposition« vor59. Die Bereitschaft der Landesherren dieser Zeit, die autonomen Rechte der Städte noch zu respektieren, ist anscheinend generell gering. Jedenfalls überrascht der Vorgang nicht. Daher ist andererseits aber auch zu vermuten, dass es im Regelfall doch nur spezifische Politikfelder waren, auf denen sich der Wille des Monarchen frei entfalten konnte.

III. Zusammenfassende Würdigung Die hier mitgeteilten Beobachtungen bedürften vor einer allzu raschen Verallgemeinerung natürlich der Ergänzung durch weitere Untersuchungen derartiger Protokollserien, nicht zuletzt auch des europäischen Auslandes. Möglicherweise bieten die Prototypen des Absolutismus, also etwa die französische oder die dänische Monarchie, ein anderes Erscheinungsbild. Und es ist auch zu bedenken, dass nicht alles, was einst zu einer Sache, zu einer Supplik oder einer Beschwerde gesagt worden ist, sich in schriftlicher Form erhalten hat. Wie sich die Zeitgenossen aber verstanden wissen wollten – darüber ist auf unserer schmalen Quellengrundlage sehr wohl ein 59 StAW Gebrechensenat 1725 fol. 12v sq. und 824v.

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vorläufiges Fazit möglich. Denn zwischen Kurbrandenburg und zum Teil noch Brandenburg-Preußen einerseits, dem kleinen Hochstift Würzburg andererseits gibt es Übereinstimmungen. Mehrere Formen der Entscheidung stehen nebeneinander. In sehr vielen Fällen können die Räte selbst einer bestehenden Rechtslage gemäß entscheiden, mag diese nun durch ältere Privilegien, durch lokale Ordnungen, durch Gesetzgebungsakte mit landesweitem Geltungsanspruch oder durch eine in der Jurisprudenz gegründete Rechtsüberzeugung bestimmt sein. Dann ist der Landesherr oft unbeteiligt oder nur an einer Information interessiert. Ferner kann er jedoch im Einzelfall eine vom Recht abweichende Entscheidung treffen – aus Gnade zu Gunsten des Untertanen oder auch zu deren Lasten im öffentlichen Interesse. Hier könnte man von einem Einfallstor auch absolutistischer Willkür sprechen und in der Tat sind ja monarchische Aktivitäten dieser Art bekannt. Quantitativ aber, in Hinblick auf die Masse der täglich zu erledigenden Geschäfte, kann die Bedeutung solcher nicht rechtskonformen Entscheidungen nicht sehr groß gewesen sein. Dabei ist noch zu berücksichtigen, dass sowohl der Gnadenerweis wie auch die nur durch das Gemeinwohl motivierte Entscheidung als rechtmäßig begriffen wurden. Größeres Gewicht für die Beurteilung dieses Zeitalters kommt daher wohl einer dritten Fallgruppe zu, die Entscheidungen erfasst, welche nach Billigkeit oder politischem Kalkül so oder auch anders hätten getroffen werden können. Dazu gehören vor allem Maßnahmen zum Zwecke der Landesentwicklung und zur Lenkung des Gewerbewesens. Ob in Brandenburg Holländer anzusiedeln sind oder das Würzburger Waaghaus ausgebaut werden soll, ob ein Gewerbe in der Stadt zugelassen oder ein Monopolprivileg erteilt werden soll – das alles sind Fragen, die verschieden beantwortet werden konnten und daher auch nicht zufällig dem Landesherrn selbst unterbreitet wurden. Auf solchen Politikfeldern ergaben sich Handlungsspielräume und Gestaltungsmöglichkeiten, die tatkräftige Monarchen auszufüllen versuchten. Hier waren sie frei und konnten sie erfolgreich sein oder Chancen verspielen. Besonders auch im preußischen Staat des 18. Jahrhunderts wurden durch die Erteilung von Gewerbeprivilegien neue subjektive Rechte begründet und ökonomische Entwicklungen vorangetrieben60. Dass dies alles aber so oder auch anders geschehen konnte, dass die politischen Energien und Phantasien des Fürsten nach Belieben verschiedene Gestalt annehmen, sich auch in der Errichtung prächtiger Gärten und Residenzen erschöpfen oder gar träge brachliegen konnten, hat ihrem Ansehen nicht gut getan. Nicht die willkürliche Missachtung der Rechtsordnung war das Problem des Absolutismus,

60 Dietmar Willoweit, Gewerbeprivileg und natürliche Gewerbefreiheit. Strukturen des preußischen

Gewerberechts im 18. Jahrhundert, in: Karl Otto Scherner / Dietmar Willoweit (Hrsg.), Vom Gewerbe zum Unternehmen, 1982, S. 60–111, Neudr. in: Willoweit, Staatsbildung (Fn. 7), Bd. 2, S. 433–484.

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sondern die ungebundene Nutzung der ihnen zur Verfügung stehenden politischen Freiräume. So scheint es jedenfalls. Wer allerdings vor dem Hintergrund dieses historischen Stoffes eine Entscheidungstheorie entwickeln wollte, würde bald daran zweifeln, ob es im politischen Raum beliebige Entscheidungen überhaupt gibt. Für das am Recht orientierte Entscheidungsverhalten bestehen Spielräume nur insoweit, wie dies die anerkannten juristischen Argumentationsfiguren gestatten. Abweichungen aber vom Recht durch Gnadenakte und die Einbeziehung übergeordneter öffentlicher Interessen vollzieht der Monarch nicht in einem normativ völlig leeren Raum, sondern er beruft sich ausdrücklich oder stillschweigend auf andere, im Einzelfall gewichtigere Maximen, zu denen auch sein eigenes Amtsverständnis – die Milde seiner Herrschaft zum Beispiel – gehört. Und Maßstäbe sind auch erkennbar, wo politische Freiheit zu herrschen scheint, in der Wirtschaftspolitik vor allem, in welcher die Maximen merkantilistischer Wirtschaftspolitik in aller Munde waren. Selbst in der aus heutiger Sicht gigantischen Geldverschwendung des barocken »Bauwurmbs«, der viele Fürsten befallen hatte, manifestierten sich politische Motive: das sichtbare, in Stein geronnene Zentrum des modernen Staates, der den Kirchen und ihren Bauten den Rang ablief. Auf bloßer Willkür beruhendes politisches Handeln kann eine dauerhafte Gestaltung der Gesellschaft nicht erreichen. Der Absolutismus als Signatur einer ganzen Epoche ist ein vom liberalen Bürgertum konstruiertes und von manchem Staatstheoretiker verehrtes Gespenst, an dessen Entzauberung die Wissenschaft noch lange wird arbeiten müssen.

Peter Graf Kielmansegg

Möglichkeiten und Grenzen der Politikberatung in Deutschland

I. Zwei Logiken begegnen sich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Typologie der Beratungsarrangements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ständige wissenschaftliche Beiräte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sachverständigenkommissionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sachverständigenräte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Expertenkommissionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Enquêtekommissionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Ressortforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Think Tanks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Deutsche Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ein Blick aufs Ausland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Einige Fragen zum Abschluss. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Das Thema »Möglichkeiten und Grenzen der Politikberatung in Deutschland« kommt nüchtern daher. Was unter dieser Überschrift abzuhandeln ist, scheint klar zu sein. Das Problem ist nur: In seiner Eindeutigkeit verlangt dieses Thema Unmögliches. Wer es unbefangen liest, liest es als Ankündigung des Versuchs einer Bilanzierung dessen, was Politikberatung durch Wissenschaft in Deutschland leistet. Ein solcher Versuch aber wäre zum Scheitern verurteilt. Er könnte nicht zu soliden, das

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heißt substantiellen, nachprüfbaren Aussagen führen, sondern nur zu vagen Vermutungen. Im Kern ginge es ja um die Frage: Welchen Rationalitätsgewinn bringt der Rat der Wissenschaft für die deutsche Politik? Wir wissen es nicht. Und wir können es einigermaßen genau und verlässlich auch nicht herausfinden. Ich jedenfalls wüsste nicht, wie das zu machen sei. Was aber bleibt dann zu tun? Bleibt überhaupt etwas zu tun? Ich denke ja. Gefragt ist, wenn wir die Aufgabe bescheidener verstehen, nach der Praxis der wissenschaftlichen Politikberatung in Deutschland. Die lässt sich zumindest beschreiben. Wir können uns vor Augen führen, in welchen formellen und informellen Arrangements die Politik hierzulande den Rat der Wissenschaft einholt. Beschreibung, wenn sie systematisch angelegt ist, ist immer schon als Beschreibung dem Verständnis dessen, was beschrieben wird, dienlich. Wir können, zweitens, etwas darüber sagen, wie die Arrangements dieses Landes sich im internationalen Vergleich ausnehmen. Und wir können mit Argumenten der Logik wie der Erfahrung, die nicht zuletzt aus Vergleichen gewonnen sind, erörtern, welches die Stärken und die Schwächen bestimmter Arrangements, also etwa der für Deutschland charakteristischen sind. Das mag eine Annäherung an die Leistungsbilanz, von der ich eingangs gesprochen habe, sein; eine Annäherung, die ein paar plausible Vermutungen darüber, was wissenschaftliche Politikberatung hierzulande wirklich leistet, möglich macht. Aber mehr als eine Annäherung ist es nicht. Die Agenda, die damit skizziert ist, kann in einem Beitrag wie diesem natürlich nicht gründlich abgearbeitet werden1. Aber mit ihr sind doch immerhin die Schritte angedeutet, die ich im Folgenden gehen will. Ich beginne mit einer kurzen Überlegung zu der Frage, warum die scheinbar einfach komplementäre Beziehung zwischen der Rat suchenden Politik und der Rat gebenden Wissenschaft komplex und schwierig ist. Ich werde dann, in zwei Abschnitten, die deutsche Praxis ins Auge fassen; erst wird es stärker um Beschreibung, dann um Analyse gehen. Das ist das Kernstück dieses Beitrages. Dem Doppelabschnitt werden einige Bemerkungen aus der Perspektive des internationalen Vergleichs folgen. Am Schluss will ich fragen, ob irgendwelche Konklusionen aus dem Gesagten zu ziehen seien. Und wenn ja welche. Vorab ist aber noch eine Vorbemerkung zur Präzisierung des Themas notwendig. Es spricht, so wie es mir vorgegeben wurde, nicht ausdrücklich von Politikberatung Ausführlich informieren über die Thematik dieses Beitrages zwei Veröffentlichungen aus den letzten Jahren: Svenja Falk / Dieter Rehfeld / Andrea Römmele / Martin Thunert (Hrsg.), Handbuch Politikberatung, 2006, und Peter Weingart / Justus Lentsch, Wissen – Beraten – Entscheiden. Form und Funktion wissenschaftlicher Politikberatung in Deutschland, 2008. Beim zweiten Titel handelt es sich um eine Publikation der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Beide Bände weisen sehr gründlich die weiterführende Literatur nach.

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durch Wissenschaft. Nur sie aber kann hier gemeint sein. Politikberatung ist ein Geschäft, das viele betreiben. Die Aufgabe der Ministerialbürokratien ist in einem gewissen, spezifischen Sinn Politikberatung. Die Vertreter organisierter Interessen wollen die Politik »beraten«. Seit neuestem entwickelt sich darüber hinaus ein ganzer Berufsstand von gewerblichen Politikberatern. Die Beratung der Politik durch die Wissenschaft muss von diesen anderen Beratungsaktivitäten unterschieden werden, auch wenn die Grenze nicht immer scharf gezogen werden kann. Man spricht in der Literatur neuerdings gern davon, dass sie immer undeutlicher werde, etwa in den advokatorischen »Think Tanks«, die, in der angelsächsischen Welt inzwischen weit verbreitet, sich zwar der Wissenschaft bedienen, aber eben doch im Dienst einer ganz bestimmten Sache, die sie zu der ihren gemacht haben und politisch zu fördern versuchen2. Der Hinweis ist richtig und wichtig. Aber er ändert nichts daran, dass die Politikberatung durch Wissenschaft analytisch von anderen Modi der Politikberatung unterschieden werden kann und muss; nicht zuletzt um die Folgen der Vermischung unterschiedlicher Modi in der Praxis beurteilen zu können. Politikberatung durch Wissenschaft unterliegt ihren eigenen Regeln. Und hat ihre besonderen Probleme. Sie ist übrigens auch nicht einfach gleichzusetzen mit Politikberatung durch Wissenschaftler. Politikberatung durch Wissenschaft findet nicht schon dann statt, wenn ein Politiker mit einem Wissenschaftler beim Cocktail plaudert, nicht einmal, wenn er ihn ernsthaft befragt. Es mag ja sein, wie manche meinen, dass dies die wirksamste Form der Politikberatung ist. Aber es ist keine Beratung der Politik durch die Wissenschaft. Von der kann nur die Rede sein, wenn der Rat gebende Wissenschaftler allein oder im Zusammenwirken mit anderen als Repräsentant der Wissenschaft handelt und seinen Rat vor der Wissenschaft verantworten muss. Wissenschaftlicher Rat muss durch die Wissenschaft kritisiert werden können, wenn es Rat der Wissenschaft sein soll. Das verlangt grundsätzlich eine Formalisierung des Verfahrens und die Öffentlichkeit der Beratung. Im Blick auf unser Thema ließe sich im Übrigen die Frage stellen, ob die Rede von der Wissenschaft nicht immer noch zu unspezifisch sei. Ist Wissenschaft wirklich gleich Wissenschaft, wenn es um Politikberatung geht? Oder ist es notwendig, zwischen Naturwissenschaften und Sozialwissenschaften zu unterscheiden, um die beiden im Beratungsgeschäft hauptsächlich gefragten Wissenschaftsfamilien zu nennen? Die Naturwissenschaften können ihr Wissen über das, was der Fall ist, als beschreibendes und erklärendes Wissen gleichsam unbeteiligt präsentieren3. SozialWeingart/Lentsch, Wissen (Fn. 1), S. 249 f. Weingart und Lentsch konstatieren eine Verwischung der Grenze zwischen »akademischem und interessiertem Wissen«, zwischen »uneigennütziger und kommerzieller Beratung«; auch einen Trend zunehmender Abhängigkeit der Politik von »interessiertem Wissen«. 3 Anders sieht das Peter Weingart, Erst denken, dann handeln? Wissenschaftliche Politikberatung aus der Perspektive der Wissens(chafts)soziologie, in: Falk u. a., Handbuch (Fn. 1), S. 35–44 (39). Aber auch 2

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wissenschaftler sind grundsätzlich involviert in die Sachverhalte, um die es in ihren Wissenschaften geht. Sie können sie nicht beschreiben und erklären, ohne sich zu ihnen zu stellen. Beschreibung, Erklärung und Beurteilung lassen sich nicht wirklich auseinander halten, schon aus sprachlichen Gründen nicht. In den sozialwissenschaftlichen Rat ist also immer schon eine Beurteilung eingeschlossen. Er ist nicht einfach nur eine Information über das, was der Fall ist. Er ist in aller Regel – sei es verdeckt sei es offen – ein Argument. Das gilt auch für die Wirtschaftwissenschaften, die sich in ihren beratenden Aktivitäten nicht immer Rechenschaft darüber ablegen, dass sie normative Wissenschaften sind. Gleichwohl wird im Folgenden weiter von der Wissenschaft die Rede sein. Für die Beschreibung und Beurteilung der Beratungsarrangements, um die es hier geht, lässt sich das rechtfertigen.

I. Zwei Logiken begegnen sich Es scheint mir richtig zu sein, der Beschreibung der deutschen Verhältnisse einige Bemerkungen über die Natur der Schwierigkeiten, mit denen wissenschaftliche Politikberatung unausweichlich zu tun hat, vorauszuschicken. Nur wenn man sie vor Augen hat, lassen sich bestimmte konkrete Beratungsarrangements mit den ihnen eigenen Stärken und Schwächen einigermaßen einschätzen. Raten und entscheiden, sich beraten und entscheiden – das gehört offensichtlich zusammen. Man könnte von einer anthropologisch begründeten Konstellation sprechen. Nicht zufällig ist das Wort »Rat« so vielfältig in die Verfassungssprache eingegangen. Nichts scheint einfacher und natürlicher zu sein, als dass Rat sucht, wer schwierige Entscheidungen zu treffen hat, und Rat gibt, wer über entscheidungsbedeutsames Wissen, entscheidungsbedeutsame Erfahrung verfügt. Und dennoch sind die Beziehungen zwischen beratungsbedürftiger Politik und beratender Wissenschaft nicht einfach und natürlich; sie sind komplex und schwierig. Warum ist das so? Die Antwort, über die sich die einschlägige Literatur ganz einig ist, lautet: weil für Politiker auf der einen und Wissenschaftler auf der anderen Seite unterschiedliche Handlungslogiken gelten; Handlungslogiken, die leicht in Konflikt miteinander geraten können4. Für den Politiker gilt die Rationalität der Macht. Rational ist, was der Gewinnung und Erhaltung von Macht dient. In der Demokratie heißt das: Der er verweist darauf, dass der Konsens in der »scientific community« in den Naturwissenschaften sehr viel höher sei als in den Sozialwissenschaften. Weingart ist Soziologe. Die Sicht zweier Naturwissenschaftler: Hans Mohr, Wissen und Demokratie, 2006; Klaus Pinkau, Möglichkeiten und Grenzen naturwissenschaftlicher Politikberatung, in: Heidelberger Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Politikberatung in Deutschland, 2006, S. 33–46. 4 Dazu Weingart, Erst denken (Fn. 3). Die Sicht eines Wirtschaftswissenschaftlers: Norbert Kloten,

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Politiker muss die Zustimmung der Wähler gewinnen. Nicht nur der Wähler – wer ein Wahlamt anstrebt, muss von seiner Partei nominiert werden, ein Wahlprogramm muss von einer Parteiversammlung verabschiedet werden und so fort. Aber in letzter Instanz geht es eben doch um die Zustimmung des Wählers. Die Logik des demokratischen politischen Prozesses ist die Logik des Wettbewerbs um Zustimmung. Ihr ist jeder Politiker unterworfen. Kürzer: Die Machtlogik der Demokratie ist Wahllogik. Sie ist es heutzutage mehr denn je. Die Wahllogik hat durch die Demoskopie eine bedrängende Dauervirulenz erlangt. Hinter dem kühlen, abstrakten Wort Machtoder Wahllogik verbirgt sich, das darf man dabei nicht vergessen, für jeden gewählten Politiker die konkrete Gefahr des endgültigen beruflichen Scheiterns5. Die Wissenschaft und mit ihr jeder Wissenschaftler ist der Wahrheit verpflichtet. Die Verpflichtung auf Wahrheit ist durch die Spielregeln des Systems Wissenschaft abgesichert. Jeder Wissenschaftler unterliegt – jedenfalls der Idee nach – der Kontrolle durch alle anderen Wissenschaftler seines Faches. Jeder Wissenschaftler muss mit dem, was er sagt, schreibt, tut immer wieder neu vor der Gesamtheit der urteilsfähigen Wissenschaftler bestehen. Die auf Macht, auf nach den Regeln der Demokratie verfasste Macht ausgerichtete Handlungsrationalität und die auf Wahrheit, auf das nach den Regeln der Wissenschaft verfasste Wahrheitsstreben zielende Verhaltensrationalität harmonieren nicht reibungslos miteinander. An dieser Feststellung ist im Grundsätzlichen nichts zu deuteln. Aber einige differenzierende Bemerkungen sind doch angebracht. Zunächst: Man muss die beiden Logiken als Systemlogiken verstehen, die nicht notwendig und unter allen Umständen das Verhalten jedes Politikers und jedes Wissenschaftlers zu jeder Zeit bestimmen. Die meisten Politiker haben Überzeugungen, an denen sie auch gegen die Wahllogik festhalten, und Wissenschaftler, sowenig Verständnis sie auch in der Regel für die Systemlogik der Politik aufbringen, sind im Umgang mit der Politik durchaus immer wieder der Versuchung ausgesetzt, es mit der strengen Systemlogik der Wissenschaft nicht unter allen Umständen ganz genau zu nehmen. Vor allem aber: Der machtrational handelnde Politiker weiß, dass Politik Probleme lösen muss; wenn sie sichtbar vor den Aufgaben versagt, die sich dem Gemeinwesen stellen, entziehen die Wähler den verantwortlichen Politikern Zustimmung. Er weiß auch, dass Strategien der Problembewältigung in der modernen Welt in vielen Fällen nicht ohne den Rat der Wissenschaft entwickelt werden können. Er braucht also die Wissenschaft auch aus Gründen der Machtrationalität. Pointiert Wissenschaftliche Beratung der Politik: Befund und Auftrag, in: Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Politikberatung (Fn. 3), S. 123–145. 5 Auf diesen Gesichtspunkt macht nachdrücklich aufmerksam Kurt Biedenkopf, Was erwartet die Politik von der Wissenschaft?, in: Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Politikberatung (Fn. 3), S. 17–33 (22).

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formuliert: Es ist nicht machtrational, nur machtrational zu handeln. Zu verhindern gilt es freilich, dass der Rat der Wissenschaft die Kalküle der Politik stört. Folgerichtig versucht die Politik, den Beratungsprozess so zu organisieren, dass sie ihn unter Kontrolle hat. Sie muss dabei aber bedenken, dass die Wissenschaft die Rolle, die sie spielen soll, umso weniger spielen kann, je stärker die Politik den Beratungsprozess kontrolliert und nach ihren Bedürfnissen steuert. Das gilt für alle Arten von Unterstützung, die die Politik von der Wissenschaft erwarten kann, die eigentlichen Beratungsleistungen ebenso wie die mancherlei »Alibileistungen«. Nur eine Wissenschaft mit Autorität kann sie erbringen. Politische Kontrolle, so erwünscht sie der Politik auch sein mag, ist der Autorität der Wissenschaft abträglich. Das ist das Dilemma der Politik. Spiegelbildlich dazu gibt es auch ein Dilemma der Wissenschaft. Sie muss, will sie mit dem, was sie zu sagen hat, Einfluss ausüben, die Nähe der Macht suchen. Mit der Nähe zur Macht wächst aber auch die Gefahr der Instrumentalisierung durch die Politik und damit die Gefahr des Verlustes der Glaubwürdigkeit der Wissenschaft als Wissenschaft. Die Vorteile der Nähe zur Macht sucht und genießt vor allem der einzelne Wissenschaftler. Die Wissenschaft als System weiß um die Gefahren dieser Nähe und ist deshalb, was die Beziehung zu Politik angeht, eher spröde. Aber an der Versuchbarkeit ihrer Repräsentanten ändert das nichts. Auch über diese dilemmatischen Komplikationen hinaus gilt: Die Systemlogiken treffen im Beratungsgeschäft keineswegs immer diametral aufeinander. Es gibt Arbeitsbereiche der Politik, in denen die Wahllogik kaum eine Rolle spielt (freilich keinen, in den spontanes öffentliches Interesse nicht plötzlich einbrechen kann), weil sie für den Ausgang von Wahlen keine Bedeutung haben. Da können Politik und Wissenschaft in der Regel ziemlich reibungslos zusammenarbeiten. Es gibt Phasen einer Wahlperiode und Stadien in der Karriere eines politischen Themas, in denen die Wahllogik weniger virulent ist als in anderen. Es gibt Modi der Beratung (etwa die Sachverhaltsanalyse im Unterschied zu Empfehlungen), bei denen die Politik der Wissenschaft mehr Spielraum lassen kann, und solche, für die das nicht gilt. Und schließlich: Hinter dem weiten Begriff der Politikberatung verbirgt sich auch die Beratung von einflussreichen Akteuren, die keine Politiker sind, die Wahlen zu bestehen haben. Oft genug ist die Ministerialbürokratie Partner der beratenden Wissenschaft6. Sie ist nur indirekt in die Wahllogik eingebunden. Das verändert den Beratungsdialog. Zu beachten ist zu guter Letzt auch noch, dass immer ein Dritter im Spiel ist, wenn Politik und Wissenschaft Rat suchend und Rat gebend miteinander zu tun haben – die Öffentlichkeit. Vertrauen der Öffentlichkeit in die Wissenschaft macht sie 6

Dazu Biedenkopf, Politik (Fn. 5), S.19.

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gegenüber der Politik stark, Misstrauen schwächt sie. Krisenkonstellationen können, je nachdem wie sie von der Öffentlichkeit wahrgenommen werden, die Politik in die Arme der Wissenschaft treiben oder die Wissenschaft (zu Recht oder Unrecht) völlig diskreditieren7. In Wahrheit ist also, wenn man Beratungsprozesse verstehen will, immer eine Dreieckskonstellation zu analysieren. Bei der Beschreibung und Beurteilung von institutionalisierten Beratungsarrangements, um die es im Folgenden geht, wird man das zumindest im Auge behalten müssen. Bei aller Komplexität der Beziehungen zwischen Rat suchender Politik und beratender Wissenschaft bleibt es am Ende aber doch bei der einfachen Wahrheit: Zwischen der Logik der Politik und der Logik der Wissenschaft bestehen erhebliche Spannungen. Sie machen den Beratungsdialog oft schwierig. Es gibt keine Möglichkeit, sie durch den Modus der Beratung aufzuheben. Die sehr verschiedenen institutionellen Arrangements der Politikberatung durch Wissenschaft, die im Folgenden zu beschreiben sein werden, können vor dem skizzierten Hintergrund zumindest auch als unterschiedliche Versuche verstanden werden, mit den unvermeidlichen Spannungen umzugehen.

II. Typologie der Beratungsarrangements Unsere Vorüberlegungen zum Verhältnis Rat suchende Politik – Rat gebende Wissenschaft legen die Vermutung nahe, dass es nicht die eine, in der Werkstatt der Vernunft gefertigte richtige Lösung der Aufgabe, die Beratungsbeziehungen zwischen Politik und Wissenschaft zu organisieren, gibt. Und so überrascht es denn auch nicht, dass sich in der Praxis – auch und gerade in Deutschland – eine große Vielfalt von Beratungsarrangements entwickelt hat. Sie ist, was Deutschland, bis 1990 das westliche Deutschland, angeht, seit den späten fünfziger Jahren in und mit der zweiten Demokratie herangewachsen, und zwar in Schüben. Es gibt Beratungseinrichtungen, die älter sind oder jedenfalls ältere Wurzeln haben, aber viele sind es nicht. Der Bericht über die deutschen Verhältnisse, den jüngst eine Arbeitsgruppe der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften vorgelegt hat, unterscheidet sechs Typen von Beratungseinrichtungen, die hierzulande eine Rolle spielen8. Das Zur Frage, warum Wissenschaft in bestimmten Fällen das Vertrauen der Öffentlichkeit verliert, Friedhelm Neidhardt, Möglichkeiten und Grenzen der Politikberatung, in: Deutsche Gesellschaft für Bildungsverwaltung (Hrsg.), Bildungspolitik und Expertenmacht – Glanz und Elend der Politikberatung im Bildungswesen, 2004, S. 11–24 (19). 8 Weingart/Lentsch, Wissen (Fn. 1). Dort auch umfangreiche Literaturverweise zu jedem der sechs Modelle, die der Bericht unterscheidet. Meine Beschreibung der sechs (sieben) Beratungsarrangements orientiert sich vornehmlich an diesem Bericht. Dem aufmerksamen Leser wird auffallen, dass zwei Bera7

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klassifikatorische Schema des Berliner Berichtes ist, alles in allem, plausibel. Aber es spricht einiges dafür, so werde ich argumentieren, einen siebenten Typus hinzuzufügen. Insgesamt zählte der Bericht zum 1. Januar 2008 125 Beratungseinrichtungen auf der Bundesebene. Über die genaue Zahl zu streiten, lohnt sich nicht. Sie ist nur als Information über die Größenordnung wichtig. 1. Ständige wissenschaftliche Beiräte

Da ist zunächst einmal die Gruppe der ressortgebundenen ständigen wissenschaftlichen Beiräte. Ressortgebunden heißt: einem Ministerium zugeordnet. Inzwischen hat die Mehrzahl der Ressorts einen solchen Beirat. Die Beiräte beim Wirtschaftsund beim Finanzministerium werden deutlicher wahrgenommen als andere. Die Beiräte zeichnen sich durch ein hohes Maß an institutioneller Unabhängigkeit aus. Sie rekrutieren sich, mag der Minister auch ein formales Ernennungsrecht haben, faktisch durch Kooptation. Wer einmal Mitglied ist, bleibt es lange, nicht selten auf Lebenszeit. In der Wahl der Themen für ihre Stellungnahmen sind die Beiräte weitgehend frei. Für ihr Selbstverständnis ist bestimmend, dass sie sich entschieden als Stimme der Wissenschaft sehen, die der Politik ins Gewissen zu reden hat. Die Beiräte zahlen für ihre Unabhängigkeit und ihr Selbstverständnis einen Preis. Sie haben auf die Politik ihres Ressorts in der Regel wenig Einfluss. Soweit sie Einfluss ausüben, ist er eher indirekter Natur. Beiräte haben die Chance, im wiederkehrenden Gespräch über Jahre – stärker im Grundsätzlichen als im Konkreten – auf die Anschauungen der Ministerialbürokratie einzuwirken. Messbar ist das nicht. Aber die Vermutung, dass diese Art der Einwirkung nicht folgenlos bleibt, ist plausibel. Gleichwohl bleibt das Fazit: Ein Beratungsarrangement, das auf den ersten Blick Modellcharakter zu haben scheint und insbesondere für die Wissenschaft attraktiv ist, weil sie der Politik in diesem Arrangement sehr selbstständig gegenübertritt, erweist sich bei näherem Hinsehen keineswegs als optimal. Das gilt nicht zuletzt für das Kooptationsverfahren und die fehlende Befristung der Mitgliedschaft. Die tungsgremien nicht auftauchen, die viel Publizität genießen: der Wissenschaftsrat und der Ethikrat. Der Wissenschaftsrat ist insofern ein sehr besonderes Gremium, als in ihm die Berater und die zu Beratenden gemeinsam die Empfehlungen formulieren. Das ist eine wesentliche Bedingung seines vergleichsweise großen Einflusses. Ein Votum der Wissenschaft ist bei diesem Verfahren nicht klar identifizierbar. Vor allem aber: Die wissenschaftlichen Mitglieder raten, streng genommen, in eigener Sache. Sie sind Experten, Interessierte und Betroffene zugleich. Das ist eine andere Konfiguration, als man sie im Allgemeinen im Auge hat, wenn man von wissenschaftlicher Politikberatung spricht. Was den Ethikrat angeht, so liegt auf der Hand, dass Wissenschaft für die Entscheidung ethischer Fragen keine überlegene Kompetenz besitzt. Sie kann dazu beitragen, dass besser verstanden wird, was zur Entscheidung ansteht. Und auf Klarheit des Denkens hinwirken. Aber die Empfehlungen der Ethikkommission sind keine Empfehlungen der Wissenschaft.

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Schwächen dieser Praxis sind auch für den offensichtlich, der der Auffassung ist, Beratungsarrangements müssten primär von der Wissenschaft und nicht von der Politik her legitimiert werden. Um dem Rat der Wissenschaft politische Relevanz zu sichern, bedarf es offenbar einer Balance zwischen Machtferne und Machtnähe, die hier nicht gegeben ist. Dass zumindest einige Ministerien über die Reorganisation ihrer Beiräte nachdenken, ist nicht überraschend. 2. Sachverständigenkommissionen

Zu nennen sind, zweitens, Sachverständigenkommissionen, die den Staat bei seiner Aufgabe der Gefahrenabwehr zu unterstützen haben. Solche Kommissionen haben vor allem mit Risikobewertungen, auch mit Empfehlungen zum Risikomanagement zu tun. Gefordert sind fast ausschließlich die Natur- und Ingenieurwissenschaften, Wissenschaften also, die ein starkes Vertrauen in die Objektivität, die Unanfechtbarkeit ihres Wissens haben und haben dürfen. Nach ihrem Selbstverständnis stellen sie der Politik und der Bürokratie sicheres Wissen zur Verfügung, aus dem die Entscheidungen des Risikomanagements sich mit beinahe logischer Zwangsläufigkeit ergeben. So wurde denn auch lange Zeit diese Art der Beratung als eher »unpolitisch« und zugleich als modellhaft für einen vernünftigen Umgang von Politik und Wissenschaft miteinander wahrgenommen. Die Dominanz des wissenschaftlichen – hier naturwissenschaftlich-technischen – Sachverstandes erschien als etwas ganz Selbstverständliches. Das hat sich gründlich geändert, gerade in Deutschland. Man braucht nur die Namen einiger weniger Kommissionen dieses Typs zu nennen, um sichtbar zu machen, warum es sich geändert hat: Kommission für Reaktorsicherheit, Kommission für Strahlenschutz, Zentrale Kommission für biologische Sicherheit. Es geht um Gefahren. Die Öffentlichkeit hat ihre eigenen, hohen, aus der Sicht der Wissenschaft oft irrationalen Sensibilitäten für viele dieser Gefahren entwickelt (wiederum ist hinzuzufügen: ganz besonders in Deutschland), die auf Seiten der Politik nicht ignoriert werden können. In der Politik hat sich – zum Teil scharfer – Dissens über die fraglichen Risiken etabliert. Und auch in der Wissenschaft selbst gibt es, zumindest in der Risikobewertung, oft keinen Konsens. Alle diese Entwicklungen tragen dazu bei, dass die Beziehungen zwischen der Politik und der Wissenschaft sehr viel schwieriger geworden sind, als sie es einmal waren. Die Systemlogiken, von denen eingangs die Rede war, treffen inzwischen auf diesem Feld mit besonderer Schärfe aufeinander. Die Schlüsselbedeutung wissenschaftlichen Wissens für die zu treffenden Entscheidungen ist offenkundig. Folglich ist die Legitimierungsautorität der Wissenschaft prinzipiell hoch. Die Politik kann unter keinen Umständen auf sie verzichten. Und so muss sie ein gesteigertes Maß an

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Kontrolle über den Beratungsprozess anstreben. Sie tut das vor allem, indem sie bestimmenden Einfluss auf die Zusammensetzung der Sachverständigenkommissionen nimmt. Nach dem Regierungswechsel von 1998 hat sich eben dies ereignet. Für die Wissenschaft wiederum, die davon überzeugt ist, dass sie über objektives Wissen verfügt und dass ihre einschlägigen Stellungnahmen von eben diesem Wissen und nicht von Werturteilen bestimmt sind, ist das schwer hinnehmbar. Es ist besonders schwer hinnehmbar, wenn sich eine Front zwischen etablierter Wissenschaft und Gegenexperten aufgebaut hat und nun die Gegenexperten zum Zuge kommen. Auch hier gilt – aus ganz anderen Gründen als bei den Ressortbeiräten: An einem Beratungsarrangement, das geradezu als Modell für geordnete und, weil durch die Natur der Sache bestimmt, unproblematische Beziehungen zwischen Rat suchender Politik und beratender Wissenschaft gelten konnte, wird plötzlich die Komplexität dieser Beziehungen überaus deutlich. 3. Sachverständigenräte

Als dritte Gruppe der für Deutschland charakteristischen Beratungseinrichtungen sollen die dauerhaft institutionalisierten Sachverständigenräte genannt werden, die bestimmte Politikfelder zu beobachten und sich in regelmäßigen Berichten und Gutachten zu ihnen zu äußern haben. Der bekannteste und älteste unter ihnen ist der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen und der Sachverständigenrat für Umweltfragen sind andere Beispiele. Die Aufgabe dieser Räte ist im Kern analytischer Natur. Sie sollen, orientiert an bestimmten in ihrem Mandat vorgegebenen Zielen – für den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ist es das »magische Viereck« des Gesetzes über Wachstum und Stabilität –, in ihren periodischen Gutachten der Politik eine wissenschaftlich begründete Beurteilung der Lage vorlegen, die der Politik hilft, angemessene Entscheidungen zu treffen. Eigene Stäbe setzen die Sachverständigenräte in den Stand, ihre analytischen Aufgaben so gründlich wie unabhängig zu erfüllen. Dabei macht es, das liegt auf der Hand, durchaus einen Unterschied, ob die Analyse der Lage, wie es bei den Ökonomen weitgehend der Fall ist, von einer wissenschaftsimmanenten normativen Leitvorstellung bestimmt ist – die Politik soll in das Marktgeschehen möglichst nicht eingreifen – oder ob es, wie etwa in der gesundheitspolitischen Beratung, eine solche von den meisten Wissenschaftlern geteilte Zielvorstellung nicht gibt. Es macht auch einen Unterschied, ob ein Rat Wissenschaftler verschiedener Disziplinen zusammenführt oder wie der Rat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung von einem einzigen Fach geprägt wird. Mehr wissenschaftlicher Pluralismus im Rat und, daraus resultierend, größere

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Perspektivenvielfalt und Offenheit, mehr Pragmatismus in der Analyse wie in den Empfehlungen kann den Gutachten eines Sachverständigenrates durchaus größeres politisches Gewicht geben. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ist vermutlich die prestigereichste Beratungseinrichtung in Deutschland überhaupt. Und verdient deshalb einen genaueren Blick9. Seine fünf vom Bundespräsidenten berufenen Mitglieder werden in den Medien bekanntlich fast ohne Ironie die »Wirtschaftsweisen« genannt. Und seine Jahresgutachten übergibt er, als einziger der vielen Räte, regelmäßig vor laufender Kamera dem Bundeskanzler oder der Bundeskanzlerin. Prestigereich ist aber nicht gleich einflussreich. Dass die Gutachten nicht wirklich maßgeblich für die wirtschaftspolitischen Entscheidungen der Regierung sind, hat wenig mit dem Verbot, Empfehlungen auszusprechen, dem der Rat unterliegt, zu tun. Dieses Verbot lässt sich umgehen und wird umgangen. Wichtiger ist, dass der Rat sich entschieden als Instanz der Wissenschaft versteht und artikuliert. Er will, auf eine kurze Formel gebracht, ein wissenschaftsnahes Gremium sein und zahlt dafür mit einer gewissen Machtferne. Soweit die Gutachten der Politik Argumentationshilfe bieten, werden sie genutzt. Aber den wirtschaftspolitischen Kurs der Regierung bestimmen sie nicht. Wie stark die Gutachten den öffentlichen Diskurs über die wirtschaftliche Lage und die zu treffenden wirtschaftspolitischen Entscheidungen beeinflussen, ist natürlich nicht exakt messbar. Viel spricht dafür, dass der Einfluss im ersten Jahrzehnt nach der Gründung des Rates (1963) am größten war, wohl auch, weil dieses Jahrzehnt die hohe Zeit des Glaubens an die Möglichkeit wissenschaftsbegründeter exakter politischer Steuerung der Konjunktur war. Die Bundesregierung nimmt ihre festgelegte Pflicht, sich zu jedem Jahresgutachten zu äußern – eine Pflicht, durch die der Rat der »Wirtschaftsweisen« unter allen Beratungsgremien sichtbar hervorgehoben wird – inzwischen viel weniger ernst als in den früheren Jahren. Auch hat die jährliche Präsentation der Gutachten im Lauf der Jahrzehnte die Züge eines Rituals angenommen. Die Bilder sind immer die gleichen. Und die Inhalte jedenfalls in ihrer Quintessenz vorhersagbar, eben weil ihnen eine konstante Leitdogmatik zugrunde liegt, die man kennt. Auch legt es der Rat gar nicht darauf an, auf die öffentliche Wahrnehmung der Wirtschaftslage einzuwirken, was übrigens auch für die anderen Sachverständigenräte gilt. Politischen Einfluss auf dem Umweg über die Beeinflussung der öffentlichen Meinung zu gewinnen, ist keine Strategie, deren sich Dazu Ansgar Strätling, Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, in: Falk u. a., Handbuch (Fn. 1), S. 353–362. Einschätzungen des langjährigen Mitgliedes und derzeitigen Vorsitzenden: Wolfgang Franz, Wirtschaftspolitische Beratung: Reminiszenzen und Reflexionen, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik 1 (2000) S. 53–71.

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die beratende Wissenschaft in Deutschland gezielt bedient. Dennoch: Der Sachverständigenrat für die Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ist in den öffentlichen Diskursen eine Stimme, die man deutlich hört, deutlicher als andere Beratungsgremien. Er kann die Bundesregierung bis zu einem gewissen Grade unter Druck setzen, den Druck nämlich, begründen zu müssen, warum sie die Dinge anders sieht und warum sie anders handelt als der Rat es ihr nahelegt. Und so ist die Besetzung des Rates – die Bundesregierung schlägt vor, der Bundespräsident beruft – denn auch in weit höherem Maße ein Politikum als die Besetzung der Ressortbeiräte. 4. Expertenkommissionen

Eine vierte Gruppe bilden auf Zeit eingerichtete Expertenkommissionen, die einen ganz bestimmten, begrenzten Beratungsauftrag abzuarbeiten haben10. Sie haben im letzten Jahrzehnt, genauer in den Zeiten des Kanzlers Schröder, eine besondere Bedeutung gewonnen, auch wenn sie keineswegs von Gerhard Schröder erfunden worden sind. Aber in den Jahren seiner Kanzlerschaft haben sie zeitweilig die politische Bühne geradezu beherrscht. Die Namen Rürup (Kommission für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme) und Hartz (Kommission moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt) sind aus dieser Zeit noch in Erinnerung. Andere Beispiele aus denselben Jahren: die Weizsäcker-Kommission, die über die Zukunft der Bundeswehr nachdenken sollte, und die Süssmuth-Kommission, der das schwierige Thema Immigration und Integration aufgegeben war. Das auffallendste Charakteristikum dieser Gruppe ist, neben der Befristung ihres Auftrags, die Buntheit der Zusammensetzung der Kommissionen. Buntheit will hier sagen: Der wissenschaftliche Sachverstand ist nicht mit sich allein. Auch im weitesten Sinne interessengebundener Sachverstand, insbesondere der Sachverstand von organisierten Interessen sitzt mit am Tisch, Experten der Tarifpartner, der Trägerorganisationen der Sozialversicherung, einschlägiger Berufsverbände und so fort, auch Manager und Politiker im Ruhestand11. Man mag fragen, ob denn, wenn die Wissenschaft in die Minderheit gerät, überhaupt noch von wissenschaftlicher Politikberatung die Rede sein kann. Eine pragmatische Antwort empfiehlt sich: Wenn die Wissenschaft das Beratungsergebnis erkennbar mitbestimmt, sind auch gemischte Kommissionen Medien der Kommunikation zwischen Wissenschaft und Politik. Ist Wissenschaft nur noch marginal präsent, wie es etwa im Schröderschen Bündnis für Arbeit der 10 Dazu Sven T. Siefken, Expertenkommissionen der Bundesregierung, in: Falk u. a., Handbuch (Fn.

1), S. 215–227. 11 Der Unterschied zum Wissenschaftsrat (Fn. 8) ist der, dass in diesen Kommissionen alle Mitglieder,

auch die Nicht-Wissenschaftler, als sachverständige Ratgeber fungieren. Im Wissenschaftsrat sind die, die beraten werden, maßgeblich an der Formulierung des Rates, den sie dann entgegennehmen, beteiligt.

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Fall war, dann stellt sich in der Tat die Frage, ob solche Beratungsarrangements noch unter der Überschrift »Politikberatung durch Wissenschaft« mitzubehandeln sind. Charakteristisch für die gemischten Expertenkommissionen mit einem befristeten spezifischen Mandat ist, dass sich bei ihnen explizite und latente Funktionen in besonderer Weise verknüpfen. Explizit ist der Auftrag, Klarheit über einen bestimmten Sachverhalt zu schaffen und der Politik zu raten, wie mit einer bestimmten Problemlage umzugehen sei. Dieser Auftrag ist im Allgemeinen durchaus ernst gemeint. Aber darüber hinaus stehen solche Kommissionen in einer Weise, in der das bei anderen Beratungsarrangements nicht möglich ist, im Dienst taktisch-politischer Kalküle. Es kann darum gehen, Entscheidungen zu präjudizieren. Die Politik versucht, in besonders komplexen Problem- und Konfliktlagen gesellschaftlichen Dissens auf einem Umweg zu überwinden, indem sie von »Experten« Lösungsvorschläge entwickeln lässt, die, weil sie nicht als politische Kompromisse wahrgenommen werden, sondern als von Sachverständigen ersonnen und also als »sachgemäß«, bessere Durchsetzungschancen haben als genuin politische Entscheidungen. Zu den Experten gehören auch, das ist wesentliches Element der Strategie, die Repräsentanten von Interessen, einander widerstreitenden Interessen. Die Politik hofft, sie auf diese Weise einzubinden und damit neutralisieren zu können. Die Bereitschaft der Politik, den Kommissionen sozusagen Vortritt bei der Suche nach Problemlösungen zu lassen, ist als paradoxer Versuch der Politik zu verstehen, Handlungsfähigkeit gerade dadurch zu gewinnen, dass sie sich faktisch an die Vorgabe einer anderen, von der Öffentlichkeit als Autorität in der Sache wahrgenommenen Instanz bindet. Die häufig gestellte Frage, ob hier nicht im Ergebnis Entscheidungsbefugnisse an demokratisch nicht legitimierte Gremien abgetreten werden, ist verständlich. Sie nimmt aber in der Regel die skizzierte Paradoxie nicht voll in den Blick. Es kann aber auch, gerade umgekehrt, um den gleichsam objektiv geführten Nachweis gehen, dass ein Konsens nicht zu finden ist. Auch dieser Nachweis kann der Politik Handlungsspielraum verschaffen, die Möglichkeit etwa, ein schwieriges Problem auf die lange Bank zu schieben. So oder so, taktische Kalküle sind bestimmend mit im Spiel. Und oft genug wird mit der Einsetzung von Kommissionen dieses Typs auch, keineswegs nur, symbolische Politik getrieben – die Einsetzung der Kommission steht für politisches Handeln in der Sache. Mit alledem ist im Grunde schon gesagt, dass gemischte befristete Expertenkommissionen mit spezifischem Mandat in der Regel gerade auf konflikt- und dissensgeprägten Politikfeldern zum Einsatz kommen. Und auch, dass sie als machtnah und wissenschaftsfern zu beschreiben sind. Sie können ganz erheblichen politikgestaltenden Einfluss gewinnen, weshalb ihre Besetzung natürlich in hohem Maße ein Politikum ist. Ein Zufall ist es nicht, dass der Name Hartz, der Name also eines Beraters, zum Etikett für eine ganze

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Serie von Gesetzen geworden ist. Freilich hat die Durchschlagskraft der Vorschläge der Hartz-Kommission mit sehr besonderen Bedingungen zu tun12. Aber auch eine Kommission, deren Vorschläge es nicht bis in das Gesetzblatt schaffen, kann – davon war eben schon die Rede – bestimmte politische Funktionen erfüllen. Gerade bei den hier in Rede stehenden Expertenkommissionen gibt es auf die Frage nach dem »Erfolg« oder »Einfluss« mehr als eine Antwort. Die Machtnähe kostet die Wissenschaft natürlich einen Preis. Kein anderes der in Deutschland etablierten Beratungsarrangements ist so sehr der Gefahr politischer Instrumentalisierung, wenn man es härter formulieren will, politischer Manipulation ausgesetzt13. Bei der Hartz-Kommission etwa war offensichtlich, dass sie ihren Platz in Gerhard Schröders Wahlkampfstrategie hatte. Für die Wissenschaft ist darüber hinaus problematisch, dass ihr Votum von dem interessengebundener Sachverständiger nicht mehr unterscheidbar ist. Auch verfassungsrechtliche Bedenken sind vorgebracht worden. Die Ankündigung des Kanzlers, die Regierung werde die Vorschläge der Hartz-Kommission »1 zu 1« umsetzen, ignorierte in der Tat in auffallender Arroganz das Parlament. Dass Kommissionen dieses Typs bei der politischen Bearbeitung schwieriger, dissensbelasteter Probleme etwas leisten können, ist andererseits unbestreitbar. Ob sie deshalb eine zunehmend wichtige Rolle in der Politik spielen werden, steht dahin. Denkbar ist das, insbesondere wenn die Konsensbildung schwieriger werden sollte. Aber zunächst einmal ist festzustellen, dass der Schrödersche Stil des Konsensmanagements über seine Regierungszeit hinaus nicht fortgeführt worden ist.

12 Dazu Sven T. Siefken, Die Arbeit der sogenannten Hartz-Kommission und ihre Rolle im politischen Prozess, in: Falk u. a., Handbuch (Fn. 1), S. 374–382. Das abschließende Urteil lautet: »Ohne Zweifel führte der Impuls, der von der Kommission ausging, zu weitreichenden Veränderungen des Politikfeldes« (S. 387). Axel Murswiek, Des Kanzlers Macht: Zum Regierungsstil Gerhard Schröders, in: Christoph Egle / Tobias Ostheim / Reimut Zohlnhöfer (Hrsg.), Das rot-grüne Projekt. Eine Bilanz der Regierung Schröder 1998–2002, 2003, S. 117–135 (125) kommt hingegen für die Legislaturperiode insgesamt zu dem etwas überraschenden Ergebnis: »In keinem Fall … haben diese Kommissionen die autonome Gestaltungs- und Entscheidungskompetenz des zuständigen Ressorts beeinflusst«. Dass die Kommissionen dieses Typs nicht über einen Kamm geschoren werden dürfen, macht ein Vergleich zwischen Hartz- und Rürup-Kommission deutlich. Zur Rürup-Kommission liegt eine Bilanz des Vorsitzenden vor: Bernd Rürup / Heinrich Tiemann, Praxisorientierte Politikberatung am Beispiel der Kommission für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme (Rürup-Kommission), in: Falk u. a., Handbuch (Fn. 1), S. 390–399. 13 Weingart/Lentsch, Wissen (Fn. 1), S. 131 formulieren: »Tatsächlich handelt es sich um die strategische Manipulation von Expertenwissen zur Beeinflussung interessenmotivierter Meinungen.«

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5. Enquêtekommissionen

Mit den Enquêtekommissionen des Bundestages kommt zum ersten und, jedenfalls in dieser Typologie, einzigen Mal das Parlament ins Blickfeld. Die Enquêtekommissionen sind Beratungsarrangements, die dem Parlament zugeordnet sind und der parlamentarischen Arbeit dienen sollen. Sie sind über diese Zuordnung hinaus vor allem dadurch charakterisiert, dass in ihnen Politiker – näherhin Abgeordnete – und Experten, fast immer, aber nicht notwendig Wissenschaftler, zusammenwirken14. Abgeordnete und Wissenschaftler, in der Regel in gleicher Zahl, analysieren im Auftrag des Parlamentes ein Problemfeld. Oft handelt es sich um eine weitgespannte Thematik, der besondere Zukunftsbedeutung beigemessen wird. Als Ergebnis ihrer Arbeit legen die Enquête-Kommissionen dem Parlament einen umfänglichen Bericht vor, der oft ein wichtiges Referenzdokument für die weitere Erörterung des Themas wird. Bis 2007 hat der Bundestag 33 solcher Kommissionen eingesetzt, seit er sich 1969 das Instrument schuf. »Demografischer Wandel«, »Kultur in Deutschland«, »Zukunft der Medien«, »Recht und Ethik der modernen Medizin« – schon diese wenigen, beispielhaft genannten Themen aus der jüngeren Vergangenheit lassen erkennen, wozu das Parlament das Instrument nutzt und wozu nicht. Im Allgemeinen steht die Arbeit der Kommissionen nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit anstehenden gesetzgeberischen Entscheidungen. Es geht eher darum, das Parlament mit Problemlagen vertraut zu machen, die ein Eingreifen des Gesetzgebers nötig machen könnten. Unmittelbar wirken die Berichte oft stärker in die Öffentlichkeit als in das Parlament hinein. Wenn wir uns weiter an den Kategorien machtnah – wissenschaftsnah orientieren, sind die Enquêtekommissionen eindeutig als machtnah zu charakterisieren; freilich hat der Begriff hier eine etwas andere Bedeutung als bei den der Exekutive zuzuordnenden Beratungsarrangements. Schon der Beschluss, eine bestimmte Thematik zum Gegenstand einer Enquête zu machen, ist oft in hohem Maße der Machtlogik der Politik unterworfen, zumal er nach der Geschäftsordnung des Bundestages auch von der parlamentarischen Minderheit herbeigeführt werden kann. Für die Arbeit der von der regierenden Mehrheit wie der opponierenden Minderheit beschickten Kommission gilt das nicht weniger. Die Sachverständigen werden von den Fraktionen nominiert und sind in ihrer Arbeit in der Kommission faktisch eng an die Fraktion gebunden, die sie nominiert hat. Mit anderen Worten: Enquêtekommissionen 14 Damit ist hier in der Tat noch einmal die Konstellation des Wissenschaftsrates (Fn. 8) gegeben, auch

wenn es Abgeordnete, nicht wie im Wissenschaftsrat Repräsentanten der Exekutive sind, die mit den Wissenschaftlern gemeinsam das Beratungsgremium bilden. Das Produkt ist freilich ein ganz anderes als die in der Regel präzisen Empfehlungen des Wissenschaftsrates.

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werden von den Parlamentariern, nicht von den Wissenschaftlern dominiert15. Die Gefahr der politischen Instrumentalisierung der Wissenschaft ist fraglos gegeben. Aber das ist in diesem Fall nur die eine Seite der Machtnähe. Die andere: Politiker lassen sich, was in der professionellen Politik fast nie geschieht, in den Enquêtekommissionen nolens – volens oft auf einen manchmal jahrelang andauernden Dialog mit Nicht-Politikern, Wissenschaftlern ein. Kein anderes Beratungsarrangement kennt ein solches intensiv und anhaltend geführtes Gespräch zwischen Wissenschaft und Politik, obwohl es doch die beste Chance der Vermittlung zwischen der Machtlogik und der Wahrheitslogik böte. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass keineswegs alle Mitglieder einer Enquêtekommission am Gespräch mit der Wissenschaft interessiert sind – einige sind es, aus welchen Gründen auch immer. Enquêtekommissionen, heißt das, haben die Chance, über kleine Gruppen von Abgeordneten darauf Einfluss zu nehmen, wie das Parlament bestimmte Problemlagen und die sich aus den Problemlagen ergebenden politischen Aufgaben wahrnimmt. Das ist nicht wenig. Gleichwohl wird die Frage, ob Enquêtekommissionen wirksame Instrumente sachverständiger Beratung des Parlamentes seien, durchaus unterschiedlich beantwortet16. 6. Ressortforschung

Schließlich ist die in Deutschland sehr stark ausgebaute und in dieser Stärke für Deutschland charakteristische Ressortforschung zu nennen, die lange Zeit wenig wahrgenommen wurde, schon gar nicht unter der Überschrift »wissenschaftliche Politikberatung«. Die sogenannte Ressortforschung wird in Forschungseinrichtungen getrieben, die der Exekutive, in aller Regel einem bestimmten Ressort, unterstellt sind und – in unterschiedlichem Maße – weisungsabhängig arbeiten. Mit der Ressortforschung macht die Regierung sich, was wissenschaftlichen Sachverstand angeht, auf bestimmten Aufgabenfeldern autark. Ressortforschungseinrichtungen sind, um den Begriff mit ganz wenigen Beispielen zu illustrieren, die Physikalisch-Technische Bundesanstalt, das Robert Koch-Institut, die Bundesanstalt für Materialforschung, das Umweltbundesamt. Die ältesten dieser Einrichtungen haben ihre Anfänge in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dass Politik und Verwaltung immer mehr auf Wissen angewiesen sind, das nur die Wissenschaft zur Verfügung stellen kann, spiegelt sich, jedenfalls was Deutschland angeht, nirgends so deutlich wider wie in der Entwicklung der Ressortforschung. Sie ist es, die heute in einer Vielzahl 15 Dazu Hans J. Kleinsteuber, Die Enquêtekommission des Deutschen Bundestages zu »Zukunft der

Medien« 1996–1998. Ein Bericht aus der Sachverständigenperspektive, in: Falk u. a., Handbuch (Fn. 1), S. 400–413. 16 Dazu Weingart/Lentsch, Wissen (Fn. 1), S. 158 ff.

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von unterschiedlich verfassten Einrichtungen den seit langem ständig wachsenden Bedarf der politischen und administrativen Instanzen an wissenschaftlicher Expertise – das schließt die wissenschaftlich geschulte Dauerbeobachtung bestimmter Wirklichkeitsfelder ein – primär befriedigt. Dabei verbindet sich mit der Aufgabe der auf eigene Forschung gegründeten Politikberatung die der Unterrichtung und Aufklärung der Öffentlichkeit, nicht zuletzt über sich abzeichnende oder akute Gefahren. Das ist, wie man jüngst an der Diskussion über drohende Epidemien hat beobachten können, bei bestimmten Themen ein durchaus heikles Geschäft. Charakteristisch für das Beratungsarrangement »Ressortforschung« ist vor allem die ausgeprägte Spannung zwischen der engen Anbindung an weisungsberechtigte Ministerien und Behörden auf der einen und der Notwendigkeit, den Forschungseinrichtungen um der Qualität ihres Rates, ihrer Arbeit im Allgemeinen willen genug wissenschaftlichen Freiraum zu gewähren, auf der anderen Seite. Etwas anders formuliert: Die Spannung zwischen der Gefahr, zur bloßen Rechtfertigung politisch getroffener Entscheidungen genutzt zu werden, und der Gefahr, Wissenschaft zu treiben, die in ihren Ergebnissen für Politik und Administration irrelevant wird. Neuerdings hat die Ressortforschung, vom Wissenschaftsrat ermutigt, wenn nicht angetrieben, begonnen, sich um einen eigenen anerkannten Platz im Wissenschaftssystem zu bemühen. Und das heißt: Die Ressortforschung wird in ihrem Selbstverständnis akademischer. Wo die Grenze verläuft, jenseits derer die Ressortforschung die Fähigkeit einbüßt, ihre spezifische Aufgabe zu erfüllen, die ja nicht einfach heißt zu forschen, wird sich noch zeigen müssen. 7. Think Tanks

Und der siebente Typus, von dem zu Beginn dieses Abschnittes die Rede war? Es gibt eine Gruppe von im Wesentlichen selbstbestimmt arbeitenden, öffentlich finanzierten Forschungsinstituten, die einfach der Ressortforschung zuzurechnen als unangemessen erscheint. Die Angelsachsen würden von »Think Tanks« sprechen. Das Wissenschaftszentrum für Sozialforschung etwa ist zu nennen, die sieben Wirtschaftsforschungsinstitute sind es17, das Forschungsinstitut der Stiftung Wissenschaft und Politik mag ein Grenzfall sein. Diese Institute stellen sich als Einrichtungen außeruniversitärer Forschung dar, die zwar politiknahe Themen erforschen, aber nicht eigentlich einem Ressort nachgeordnet sind und in dessen Auftrag eine wissenschaft17 Die erstaunlich hohe Zahl erklärt sich zu einem Teil aus der föderalistischen Verfasstheit der Bun-

desrepublik, aber auch aus der Absicht »to encourage competing views on economic policy and on Germany’s economic development«. So Martin Thunert, Germany, in: R. Kent Weaver / Paul B. Stares (Ed.), Guidance for Governance. Comparing Alternative Sources of Public Policy Advice, New York 2001, S. 157–206 (180).

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liche Agenda bearbeiten. Sie haben Aufgaben der wissenschaftlich begründeten Politikberatung. Aber sie sind faktisch unabhängiger und in ihrem Selbstverständnis und in ihrer Arbeitsweise der akademischen Welt näher als Ressortforschungseinrichtungen. Man erfasst sie in der Vielfalt der Beratungsarrangements besser als einen Typus sui generis.

III. Deutsche Besonderheiten Die typisierende Beschreibung der für Deutschland charakteristischen institutionellen Arrangements der Beratung der Politik durch die Wissenschaft ist durch einige Überlegungen in analytischer Absicht zu ergänzen, die die Beratungslandschaft als Ganze in den Blick nehmen. Grundsätzlich ist zu sagen: Beratung der Politik durch die Wissenschaft bedeutet immer, dass eine bestimmte Staatstradition und eine bestimmte Wissenschaftstradition aufeinander treffen. In Frankreich oder in den USA sind das andere Traditionen als in Deutschland. Ihren jeweils eigenen Zuschnitt hat natürlich auch die konkrete Verfassungsgestalt der Demokratie. Im Folgenden wird das eine Rolle spielen. Eine erste Beobachtung ist, dass wir es mit einer gewachsenen – und immer noch wachsenden – Vielfalt von Beratungsarrangements zu tun haben, einer Vielfalt ohne Hierarchie, nicht mit einem planmäßig entworfenen System. Im letzten halben Jahrhundert hat der Staat, im Wesentlichen die Bundesregierung, sich immer wieder neue Einrichtungen mit Beratungskapazität geschaffen. Das hat fraglos mit der Entwicklung der Staatsaufgaben zu tun, genauer: mit der Erfahrung, dass das Regieren und Verwalten immer stärker auf wissenschaftlichen Rat angewiesen ist, oder doch mit der Einschätzung, dass es so sei. Aber sicher spielte auch der wiederkehrende Wunsch eine Rolle, neue, andere Formen der Beratung zu erproben. Und der wiederum hängt mit der Wahrnehmung zusammen, dass Beratungsarrangements für die Politik sehr unterschiedliche Funktionen erfüllen können. Zum ältesten, traditionellen Bestand gehören eine Reihe von Einrichtungen der Ressortforschung, gehören Sachverständigenkommissionen, die mit der Überwachung von Risiken zu tun haben, gehören im Prinzip auch die Beiräte der Ressorts. Von den späten fünfziger Jahren an vollzog sich das Wachstum eines immer dichteren Gefüges von Beratungsarrangements in Schüben, in denen durchaus der Zeitgeist mit am Werk war18. 18 Weingart/Lentsch, Wissen (Fn. 1), S. 207 f. deuten die Entwicklung als Abfolge dreier Phasen: Ver-

wissenschaftlichung der Politik, Politisierung der Wissenschaft, Demokratisierung der Politikberatung. Mit dieser Deutung setzt sich Neidhardt, Möglichkeiten (Fn. 7), passim, kritisch auseinander. Eine eher deskriptive Skizze der Entwicklung bei Thunert, Germany (Fn. 17), S. 159 f.

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Die sechziger Jahre waren zunächst einmal das Jahrzehnt der optimistischen Überzeugung, dass Politik in vielen Bereichen verlässlich planbar sei, auch der Planung bedürfe. Der Wissenschaftsrat (1957) und der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (1963) wurden in dieser Zeit gegründet, auch einige der Wirtschaftsforschungsinstitute. Das sozialliberale Zeitalter der Bundesrepublik nahm diesen Optimismus anfangs auf und rückte, seinen Überzeugungen gemäß, die Sozialwissenschaften, darunter mit ganz besonderem Eifer die sogenannte Friedensforschung, in den Vordergrund. Auch der Bundestag hat sich in dieser Zeit mit den Enquêtekommissionen ein Instrument zu schaffen versucht, das den politischen Entscheidungsprozess rationaler machen sollte. In dem Maße, in dem diese Stimmung in ökologischen Pessimismus umschlug, rückten neue Themen nach vorn; der Sachverständigenrat für Umweltfragen, um nur ihn zu nennen, wurde gegründet. Und »Gegenexpertise« begann sich zu institutionalisieren, etwa im Freiburger Ökoinstitut. Das Bemühen um Technikfolgenabschätzung gehört in den gleichen Zusammenhang. Das Ende der Wachstumsära, die Wiedervereinigung, die Wahrnehmung des dramatischen demografischen Wandels brachten es mit sich, dass von den neunziger Jahren an Verteilungsfragen die politische Agenda immer mehr dominierten. Handlungsfähigkeit in Konstellationen lähmenden Dissenses wiederzugewinnen, wurde zur Hauptaufgabe der Politik. Gemischte Sachverständigenkommissionen mit spezifischem, befristetem Mandat schienen das Instrument der Stunde zu sein, jedenfalls für Gerhard Schröder. Nicht nur auf die Probleme des Arbeitsmarktes und der Sozialversicherungssysteme wurden solche Kommissionen angesetzt, sondern auch auf die umstrittene Migrations- und Integrationsthematik. Für Gewichtsverschiebungen zwischen den unterschiedlichen Arrangements gibt es Evidenz, auch wenn sie sich natürlich nicht genau bestimmen lassen. Ressortgebundene Beiräte etwa scheinen an Bedeutung verloren zu haben, Sachverständigenräte für Politikfelder gewonnen – der seinerzeit mit hohen Erwartungen gegründete Rat der »Wirtschaftsweisen« wiederum nicht, was auch mit der Entwicklung der »Mutterwissenschaft«, der Volkswirtschaftslehre, zusammenhängen mag. Der Eindruck, den man in den Schröder-Jahren gewinnen konnte, die Ad-hoc-Kommission in gemischter Zusammensetzung, von der Politik auf für sie besonders sperrige Themen angesetzt, werde das Instrument der Zukunft werden, hat sich noch nicht bestätigt. Aber die Neigung, es mit diesem Instrument zu versuchen, wird bei schrumpfendem Handlungsspielraum der Politik vermutlich wachsen. Ob sich hinter solchen Gewichtsverschiebungen ein systematischer Zusammenhang zwischen Form und Funktion oder Form und Leistungsfähigkeit erkennen lässt, steht dahin. Gewachsene Vielfalt, nicht geplante Systematik war das erste Stichwort, Staatsdominanz könnte das zweite sein. In den Beratungsbeziehungen Politik – Wissen-

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schaft in Deutschland ist die Dominanz des Staates ausgeprägt. Staatsdominanz heißt: Es ist der Staat, der entscheidet, wie er beraten werden will. Die Vielfalt der Formen geht im Wesentlichen auf immer neue Staatsinitiativen zurück. Im Vergleich zur angelsächsischen Welt, davon wird noch zu reden sein, gibt es erstaunlich wenig unabhängige privat finanzierte Beratungskapazität19. Auch die für Deutschland charakteristische breit ausgebaute Ressortforschung ist natürlich ein Aspekt der Staatsdominanz. Näherhin heißt Staatsdominanz Dominanz der Exekutive. Dominanz der Exekutive ist eine Erbschaft der deutschen Geschichte. Sie ergibt sich aber auch aus der besonderen Ausprägung der parlamentarischen Demokratie in Deutschland. Mit ihrem breiten, ungehinderten Zugriff auf wissenschaftliche Expertise ist die Exekutive dem Parlament weit voraus20. Für die Exekutive wiederum ist die Selbständigkeit und Stärke der Ressorts charakteristisch. Sie prägt das Beratungswesen in Deutschland in hohem Maße. Der Begriff Exekutive schließt hier natürlich über die politische Spitze hinaus die Ministerialbürokratie ein. Eine gut ausgebildete, selbstbewusste Ministerialbürokratie, die eigenen Sachverstand mitbringt und sich auf diesen Sachverstand auch etwas zugutehält, ist wesentlicher Teil des Kontextes, in dem wissenschaftliche Politikberatung in Deutschland sich abspielt. Mit zu bedenken, wenn von Staatsdominanz die Rede ist, ist schließlich: Staatsdominanz bedeutet in der zweiten deutschen Demokratie immer auch starken Parteieneinfluss. Denn die ist, wie man zu sagen pflegt, ein Parteienstaat, und ist es auch hier. Besonders schlägt das natürlich bei den Enquêtekommissionen des Bundestages durch, für die die Fraktionen im parlamentarischen Proporz die externen Sachverständigen benennen. Dass die Parteien mit Steuermitteln beträchtliche eigene Forschungs- und Beratungskapazitäten aufgebaut haben, gehört in den gleichen Zusammenhang. Die Wissenschaft auf der anderen Seite ist als System der Politik gegenüber wenig handlungsfähig. Die Formen, die Bedingungen des Beratungsdialoges werden nicht zwischen Politik und Wissenschaft ausgehandelt, sie werden von der Politik festgelegt. Das mag angesichts der letztinstanzlichen Gemeinwohlverantwortlichkeit 19 Ob die höchst aktive Bertelsmann-Stiftung Vorreiter einer Entwicklung ist, die Deutschland »an-

gelsächsischer« macht, steht noch dahin. Jedenfalls hat die Stiftung mit ihrem Centrum für Hochschulentwicklung auf einem Politikfeld einen Einfluss erworben, den kein traditionelles Beratungsgremium (der Wissenschaftsrat bleibt ausgenommen) je gehabt hat. Das hängt einerseits mit den enormen Mitteln zusammen, die die Stiftung einsetzen kann; andererseits wohl auch damit, dass sie für einen Trend stand und steht, der ohnehin unwiderstehlich zu werden im Begriff war, als die Stiftung sich an seine Spitze stellte: den Trend, das Hochschulsystem nach dem Leitbild der Wettbewerbswirtschaft zu reorganisieren. 20 Dass dieser Zugriff die Gewaltenteilungsbalance in problematischer Weise verschiebt, ist die These von Uwe Jens, Politikberatung und demokratische Legitimität, in: Falk u. a., Handbuch (Fn. 1), S 126– 137 (passim).

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der Politik als richtig erscheinen. Aber das daraus resultierende Ungleichgewicht hat Folgen. Die großen Wissenschaftsorganisationen sind gewiss mächtig. Aber sie alle vertreten zumindest auch organisationsspezifische Interessen und können deshalb der Politik gegenüber nicht einfach als Sprecher der Wissenschaft auftreten21. Es gibt der Wissenschaft im Beratungsdialog mit der Politik in Deutschland auch nicht mehr Gewicht, dass sie hierzulande traditionell auf ein grundsätzlich »akademisches« Selbstverständnis festgelegt ist, ein Selbstverständnis, das Wissenschaft als interessenfreie, »reine« Erkenntnissuche, ungebunden an andere Zwecke, ausgeübt in Institutionen mit gesicherter Unabhängigkeit begreift22. Neutralität gegenüber der Politik, Distanz zur Politik haben in diesem Selbstverständnis konstitutive Bedeutung. Seit den siebziger Jahren hat freilich auch in Deutschland die Idee »advokatorischer« und dabei doch wissenschaftlicher Politikberatung Fuß gefasst, wissenschaftlicher Politikberatung also, die sich in den Dienst von Zielen stellt, die der Berater als die eigenen verficht23. In der umwelt- und der friedenspolitischen Beratung ist das am weitesten fortgeschritten, auch die bildungspolitische Beratung ist auf diesem Weg – man denke nur an das Centrum für Hochschulentwicklung der BertelsmannStiftung. Insgesamt aber spielen Institute des advokatorischen Typs, die Wissenschaft und Engagement für eine bestimmte Sache miteinander verbinden, in Deutschland immer noch nur eine Randrolle. Auf Seiten der Wissenschaft ist schließlich auch in Anschlag zu bringen, dass sich die öffentliche Wahrnehmung von Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten verändert hat – sicher nicht nur in Deutschland, aber gerade auch in Deutschland. Die Wissenschaft hat an Autorität verloren24. Das schwächt sie im Beratungsdialog mit der Politik; nicht nur weil die Politik Wissenschaft, deren Ansehen – zu Recht oder Unrecht – lädiert ist, weniger ernst nehmen muss, sondern auch weil Wissenschaft, deren Ansehen lädiert ist, bestimmte legitime Erwartungen der Politik nicht mehr 21 2007 wurde die Deutsche Akademie für Naturforscher Leopoldina zur Nationalakademie erhoben

und, unter Aufsicht eines Lenkungsausschusses, dem alle deutschen Akademien der Wissenschaften angehören, mit der Aufgabe der wissenschaftlichen Politikberatung betraut. Das ist für die Wissenschaft eine Chance, ein größeres Maß von Selbständigkeit im Umgang mit der Politik zu gewinnen. Ob diese Chance genutzt wird, muss sich erst noch zeigen. 22 Thunert, Germany (Fn. 17), S. 159, spricht von »the exceptionally strong scholarly disposition«, die im Politikberatungsgeschäft in Deutschland vorherrsche. 23 Dazu Thunert, Germany (Fn. 17), passim. 24 Neidhardt, Möglichkeiten (Fn. 7), S. 19, bezweifelt diese Diagnose. Zahlreiche empirische Erhebungen zeigten, dass die Wissenschaft ihre gesellschaftliche Geltung entgegen allen Vorbehalten im Einzelnen auch über die Zeit nicht eingebüßt habe. Öffentliche Kritik und verbreitetes Misstrauen bezögen sich auf einzelne Disziplinen. Aber genau darum geht es: nicht um einen abstrakten Respekt vor der Wissenschaft im Allgemeinen, sondern darum, dass die Wissenschaft für die öffentliche Meinung keine Autorität mehr ist, sobald Risiken ins Spiel kommen oder Risikobehauptungen ins Spiel gebracht werden.

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erfüllen kann. Ein wesentlicher Grund für diese Entwicklung könnte der sein, dass die Wissenschaft bisher keine öffentlich überzeugende Antwort auf das sogenannte Expertendilemma gefunden, kein öffentlich überzeugendes Verfahren des Umgangs mit dem Expertendilemma entwickelt hat25. Das berührt ihre Glaubwürdigkeit, also ihre Autorität im Kern.

IV. Ein Blick aufs Ausland Natürlich ließe sich ein schärfer profiliertes Bild der »Möglichkeiten und Grenzen wissenschaftlicher Politikberatung in Deutschland« zeichnen, wenn man die deutschen Verhältnisse den Gegebenheiten in einigen wichtigen vergleichbaren Ländern systematisch gegenüberstellte26. Das würde diesen Beitrag überfordern. Möglich und nützlich ist aber der Hinweis auf zwei auffallende Unterschiede; Unterschiede zwischen Deutschland und den angelsächsischen Ländern, die sich – wenn es denn zutrifft, dass die Beratungsbeziehungen zwischen Politik und Wissenschaft vor dem Hintergrund der besonderen Staats- und der besonderen Wissenschaftstradition des jeweiligen Landes gesehen werden müssen – für den Vergleich besonders anbieten. Deutschland kennt keine Zentralisierung und Hierarchisierung der wissenschaftlichen Politikberatung. Das ist in den USA und Großbritannien anders. Dort ist der dem Präsidenten bzw. dem Premierminister unmittelbar zugeordnete Chief Scientific Advisor eine Schlüsselfigur im Beratungsgeschäft27. In Deutschland gibt es keine vergleichbare Position. Der Chief Scientific Advisor ist nicht nur der Berater des Regierungschefs in allen Fragen, deren Beurteilung (natur-) wissenschaftlichen Sachverstand voraussetzt. Er hat auch eine Art von allgemeinem Aufsichtsrecht und allgemeiner Aufsichtspflicht über die Nutzung wissenschaftlicher Expertise durch Regierungsreinrichtungen; kürzer: eine Art von Gesamtverantwortlichkeit für die Qualität des wissenschaftlichen Rates, der der Regierung zuteil wird. Ein eigener Stab steht ihm zur Seite. Interessenvertreter der Wissenschaft soll der Chief Scientific Advisor nicht sein und Wissenschaftsminister ist er auch nicht. Es ist keine Frage, dass die Platzierung eines Wissenschaftlers ins Zentrum exekutiver Macht wissenschaftlichem Rat in bestimmten Momenten eine große Durch25 Zum Expertendilemma Hans-Ulrich Nennen / Dieter Garbe (Hrsg.), Das Expertendilemma, 1996. 26 Informationen über die für den Vergleich wichtigsten westlichen Länder bieten sowohl Falk u. a.,

Handbuch (Fn. 1), Teil IV, als auch Weingart/Lentsch, Wissen (Fn. 1), Kapitel 33. 27 Aufschlussreich der Bericht des CSA des Präsidenten Clinton, Neal Lane, Funding Priorities and External Advice, in: Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Politikberatung (Fn. 3), S. 157–170, und das Gespräch mit dem CSA to the British Government Sir David King in: Peter Weingart / Justus Lentsch (Hrsg.), Standards and »Best Practices« of Scientific Policy Advice, 2006.

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schlagskraft geben kann. Es ist aber auch keine Frage, dass ein solches zentralistisches, eng geführtes Beratungsarrangement Einseitigkeiten Vorschub leistet. Aus der Tatsache, dass der CSA immer ein Naturwissenschaftler ist, ergibt sich, dass der Zuständigkeitsbereich des Amtes begrenzt sein muss. Wissenschaftlichen Rat kann der CSA nicht geben, wenn es sich etwa um Fragen der Wirtschafts- oder Integrationspolitik handelt. Dem amerikanischen Präsidenten steht für die wirtschaftspolitischen Entscheidungen der Council of Economic Advisors zur Verfügung, der sich von deutschen Beiräten oder Sachverständigenräten dadurch unterscheidet, dass er dem Executive Office, dem Präsidialamt also, eingegliedert ist und seinen Rat vertraulich gibt. Das tut der Wirksamkeit des Rates anscheinend gut. Ein einigermaßen präziser Vergleich von Leistungen unterschiedlicher Beratungsarrangements, um das an dieser Stelle noch einmal zu sagen, steht freilich vor kaum lösbaren methodischen Problemen. Im Übrigen ist daran zu erinnern, dass Beratung in den USA längst nicht so exekutivlastig ist wie in Deutschland. Das hat, paradoxerweise möchte man sagen, mit der präsidentiellen Verfassung zu tun, die dem Kongress eine viel unabhängigere Rolle im Gesetzgebungsprozess und im Budgetverfahren gibt. Ein zweiter auffallender Unterschied zwischen Deutschland und den angelsächsischen Ländern wird sichtbar, wenn man die »privaten« Beratungseinrichtungen ins Auge fasst. Privat finanzierte Institute, die wissenschaftlich begründeten Rat anbieten, spielen in den USA und in Großbritannien eine viel größere Rolle als in Deutschland. Innerhalb dieses Sektors wiederum sind Beratungseinrichtungen mit advokatorischer Tendenz das dynamischste Element. Auch das ist in Deutschland ganz anders. Zwar sind die Verhältnisse auch in Deutschland in Bewegung. Aber die Staatsdominanz ist nach wie vor ungebrochen. Die meisten Forschungsinstitute mit Beratungsauftrag werden vom Staat finanziert und advokatorische Politikberatung wird hierzulande überwiegend – jedenfalls von der Wissenschaft – unverändert als das Gegenteil von wissenschaftlicher Politikberatung angesehen. Auch hier gilt: Über die Effekte, die dieser Unterschied macht, wissen wir verlässlich wenig. Dies immerhin kann man sagen: Private Beratungseinrichtungen geben dem Beratungswesen eine pluralistischere Struktur. Zumindest für die öffentlichen politischen Diskurse dürfte sich eine Vielfalt der Orte des Nachdenkens über das politisch Gebotene und Sinnvolle als vorteilhaft erweisen.

V. Einige Fragen zum Abschluss Wie sieht die Bilanz aus? Lässt unser skeptisches Urteil über die Möglichkeit halbwegs genauer Bestimmung dessen, was wissenschaftliche Politikberatung leistet, eine Bilanz überhaupt zu? Vielleicht hilft es, wenn wir noch einmal sehr grundsätzlich ansetzen.

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Die Aufgabe, die Wissenschaft in modernen Gesellschaften im politischen Prozess hat, lässt sich angeben. Der politische Prozess muss einigermaßen verlässlich ein Mindestniveau an Entscheidungsrationalität gewährleisten. Man kann dieses Rationalitätsminimum versuchsweise so bestimmen: Entscheidungen müssen die Wirklichkeit in Rechnung stellen. Sie müssen, etwas anders formuliert, das entscheidungsrelevante Wissen, über das wir verfügen, zur Kenntnis nehmen. Sie müssen auch die Grenzen des verlässlichen Wissens berücksichtigen. Und sie müssen den ernsthaften Versuch machen, unter Bedingungen größerer oder geringerer Ungewissheit Zukunft zu antizipieren. Ohne den Rat der Wissenschaft ist dieses Rationalitätsminimum in der modernen Welt nicht zu erreichen. Wie viel Wissenschaft tatsächlich dazu beitragen kann, dass es erreicht wird, ist eine zweite Frage. Bescheidenheit empfiehlt sich28. Diese Abhängigkeit der Politik von der Wissenschaft ändert nichts daran, dass die Entscheidungskompetenz bei der Politik bleibt, bleiben muss, weil nur sie die nach den Prinzipien der Demokratie für die Legitimität der Entscheidungen konstitutive Zustimmung der Bürgergesamtheit in den Entscheidungsprozess einbringen kann. Die Politik trägt die Verantwortung dafür, dass das Zustimmungserfordernis und das Rationalitätserfordernis kompatibel werden. Expertenherrschaft, die Legitimität allein auf die von Experten definierte Rationalität der Entscheidung gründet, ist in der Demokratie illegitim. Aber Politik, die aus Gründen der Wahllogik anhaltend die Mindeststandards der Rationalität verletzt, wird es auch. Expertenherrschaft ist in den Demokratien der Gegenwart sicher nicht die Gefahr, die vor allem zu fürchten ist – entgegen manchen Prognosen29. Die Entwicklung mag hin zu mehr Beratung gehen. Aber mehr Beratung bedeutet nicht notwendig größeren Einfluss der Berater30. Die Wissenschaft selbst wirkt dem allein schon dadurch entgegen, dass sie oft nicht mit einer Stimme spricht. Das Gegeneinander von Expertise und Gegenexpertise ist auf manchen Politikfeldern geradezu zur Regel geworden. Das Problem der Demokratie ist nicht, von einigen besonderen 28 Neidhardt, Möglichkeiten (Fn. 7), ist eine kluge Aufforderung, das, was Wissenschaft in der Bera-

tung der Politik zu leisten vermag, nicht zu überschätzen. 29 Als Beispiel Helmut Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, in: ders., Auf der

Suche nach Wirklichkeit, 1965, S. 439–480. 30 Jens, Politikberatung (Fn. 20), S. 137, diagnostiziert kritisch einen Trend, »der deutlich von einer

demokratisch legitimierten zu einer weitgehend unlegitimierten Politikerberatung verläuft«. Eine Auseinandersetzung mit dieser These müsste nicht nur klären, wann ein Beratungsarrangement als demokratisch legitimiert gelten darf und wann nicht, sondern auch, ob die Kategorie »demokratische Legitimität« hier überhaupt angemessen ist. Aus einer verfassungsrechtlichen Perspektive zu diesen Fragen Eberhard Schmidt-Aßmann, Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen wissenschaftlicher Politikberatung: Demokratische und rechtsstaatliche Rationalität, in: Weingart/Lentsch, Wissen (Fn. 1), S. 211–235, insbesondere S. 212 ff.

möglichkeiten und grenzen der politikberatung in deutschland

Konstellationen abgesehen31, die Expertenherrschaft, sondern die Prädominanz der Wahllogik – nicht selten zu Lasten selbst von Mindeststandards der Rationalität der Entscheidung. Hier zeichnen sich existentielle Herausforderungen deutlich ab. Was die deutschen Verhältnisse im Besonderen angeht, so gibt es gute Gründe, die Vielfalt unterschiedlich verfasster Beratungsarrangements als funktional anzusehen, als den Aufgaben, die der Beratungsdialog zu erfüllen hat, dienlich also, die Staatsdominanz hingegen als eher ambivalent. Für sie gilt auf der einen Seite: Zwar machen die Regierung und erst recht, im Fall der Enquêtekommissionen, das Parlament von ihrem Recht, wissenschaftliche Berater zu berufen, da wo sie es haben, durchaus oft politisch akzentuierten Gebrauch. Aber sie wissen, dass sie damit nicht zu weit gehen dürfen, ohne wissenschaftliche Beratung überhaupt zur Farce zu machen. Und das würde bedeuten, dass die beratende Wissenschaft ihr Ansehen in der Öffentlichkeit verliert und damit für die Politik gar nichts mehr zu leisten vermag. Soweit es um den Arbeitsprozess und die Formulierung der Ergebnisse geht, wird die Unabhängigkeit von Beratungseinrichtungen in aller Regel respektiert. Auch dass der Staat in Deutschland fast der einzige Finanzier von Beratungseinrichtungen und -arrangements ist, ist so problematisch nicht, wie es auf den ersten Blick erscheint. Die staatliche Finanzierung von Forschungsinstituten mit Beratungsaufgaben gibt diesen Einrichtungen relative Existenzsicherheit und macht sie von Moden unabhängig. Nicht zuletzt den starken Ressortforschungssektor kann man, so gesehen, cum grano salis positiv bewerten. Auf der anderen Seite gilt freilich: Staatsdominanz bedeutet, wenn man alles zusammenzählt, am Ende eben doch, dass die Politik ganz einseitig die Spielregeln für den Beratungsdialog mit der Wissenschaft festlegt. Es spricht viel dafür, dass das nicht sachdienlich ist, weil die Versuchung für die Politik, die Autorität der Wissenschaft wesentlich taktisch zu nutzen, leicht zu groß wird. Und dass die Wissenschaft selbst daran keineswegs unschuldig ist, macht die Sache nicht besser. Aber wieviel hängt überhaupt von der spezifischen Art der Organisation der wissenschaftlichen Beratung der Politik ab? Der eingangs bereits erwähnte Bericht der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, dessen analytische Leitfrage die nach dem Zusammenhang zwischen Form und Funktion war, kommt zu dem Ergebnis, dieser Zusammenhang sei nicht so eng wie zunächst vermutet32. In die Sprache dieses Beitrages übersetzt heißt das: Wie immer einzelne Beratungsar-

31 Ein Beispiel: Entscheidungen über Leistungsbeschränkungen in der medizinischen Versorgung, die

eigentlich politischer Legitimation bedürften, werden in Sachverständigengremien »versteckt«. Stefan Huster, Das Versteckspiel mit der Rationierung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 17.7.2009, Nr. 153, S. 12. 32 Weingart/Lentsch, Wissen (Fn. 1), S. 201.

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peter graf kielmansegg

rangements ausgestaltet sind – die Spannung zwischen den Polen Machtnähe und Wissenschaftsnähe lässt sich nicht neutralisieren. Man kann den Zweifel an der Bedeutsamkeit spezifischer Organisationsformen auch so formulieren: Die Politik hat keinen Anlass, sich einem Rat der Wissenschaft zu widersetzen, wenn er mit dem Machtkalkül, in der Demokratie also der Wahllogik, nicht kollidiert. Sie hat aber, ihrer Logik folgend, jeden Anlass, dem Rat der Wissenschaft auszuweichen, wenn er dem Machtkalkül widerspricht. Daran ändert keine Organisationsform etwas. Die Schlüsselfrage ist demnach die, ob es überhaupt Bedingungen gibt, unter denen der Rat der Wissenschaft stärker sein könnte als das Machtkalkül der Politik. Die Gestalt des Beratungsarrangements kann da, um es noch einmal zu sagen, schwerlich der entscheidende Faktor sein. Möglicherweise kommt es darauf an, die strategische Konstellation zu verändern. Die strategische Konstellation verändert sich, wenn die Wissenschaft nicht die Politik direkt anspricht, sondern die Öffentlichkeit. Wenn es der Wissenschaft gelingt, bestimmenden Einfluss auf die öffentlichen Wahrnehmungen der Problemlage, der Gefahrenlage, der Herausforderung, um die es jeweils geht, zu nehmen; und dann auch auf die Wahrnehmung der Optionen des Handelns, die verfügbar sind, wird es möglich, dass das Sachkalkül der Wissenschaft und das Machtkalkül der Politik auch dort zur Deckung kommen, wo sie in der direkten Begegnung gegeneinander stehen33. Denn das Wahlkalkül zwingt die Politik in der Demokratie, auf die in der Öffentlichkeit vorherrschenden Problemwahrnehmungen zu reagieren, wie immer sie sich zu den Problemen selbst verhalten. Vielleicht kann man nicht erwarten, dass die Wissenschaft auf dem Umweg über die Öffentlichkeit die Handlungsspielräume der Politik tatsächlich zu erweitern vermag (das ist es, worauf es in der Regel ankommt). Aber sie kann dazu beitragen, dass die Grenzen des Handlungsspielraums der Politik auf einem anderen Rationalitätsniveau bestimmt werden. Damit wäre einiges gewonnen. In Deutschland ist die Wissenschaft gerade für diese Aufgabe – die Aufgabe, mit ihrer Sicht der Dinge in die Öffentlichkeit hineinzuwirken – nicht sonderlich gut aufgestellt.

33 Die Politik würde es vermutlich begrüßen, wenn die Wissenschaft sich in stärkerem Maße darum

bemühte, auf die Problemwahrnehmungen der Öffentlichkeit einzuwirken. Biedenkopf, Politik (Fn. 5), S. 29 ff., plädiert jedenfalls nachdrücklich dafür.

Herfried Münkler

Gemeinwohl als Aufgabe von Politik und als Reflexionsbegriff der Wissenschaft

I. Die unmögliche Definition des Gemeinwohls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 II. Politische Selbstbindung durch Gemeinwohlsemantik . . . . . . . . . . . . . . . . 249 III. Die Debatte über das Gemeinwohl bei Aristoteles und zwischen Republikanern und Liberalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254

I. Die unmögliche Definition des Gemeinwohls Gemeinwohl ist ein facettenreicher Begriff, bei dem man den Eindruck hat, ihm sei eigentlich nur dort eine gewisse Klarheit und Präzision zu eigen, wo er negatorisch gebraucht wird1. In den zumeist polemischen Gegenüberstellungen von Einzel- oder Privatinteresse und Gemeinwohl wird mithin am deutlichsten, was gemeint ist und

Für eine Ideengeschichte der Gemeinwohlthematisierungen vgl. Arno Baruzzi, Freiheit, Recht und Gemeinwohl. Grundfragen einer Rechtsphilosophie, 1990; Arthur F. Utz, Ethik des Gemeinwohls. Gesammelte Aufsätze 1983–1997. Im Auftrag der Internationalen Stiftung HUMANUM herausgegeben von Wolfgang Ockenfels, 1997; Herfried Münkler / Harald Bluhm (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn, Bd. 1: Historische Semantiken politischer Leitbegriffe, 2001; Herfried Münkler / Karsten Fischer (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn im Recht, Bd. 3: Konkretisierung und Realisierung öffentlicher Interessen, 2002, S. 43–65.

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worum es geht, wenn vom Gemeinwohl gesprochen wird2. Wo hingegen ganz allgemein vom Gemeinwohl die Rede ist, ist Misstrauen angebracht. Gemeinwohl wird hier als eine wohlfeile Bezeichnung für etwas in Anspruch genommen, dem wohl niemand seine Zustimmung verweigern würde bzw. die kritische Nachfrage gegenüber einem Projekt oder einer Entscheidung wird durch die Inanspruchnahme des Gemeinwohls schon im Ansatz blockiert. Die Berufung auf das Gemeinwohl ist hier nicht selten eine rhetorische Floskel, die gegen möglichen Widerspruch immunisieren soll. Wer will schon, jedenfalls in öffentlicher Rede, gegen das Gemeinwohl Stellung beziehen. Bestenfalls wird darüber gestritten, was das »wohlverstandene« Allgemeininteresse bzw. Gemeinwohl sei, womit die auf diese Weise Bedenken Anmeldenden geltend machen, dass das Gemeinwohl nicht immer leicht zu erkennen sei und man häufig nur auf Umwegen zu ihm gelangen könne. Dann werden in der Regel unterschiedliche politische Programmatiken gegeneinander gestellt, die sich selbst, auch wenn sie einander widersprechen bzw. nicht miteinander vereinbar sind, alle als gemeinwohlfördernd oder dem Gemeinwohl zuträglich bezeichnen3. In der Theoriesprache Luhmanns kann man Gemeinwohl als die »Kontingenzformel des politischen Systems« bezeichnen, das heißt als »Selbstfestlegung des Systems auf Gemeinwohl«4. Als solche Kontingenzformel ist Gemeinwohl »nicht bloß irgendein ›Wert‹«, und damit geht es »über eine bloße ›Leerformel‹ hinaus«5. Die Kontingenzformel Gemeinwohl »läßt der Politik … die Freiheit, Evidenzen und Plausibilitäten so zu arrangieren, daß ihre Tätigkeit als Wahrnehmung öffentlicher Interessen dargestellt werden kann«. »Das zwingt schließlich zu der Einsicht, daß die Grenze zwischen Gemeinwohl und Eigennutz nur politisch gezogen werden kann und daß es damit zu einer Frage politischer Opportunität wird, in welchem Umfange auch Privatinteressen als politisch relevant erachtet werden.«6 Herausgestellt wird damit die »Selbstfestlegung des Systems«, wie Luhmann das formuliert, oder, wie ich selbst lieber sagen möchte, die Selbstbindungswirkung von Politikern, die sich

Diese Strategie der Präzisierung durch Gegenbegriffe zeigt sich auch in vielen einschlägigen Publikationstiteln, vgl. etwa Roland Becker u. a. (Hrsg.), Eigeninteresse und Gemeinwohlbindung. Kulturspezifische Ausformungen in den USA und Deutschland, 2001; Helmut K. Anheier / Volker Then (Hrsg.), Zwischen Eigennutz und Gemeinwohl. Neue Formen und Wege der Gemeinnützigkeit, 2004. 3 Dazu Klaus von Beyme, Gemeinwohlorientierung und Gemeinwohlrhetorik bei Parteieliten und Interessengruppen, in: Herfried Münkler / Karsten Fischer (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn, Bd. 2: Rhetoriken und Perspektiven sozial-moralischer Orientierung, 2002, S. 137–156; Friedhelm Neidhardt, Öffentlichkeit und Gemeinwohl. Gemeinwohlrhetorik in Pressekommentaren, in: ebd., S. 157–175; Franz Liebl, Wie verkauft man mit »Gemeinwohl«?, ebd., S. 207–225. 4 Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, hrsgg. von André Kieserling, 2000, S. 120 f. 5 Luhmann, Politik (Fn. 4), S. 125. 6 Luhmann, Politik (Fn. 4), S. 122. 2

gemeinwohl als aufgabe von politik und als reflexionsbegriff der wissenschaft

der Gemeinwohlsemantik bedienen7, wobei, so auch Luhmann, »für die Haltbarkeit eines solchen Konzeptes ausschlaggebend sein [dürfte], daß ›zynische‹ Kurzschlüsse vermieden werden, die behaupten könnten, daß das Gemeinwohl selbst eine Utopie sei. Die politische Praxis muß an dieser Frage sich selber testen, indem sie ihrer Orientierung am Gemeinwohl einen überzeugenden, nicht rein utopischen Sinn gibt.«8 Wir sehen hier, wie konkret und praktisch bedeutsam die Beantwortung der Frage ist, vom Wohl welcher Gemeinschaft gesprochen wird und welcher Art das intendierte Wohl sein soll9. Damit ist klar, weshalb die Politik in einer Demokratie gar nicht anders kann, als den Begriff des Gemeinwohls offen und inkonkret zu halten: nur so kann sie verhindern, dass er rein utopisch wird, und gleichzeitig vermeiden, dass über die Gemeinwohlmonopolisierung durch bestimmte Parteien und Gruppen die prinzipielle Offenheit des politischen Systems blockiert wird. Die Flexibilität und Offenheit des Gemeinwohlbegriffs ist also keineswegs bloß das Ergebnis eines pragmatischen Umgangs der Politik mit einem handlichen Legitimationsbegriff, sondern erwächst vor allem aus den Imperativen der politischen Ordnung, denen gemäß zu verhindern ist, dass Gemeinwohl entweder zu einem Parteibegriff wird, was dann autoritäre, in jedem Fall aber patriarchale Konsequenzen hat, die gleichzeitig aber auch eine starke normative Aufladung des Begriffs vermeiden muss, damit seine Realisierung in dieser Welt nicht grundsätzlich unmöglich ist. Rechtsphilosophie und Verfassungsrecht haben sich also darum bemühen müssen, zwischen beiden Extremen die Mitte zu halten und auf diese Weise beiden Imperativen weitestgehend gerecht zu werden10. Im Gemeinwohlbegriff wird also nicht wissenschaftliche Eindeutigkeit, sondern politische Zustimmungsfähigkeit maximiert. Deswegen ist mit Blick auf ihn auch eine Kontrastierung von Politik und Wissenschaft kaum ergiebig. Die Wissenschaft ist nicht dazu berufen, jene Klarheit und Eindeutigkeit zu schaffen, der sich die Politik versagt oder vor der sie mit guten demokratischen Gründen zurückschreckt. Gemeinwohl ist kein im präzisen Sinne wissenschaftsfähiger Begriff, selbst dann nicht,

Herfried Münkler, Gemeinwohlsemantiken und Selbstbindungen in der Politik, in: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Berichte und Abhandlungen, Bd. 9, 2002, S. 83–105. 8 Luhmann, Politik (Fn. 4), S. 131. 9 Dazu Claus Offe, Wessen Wohl ist das Gemeinwohl?, in: Münkler/Fischer, Gemeinwohl, Bd. 2 (Fn. 3), S. 55–76. 10 Hasso Hofmann, Verfassungsrechtliche Annäherungen an den Begriff des Gemeinwohls, in: BerlinBrandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berichte (Fn. 7) S. 123–135; Gunnar Folke Schuppert, Gemeinwohldefinition im kooperativen Staat, in: Münkler/Fischer, Gemeinwohl, Bd. 3 (Fn. 1), S. 67– 98; Dieter Grimm, Gemeinwohl in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, ebd., S. 125– 139; Bardo Fassbender, Zwischen Staatsräson und Gemeinschafsbindung. Zur Gemeinwohlorientierung des Völkerrechts der Gegenwart, ebd., S. 231–274. 7

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wenn man sich darauf verständigt hat, um welche Gemeinschaft es geht und wer dazugehört bzw. draußen bleibt. Dass die Frage von Inklusion und Exklusion eine in der Regel politisch umkämpfte Festlegung ist, ist noch das kleinere Problem angesichts der gleichzeitigen Herausforderung, das behauptete Wohl in irgendeiner Form messen zu müssen, um beobachten zu können, ob die zu seiner Mehrung gemachten Vorschläge auch die beabsichtigte Wirkung zeitigen. Begriffliche Präzisierungen, etwa in Benthams berühmter Formel des »größten Glücks der größten Zahl« oder in Gestalt des ParetoOptimums helfen hier wenig weiter, da entweder das Messbarkeitsdilemma bestehen bleibt oder die Parameter mit Blick auf die in sie eingegangenen oder eben gerade nicht eingegangenen Nachhaltigkeitsimperative in Frage gestellt werden. Fred Hirsch hat in seinem Buch Die sozialen Grenzen des Wachstums darauf eindrücklich hingewiesen11. Massenkarambolagen auf der Autobahn leisten einen Beitrag zur Steigerung des Bruttosozialprodukts, insofern sie Reparaturkosten verursachen oder die Nachfrage nach Neuwagen stimulieren, aber keiner von uns würde im Ernst die systematische Organisierung solcher Massenkarambolagen als gemeinwohlförderlich bezeichnen. Nicht jede Steigerung des Bruttosozialprodukts ist also ein Beitrag zur Förderung des Gemeinwohls. Das macht den Vorzug der Messbarkeitsdefizite von Gemeinwohl aus: Offenbar handelt es sich beim Gemeinwohlbegriff um eine Metakategorie, deren Flexibilität und Offenheit dazu dient, die Einseitigkeiten und Vorfestlegungen aller präziseren Projektionen gesellschaftlichen Nutzens und Fortschritts auszugleichen. Die Uneindeutigkeit des Gemeinwohlbegriffs ist also nicht nur von funktionalem, sondern auch von normativem Nutzen, insofern der Begriff offen ist für Erwartungen und Hoffnungen, die nicht im Mainstream des Politikbetriebs und der je dominierenden Wissenschaftskulturen enthalten sind. Der Begriff des Gemeinwohls ist dadurch auch offen gegenüber Veränderungen, die sich im Verlaufe der Zeit vollziehen. Sowenig er aufgrund seiner inhaltlichen Unbestimmtheit einer bestimmten Partei gehört, so wenig gehört er einer bestimmten Generation, die, auf den Schultern von Riesen stehend oder sitzend, für sich den besten Überblick reklamiert und ihn deshalb endgültig definiert zu haben beansprucht. Auf diese Weise steht der Gemeinwohlbegriff jeder sozio-politischen Generation zu neuerlicher Nutzung zur Verfügung. Gemeinwohl ist ein semantischer Container, in dem Althergebrachtes und Ungewohntes, lange Bewährtes und völlig Neues untergebracht werden können. Das ist ein großer Vorzug, den das Gemeinwohl mit dem Gerechtigkeitsbegriff teilt, für den Ähnliches gilt. Das erklärt auch die durchgängige Komplementarität beider Begriffe in der ge-

11 Fred Hirsch, The Social Limits of Growth, London (u. a.) 1976 (dt. 1980).

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sellschaftlich-politischen Semantik: Sie schließen sich wechselseitig aus und ergänzen sich gleichzeitig.

II. Politische Selbstbindung durch Gemeinwohlsemantik Damit könnte man es im Prinzip sein Bewenden haben lassen: Politik und Wissenschaft sind Nutzer des Gemeinwohlbegriffs, aber nicht seine Eigentümer. Sie profitieren von dem Begriff, weil er ein jederzeit nutzbares Korrektiv gegen den Versuch seiner definitiven Konkretisierung bereithält. Aber das wäre – bei allem systemtheoretischen Reiz – doch zu wenig, um erklären zu können, warum seit der Grundlegung der politischen Philosophie durch Aristoteles die politischen Ordnungsentwürfe in normativer Hinsicht immer wieder auf den Gemeinwohlbegriff zurückgekommen sind. Der Offenheit des Begriffs steht nämlich die Selbstbindung gegenüber, die aus der Berufung auf das Gemeinwohl erwächst. Diese Selbstbindungsdimension schützt die Gemeinwohlsemantik gegen die immer drohende Instrumentalisierung durch Funktions- und Deutungseliten aus Politik, Gesellschaft und Wissenschaft. Weil mit der Berufung auf das Gemeinwohl Selbstverpflichtungen eingegangen werden, aus denen man so schnell nicht mehr herauskommt, verkommt die Semantik des Gemeinwohls eben nicht zu einer bloßen Floskel politischer Rhetorik, deren man sich nach Belieben und weitgehend folgenlos bedienen kann, jedenfalls dann nicht, wenn in der Gestalt von Abstimmungen und Wahlen institutionalisierte Glaubwürdigkeitstests bereitstehen, in denen die in der politischen Sprache eingegangenen Selbstverpflichtungen der Politiker durch die vorgeblichen Profiteure der Gemeinwohlorientierung immer wieder geprüft und regelmäßig beurteilt werden. Die letztgenannte Einschränkung ist wichtig, bindet sie die politische Semantik doch an institutionelle Arrangements, in denen die Selbstbindung folgenreichen Tests unterzogen wird und diejenigen, die diesen Test nicht bestehen, Risiko laufen, aus der politischen Elite entfernt zu werden. Es kann für einen bestimmten Typ von Politiker darum durchaus attraktiv sein, auf die Verwendung des Gemeinwohlbegriffs zu verzichten, um sich vor den damit verbundenen Sanktionen bei Enttäuschung des Versprochenen zu schützen. Er verzichtet dann auf die semantischen Vorteile des Gemeinwohlbegriffs, um von den damit verbundenen Nachteilen nicht ereilt zu werden. Vermutlich lässt sich die politische Klasse unterteilen in diejenigen, die sich der Gemeinwohlsemantik bedienen und dadurch ihre Chancen auf Wiederwahl erhöhen, und jene, die darauf verzichten und sich demonstrativ als Vertreter von Partikularinteressen darstellen. Es dürfte zu den Merkmalen von Volksparteien gehören, dass sie beide Politikertypen in einem ausgewogenen Verhältnis aufbieten können. Nur so sind sie in der Lage, ihre Klientelen gezielt anzusprechen und doch für alle wählbar zu sein.

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Die politische Selbstbindung durch die Gemeinwohlsemantik hat zwei Facetten. Zum einen bedeutet sie im unmittelbaren Sinne, dass ein Politiker, der bei seinem Handeln das Gemeinwohl für sich in Anspruch nimmt, sich auch daran messen lassen muss. So hat etwa Gerhard Schröder zu Beginn seiner Amtszeit wiederholt Ansprüche gesellschaftlicher Interessengruppen unter Berufung auf das Gemeinwohl zurückgewiesen, beispielsweise als er hohe Gehaltsforderungen von Gewerkschaften mit dem Hinweis konterte, der Bundeskanzler sei nicht der Erfüller von Einzelinteressen, sondern müsse auf das Gemeinwohl schauen. Das war zunächst eine Distanzierung von klientelistischen Erwartungen und sollte dem Kanzler Spielraum gegenüber den Gewerkschaften verschaffen. Aber diesen politischen Spielraum hat Schröder nur um den Preis einer semantischen Selbstbindung bekommen. Selbstbindung heißt hier, dass derjenige, der die Gemeinwohlsemantik bemüht, sich auch auf anderen Politikfeldern an Gemeinwohlkriterien messen lassen muss – von der Renten- über die Gesundheits- und die Bildungspolitik bis hin zur Außen- und Außenhandelspolitik. Der Gemeinwohlbegriff ist eine Handschelle, die vom Augenblick der Selbstbindung an gegen den jeweiligen Politiker verwendet werden kann12. Gleichzeitig zeigen die Gemeinwohlbezugnahmen des damaligen Bundeskanzlers aber auch, dass Gemeinwohl ein Begriff ist, der für die Regierung attraktiver ist als für Opposition. Diese hat im parlamentarischen System den Vorzug, auch Einzel- und Partikularinteressen ins Spiel bringen zu können, ohne diese sogleich in die Deckung des Gemeinwohlbegriffs nehmen zu müssen. Der Oppositionsbonus, so könnte man sagen, besteht also – auch – darin, dass sie keine der beschriebenen semantischen Selbstbindungen eingehen muss. Die Opposition kann Klientelerwartungen bedienen, ohne sich dadurch in Legitimationsprobleme zu begeben. 12 Schröder hat die Gemeinwohlsemantik bei der Abwehr von Partikularansprüchen stärker geschätzt

als bei der Begründung und Absicherung seiner Politik, insbesondere den Hartz-Reformen. So hat er zwar in seinem Aufsatz zur Relevanz der Bürgergesellschaft für eine moderne Politik von »mehr Eigenverantwortung« gesprochen, »die zu Gemeinwohl führt« (Gerhard Schröder, Die zivile Bürgergesellschaft. Anregungen zu einer Neubestimmung der Aufgaben von Staat und Gesellschaft, in: Die Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte Bd. 47/4, 2000, S. 200–207 [201]), bei der Einbringung der Agenda-Politik darauf aber weitgehend verzichtet. Während es bei der Bürgergesellschaftsdebatte um gesteigerte Erwartungen an bürgerschaftliches Engagement ging, drehten sich die Hartz-Reformen um Einschnitte ins soziale Netz, insbesondere um eine Abkehr von der bis dahin erfolgten Orientierung des Arbeitslosengeldes an der Statussicherung. Ersteres glaubte Schröder unter Verweis aufs Gemeinwohl einfordern zu können, letzteres nicht, weswegen er hier sehr viel stärker eine Modernisierungssemantik in Anspruch genommen hat. Diese Differenzierung ist von der Kritik an den Sozialreformen der Regierung Schröder/Fischer aber nicht beachtet worden. Es genügte, dass der Kanzler in der Zeit seines ersten Kabinetts sich der Gemeinwohlsemantik bedient hatte, um diese mit Blick auf die Hartz-Reformen nunmehr als Ideologie zu »entlarven«; vgl. etwa Stephan Lessenich, Die Neuerfindung des Sozialen. Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus, 2008, S. 90–95; Berthold Vogel, Wohlstandskonflikte. Soziale Fragen, die aus der Mitte kommen, 2009, S. 93 ff.

gemeinwohl als aufgabe von politik und als reflexionsbegriff der wissenschaft

Das ändert sich jedoch schlagartig, sobald die Opposition zur Regierung wird. Einer Opposition, die sich als Reserveregierung versteht und nicht grundsätzlich in der Oppositionsrolle verbleiben will, ist also anzuraten, sich nicht zu sehr an Partikularinteressen zu binden, sondern auch ohne explizite Berufung aufs Gemeinwohl auf die Kompatibilität ihrer Kernforderung mit der Gemeinwohlsemantik zu achten. Nun darf man freilich nicht dem Irrtum verfallen, es gebe einen politisch tiefen Graben zwischen Gemeinwohl und Partikularinteressen. Schon in der Frühmoderne, so Luhmann, habe sich die Einsicht durchgesetzt, »daß auch die Konzentrierung auf die Förderung von Individualinteressen aufs Ganze gesehen dem öffentlichen Wohl dienen kann«. Dem habe die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft Rechnung getragen. Mit der Entwicklung des Wohlfahrtsstaates habe sich das Problem aber reproduziert: »Das zwingt schließlich zu der Einsicht, daß die Grenze zwischen Gemeinwohl und Eigennutz nur politisch gezogen werden kann und daß es damit zu einer Frage der politischen Opportunität wird, in welchem Umfange auch Privatinteressen als politisch relevant erachtet werden.«13 Die Gemeinwohlsemantik ist also weder für die Regierung noch für die sich als Reserveregierung verstehende Opposition als strikte Bindung an ein substanziell definiertes Gemeinwohl zu verstehen, die von der Wissenschaft und einer sie begleitenden Publizistik präzise kontrolliert und überwacht wird, sondern es handelt sich dabei eher um den rhetorisch geltend gemachten Anspruch auf die Kompatibilität unterschiedlicher Partikularinteressen, womöglich gar auf die Inanspruchnahme von Partikularinteressen für das öffentliche Wohl. Wahlen sind dann Tests darauf, ob diese semantischen Manöver plausibel gewesen und die damit eingegangenen Selbstbindungen der führenden Politiker den Wählern plausibel gemacht worden sind. Die Frage nach der Selbstbindung durch Gemeinwohlformeln lässt sich jedoch nicht beantworten, ohne einen vergleichenden Blick auf die Gerechtigkeitssemantik zu werfen, die in mancher Hinsicht ein Konkurrent des Gemeinwohls und seiner Komplementärbegriffe ist. Etwas vereinfacht lässt sich sagen, Gerechtigkeit sei eine Semantik, die vor allem der Opposition zugute kommt, während Gemeinwohl ein Begriff der Regierenden ist, mit dem sie sich aus allzu engen Abhängigkeiten von bestimmten Gruppen freimachen und sich Spielräume für Regierungshandeln verschaffen. Meine Vermutung lautet, dass die politikberatende Wissenschaft sich ebenfalls an dieser semantischen Wasserscheide orientiert beziehungsweise, wenn sie politisch klug ist, sich an ihr orientieren sollte: Berät sie die Regierung, nimmt sie für sich das Gemeinwohl in Anspruch, wie das etwa bei den Sachverständigenräten der Fall ist, und leistet sie der Opposition wissenschaftlichen Beistand, so rekurriert sie eher auf Gerechtigkeit, wie ein Blick in die Gutachten der parteinahen Stiftungen zeigt. 13 Luhmann, Politik (Fn. 4), S. 122.

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Gerechtigkeit signalisiert Ansprüche und Erwartungen, Gemeinwohl dagegen kommuniziert die Selbstbindung und Selbstverpflichtung, nicht für einige, sondern für alle zu handeln14. So hatte Angela Merkel am Wahlabend 2009 nichts eiliger zu tun, als zu versichern, dass sie die Kanzlerin »aller Deutschen« sein wolle. Sie benutzte dabei nicht unmittelbar den Gemeinwohlbegriff, sondern eine seiner Umschreibungen bzw. Komplementärformeln. Im Effekt lief das jedoch auf dasselbe hinaus. Bekräftigt wird das im Übrigen auch in der Eidesformel des Kanzlers und der Minister, die zu Hütern des Gemeinwohls bestellt werden. Die Opposition bleibt dagegen unvereidigt. In ihrer Rolle als Wächter des Gemeinwohls, die ihr Amt durch das Geltendmachen partikularer Gerechtigkeitserwartungen versieht, ist ihre Vereidigung auf das Gemeinwohl auch nicht erforderlich. Und die Wissenschaft? Vorderhand hat sie offenbar nicht genug Macht und Einfluss, als dass man sie unter Eid nehmen müsste – von der Medizin abgesehen, deren Vertreter gelegentlich die Macht über Leben und Tod haben und denen deswegen die Selbstbindung des hippokratischen Eides angesonnen wird. Immerhin ist es in der Geschichte der Wissenschaft zu einer Debatte über die Relevanz des Gemeinwohls für die gute politische Ordnung gekommen, vor allem aber über die Frage, wie es am besten und zuverlässigsten zu erreichen sei: indem man es gezielt anstrebe und sich an seinen Vorgaben orientiere oder indem man institutionelle Arrangements schaffe, die dafür Sorge tragen, dass, was auch immer der Einzelne intendiert und unternimmt, am Schluss das allgemeine Wohl herauskommt. Hier handelt es sich um die Debatte zwischen Republikanismus und Liberalismus, wie sie vor allem im 18. Jahrhundert geführt worden ist15, die aber bis heute immer wieder aufflammt, wenn politische Krisendiagnosen überhand nehmen. Schließlich bildete der Gemeinwohlbezug auch einen zentralen Punkt in der Abgrenzung gegenüber einem staatszentrierten Sozialismus, wie er im Gefolge der Oktoberrevolution in Russland und nach 1945 in großen Teilen Ost- und Mitteleuropas sowie einigen Ländern der Dritten Welt durchgesetzt 14 Das öffentliche Kommunizieren von Selbstverpflichtungen ist nicht auf die Regierung beschränkt,

sondern stellt auch für Berufs- und Interessenverbände eine wichtige Form politischer Einflussnahme und der Abwehr staatlicher Regelungen bzw. ihrer Ersetzung durch »freiwillige Selbstverpflichtungen« dar; dazu Michael Meuser / Ronald Hitzler, Gemeinwohlrhetorik ärztlicher Berufsverbände im Streit um die Gesundheitsreform, in: Münkler/Fischer, Gemeinwohl, Bd. 2 (Fn. 3), S. 177–205; Herbert Sukopp, Selbstverpflichtungen der Wirtschaft als Instrument der Umweltpolitik, ebd., S. 227–241; Christoph Sachße, Die Organisation des Gemeinwohls in der Bürgergesellschaft: Dritter Sektor und Steuerprivileg, in: Anheier/Then, Eigennutz (Fn. 2), S. 61–91. 15 Vgl. Matthias Bohlender, Metamorphosen des Gemeinwohls. Von der Herrschaft guter polizey zur Regierung durch Freiheit und Sicherheit, in: Münkler/Bluhm, Gemeinwohl, Bd. 1 (Fn. 1), S. 247–274; Herfried Münkler, Tugend und Markt: Die Suche nach Funktionsäquivalenten für die sozio-moralischen Voraussetzungen einer freiheitlich verfassten Ordnung, in: Hartmut Kaelble / Jürgen Schriewer (Hrsg.), Gesellschaft im Vergleich. Forschungen aus Sozial- und Geschichtswissenschaften, 1998, S. 103–114.

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worden ist16. Sehen wir uns zwei dieser »Knoten« der Gemeinwohldebatte etwas genauer an: den des Aristotelismus und seiner Folgen und den der Debatte zwischen Republikanismus und Liberalismus. Ihnen dreien ist gemeinsam, dass sie auf eine inhaltliche Bestimmung des Gemeinwohls verzichten und es bloß als »regulative Idee« politischen Handelns entworfen haben. Gemeinsam ist ihnen freilich auch, dass sie gegenüber der Idee skeptisch geblieben sind, man könne einen bestimmten Stand, eine Schicht, eine Klasse oder auch eine besonders qualifizierte Expertengruppe zum Hüter des Gemeinwohls bestellen. Dass Adel und Aristokratie sich über Jahrhunderte als der zur Gemeinwohlverwirklichung berufene Stand begriffen haben, muss hier nicht weiter beschrieben und erörtert werden. Die Verbindung zwischen Gemeinwohlorientierung und den Besten einer Gesellschaft, den Besten in moralischer Hinsicht, aber auch mit Blick auf ihre Sachkompetenz, ließ keinen Spielraum für eine eigenständige Rolle der Wissenschaft. Der Aristokratiebegriff enthält einen moralischen, kognitiven und operativen Führungsanspruch und schließt jeden Zweifel daran aus, dass zwischen Anspruch und Fähigkeit eine riskante Lücke klaffen könnte, die sich nur durch die Beschaffung externer Expertise schließen ließe. In keiner Staatsform ist die Verbindung zwischen Gemeinwohl und Herrschenden so eng wie in der Aristokratie. Gemeinwohlorientierung und Gemeinwohlverwirklichung sind gleichsam im Begriff der Aristokratie bzw. des Aristokratischen impliziert. Aristokratische Gemeinwohlreflexion gehört deswegen zu den theoretisch unergiebigsten Bereichen des hier in Frage Stehenden. Die mittelalterlich-frühneuzeitliche Diskussion über das Gemeinwohl wird erst dort interessant, wo Zweifel an Anspruch und Realität des Aristokratischen aufkommen17. Wenn aristokratische Gemeinwohlorientierung heißt, dass jede Selbstbindung sofort durch eine Selbstaffirmation neutralisiert wird, so wird das Gemeinwohl für die beobachtende wie beratende Wissenschaft erst dann interessant, wenn die Selbstbindung zur Infragestellung der Selbstaffirmation wird. In der dadurch entstandenen Lücke siedeln sich dann Beichtväter (Moralkompetenz) und Wissenschaftler (Sachkompetenz) an und sie zerstreiten sich schon bald über der Frage, welche der von ihnen repräsentierten Kompetenzen für die Gemeinwohlverwirklichung die wichtigere sei. Dabei behielten, zumindest in katholischen Gebieten18, die Beichtväter so 16 Hierzu Helga Grebing, Ideengeschichte des Sozialismus in Deutschland. Teil II, in: dies. (Hrsg.),

Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland. Sozialismus – Katholische Soziallehre – Protestantische Sozialethik. Ein Handbuch, 2000, S. 353–595 (372 ff.). 17 Hierzu Otto Gerhard Oexle, Konflikt und Konsens. Über gemeinschaftsrelevantes Handeln in der vormodernen Gesellschaft, in: Münkler/Bluhm, Gemeinwohl, Bd. 1 (Fn. 1), S. 65–83; Peter Blickle, Der Gemeine Nutzen. Ein kommunaler Wert und seine politische Karriere, in: ebd., S. 85–107; Gisela Naegle, Französische Gemeinwohldebatten im 15. Jahrhundert, in: ebd., S. 109–127; Thomas Simon, Gemeinwohltopik in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Politiktheorie, in: ebd., S. 129–146. 18 Zur davon unabhängigen Entwicklung in den protestantischen Gebieten vgl. Hans Grünberger,

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lange die Oberhand, wie sie von sich behaupten konnten, über die ihnen qua Amt zukommende Moralkompetenz auch eine individuelle Sachkompetenz einbringen zu können. Der säkulare Staat konnte und wollte Geistlichen keine so große Macht auf die normative wie operative Steuerung der Politik anvertrauen, und so traten spätestens seit der Aufklärung Intellektuelle an deren Stelle. Aber deren Kompetenz war ebenfalls in moralischer Hinsicht stärker ausgeprägt als in sachlicher, und so wurde schließlich die juristische Beamtenausbildung, die im institutionellen Flächenstaat formalisiert wurde, zum Schlüssel für den Erwerb von Sachkompetenz bei der Gemeinwohlverwirklichung. Die juristisch geschulten Beamten wurden zu Monopolisten der Gemeinwohlüberwachung, bei der Anerkennung der Gemeinnützigkeit von Vereinen und Stiftungen, aber auch bei der Formulierung von Verwaltungsvorschriften und Ausführungsbestimmungen gemeinwohlbezogener Gesetze. Das war auf Dauer mit dem Selbstverständnis einer demokratischen Gesellschaft nicht so ohne weiteres zu vereinbaren, und so suchte diese nach Möglichkeiten, an der Verwaltung und einer expertokratisch aufgestellten Wissenschaft vorbei Einfluss auf die Bestimmung des Gemeinwohls als sozio-politischer Leitbegriff zu bekommen. Der Aristotelismus sowie die Debatte zwischen Republikanismus und Liberalismus boten die Ansatzpunkte, um aus der Dominanz der Beamten herauszukommen. Wie nicht anders zu erwarten, handelte es sich dabei auch um einen »Streit der Fakultäten«, insofern Philosophie und Ökonomie hier gegen die Jurisprudenz Ansprüche auf die Definition des Gemeinwohls geltend machten.

III. Die Debatte über das Gemeinwohl bei Aristoteles und zwischen Republikanern und Liberalen Am Anfang der politiktheoretischen Gemeinwohldebatte steht Aristoteles, der die Verfassungsvorstellungen seiner Zeit in ein übersichtliches Sechsfelder-Schema gebracht hat, das über eine quantitative und eine qualitative Achse konstruiert wird. Aristoteles unterscheidet in quantitativer Hinsicht zwischen der Herrschaft eines Einzelnen, Einiger und Vieler und ergänzt diese Systematik der Machtpartizipation durch ein qualitatives Kriterium, bei dem danach gefragt wird, in wessen Interesse und zu wessen Nutzen die Machtausübung erfolge: dem der jeweils Herrschenden oder dem aller. So wird die Gemeinwohlorientierung zum entscheidenden Kriterium für die Qualität einer Verfassungsform. Die gute und rechte Verfassungsform der Wege zum Nächsten. Luthers Vorstellung vom Gemeinen Nutzen, in: Münkler/Bluhm, Gemeinwohl, Bd. 1 (Fn. 1), S. 147–168; Raimund Ottow, Politische Gemeinwohldiskurse in Großbritannien: von den »Rosenkriegen« zum Bürgerkrieg, ebd., S. 169–189.

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Monarchie unterscheidet sich durch ihre Gemeinwohlorientierung von der parekbatischen Verfassungsform der Tyrannis, wenn dieser denn überhaupt die Qualität einer Verfassung zugestanden werden kann; die Aristokratie unterscheidet sich analog dazu von der Oligarchie und die Politie von der Demokratie, die von Aristoteles als Parteidiktatur des Demos begriffen wird, als die Herrschaft der großen Masse der Vielen und Armen. Wie konkret der Unterschied zwischen der Gemeinwohlorientierung der Herrschenden und ihrer Ausrichtung am eigenen Nutzen aussieht, hat Aristoteles nicht weiter ausgeführt19. Offenbar ist er davon ausgegangen, dass der Unterschied den jeweils Beteiligten bzw. Betroffenen evident sei und sie dementsprechend Folgebereitschaft oder Widerstandsgeist entwickeln würden. Das aristotelische Sechsfelder-Schema der Verfassungsordnungen stellt jedenfalls eine Abkehr vom platonischen Projekt der Philosophenherrschaft dar, in dem kognitive Kompetenz und habituelle Erziehung zu Garanten der Gemeinwohlverwirklichung avanciert waren. Mit Luhmann könnte man sagen, dass im platonischen paradeigma der guten Ordnung das Gemeinwohl zum Utopikum geworden ist und Aristoteles seine Aufgabe darin gesehen hat, es in die politische Wirklichkeit seiner Zeit zurückzuholen – um den Preis freilich, dass er es inhaltlich unbestimmt bleiben und auch offen lassen musste, wer der jeweilige Träger der Gemeinwohlverwirklichung war: Einer, Einige oder Viele. Die Beantwortung dieser Frage hat Aristoteles in Abhängigkeit von geographischen und klimatologischen, von ökonomischen und ökologischen Gegebenheiten gesehen20. Aus der mehr als zweitausendjährigen Diskussion dieser Konzeption und den unterschiedlichen Versuchen, die Gemeinwohlorientierung auf Dauer zu stellen, soll hier nur eine bemerkenswerte Variation herausgegriffen und kurz beleuchtet werden: Es handelt sich dabei um das radförmige Ordnungsmodell der mittleren Stoa, wie es vor allem bei dem Historiker Polybios zu finden ist. Polybios hat Aristoteles’ kategoriale Ordnung in eine temporale Sukzession überführt21. Danach degeneriert die Monarchie zur Tyrannis; diese wird nach einiger Zeit gestürzt und an ihrer Stelle eine Aristokratie errichtet. Die aber degeneriert wiederum zur Oligarchie; die Oligarchie wird gestürzt, und es wird eine Demokratie errichtet, die nach geraumer Zeit zur Ochlokratie (Pöbelherrschaft) degeneriert. Aber auch sie geht unter, und schließlich 19 Allenfalls im 5. Buch der Politik finden sich Hinweise an den Tyrannen, wie dieser durch den Re-

spekt vor dem Eigentum und den Frauen der Untertanen zum Monarchen werden kann. 20 Zur Frage des Gemeinwohls bei Aristoteles vgl. Günther Bien, Die Grundlegung der politischen Phi-

losophie bei Aristoteles, 1973, S. 323 ff.; Andreas Kamp, Die politische Philosophie des Aristoteles und ihre metaphysischen Grundlagen. Wesenstheorie und Polisordnung, 1985, S. 245 ff.; Guido O. Kirner, Polis und Gemeinwohl. Zum Gemeinwohlbegriff in Athen vom 6. bis 4. Jahrhundert v. Chr., in: Münkler/Bluhm, Gemeinwohl, Bd. 1 (Fn. 1), S. 31–63. 21 Dazu Heinrich Ryffel, Metabole Politeion. Der Wandel der Staatsverfassungen, 1949, S. 163 ff.

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wird erneut eine Monarchie errichtet. So kann die anakýklosis politeíon, der Kreislauf der Verfassungsformen wieder von neuem beginnen. Verlust und Wiedergewinnung der Gemeinwohlorientierung sind danach die treibenden Momente der politischen Geschichte; Degeneration und Revolution stellen die Verbindungsglieder zwischen den einzelnen Verfassungsformen dar. Das ergibt freilich ein eher trostloses Bild der Geschichte, weswegen es nicht von ungefähr kommt, dass Kant mit Blick auf solche Geschichtsvorstellungen von »Abderitism« gesprochen hat: dem vergeblichen Bemühen der Menschen, in ihrer politischen Geschichte voranzukommen, da jeder Schritt, den sie nach vorn machen, sogleich durch einen Rückschritt wieder aufgehoben wird22. In beiden Ordnungsmodellen, dem aristotelischen wie dem stoischen, kommt der sozialmoralischen Disposition der jeweils Herrschenden die entscheidende Bedeutung zumindest für die Intendierung des Gemeinwohls zu. Solange diese Intentionalität vorhanden ist, ist die Ordnung gut; wo sie schwindet, verfällt auch die Ordnung. Als erster hat Niccolò Machiavelli die Kongruenz von Anstreben und Erreichen, Intention und Effekt in Frage gestellt und in seinem »Principe« die Gemeinwohleffekte höher gestellt als die Gemeinwohlintendierung. Dass er dabei ersteres gegen letzteres ausgespielt hat, ist ihm lange übel genommen worden. Erst Max Weber hat dann in seinem Vortrag »Politik als Beruf« diese Entgegensetzung in der Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik aufgenommen und fest im politischen Denken verankert. Davor jedoch ist immer wieder darüber nachgedacht worden, wie man diese Erosion der moralischen Gemeinwohlorientierung verhindern könne, und von gelegentlichen Kriegen, in denen die Gruppenegoismen überwunden würden, bis zur Erziehung des Monarchen oder der Aristokraten sind dazu die unterschiedlichsten Vorschläge gemacht worden. Dadurch ist die Wissenschaft in eine ganz besondere, weniger beratende als viel stärker erziehende Rolle geraten, und ein Instrument, dessen sie sich dabei bediente, waren die Fürstenspiegel, in denen einem zukünftigen Herrscher vor Augen geführt wurde, wie er sich verhalten solle23. Eine grundlegende Neubestimmung der Diskussionslage brachte erst die Kontroverse zwischen Republikanismus und Liberalismus, die mit der Französischen Revolution dann zugunsten des Liberalismus entschieden wurde. Dabei zeichnete 22 Die einschlägigen Formulierungen zum Abderitism finden sich in Kants »Streit der Fakultäten«:

»eine leere Geschäftigkeit, das Gute mit dem Bösen durch vorwärts und rückwärts gehen so abwechseln zu lassen, daß das ganze Spiel des Verkehrs unserer Gattung mit sich selbst auf diesem Glob als ein bloßes Possenspiel angesehen werden müsste, was ihr keinen größeren Wert in den Augen der Vernunft verschaffen kann, als den die anderen Tiergeschlechter haben, die dieses Spiel mit weniger Kosten und ohne Verstandesaufwand treiben.« Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten, Zweiter Abschnitt 3c. 23 Dazu Hans-Otto Mühleisen / Theo Stammen / Michael Philipp (Hrsg.), Fürstenspiegel der Frühen Neuzeit, 1977.

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sich der Republikanismus dadurch aus, dass er an einer starken sozio-moralischen Orientierung festhielt, diese auf die Ordnung der Republik bezog und sie in ihrer Qualität wie Stabilität als von der Tugend der Bürger abhängig ansah24. Virtus ist das Schlüsselwort, in dem nicht bloß das Ethos des Gemeinwohls, sondern auch die Fähigkeit zu seiner Verfolgung zum Ausdruck gebracht wird. In heutiger sozialwissenschaftlicher Terminologie könnte man das als input-Orientierung bezeichnen: Die Qualität der Ordnung entscheidet sich an den sozialmoralischen Dispositionen der sie Handhabenden und Betreibenden. In der Gier-Debatte unserer Tage erleben wir eine Wiederkehr dieser sozialmoralischen Grundierung von Ordnungsvorstellungen. Im Prinzip kann die politikberatende Wissenschaft hier wenig zur Gemeinwohloptimierung beitragen. Sie müsste sich erst in politische Pädagogik verwandeln, um relevant zu werden. Das ist in einer liberalen Demokratie nicht vorgesehen. Als beobachtende Wissenschaft kann sie jedoch die Rolle des Mahners und Warners einnehmen, was sie auch in zunehmendem Maße tut. Dabei ist der Verweis aufs Gemeinwohl kein im streng wissenschaftlichen Sinn brauchbares Argument, weswegen das Gemeinwohl auch, wenn es um Warnungen und Mahnungen geht, zunehmend durch Niedergangs- und Katastrophenszenarien ersetzt worden ist. Wir können also insgesamt einen Rückgang der Berufungen auf das Gemeinwohl konstatieren, weil an seine Stelle entweder, wie in der rot-grünen Koalition, Modernisierungsformeln oder, wie bei den Nichtregierungsorganisationen der Fall, Katastrophenszenarien getreten sind. Zunächst aber zurück zur republikanischen Gemeinwohlvorstellung und deren Begründung auf einem bürgerschaftlichen Ethos. Die politisch spannendste Frage lautete, was geschehen solle, wenn das Ethos republikanischer Gemeinwohlorientierung dahin war. Wenn die Bürger weder Engagement noch Opferbereitschaft für die Gemeinschaft an den Tag legten, sondern sich auf ihre Privatsphären zurückzogen und ihren Einzelinteressen folgten? Machiavelli hat in dieser Situation auf einen uomo virtuoso gesetzt, der die Ordnung wieder herstellen, den Bürgersinn restituieren und schließlich die Macht in die Hände der vielen zurücklegen sollte. Das war freilich ein riskantes Unterfangen, die politische Figur, die üblicherweise als der äußerste Gegensatz einer gemeinwohlorientierten Verfassung begriffen wurde, als deren Retter und Erneuerer zu bestellen. Gab es dafür ein Beispiel, so war es das altrömische Ver24 Zu den Grundannahmen des Republikanismus, einem Theoriestrang, der sich im Unterschied zum

Liberalismus nie zu einer politischen Bewegung geformt hat und dementsprechend auch nie in einer dem Liberalismus vergleichbaren Form den Vereinheitlichungszwängen des politischen Kampfes ausgesetzt war, vgl. Herfried Münkler, Protoliberalismus und Republikanismus in der italienischen Renaissance, in: Richard Faber (Hrsg.), Liberalismus in Geschichte und Gegenwart, 2000, S. 41–57, sowie ders., Die Idee der Tugend. Ein politischer Leitbegriff im vorrevolutionären Europa, in: Archiv für Kulturgeschichte Bd. 73, 1991, Heft 2, S. 379–403.

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fassungsinstitut der Diktatur, auf das sich Machiavelli dabei hätte berufen können. Er hat es nicht getan, zumindest nicht explizit, weil ihm vermutlich klar war, dass die römische Diktatur eine, wie Carl Schmitt dies später nennen sollte, kommissarische war, während Machiavelli eine souveräne Diktatur zur Neugestaltung des Gemeinwesens im Auge hatte25. Robespierre schließlich hat die dabei anzuwendenden Mittel als systematischen Einsatz des Schreckens präzisiert, durch den die Tugend wieder gewonnen und gestärkt werden soll. Die wissenschaftliche Beratung wird hier unmittelbar in politische Praxis überführt. Damit ist Robespierre bekanntlich gescheitert, und auch Machiavelli hat bei seiner Suche nach dem rettenden Einzelnen kein Glück gehabt. Der Republikanismus ist durch seine Fixierung auf die sozialmoralischen Qualitäten der Akteure in eine praktische Sackgasse geraten, aus der er zuletzt nur noch durch einen intensivierten Gewaltgebrauch herauszukommen glaubte. In dieser Situation bot der Liberalismus die Lösung einer Umstellung von input- auf output-Orientierung an: Warum sollte es nicht möglich sein, institutionelle Arrangements zu finden, die an die Stelle der fehlenden Gemeinwohlorientierung der Akteure traten und den Effekt hatten, dass Ergebnisse herauskamen, als ob die Menschen am Gemeinwohl orientiert wären? Diese institutionellen Arrangements hatten Namen: Adam Smith nannte sie Markt, und Immanuel Kant erwartete dies von einer um den »Mechanism der Antagonismen« zentrierten Verfassung. Beides, Markt und Verfassung, sind Ausgleich- oder Kompensationsagenturen für die sozialmoralischen Anforderungen, auf die der Republikanismus gesetzt hatte, und sie hatten den großen Vorzug, nicht von den flüchtigen Grundeinstellungen der Menschen abhängig zu sein, sondern als institutionelle Ordnungen auf Dauer gestellt werden zu können. Das Gemeinwohl erhielt damit institutionelle Konturen. Damit konnte dann auch die Wissenschaft als Beiträger zum Gemeinwohl wieder oder viel stärker ins Spiel kommen: Sie wurde zuständig für die Feinsteuerung der output-Orientierung, und damit avancierte sie zum Ersatz für die prekären sozialmoralischen Dispositionen, die der Republikanismus verlangt und von denen der Liberalismus dispensiert hatte. Bei Adam Smith sind es die berühmten Metzger, Brauer und Bäcker, deren Eigeninteresse und nicht Wohlwollen wir verdanken, mit dem Lebensnotwendigen versorgt zu werden26, und bei Kant muss die Stiftung einer Verfassung nicht bloß für ein Volk von Engeln, sondern auch für eines von Teufeln – »so sie 25 Carl Schmitt, Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum pro-

letarischen Klassenkampf (1921), 4. Aufl. 1978, S. 1–42, 130–152. 26 »Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen

brauchen, sondern davon, daß sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen-, sondern an ihre Eigenliebe, und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil.« Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen (1776), dt. von Horst C. Recktenwald, Kap. 2.

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nur Verstand haben« – möglich sein27. Der Liberalismus macht sich, und das definiert ihn mithin, von den Tugendzumutungen und Gemeinwohlorientierungserwartungen des klassischen Republikanismus frei und kann so zusätzliche Freiheitsgrade in die politische Ordnung einbringen, ohne sie in ihrem Bestand zu gefährden. Er ermöglicht mit dieser Umstellung von input auf output zugleich die Ergänzung eines positiven durch einen negativen Freiheitsbegriff im Sinne Isaiah Berlins28. Er erweitert Freiheit, indem er sie vom Zwang des intentionalen Bezugs auf das Gemeinwohl ablöst. Aber der Beobachter ahnt, dass eine Lücke bleibt, die gefährlich werden könnte. Ernst-Wolfgang Böckenförde hat sie dahingehend formuliert, dass die freiheitliche Ordnung auf Voraussetzungen beruht, über die sie nicht verfügt und die sie auch nicht selbst zu reproduzieren vermag29. Im Lichte unserer Überlegungen gehört dazu die Gemeinwohlorientierung, und zwar keineswegs bloß die der politischen Eliten, sondern auch die der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung. Die Hoffnung ist, dass die Zivilgesellschaft diese Dispositionen befördert. Die Zivilgesellschaft fungiert dann als Kompensation dessen, was die Wissenschaft nicht mehr leisten kann und auch nicht leisten darf, wenn sie nicht zur Legitimationsideologie im Sinne des Marxismus in den Staaten des so genannten realexistierenden Sozialismus werden will. In einer liberaldemokratischen Ordnung kann die Wissenschaft Vorschläge machen, von deren Umsetzung sie mit Gründen gemeinwohlfördernde Effekte erwartet, aber sie muss sich vor einer Inanspruchnahme des Gemeinwohls als Legitimationsbasis ihrer Interventionen hüten.

27 »Nun ist die republikanische Verfassung die einzige, welche dem Recht der Menschen vollkommen

angemessen, aber auch die schwerste zu stiften, vielmehr noch zu erhalten ist, dermaßen, dass viele behaupten, es müsse ein Staat von Engeln sein, weil Menschen mit ihren selbstsüchtigen Neigungen einer Verfassung von so sublimer Form nicht fähig wären. Aber nun kommt die Natur dem verehrten, aber zur Praxis ohnmächtigen allgemeinen, in der Vernunft gegründeten Willen, und zwar gerade durch jene selbstsüchtige Neigungen, zu Hülfe, so, daß es nur auf eine gute Organisation des Staats ankommt (die allerdings im Vermögen der Menschen ist), jener ihre Kräfte so gegeneinander zu richten, daß eine die anderen in ihrer zerstörenden Wirkung aufhält, oder diese aufhebt: so daß der Erfolg für die Vernunft so ausfällt, als wenn beide gar nicht da wären, und so der Mensch, wenn gleich nicht ein moralisch guter Mensch, dennoch ein guter Bürger zu sein gezwungen wird.« Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf (1795), Erster Zusatz, 1 (Hervorhebungen im Text). 28 Isaiah Berlin, Freiheit. Vier Versuche (1969), 1995, S. 197 ff. Berlins Freiheitsdefinition ist aus der Sicht eines starken Wertebezugs, etwa von Charles Taylor, Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, 1988, S. 118 ff., aber auch aus der republikanischen Perspektive bürgerschaftlicher Tugend, etwa von Michael Sandel, Liberalismus und Republikanismus. Von der Notwendigkeit der Bürgertugend, 1995, insbes. S. 55 ff., kritisiert worden. 29 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, 1976, S. 60 f.

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ANTER, ANDREAS, geboren 1960; Promotion 1994, Habilitation 2003; nach Vertretungen in Leipzig und Bremen seit 2008 Professor für Politikwissenschaft an der Universität Leipzig. Ausgewählte Veröffentlichungen: Max Webers Theorie des modernen Staates. Herkunft, Struktur und Bedeutung, Berlin 1995 (2. Aufl. 1996); Die normative Kraft des Faktischen. Das Staatsdenken Georg Jellineks, Baden-Baden 2004 (Hrsg.); Max Webers Staatssoziologie. Positionen und Perspektiven, Baden-Baden 2007 (Hrsg. mit Stefan Breuer); Die Macht der Ordnung. Aspekte einer Grundkategorie des Politischen, Tübingen 2004 (2. Aufl. 2007). DREIER, HORST, geboren 1954; Promotion 1985, Habilitation 1989; 1991 Professor für Öffentliches Recht in Heidelberg, 1992 Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Verwaltungslehre am Fachbereich Rechtswissenschaft I der Universität Hamburg, seit 1995 Ordinarius für Rechtsphilosophie, Staats- und Verwaltungsrecht an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Ausgewählte Veröffentlichungen: Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, Baden-Baden 1986 (2. Aufl. 1990); Hierarchische Verwaltung im demokratischen Staat. Genese, aktuelle Bedeutung und funktionelle Grenzen eines Bauprinzips der Exekutive, Tübingen 1991; Dimensionen der Grundrechte. Von der Wertordnungsjudikatur zu den objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalten, Hanno-

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ver 1993; Herausgeber und Mitautor eines dreibändigen Grundgesetz-Kommentars, Tübingen 1996 ff. (Bd. I: 1996, 2. Aufl. 2004; Bd. II: 1998, 2. Aufl. 2006; Bd. III: 2000, 2. Aufl. 2008); Gilt das Grundgesetz ewig? Fünf Kapitel zum modernen Verfassungsstaat, München 2009. HOFMANN, HASSO, geboren 1934; Promotion 1964, Habilitation 1970; 1976 bis 1992 Ordinarius für Rechtsphilosophie, Staats- und Verwaltungsrecht an der Bayerischen Julius-Maximilians-Universität Würzburg, danach bis zur Emeritierung 2002 Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Rechts- und Staatsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ausgewählte Veröffentlichungen: Legitimität gegen Legalität. Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts, Berlin 1964 (5. Aufl. 2010; ital. Neapel 1999); Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, Berlin 1974 (4. Aufl. 2003; ital. Mailand 2007); Legitimität und Rechtsgeltung. Verfassungstheoretische Bemerkungen zu einem Problem der Staatslehre und der Rechtsphilosophie, Berlin 1977; Rechtsfragen der atomaren Entsorgung, Stuttgart 1981; Bilder des Friedens oder Die vergessene Gerechtigkeit, München 1997 (2. Aufl. 2008); Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, Darmstadt 2000 (4. Aufl. 2008, span. Bogotá 2002; ital. Rom–Bari 2003, 5. Aufl. 2007); Recht und Kultur. Drei Reden, Berlin 2009. ISSING, OTMAR, geboren 1936; Promotion 1961, Habilitation 1965; Professor für Volkswirtschaftslehre an den Universitäten Erlangen-Nürnberg und Würzburg, Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, des Direktoriums der Deutschen Bundesbank (1990–1998) und des Direktoriums der Europäischen Zentralbank (1998–2006); Vorsitzender des Kuratoriums des House of Finance und Präsident des Center for Financial Studies, Universität Frankfurt/M., Vorsitzender der Expertengruppe der Bundesregierung Neue Finanzarchitektur sowie International Advisor Goldman Sachs Int. (2006). Ausgewählte Veröffentlichungen: Einführung in die Geldpolitik, München 1981 (6. Aufl. 1996); Einführung in die Geldtheorie, München 1984 (14. Aufl. 2006); Der Euro – Geburt, Erfolg, Zukunft, München 2008 (engl.: The Birth of the Euro, Cambridge 2008). GRAF KIELMANSEGG, PETER, geboren 1937; Promotion 1964, Habilitation 1971; Professuren für Politikwissenschaft an den Universitäten Darmstadt, Köln, Mannheim; Gastprofessuren an der Georgetown University Washington D.C. und am Bologna Center der Johns Hopkins University; Emeritierung 2003; Präsident der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.

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Ausgewählte Veröffentlichungen: Deutschland und der Erste Weltkrieg, Frankfurt/M. 1968; Volkssouveränität, Stuttgart 1977; Nachdenken über Demokratie, Stuttgart 1980; Das Experiment der Freiheit, Stuttgart 1988; Lange Schatten. Vom Umgang der Deutschen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, Berlin 1989; Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland, Berlin 2000; Die Instanz des letzten Wortes. Verfassungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilung in der Demokratie, Stuttgart 2005. LEPSIUS, OLIVER, geboren 1964; Promotion 1993, Habilitation 2000 an der Universität München für Öffentliches Recht, ausländisches öffentliches Recht und Rechtsphilosophie; 2001 Professor für Öffentliches Recht in Heidelberg, seit 2002 Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Allgemeine und Vergleichende Staatslehre an der Universität Bayreuth. Ausgewählte Veröffentlichungen: Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung. Methodenentwicklungen in der Weimarer Republik und ihr Verhältnis zur Ideologisierung der Rechtswissenschaft unter dem Nationalsozialismus, München 1994; Verwaltungsrecht unter dem Common Law, Tübingen 1997; Steuerungsdiskussion, Systemtheorie und Parlamentarismuskritik, Tübingen 1999; Besitz und Sachherrschaft im öffentlichen Recht, Tübingen 2002; Rechtswissenschaftstheorie, Tübingen 2008 (Hrsg. mit Matthias Jestaedt). MAIER, HANS, geboren 1931; Promotion 1957, Habilitation 1962; 1962 Professor für politische Wissenschaft an der Bayerischen Ludwig-Maximilians-Universität München; 1970–1986 Bayerischer Staatsminister für Unterricht und Kultus; 1988–1999 Professor für christliche Weltanschauung, Religions- und Kulturtheorie in München, Emeritierung 1999. Ausgewählte Veröffentlichungen: Revolution und Kirche, Freiburg/Br. 1959 (5. Aufl. 1988 = Gesammelte Schriften, Bd. I, München 2006); Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, Neuwied/Rh.–Berlin 1966 (2. Aufl. 1980 = Gesammelte Schriften, Bd. IV, München 2009); Wie universal sind die Menschenrechte?, Freiburg/Br. 1997; Politische Religionen (= Gesammelte Schriften, Bd. II), München 2007; Kultur und Politik (= Gesammelte Schriften, Bd. III), München 2008; Die Deutschen und ihre Geschichte (= Gesammelte Schriften, Bd. V), München 2010. MOULINES, CARLOS ULISES, geboren 1946; Promotion 1975; nach Stationen in Mexiko, Kalifornien, Bielefeld und Berlin seit 1993 Ordinarius für Philosophie, Logik und Wissenschaftstheorie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ausgewählte Veröffentlichungen: Exploraciones metacientíficas, Madrid 1982; (mit Wolfgang Balzer und Joseph D. Sneed) An Architectonic for Science, Dordrecht

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1987; (mit Jose A. Diez) Fundamentos de Filosofia de la Ciencia, Barcelona 1997 (3. revidierte Aufl. 2008); La Philosophie des Sciences – L’invention d’une discipline, Paris 2006; Die Entwicklung der modernen Wissenschaftstheorie – Eine historische Einführung, Münster 2008. MÜNKLER, HERFRIED, geboren 1951; Promotion 1981, Habilitation 1987; seit 1992 Professor für Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin; Gründungsmitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften; zahlreiche Gastprofessuren. Ausgewählte Veröffentlichungen: Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, Frankfurt/M. 1982; Die neuen Kriege, Reinbek bei Hamburg 2002; Über den Krieg. Stationen der Kriegsgeschichte im Spiegel ihrer theoretischen Reflexion, Frankfurt/M. 2002; Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – Vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin 2005; Der Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie, Weilerswist 2006; Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin 2009. OTTMANN, HENNING, geboren 1944; Promotion 1977, Habilitation 1983; nach Stationen in Augsburg und Basel seit 1995 Ordinarius für Politikwissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Politischen Theorie und Philosophie am Geschwister-Scholl-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München; Emeritierung 2010. Ausgewählte Veröffentlichungen: Individuum und Gemeinschaft bei Hegel, Berlin– New York 1977; Philosophie und Politik bei Nietzsche, Berlin–New York 1987 (2. Aufl. 1989); Politische Philosophie des 20. Jahrhunderts (zus. mit Karl Graf Ballestrem), München 1990; Nietzsche-Handbuch, Stuttgart–Weimar 2000; Geschichte des politischen Denkens von den Anfängen bei den Griechen bis auf unsere Zeit, Stuttgart–Weimar 2001 ff., bisher erschienen 7 Bände. SCHULZE-FIELITZ, HELMUTH, geboren 1947; Promotion 1977; Habilitation 1986; nach einer Professur  an der Universität der Bundeswehr München seit 1994 Ordinarius für Öffentliches Recht, Umweltrecht und Verwaltungswissenschaften an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Ausgewählte Veröffentlichungen: Sozialplanung im Städtebaurecht – Am Beispiel der Stadterneuerung –, Königstein/Ts. 1979; Der informale Verfassungsstaat. Aktuelle Beobachtungen des Verfassungslebens der Bundesrepublik Deutschland im Lichte der Verfassungstheorie, Berlin 1984; Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung – besonders des 9. Deutschen Bundestages (1980–1983), Berlin 1988; Was

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macht die Qualität öffentlich-rechtlicher Forschung aus?, JöR 50 (2002), S. 1–68; Staatsrechtslehre als Wissenschaft, Berlin 2007 (Hrsg.). WILLOWEIT, DIETMAR, geboren 1936; Promotion 1966, Habilitation 1971; Professor für Deutsche Rechtsgeschichte, Bürgerliches Recht und Kirchenrecht an der Freien Universität Berlin 1974, in Tübingen 1979 und in Würzburg 1984–2004. Präsident des Johann-Gottfried-Herder-Forschungsrates 1996–2002, Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 2006–2010. Ausgewählte Veröffentlichungen: Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt, Köln–Wien 1975; Deutsche Verfassungsgeschichte, München 1990 (6. Aufl. 2009); Standesungleiche Ehen des regierenden hohen Adels in der neuzeitlichen deutschen Rechtsgeschichte, München 2004; Das Eigentum an Kulturgütern aus badischem Hofbesitz (Gemeinsam mit Adolf Laufs u. a.), Stuttgart 2008; Staatsbildung und Jurisprudenz. Ausgewählte Aufsätze, 2 Bde., Stockstadt/M. 2010.

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A Abderitism 256 Absolutismus 5 f., 9, 135 f., 141, 199 ff. – Dezision des Souverän 5 f., 9, 199 ff. – frühe Neuzeit 199 ff. – staatstheoretisches Gespenst 200 f., 216 ff. Abwägung 60, 68 f., 195 Académie des Sciences 111, 118, 137, 139, 142 Agrarverfassung 64 f. Akademien der Wissenschaften 111, 118, 137 ff. – Académie des Sciences 111, 118, 137, 139, 142 – Accademia Platonica 138 f. – Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften 225, 243 – Menschheitsbeglückung 141 f. – Preisfragen 140 f. – Preußische Akademie der Wissenschaften 139 ff. – Royal Society 111, 118, 137, 139, 142 Anakýklosis politeíon 255 f. Appellationen 202 Aristokratie 253 ff., 256 Aristotelische Herrschafts-/Verfassungsformen 254 ff. Aristotelische Klugheitslehre 14 Aristotelisches Sechsfelder-Schema 254 ff. Aristotelismus 138, 253 ff.

Atlantis 129 ff. – Atlantis-Mythos 129 ff. – Neu-Atlantis 133 ff. – universelles 147 ff. Atomare Zwischenlager 185 Aufklärung 129 ff., 200, 204 f., 254 – Atlantis 129 ff. – Entmoralisierung des Wissenschaftsbegriffs 132 – gesellschaftliche Gleichheit 145 f. – Globalisierung 145 – Haus Salomons 133 ff., 148 – Vereinigung der Wissenschaftler 148 f. Ausnahmezustand 4, 8, 15 – als Regelzustand 4, 8, 15 – Souverän 4 Außeruniversitäre Forschung 77 f., 80 ff., 97 ff., 104 f., 235 f.

B Baconism 137, 141 f. Bayerischer Schulentwicklungsplan 152, 155 f. Begriff der Politik 3 ff., 17 ff., 68 ff., 143, 249 ff. – Ende der Politik 30 f. – existentielle Revolte 23 ff. – Freiburger Schule 22 – Freund-Feind-Unterscheidung 8 f., 24 ff.

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– – – –

Frieden als Ziel der Politik 8, 18, 30 Funktionalismus 32 Geschichte 18 ff. Identifikation von Staat und Politik 18 ff., 23, 32 – Machtparadigma 20 ff. – nach Carl Schmitt 8 f., 23 ff., 27 ff., 32, 201 – nach Georg Jellinek 18 ff., 23 – nach Max Weber 20 ff., 30 f., 68 ff., 256 – nach Niklas Luhmann 31 f. – Normativität 19 f., 29 ff. – Ordnungsdenken 27 ff. – Politik als „Kampf“ 8 f., 21 f., 24 f. – Politik als Kulturphänomen 27 – Soziale Mathematik 143 Begriff des Staates 18 ff., 129 ff., 254 ff. – Identifikation von Staat und Politik 18 ff., 23, 32 – Kreislauf der Verfassungsformen 255 f. – Liberalismus 254, 256 ff. – platonischer Idealstaat 129 ff., 165 – Republikanismus 254, 256 ff. – Staatszwecke 132 – Verfassungsformen nach Aristoteles 254 ff. Bensalem 134 Beratungsarrangements siehe Politikberatung Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften 225, 243 Beruf der Wissenschaft 52 ff. Berufspolitiker 69, 110, 125 f. Berufung 52 f. Bildungsexpansion 152, 156 ff. Bildungsplanung 86 ff., 151 ff. – Bayerischer Schulentwicklungsplan 152, 155 f. – Bildungsbericht 70, 153 – Bildungsgesamtplan 152 f. – Bologna-Prozess 86 f. – Deutscher Bildungsrat 87, 152 f. – Geburtenrückgang 155 f., 158 – Numerus clausus 159 ff. – Umbau der Universitäten 86 ff. – Wettbewerbsstrukturen 88 ff. – Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen (ZVS) 160 Billigkeit 15, 217 Bologna-Prozess 86 f. Bundestag 64, 97, 184 f., 233 f., 237 f. Bundesverfassungsgericht 58 f. Fn. 130, 68 f. Fn. 172, 74, 102 ff., 159 ff., 190 f., 194 – Aussetzung der Freiheitsstrafe 190 f. – Forschungsevaluation 103 f. – Numerus clausus 159 ff.

– Prognose-, Wertungs- und Einschätzungsspielraum 194 – Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseingriffen 58 f. Fn. 130, 68 f. Fn. 172 – Wissenschaftsfreiheit 74, 102 ff. Bush-Administration 112 f.

C Chief Scientific Advisor 240 f. Christentum 5, 9, 55 Fn. 109, 59, 69 Fn. 175, 169 ff. Club of Rome 124 f.

D Deliberation 10 ff. Delphi-Methode siehe Prognosen Demokratie 4, 8 ff., 15, 26, 29, 31, 40 Fn. 22, 84, 112 f., 145, 180, 222 ff., 236 ff., 242, 244, 254 ff. – als Parteidiktatur des Demos 255 – Ausnahmezustand 4, 8, 15 – deliberative 10 – Gemeinwohl 247, 254 ff. – Wahllogik als Machtlogik 222 ff. – wertskeptizistische 9 Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) 80, 82 f., 96 ff. »Deutsche« Physik 49 Deutscher Bildungsrat 87, 152 f. Dezisionismus 3 ff., 199 ff. – absolutistischer Herrscher 5 f., 199 ff. – Dramatisierung 4 ff. – feindlicher Bruder der Diskurstheorie 11 ff. – Herakles am Scheidewege 12 f. – Kontingenz 5 f., 11 f. – Stolz des Subjekts 12, 14 – Wunderglaube 15 Diktatur 4, 9, 115 ff., 255, 258 Diskurstheorie 10 ff. – feindlicher Bruder des Dezisionismus 11 ff. – Gleichheit der Teilnehmer 10 f. – Klugheitslehre des Aristoteles 14 – Konsenserwartung 11 – Rationalitätserwartung 11 f. – vordiskursive Voraussetzungen 11 Dominium 204 Dozenten 23, 50 ff. Drittmittelabhängigkeit 91 ff., 103 f. Dualismus von Sein und Sollen 44 ff., 53

E Eingriffe in das Marktgeschehen 165 ff., 169 ff., 172 ff.

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– marktkonforme Maßnahmen 173, 176 – marktwidrige Maßnahmen 174 ff. Ende der Politik 30 f. Enquêtekommissionen des Bundestages 233 f., 237 f., 243 Ententungslehre 7 Entmoralisierung des Wissenschaftsbegriffs 132 Epochen der Menschheitsgeschichte 7, 55 Fn. 109, 144 f., 199 ff., 218 Ethikrat 225 f. Fn. 8 Ethischer Evolutionismus 46 f. Europäische Währungsunion 178 f. Existentielle Revolte 23 ff. Existenzialismus 7 Experten-Diktatur 115 ff., 242 f. Expertendilemma 240 Expertenkommissionen 85, 230 ff. Exzellenzinitiativen 89 f., 96, 103 f.

F Fachdisziplin 45 Fall Lyssenko 49 f., 112 Finanzmärkte 176 Forschung 35 ff., 71 ff., 107 ff., 137 ff., 148 f., 222 ff., 234 ff. – Akademien der Wissenschaften 111, 118, 137 ff. – außeruniversitäre 77 f., 80 ff., 97 ff., 104 f., 235 f. – Drittmittelabhängigkeit 91 ff., 103 f. – Evaluation 85, 89 ff., 97, 103 f. – Fall Lyssenko 49 f., 112 – Finalisierung 95 – Finanzierung 80 ff., 91 ff., 103 f., 148 f., 243 – Forschungsverbote 101 f. – Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren e. V. 81, 99 – Industrieforschung 77 f., 94, 97 – Industriegesellschaft 75 f., 77 f., 84, 99 ff. – intellektuelle Rechtschaffenheit 49 ff. – konstitutive Bedeutung von Wertbeziehungen 38 ff. – kritische Funktion 63 ff., 68 – Macht (Scientia est potentia) 118 f. – Naturwissenschaft 75 ff., 107 ff., 139 f., 182 – Objektivität 36, 39 Fn. 18, 41 ff., 44 ff., 52 ff., 193, 195, 227 f. – Offenlegung von Wertkonflikten 64 f. – ökonomisches Gesetz 163 ff. – Philosophenschulen 137 f. – politisches Engagement von Forschern 122 ff., 143 – Ressortforschung 78 ff., 83, 97 ff., 105, 234 f., 236, 238, 243 – Sinnfrage 62 ff.

– spezifische Selektivität 40 – Steuerung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) 96 f. – Stimmigkeitsprüfung zur Selbstbesinnung 61 ff., 66 ff. – System Althoff 75 f. – Tatsachenwissenschaft 48, 54 – Themenwahl 38 ff., 105 – Umbau der Universitäten 86 ff. – universitäre Forschung 76 f., 83, 88 ff., 94, 96 f., 103 – Untersuchungsgegenstand 38 f., 40 Fn. 22 u. 25, 41 f., 109 – (Un)Vorhersehbarkeit von Forschungsergebnissen 115, 118, 120 ff. – Verantwortungsethik 69 f., 256 – Wahrheit 44 f., 48 Fn. 65, 49, 53, 65, 67, 74, 97, 129, 142 f., 222 ff. – Wandlung der politischen Rahmenbedingungen 75, 83 ff., 105 f. – Wertfreiheitspostulat 35 ff., 108 – Wettbewerbsstrukturen 88 ff. – Wissenschaftsfreiheit 73 ff., 85 f., 101 ff., 105 f., 113 f., 118 Forschungsfreiheit siehe Freiheit der Wissenschaft/ Wissenschaftsfreiheit Forschungsverbote 101 f. Französische Revolution 143 ff., 256 Fraunhofer-Gesellschaft 81 f., 99 Freiburger Schule 22 Freiheit der Wissenschaft 73 ff., 85 f., 101 ff., 105 f., 113 f., 118 – als Wert an sich 113 f., 118 f. – Begrenzung durch Menschenwürdegarantie 101 f. – Bundesverfassungsgericht 74, 102 ff. – Forschungsverbote 101 f. – Verteidigung gegen politische Eingriffe 113 Freund-Feind-Unterscheidung 8 f., 24 ff. Frieden als Ziel der Politik 8, 18, 30 Frühe Neuzeit 199 ff., 256 – Absolutismus 199 ff. – Dezisionismus 199 ff. – Fürstenspiegel 256 – Jurisprudenz 204 – Monarchie 199 ff. – Partikularrechte 204 – Privilegien 201, 204, 206 f., 214 f., 217 Frühmoderne 251 Fürst 140, 199 ff. – Approbation der Ratsbeschlüsse 209 f., 212 f. – Gnadenakte 213 f., 217 f. Fürstenspiegel 256

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G Gebrechensenat des Hochstifts Würzburg 205 f., 208 ff. – Approbation der Ratsbeschlüsse 209 f., 212 f. – Aspekte der Beratung 210 ff. – Themenspektrum und Verfahren 208 ff. Gemeinwohl 217, 238 f., 245 ff. – als Komplementärbegriff zur Gerechtigkeit 248 f., 251 f. – als Qualitätskriterium der Verfassungsform 254 ff. – als regulative Idee politischen Handelns 253 – Aristokratie 253 f. – Beitrag der Wissenschaft 258 f. – Intendierung und Effekt 256, 259 – Kanzlerin »aller Deutschen« 252 – Kontingenzformel 246 – Messbarkeitsdefizite 248 – Offenheit des Begriffs 245 ff., 249 f. – Opposition 250 ff. – Selbstbindungswirkung der Gemeinwohlsemantik 249 ff. – Unmöglichkeit einer Definition 245 ff. – Utopie 247, 255 Gemeinwohlorientierung 246 f., 249, 253 ff. Gemeinwohlsemantik 249 ff. – Selbstbindungswirkung 249 ff. – Unterteilung der politischen Klasse 249 Gerechtigkeitsbegriff als Komplementärbegriff zum Gemeinwohl 248 f., 251 f. Gesinnungsethik 69 f. Gesinnungslosigkeit 44, 69 Gewirr der Wertungen 59, 64 Gewissen 43 Fn. 42, 65 f. Fn. 157, 67 Fn. 169, 68 Glaubwürdigkeit 49, 177 f., 183, 224, 240, 249 Gleichheit, gesellschaftliche 145 f. Gnade Gottes 205 Gott 6, 9, 69 Fn. 175, 132, 140, 205 Götter, alte 55 f., 65 Göttinger Achtzehn 123, 125

H Handlungsfolgen 70 Hartz-Kommission 230 ff. Haus Salomons 133 ff., 148 Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren e. V. 81, 99 Herakles am Scheidewege 12 f. Herbstgutachten 183 Fn. 6, 185 Herrschaftsformen nach Aristoteles 254 ff. Hochschulexpansion 156 f., 158 Hochstift Würzburg 205 f., 208 ff., 217

Höchstpreise 172, 174 f. Hofratskollegien 202 ff., 205 ff. – Appellationen 202, 209, 214, 216 – Gebrechensenat des Hochstifts Würzburg 205 f., 208 ff. – Protokolle 205 ff. – Supplikationen 202, 209, 214, 216

I Idealstaat, platonischer 129 ff. Identifikation von Staat und Politik 18 ff., 23, 32 Ideologien 49, 108 Imperative 45, 47 f., 247 Imperium 204 Industrieforschung 77 f., 94, 97 Industriegesellschaft 75 f., 77 f., 84, 94, 99 ff. Infragestellung des Staates 29 Insel Atlas siehe Atlantis Intellektuelle Rechtschaffenheit des Wissenschaftlers 49 ff. Interessen 20, 30, 38, 48 f., 75, 91 ff., 124, 180, 231, 239, 246, 249 ff. Irrationalismus 6, 12, 62 Fn. 145 Iurisdictio 204 Iustitia 133

K Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft 80 Kampf der Götter 53 ff. Kanonisches Zinsverbot 169 ff. Kanzlerin „aller Deutschen“ 252 Kathederprophetie 51 f. Kathederwertungen 50 ff., 67 Kausalsätze 59 Kernphysik 121 f. Klarheit 64 ff., 225 f. Fn. 8 Klugheitslehre des Aristoteles 14 Kompromiss 60, 64 f., 69 Konsenserwartung 11 Konstruktivismus 168 f. Kontingenz 5 f., 11 f. Kreislauf der Verfassungsformen 255 f. Krise/krisis 4 Kritische Funktion der Wissenschaft 63 ff., 68 Kurfürstentum Brandenburg 205 ff. – Bündnis mit Schweden 207 – Geheimer Rat 206 ff.

L Landesherr 140, 199 ff. – Approbation der Ratsbeschlüsse 209 f., 212 f. – Gnadenakte 213 f., 217 f. Legibus solutus 200 f.

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Letztentscheidung(en) 56, 67, 70 Liberaler Rechtsstaat 176 f. Liberalismus 27, 252 f., 254 ff. Lohngesetz 166 f., 174

M Macht 5 ff., 20 ff., 118 f., 141, 163 ff., 199 ff., 222 ff. – absolute 5 f., 141, 199 ff. – Begrenzung durch ökonomisches Gesetz 163 ff. – Dynamik 7 – Hypostasierung 22 – kommunikative 10 – Paradigma 20 ff. – Wahllogik als Machtlogik 222 ff. – Wissenschaft (Scientia est potentia) 118 f. Managementverwaltung 88 f., 102 f. Markt 165 ff., 169 ff., 172 ff., 174 ff., 258 – als Entdeckungsverfahren 175 f. – Eingriffe in das Marktgeschehen 165 ff., 169 ff., 172 ff. – institutionelles Arrangement 258 – liberaler Rechtsstaat 176 f. – Marktwirtschaft 173, 175 f. Marktkonforme Maßnahmen 173, 176 Marktwidrige Maßnahmen 174 ff. Marktwirtschaft 173, 175 f. Max-Planck-Gesellschaft 80 f., 96, 99 Menschenbrust 45 Menschenwürde 101 f., 139 Menschheitsgeschichte, Epochen 7, 55 Fn. 109, 144 f., 199 ff., 218 Messbarkeitsdefizite von Gemeinwohl 248 Mindestlohn 172 ff. Mindestpreise für Nahrungsmittel 172 f. Ministerialbürokratie 221, 224, 226 f., 238 Miteinander-Reden siehe Diskurstheorie Moderne 4, 27 f., 62 ff., 75, 84, 110 f., 132, 167, 242 – Ausnahmezustand als Regelzustand 4, 8, 15 – Industrie- und Interventionsstaat 75 – Sinn der Wissenschaft 62 ff. – Technologie 110 f. Monarchie 135 f., 199 ff., 254 f. – Absolutismus 135 f., 200 f., 216 ff. – frühe Neuzeit 199 ff. – Gemeinwohlorientierung 254 f. – Gnade Gottes 205 – Verrechtlichung 202

N Nationalökonomie 45, 47, 167 Fn. 12 Naturwissenschaft 75 ff., 107 ff., 139 f., 182

– – – – – –

Experten-Diktatur 115 ff., 242 f. Kernphysik 121 f. Paradigma 121 politikfreie 105 f., 107 ff. politische Inkompetenz der Forscher 114 politisches Engagement von Forschern 122 ff., 143 – (Un)Vorhersehbarkeit von Forschungsergebnissen 115, 118, 120 ff. Nebenfolgen 60 f., 64, 68 Neolamarckismus siehe Fall Lyssenko Neuzeit 5 ff., 9 ff., 86, 129 ff., 202 – Aufklärung 129 ff., 133 ff., 139 ff., 145 f., 148 f., 200, 204 f., 254 – Dezisionismus 5 ff. – Diskurstheorie 10 ff. – politische Theologie 9 – Rationalismus 133 – Subjektivität 9 – Teleologieschwund 6 f. – Verlust der Gemeinsamkeiten (Ententungslehre) 7, 11 f. Nihilismus 5, 7, 37, 42 ff. Numerus clausus 159 ff.

O Oberwolf 6 Objekte wissenschaftlicher Untersuchungen 38 f., 40 Fn. 22 u. 25, 41 f., 109 Objektivität 36, 39 Fn. 18, 41 ff., 44 ff., 52 ff., 193, 195, 227 f. Ochlokratie 255 Offenheit des Gemeinwohlbegriffs 245 ff., 249 f. Offenlegung von Wertkonflikten 64 f. Ökonomisches Gesetz 163 ff. – als Gegenkraft zur Macht 165 f. – als Spiegel wirtschaftlicher Entscheidungen 175 – ehernes Lohngesetz 166 f., 174 – Europäische Währungsunion 178 f. – Höchstpreise 172, 174 f. – marktkonforme Maßnahmen 173, 176 – marktwidrige Maßnahmen 174 ff. – Mindestlohn 172 ff. – Mindestpreise für Nahrungsmittel 172 f. – Produktivität 64, 168, 172 – Rente 164, 168 – Spannungsverhältnis zum politischen Willen 163 ff. Oligarchie 255 Opposition 250 ff. Ordnungsdenken siehe Begriff der Politik/ Politikbegriff

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P Paradigma, naturwissenschaftliches 121 Parlamentarismuskritik 8 f. Partikularinteressen 249 ff. Partikularrechte 204 Philosophenkönige 129 ff. Philosophenschulen 137 f. Planwirtschaft 171 f. Fn. 27, 177, 180 Platonischer Idealstaat 129 ff. Politie 255 Politik 3 ff., 17 ff., 68 ff., 71 ff., 107 ff., 129 ff., 151 ff., 163 ff., 181 ff., 214 ff., 219 ff., 245 ff. – siehe auch Begriff der Politik/Politikbegriff, Politikberatung, politischer Wille – als „Kampf“ 8 f., 21 f., 24 f. – als Kulturphänomen 27 – Begriff 3 ff., 17 ff., 68 ff., 143, 249 ff. – Bildungsplanung 86 ff., 151 ff. – Eingriffe in das Marktgeschehen 165 ff., 169 ff., 172 ff. – Ende der Politik 30 f. – Europäische Währungsunion 178 f. – Frieden als Ziel der Politik 8, 18, 30 – Identifikation von Staat und Politik 18 ff., 23, 32 – Interessen 20, 30, 143, 180, 231, 249 ff., 257 – Politikberatung 78 ff., 97 ff., 199 ff., 219 ff., 251 – Politikwissenschaft 17 ff. – politische Klasse 249 – politische Ökologie 124 – politische Theologie 9 – politische Verwertbarkeit von Prognosen 187 f., 189 ff. – politischer Wille 163 ff. – politisches Engagement von Forschern 122 ff., 143 – Soziale Mathematik 143 – Wahllogik als Machtlogik 222 ff. – Wirtschaftspolitik 163 ff., 183, 218, 229, 241 – Wissenschaftspolitik 71 ff. Politik als „Kampf“ 8 f., 21 f., 24 f. Politik als Kulturphänomen 27 Politikbegriff 3 ff., 17 ff., 68 ff., 143, 249 ff. – Ende der Politik 30 f. – existentielle Revolte 23 ff. – Freiburger Schule 22 – Freund-Feind-Unterscheidung 8 f., 24 ff. – Frieden als Ziel der Politik 8, 18, 30 – Funktionalismus 32 – Geschichte 18 ff. – Identifikation von Staat und Politik 18 ff., 23, 32

– Machtparadigma 20 ff. – nach Carl Schmitt 8 f., 23 ff., 27 ff., 32, 201 – nach Georg Jellinek 18 ff., 23 – nach Max Weber 20 ff., 30 f., 68 ff., 256 – nach Niklas Luhmann 31 f., 251 – Normativität 19 f., 29 ff. – Ordnungsdenken 27 ff. – Politik als „Kampf“ 8 f., 21 f., 24 f. – Politik als Kulturphänomen 27 – Soziale Mathematik 143 Politikberatung 78 ff., 97 ff., 199 ff., 219 ff., 251 – angelsächsische Länder 221, 238, 240 f. – Chief Scientific Advisor 240 f. – deutsche Besonderheiten 236 ff. – deutsche Fürstenstaaten 199 ff. – Enquêtekommissionen des Bundestages 233 f., 237 f., 243 – Expertendilemma 240 – Expertenkommissionen 230 ff. – Hartz-Kommission 230 ff. – historische Entwicklung in Deutschland 221, 236 ff. – Ministerialbürokratie 221, 224, 226 f., 238 – Regierung Schröder 230 ff., 237 – Ressortforschung 78 ff., 97 ff., 234 f., 236, 238, 243 – Sachverständigenkommissionen 227 f., 236 f. – Sachverständigenräte 183 Fn. 6, 228 ff., 237, 241, 251 – Staatsdominanz 237 f., 241, 243 – Think Tanks 221, 235 f. – Typologie der Beratungsarrangements 225 ff. – Wahllogik als Machtlogik 222 ff. – Wahrheitslogik 222 ff., 234 – wissenschaftliche Beiräte der Ressorts 226 f., 230, 236 f. Politikwissenschaft 17 ff. Politische Klasse 249 Politische Ökologie 124 Politische Theologie 9 Politische Verwertbarkeit von Prognosen 187 f., 189 ff. Politischer Wille 163 ff. – Eingriffe in das Marktgeschehen 165 ff., 169 ff., 172 ff. – Europäische Währungsunion 178 f. – Höchstpreise 172, 174 f. – Konstruktivismus 168 f. – Mindestlohn 172 ff. – Mindestpreise für Nahrungsmittel 172 f. – Spannungsverhältnis zum ökonomischen Gesetz 163 ff. – Zinsverbot 169 ff.

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Politisches Engagement von Forschern 122 ff., 143 – Club of Rome 124 f. – Göttinger Achtzehn 123, 125 – Kathederprophetie 51 f. – politische Ökologie 124 – Professoren-Prophetie 51 f. – Pugwash-Bewegung 122 f., 125 – Russell-Einstein-Manifest 122 f. – Verwissenschaftlichung der Gesellschaft 115 ff., 125 f. Polytheismus der Werte 9, 53 ff. Postulat der Wertfreiheit 35 ff., 108 – Bezug zur Politik 68 ff. – Dualismus von Sein und Sollen 44 ff., 53 – Gesinnungsethik 69 f. – intellektuelle Rechtschaffenheit 49 ff. – Kathederprophetie 51 f. – Missdeutungen 37 ff. – Nihilismus 37, 42 ff. – Objekte wissenschaftlicher Untersuchungen 38 f., 40 Fn. 22 u. 25, 41 f. – Polytheismus der Werte 9, 53 ff. – Selbstverständlichkeitscharakter 36 – Themenwahl 38 ff. – Verantwortungsethik 69 f., 256 – Wertdiskussionen 37, 56 Fn. 116, 57 ff., 64, 66 Preisfragen 140 f. Preußische Akademie der Wissenschaften 139 ff. Privilegien 137, 201, 204, 206 f., 214 f., 217 Produktivität 45, 64, 168, 172 Professoren 50 ff., 83, 85, 88 f., 106 Professoren-Prophetie 51 f. Prognose-, Wertungs- und Einschätzungsspielraum siehe Bundesverfassungsgericht Prognosen 147, 181 ff. – Delphi-Methode 187 – Herbstgutachten 183 Fn. 6, 185 – Lehrerbedarf 186, 191 f. – Perfektionierung 184 ff. – politische Verwertbarkeit 187 f., 189 ff. – Prognosediskurs 193 ff. – qualitativ-heuristische Verfahren 184, 187 ff. – quantitative Methoden 184 ff. – Relationsbedürftigkeit 205 ff. – Verknüpfung von Wissenschaft und Politik 182 f. – Wachstumsprognosen 185, 194 – Wahlprognose 184 f. – Zeitproblem 184 f. Prophetie 39, 51 f., 54 Fn. 101 Prostitution 39 Pugwash-Bewegung 122 f., 125

R Radioaktivität 121 f., 185 Rationalismus 133 Rationalität 55, 63, 70, 75, 91, 182, 200, 220, 222 ff., 242 ff. Rationalitätserwartung 11 f. Ratskollegien 202 ff., 205 ff. – Appellationen 202 – Gebrechensenat des Hochstifts Würzburg 205 f., 208 ff. – Protokolle 205 ff. – Supplikationen 202, 209, 214, 216 Ratsprotokolle 205 ff. Rechenschaft 66 f., 222 Rechtsstaat, liberaler 176 f. Regierung Schröder 230 ff., 237, 250 Relationsbedürftigkeit von Prognosen 205 ff. Religion 5, 7 ff., 15, 27, 42 Fn. 32, 55 Fn. 109, 69 Fn. 175, 85 f., 135 f., 139 f., 144, 167 f. Fn. 12, 169 ff., 207 Rente 164, 168, 194, 250 Republikanismus 254, 256 ff. République universelle des sciences 147 ff. Ressortforschung 78 ff., 83, 97 ff., 105, 234 f., 236, 238, 243 Royal Society 111, 118, 137, 139, 142 Russell-Einstein-Manifest 122 f.

S Sachverständigenkommissionen 227 f., 236 f. Sachverständigenrat zur Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 183 Fn. 6, 228 ff., 237 Sachverständigenräte 183 Fn. 6, 228 ff., 237, 241, 251 Scholastik 138, 169 ff. Sechsfelder-Schema des Aristoteles 254 ff. Sein-Sollen-Dualismus 44 ff., 53 Selbstbesinnung 54 Fn. 101, 62 f., 66 ff. Selbstbindungswirkung der Gemeinwohlsemantik 249 ff. Sicherheit als Staatszweck 132 Sinn der Wertfreiheit 37 ff., 52 ff. Sinn der Wissenschaft 62 ff. Souverän 4 ff., 174 f., 200 f. – Ausnahmezustand 4 – legibus solutus 200 f. – Schranken 201 f. Soziale Mathematik 143 Staat 5, 18 ff., 23 ff., 29, 32, 48 Fn. 65, 75, 82, 129 ff., 164 f., 172 ff., 174 ff., 179 f., 237 f., 254 ff. – absolutistischer 199 ff.

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– Begriff 18 ff., 129 ff., 254 ff. – Identifikation mit Politik 18 ff., 23, 32 – Industrie- und Interventionsstaat 75 – Infragestellung 29 – künstlicher Körper 5 – platonischer Idealstaat 129 ff. – Staatsdominanz 237 f., 241, 243 – Staatszwecke 132 Staatsbegriff 18 ff., 129 ff., 254 ff. – Identifikation von Staat und Politik 18 ff., 23, 32 – Kreislauf der Verfassungsformen 255 f. – Liberalismus 254, 256 ff. – platonischer Idealstaat 129 ff. – Republikanismus 254, 256 ff. – Staatszwecke 132 – Verfassungsformen nach Aristoteles 254 ff. Staatsdominanz 237 f., 241, 243 Staatszwecke 132 – Sicherheit als Staatszweck 132 – Wohlfahrt als Staatszweck 132 Stammzellforschung 86, 93, 101 f. Stoa 255 f. Stolz des Subjekts 12, 14 Studenten 50 ff., 160 Fn. 16 Subjektivität 9, 12, 14, 45 Fn. 47, 187 f. Supplikationen 202, 209, 214, 216 System Althoff 75 f.

T Tatsachenwissen 54 Tatsachenwissenschaft 48, 54 Technik 5, 8, 57 Fn. 122, 97, 110, 143 ff. Technische Hochschulen 76 Technologie 110 f., 115, 119, 121 ff., 187 – Begriff 110 f. – Kernwaffen 121 f. – politische Bedeutung 110 ff. Teleologieschwund 6 f. Teufel 40 Fn. 22, 258 f. Themenwahl des Forschers 38 ff., 105 Think Tanks 85, 221, 235 f. Totalitarismus 111 ff. Tyrannis 255

U Umbau der Universitäten 86 ff. Universitäten 50 ff., 76 f., 86 ff., 96 f., 102 ff., 156 ff. – Dozenten 23, 50 ff. – Exzellenzinitiativen 89 f., 96, 103 f. – Hochschulexpansion 156 f., 158 – Managementverwaltung 88 f., 102 f. – Neugründungen 76, 156 f.

– – – –

Studenten 50 ff., 160 Fn. 16 Technische Hochschulen 76 Umbau 86 ff. universitäre Forschung 76 f., 83, 88 ff., 94, 96 f., 103 – Universität Passau 154, 157 f. – Wettbewerbsstrukturen 88 ff. (Un)Vorhersehbarkeit von Forschungsergebnissen 115, 118, 120 ff. Ur-Athen 130 ff.

V Verantwortungsethik 69 f., 256 Verein für Sozialpolitik 39, 45, 48 Fn. 65, 54, 65 Fn. 157 Verfassungsformen nach Aristoteles 254 ff. Verfügungswissen 57, 63 Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseingriffen 58 f. Fn. 130, 68 f. Fn. 172 Verwissenschaftlichung der Gesellschaft 115 ff., 125 f. Virtù 5 f., 257 f. Vocatio 52 f.

W Wachstumsprognosen 185, 194 Wahllogik als Machtlogik 222 ff. Wahlprognose 184 f. Wahrheit 44 f., 48 Fn. 65, 49, 53, 65, 67, 74, 97, 129, 142 f., 222 ff. Wahrheitslogik 222 ff., 234 Wertaxiome 61 f., 65 Fn. 157, 66 f. Wertbeziehungen 38 ff. Wertdiskussionen 37, 56 Fn. 116, 57 ff., 64, 66 f. – Stimmigkeitsprüfung zur Selbstbesinnung 61 ff., 66 ff. – Wertaxiome 61 f., 65 Fn. 157, 66 f. – Zweck-Mittel-Relationen 58 ff., 63 Wertewissen 53 f. Wertfreiheitspostulat 35 ff., 108 – Bezug zur Politik 68 ff. – Dualismus von Sein und Sollen 44 ff., 53 – Gesinnungsethik 69 f. – intellektuelle Rechtschaffenheit 49 ff. – Kathederprophetie 51 f. – Missdeutungen 37 ff. – Nihilismus 37, 42 ff. – Objekte wissenschaftlicher Untersuchungen 38 f., 40 Fn. 22 u. 25, 41 f. – Polytheismus der Werte 9, 53 ff. – Selbstverständlichkeitscharakter 36 – Themenwahl 38 ff. – Verantwortungsethik 69 f., 256

sachverzeichnis

– Wertdiskussionen 37, 56 Fn. 116, 57 ff., 64, 66 Wertkonflikte 55 f., 64 f. Wertnihilismus 37, 42 ff. Wertpluralität 53 ff. Wertrelativismus 5, 42 ff. Westfälischer Frieden 208, 210 Wettbewerbsstrukturen 88 ff. Wirtschaftspolitik 163 ff., 183, 218, 229, 241 – im Dialog mit Wirtschaft und Wissenschaft 180 – marktkonforme Maßnahmen 173, 176 – marktwidrige Maßnahmen 174 ff. – Spannungsverhältnis zum ökonomischen Gesetz 163 ff. Wirtschaftsweise (Sachverständigenrat zur Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung) 183 Fn. 6, 228 ff., 237 Wirtschaftswissenschaft 163 ff. Wissenschaft 17 ff., 35 ff., 71 ff., 107 ff., 129 ff., 153 f., 156 ff., 163 ff., 181 ff., 200 f., 216 ff., 222 ff., 245 ff. – siehe auch Forschung, Freiheit der Wissenschaft/ Wissenschaftsfreiheit – Akademien der Wissenschaften 111, 118, 137 ff. – Beruf der Wissenschaft 52 ff. – Drittmittelabhängigkeit 91 ff., 103 f. – Entmoralisierung des Wissenschaftsbegriffs 132 – Evaluation 85, 89 ff., 97, 103 f. – Experten-Diktatur 115 ff., 242 f. – Fall Lyssenko 49 f., 112 – Finanzierung 80 ff., 91 ff., 103 f., 148 f., 243 – Forschung 35 ff., 71 ff., 107 ff., 137 ff., 148 f., 222 ff., 234 ff. – Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren e. V. 81, 99 – intellektuelle Rechtschaffenheit 49 ff. – Klarheit 64 ff., 225 f. Fn. 8 – konstitutive Bedeutung von Wertbeziehungen 38 ff. – kritische Funktion 63 ff., 68 – Macht (Scientia est potentia) 118 f. – Naturwissenschaft 75 ff., 107 ff., 139 f., 182 – Objektivität 36, 39 Fn. 18, 41 ff., 44 ff., 52 ff., 193, 195, 227 f. – Offenlegung von Wertkonflikten 64 f. – ökonomisches Gesetz 163 ff. – Philosophenschulen 137 f. – Politikwissenschaft 17 ff. – Prognosen 147, 181 ff. – République universelle des sciences 147 ff. – Sinnfrage 62 ff.

– spezifische Selektivität 40 – Stimmigkeitsprüfung zur Selbstbesinnung 61 ff., 66 ff. – Tatsachenwissenschaft 48, 54 – Technologie 110 f., 115, 119, 121 ff., 187 – Themenwahl 38 ff., 105 – Universitäten 50 ff., 76 f., 86 ff., 96 f., 102 ff., 156 ff. – Untersuchungsgegenstand 38 f., 40 Fn. 22 u. 25, 41 f., 109 – Verantwortungsethik 69 f., 256 – Verwissenschaftlichung der Gesellschaft 115 ff., 125 f. – Wahrheit 44 f., 48 Fn. 65, 49, 53, 65, 67, 74, 97, 129, 142 f., 222 ff. – Wahrheitslogik 222 ff., 234 – Wandlung der politischen Rahmenbedingungen 75, 83 ff., 105 f. – Wertfreiheitspostulat 35 ff., 108 – Wirtschaftswissenschaft 163 ff. – Wissenschaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibniz 81, 99 – Wissenschaftsrat 72, 84 f., 87, 97 f., 153, 157 f., 225 f. Fn. 8, 230 Fn. 11, 233 Fn. 14, 235, 237, 238 Fn. 19 Wissenschaftliche Beiräte der Ressorts 226 f., 230, 236 f. Wissenschaftsfreiheit 73 ff., 85 f., 101 ff., 105 f., 113 f., 118 – als Wert an sich 113 f., 118 f. – Begrenzung durch Menschenwürdegarantie 101 f. – Bundesverfassungsgericht 74, 102 ff. – Forschungsverbote 101 f. – Verteidigung gegen politische Eingriffe 113 Wissenschaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibniz 81, 99 Wissenschaftsrat 72, 84 f., 87, 97 f., 153, 157 f., 225 f. Fn. 8, 230 Fn. 11, 233 Fn. 14, 235, 237, 238 Fn. 19 Wohlfahrt als Staatszweck 132 Wucher 169 ff. Wunderglaube 15 Würde der Persönlichkeit 43

Z Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen (ZVS) 160 Zeus 131 Zinsverbot, kanonisches 169 ff. Zinswucher 169 ff. Zweck-Mittel-Relationen 58 ff., 63

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