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German Pages 260 Year 2018
Birgit Riegraf, Anna-Lena Berscheid (Hg.) Wissenschaft im Angesicht »großer gesellschaftlicher Herausforderungen«
Science Studies
Birgit Riegraf, Anna-Lena Berscheid (Hg.)
Wissenschaft im Angesicht »großer gesellschaftlicher Herausforderungen« Das Beispiel der Forschung an hybriden Leichtbaumaterialien
Dieses Buch entstand im Rahmen des NRW-Fortschrittskollegs »Leicht – Effizient – Mobil«, gefördert durch Mittel des Landes Nordrhein-Westfalen. Die Herausgeberinnen bedanken sich für diese Unterstützung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat, Lektorat & Satz: Anna-Lena Berscheid Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4099-1 PDF-ISBN 978-3-8394-4099-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Wissenschaft im Angesicht „großer gesellschaftlicher Herausforderungen“: Zur Einführung
Birgit Riegraf und Anna-Lena Berscheid | 9
1. G ESELLSCHAFTLICHE ANFORDERUNGEN UND WISSENSCHAFTLICHE E RKENNTNISPROZESSE : D AS B EISPIEL L EICHTBAU Individualisierung mit und durch additive(r) Fertigung
Stefan Josupeit und Hans-Joachim Schmid | 19 Unschärfe in der Simulation im Kontext von Sicherheits-Diskursen
Alex Dridger und Rolf Mahnken | 35 Bedeutung des Komplexitätsmanagements für die Verbreitung von Leichtbau in Unternehmen zur Unterstützung einer nachhaltigen Produktentstehung
Iris Gräßler und Xiaojun Yang | 51 Grenzflächenmodifikation als Schlüssel zur Stabilität und Nachhaltigkeit von Werkstoffverbunden
Julia Weiß und Guido Grundmeier | 71
2. D IE R ELEVANZ NEUER ( HYBRIDER ) M ATERIALIEN Anwendungen additiver Fertigungsverfahren und die Erschließung neuer Anwendungsbereiche durch neue Materialien
Christian Schumacher und Volker Schöppner | 97 Graphenbasierte Komposite für langlebige Beschichtungen und Materialien
Andreas Wolk | 111
Die Bedeutung von Kunststoffen für hybride Leichtbaustrukturen
Elmar Moritzer und Björn Landgräber | 127 Leichtbaumaterialien als Forschungsgegenstand im Transmissionselektronenmikroskop
Jörn Achtelik und Jörg K. N. Lindner | 141
3. N ACHHALTIGKEIT UND WIRTSCHAFTLICHE I NTERESSEN : D AS B EISPIEL INNOVATIVE F ERTIGUNGSPROZESSE Ressourceneffizienz am Beispiel des Reibdrückens. Nicht nur aus technologischer Sicht eine Herausforderung
Benjamin Lossen und Werner Homberg | 159 Umweltfreundlicher Leichtbau mit Stahl: Eine innovative und energieeffiziente Verarbeitungsmethode für sicherheitsrelevante Bauteile im Auto
Anatolii Andreiev, Mirko Schaper, Olexandr Grydin, Christian Rüsing und Martin Holzweißig | 179 Entkopplung der steigenden Verkehrsleistung in der Luftfahrt von der Zunahme der Umweltbelastungen durch innovativen Leichtbau mit Titanlegierungen
Jan-Niklas Wesendahl und Gerson Meschut | 197
4. E RFAHRUNGEN
MIT I NTER - UND
T RANSDISZIPLINARITÄT
[Drei, zwei, d]EINS für ALLE! Alle für einen Tablettwagen. Erfahrungen mit inter- und transdisziplinärer Zusammenarbeit
Lars Hemme | 219 Die Bedeutung transformativer Forschung für die wissenschaftliche Praxis. Ein Fallbeispiel
Anna-Lena Berscheid | 227 AutorInnen | 249
Einführung
Wissenschaft im Angesicht „großer gesellschaftlicher Herausforderungen“: Zur Einführung B IRGIT R IEGRAF UND A NNA -L ENA B ERSCHEID
Diskussionen über den Stellenwert von Wissenschaft in der Gesellschaft sowie über ihre gesellschaftliche und soziale Verantwortung sind keineswegs neu, sie sind vermutlich so alt wie das Wissenschaftssystem selbst. Solche Debatten wurden in der Vergangenheit immer dann am heftigsten geführt, wenn sich Gesellschaften vor der Herausforderung sahen, einen grundlegenden Wandel bewältigen zu müssen und sie sind in aller Regel von der Befürchtung getrieben, dass Wissenschaft allzu häufig keine gesellschaftliche Verantwortung übernimmt und sich auch nicht mit den oft weitreichenden gesellschaftlichen Folgen ihrer Forschung auseinandersetzt (vgl. Felt et al. 2016). Vielmehr verlagere sie − so die regelmäßig vorgebrachte Kritik − die Verantwortung für die Folgen ihrer Entwicklungen auf andere AkteurInnen wie IngenieurInnen, die die Technologien um- und einsetzen, auf die Politik, die die Rahmenbedingungen für die Verwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse schafft, oder auf diejenigen Unternehmen, die Technologien in ihre wirtschaftlichen Strategien einbinden. Diese Kritik betrifft vor allem die technologische Forschung und geht in aller Regel mit dem Vorwurf einher, dass sich Wissenschaft im ‚Elfenbeinturm‘ einrichte und wissenschaftliche Erkenntnisse zwar innerhalb der eigenen Community geteilt würden, sich WissenschaftlerInnen aber ansonsten nicht um die Vermittlung ihrer Ideen ‚in die Gesellschaft‘ hinein bemühen und sich somit aus der Verantwortung für gesellschaftliche Dynamiken und Veränderungen stehlen. In all diesen Debatten geht es immer um sehr grundlegende Fragen wie die nach der Autonomie des Wissenschaftssystems, der Reichweite und des Stellenwertes wissenschaftlicher Erkenntnisse, aber auch um die gesellschaftliche Legitimation
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von Wissenschaft. Kurz: Um die ganz allgemeine Frage danach, welchen Stellenwert das Wissenschaftssystem und wissenschaftliche Erkenntnisse in der Gesellschaft einnehmen und einnehmen sollen. Gegenwärtig sehen wir uns erneut „großen gesellschaftlichen Herausforderungen“ (Wissenschaftsrat 2015) gegenüber, die etwa durch den Klimawandel, den digitalen Wandel, demografische Veränderungen oder von den Entwicklungen unter dem Stichwort Arbeit 4.0 hervorgerufen werden, und erneut stehen der Stellenwert und die Legitimation von Wissenschaft und Forschung grundlegend auf dem Prüfstand. Wie weitreichend diese Debatten sind, zeigt sich nicht zuletzt an den zur Zeit heftig geführten Diskussionen über Fake News und alternative Fakten, in denen es (auch) darum geht, dass wissenschaftliche Erkenntnisse und Erkenntniswege in ihren Grundfesten angezweifelt werden, wenn sie nicht in das Programm von politischen EntscheidungsträgerInnen passen. Ein Legitimationsverlust zeigt sich aber auch darin, dass Teile der Gesellschaft, darunter beispielsweise AnhängerInnen der Flat Earth-Theorie, die die Ansicht vertreten, die Erde sei flach, oder ImpfgegnerInnen, die Wirkung und Nutzen von Schutzimpfungen prinzipiell leugnen, wissenschaftliche Erkenntnisse grundlegend in Frage stellen. Als Reaktion auf diesen Angriff auf die Glaubwürdigkeit von Wissenschaft, die Leugnung wissenschaftlich belegter Tatsachen und die Verbreitung ‚alternativer Fakten‘ gingen im April 2017 weltweit hunderttausend Menschen beim March for Science (March for Science e. V. 2017) auf die Straße. Wissenschaft und wissenschaftliche Erkenntnisprozesse müssen sich gegenwärtig also erneut befragen lassen; WissenschaftlerInnen sind in einer solchen Lage dazu herausgefordert, sich zu diesem Legitimationsverlust und den damit verbundenen Fragen zu positionieren. Soll Wissenschaft zur Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen überhaupt beitragen, soll sie sich aktiv an gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen beteiligen, wie können solche Beiträge aussehen und was bedeutet dies für den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess? Die Idee der transformativen Forschung setzt an all diesen Überlegungen an und geht zugleich einen Schritt darüber hinaus. Der Begriff der transformativen Forschung wurde zunächst vom Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderung (WBGU) (2011) in die Diskussion gebracht, fand dann eine weitere Verbreitung nicht nur innerhalb der Wissenschaft (vgl. etwa Schneidewind und Singer-Brodowski 2013), sondern hielt auch Einzug in die politische Sphäre, wie etwa die Forschungsstrategie „Fortschritt NRW 20132020“ des Landes Nordrhein-Westfalen zeigt. Dem Konzept des WBGU folgend hat Wissenschaft die Aufgabe, gemeinsam mit Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Visionen für eine andere – in diesem Falle klimaverträgliche – Gesellschaft zu entwickeln, Entwicklungspfade zu beschreiben sowie nachhaltige tech-
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nische und soziale Innovationen zu unterstützen. Der WBGU will damit einerseits eine Forschung befördern, die umfassende gesellschaftliche Transformationsprozesse versteht, zugleich aber auch selbst transformatives Wissen produziert. Wissenschaft, so die Idee, müsse angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen in die Pflicht genommen werden, auch, um sich ihre gesellschaftliche Legitimation ‚zurückzuholen‘. Im Konzept der transformativen Forschung nehmen inter- und transdisziplinäre Forschungsansätze einen besonderen Stellenwert ein: Interdisziplinäre Forschung, weil sich gesellschaftliche Herausforderungen diesem Ansatz folgend nicht an Disziplingrenzen halten und deshalb mit einer umfassenderen Perspektive angegangen werden müssen. Transdisziplinäre Forschung, weil gesellschaftliche AkteurInnen − zusammengefasst im Begriff der Zivilgesellschaft − stärker in den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess mit einbezogen werden sollen, damit Wissenschaftlerinnen einerseits von deren kontextbezogenem ExpertInnenwissen profitieren und daraus wissenschaftliche Fragestellungen und Erkenntnisse generieren können. Andererseits sind es gerade diese gesellschaftlichen AkteurInnen, die die Transformation von Gesellschaft mittragen oder gar vorantreiben und deshalb aktiv mit in den Forschungsprozess integriert werden sollen, so die Idee des WBGU. Dass inter- und transdisziplinäre Forschung wiederum besonderen Schwierigkeiten und Anforderungen unterliegen, ist inzwischen häufig diskutiert worden (vgl. etwa Mittelstraß 2003; Weingart 2000). So sind Forschungsförderung, Universitäten und wissenschaftliche Erkenntnisprozesse bis auf wenige Ausnahmen (z. B. in den Gender Studies) nach wie vor entlang disziplinärer Grenzen organisiert und strukturiert, was die Einübung interdisziplinärer Zusammenarbeit nicht gerade erleichtert. Und spätestens seit den Erkenntnissen der Verwendungsforschung der 1980er-Jahre (vgl. etwa Beck und Bonß 1984, 1989) ist bekannt, dass die Vermittlung wissenschaftlichen Wissens in die außerwissenschaftliche Praxis keineswegs konfliktfrei gelingt, sondern ebenjene ‚Praxis‘ wissenschaftliches Wissen häufig so umdefiniert, dass es an die spezifischen Anforderungen des jeweiligen Anwendungsprozesses angepasst ist. Sowohl inter- als auch transdisziplinäre Forschung sind demnach hoch voraussetzungsvoll, denn es braucht Zeit, z. B. um eine gemeinsame Sprachebene entwickeln zu können, und beide Konzepte setzen die Bereitschaft aller Beteiligten zur Kooperation über Disziplingrenzen hinweg und mit der außerwissenschaftlichen Praxis voraus, was keinesfalls selbstverständlich ist. Der vorliegende Band nimmt die skizzierte Debatte zur transformativen Forschung zum Anlass, um sich mit der Frage danach auseinanderzusetzen, was diese Vorstellung für wissenschaftliches Arbeiten bedeuten kann, ob und wie Wissenschaft sich an der Bearbeitung der ‚großen gesellschaftlichen Herausforde-
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rungen‘ beteiligen kann, aber auch, wo die Fallen eines solchen Vorgehens für das Wissenschaftssystem und den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess liegen können. Die gesammelten Beiträge loten also die Möglichkeiten, die Chancen, aber auch die Grenzen einer solchen Perspektive auf Forschung aus. In ihnen werden gesellschaftliche Herausforderungen, wie die der Ressourceneffizienz, einer umweltfreundlichen Mobilität, des Klimaschutzes, aber auch verschiedener Aspekte in weiteren Bereichen wie z. B. der Medizintechnik, im Kontext von Leichtbau mit Hybridsystemen adressiert. Leichtbau mit Hybridsystemen gilt als „‚Königsdisziplin‘ der Fahrzeugtechnik“ (Friedrich 2013, V), ist aber auch für andere Bereiche des Maschinenbaus von hoher Relevanz und umfasst sowohl Fragen nach (neuen) Materialien bzw. Materialverbünden als auch Herstellungssowie Fertigungsprozesse von Bauteilen oder ganzen Maschinen. Konkreter ausformuliert geht es in diesem Forschungskontext um die Umsetzung eines Extremleichtbaus bewegter Massen für breite Anwendungen. Durch den Einsatz von hybriden Werkstoffen bei Erzeugnissen aus dem Maschinen-, Anlagen- und Fahrzeugbau soll eine erhebliche Reduzierung des Ressourcen- und Energieverbrauchs erzielt werden. Der Grundgedanke nimmt auf, dass Belastungsbeanspruchungen an Bauteile z. B. im Fahrzeugbau in aller Regel nicht einheitlich sind. Deshalb können mittels einer lokalisierten, partiellen Verstärkung durch einen höchstfesten, leichten, unter Umständen jedoch teuren Werkstoff umweltverträglichere Effekte erzielt werden. Dieser Sammelband ist im inter- und transdisziplinären Forschungskontext des Fortschrittkollegs „Leicht – Effizient – Mobil“ an der Universität Paderborn entstanden, in welchem neben dem Maschinenbau die Chemie, die Physik sowie die Soziologie vertreten sind und zusammenarbeiten. Die technologische Entwicklung von Werkstoffen und Prozessen soll mit einer erweiterten Betrachtungsweise verbunden werden, die es ermöglicht, die Konstruktion und die Entwicklung von Technologien in einen übergeordneten gesellschaftlichen Kontext zu setzen. Der Ausbau der Forschung und Qualifizierung an der Schnittstelle der Disziplinen soll im Kolleg drei miteinander verwobenen Aspekten gerecht werden: Erstens haben Technikanwendungen immer auch gesellschaftliche Auswirkungen. Zweitens fließen bereits im Entwicklungs- und Entstehungsprozess von Leichtbaumaßnahmen stets soziale, gesellschaftliche und kulturelle Deutungsmuster ein; dies unter anderem über die Vorstellungen von der zukünftigen Technikanwendung und ihrer Nutzung. Drittens werden die Deutungsmuster und Konstruktionen im Entwicklungs- und Anwendungsprozess zugleich immer wieder neu verhandelt. Ziel aller Beiträge des Bandes ist es, in einer übergreifenden Betrachtungsweise Leichtbau-Technologien, ihre Entwicklungen und ihre gesellschaftliche Relevanz, aber auch die besonderen Herausforderungen syste-
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matisch zu reflektieren, die in der inter- und transdiziplinären Forschungsarbeit liegen. Die AutorInnen richten sich dabei an der allgemeinen Frage aus, welche Relevanz ihre Forschung an, mit und über Leichtbau für gesellschaftliche Entwicklungsprozesse hat. Aufgrund der sehr unterschiedlich gelagerten ,Heimatdisziplinen‘ der Beitragenden ist der vorliegende Sammelband bereits als Ergebnis interdisziplinären Zusammenarbeitens zu werten, da für dessen Entstehung intensive Austauschprozesse über wissenschaftliche Schreibstile und Publikationsformen sowie ein Denken außerhalb bekannter Disziplinlogiken notwendig waren.
Z UM AUFBAU
DES
B UCHES
Thematisch gliedert sich der Sammelband in vier Schwerpunkte. Darin beschäftigen sich die Beiträge aus unterschiedlichen Blickwinkeln heraus mit Entwicklungs- und Anwendungsprozessen im Leichtbau und nehmen auf unterschiedlichen Ebenen die Frage auf, was in einem solchen Forschungskontext inter- und transdisziplinäres Arbeiten bedeutet und wie sich dieses Arbeiten in alltäglichen Forschungsprozessen ausgestaltet. Die Aufsätze im ersten Schwerpunkt nehmen eine gesellschaftliche Makroperspektive ein und gehen dem Zusammenhang zwischen „Gesellschaftlichen Anforderungen und wissenschaftlichen Erkenntnisprozessen“ nach. Stefan Josupeit und Hans-Joachim Schmid zeigen in ihrem Artikel „Individualisierung mit und durch additive(r) Fertigung“ auf, wie sich additive Fertigung, gemeinhin als 3D-Druck bekannt, mit gesellschaftlichen Individualisierungstendenzen verbindet und wie diese Technologien Individualisierungsprozesse zugleich immer weiter vorantreiben. Josupeit und Schmid beziehen sich in ihrer Diskussion des wechselseitigen Zusammenhangs zwischen technologischer, sozialer und gesellschaftlicher Entwicklung auf die älteren, aber immer noch aktuellen soziologischen Gesellschaftsanalysen von Ulrich Beck (1986). In „Unschärfe in der Simulation im Kontext von Sicherheitsdiskursen“ diskutieren Alex Dridger und Rolf Mahnken, welchen Beitrag mathematische Berechnungen im Bereich der Unschärfe (von beispielsweise Materialauslegungen) zu gesellschaftlichen Sicherheitsdiskursen rund um technologische Artefakte beitragen können und wie diese an der Schnittstelle von Wissenschaft und Gesellschaft vermittelt werden können. Iris Gräßler und Xiaojun Yang betrachten in ihrem Aufsatz „Bedeutung des Komplexitätsmanagements für die Verbreitung von Leichtbau in Unternehmen zur Unterstützung einer nachhaltigen Produktentstehung“ den Stellenwert von Komplexitätsmanagement nicht nur im akademischen Sinne, sondern auch in
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Hinblick darauf, was dies für den Einsatz in Unternehmen bedeutet. Im Bereich der Grundlagenforschung beschäftigen sich Julia Weiß und Guido Grundmeier mit der „Grenzflächenmodifikation als Schlüssel zur Stabilität und Nachhaltigkeit von Werkstoffverbunden“. Ihnen geht es darum, aufzuzeigen, welche Relevanz das Verständnis von Wechselwirkungsprozessen an den Grenzflächen verschiedener miteinander verfügter oder geklebter Materialien für die Nachhaltigkeit bzw. das Recycling von Bauteilen hat, was wiederum für die Fragen der Umweltverträglichkeit dieser Technologie gesellschaftlich nicht unerheblich ist. Im zweiten Schwerpunkt wird der Fokus auf die „Relevanz neuer (hybrider) Materialien“ scharf gestellt. Dabei geht es um die Frage, was die Materialvielfalt des Forschungsbereichs des Leichtbaus an Herausforderungen für inter- und transdisziplinäre Arbeit bereithält. Die einzelnen Beiträge beschäftigen sich also mit den besonderen Herausforderungen, die vom Prozess der Verbindung unterschiedlicher Materialien sowie deren Nutzungskontexten ausgehen. Christian Schumacher und Volker Schöppner diskutieren in ihrem Artikel „Anwendungen additiver Fertigungsverfahren und die Erschließung neuer Anwendungsbereiche durch neue Materialien“ mögliche Anwendungsverfahren im Bereich des industriellen 3D-Drucks und reflektieren dabei auch, welche neuen Möglichkeiten ein breiter Einsatz dieser Methode zur Herstellung zahlreicher, individualisierter Bauteile bieten kann. Mit dem Potenzial von „Graphenbasierten Komposite für langlebige Beschichtungen und Materialien“ beschäftigt sich Andreas Wolk in seinem Aufsatz. Das vergleichsweise noch junge Material Graphen verspricht aufgrund seiner spezifischen Eigenschaften ein hohes Potenzial für die Nutzung in Leichtbau-Kontexten. Die Möglichkeiten des Einsatzes von Kunststoffen zur industriellen Herstellung von Hybridstrukturen zeigen Elmar Moritzer und Björn Landgräber in „Die Bedeutung von Kunststoffen für hybride Leichtbaustrukturen“ auf. Dabei wird auch deutlich, dass verschiedene Materialien jeweils andere Potenziale für die Anwendung in spezifischen Kontexten aufweisen. Der letzte Text in diesem Teil des Bandes befasst sich mit „Leichtbaumaterialien als Forschungsgegenstand im Transmissionselektronenmikroskop“. Darin beschreiben Jörn Achtelik und Jörg K. N. Lindner die Notwendigkeit präziser Analysemethoden für ein grundlegendes Verständnis von Leichtbaumaterialien, was wiederum wesentlich für die Entwicklung von Innovationen auf diesem Gebiet ist. Der dritte Schwerpunkt fokussiert auf „Nachhaltigkeit und wirtschaftliche Interessen: Das Beispiel Innovative Fertigungsprozesse“. Benjamin Lossen und Werner Homberg beschreiben in „Ressourceneffizienz am Beispiel des Reibdrückens. Nicht nur aus technologischer Sicht eine Herausforderung“ das Potenzial der neuen Umform-Methode Reibdrücken für ressourcenschonende Fertigungsprozesse. Um eine weitere Möglichkeit der Metallverarbeitung geht es im Bei-
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trag von Anatolii Andreiev, Mirko Schaper, Olexandr Grydin, Christian Rüsing und Martin Holzweißig. Sie beschäftigten sich in „Umweltfreundlicher Leichtbau mit Stahl: Eine innovative und energieeffiziente Verarbeitungsmethode für sicherheitsrelevante Bauteile im Auto“ mit der Frage, wie jene Teile im Fahrzeug, die aufgrund von Sicherheitsanforderungen mit höchstfesten Stählen konstruiert werden, dennoch ressourcenschonend und umweltfreundlich gefertigt werden können. Mit dem Werkstoff Titan bzw. dessen Legierungen im Kontext von Leichtbau befassen sich zuletzt Jan-Niklas Wesendahl sowie Gerson Meschut in ihrem Artikel „Entkopplung der steigenden Verkehrsleistung in der Luftfahrt von der Zunahme der Umweltbelastungen durch innovativen Leichtbau mit Titanlegierungen“ am Beispiel des Warmtiefziehens und dessen Bedeutung insbesondere für die Nutzung in der Luftfahrt. Die Beiträge im vierten und letzten Schwerpunkt befassen sich mit „Erfahrungen mit Inter- und Transdisziplinarität“ und nehmen auf unterschiedliche Weise Möglichkeiten, Erfolge und Schwierigkeiten in der inter- und transdisziplinären Zusammenarbeit in den Blick. In „[Drei, zwei d]EINS für alle! Alle für einen Tablettwagen“ beschreibt Lars Hemme an einem Beispiel die Entstehungsgeschichte einer technischen Innovation in einem inter- und transdisziplinären Kommunikations- und Forschungsprozess. Er berichtet davon, wie der Entwurf und die Konstruktion eines Tablettwagens für die Nutzung in Mensen und Kantinen entstanden ist, die es Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen erleichtert, Herausforderungen in alltäglichen Situationen wie dem Mittagessen am Arbeits- bzw. Studienort zu bewältigen. Dieser Beitrag soll eine neue Perspektive – die der AnwenderInnen – auf die Ausgestaltung und Durchführung transdisziplinärer Projekte werfen. In „Die Bedeutung transformativer Forschung für die wissenschaftliche Praxis. Ein Fallbeispiel“ reflektiert Anna-Lena Berscheid abschließend entlang des Beispiels des NRW-Fortschrittskollegs „Leicht – Effizient – Mobil“, welche An- und Herausforderungen inter- und transdisziplinäre Zusammenarbeit an die beteiligten NachwuchswissenschaftlerInnen und deren Forschungsarbeit, aber auch an die ProjektleiterInnen stellen. Sie geht zugleich der Frage nach, wie und welche Umwege gemacht wurden und was daraus für andere inter- und transdisziplinäre Forschungskontexte gelernt werden kann. An der Entstehung eines solchen Bandes sind viele Personen in ganz unterschiedlichen Funktionen und Aufgaben beteiligt. Wir möchten uns bei all Denjenigen herzlich bedanken, die sich der Mühe und der Herausforderung gestellt haben, die eine solche Arbeit mit sich bringt, und die uns in allen Stadien der Entstehung dieses Buches unterstützt haben.
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L ITERATUR Beck, Ulrich; Bonß, Wolfgang (1984): Weder Sozialtechnologie noch Aufklärung. Analysen zur Verwendung sozialwissenschaftlichen Wissens. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Beck, Ulrich; Bonß, Wolfgang (1989): Soziologie und Modernisierung. Zur Ortsbestimmung der Verwendungsforschung. In: Soziale Welt 35 (4), S. 381–406. Felt, Ulrike; Igelsböck, Judith; Schikowitz, Andrea; Völker, Thomas (2016): Transdisciplinary Sustainability Research in Practice: Between Imaginaries of Collective Experimentation and Entrenched Academic Value Orders. In: Science, Technology, & Human Values 41 (4), S. 732–761. Friedrich, Horst E. (Hrsg.) (2013): Leichtbau in der Fahrzeugtechnik. Wiesbaden: Springer Fachmedien. March for Science e. V. (Hrsg.) (2017): March for Science. Online verfügbar unter marchforscience.de (Zugriff: 05.11.2017). Mittelstraß, Jürgen (2003): Transdisziplinarität – wissenschaftliche Zukunft und institutionelle Wirklichkeit. Konstanzer Universitätsreden. Konstanz: UVK. Schneidewind, Uwe; Singer-Brodowski, Mandy (2013): Transformative Wissenschaft. Klimawandel im deutschen Wissenschafts- und Hochschulsystem. Marburg: Metropolis Verlag. Weingart, Peter (2000): Interdisciplinarity: The Paradoxical Discourse. In: Peter Weingart und Nico Stehr (Hrsg.): Practising Interdisciplinarity. Toronto: Toronto University Press, S. 25–41. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (2011): Factsheet 4. Transformation zur Nachhaltigkeit. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen. Online verfügbar unter: http://www.wbgu.de/fileadmin/user_upload/wbgu.de/tem plates/dateien/veroeffentlichungen/factsheets/fs2011-fs1/wbgu_fs1_2011.pdf (Zugriff: 05.11.2017). Wissenschaftsrat (2015): Zum wissenschaftspolitischen Diskurs über große gesellschaftliche Herausforderungen. Positionspapier. Online verfügbar unter http://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/4594-15.pdf (Zugriff: 05.11.2017).
1. Gesellschaftliche Anforderungen und wissenschaftliche Erkenntnisprozesse: Das Beispiel Leichtbau
Individualisierung mit und durch additive(r) Fertigung S TEFAN J OSUPEIT UND H ANS -J OACHIM S CHMID
1. E INFÜHRUNG Gesellschaftliche Individualisierungsprozesse werden insbesondere in wohlhabenden Volkswirtschaften beobachtet. Doch was bedeutet ‚Individualisierung‘ genau, wodurch wird sie angetrieben und wie drückt sie sich im Einzelnen aus? Zum einen können dies langfristige Prozesse wie die Entstehung neuer Haushaltsformen oder die zunehmend individuelle Gestaltung der Lebensphasen sein. Zum anderen lassen sich bezüglich der Konsumgewohnheiten deutliche Trends hin zu einzigartigen, individuellen Produkten beobachten: Waren sind aufgrund veränderter Produktion, durch Internationalisierung und schnellere Transportwege nahezu überall und ständig verfügbar. Es gibt immer mehr Modellvarianten für an sich gleiche Konsumgüter. Die Kundin1 kann sich online eigene Produkte konfigurieren und zusammenstellen – ob Müsli, Parfüm, Automobile, Bekleidung oder Reisen: Der Phantasie und ihrer Umsetzung scheinen immer weniger Grenzen gesetzt zu sein Doch was treibt die Individualisierung der Gesellschaft an und wodurch erklären sich die jüngsten Entwicklungen? Ist die Gesellschaft an sich individueller geworden oder führt die wachsende Anzahl an Optionen ‚nur‘ zu einem verstärkten Ausdruck individueller Lebensstile? Beeinflussen sich Individualisierungsprozesse und das Anbieten individualisierter Produkte gar gegenseitig? Dem Zusammenhang von Individualisierungsprozessen und Produktionsverfahren wird im Folgenden am Beispiel einer aufstrebenden und zurzeit medial sehr präsenten
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Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Text das generische Femininum im Singular, das sogenannte Binnen-I im Plural verwendet.
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Technologie – der additiven Fertigung (auch ‚3D-Druck‘) – nachgegangen. Mittels additiver Fertigungsverfahren können physische Bauteile und Strukturen hergestellt (‚gedruckt‘) werden, ohne dass es spezieller Gussformen o. Ä. bedarf. Es spielt keine Rolle, ob Massenprodukte oder Einzelteile gefertigt werden – womit eine Verknüpfung zur Fertigung individueller Produkte naheliegt. Denn die Herstellung individueller Produkte erfordert auch flexible, angepasste Fertigungsprozesse, damit sie erschwinglich bleibt. Der nachfolgende Abschnitt „Grundlagen“ befasst sich mit den soziologischen, technischen und wirtschaftlichen Grundlagen, welche zum Verständnis der weiteren Ausführungen notwendig sind. Die Verknüpfung von Individualisierung mit additiver Fertigung wird anschließend – in Anlehnung an den Titel dieses Aufsatzes – aus zwei Sichtweisen diskutiert: Diese sind zum einen die Nutzung von additiver Fertigung zur Herstellung individueller Produkte und zum anderen der Einfluss additiver Fertigungstechnologien auf die Individualisierung der Gesellschaft. Dabei wird insbesondere den Fragestellungen nachgegangen, inwieweit additive Fertigung nicht nur die Herstellung individualisierter Produkte ermöglicht, sondern auch die Individualisierung der Gesellschaft beschleunigt und somit den Bedarf an individuellen Produkten erhöht. Beide Sichtweisen werden durch verschiedene Anwendungsbeispiele erläutert. Abschließend werden die zentralen Ergebnisse und Aussagen zusammengefasst.
2. G RUNDLAGEN Die folgenden Unterkapitel widmen sich den gesellschaftlichen Hintergründen zur Individualisierung, den technischen Grundlagen der additiven Fertigung sowie der wirtschaftlichen Umsetzung kundInnenindividueller Massenproduktion. 2.1 Individualisierung Die neuere Debatte zur ‚Individualisierung‘ wurde wesentlich vom Soziologen Ulrich Beck geprägt, welcher im Jahr 1983 einen Aufsatz mit dem Titel „Jenseits von Stand und Klasse? Soziale Ungleichheit, gesellschaftliche Individualisierungsprozesse und die Entstehung neuer sozialer Formationen und Identitäten“ veröffentlichte. Später, im Jahr 1986, skizzierte er im Rahmen eines Individualisierungsmodells einen Kontinuitätsbruch in der gesellschaftlichen Entwicklung von der ‚alten‘ Industriegesellschaft zu einer Risikogesellschaft: Individualisierung ist dabei ein gesellschaftlicher Prozess, der durch verschiedene ökonomische,
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soziale und politische Rahmenbedingungen beschleunigt wird (vgl. Beck et al. 2006; Beck 1986; Ewinger et al. 201; Schäfers 2016). Gesellschaftliche Prozesse wie die Aufklärung und die Französische Revolution im 18. Jahrhundert, die Wohlstandssteigerung im Rahmen der Industrialisierung im 20. Jahrhundert, Industrialisierung und Urbanisierung, neue Kommunikationswege (insbesondere Social Media) und neue Produktionsformen, das Erstarken der Frauenrechtsbewegung, die Globalisierung, aber auch jüngere Entwicklungen wie die Finanzkrise ab dem Jahr 2007 oder der sogenannte arabische Frühling ab dem Jahr 2010 sind nach Beck die treibenden Kräfte der Individualisierung. Durch die gesellschaftlichen Veränderungen und den damit verbundenen Individualisierungsschüben kommt es nach Beck schließlich zur Veränderung der Sozialstruktur in den modernen Industriegesellschaften, die er mit dem sogenannten Fahrstuhl-Effekt skizziert: Die gesamte ‚Klassengesellschaft‘ wird „eine Etage höher gefahren“, damit meint Beck, die Verbesserung der Lebensbedingungen aller bei gleichzeitiger Beibehaltung von Ungleichheiten. Dabei sind die Prozesse der Individualisierung nach Beck immer ambivalent: Sie sind mit neuen Freiheiten verbunden, aber auch mit neuen Risiken (vgl. Beck et al 2006). Weiterhin gilt nach Gerd Gerken: Je wohlhabender eine Volkswirtschaft ist, desto größer ist ihr Grad an Komplexität und damit auch Individualisierung (vgl. Gerken 1990). Beck unterscheidet drei Dimensionen der Individualisierung: (1) Die Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen (Freisetzungsdimension; Herauslösung aus Herrschafts- und Versorgungszusammenhängen), (2) die Auflösung von traditionellen Werten (Glauben) und damit auch der Verlust von traditionellen Sicherheiten (Entzauberungsdimension)) und (3) eine neue Art der sozialen Einbindung (Kontroll- und Reintegrationsdimension). Individualisierung bezieht sich sowohl auf die objektive Lebenslage als auch das subjektive Bewusstsein (Identität). Man spricht dabei auch von einer „Pluralisierung der Lebensstile“ (vgl. Beck 1986; Beck et al 2006). •
Als Indikatoren für Individualisierungsprozesse verweist Beck auf folgende Entwicklungen Pluralisierung von Lebensformen: Durch Veränderungen der Lebensformen (wachsende Scheidungs- und sinkende Heiratsraten, etc.) sowie dem demografischen Wandel, mit dem eine steigende Lebenserwartung und niedrige Geburtenraten einhergehen, wächst der Anteil an Single-Haushalten in Deutschland seit 1961 stetig an und macht inzwischen z. B. in Großstädten die Mehrheit aller Haushalte aus. Es kommt zu einer Pluralisierung von Lebens- und Haushaltsformen wie z. B. Wohngemeinschaften, kinderlose Paare, Alleinerziehende und Patchwork-Familien (vgl. Ewinger et al. 2016).
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Biografiemuster: Die klassische „Normalbiografie“ aus Ausbildung, Arbeit und Rente wird zur „Multigrafie“ (ebenda, S. 11). Zwischen Jugend und Erwachsenenalter etabliert sich eine zusätzliche post-adoleszente Phase, in der z. B. verschiedene Berufe ausprobiert und Phasen unterschiedlicher Tätigkeiten aneinandergereiht werden. Zusätzlich rückt die Familiengründung immer weiter im Lebenslauf nach hinten. Auch im weiteren Verlauf kommt es immer häufiger zu familiären und/oder beruflichen Neuorientierungen. Durch die vielen Möglichkeiten wird das Festlegen auf klar definierte Biografiemuster immer schwieriger. Es werden sich bewusst Optionen offengehalten, um stets das Beste herauszufiltern – „Nichts ist mehr für die Ewigkeit“ (Ewinger et al. 2016, S. 14). Wachsende Ansprüche an die Arbeitswelten: Die heute zwischen 15 und 35 Jahre alte ‚Generation Y‘, zumindest der gut ausgebildete Teil, möchte ihr Leben individualisiert gestalten. Sie erwartet in der Arbeitswelt große Gestaltungsspielräume, maximale Flexibilität und eine ausgeprägte Work-Life-Balance. Unternehmen müssen sich daher neu organisieren, um die talentiertesten MitarbeiterInnen zu finden und zu motivieren. Umsetzungsmöglichkeiten sind z. B. flexible Arbeitszeitregelungen, die Ermöglichung von Telearbeit (‚Home Office‘), selbstbestimmte Arbeitsinhalte, eine zugeschnittene Laufbahnplanung oder das Anbieten von Sozialleistungen (vgl. ebd.; Hornberger 2002). Konsumgewohnheiten: Durch eine gesteigerte Produktvielfalt ist es möglich, die Konsumgüter immer weiter den eigenen Vorstellungen anzupassen, wenn es die finanzielle Situation zulässt. Es gibt eine erhöhte Nachfrage nach personalisierbaren Produkten. Eine Folge davon ist z. B. die Produktdifferenzierung, also das parallele Anbieten mehrerer Produktvarianten, um auf möglichst unterschiedliche Bedürfnisse eingehen zu können. Als Beispiel sei hier die wachsende Modellpalette der Automobilhersteller genannt. Darüber hinaus gewinnen Konzepte, bei denen die Konsumentin nicht nur aus einem differenzierten Angebot auswählen kann, sondern aktiv an der Gestaltung des Produkts beteiligt ist, eine immer größere Bedeutung (vgl. Ewinger et al. 2016; Piller 2006).
Individualisierungsprozesse, wie bei Beck skizziert, erhöhen den Wunsch und die Nachfrage nach individuellen Produkten und fördern die Entwicklung flexibler Produktionsstrategien, wie sie im folgenden Abschnitt skizziert werden.
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2.2 KundInnenindividuelle Massenproduktion Individuellen Anforderungen und Wünschen von KundInnen stehen zum einen Standardware ‚aus dem Regal‘, aber auch maßgeschneiderte Produkte ‚on demand‘ entgegen. In aller Regel steigt der Kaufpreis dabei mit dem Individualisierungsgrad an (z. B. Maßanzug, Maßküche). Es gibt jedoch auch verschiedene Ansätze, eine wirtschaftliche kundInnenindividuelle Massenproduktion umzusetzen. In der Literatur etablierte sich dafür der englische Begriff ‚mass customization‘. Er verknüpft die an sich gegensätzlichen Begriffe ‚mass production‘, die Herstellung großer Mengen gleichartiger Produkte, und ‚customization‘, die Anpassung an bzw. durch die KundInnen. Dabei werden Kosten- und Differenzierungsvorteile der jeweiligen Strategien kombiniert: Während die Preise kundInnenindividueller Produkte weitgehend denen von Standardprodukten entsprechen, sind die Produkteigenschaften (z. B. Form, Farbe, Design, Funktionalität, Qualität) auf die individuellen Anforderungen und Wünsche der Kundinnen angepasst. Dadurch werden kundInnenindividuelle Produkte für eine große Gruppe von AbnehmerInnen erschwinglich. Je größer die Heterogenität der AbnehmerInnenbedürfnisse, desto größer ist der Nutzen durch das Anbieten kundInnenindividueller Produkte (vgl. Piller 2007). Eine wichtige Komponente der kundInnenindividuellen Massenfertigung ist die KundInnenintegration und -interaktion. Hierfür muss in der Wertschöpfungskette eine Interaktionsplattform zwischen AbnehmerIn und AnbieterIn geschaffen werden, in der die individuellen Anforderungen und Wünsche übermittelt werden (‚interaktive Wertschöpfung‘). Der Gestaltungsspielraum kann dabei von der Auswahl einzelner Module und Teile bis hin zur kreativen Gestaltung und Umsetzung eigener Ideen reichen: Die Kundin wird zur ‚Co-Designerin‘ und dadurch am Produktionsprozess beteiligt. Die Individualisierung kann sich dabei auf individuelle Maße, Funktionalitäten oder die gustative bzw. visuelle Wahrnehmung beziehen. Oft findet diese Konfiguration computerbasiert statt. Dabei gilt es jedoch, eine Balance zwischen Variantenreichtum und KundInnenbedürfnissen zu finden, um die Kundinnen nicht zu überfordern (vgl. Reichwald und Piller 2009; Ternès et al. 2015). Durch die KundInnenintegration setzt sich ‚mass customization‘ von der sogenannten ‚anonymen Variantenfertigung‘ ab, bei der für verschiedene Marktsegmente und Nischen eigene Produktvariationen angeboten werden, die auf Lager produziert werden und aus denen die Kundin auswählt. Hierbei sind die genauen Absatzzahlen jedoch immer schwerer abzuschätzen (vgl. Piller 2007). Ein Schlüssel zur Umsetzung kundInnenindividueller Massenproduktion sind stabile Produkt- und Prozessarchitekturen, welche sich von der klassischen, oft
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handwerklichen Einzelfertigung abgrenzen. Je nach Umsetzungsart wird die Individualisierung innerhalb der Fertigung oder außerhalb des produzierenden Unternehmens durchgeführt. Es wird zwischen verschiedenen Konzepten unterschieden: •
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Selbstindividualisierung: Die Individualisierung erfolgt nach dem Kauf eines Standardprodukts durch die Kundin selbst. Das Produkt muss daher entsprechend viele Konfigurationsmöglichkeiten bieten. Beispiel: Bürosoftware, bei der die Anwenderin z. B. die Tastenbelegung und die Bedienoberfläche frei modifizieren kann. Individuelle Endfertigung im Handel: Die Händlerin bezieht einheitliche Rohprodukte, die je nach KundInnenwunsch vollendet werden. Beispiel: Individuelle Brillengestelle. Modularisierung (Baukastenprinzip): Das Produkt wird aus verschiedenen Standardkomponenten zusammengesetzt und so auf die individuellen Bedürfnisse angepasst. Beispiel: Modularer Computer, bei dem die Einzelkomponenten ausgewählt werden können. Individuelle End- oder Vorproduktion mit standardisierter Restfertigung: Bei der Fertigung werden nur die ersten (z. B. Ausgangsmaterial) oder die letzten (z. B. Montage) Wertschöpfungsschritte kundenindividuell durchgeführt. Beispiel: Automobilproduktion mit Montage von individuell ausgewählter Zusatzausstattung (vgl. Piller 2007; Springer Gabler Verlag 2012).
Auf dem Markt ist ein Trend zu personalisierten Produkten als Symbol für die eigene Identität ersichtlich. Doch worauf begründet sich dieser Trend? Eine mögliche Erklärung ist die Digitalisierung des Alltags und das Internet: Durch die veränderten Rahmenbedingungen entstehen neue Konsummuster. So gibt es z. B. online konfigurierbare Fotobücher, Parfüms oder Schokolade. Auch Technologieentwicklungen können die Möglichkeiten von kundInnenindividueller Massenfertigung verändern. Ein großes Potenzial wird hier z. B. dem ‚3D-Druck‘ zugesprochen, welcher im folgenden Abschnitt beleuchtet wird (vgl. Ternès et al. 2015).
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2.3 Additive Fertigung Additive Fertigungsverfahren, im Volksmund oft auch als ‚3D-Druck‘ bezeichnet, ermöglichen die schnelle Herstellung von nahezu beliebig geformten Bauteilen und Strukturen. Am Anfang der Prozesskette steht stets ein digitales Modell des zu fertigenden Bauteils, welches dessen dreidimensionale Struktur (analog zu einer zweidimensionalen Zeichnung) beschreibt. Solche Datensätze werden in der Regel am Computer erzeugt und bearbeitet. Anschließend erfolgt die eigentliche Fertigung. Hierbei wird zwischen industriell eingesetzten additiven Fertigungssystemen und einfachen ‚3D-Druckern‘ unterschieden, deren Einsatz zwar näher an den VerbraucherInnen angesiedelt ist, deren Produktqualität und Materialauswahl oft aber unterhalb derer von industriellen Produktionssystemen liegt (vgl. Gebhardt 2013). Der Umsatz mit additiven Fertigungstechnologien ist seit 2011 kontinuierlich um ca. 30 % p. a. gestiegen. Dies zeigt die Relevanz dieser Technologien für die Zukunft auf und deutet zudem auf die wachsende Zahl an Anwendungsbereichen hin – auch in den Bereichen Mobilität und Leichtbau. Hauptanwendungsgebiete sind heute z. B. die Luftfahrt und Medizintechnik; die Technologie rückt jedoch immer näher an die EndverbraucherInnen heran (vgl. Wohlers 2015). Nach Gebhardt (2013) sind wesentliche Vorteile der additiven Fertigung z. B.: • • •
reduzierte Zykluszeiten von der Idee zum Produkt, Entkopplung der Fertigungskosten von der Stückzahl und der Bauteilkomplexität, die Herstellung von komplexen Strukturen, die mit konventionellen Methoden nicht herstellbar wären und die Möglichkeit, individuelle Produkte ohne signifikanten Mehraufwand zu fertigen.
Um aus einem digitalen Modell direkt ein physisches Bauteil zu erzeugen, eignen sich verschiedene additive Fertigungstechnologien. Alle Verfahren haben gemeinsam, dass die Bauteile additiv, also durch das schrittweise Hinzuaddieren von Material (vgl. subtraktive Fertigung: Drehen, Fräsen) erzeugt werden. Dies geschieht in der Regel durch die Fertigung und das Aufeinanderfügen von einzelnen Schichten (Schichtbauprinzip). Da additive Fertigungsverfahren nicht durch Gussformen o. Ä. auf bestimmte Bauteilgeometrien festgelegt sind, also werkzeuglos arbeiten, wird auch von ‚generativer Fertigung‘ gesprochen: Die spätere Gestalt des Bauteiles wird erst während des Herstellungsprozesses erzeugt (vgl. Gebhardt 2013).
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Abbildung 1: Verfahrensprinzip des Kunststoff-Lasersinterns.
Quelle: DMRC/Universität Paderborn.
Es gibt additive Fertigungstechnologien für verschiedene Materialien wie Kunststoffe, Metalle oder Keramik. Ein wichtiges industrielles Verfahren im Bereich Kunststoffe ist das Lasersintern (siehe Abbildung 1). Der Ausgangswerkstoff, ein Kunststoffpulver, wird schichtweise auf ein sogenanntes Baufeld aufgetragen und an der Oberfläche vorgeheizt. Anschließend wird ein Laserstrahl mittels eines Spiegelsystems entlang der jeweiligen Schichtgeometrien über das Pulver geführt. An diesen Stellen schmilzt das Kunststoffpulver auf und verbindet sich zu festen Schichten. Anschließend wird das Baufeld um eine Schichtdicke abgesenkt; es erfolgt der Pulverauftrag für die nächste Schicht. Dieser Prozess wird so lange wiederholt, bis das Bauteil vollständig erzeugt wurde. Das unverschmolzene Pulver verbleibt zunächst im Bauraum und dient als Stütze für die Kunststoffschmelze. Nach Abschluss des eigentlichen Bauprozesses kühlt das Pulver mit den darin befindlichen Bauteilen ab, die Bauteile werden entnommen und von anhaftendem Pulver befreit (vgl. Schmid 2015). Obwohl das Lasersintern bereits zunehmende Anwendung in vielen Industriezweigen und Branchen findet, gibt es einige Herausforderungen auf dem Weg zu
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einem voll industrialisierten, verlässlichen Fertigungsprozess, die es zu bewältigen gilt. Daher liegen die folgenden Forschungsthemen im Fokus der Autoren: •
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Analyse und Verbesserung der Oberflächenqualität lasergesinterter Bauteile: Durch das Schichtbauprinzip und anhaftende bzw. teilweise verschmolzene Partikeln ist die Bauteiloberfläche sehr rau. Durch eine Analyse der Einflussfaktoren auf die Oberflächenqualität sowie die Entwicklung von Nachbehandlungsmethoden wird die Bauteilqualität verbessert und somit die Anzahl möglicher Anwendungsgebiete erweitert (vgl. Delfs et al. 2016). Analyse der thermischen Prozessführung mit Fokus auf die Bauteilfestigkeit: Thermische Inhomogenitäten während des Bauprozesses können zu schwankenden Bauteilfestigkeiten führen. Sind die Einflussgrößen und Mechanismen bekannt, können festere und somit auch leichtere Bauteile hergestellt werden, die sowohl während der Fertigung, als auch in der späteren Anwendung Ressourcen schonen (vgl. Josupeit und Schmid 2016). Analyse der Materialalterung in Hinblick auf neue Recyclingstrategien: Das unverschmolzene Pulver unterliegt verschiedenen thermischen Alterungseffekten und ist daher nur bedingt wiederverwendbar. Ein grundlegendes Verständnis über die Einflussgrößen auf die Materialalterung, die Vorhersage von Alterungseffekten sowie daraus abgeleitete neue Recyclingstrategien helfen, den Materialverbrauch und damit die benötigten Ressourcen zu schonen. Weiterhin werden optimierte Materialien mit reduzierten Alterungseffekten bezüglich ihrer Material- und Verarbeitungseigenschaften untersucht (vgl. Josupeit et al. 2015). Neue Materialien: Aufgrund vielseitiger und enger Anforderungen an die Material- und Partikeleigenschaften ist die Verfügbarkeit von Werkstoffen für das Lasersintern sehr stark eingeschränkt. Deshalb werden neue Materialsysteme hinsichtlich ihrer Verarbeitbarkeit und daraus resultierenden Bauteileigenschaften untersucht. Dies sind z. B. gummielastische Materialien oder Hochtemperaturkunststoffe. Somit kann für jede Anwendung der optimale Werkstoff eingesetzt werden.
Alle genannten Forschungsgebiete tragen dazu bei, das additive Fertigungsverfahren Lasersintern zu einem robusten und etablierten Herstellungsprozess weiterzuentwickeln. Der Einsatz der Fertigungstechnik liegt dabei eher in der Industrie als bei der Endanwenderin – Anwendungspotenzial für lasergesinterte Produkte liegt hingegen in beiden Bereichen vor.
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3. I NDIVIDUALISIERUNG MIT
ADDITIVER
F ERTIGUNG
In der additiven Fertigung spielt es in der Regel keine Rolle, ob mehrere identische oder mehrere unterschiedlich geformte Produkte hergestellt werden. Dadurch eignet sie sich insbesondere zur Fertigung individueller Produkte – sowohl aus technologischen als auch aus ökonomischen Gesichtspunkten. Es stellt sich jedoch die Frage, inwieweit ein individuelles Produkt auch individualisiert ist. Eine mögliche Antwort liegt in der Intention der additiven Fertigung eines individuellen Produkts: Ist die additive Fertigung z. B. aus herstellungstechnischen oder ökonomischen Gründen sinnvoll oder gar notwendig, oder wird sie explizit als Werkzeug zur Herstellung individualisierter Produkte eingesetzt? Beide Varianten werden im Folgenden diskutiert. 3.1 Individuelle Produkte (‚Notwendigkeit‘ additiver Fertigung) Ein individuelles Produkt ist zwar auf einen bestimmten Zweck zugeschnitten, erfordert aber nicht zwingend eine persönliche Note der Konsumentin. Die additive Herstellung kann aus fertigungstechnischen Gründen notwendig oder günstiger als andere Herstellungsmethoden sein. Ein anschauliches Beispiel dafür findet sich in der Zahntechnik (vgl. EOS 2013): Hier werden additive Fertigungsverfahren bereits standardmäßig zur Herstellung von Kronen, Brücken und Modellen eingesetzt. Dazu wird die Mundsituation der PatientInnen mittels 3D-Scannern in ein digitales Modell überführt. Auf Basis dieser Daten wird der Zahnersatz patientInnenindividuell additiv gefertigt. Hierbei ergeben sich gegenüber konventioneller Fertigungsverfahren zeitliche und kostenseitige Vorteile. Zu beachten ist aber, dass die Modellerstellung, Fertigung und Veredelung hauptsächlich durch die Zahntechnikerin bzw. durch die Lieferantin erfolgt. Die Schnittstelle zur Patientin liegt hauptsächlich in der Aufnahme der individuellen Mundsituation, ist also auf Seite der Verbraucherin als eher passiv anzusehen. Sie nutzt schließlich ein individuelles Produkt, ohne dass eine Möglichkeit zur aktiven Mitgestaltung besteht. Ähnliche Beispiele finden sich in der Prothetik oder der Hörgeräteindustrie. Folglich lässt sich feststellen: Ein individuelles Produkt ist nicht zwingend individualisiert, also gekoppelt an die Individualisierung im sozialwissenschaftlichen Sinne. Additive Fertigungstechnologien werden zwar für die Herstellung individueller Produkte eingesetzt, erfordern aber nicht in jedem Fall eine aktive Selektion oder Konfiguration des Produkts durch die Konsumentin, wie es das Beispiel aus der Zahntechnik zeigt. Gleichwohl ist die technische Grundvorausset-
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zung geschaffen, dass sich additive Fertigungsverfahren generell auch für die Herstellung individualisierter Produkte eignen. Die Voraussetzungen dafür sowie Praxisbeispiele werden im Folgenden erläutert. 3.2 Individualisierte Produkte (Selbstzweck) Wie dargestellt, eignen sich additive Fertigungstechnologien zur Herstellung individueller Produkte. Ob diese auch als individualisiert bezeichnet werden können, hängt von der Interaktion der Konsumentin mit der Lieferantin bzw. der Produzentin ab. Der kritische Punkt ist dabei die Schnittstelle zwischen der Kundin und der Lieferantin: Sofern die Kundin dem Produkt aktiv eine persönliche Note verleiht, kann im Sinne von Beck von einer ‚Individualisierung‘ gesprochen werden. Die Interaktion, also die aktive Mitgestaltung und die Umsetzung von Wünschen, findet innerhalb der Wertschöpfungskette insbesondere im Design-Prozess statt. Hierfür finden sich Beispiele in der individualisierten Gestaltung von Schmuck, Handyhüllen oder Brillengestellen (vgl. ScopeForDesign 2016): In einem webbasierten 3D-Konfigurator können eigene Ideen hinsichtlich Formen, Maßen, Beschriftungen und Farben umgesetzt werden. Die additive Fertigung findet schließlich auf industriellen additiven Fertigungssystemen bei der Produzentin statt. Durch die Interaktionsschnittstelle nimmt die Kundin aktiv an der Gestaltung ,ihres‘ Produkts teil. Der Gestaltungsspielraum ist jedoch zum Teil eingeschränkt. So können z. B. verschiedene Oberflächenstrukturen für Handyhüllen ausgewählt, aber keine eigenen Formen erstellt werden. Trotzdem werden derartige Geschäftsmodelle erst durch die Anwendung additiver Fertigungstechnik im Rahmen einer kundInnenindividuellen Massenproduktion sinnvoll. In dem oben genannten Beispiel wird die entscheidende Rolle der Interaktionsplattform deutlich. So verschieden die Menschen in einer Gesellschaft sind, so heterogen sind auch ihre Vorkenntnisse im Umgang mit diesen – oft webbasierten – Plattformen. Bei der Ausprägung des Gestaltungsspielraumes gilt es daher für die AnbieterInnen, eine Balance zwischen Flexibilität und Überforderung zu finden. Die genannten Überlegungen und Beispiele machen deutlich, dass die Fertigung individualisierter Produkte mittels additiver Fertigung möglich und sinnvoll ist. Es ist jedoch zu beachten, dass nicht alle individuellen Produkte auch als ‚individualisiert‘ bezeichnet werden können. Der Bedarf an individuellen Produkten sowie die Fertigung ebendieser mittels additiver Fertigung können aus triftigen Gründen schlichtweg notwendig sein. Individualisierung bedingt dagegen eine aktive Teilnahme der Konsumentin am Produktionsprozess, zumindest in der Design-Phase. Die Ausprägung dieser Interaktion ist abhängig von dem durch die
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Produzentin eingeräumten Gestaltungsspielraum. Additive Fertigungstechniken ermöglichen entsprechende Geschäftsmodelle und werden dadurch eine Umsetzungsmöglichkeit für einen individualisierten Lebensstil. Ob dies aber auch eine wechselseitige Beeinflussung ist, also additive Fertigung Individualisierung beschleunigt, wird im folgenden Abschnitt diskutiert.
4. I NDIVIDUALISIERUNG DURCH
ADDITIVE
F ERTIGUNG
Wie bereits im Abschnitt „Grundlagen“ beschrieben, führen gesellschaftliche Prozesse sowie prägende historische Ereignisse zu einer fortschreitenden Individualisierung der Gesellschaft, davon geht zum Beispiel Beck in seinen Arbeiten aus. Individualisierungsprozesse sind zudem eng mit technologischen Entwicklungen verbunden. Ein großes Potenzial, dies sollte der Artikel zeigen, erhalten dabei insbesondere additive Fertigungstechnologien. Wie bereits im vorhergehenden Abschnitt erarbeitet, ist die Möglichkeit durch Individualisierung mit additiver Fertigung bereits in Ansätzen Realität. Ob im Umkehrschluss Individualisierung durch additive Fertigung beschleunigt wird, ist aufgrund der Vielzahl an gesellschaftlichen und sozialen Einflussfaktoren auf aktuelle Individualisierungsprozesse ungleich schwieriger nachzuweisen. Es gibt jedoch einige Indizien, welche für oder gegen eine maßgebliche Beeinflussung von Individualisierung durch additive Fertigung sprechen, welche im Folgenden stichpunktartig aufgeführt werden.
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Pro: •
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Im Rahmen der kundInnenindividuellen Massenproduktion setzt sich die Individualisierung mittels additiver Fertigung durch die große Gestaltungsfreiheit von konventionellen bzw. alternativen Konzepten, in denen die Variantenvielfalt letztendlich doch endlich ist, ab. Die Gestaltungsfreiheit ist bei der additiven Fertigung rein technisch nahezu unbegrenzt. Die Kundin kann eigene Ideen bezüglich der Formgebung und Funktion eines Produktes ‚ideal‘ umsetzen und drauf verzichten, aus vielen Varianten die ‚beste‘ auswählen zu müssen. Nicht nur die Gestaltung, sondern auch die Fertigung rücken immer mehr in den Fokus der KonsumentInnen. In den letzten Jahren hat sich der Absatz an ,3D-Druckern‘ für den Hausgebrauch stark vergrößert. In den Medien ist sogar von ‚ProsumentInnen‘, einer Wortneuschöpfung, welche für professionelle bzw. produzierende KonsumentInnen steht, die Rede. Die Ansprüche an die Produkte steigen weiter an und können durch marktübliche Waren nicht befriedigt werden – es entsteht eine mehr oder weniger professionelle ‚do-it-yourself‘-Mentalität. Die Erstellung von digitalen Modellen rückt immer näher an die EndverbraucherInnen heran. So ist z. B. in neuen Windows-Versionen die App ,3D Builder‘ ab Werk enthalten. Mit dieser können eigene 3D-Modelle erzeugt, angezeigt und personalisiert werden. Zudem sind Schnittstellen zu Online-Dienstleistern enthalten, welche die selbst erstellten Modelle ‚ausdrucken‘. Dadurch zeigt sich, wie sehr die Technologie bereits heute für eine Vielzahl von Nutzern greif- und nutzbar ist.
Contra: •
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Individualisierungsprozesse werden insbesondere über veränderte Haushaltsformen, Biografiemuster, Arbeitswelten und Konsumgewohnheiten deutlich. Der Einfluss additiver Fertigungstechnologien liegt vorwiegend in nur einer dieser unterschiedlichen Facetten vor: den Konsumgewohnheiten. Die Entwicklung der additiven Fertigungstechnologien wird durch eine Vielzahl weiterer technologischer Fortschritte, insbesondere in den Bereichen Mobilität und Internet, überlagert, welche zudem einer breiteren Masse in der Bevölkerung präsent sind. Dadurch wird eine ursächliche Zurückführung auf einzelne Technologien erschwert. Die Schnittstelle zwischen der Konsumentin und der Produzentin stellt ein ernstzunehmendes Hindernis in der Umsetzung von Individualisierung durch
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•
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additive Fertigung dar. Aktuelle ingenieurwissenschaftliche Werkzeuge zum Entwurf von Bauteilen erfordern viel AnwenderInnenwissen und Erfahrung. Für Nicht-Fachleute sind entsprechende vereinfachte Schnittstellen mit Einschränkungen des Gestaltungsspielraums verknüpft. Ein individualisiertes Produkt zeichnet sich durch individuelle Maße, Funktionalitäten und/oder die gustative bzw. visuelle Wahrnehmung aus. Nicht alle dieser Eigenschaften können mit der aktuellen additiven Fertigungstechnik umgesetzt werden; es gibt zudem prozessseitige Einschränkungen wie z. B. die Oberflächenqualität. Die Anwendung von ,3D-Druckern‘ für den Hausgebrauch ist zurzeit eher für den ‚Hobbybastler‘ für Bedeutung – Bauteilqualität und Reproduzierbarkeit reichen oft nicht an industriell eingesetzte additive Fertigungstechnologien heran.
Obwohl mehr Argumente gegen als für eine Beschleunigung von Individualisierungsprozessen durch additive Fertigung sprechen, lassen sich einige jüngere Trends hin zu einem Heranrücken der neuen Fertigungstechnologien an die EndverbraucherInnen beobachten. Aufgrund der technischen Hürden und der Überlagerung mit anderen technologischen Entwicklungen kann jedoch keine direkte Beeinflussung von additiver Fertigung auf aktuelle Individualisierungsprozesse festgestellt werden. In fernerer Zukunft ist jedoch ein größerer Einfluss denkbar.
5. F AZIT
UND
AUSBLICK
Individualisierungsprozesse werden durch gesamtgesellschaftliche Veränderungen und historische Ereignisse, welche diese herausfordern, angetrieben. Technologische Fortschritte nehmen darauf einen wesentlichen Einfluss. Im vorliegenden Text wurden additive Fertigungstechnologien (,3D-Druck‘) hinsichtlich ihrer Einsetzbarkeit zur Herstellung individueller und individualisierter Produkte, aber auch hinsichtlich ihres Einflusses auf aktuelle Individualisierungsprozesse hin untersucht. Die additive Herstellung von individuellen Produkten findet bereits statt, insbesondere in der Medizintechnik. Für Anwendungen, bei denen die Konsumentin direkten Einfluss auf die Gestaltung eines Produktes nimmt, kann auch von ‚Individualisierung‘ gesprochen werden. Im Rahmen der ‚kundInnenindividuellen Massenproduktion‘ werden flexible Produktionssysteme in Zukunft an Relevanz gewinnen, wobei additive Fertigungstechnologien eine große Rolle bei der Umsetzung spielen. Eine direkte Beeinflussung von Individualisierungsprozessen durch additive Fertigung konnte jedoch nicht festgestellt werden. Nichtdestotrotz
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tragen die Forschungsaktivitäten der Autoren zu einem robusten und sicheren Einsatz additiver Fertigung − auch in neuen Anwendungen − bei.
L ITERATUR Beck, Ulrich (1983): Jenseits von Stand und Klasse? In: Reinhard Kreckel (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten. In: Soziale Welt (Sonderband Soziale Ungleichheiten), S. 35–74. Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft – Auf dem Weg in eine andere Moderne. 5. Auflage. Berlin: Suhrkamp. Beck, Ulrich; Giddens, Anthony; Castells, Manuel; Hardt, Michael; Negri, Antonio (2006): Individualisierung und Strukturierung in einer globalisierten Welt, In: Annette Treibel (Hrsg.): Einführung in soziologische Theorien der Gegenwart, 7. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Delfs, Patrick; Töws, Marcel; Schmid, Hans-Joachim (2016): Optimized build orientation of additive manufactured parts for improved surface quality and build time. In: Additive Manufacturing 12, S. 314–320. EOS-Broschüre (2013): Additive Fertigungsverfahren für die Zahnheilkunde. Online verfügbar unter: https://cdn1.scrvt.com/eos/public/f9cc6d518b40ee07 /5372f48a6b2ced86cdf3bb31de428ba1/dentalbroschuere.pdf (Zugriff: 04.11.2017). Ewinger, Dunja; Tèrnes, Anabel; Koerbel, Juliane; Towers, Ian (2016): Arbeitswelt im Zeitalter der Individualisierung – Trends: Multigrafie und Multi-Option in der Generation Y. Wiesbaden: Springer Gabler. Gebhardt, Andreas (2013): Generative Fertigungsverfahren – Additive Manufacturing und 3D Drucken für Prototyping − Tooling − Produktion. 4. Auflage. München: Hanser. Gerken, Gerd (1990): Die Trends für das Jahr 2000 – Die Zukunft des Business in der Informations-Gesellschaft. 3. Auflage. Düsseldorf: ECON Verlag. Hornberger, Sonia (2002): Die neuzeitliche Perspektive der Individualisierung und die Herausforderungen für die Personalforschung. In: Zeitschrift für Personalforschung 16 (4), S. 545–564. Josupeit, Stefan; Tutzschky, Sabine; Gessler, Monika; Schmid, Hans-Joachim (2015): Powder ageing and material properties of laser sintered polyamide 12 using low refresh rates. In: Gerd Witt, Andreas Wegner und Jan T. Sehrt (Hrsg): Neue Entwicklungen in der Additiven Fertigung. Berlin/Heidelberg: Springer, S. 63-78.
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Josupeit, Stefan; Schmid, Hans-Joachim (2016): Temperature history within laser sintered part cakes and its influence on process quality. In: Rapid Prototyping Journal 22 (5), S. 788–793. Piller, Frank Thomas (2006): Mass Customization – Ein wettbewerbsstrategisches Konzept im Informationszeitalter, 4. Auflage, Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag. Piller, Frank Thomas (2007): Mass Customization, In: Sönke Halbers und Andreas Herrmann (Hrsg.): Handbuch Produktmanagement. 3. Auflage. Wiesbaden: Gabler, S. 943–968. Reichwald, Ralf; Piller, Frank (2009): Interaktive Wertschöpfung – Open Innovation, Individualisierung und neue Formen der Arbeitsteilung. 2. Auflage. Wiesbaden: Gabler. ScopeForDesign (2016): Online-Konfigurator für individualisierte Brillen gestelle, Schmuck und Handyhüllen. Online verfügbar unter: https://www. scopefordesign.de (Zugriff: 04.11.2017). Schäfers, Bernhard (2016): Einführung in die Soziologie. 2. Auflage. Wiesbaden: Springer. Schmid, Manfred (2015): Selektives Lasersintern mit Kunststoffen – Technologie, Prozesse und Werkstoffe. 1. Auflage. München: Hanser. Springer Gabler Verlag (Hrsg.) (2012): Springer Gabler Lexikon. Eintrag „Mass Customization“. Online verfügbar unter: http://wirtschaftslexikon.gabler.de /Archiv/57547/mass-customization-v8.html (Zugriff 04.11.2017) Ternès, Anabel; Towers, Ian; Jerusel, Marc (2015): Konsumentenverhalten im Zeitalter der Mass Customization – Trends: Individualisierung und Nachhaltigkeit. Wiesbaden: Springer Gabler. Wohlers Report (2015): 3D Printing and Additive Manufacturing State of the Industry, Annual Worldwide Progress Report. Fort Collins (USA): Wohlers Associates.
Unschärfe in der Simulation im Kontext von Sicherheitsdiskursen A LEX D RIDGER UND R OLF M AHNKEN
1. E INLEITUNG Das Streben nach umfassender Sicherheit scheint ein grundlegendes Verlangen des Menschen zu sein (u. a. Maslow 1943) und kann dementsprechend weit in der Geschichte zurückverfolgt werden. Bereits in der Bibel im 5. Buch Mose, Kapitel 22, Vers 8 wird in einer Anleitung zum Hausbau formuliert: „Wenn du ein neues Haus baust, so mache ein Geländer ringsum auf deinem Dache, damit du nicht Blutschuld auf dein Haus lädst, wenn jemand herabfällt.“
Die kulturanthropologischen Studien von Mary Douglas und Aaron Wildavsky zeigen, wie subjektiv und kulturell verschieden das Sicherheitsbestreben aussehen kann (Douglas und Wildavsky 1983; Douglas 1990; auch: Plapp 2004; Giebel 2012). Methoden zur Herstellung von Sicherheiten differenzieren zwischen okkultistischen oder symbolischen Formen sowie rationaler Kalkulation und Vorsorge. Sie alle haben zum Ziel, erwartete und unerwartete Beeinträchtigungen unter Kontrolle zu halten, abzuwehren bzw. ihr Eintreten hinreichend unwahrscheinlich zu gestalten. Dies gilt sowohl für soziale als auch für technische (Un-)Sicherheiten; etwa beim Bauwesen, Verkehrswesen, dem Anlagenbau, Personenschutz, Datenschutz, bei Versicherungen oder in der Luftfahrt. Zweckmäßig ist es in allen Fällen, geeignete Sicherheitskonzepte zu spezifizieren, deren Ausführung benannte Beeinträchtigungen zu minimieren im Stande ist. Dieser Artikel bedient sich sowohl des Sicherheitsverständnisses der Gesellschaft als auch der wissenschaftlichen Gemeinschaft. Unterschiede, aber vor allem auch die Gemeinsamkeiten sollen aufgezeigt und analysiert werden. Es wird notwendig, den Begriff der (Un-)Sicherheit im Laufe des Textes zu abstrahieren
36 | ALEX DRIDGER, R OLF M AHNKEN
um die Bedeutsamkeit des (insbesondere) technischen Sicherheitsverständnisses für die Gesellschaft zu erläutern und der (Sicherheits-)Forschung zur angemessenen Legitimation zu verhelfen. Erkenntnisleitend ist dabei die These, dass die (Sicherheits-)Forschung und die Erwartungssicherheit der Gesellschaft sich gegenseitig, wenn auch indirekt, beeinflussen und vorantreiben. Wissenschaft und Gesellschaft können entsprechend nicht voneinander getrennt betrachtet werden, sondern übernehmen jeweils einen komplementären Part innerhalb des soziotechnischen Systems.
2. S ICHERHEITSVERSTÄNDNIS
DER
G ESELLSCHAFT
Auch wenn der Begriff der Sicherheit in der Gesellschaft meist mit sozialer Sicherheit, d. h. Schutz vor Folgen sozialer Risiken, in Zusammenhang gebracht wird, so beschreibt er nur einen Teil dieses Hyperonyms. Einer der Gründe dieser Einschränkung könnte die instinktive Wahrnehmung dieser Art von Sicherheit sein, mit der jede Person aktiv umgehen kann und damit oft einen direkten Zugriff auf ihren Einfluss hat. So werden die Türen verriegelt, damit keine Dritten sich unerlaubt Zutritt verschaffen, Versicherungen werden abgeschlossen, das Einkommen wird u. a. gespart oder investiert, ärztliche Vorsorgeuntersuchungen werden in Anspruch genommen, Sicherheitskontrollen werden durchgeführt, Antivirenprogramme werden installiert oder Passwörter für BenutzerInnenaccounts angelegt. Die Verantwortung für die eigene Sicherheit liegt demnach größtenteils und − sofern es möglich ist − im persönlichen Zuständigkeitsbereich (vgl. Klimke 2008). Gleichzeitig sind diese Arten der Sicherheit für jede Person zugänglich, verständlich und/oder praktisch selbstständig umsetzbar. Es handelt sich hierbei also um die individuelle-, kollektive- oder wirtschaftliche Sicherheit. Allerdings geht es auch zu einem großen Teil um die Schaffung eines subjektiven Sicherheitsgefühls, welches für jede Person unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann und damit in konkreten Situationen, Umgebungen, Konstellationen, Umständen usw. anders wahrgenommen wird. Das Gefühl für (zusätzliche) Sicherheit kann dabei sowohl aus subjektiven Ängsten als auch aus rationalen bzw. intuitiven Kalkulationen und Vorsorgebestrebungen entstehen (vgl. Ziegleder et al. 2011). Beispielhaft kann das Abschließen einer Versicherung nicht zum objektiven, sondern nur zum subjektiven Sicherheitsgefühl beitragen. So wird das Risiko, welches einer subjektiven Wahrnehmung unterliegt, durch Bezahlung zu minimieren versucht. Hierbei ist anzumerken, dass die soziale Sicherheit sich im Laufe der Jahre von einer vorwiegend zwischenmenschlichen zu
U NSCHÄRFE IN
DER
S IMULATION
IM
K ONTEXT
VON
S ICHERHEITSDISKURSEN
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einer mehrheitlich technischen gewandelt hat, was die Bedeutung des soziotechnischen Systems verdeutlicht (vgl. Rausch 2012). Wie sicher sich eine Person auch immer (zu glauben) fühlt, so ist es ihr in aller Regel bewusst, dass keine absolute Sicherheit existiert und es stets Restunsicherheiten gibt, die außerhalb der eigenen Kontrolle liegen. Darüber hinaus will sich niemand weniger sicher fühlen als zuvor, wobei in dem „zuvor“ jeder Zeitpunkt bis zum „jetzt“ mit inbegriffen sein kann. (Un-)Sicherheit ist damit keine Konstante, sondern eine veränderbare gesellschaftliche Konstruktion. In der Soziologie hat vor allem Niklas Luhmann den Begriff der Sicherheit mit Erwartungssicherheit gleichgesetzt (vgl. Luhmann 1991, Schmitt 2009). Erwartungssicherheiten entstehen demnach, indem vergangene Erfahrungen in die Zukunft projiziert werden. Entsprechend wird der Anstieg der (gefühlten) vergangenen Sicherheit in die Zukunft verlängert, sodass die Erwartung davon ausgeht, dass die Sicherheit nächste Woche größer ist als die der letzten Woche, auch wenn es sich um einen extrem minimalen bis gar keinen Anstieg handeln kann. Ganz gleich ob es sich bei der Erwartungssicherheit um eine (wie in der Luhmannschen Systemtheorie und den Rational-Choice-Ansätzen) anthropologische Konstante handelt oder sie lediglich eine neuere Erscheinung darstellt, so ist das Streben nach ihr gegenwärtig vor allem im technischen Bereich nicht mehr wegzudenken. Was bedeutet Sicherheit allgemein in diesem Sinne für das einzelne Gesellschaftsmitglied? Diese Frage ist nur unter bestimmten Prämissen zu beantworten. Wenn die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses beispielsweise bei fünf Prozent liegt, dann ist der Mensch womöglich gewillt, dieses Risiko einzugehen. Wird allerdings erweitert „die Wahrscheinlichkeit ist eigentlich zwischen zwei und acht Prozent“ (im Schnitt z. B. bei fünf Prozent), so ist jetzt ein Teil der Menschen nicht mehr bereit, das Risiko zu tragen, ein anderer Teil davon aber womöglich erst recht. Wird jetzt noch hinzugefügt: „Es geht eher gegen die acht Prozent als gegen die zwei Prozent“, d. h. wird nun eine Wertung oder Gewichtung der Aussage angehängt, so ist jetzt womöglich niemand mehr bereit, das Risiko einzugehen. Noch vor einigen Jahren wären die Worte „bei fünf Prozent“ meistens völlig ausreichend gewesen, um ein Risiko zu charakterisieren. Die Gewichtung bzw. Unschärfe dieser Aussage war selten Teil des Problems. So waren u. a. sicherheitsbezogene DIN-Normen weniger exakt (vgl. Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung 2011). Durch die immer exakter werdenden Ansprüche wollen wir inzwischen nicht nur eine, sondern die Aussage und das nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch im alltäglichen Leben. Es wird sozusagen die absolute Antwort bzw. Genauigkeit verlangt, auch wenn diese im alltäglichen Leben subjektiv ausgelegt werden kann. Das technische Umsetzen dieser
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modernen Pedanterie ist für IngenieurInnen zu einer höchst anspruchsvollen Aufgabe geworden, denn ein Spielraum für Subjektivität ist hier nicht gegeben. Um eine Bewertung der Wahrscheinlichkeit in den Ingenieurwissenschaften formulieren zu können, die eine widerspruchsfreie und eindeutige Handhabung dieser erlaubt, ist deshalb das Errichten einer einheitlichen mathematischen Basis unumgänglich. Diese kann allerdings erst auf einem bestimmten Abstraktionsniveau existieren, wie dieser Text zu zeigen versucht.
3. S ICHERHEITSVERSTÄNDNIS
IM I NGENIEURBEREICH
Ein in den letzten Jahren immer breiter werdender Bereich der Ingenieurwissenschaften befasst sich mit dem Teilaspekt der Sicherheit, den der größte Teil der Gesellschaft nur indirekt wahrnimmt und entsprechend wenig aktiven Einfluss bzw. direkten Zugriff darauf hat. Nichtsdestotrotz ist diese technische Sicherheit wichtiger als je zuvor, denn der Anspruch an die Erwartungssicherheit ist, insbesondere im technischen Bereich, stark gestiegen. Andreas Kaminski schreibt dazu: „Kaum etwas trägt zur Erwartungsbildung und Erwartungssicherheit so bei wie Technik. Ist der Grenzbegriff von Lebenswelt enttäuschungslose Erwartungssicherheit und ist Technik in besonderem Maße aufgrund ihrer Verlässlichkeit erwartungsbildend und -garantierend, kann es nichts geben, was mehr Lebenswelt entspricht als Technik.“ (Kaminski 2010, S. 155)
Gesetzliche Vorschriften dienen dabei in erster Linie dem Gesundheits- bzw. Umweltschutz, wobei die primäre Grundlage für die Betriebssicherheit die Bauteilzuverlässigkeit bzw. ihre einwandfreie Funktionalität darstellt. Dieser Artikel befasst sich hauptsächlich mit der letzteren, d.h. der funktionalen Sicherheit (vgl. Braband 2007). Das Voraussetzen einer gewissen funktionalen Sicherheit ist zur Selbstverständlichkeit geworden, so dass das Fehlen dieser oft erst im Falle eines Unfalls wahrgenommen wird. Gleichzeitig kann durch die Verwunderung über das Auftreten eines Unfalls erst der hohe Sicherheitsstandard erklärt werden. Wir sind daran gewöhnt, dass der Zug, das Flugzeug, das Auto usw. uns eine hohe funktionale Sicherheit gewährleisten, so dass der Gedanke des Fehlens dieser heute weitgehend nicht mehr vorhanden ist. Des Weiteren scheinen der Sicherheitsstandard bzw. das einwandfreie Funktionieren von Mechanismen, die eine technische Vorrichtung als auch selbsttätig funktionierende Systeme beschreiben können, durch eine objektive Instanz zustande zu kommen und in unserer Ge-
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sellschaft jeder Person zuzustehen. So ist beispielsweise jeder Person bewusst, dass ein Bankautomat all seine Kunden gleich behandelt. Genauso befördert der Zug all seine Passagiere, ohne nach deren Motiven zu fragen und bietet zugleich Allen den gleichen Sicherheitsstandard. Das Vertrauen in Mechanismen kann somit mit einem Vertrauen in ihre Gleichgültigkeit und Interesselosigkeit gegenüber der menschlichen Diversität interpretiert und ihr Dienen als eine Selbstverständlichkeit empfunden werden. Dieses wiederrum trägt dazu bei, dass eine gewisse Erwartung an Mechanismen (bzw. die Sicherheit, dass diese Erwartung erfühlt ist) dem Menschen innezuwohnen scheint. Eine Konnotation der Sicherheit, vor allem im gesellschaftlichen Kontext, könnte als Schutz vor etwas interpretiert werden. Dementsprechend wird Sicherheit des Öfteren durch ein Schloss symbolisiert. Dieses verdeutlicht auch das viel diskutierte Spannungsverhältnis zwischen Sicherheit und Freiheit, wobei dann letztere als eingeschränkt empfunden werden kann. Wird hingegen die technische Sicherheit thematisiert, so würde kaum eine Person behaupten, dass sie sich aufgrund einer sichereren Umgebung weniger frei fühle. Vielmehr könnte argumentiert werden, dass durch eine einwandfreie Funktionalität von Zügen, Flugzeugen, Bordsoftware usw. eine freie Bewegung erst ermöglicht wird. Nichtsdestotrotz widerspricht das technische Sicherheitsverständnis nicht der Bedeutung von Schutz vor etwas. Betrachten wir beispielsweise die Interaktion von Mensch und Roboter bei Montagearbeiten: Während Roboter früher eigenständig in für sie extra konstruierten Käfigen die Arbeit verrichteten, arbeiten sie heute weitgehend mit dem Menschen ‚Hand in Hand‘ (vgl. Thiemermann 2005). Die Programmierung lässt dabei die Bewegung des Menschen erahnen und auf sie eingehen. Der Roboter hat demnach mehr Bewegungsfreiheitsgrade, die allerdings abhängig von der Aktion des Menschen sind. Die gleichzeitige Sicherheit und (Bewegungs-)Freiheit des Menschen wirken also einander nicht entgegen. Nach der Aussage: „Die Freiheit eines jenen beginnt dort, wo die Freiheit eines anderen aufhört“, welche Immanuel Kant zugeschrieben wird, kann argumentiert werden, dass die Freiheit und Sicherheit des Menschen in keinem Spannungsverhältnis stehen, wenn es sich um eine funktionale Sicherheit handelt, da die Einschränkung allein die technische Komponente zu tragen hat. Das gesellschaftliche und (ingenieur-)technische Verständnis der Sicherheit kann also lediglich als eine unterschiedliche Konkretisierung dieser verstanden werden, ohne den allgemeinen Sinn des Begriffs zu verändern. Auch wenn es sich bei den Termini „Sicherheit“ und „Unsicherheit“ um polare Begriffe handelt, d.h. Begriffe, denen eine gemeinsame Existenz zu Grunde liegt, so findet das Präfix „Un“ in Zusammenhang des gesellschaftlichen Sicherheitsverständnisses seltener Verwendung. Um eine stetig ansteigende (funktiona-
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le) Sicherheit gewährleisten zu können, ist es allerdings unabdingbar, ein besseres Verständnis des Begriffs der Unsicherheit zu gewinnen, die in diesem Zusammenhang von den Ingenieurwissenschaften (aber beispielsweise auch in der Mathematik, der Informatik oder den Naturwissenschaften) verwendet wird. Es werden grundlegend Unsicherheiten der aleatorischen und der epistemischen Natur unterschieden (vgl. Dutta und Ali 2014; Urbina und Mahadevan 2011). Eine Variable (in der Regel eine physikalische oder mathematische Größe) behaftet mit der aleatorischen Unsicherheit unterliegt dabei einer Wahrscheinlichkeitsverteilung. Diese besitzt einen Erwartungswert, d.h. der Wert, der im Mittel angenommen wird, und eine gewisse Varianz bzw. Standardabweichung, welche ein Maß für die Streuung der Werte um den Erwartungswert darstellt. Der Gewinn zusätzlicher Informationen kann in diesem Fall zu einer genaueren Verteilung führen, nicht aber den Wahrscheinlichkeitscharakter verschwinden lassen. Während die aleatorische Unsicherheit demnach einem intrinsischen, nicht reduzierbaren Wesen entspricht, beschreibt die epistemische Unsicherheit Aussagen, bei denen kausale Zusammenhänge und Hintergründe nur unvollständig bzw. unpräzise bekannt sind und dementsprechend durch Unschärfe charakterisiert werden. Es handelt sich also um eine Unsicherheit, welche durch zusätzliche Informationen reduzierbar ist. Als Beispiel für aleatorische Unsicherheit sei der Wurf eines fairen Würfels, der Elastizitätsmodul eines heterogenen Materials oder der Quantencharakter von Elementarteilchen genannt. Eine epistemische Unsicherheit wäre beispielsweise die Anzahl der Gäste in einem Restaurant, die genaue Wettervorhersage oder das Versagen eines Materials, das nur wenige Male getestet wurde. Befänden wir uns in einer rein deterministischen Welt, d. h. einer Welt, der keine aleatorische Unsicherheit zu Grunde liegt, so wären alle möglichen Unsicherheiten epistemischer Natur. Durch genügend (d. h. eigentlich unendlich viele) Informationen, wie beispielsweise hinreichend viele experimentelle Daten bzw. Beobachtungen, würde sich diese epistemische Unsicherheit entsprechend auf jeweils einen festen, deterministischen Wert reduzieren. Unter diesen Umständen würde sich jede (sicherheitsbezogene) Frage mit „Ja“ oder „Nein“ beantworten und damit durch ein binäres Modell erfassen lassen. In der Regel handelt es sich aber weder um ein rein deterministisches Weltbild noch stehen allgemein genügend Informationen über ein Ereignis bzw. System zur Verfügung. Die Existenz beider Unsicherheitsarten muss daher stets vorausgesetzt werden, um das Aufstellen eines geeigneten Modells zu ermöglichen, welches die erfassbare Welt bzw. die Antworten auf bestimmte Fragen in dieser bestmöglich (d. h. u. a. zeitgemäß) repräsentieren soll.
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Das Gewinnen von (zusätzlichen) Informationen zur Reduktion der epistemischen Unsicherheit bzw. zur Charakterisierung der zugrundeliegenden aleatorischen Wahrscheinlichkeitsverteilung ist unterdessen zum Teil höchst aufwendig und/oder sehr kostspielig, was in der Praxis durch ein geeignetes Kosten-NutzenVerhältnis bestmöglich abgewogen werden muss. In den Ingenieurwissenschaften ist damit das Ziel der Unsicherheitsanalyse, welche eine notwendige Bedingung zur Erlangung eines gewissen Sicherheitsgrades darstellt, die vorhandenen (und seien es noch so wenige) Informationen optimal zu nutzen. In anderen Worten: Aus dem zur Verfügung stehenden Input soll die maximal mögliche Information gewonnen werden, die nur auf einer mathematischen Basis zu Stande kommen kann. Wie wird nun die adäquate Antwort auf eine technische Sicherheitsfrage formuliert, die sich nicht ohne weiteres beantworten lässt bzw. die nicht für jede Person direkt zugänglich ist? Die Ingenieurwissenschaften bedienen sich dazu unterschiedlicher Simulationsprogramme, die im Laufe der Jahre selbst einem iterativen Prozess unterlagen und auch weiterhin unterliegen, denn die Vermeidung systematischer Fehler in der Implementierung gehört ebenso zur Steigerung der funktionalen Sicherheit wie die Anwendung der Simulation selbst. Die Berechnung der Zuverlässigkeit, der optimalen Beschaffenheit eines Materials, der Kompatibilität der Komponenten, der Lebensdaueranalyse usw. wird dabei durch abstrahierte mathematische Modelle ermöglicht. In diesem Zusammenhang ist nicht nur die Leistungsstärke der Rechner, sondern der richtige mathematische Umgang mit den unsicheren, d.h. stochastischen bzw. unscharfen Parametern relevant. Sicherlich werden Quantenrechner in Zukunft enorme Rechenoperationen in nur einem Bruchteil der heutigen Zeit erlauben, doch der mathematische Zusammenhang, die stochastischen Abhängigkeiten und Interaktionen der Parameter müssen unabhängig von der Rechenleistung verstanden werden. Für die richtigen und vor allem transparenten Ergebnisse, die in ihrer Aussagekraft keine Schwankung des Fehlers bezüglich der Inputinformation enthalten, ist es unabdingbar, das grundlegende mathematische Verständnis der Unsicherheitsanalyse zu erwerben.
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Betrachten wir als ein einfaches Beispiel die in Abbildung 1 dargestellte, mit zwei Triebwerken versehene, Tragfläche einer Boeing 747. Abbildung 1: Tragfläche einer Boeing 747
Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki.
Eine wesentliche Abstrahierung der Belastung könnte durch ein sehr einfaches Modell eines Biegebalkens dargestellt werden, welches in Abbildung 2 illustriert ist. Abbildung 2: Abstrahierung der Tragfläche aus Abbildung 1 durch einen Biegebalken.
Quelle: Eigene Darstellung.
Werden beispielsweise lediglich die beiden angreifenden Kräfte F1 und F2 an der Schnittstelle zwischen Flügel und Turbine (in die die Gravitationskraft, Masse des Flügels und die Masse der Turbinen einbezogen sind) als unsichere Parameter aufgrund von Schwingungen (beispielsweise Turbulenzen) angenommen, so handelt es sich bei diesen Kräften nicht um feste, deterministische Werte, sondern um unsicherheitsbehaftete Variablen, die durch Wahrscheinlichkeitsverteilungen, Intervalle, Fuzzy-Funktionen, Probability-Boxen usw. in die Berechnung einbezogen werden müssen. Sind die Kräfte unter normalen Bedingungen konstant, so kann dieser konstante Wert jeweils den erwarteten Wert der Kraft repräsentieren. Des Weiteren kann durch dynamische Belastung experimentell die Abweichung der Kraft in beide Richtungen vom konstanten, standardisierten Wert ermittelt und damit eine Gewichtung (nach dem Motto aus Abschnitt zwei:
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„es geht eher gegen die acht Prozent als gegen die zwei Prozent“) der Schwankung bestimmt werden, die durch Wahrscheinlichkeitsverteilungen, FuzzyFunktionen usw. erfasst wird. Abbildung 3 schematisiert dabei einige mögliche Betrachtungen der Parameter F1 und F2. Abbildung 3:Charakterisierung verschiedener Unsicherheitsarten: a) Deterministischer Wert, b) Intervall-Unsicherheit, c) Unsicherheit als Wahrscheinlichkeitsverteilung und d) Unsicherheit als Fuzzy-Menge.
Quelle: Eigene Darstellung.
In Abbildung 3 a) ist ein deterministischer Wert dargestellt, d. h. ein Wert, dem keine Unsicherheit zu Grunde liegt. Abbildung 3 b) zeigt eine IntervallUnsicherheit. Es handelt sich demnach um eine Unsicherheit, von der jeweils nur die beiden Randwerte als ‚bekannt‘ angenommen werden. Eine Präferenz darüber, welcher Wert im Intervall ‚wahrscheinlicher‘ ist, ist dabei nicht gegeben. Diese Betrachtung der Unsicherheitsanalyse ist die am häufigsten Vorkommende in den Ingenieurwissenschaften, gleichzeitig allerdings auch die ungenaueste. In Abbildung 3 c) ist eine (intrinsische) Unsicherheit durch eine Wahrscheinlichkeitsverteilung dargestellt, welche allerdings experimentell nur sehr schwer zu identifizieren ist. Die letzte, in Abbildung 3 d) dargestellte, Funktion beschreibt die „Unschärfe“. Es handelt sich dabei um eine Art der Gewichtung der Intervallwerte. Die Randwerte sind demnach unwahrscheinlicher als die Werte in der Mitte. Der Vorteil der letzten Unsicherheitscharakteristik ist ihre Anwendbarkeit im Falle weniger vorhandener Daten, was in der Praxis sehr häufig der Fall ist. Das Bestreben der Unsicherheitsanalyse des Lehrstuhls für Technische Mechanik (LTM) der Universität Paderborn ist die Quantifizierung dieser Unsicherheitscharakteristiken von Materialparametern, Bestimmung derer stochastischer Abhängigkeiten und Interaktionen und schließlich eine geeignete Implementierung für Komponenten und Strukturen, die vor allem im Leichtbau Anwendung finden. Die experimentellen Daten der Materialparameter (wie beispielsweise des Elastizitätsmoduls, des Schubmoduls, des Kompressionsmoduls usw.) werden dabei interdisziplinär in Kooperation mit dem Lehrstuhl Leichtbau im Au-
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tomobil (LiA) der Universität Paderborn durch geeignete Verfahren ermittelt. Die Entwicklung neuer, genauer Simulationskonzepte für den hybriden Leichtbau soll dadurch ermöglicht und Versagenswahrscheinlichkeiten, Lebensdaueranalysen, Materialkompatibilitäten usw. vorhergesagt werden. Neben einem höheren Sicherheitsstandard mindert eine gelingende Simulation den experimentellen Aufwand und vor allem die Kosten in der späteren industriellen Entwicklung von hybriden Leichtbaukomponenten, welche für den Fahrzeugbau, den Flugzeugbau, die Raumfahrt u. v. m. heute von enormer Bedeutung sind. Die Herausforderung jeder Unsicherheitsanalyse ist es, keine künstliche − oder aufgrund von Fehlinterpretationen − falsche Unsicherheit in das Modell zu integrieren. Dabei ist in erster Linie nicht die vollständige Beseitigung der Unsicherheit in der Systemantwort das Ziel − denn eine Restunsicherheit ist immer vorhanden − sondern die Angabe der möglichst genauen Endwahrscheinlichkeiten. Für das Beispiel der Tragfläche könnten im Falle der Angabe einer ‚genauer‘ Schwankungscharakteristik der Systemantwort die Materialien, die Kompositionen, die Lebensdauer usw. ermittelt und entsprechend verbessert werden. Solche Ergebnisse tragen im Laufe der Entwicklung iterativ zu höherer Sicherheit bei und werden durch die Gesellschaft gleichzeitig als neuer Standard deklariert. Die Weiterentwicklung der Luftfahrt in den letzten Jahrzehnten veranschaulicht die Bedeutung und Wirkung des allgemeinen modernen Sicherheitsgefühls. Sowohl die Sicherheitsbestimmungen am Flughafen selbst als auch die konstruktive Sicherheit des Flugzeuges, welche inzwischen eine enorme Zuverlässigkeit garantiert, sind stark angestiegen. Während im frühen Jet-Zeitalter in den 1960er-Jahren die Langstreckenflugzeuge wie die Boeing 707 und später Boeing 747 jeweils mit vier Triebwerken ausgestattet waren, sind inzwischen fast alle neueren Modelle nur noch mit zweien versehen. Die technische Entwicklung, die sehr zuverlässig geworden ist, macht die Redundanz der Absicherung überflüssig. Ein weiterer großer Vorteil der Zuverlässigkeit ist u. a. die enorme Kosteneinsparung im Bereich des Materialeinsatzes oder der Wartung. Die New Engine Option des neuen A320neo soll darüber hinaus mehr Passagiere mit weniger Treibstoff über längere Strecken transportieren. Der Treibstoffverbrauch ist damit zu einem weiteren großen Kostenfaktor geworden. Nachdem die Herrschaft des Fliegens mit hohen Geschwindigkeiten nachgelassen hat (kein modernes Flugzeug ist schneller als die alte Boeing 707), musste demnach zur Profitmaximierung eine größere Anzahl an Menschen in immer leichteren und sichereren Flugzeugen untergebracht werden. Die neueren Modelle in der Luftfahrt demonstrieren damit Potenziale der hybriden Leichtbau-Technologie. Sicher, robust, leicht und effizient sind dabei die Leitmotive für eine richtungsweisende
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und umweltfreundliche Mobilität, die den Zeitgeist eines großen Teils der heutigen Gesellschaft widerspiegelt.
4. S CHNITTSTELLE V ERSTÄNDNIS
FÜR EIN GEGENSEITIGES
Wie bereits erwähnt, findet der Terminus Unsicherheit selten Gebrauch im gesellschaftlichen Kontext, wenn von Sicherheit die Rede ist. Wird die Unsicherheit allerdings thematisiert, so hat dies in aller Regel (sozial)psychologische Hintergründe. Wird die Entscheidungstheorie zur Klassifizierung der Unsicherheit miteinbezogen, welche dann zum Teil eine Abstrahierung des gesellschaftlichen Verständnisses darstellt, so kann die Unsicherheit in Ungewissheit, Risiko und Unwissen unterteilt werden (vgl. Eckert und Trautnitz 2016; Karl 2014). Bei Ungewissheit handelt es sich um mögliche Auswirkungen, für die jedoch keine Informationen bzgl. ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit vorliegen. Beim Risiko ist als zusätzliche Information die Eintrittswahrscheinlichkeit gegeben, nicht aber der Zeitpunkt des Eintreffens. Beim Unwissen ist weder die Auswirkung noch die Wahrscheinlichkeit (vollständig) bekannt. Gleichgültig ob es sich um die normative, die präskriptive oder die deskriptive Entscheidungstheorie handelt, ist diese Abstrahierung und Klassifizierung der Unsicherheit notwendig für eine konforme ,Basis’ bzw. ,Schnittstelle’, mit deren Hilfe eine Gegenüberstellung der wissenschaftlichen Ergebnisse auf diesem Gebiet ermöglicht und dementsprechend die Forschung vorangetrieben werden kann. Nichtsdestotrotz sind diese Unsicherheits-Untergruppen (weiterhin) von subjektiven Wahrnehmungen geprägt. Wird beispielsweise das Risiko betrachtet, welches durch Risiko = Eintrittswahrscheinlichkeit x Schadensausmaß ausgedrückt werden kann, so hat jedes Individuum dennoch eine eigene Vorstellung von einem Schaden bzw. der Bewertung der zugehörigen Eintrittswahrscheinlichkeit (vgl. Schewe 2006). Entsprechend ist das Unwissen bzw. die Ungewissheit ebenfalls nicht frei von subjektiven Einschätzungen. Während die Abstrahierung der Unsicherheit auf diese drei Begriffe für die Entscheidungstheorie sinngemäß erscheint, so ist diese noch zu konkret für eine mathematische Arbeitsweise. Für eindeutige, mathematische Relationen ist daher eine weitere Abstrahierung der Bezeichnung Unsicherheit notwendig. Betrachten wir die Klassifizierung der Unsicherheiten in der Entscheidungstheorie, so wird ersichtlich, dass es sich bei Risiko, Unwissen und Ungewissheit
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um Konkretisierungen der aleatorischen sowie der epistemischen bzw. um eine Kombination der aleatorischen und epistemischen Unsicherheits-Definitionen aus Abschnitt drei handelt. Die abstrahierte Klassifizierung in aleatorisch und epistemisch ist demnach eine Verallgemeinerung des Unsicherheitsverständnisses und reduziert die subjektive Wahrnehmung auf eine einheitliche und objektive Basis, mit deren Hilfe eine widerspruchsfreie und eindeutige mathematische Formulierung ermöglicht wird. Diese mathematische Basis bildet nun eine Schnittstelle für die (interdisziplinäre) Forschung der Ingenieurwissenschaften, der Naturwissenschaften, der Mathematik und der Informatik zur Entwicklung neuer Konzepte, Methoden, Simulationen und schließlich neuer Mechanismen, Bauteile, Software usw., welche Privatperson (beispielsweise im Zug) nur indirekt wahrnehmen, aber deren Verwirklichung sie durch das Streben nach Erwartungssicherheit dennoch mitbestimmt haben. Nach einer erfolgreichen mathematischen Beschreibung einer Problemstellung gestaltet sich die Kommunikation zwischen den (Ingenieur-)Wissenschaften und gesellschaftlichen AkteurInnen allerdings als ziemlich schwierig, denn dafür bedarf es einer neuen gemeinsamen Schnittstelle. Gleichzeitig bildet diese Schnittstelle eine Art Legitimation der abstrakten wissenschaftlichen Forschung. Eine Kommunikation auf der abstrakten mathematischen Basis ist nicht zweckmäßig, da der Hauptteil der Gesellschaft aus AnwenderInnen und nicht (aktiven) EntwicklerInnen besteht und diese Basis für sie somit ungeeignet ist. Andererseits ist jedeR WissenschaftlerIn auch ein Teil der Gesellschaft, weswegen es ihr/ihm entsprechend leichter fällt, auf einer konkreteren (allerdings dadurch weniger exakten) Ebene mit der Gesellschaft zu kommunizieren. Das Hauptproblem der Charakterisierung dieser Schnittstelle ist ihre Nicht-Eindeutigkeit. Eine vorhandene Basis, wie dies im mathematischen Bereich der Fall ist, existiert nicht und muss für jede konkrete Kommunikation neu ausformuliert werden. So gibt es zu unterschiedlichen Anlässen unterschiedliche Schnittstellen für eine erfolgreiche Wissensübermittlung. Populärwissenschaftliche Zeitschriften bedienen sich beispielsweise einfacherer Worte, um einen Sachverhalt zu erläutern und diesen zu konkretisieren. Wissenschaftliche TV-Reportagen machen sich ansprechende Animationen und Analogien zu Nutze, welche wissenschaftliche Sachverhalte veranschaulichen sollen. YouTube-Channels bedienen sich weiterer kreativer Anschauungsobjekte. So wird für jede gesellschaftliche Personengruppe eine neue Schnittstelle geschaffen, auf der die wissenschaftlichen Erkenntnisse näherungsweise erklärt werden sollen, wobei jeweils durch die entsprechende Konkretisierung wichtige Facetten dieser Forschung verloren gehen. Nichtsdestotrotz ist die Kommunikation für ein gegenseitiges Verständnis der wissenschaftlichen und der nicht-wissenschaftlichen Gesellschaft unvermeidbar.
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Das NRW-Fortschrittskolleg „Leicht – Effizient – Mobil“ der Universität Paderborn, in dessen Kontext dieser Text entstanden ist, bedient sich weiterer Formate, die eine erfolgreiche Kommunikation zwischen Wissenschaft und Gesellschaft ermöglichen. So werden Denkschulen veranstaltet, in denen die KollegiatInnen ihre Forschung einer breiten Öffentlichkeit erläutern und sich zeitgleich Input von AnwenderInnen erbeten, oder es werden Wissenschaftscafés für Schulklassen angeboten, um Jugendlichen Wissenschaft auf persönliche und anschauliche Weise näherzubringen. Die Kommunikation zwischen Gesellschaft und Wissenschaft ist allerdings nicht die einzige Schwierigkeit. Das Problem besteht schon in der ersten Konkretisierung der rein mathematischen Formulierung für eine Anwendung. Je abstrakter die mathematische Struktur, desto schwieriger lässt sie sich in die Wirklichkeit übertragen. Gert-Martin Greuel schreibt dazu: „A great part of modern mathematics regards itself as searching for inner mathematical structures just for their own sake, only committed to its own axioms and logical conclusions. To do so, neither assumptions nor experience nor applications are needed or desired.“ (Greuel 2012, S. 1)
Albert Einstein hat dies folgendermaßen formuliert: „Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit.“ (Einstein 1921, S. 2)
Damit ist nicht gemeint, dass das Bemühen um die Schnittstelle, welche selbst erst durch einen gewissen Grad an Interdisziplinarität zu Stande kommt, vergebens ist, sondern dass das Finden und die Handhabung dieser von großen Schwierigkeiten begleitet sein kann. Die erfolgreiche Kommunikation zwischen Gesellschaft und Wissenschaft ist damit nicht die erste Hürde, die es zu überbrücken gilt (was allerdings selten in der Gesellschaft zur Kenntnis genommen wird). Die Verbindung zwischen der heute unvermeidbaren reinen Theorie und der Praxis durch diese erste Konkretisierung bildet damit den Grundstein für eine weitere erfolgreiche Kommunikation mit der Gesellschaft. Die größte Herausforderung der Unsicherheitsanalyse des Lehrstuhls für Technische Mechanik besteht demnach darin, die (notwendigen) abstrakten Formulierungen, die zum großen Teil durch akademische Beispiele beschrieben werden, auf realitätsnahe Strukturen zu übertragen und damit die theoretischen Konstrukte in Anwendungen umzusetzen. Gleichzeitig geht jede konkrete An-
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wendung auf Kosten der Exaktheit, welche nur in mathematischen Räumen vollständig erhalten bleiben kann. Diese Einbuße ist in der praktischen Umsetzung allerdings unabdingbar, auch wenn sie mit der Zeit geringer wird. Michael Kühlen hat dies folgendermaßen treffend formuliert: „Schließlich nützt es wenig, absolut exakt zu sein, wenn sich herausstellt, dass unsere Exaktheit keinen INHALT hat – wenn sie nur bloße, pedantische Exaktheit als reiner Selbstzweck ist, von jedem tieferen Verständnis der Wirklichkeit abgespalten. […] Was haben wir andererseits davon, uns fest in der qualitativen Realität der Welt zu positionieren, wenn wir die Erkenntnisse, die wir dort gewinnen, nicht mit einem gewissen Maß an Exaktheit artikulieren können? Das Bemühen um Exaktheit hat also wenig Sinn, wenn seine Verfolgung uns alles Bedeutungsvolle raubt, über das wir uns exakt äußern könnten. […] Aber es nutzt ebenso wenig, in einem vagen Gefühl von Tiefsinn zu schwelgen, wenn wir diesen Sinngehalt nicht mit einer gewissen Exaktheit darlegen und charakterisieren können. Nur wenn die gegenläufigen Bewegungen einander dauerhaft ausgleichen, können wir ein Verständnis erlangen, das sowohl von brauchbarer Exaktheit ist als auch von etwas Bedeutungsvollem handelt.“ (Kühlen 2002, S. 284f., Hervorhebung im Original).
5. F AZIT
UND
AUSBLICK
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die technische Entwicklung auf unterschiedlichen (Konkretisierungs-)Stufen verläuft. Von der Formulierung grundlegender mathematischer Strukturen (d.h. Charakterisierung reiner Relationen zwischen abstrakten Elementen und Mengen), der Anwendung dieser Strukturen in Simulationen auf reale Objekte für reale Situationen und schließlich die substanzielle bzw. materielle Zusammensetzung zum Endprodukt. Die gemeinsame Kommunikation der entsprechenden wissenschaftlichen Teilgebiete bedarf dabei Schnittstellen, an denen interdisziplinär gearbeitet und damit die Prozessentwicklung konkretisiert werden kann. Je höher die Qualität des Endprodukts ist, desto mehr (d. h. u. a. feinere) Stufen wurden demnach erfolgreich durchlaufen. Die Gesellschaft, die durch die Erwartungssicherheit die stetig voranschreitende technische Entwicklung (der Sicherheit, der Zuverlässigkeit, der Funktionalität usw.) mitbestimmt und vorantreibt, ist dabei ein komplementärer Part dieser Entwicklung. Der aktuelle Stand der Technik wird zum neuen Standard festgelegt, den die wissenschaftliche Forschung wieder zu steigern gedenkt. Dabei sei angemerkt, dass die Erwartungssicherheit sicherlich nicht die einzige gesellschaftlich treibende, jedoch eine signifikante Kraft für technische Fortentwicklung ist. Eine Kommunikation zwischen Wissenschaft und Gesellschaft be-
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darf weiterer konkreter Schnittstellen, die den Stand der Forschung in die Gesellschaft hinein vermitteln, gleichzeitig gesellschaftliches Feedback an die Wissenschaft erlauben und damit die Unschärfe der gegenseitigen Wahrnehmung reduzieren. Eine transdisziplinäre Forschung beginnt demnach weder mit dem/der AnwenderIn noch mit dem theoretischen Konstrukt. Beide Extrema bedingen sich gegenseitig und erfordern eine iterative Kommunikation auf unterschiedlichen (Konkretisierungs-)Stufen für eine stetig voranschreitende technische Entwicklung.
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Bedeutung des Komplexitätsmanagements für die Verbreitung von Leichtbau in Unternehmen zur Unterstützung einer nachhaltigen Produktentstehung I RIS G RÄSSLER UND X IAOJUN Y ANG
1. E INLEITUNG Gegenwärtig ist Komplexität eine der größten gesellschaftlichen Herausforderungen, die in allen Bereichen des täglichen Lebens auftritt. Die stetig steigende Komplexität in produzierenden Unternehmen ergibt sich unter anderem aus steigenden Globalisierungstendenzen, die z. B. den Marktwettbewerb und den Innovationsdruck verschärfen. Ressourcenschonende Produkte und Prozesse werden hierbei vermehrt zum Differenzierungsfaktor (vgl. Kirchhof 2003). Leichtbau ist eine derjenigen Zukunftstechnologien, die dabei helfen können, die Anforderungen an eine nachhaltige Gesellschaft zu realisieren. Dabei handelt es sich um eine innovative Konstruktionsweise, die gewichts- und belastungsoptimierte Produkte anstrebt. Durch den Einsatz leichterer und verbesserter Werkstoffe sollen energie- und ressourceneffiziente Produkte hergestellt werden, die die Umwelt schonen (vgl. BMWi 2015). Der Leichtbaueinsatz steht jedoch in einem Interessenkonflikt mit den Bestrebungen, Komplexität zu vermeiden, zu reduzieren und zu beherrschen. So erhöhen modulare Strukturen, standardisierte Schnittstellen und Wiederverwendungsstrategien in aller Regel das Gewicht der technischen Systeme. Die hiermit verbundenen Abwägungen zwischen Komplexitätsmanagement und Gewichtsreduzierung stellen ihrerseits komplexe Entscheidungsprozesse dar. So basieren sie auf einer Vielzahl an Informationen und bedürfen der Durchführung etlicher Tests zur Ermittlung von Sicherheitsparametern, Temperatureinflüssen, Lang-
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zeitverhalten, etc. Zusätzlich ist die Entscheidungskomplexität getragen von den Schnittstellen zwischen den beteiligten Disziplinen und dem damit verbundenen Kommunikationsaufwand. Zielsetzung dieses Betrags ist es daher, Wege zum Auflösen des Zielkonflikts zwischen Komplexitätsmanagement und Leichtbau aufzuzeigen.
2. K OMPLEXITÄT
UND
K OMPLEXITÄTSMANAGEMENT
Der Begriff „Komplexität“ wurde aus Sicht der Systemtheorie von Herbert A. Simon (1962) geprägt. Demnach wird Komplexität vorrangig als Resultat der Verbindung von Elementen und Modulen und deren Wechselwirkungen gesehen. Der Ansatz von Hans Ulrich und Gilbert J. B. Probst nimmt eine Klassifikation in einfache, komplizierte, relativ komplexe und äußerst komplexe Systeme vor (vgl. Ulrich und Probst 1991). Die Autoren verstehen die in Abbildung 1 gezeigten Klassen von Komplexität ebenfalls als eine Systemeigenschaft. Der Grad der Komplexität hängt dabei von der Anzahl der Systemelemente, der Vielzahl an Beziehungen zwischen den Elementen sowie der Anzahl möglicher Systemzustände ab. Darüber hinaus werden die zeitliche Veränderung der Beziehungen zwischen Elementen und die Auflösung des Ursache-Wirkungsprinzips bei der Klassifikation berücksichtigt. Neben der weit verbreiteten Komplexitätsdefinition von Ulrich und Probst existieren zahlreiche weitere Definitionen. Steffan Klabunde (2003) definiert Komplexität über die Merkmale Varietät, Dynamik und Konnektivität. Varietät beschreibt hierbei die Anzahl und Unterschiedlichkeit von Elementen, Dynamik deren Unbestimmtheit und Konnektivität die Verbindungen zwischen den Elementen. Helmut Willke (2006) fügt dem Komplexitätsbegriff die Verbindung zu seiner Umwelt hinzu. Ein entscheidender Aspekt für Komplexität sei deren System-Umwelt-Relation und eine komplexitätsbezogene Betrachtung eines Systems könne nicht ohne die Betrachtung seiner Umwelt geschehen. Klaus-Peter Schoeneberg (2014) fasst die Definitionen des Komplexitätsbegriffs zusammen und gibt einen Überblick über die Methoden des Komplexitätsmanagements. Die Varietät umfasst die Anzahl und die Art der Elemente in einem System, die Konnektivität betrifft die Anzahl und die Art der Relationen zwischen den einzelnen Systemelementen und die Dynamik die Unbestimmbarkeit und Unvorhersehbarkeit komplexer Systeme. Lösungen und Abläufe sind damit in komplexen Strukturen unvorhersehbar. Schoeneberg hat zudem einen Ansatz zur Entscheidungsfindung mit Big Data entwickelt, der verschiedene Visualisierungen zur Komplexitätsbeherrschung betriebswirtschaftlicher Sachverhalte einsetzt.
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Abbildung 1: Stufen der Komplexität von Systemen
Quelle: Ulrich und Probst (1991).
Komplexitätsmanagement bietet Ansätze zur Bewältigung und Nutzung von Komplexität (vgl. ebenda). Die Forschung zu Komplexitätsmanagement erstreckt sich über unterschiedliche Domänen. Besonders in den Natur- und Ingenieurwissenschaften (vgl. Malik 2005; Kastl und Schmid 2008) und in den Sozialwissenschaften (vgl. Rall und Dalhöfer 2004) ist die Forschung über komplexe Systeme und deren Beherrschung Thema zahlreicher Veröffentlichungen. 2.1 Ursachen von Produktkomplexität Zur Bewältigung von Komplexität ist es notwendig, ihre Ursachen näher zu betrachten (vgl. Schuh 2005). Die Ursachen können über Komplexitätstreiber beschrieben werden. Komplexitätstreiber werden in interne und externe Komplexität unterteilt, wobei externe Komplexität durch Anforderungen von außen an das Unternehmen, bzw. die Produkte, entstehen und interne durch das Unternehmen selber. Externe Komplexitätstreiber können nur gering beeinflusst werden, es kann nur mit einem darauf angepasstem Variantenspektrum darauf reagiert werden. Interne Komplexität ist in der Regel unerwünscht, da diese mit Nachteilen verbunden ist. Günther Schuh (2005) deklariert die folgenden wesentlichen internen Komplexitätstreiber in produzierenden Unternehmen: • Unternehmensgröße • Diversifikation in den Geschäftsbereichen
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Anzahl interner und externer Schnittstellen Schnittstellendichte Sortimentsbreite und Erzeugniskomplexität Dynamik, Diskontinuitäten, Änderungswilligkeit und -notwendigkeit Unsicherheit, Ambiguität, Flexibilitätspotenziale, Intransparenz
Zu diesen Komplexitätstreibern werden von Robert Kirchhof (2003) noch Komplexitätstreiber der Gesellschaft und des Marktes definiert. Schoeneberg (2014) unterteilt die Sichtweisen zudem in Nachfragekomplexität, Wettbewerbskomplexität und Beschaffungskomplexität. Michael Reiss (1993) fasst diese unterschiedlichen Komplexitätstreiber unter den Überschriften „Masse“ und „Dynamik“ zusammen. Masse drückt hierbei die Vielzahl und Vielfalt an Elementen aus. Im Rahmen der Produktentwicklung entspricht dieser Parameter der qualitativen und quantitativen Variantenvielfalt. Die qualitative Variantenvielfalt drückt die Unterschiedlichkeit der Varianten aus, die quantitative Variantenvielfalt die Anzahl an Produktvarianten. Hinzu kommen z. B. die Unterschiedlichkeit und Anzahl der Geschäftsprozesse. Neben Günther Schuh hat Andreas Kaiser (1995) eine Unterscheidung von Komplexitätstreibern in interne (endogene) und externe (exogene) Komplexität vorgenommen. Exogene Treiber wirken von außen auf das System und können in der Regel nicht direkt beeinflusst werden. Z. B. entsteht diese Komplexität auf Basis von Einflüssen aus der Gesellschaft oder des Marktes; konkret sind dies beispielsweise Rahmenbedingungen und Zertifizierungen. Die Marktkomplexität basiert auf den komplexen Entscheidungen, die im Wettbewerb von den AkteurInnen getroffen werden. Im Rahmen des Komplexitätsmanagements kann externe Komplexität in der Regel nicht beseitigt und nur durch geeignetes Management beherrscht werden. Die Gründe für interne Komplexität sind unternehmensinterne Faktoren. Dies sind unter anderem interne Geschäftsprozesse und Produktvarianten. Die Organisationsstruktur führt ebenso zu interner Komplexität. Im nachfolgenden Abschnitt werden Strategien und Maßnahmen zum Komplexitätsmanagement und damit auch zur Beherrschung der unterschiedlichen Komplexitätstreiber dargestellt.
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2.2 Methoden des Komplexitätsmanagements Entscheidend für ein erfolgreiches Komplexitätsmanagement ist die Wahl der richtigen Strategie und einer passenden methodischen Herangehensweise. Horst Wildemann (2012) beschreibt vier Basisstrategien zum Umgang mit Komplexität: • •
• •
Komplexitätsvermeidung: präventive Vermeidung der Entstehung von Komplexität. Komplexitätsreduktion: gezielter Abbau von Komplexität, z. B. die durch die Beseitigung von unrentablen Produkten und Dienstleistungen; Reduzierung von Prozessschritten ohne Wertschöpfung oder Reduzierung der Schnittstellen aus technischer und organisatorischer Sicht. Komplexitätsverlagerung: Verlagerung der Entstehung der Komplexität in möglichst späte Prozessphasen. Komplexitätsbeherrschung: effizienter Umgang mit Komplexität durch z. B. die Vermeidung interner Komplexität.
Zur Komplexitätsvermeidung sollen mögliche Komplexitätstreiber vor deren Auftreten identifiziert sowie Strukturen und Prozesse so angepasst werden, dass der Einfluss der Komplexitätstreiber begrenzt wird. Dafür ist es erforderlich, ständig mögliche Entwicklungsrichtungen dieser Komplexitätstreiber zu antizipieren und frühzeitig Gegenmaßnahmen einzuleiten. Im Rahmen der Produktentwicklung kann dies z. B. durch eine kontinuierliche Antizipation von Kundenwünschen, die in der Regel eine nicht von Unternehmen beeinflussbare Komplexität darstellen, und der daraus resultierenden Variantenvielfalt erreicht werden. Darin müssen auch zukünftige Entwicklungsrichtungen von Produkten betrachtet werden. Alle Varianten, die im Sinne des Kunden nicht benötigt werden, werden dabei außer Acht gelassen. Durch weitere Maßnahmen wie Modularisierung wird versucht, das daraus entstehende Spektrum mit möglichst wenig Varianten abzudecken (vgl. Blockus, 2010). Eine einseitige Fokussierung auf eine Komplexitätsvermeidung kann jedoch dazu führen, dass Geschäftschancen, die in der initialen Analyse noch nicht berücksichtigt wurden, ausgelassen werden. Der Prozess der Komplexitätsreduktion gestaltet sich häufig schwierig, da einmal aufgebaute Komplexität häufig strukturell in Prozessen und Systemen verankert sind. Die Komplexitätsbeherrschung dient einer ständigen Überwachung und Anpassung von Komplexität. Dadurch soll die Komplexität kontinuierlich beherrscht, reduziert und vermieden werden.
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Eine häufig verwendete Methode für das Komplexitätsmanagement nach Kersten, Grussenmeyer und Lammers (2012) sind z. B.: Modularisierung, Zentralisierung und Standardisierung (vgl. Anderson, et.al. 2006), Konzentration (vgl. Hoole 2005), Substituierung (vgl. Wildemann 1999), Lean Management (vgl. Jagersma 2008) und Standardisierung (vgl. Wildemann 1999). Im Kapitel „Herausforderungen des Komplexitäts-managements im Leichtbau“ wird auf eine konkrete Implementierung im Produktentstehungsprozess vertiefend eingegangen.
3. L EICHTBAU Leichtbau ist nach der Hightech-Strategie der Bundesregierung neben Industrie 4.0 und Elektromobilität die Zukunftstechnologie der deutschen Industrie und adressiert die Entwicklung von belastungs- und gewichtsoptimierten Bauteilen (vgl. BMBF 2014; Wiedermann 2007). Der zentrale Ansatzpunkt liegt in der Optimierung von Strukturen und im gezielten Einsatz moderner Werkstoffe. Die Umsetzung von Bauteilen mit Komposit- und Hybridwerkstoffen (als Kombination artverschiedener Werkstoffe wie z. B. Aluminium, Stahl oder Kunststoffe) zeigt dabei besonders erfolgversprechende Ergebnisse in der Gewichtseinsparung bei gleichbleibenden Bauteileigenschaften (vgl. Friedrich 2013). Die strukturelle Verbindung mehrerer Werkstoffe ermöglicht jedoch nicht nur, vorhandene Bauteile zu optimieren, sondern ebenso, neue innovative Bauteile mit verbesserten Eigenschaften zu realisieren. Dabei ist Leichtbau überwiegend in Industrieunternehmen z. B. im Fahrzeug-, Maschinen- und Anlagenbau, aber auch in der Bauindustrie sowie der Medizintechnik von entscheidender Bedeutung. Leichtbau hat somit einen hohen Stellenwert sowohl für die Industrie als auch für eine nachhaltige Zivilgesellschaft. Der Einsatz von Leichtbau in der Produktentwicklung führt zu Ressourceneinsparungen und Nachhaltigkeit in Unternehmen. Die Luft- und Raumfahrtindustrie veranschaulicht eindrucksvoll die Resultate eines durchgehenden Einsatzes von Leichtbau in der Produktentwicklung. Innerhalb von 50 Jahren konnte der Treibstoffverbrauch von vergleichbaren Flugzeugen um etwa 50 % reduziert werden (vgl. Gmelin, Hüttig und Lehmann 2008). Derzeit wird insbesondere durch einen intensiveren Einsatz von Hybridwerkstoffen, wie z. B. im Luftfahrtund Automobilbereich, eine Halbierung des Treibstoffverbrauchs in den nächsten zehn Jahren anvisiert. Leichtbau kann zusätzlich dabei helfen, Energie und Rohstoffe von Produkten über den gesamten Lebenszyklus hinweg einzusparen. Besonders hoch sind die Einsparpotenziale dabei in der Mobilitätsindustrie, da
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ein Einsatz von gewichtsreduzierten Produkten nicht nur den Materialeinsatz verringert, sondern gleichzeitig auch weniger Energie für den Betrieb des Produktes benötigt wird. Die damit einhergehende Reduzierung des Ressourcenverbrauchs und der Emissionsbelastung sind Kernbestandteile nachhaltiger Entwicklung; den genannten Vorteilen des Einsatzes von Leichtbau stehen jedoch viele Hindernisse in der Einführung von Leichtbau gegenüber. Die Optimierung von Bauteilen unter Aspekten des Leichtbaus ist sehr komplex: Eine belastungs- und gewichtsoptimierte Struktur muss aufwändig ermittelt, aufgrund angenäherter Sicherheitsparameter müssen mehr Tests durchgeführt werden und die Auswahl geeigneter Werkstoffe, besonders bei Hybrid- und Kompositwerkstoffen, bedarf einer besonderen Expertise. Beispielsweise sind die mechanischen Eigenschaften von häufig im Leichtbau eingesetzten Faserverbundwerkstoffen stark von der gewählten Faserorientierung abhängig. Die hohen Zugfestigkeiten und Steifigkeiten werden nur erreicht, wenn alle Fasern unidirektional, das heißt parallel zur Belastungsrichtung, angeordnet werden. KonstrukteurInnen haben damit die Möglichkeit, die Struktur eines Werkstoffes so zu gestalten, dass dieser optimal an dessen Belastungen angepasst ist. Diese zusätzliche Gestaltungsfreiheit ist gleichbedeutend mit einer erhöhten Komplexität. Die gewählte Festigkeit und Steifigkeit von Bauteilen dient dabei nur einer ersten Abschätzung des Leichtbaupotenzials. In der Praxis müssen noch andere kritische Faktoren wie Temperatureinflüsse berücksichtigt werden. Zudem können Aspekte wie Kerbempfindlichkeit1, Schadenstoleranz, Langzeitverhalten oder Energieaufnahmevermögen eine unterschiedliche Bewertung des Bauteils und dessen Werkstoff herbeiführen. Das bei Leichtbau vorherrschende technologische Streben nach einer auf die Belastungssituation optimal ausgelegten Struktur erfordert eine umfangreiche interdisziplinäre Zusammenarbeit. So bedarf die Entwicklung des Leichtbaus in vielfältigen Bereichen wie z .B. dem Flugzeugbau der besonderen Berücksichtigung der folgenden Disziplinen: Werkstofftechnologie, Fertigungstechnik, Konzeption und Konstruktion, Auslegung und Berechnung, Fügetechnik, Wartung sowie Reparatur (vgl. Dressler 2007). Die Berücksichtigung widersprüchlicher Anforderungen an ein nachhaltiges Leichtbauprodukt, wie z. B. Produktsicherheit und minimales Gewicht, erschwert die Suche nach einer Lösung. In Leichtbaukonzepten müssen konkurrierende Anforderungen miteinander abgewogen werden. Beispielsweise müssen die zu besseren Funktionalitäten führenden hohen Material- und Fertigungskosten gegen einen ansteigenden Verkaufspreis abgewogen werden. In der Regel ist eine Vielzahl an Kriterien zu berücksichtigen, z. B. die Entwicklung neuer oder 1
Diese bezeichnet das Verhältnis der theoretischen zur effektiv wirksamen Spannungsspitze im Kerbgrund (vgl. Issler et al. 2013).
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Verbesserung existierender Funktionalitäten, eine Erhöhung der Lebensdauer, die Reduzierung der Entwicklungs- und Herstellungskosten oder eine Verkürzung des Lebenszyklus von neuartigen Leichtbauprodukten begegnen sich häufig gleichzeitig. Das Finden eines optimalen Kompromisses in multi-kriteriellen Lösungen führt zu einer komplexen Entscheidungsfindung, die die Verbreitung von Leichtbau erschwert. Die durch Komplexität aus dem Leichtbau induzierten Kontroll- und Koordinationskosten bewirken eine hohe Barriere, die die Verbreitung zum Erfolg verhindert. Die Beherrschung der Komplexität des Leichtbaus ist daher ein Schlüsselfaktor, um dessen umfangreichen Einsatz in Unternehmen zu ermöglichen. Um Leichtbau daher langfristig ertragreich zu machen, sollten zuerst die Herausforderungen, denen Unternehmen gegenwärtig begegnen, identifiziert werden. Durch eine umfangreiche Globalisierung befinden sich Unternehmen heutzutage in einem intensiveren Wettbewerb. Die bereits gesättigten Absatzmärkte, die meistens von großer Überkapazität geprägt sind, verschärfen die Konkurrenz (vgl. Schuh 2005). Abgesehen von gewöhnlichen Marktanforderungen, z. B. an eine hohe Qualität, eine zufriedenstellende Leistung sowie einen akzeptablen Preis, müssen Produkte deswegen heutzutage Alleinstellungsmerkmale und besondere Wertvorstellungen im Vergleich zu traditionellen Produkten bieten können. Deswegen wird der Individualisierung von Produkten eine hohe Bedeutung beigemessen (vgl. ebd.). Um diese Individualisierung zu erfüllen, ist wiederum eine hohe Vielfalt an Produkten notwendig; diese auf Kundenwünsche zurückzuführenden Varianten werden als externe Komplexität bezeichnet. Die steigende Vielfalt führt ebenso zu einer erhöhten internen Komplexität, die unter anderem aufgrund der hohen Anzahl funktionsorientierter Schnittstellen, intransparenter Abläufe, mangelnder Flexibilität und exponentiell wachsender Kosten herbeigeführt wird. Die in Wechselwirkung stehende interne und externe Komplexität lassen viele Unternehmen in einen Teufelskreis geraten, denn auf dem Weg zum Erfolg müssen sie die entstehende Komplexität erkennen und beherrschen. Des Weiteren ist es notwendig, eine angemessene Komplexität bewusst zu erzeugen, z. B. um Kundenwünsche zu erfüllen. Die Komplexität entsteht durch die Einführung neuer Produktvarianten oder durch Produktvarianten, die unterschiedliche KundInnenwünsche erfüllen. Unternehmen sehen sich heutzutage der Herausforderung ausgesetzt, den KundInnen individualisierte Produkte anbieten zu können (siehe dazu auch den Beitrag von Josupeit und Schmid in diesem Band). Die Konzeptionierung einer individualisierten Produktarchitektur erfordert die Erfassung und Beherrschung kritischer Komplexitätstreiber, also den wesentlichen Faktoren für die Entste-
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hung von Komplexität, die als Nebenwirkungen mit der Erfüllung der Individualisierung einhergehen. Im Wesentlichen sind „Masse“ (Vielzahl und Vielfalt) (vgl. Adam 1997; Rommel 1993; Schulz 1994 und Wildemann 1996) und „Dynamik“ (Veränderlichkeit und Vieldeutigkeit) (vgl. Reiss 1993) die bedeutendsten Komplexitätstreiber. Die in Folge der erhöhten Vielfalt steigende Produktsowie Prozessanzahl und die Unvorhersehbarkeit bzw. die Unbestimmtheit aufgrund der Vieldeutigkeit resultieren schließlich in einer exponentiell wachsenden Komplexität. Die daraus induzierten steigenden Kosten spiegeln sich im Verkaufspreis wider. Die sich daraus ergebende Verschlechterung der Wettbewerbsfähigkeit schließt somit den Teufelskreis, aus dem die Unternehmen ohne ein geeignetes Komplexitätsmanagement nicht mehr herauskommen (vgl. Schuh 2005). Allein die Umsetzung bzw. Verbreitung des Leichtbaus ist eine sehr komplexe Aufgabe. Ein effizientes Komplexitätsmanagement übernimmt die Verantwortung, einen angemessenen Komplexitätsgrad zu gewährleisten. Im nachfolgenden Kapitel wird die Umsetzung von Leichtbau in Unternehmen bzw. im Produktentstehungsprozess im Detail dargestellt, da an dieser Stelle des Prozesses Leichtbau und Individualisierung operativ umgesetzt werden. Leichtbau ist eine bedeutende Technologie für Unternehmen, denn dadurch kann nicht nur eine verbesserte Leistungsfähigkeit der Produkte, sondern auch eine Ressourcenschonung durch geringeren Materialeinsatz ermöglicht werden. Diese entspricht einem Schlüsselelement von Nachhaltigkeit in der Zivilgesellschaft (vgl. Friedrich 2013; Presseamt 2016). Heutzutage bedrohen unter anderem eine ständig schlechter werdende Luftqualität, fortschreitende Ressourcenknappheit und Energieverschwendung sowie die nicht wiederherstellbare Zerstörung von Ökosystemen die erwartete Lebensqualität. Es wird in der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie 2016 ebenso betont, dass dem Thema Nachhaltigkeit bzw. nachhaltige Entwicklung ohne Verzögerung zur Bewältigung der schwerwiegenden gesellschaftlichen Herausforderungen Rechnung getragen werden müsse (vgl. Presseamt 2016). Nachhaltigkeit bezeichnet eine Entwicklung, die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen (vgl. Hauff 1987). Die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie 2016 umfasst allseitige gesellschaftliche Herausforderungen, die durch nachhaltige Entwicklung bewältigt werden müssen. Dadurch wird der Nachhaltigkeit ein großer Stellenwert in der Politik eingeräumt. Abgesehen von grundsätzlichen Bedürfnissen des Menschen (wie z. B. Nahrung, Gesundheit, Sicherheit), beinhaltet die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie 2016 außerdem Aspekte einer wirtschaftlichen, sozialen und ökonomischen
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Dimension aus der Makro-Perspektive und zeichnet sich durch die Forderung nach hoher Lebensqualität und engagiertem Umweltschutz aus (vgl. ebd.). Ein Schlüsselfaktor zur Bewältigung dieser Herausforderungen liegt in der Umsetzung von Leichtbau für bewegte Massen in zahlreichen Anwendungsfällen. Ein Erfolg der nachhaltigen Entwicklung ist ohne eine weitreichende Integration der Zivilgesellschaft kaum denkbar. Für eine ganzheitliche nachhaltige Entwicklung sollten Unternehmen Nachhaltigkeit in ihre Strategie und Geschäftskultur verankern. Alle Unternehmen einer kapitalistischen Gesellschaft streben nach der Maximierung ihres Profits. Gedanken über politisch verordnete Nachhaltigkeit sollten jedoch betrachtet werden, um eine tiefgreifende nachhaltige Entwicklung in der Gesellschaft zu erreichen. Daher muss über neue Wege zur Berücksichtigung der Nachhaltigkeit in Unternehmen diskutiert und Faktoren zur Verfügung gestellt werden, die die Industrie vom Prinzip der Nachhaltigkeit überzeugen. Solche Begeisterungsfaktoren, durch die Unternehmen initiativ Nachhaltigkeit einbinden würden, zu berücksichtigen und zu bewerten, erzeugt wiederum mehr Komplexität. Ein effizientes Komplexitätsmanagement kann daher unmittelbar zu einer tiefgreifenden nachhaltigen Entwicklung in der Gesellschaft beitragen. Die Realisierung eines Produkts unter Leichtbauaspekten resultiert in einem hochkomplexen Produktentstehungsprozess. Weiterhin müssen zusätzliche Kontroll- und Koordinationsaufgaben und die darin induzierte Komplexität in Unternehmen bewältigt werden. Des Weiteren muss die nachhaltige Entwicklung ein Ziel der Entwicklung eines Unternehmens sein. Eine Bewusstseinsveränderung bezogen auf Nachhaltigkeit in den Prozessen von Unternehmen zu berücksichtigen, stellt eine völlig neue Anforderung an das Komplexitätsmanagement dar. Daraus ergibt sich die entscheidende Bedeutung eines auf Leichtbau angepassten Komplexitätsmanagements, welches Nachhaltigkeit als strategisches Leitbild berücksichtigt. Im folgenden Abschnitt wird ein Überblick über die Produktentstehung mit Fokus auf der Entwicklung von Leichtbauprodukten gegeben. Darauf aufbauend werden dann Herausforderungen für das Komplexitätsmanagement abgeleitet.
4. P RODUKTENTSTEHUNGSPROZESS Der Produktentstehungsprozess umfasst den Weg von der strategischen Planung über die Produktentwicklung bis hin zur Produktion. Strategische Planung bezeichnet im Allgemeinen den Prozess der Entwicklung einer Strategie, um ein definiertes Ziel zu erreichen (vgl. Lindemann 2016). Für die gesamte Organisation steht die strategische Planung für die Entwicklung einer Leitlinie, aus der
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sich das Geschäftsmodell und ein allgemeines Produktportfolio des Unternehmens ergeben. Darüber hinaus betrifft die Leitlinie neben dem Gesamtunternehmen auch die einzelnen Führungsfunktionen wie Finanzen, Controlling und Personal, die entscheidend für den Unternehmenserfolg sind. Das aus der Strategie heraus entwickelte allgemeine Produktportfolio ist der Nährboden für Produktund Geschäftsideen. Im Innovationsmanagement werden diese Ideen generiert, analysiert und anschließend zu einer erfolgversprechenden, gereiften Idee mit Geschäftsplan und Vermarktungsstrategie weiterentwickelt. Das Innovationsmanagement befasst sich mit der systematischen Planung, Entwicklung und Steuerung dieser Ideen. Als Ergebnis sollen erfolgsversprechende Produktideen generiert werden, die anschließend in der Produktentwicklung in Form von Modellen Gestalt annehmen. Die Produktentwicklung umfasst den Prozess von der Idee hin zum fertig entwickelten Produkt inklusive aller damit zusammenhängenden Dokumente. Die Anforderungen an das Produkt ergeben sich aus der Beschreibung der initialen Idee und umfassen dabei zusätzlich alle nachfolgenden Prozesse des Produktlebenszyklus, also von Anforderungen an die Entwicklung, über Fertigungsbedarfe und Anforderungen an das Produkt selber und dessen Nutzung bis hin zum Ende des Produktlebenszyklus mitsamt Demontage und Recycling. Aus den Anforderungen und den sich daraus ergebenden gewünschten Funktionalitäten und Strukturen werden ein Gesamtentwurf und Module abgeleitet. Für die Module werden anschließend Einzellösungen entwickelt, die daraufhin wieder vereint und in ein Gesamtsystem integriert werden. Abschließend kann das Gesamtsystem entwickelt und überarbeitet werden. Das Vorgehen bei der Produktentwicklung ist in der Regel iterativ. Die Lösungsentwicklung muss sowohl unternehmensspezifische als auch übergreifende Anforderungen und Restriktionen vor allem der späteren Produktion und Nutzung an die Produkte berücksichtigten. Als Grundlage für die Produktion dienen die fertig erstellten Produktmodelle, bestehend aus allen Modellen, Zeichnungen und Dokumentationen. Im Rahmen der Arbeitsplanung wird der Produktionsprozess in Form von Arbeitsplänen zur Herstellung der einzelnen Komponenten entwickelt. Mit dem Arbeitsplan, dem gesamten Produktmodell, bestehend aus allen Einzelmodellen und der gesamten Produktdokumentation, kann schließlich das fertig entwickelte Produkt hergestellt werden. Dies geschieht zunächst im Rahmen von Mustern, anschließend in Vorserien- und schließlich in Serienproduktion. Aufgabe der Produktionsplanung und -steuerung ist es, Aufträge für das Produkt auf allen dafür im Arbeitsplan festgelegten Maschinen einzutragen. Im Anschluss werden diese anhand der Produktionspläne der Produktionssteuerung entsprechend gefertigt und montiert. Mit der Serienfertigung, also nach der Abnahme der Vorserienferti-
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gung, und deren qualitativer Bewertung, ist der Produktentstehungsprozess abgeschlossen. Die gesamte Produktion und die damit zusammenhängende Produktionsentwicklung, -planung und -steuerung gilt somit als Bestandteil des Produktentstehungsprozesses. Der sich daran anschließende Versand, die Produktnutzung sowie das Recycling des Produktes und weitere Phasen im Produktlebenszyklus gehören nicht mehr zu der Produktentstehung, sondern sind Teil des Produktlebenszyklus. Dennoch müssen diese Prozesse bei der Produktentstehung berücksichtigt werden. Insgesamt umfasst der Produktentstehungsprozess somit den Weg von der Strategie bis hin zum gefertigten Produkt mit den darin eingeschlossenen Phasen „Strategische Planung und Innovationsmanagement“, „Produktentwicklung“ sowie „Produktionsvorbereitung und Produktion“. Aktuelle Forschungsfelder der Produktentstehung wie Systems Engineering, modellbasierte Produktentstehung, Entwicklungsmethoden für cyber-physische und integrative Produktionsplanung beschäftigen sich mit den Herausforderungen immer komplexerer Produkte, bei der unterschiedliche Domänen zusammenarbeiten müssen. Der aktuelle Stand der Forschung der Produktentstehung ist in dem in Abbildung 2 dargestellten Handlungsfeld zusammenfassend verdeutlicht. Der Produktentstehungsprozess beginnt mit der strategischen Planung. Dabei kann zwischen zwei grundlegenden Handlungsoptionen unterschieden werden: Der „Blue-Ocean-Strategy“ und dem „Market Pull“. Eine „Blue-OceanStrategy“ bedeutet, dass völlig neue Märkte durch komplett neue Produkte erschlossen werden sollen. Das Unternehmen muss hierbei aus sich heraus neue Produktideen genieren und anschließend entwickeln, welche so im Markt noch nicht existieren. Die Risiken für Misserfolge von Produktideen, aber auch die Chancen erfolgreicher Produkte im Rahmen einer Blue-Ocean-Strategy sind relativ hoch. Durch „Market Pull“ wird versucht, die Kundenanforderungen für bereits bestehende Produkte bestmöglich aufzunehmen und daraus entsprechend neue, verbesserte Produkte zu entwickeln. Unabhängig von der gewählten Strategie können technologische Innovationen durch einen „Technology Push“ ebenso Handlungsbedarfe erzeugen. Ein „Technology-Push“ bezeichnet eine sprunghafte Verbesserung der Technologie durch Innovationen in der Produktund/oder der Produktionstechnologie. Sobald eine solche, das Produktportfolio des Unternehmens betreffende, Innovation auf dem Markt erscheint, muss das Unternehmen darauf reagieren und sein Produkt bzw. die Produktion auf den neuen Stand der Technik ausrichten. Häufig sind Innovationen in der Produktionstechnologie der Auslöser von Innovationen in der Produkttechnologie. Als Ergebnis der Strategischen Planung und des sich darauf aufbauenden Innovati-
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onsmanagements steht eine erfolgversprechende Produktidee, die Teil der Unternehmensstrategie ist. Abbildung 2: Handlungsfeld Produktentstehung.
Quelle. Gräßler (2015).
Ausgehend von einer erfolgversprechenden Produktidee wird die Produktentwicklung angestoßen. Speziell auf die Produkttypen und das spezifische Unternehmen angepasste Entwicklungsmethoden helfen bei einer effizienten Entwicklung des Produktes. Systems Engineering ist ein Ansatz, um interdisziplinäre Zusammenarbeit zu koordinieren. Mechatronische Systeme sind ein Beispiel für Produkte, bei denen unterschiedliche Disziplinen synergetisch zusammenarbeiten sollen. Systems Engineering hilft dabei, eine gemeinsame Sprache zwischen den Disziplinen zu finden und einen strukturierten Prozess zu etablieren. Das Produktionsmanagement umfasst im Gegensatz zur operativen Arbeitsvorbereitung und Produktionssteuerung ebenso die lang- und mittelfristige Planung und Organisation der Produktion. Auch im Rahmen der Produktentstehung ist eine Betrachtung der strategischen Ausrichtung der Produktion entscheidend. Häufig laufen Innovationen und technologische Entwicklungen in der Produktion parallel zur eigentlichen Produktentstehung. Erst in der Phase der Produktion laufen beide Pfade zusammen und das entwickelte Produkt wird in der dann entstandenen Produktion implementiert. Das Handlungsfeld zeigt das Produktionsmanagement, also auch die strategische Produktionsplanung, als Teil des Produktentstehungsprozesses. Innovationen in der Produkttechnologie sollen zu-
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sammen mit neuen Produkten umgesetzt werden − und nicht losgelöst voneinander. Die in der Abbildung ausgegraute Phase der Produktnutzung schließt den Prozess der Produktentstehung ab. Das Handlungsfeld Produktentstehung verdeutlicht allgemein die involvierten Bereiche und deren Interaktionen.2 Rolf Isermann (2008) beschreibt den Entwurf mechatronischer Systeme ähnlich dem VDI 2206 (2004) vom Systementwurf, über die Systemintegration hin zum Systemtest mit dem Ergebnis eines in Vorserienproduktion produzierten mechatronischen Systems. Klaus Bender (2004) stellt ein qualitätsorientiertes Vorgehensmodell basierend auf drei Ebenen (System, Subsystem, Komponenten) vor. Grundlage für das Vorgehensmodell ist das V-Modell der VDI 2206. Das Münchner Vorgehensmodell (vgl. Ponn und Lindemann 2007) beinhaltet ein Verfahren zur flexiblen Auswahl von Schritten zur Ermittlung eines Vorgehens für eine Problemlösung. Durch die Auswahl von Elementen aus sieben Arbeitsschritten soll der Problemlösungsvorgang geplant werden. Albert Albers und Andreas Braun (2011) stellen mit dem iPeM (Integrated Product Engineering Model) ein umfassendes Rahmenwerk zur Erstellung eines individualisierten Vorgehensmodells in der Produktentstehung bereit. Das V-Modell der VDI 2206 zeigt ein Entwicklungsschema für mechatronische Systeme. Auf dieses wird in dem nachfolgenden Abschnitt als ein Beispiel für eine modellbasierte Produktentwicklung näher eingegangen. Die VDI 2221 stellt allgemein die Entwicklung eines technischen Systems in sieben aufeinanderfolgenden Arbeitsschritten dar und bildet häufig die Basis praktischer Anwendungen von Entwicklungsmethoden in Unternehmen, z. B. im Stage-Gate-Modell (vgl. Cooper 2002). Aktuelle Forschungsthemen von Vorgehensmodellen der Produktentstehung bilden agile Entwicklungsmethoden und Systems Engineering.
2
Neben dem Handlungsfeld existieren weitere Modelle zur Beschreibung der Produktentstehung anhand von Vorgehensmodellen, die aber von mir nicht berücksichtig werden, weil sie der Fragestellung weniger entsprechen.
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5. H ERAUSFORDERUNGEN DES K OMPLEXITÄTS MANAGEMENTS IM L EICHTBAU Aufbauend auf den vorigen Abschnitten werden in diesem Kapitel Herausforderungen für den Produktentstehungsprozess dargestellt, die sich durch die Implementierung von Leichtbau ergeben. Zusätzlich soll betrachtet werden, inwiefern nachhaltige Entwicklung als Zielsetzung für die Produktentstehung dienen kann. Damit soll den Anforderungen der Zivilgesellschaft an Produkte und Unternehmen Rechnung getragen werden. Hierzu müssen der Produktentstehungsprozess und Leichtbau im Sinne einer Nachhaltigkeitsstrategie angepasst und geeignete Methoden des Komplexitätsmanagements zur Einführung dieser Themen erarbeitet werden. Der Produktentstehungsprozess beschreibt den Vorgang von der Produktidee zur Produktion. Aufbauend auf einer Generierung von Produktideen folgt die Ausarbeitung dieser in der Produktentwicklung und abschließend wird das dabei entwickelte Produkt hergestellt. Bei der Generierung von Produktideen müssen Anforderungen aller Stakeholder (z. B. KundInnen, EntwicklerInnen und DienstleisterInnen usw.) berücksichtigt werden. Eine vollständige Erfassung aller Anforderungen ist eine große Herausforderung. Viele implizierten Stakeholder sind nicht ohne weiteres auszumachen. Anforderungen können sich zudem im Laufe der Entwicklung eines Produktes verändern. Des Weiteren hemmt oft eine ‚undeutliche‘ Dokumentation über Anforderungen eine erfolgreiche Entwicklung (vgl. Walden et al. 2015). Besonders im Leichtbau sind häufig konträre Anforderungen zu erfülle, beispielsweise soll mit möglichst wenig Material eine möglichst hohe Bruchfestigkeit realisiert werden. Die Abwägung konträrer Anforderungen führt zu einem komplexen Entscheidungsproblem, jedoch ist genau jener Prozess der Entscheidungsfindung maßgeblich für den anschließenden Erfolg des zu entwickelnden Produktes. Die Auswahl geeigneter Produktideen ist ebenso ein komplexer Vorgang. Leichtbau gestaltet Entwicklungsprozesse durch die angestrebten Belastungs- und Gewichtsoptimierungen stark iterativ. Diese iterativen Vorgänge wirken sich ebenso auf eine hochdynamische und damit komplexere Entscheidungsfindung aus. Die zur Generierung von Produktideen benötigten Prozesse (wie z. B. das Innovationsmanagement oder der Auswahlprozess) erfolgen bereits häufig iterativ und im Sinne von Simultaneous Engineering überlappend. Ein überschaubares Bild über alle Prozesse und eine gründliche Kommunikation setzen eine erfolgreiche strategische Planung voraus. Die hohe Anzahl von Informationen, die bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt werden müssen, und ihre Dynamik sind zwei Haupttreiber von Komplexität. Die Dynamik entspricht hierbei der Veränderung von Informationen während der
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Bearbeitung des Produktentstehungsprozesses sowie ihre Unvollständigkeit und Unvorhersehbarkeit. Ausgehend von einer erfolgsversprechenden Produktidee wird die Produktentwicklung angestoßen. Die zahlreichen Schnittstellen bergen die Gefahr von Informationsverlusten und sorgen für eine zusätzliche Komplexität. Dadurch, dass bei Leichtbau wie erwähnt weitere Disziplinen integriert werden müssen, wird dieser Effekt verstärkt. Abgesehen von den umfangreichen Informationen und der Veränderlichkeit dieser spiegelt sich die Komplexität in einer hohen Anzahl an Produktvarianten und Prozessen wider. Daraus resultieren wiederum mehr Entscheidungen, mehr Kompromisse und ein höheres Maß an Kommunikation. Versuche zur Verkürzung des Produktentstehungsprozesses sorgen dafür, dass Aufgaben parallelisiert werden und deswegen eine größere Unbestimmtheit während der Bearbeitung einer Aufgabe besteht. Der Produktentstehungsprozess kann im Rahmen einer Komplexitätsbetrachtung als ein System aufgefasst, die einzelnen Phasen und beteiligten Rollen können hierbei als Elemente betrachtet werden, die in Wechselwirkung zueinander stehen. Zur Bewältigung dieser Komplexität sind ein systematisches Vorgehen und Methoden, die den Prozess entsprechend unterstützen, durchgehend erforderlich. Ansätze für den Produktentstehungsprozess wurden bereits von Schoeneberg präsentiert. Gängige Methoden des Komplexitätsmanagements müssen nun auf die zusätzlichen Einflüsse des Leichtbaus erweitert und validiert werden.
6. F AZIT
UND
AUSBLICK
Das NRW-Fortschrittskolleg „Leicht – Effizient – Mobil“ hat das Ziel, Leichtbau und seine Anwendung in der Gesellschaft voranzutreiben, um Nachhaltigkeit − eine Kernanforderung der Zivilgesellschaft − anzustreben. Nachhaltigkeit und die oft als Synonym verwendete nachhaltige Entwicklung verlangen, Verantwortung wahrzunehmen − heute wie für kommende Generationen. Seit jeher konkurrieren jedoch eine langfristige nachhaltige Entwicklung und kurzfristige Profite miteinander (vgl. Presseamt 2016). Im Laufe der Zeit hat sich die profitorientierte Handlungsart und -weise nicht maßgeblich verändert. Da eine nachhaltige Entwicklung in der Regel in höheren Kosten resultiert, wird meistens eine Berücksichtigung von Nachhaltigkeit in Form von Pflichten und Gesetzen Rechnung getragen und ist somit vor allen Dingen eine politische Aufgabe. Unternehmen streben stets nach einer Steigerung von Profiten und einer Reduzierung von Kosten. Da in industriellen Produktionsunternehmen Materialkosten mehr als die Hälfte der Gesamtkosten
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ausmachen, können Einsparungen hierin große Wirkungen erzielen (vgl. Wiedemann 2007). Leichtbau hilft auch dabei, Materialeinsparungen realisieren zu können, diese dienen ebenso einer Ressourcenschonung und damit einer Steigerung der Nachhaltigkeit. Eine Quantifizierung dieser Steigerung der Nachhaltigkeit ist jedoch komplex. Komplexitätsmanagement kann allerdings dazu beitragen, eine Quantifizierung der multi-kriteriellen Faktoren von Nachhaltigkeit zu erreichen. Damit würde ein Instrumentarium geschaffen, welches es ermöglicht, zusätzliche Nachhaltigkeitsziele zu erfassen und damit Unternehmen für Nachhaltigkeit zu begeistern.
L ITERATUR Adam, Dietrich (1997): Produktions.Management. 8. Auflage. Wiesbaden: Gabler. Albers, Albert; Braun, Andreas (2011): A generalized framework to compass and to support complex product engineering. In: International Journal of Product Development 15 (1-3), S. 6-25. Bender, Klaus (2004): Embedded Systems – qualitätsorientierte Entwicklung. Berlin: Springer. Bujnoch, Stephan (1999): Visionen des Automobilherstellers BWM. In: Franz Steinkohl; Nikolaus Knoepffler; Stephan Bujnoch, (Hrsg.): Auto-Mobilität als gesellschaftliche Herausforderung. München: Herbert Utz Verlag. Blockus, Marc-Oliver (2010): Complexity in service companies. Complexity forms, cost and benefit effects, empirical findings and management implications. Wiesbaden: Gabler. Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) (2014): Referat Grundsatzfragen der Innovationspolitik: Die neue Hightech-Strategie Innovationen für Deutschland. Online verfügbar unter: http://www.bmbf.de/pub_hts/ HTS_Broschure_Web.pdf (Zugriff: 04.11.2017). Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) (2015): Bestandsaufnahme Leichtbau in Deutschland – Kurzstudie. Online verfügbar unter: https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Downloads/Studien/bestandsaufnahmeleichtbau-in-deutschland-kurzfassung.pdf?__blob=publicationFile&v=1 (Zugriff 04.11.2017) Cooper, Robert G. (2002): Top oder Flop in der Produktentwicklung. Erfolgsstrategien: von der Idee zum Launch. Weinheim: Wiley-VCH Verlag.
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Grenzflächenmodifikation als Schlüssel zur Stabilität und Nachhaltigkeit von Werkstoffverbunden J ULIA W EISS UND G UIDO G RUNDMEIER
1. E INLEITUNG Material-Leichtbau wird als ein wichtiger Part auf dem Weg dahin gesehen, durch Gewichts- und damit Emissionseinsparungen Fahrzeuge nachhaltiger zu konstruieren (vgl. Reinhold et al. 2013; VDI 2014). Um dieses Leichtbaukonzept zu realisieren, wird verstärkt auf Multimaterialbauweisen (vgl. Gude et al. 2015) und eine damit verbundene Gewichtsreduktion durch den verstärkten Einsatz von Materialkombinationen aus hochfestem Stahl, Aluminium, Magnesium und faserverstärkten Kunststoffen gesetzt (vgl. Evertz et al. 2013). Durch diesen Multimaterialansatz ergeben sich große Vorteile in Massereduktion, Korrosionsschutz sowie die Möglichkeit der Integration von Zusatzfunktionen, insbesondere in Hinblick auf die stetig zunehmende Elektromobilität. Insbesondere in Bezug auf die steigende Tendenz zur Multimaterialbauweise nimmt die Grenzfläche eine besondere Schlüsselfunktion ein. Das Grenzflächendesign ist für den Multimaterialansatz eine der grundlegenden Schlüsseltechnologien und deren Erforschung ist von großer Bedeutung für den gesamten Fahr- und Flugzeugbau (vgl. VDI 2014). In der 2014 durchgeführten Studie des VDI zu Werkstoffinnovationen gehört deswegen die Weiterentwicklung von Technologien zur Grenzflächenmodifikation zu den „[…] 10 wichtigsten Statements zur Werkstofftechnologie und Empfehlungen:
72 | J ULIA W EISS, G UIDO GRUNDMEIER […] Um die individuellen Vorteile verschiedener Werkstoffe in Multimaterialsystemen (MMS) und hybriden Bauweisen vereinen zu können, sind vor allem Entwicklungen in der Verbindungstechnik zwischen den unterschiedlichen Materialklassen und bei der gezielten Ausnutzung von Effekten an den Grenzflächen (‚Grenzflächenengineering‘) erforderlich. […].“
Die Materialgrenzfläche des Verbundsystems mit ihren spezifischen Oberflächenfunktionalitäten der Werkstoffpartner stellt die Verbindungsstelle zwischen zwei oft strukturell sehr verschiedenen Materialien dar. Die Grenzflächenstrukturierung und -modifizierung zielt auf die Steigerung attraktiver Wechselwirkungen zwischen diesen Oberflächen sowie auf die Steigerung der Beständigkeit gegenüber äußeren Einflüssen. Durch ein Grenzflächendesign kann ein bestimmtes Eigenschaftsprofil des Verbundwerkstoffs eingestellt werden. Grenzflächenmodifikationen ermöglichen z. B. den Schutz vor Korrosion bzw. die Steigerung der Verbundfestigkeit. Das Dissertationsprojekt, auf dem der vorliegende Beitrag basiert, konzentriert sich deshalb insbesondere auf die Modifikation und Erforschung der Materialgrenzflächen von Kohlefaser-Hybridwerkstoffen. Da ein Multimaterialmix verbreitet Verwendung finden wird (vgl. Gude et al. 2015), wird eine Anpassung der Fügetechnik nötig sein, um diesem Anspruch gerecht zu werden, auch, damit sich in Zukunft Verbundstabilität und Recycling hybrider Verbundsysteme nicht gegenseitig behindern oder gar ausschließen. Im Multimaterialdesign kann nicht mehr konventionell, sondern es muss mittels „hybrider Fügeverfahren“ (Gude et al. 2015, S. 43) gefügt werden. Kleben spielt dabei die zentrale Rolle, da hiermit alle Werkstoffe verbunden werden können. Viele Anbauten und Fügungen wären ohne Klebtechnik und damit verbundenem Grenzflächendesign schwierig umzusetzen, da bestimmte Materialien sich nur mittels Klebung und/oder nicht ausschließlich mechanisch fügen lassen. Beim Kleben als wichtige Fügetechnologie im Leichtbau liegt deshalb besonderes Augenmerk auf einer spezifisch angepassten Grenzfläche, um eine hohe Haftkraft und Beständigkeit der Fügezone zu gewährleisten. Aus diesem Grund besitzt die Grenzfläche der Werkstoffe für die Fügung mittels Klebtechnik große Bedeutung, weshalb die Entwicklung spezifischer Beschichtungsverfahren nötig ist, um die verschiedenen Materialien für einen Hybridwerkstoff im Multimaterialdesign umzusetzen. Um die attraktiven Wechselwirkungen zwischen den Fügepartnern zu erhöhen, kann die Oberfläche des zu verklebenden metallischen oder polymeren Werkstoffs mit sogenannten Primern oder Haftvermittlern beschichtet werden1 (vgl. Bai et al. 2013). Oberflächen von Kunststoffen und Metallen können zu1
Dabei handelt es sich um eine meist nasschemische Funktionalisierung.
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dem mittels Plasmatechnik und damit ohne nasschemische Prozesse behandelt werden (vgl. Rahman et al. 2006). Durch die Erhöhung von Sauerstofffunktionalitäten der zu verklebenden Kunststoffoberfläche kann dabei eine hohe Adhäsion an der Grenzfläche zwischen Klebstoff und Kunststoff ermöglicht werden (vgl. Shenton et al. 2001). Alternativ oder ergänzend können die zu verbindenden Oberflächen topographisch strukturiert werden, um durch eine mechanische Verzahnung der Interphase eine Verbindung stabiler werden zu lassen (vgl. Kim et al. 2010). Ein Beispiel für eine nasschemische Methode zur Strukturierung der Oberfläche ist die Anodisierung von Aluminiumlegierungen (vgl. Bouchama et al. 2013). Die Laserbehandlung stellt dabei eine moderne und umweltfreundliche Alternative dar (vgl. Baburaj et al. 2007). Im Bereich von kohlefaserverstärkten Kunststoffen (CFK) hat das Grenzflächendesign besondere Bedeutung. Nur durch eine starke Haftung der PolymerMatrix können bei einer Belastung des Bauteiles die Kräfte von der Faser auf die Matrix und somit über das ganze Bauteil übertragen und verteilt werden (vgl. Pittman Jr. et al. 1999). Die Affinität des Kohlenstoffgerüsts der Kohlefaser zum polymeren Matrixharz ist ohne die Beschichtung unzureichend, weshalb eine Vorbehandlung nötig ist, um eine verbesserte Wechselwirkung zu erzeugen, die den Verbund stabilisiert. Erst durch eine (oxidative) Oberflächenbehandlung oder das Aufbringen einer Beschichtung sind die Eigenschaften von kohlenfaserverstärkten Kunststoffen voll ausschöpfbar. Grenzflächendesign ist folglich ein Schlüsselschritt für eine gute Adhäsion, aber auch für den Korrosionsschutz. denn da aus Gründen der Gewichtseinsparung immer größere Anteile von CFK und Leichtmetalllegierungen (Magnesium und Aluminiumlegierungen) sowohl in der Luftfahrt, im Fahrzeugbau als auch in Freizeitgegenständen (z. B. in Fahrradrahmen) verwendet werden, müssen „aufwendige Korrosionsschutzmaßnahmen“ (Reinhold et al. 2013, S. 58) getroffen werden, ohne die Stähle, Leichtmetalllegierungen und CFK wegen möglicher Kontaktkorrosion nicht kombinierbar wären. Durch Beschichtungen ergeben sich Vorteile für das Bauteil, beispielsweise durch zusätzlichen Korrosionsschutz am Auto, denn durch das Eindringen von Feuchtigkeit, Sauerstoff und korrosive Medien kann die Stabilität eines Verbundes stark beeinträchtigt werden. So kann ein chemischer und elektrochemischer Angriff zu Enthaftung an der Grenzfläche zwischen den Fügepartnern z. B. bei einer Klebung zwischen dem Polymer und dem Metall führen (vgl. Posner et al. 2013). Schon allein das Eindringen von Wasser kann die Adhäsion an dieser Grenzfläche im Sinne einer sogenannten Nassenthaftung schwächen (vgl. Weiss et al. 2016). Durch eine geeignete Modifikation der Grenzfläche können solche Enthaftungsprozesse zeitlich verlangsamt und Korrosion inhibiert werden (vgl.
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Wapner und Grundmeier 2004; Bauer et al. 2017a). Abbildung 1 zeigt die korrosive Enthaftung an einer Epoxidmatrix-Kohlenstofffaser, bedingt durch eine kathodische Enthaftung. Abbildung 1:Korrosive Enthaftung („kathodische Delamination“) an der Grenzfläche zwischen Epoxidmatrix und Kohlenstofffaser.
Quelle: Bauer et al. 2017a.
Folglich dienen Beschichtungen der Oberflächen bzw. Grenzflächen der Produktnachhaltigkeit, denn sie schützen vor vorzeitiger Korrosion oder vor dem Haftungsverlust zweier Fügepartner und erhalten somit die Funktion des Verbundes. Durch die Behandlung der Grenzfläche erzeugt man somit einen stabileren und langlebigeren Verbund, was sich positiv auf dessen Stabilität und Nutzungszeit und damit die Nachhaltigkeit des Produktes auswirkt, in welchem dieser verbaut wurde. Allerdings steht der Leichtbau mit Multimaterialdesign vor großen Herausforderungen. Diese ergeben sich intrinsisch durch den Multimaterialansatz selbst, teilweise auch aus den genannten Vorteilen der stetig verbesserten Grenzflächenbeschichtungen, wie Korrosionsschutz und Haftungsverstärkung, aber auch durch den vermehrten Einsatz von neuen Materialien wie CFK: Ein reduziertes Gewicht, durch welches CO2 eingespart werden kann, ist auf den ersten Blick ein Schritt zu erhöhter Nachhaltigkeit im Sinne des Klimaschutzes. Die Verstärkung der Haftung zwischen den Fügepartnern führt zur Erhöhung der Lebensdauer und zu erhöhter Nachhaltigkeit in Bezug auf die Nutzungsdauer. Jedoch ergeben sich aus dem Einsatz von Leichtmetallen und CFK und der erhöhten Stabilität (sowohl mechanisch als auch an der Fügezone) Herausforderungen
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für bestimmte Aspekte von Nachhaltigkeit: Was bringt ein Hybridbauteil mit idealer Balance zwischen Gewicht und Stabilität (hier Verbundstabilität), wenn diese einer Ressourceneffizienz entgegensteht? Mit dem Ziel der hohen Festigkeit und Stabilität (über möglichst großen Zeitraum) entwickelte HybridBauteile müssen nun im Zuge des Recyclings in nutzbare Bestandteile zerlegt werden, um sie wieder verarbeitet zu können. Bei Hybridwerkstoffen ist die Erzeugung von Sicherheit und Stabilität eine Herausforderung für die Füge- und Beschichtungstechnik: Ziel ist es, Materialkombinationen „werkstoffgerecht und trotzdem hochfest und belastbar“ zu fügen (Hennemann und Groß 2003, S. 166). Die Trennung der einzelnen Bestandteile des Hybridbauteils nach Ende seiner Nutzungsdauer stellt jedoch eine große Herausforderung dar, die im Moment vor allem CFK-Komposit-Bauteile betrifft (vgl. Carbon Composites e. V. 2016). Die Ziele des Leichtbaus, z. B. die Einsparung von Gewicht und die damit verbundene Reduktion klimaschädlicher Gase, wie CO2, stehen einem erweiterten Ansatz von Nachhaltigkeit im Wege, Aspekte wie Ressourcenschonung durch Recycling mit einzubeziehen. Im Forschungsprojekt LEIKA, in welchem „hochwertige Hybrid-Sandwich-Halbzeuge aus hochfestem Stahl und kohlenstofffaserverstärkten Kunststoffen“ gebaut wurden (Gude et al. 2015, S. 21), konnte bestätigt werden, dass hybride Bauteile zwar positiv in Hinblick auf ihr Potenzial der Massereduktion an Fahrzeugen zu bewerten sind, aber negativ hinsichtlich ihres Recyclingpotenzials. Laut Experten-Studie des Forschungs- und Technologiezentrums für ressourceneffiziente Leichtbaustrukturen der Elektromobilität (FOREL) sind vor allem die Recyclingfähigkeit, die Wirtschaftlichkeit und die fehlende Füge- und Umformbarkeit (vgl. ebd.) Probleme, die für einen verbreiteteren Einsatz des Multimaterialleichtbaus technologisch gelöst werden müssen. Der zunehmende Trend zu kohlenstofffaserverstärkten Kunststoffen und leistungsstärkeren Verklebungen ist nicht unproblematisch, da die Trennung und das Recycling der Werkstoffteile noch nicht gelöst sind. Deswegen ist die Produktnachhaltigkeit von kohlefaserverstärkten Kunststoffen2 im Moment beschränkt durch ihre Recyclingfähigkeit. Die Herstellung von kohlefaserverstärkten Bauteilen ist im Vergleich zum Aufwand für die Herstellung von Metallbauteilen sehr viel kosten- und rohstoffintensiver und macht den Einsatz von CFK erst durch ein Recycling ökonomisch und ökologisch sinnvoll (vgl. Carbon Composites e. V. 2016; Limburg und Quicker 2016; Meyer et al. 2009).
2
Dieses gilt nur eingeschränkt für thermoplastische Matrices, die aber eine untergeordnete Rolle spielen.
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Die erhöhte mechanische Stabilität gepaart mit einer großen Gewichtseinsparung, die sich durch den Einsatz durch CFK ergibt, fordert neue Technologien, die gleichzeitig die Nutzung von Vorteilen des Materials ermöglichen und ihre Nachteile auszuschalten, um eine wirklich nachhaltige Bauweise mit der Einbeziehung von Recyclingmöglichkeiten zu fördern (vgl. Lieberwirth und Krampitz 2015). Auf der einen Seite stellen Gewichtseinsparung und Produktstabilität die Forderungen nach immer stabileren Verbunden mit neuen Materialkombinationen, auf der anderen Seite wird durch die stetige Erhöhung der Verbundstabilität und durch neue Materialkombinationen eine Erschwerung der Trennung der Verbundpartner und eine Problematik im Recycling erzeugt. Anhand dieser Betrachtungen wird deutlich, dass eine Diskrepanz in der Nachhaltigkeit von Leichtbaustrukturen zwischen ihrer Stabilität (Verbundstabilität) und ihrer Recyclingfähigkeit bestehen kann. Nachhaltigkeit durch die Erhöhung der Produktlebensdauer und Nachhaltigkeit durch die Ermöglichung von Recycling stehen sich daher im Konflikt gegenüber, die nur durch Forschung und Entwicklung neuer Technologien lösbar sind. Ein erhöhtes Verständnis eröffnet so mögliche Wege, eine Recyclingfähigkeit, trotz Erhöhung der Verbundstabilität zu gewährleisten. Insbesondere eine spezifisch angepasste Grenzflächenchemie kann dieses leisten, denn sowohl die Produktlebensdauer (hier durch Haftungsverstärkung) als auch die Recyclingfähigkeit von Produkten werden durch Grenzflächenmodifikation entscheidend beeinflusst. Die Steigerung der Produktnachhaltigkeit kann folglich durch die Auswahl und Steuerung der Grenzflächenstruktur erfolgen. Wird die Effizienz von Grenzflächenmodifikationen verbessert, wird die Stabilität eines Bauteils verstärkt und dessen Produkt-Lebensdauer erhöht, womit eine bessere Produktnachhaltigkeit erreicht wird. Die Prozessnachhaltigkeit steht im Wechselspiel mit der Produktnachhaltigkeit; denn die zur Grenzflächenmodifikation nötigen Oberflächenbehandlungen unterliegen selbst einer bestimmten Prozessführung, die wiederum in ihrer Nachhaltigkeit beurteilt und ggf. erhöht werden muss, um die Nachhaltigkeit des resultierenden Produktes zu verbessern.
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Wir können folglich von Nachhaltigkeit in zwei Formen sprechen: 1.
2.
Produktnachhaltigkeit – Wie nachhaltig ist das Endprodukt, in Bezug auf seine Nutzungsdauer, seine Herstellungsweise, Details seiner Nutzung? Wie ist die CO2 -Emission; ist Recycling möglich? Prozessnachhaltigkeit – Wie nachhaltig sind die Prozesse, die zur Herstellung des Produktes benutzt wurden? Wie aufwendig und schädlich für die Umwelt ist ein Recycling? (vgl. Bakshi und Fiksel 2003).
Indem die Nachhaltigkeit eines Prozesses erhöht wird, kann ein entscheidender Schritt zur Verbesserung der Produktnachhaltigkeit beigetragen werden. Aus diesem Grund wird im ersten Teil des Textes die Nachhaltigkeit der Beschichtungsverfahren zur Grenzflächenbeschichtung und -modifikation in Hinblick auf ihre Prozessnachhaltigkeit thematisiert. Dazu liegt der Blick im ersten Teil dieses Artikels auf derzeit konventionellen Beschichtungsprozessen für metallische, begrenzt auf einige im Automobilund Flugzeugbau relevante, Werkstoffe und Kohlenstofffasern. Beispielhaft werden für die Betrachtung der Prozessnachhaltigkeit der Beschichtungsprozesse im Leichtbau und Automotive-Bereich folgende Kategorien herausgegriffen: • • • •
Elektrochemische Überzugsabscheidung Nasschemische Konversionsbeschichtungen, wie die Cr(III)-Passivierung oder Phosphatierung von Stahloberflächen Plasmaverfahren (Kunststoffe, Kohlenstofffasern.). Dünne organische Beschichtungen (z. B. Schlichten auf Kohlenstofffasern)
Dazu wird abschließend ein Einblick in den Stand der Forschung an Zinkoxidbeschichtungen, die eine nachhaltigere Alternative zu Standardindustrieverfahren darstellen können, gegeben. Im zweiten Teil des Textes wird auf die Produktnachhaltigkeit von CFK-Hybridstrukturen in Hinblick auf ihre Recyclingfähigkeit eingegangen und aufgezeigt, welche Möglichkeiten diesbezüglich durch eine alternative Grenzflächenmodifikation eröffnet werden können.
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2. B ESCHICHTUNGSTECHNIKEN IN H INBLICK N ACHHALTIGKEIT
AUF
Im Leichtbau sind heutzutage verschiedene Beschichtungstechniken im Einsatz und werden je nach Material und Eigenschaftsprofil angewandt, wobei meist eine Beschichtungstechnik spezifisch einem Material angepasst ist. Da es eine Vielzahl von Verfahren in diesem Bereich gibt, wird im Folgenden nur exemplarisch auf einige Beispiele eingegangen. Beschichtungstechniken können nach Material und Einsatzgebiet oder Typ der Grenzflächenmodifikation unterschieden werden, wobei zwischen schichtabtragenden, schichtumwandelnden oder schichtauftragenden Verfahren unterteilt werden kann (vgl. Umweltbundesamt 2013). Typische schichtauftragende und –umwandelnde Techniken sind: • Anorganische Beschichtungen und metallische Überzüge: • Elektrochemische Beschichtungen (z. B. Galvanisierung von Stahl, Anodisierung von Aluminium) • Konversionsbeschichtungen (z. B. Cr(III)-Passivierung, Phosphatierung, ZrOxidbeschichtung) • organische Beschichtungen, wiederum untereilt in: • Elektrochemische Abscheidung von organischen Schichten (z. B. KTL, leitfähige Polymere) • Auftragung organischer Primer über Tauch- oder Sprühverfahren • Plasmabehandlungen (beispielsweise von Kunststoffen Zudem gehören schichtabtragende Verfahren wie das Beizen oder Dekapieren zu den wichtigsten Vorbehandlungen von metallischen Werkstoffoberflächen, die beschichtet werden sollen (vgl. Umweltbundesamt 2013; Machu 1954). Zur Grenzflächenmodifikation von metallischen Werkstoffen (Stahl, verzinkter Stahl, Aluminium, Magnesium etc.) werden häufig Beschichtungen über nasschemische oder elektrochemische Prozesse durchgeführt. Die dabei entstehende Schicht kann mikrorau oder porös erzeugt werden, sodass aufgrund mechanischen Interlocks nachfolgende Beschichtungen besser auf dem Werkstück haften. Zudem bieten diese Beschichtungen einen gewissen chemischen Korrosionsschutz des Werkstückes aufgrund seiner chemischen Umwandlung und Affinität gegenüber der nachfolgenden Beschichtung (vgl. Abrahami et al. 2016).
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2.1 Beispiel 1: Konversionschemie von metallischen Werkstoffen In den meisten Fällen kommt ein Korrosionsschutz aufgrund der Porosität oder geringen Dicke der Vorbehandlungsschichten auf Metallen erst zustande, wenn die Werkstoffe zusätzlich mit einem Lack oder Klebstofffilm versiegelt werden. Für die Evaluation dieser Effekte sind entsprechende Grenzflächenuntersuchungen nötig (vgl. Teixeira et al. 2011), da darauf basierend an einer Verbesserung der Langzeitkorrosionsbeständigkeit gearbeitet werden kann. Klassische konversionschemische Verfahren sind die Cr(III)-Passivierung (vgl. Zaki 2002; Tomachuk et al. 2010) oder die Phosphatierung (Freeman 1986; Narayanan 2005; Critchlow et al. 2006). Erstere findet aufgrund der toxischen Substanzen, die beim Prozess entstehen, nur noch geringen Einsatz, die Phosphatierung wird jedoch verbreitet angewandt. Ziel bei der Konversionsbeschichtung ist es, die Oberfläche des Werkstückes korrosionsschützend umzuwandeln, indem die Grenzfläche eine Konversionsschicht aus Oxiden, Hydroxiden und weiteren Verbindungen aus der Behandlungslösung mit dem metallischen Werkstoff bildet. Der eigentliche Beschichtungsprozess besteht aus konsekutiven Arbeitsschritten. Zur Vorreinigung wird das metallische Werkstück zunächst mittels organischer Lösungsmittel entölt, mit Tensidlösungen vorgereinigt, dann durch einen Ätz- oder Beizschritt vorbehandelt, mit konsekutiven Spülvorgängen zwischen den Behandlungsschritten. Anschließend erfolgt der eigentliche Beschichtungsvorgang. Der Beschichtungsprozess erfolgt in einem Bad, in der das Werkstück in eine wässrige Behandlungslösung, den Elektrolyten, getaucht wird, die die Grenzfläche des Metalls chemisch umwandelt und in eine anorganische Oberflächenschicht konvertiert. Eine solche Konversionsbeschichtung wird typischerweise zur Modifikation der Grenzfläche von Metallen benutzt und ist aus chemischen Gründen nicht für Kohlefasern einsetzbar. Ein anderes nasschemisches Verfahren, um metallische Werkstoffe zu modifizieren, ist die Anodisierung des Metalls im Elektrolyten mittels elektrischer Spannung. Diese elektrochemische anodische Oxidation ist bei verschiedenen Metallen (z. B. Aluminium, Titan) möglich und wirkt passivierend und korrosionsinhibierend (vgl. Lee und Park 2014; Minagar et al. 2012). Man bedient sich hierbei einer natürlich vorkommenden Tendenz der meisten Metalle, eine Passivschicht aus Oxid oder Hydroxid zu bilden. Dadurch kann das darunterliegende Material vor weiterer Korrosion geschützt werden. Leichtmetalle wie Titan, Niob, Aluminium, Magnesium und andere werden derart behandelt, um das je-
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weilige Metalloxid auf dem Werkstück zu erzeugen bzw. dessen Schichtdicke zu erhöhen. Dabei kann zum Beispiel die Metallgrenzfläche mit einer Schicht ihres Metalloxids überzogen (wie beim ElOxAl-Verfahren3) oder aus einem Elektrolyt weitere Oxidstrukturen aufgebracht werden. Indem eine geeignete elektrische Spannung an das Bauteil angelegt wird, welches sich in einem elektrolytischen Bad befindet, ist es möglich, Metallkationen (positiv geladene Metallionen) aus dem Substrat herauszulösen, welche mit dem Elektrolyten reagieren und sich auf dem Substrat als passivierende Schicht (Oxide und Hydroxide) abscheiden. 2.2 Beispiel 2: Funktionalisierung von Kohlenstofffasern Oxidative Verfahren (chemisch oder elektrochemisch) sind die technisch gängigsten Verfahren zur Oberflächenbehandlung von Kohlenstofffasern (vgl. Sharma et al. 2014). Diese umfassen sowohl nasschemische als auch thermische und anodische Oxidationsmethoden sowie Plasmaprozesse. Bei Kohlenstofffasern erzeugt man beispielsweise bei der Anodisierung in einem Elektrolytbad oberflächlich Sauerstofffunktionalitäten (vgl. Pittman Jr. et al. 1999). Man bedient sich dabei der guten elektrischen Leitfähigkeit der Kohlefaser. Indem diese als Arbeitselektrode geschaltet und durch ein Elektrolytbad geleitet wird, kann man im großtechnischen Maßstab Fasern mit einer benetzbareren Oberfläche erzeugen. Nachfolgend wird die Faser von Reststoffen aus dem Prozess gereinigt und weiterverarbeitet. Eine gute Übersicht der Behandlung von Kohlenstofffasern findet sich bei Wohlmann (2003). 2.3 Problematik nasschemischer Verfahren Problematisch bei allen nasschemischen Prozessen ist ein generell recht hoher Wasserverbrauch, selbst dann, wenn durch Kreisläufe in der Prozessführung eine Rückführung stattfindet (vgl. Umweltbundesamt 2013). Die Reinigungs- und Beizschritte, die vor dem eigentlichen Prozess durchgeführt werden müssen, sind bei allen Metallbeschichtungsverfahren kritisch zu sehen. Diese sind allerdings nötig, um eine einheitliche Schicht zu garantieren. Dieses ist aus Sicht des Wasserverbrauches und der Abwassererzeugung zusätzlich bedenklich. Zudem sind die Abwässer oft mit Schwermetallen und anderen Metallionen, toxischen Anionen wie Cyanid oder Chromat und Neutralsalzen angereichert, sodass Rückstände und Schlacken entstehen, die umweltproblematisch sein können und abge-
3 ElOxAl ist die Abkürzung für die elektrochemische Oxidation [von] Aluminium.
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trennt werden müssen. Die gelösten Metallionen werden meist durch chemische Fällung in schwerlösliche Verbindungen überführt. Die Abtrennung dieser erfordert hohe Energiemengen, wenn nur durch die Verdampfung des Abwassers eine Abtrennung möglich ist. Bei der Aluminiumbehandlung können viele dieser Abwässer und Nebenprodukte für die Aluminiumerzeugung zurückgewonnen werden. Da somit weniger toxischer Abfall entsteht, ist dies etwas weniger kritisch zu bewerten als im Falle anderer Konversionsprozesse, bei denen phosphat- oder chromathaltige Abfallprodukte anfallen können (vgl. Rochester Institute of Technology 2015). Äußerst problematisch ist auch der Einsatz von großen Mengen organischer Lösungsmittel zur Entölung. Metallische Werkstoffe sind durch vorherige Verarbeitungsschritte bzw. zum Schutz vor Korrosion zusätzlich mit einem Ölfilm versehen. Deshalb muss bei den meisten Werkstoffen eine Vorreinigung mit entfettenden Lösungsmitteln erfolgen, die diesen Ölfilm entfernen. Die dafür eingesetzten Lösungsmittel müssen nach der Benutzung durch Destillation von Verunreinigungen befreit werden; diese ist energieintensiv und abgetrennte Reststoffe müssen umweltgerecht entsorgt werden. Zusätzlich dazu kann bei einigen Prozessen gasförmiger Abfall in Form von Stickoxiden, Salzsäuregas, Schwefelsäuregas, Aerosolen usw. anfallen. Es wird deutlich, dass Wasser der größte ökologisch und ökonomisch zu betrachtende Faktor dieser Beschichtungsverfahren ist. Deswegen sollte man versuchen, Wassermengen in diesen Prozessen zu reduzieren und − wenn möglich − Verunreinigungen der Abwässer zu minimieren, denn so lassen sich Kosten für eine Aufreinigung und Schäden an der Umwelt vermeiden. Umwälzverfahren und der Umstieg auf Sprühverfahren sind in diesem Kontext eine gängige Praxis. 2.4 Organische Funktionalisierung und Beschichtung von Werkstoffen Zur organischen Funktionalisierung, beispielsweise zur Haftungsvermittlung, bieten sich sehr dünne organische Beschichtungen an. Diese können in Form von Einzelmolekülschichten oder auch in ultradünnen Polymerschichten aufgebracht werden. Organische Moleküle werden effizient zur Haftvermittlung eingesetzt, weil sie so synthetisiert werden können, dass sie eine Affinität gegenüber dem Substrat und der aufzubringenden Schicht besitzen (vgl. Thissen et al. 2010). Diese Beschichtungen sind meist aus langkettigen, organischen Molekülen mit zweiseitiger Funktionalisierung aufgebaut. Insbesondere Phosphonsäuren, Organosilanole, langkettige Kohlenwasserstoffe und andere Funktionalitäten, wie Epoxid- oder Aminogruppen, sind hier zu nennen. Polyacrylsäuren sind ein
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weiteres Beispiel für makromolekulare Haftvermittler (vgl. Montemor 2014; Bauer et al. 2017b). Diese Stoffe werden häufig in Klebstoffen integriert, um den vorbehandelnden Arbeitsschritt zu sparen und den Haftvermittlungsmechanismus in den Klebstoff zu integrieren. Organische Schichten können auch mit Hilfe von elektrochemisch initiierter Polymerisation aufgebracht bzw. in ihrer Eigenschaft verändert werden (z. B. kathodische Tauchlackierung (KTL) (vgl. Brock 2017). Organische Schichten in Form von polymerisierter Acrylsäure werden auf dem Bauteil, z. B. Kohlenstofffasern, erzeugt und können, eine Schlichte ersetzend, eine haftvermittelnde Wirkung entfalten (vgl. Bauer 2016). 2.5 Beispiel 3: Organische Beschlichtung von Kohlenstofffasern Die Schlichte (oder Englisch „sizing“) ist eine spezielle Form der organischen Beschichtung, die man bei Kohlenstofffasern einsetzt, um Haftvermittlung und Abriebfestigkeit zu erzeugen. Diese hat ihren Ursprung in der Faser- und Textilindustrie, wo sie auf die Kett- und Schussfäden aufgebracht wird, um diese vor Abrieb zu schützen. Häufig werden für Kohlenstofffasern Epoxidharzschlichten benutzt. Bei manchen (nicht-Epoxid-)Matrix-Systemen führt das zu Haftungsproblemen zwischen Faser (mit Schlichte) und Matrix, weshalb dieser Bereich wieder in den Fokus der Entwicklung rückt (vgl. Mason 2004; Gnädinger et al. 2016) und an weiteren, spezielleren Beschichtungstechnologien geforscht wird. Um Faserbeschlichtungen effizienter zu machen, müssen sie mehr auf die Anwendung und die nachfolgende Beschichtung (Matrixharz) zugeschnitten werden (vgl. Dilsiz und Wightman 2000). Das Problem mit derzeitig genutzten Schlichtensystemen ist, dass diese aber meist strengen Geheimhaltungen unterliegen und nichts über ihre genaue Zusammensetzung bekannt ist. Dies erschwert vor allem die Zusammenarbeit mit Firmen in Hinblick auf die Zusammenarbeit im Allgemeinen, aber auch bezogen auf die Materialbeschaffung im Besonderen (vgl. Mason 2004). Insgesamt geht bei allen organischen Beschichtungen die Tendenz zu dünneren, funktionellen Schichten. Deshalb sollen nanometerdicke mikrometerdicke Schichten ablösen. Dadurch vermeidet man insgesamt die Menge an toxischen Stoffen und den Einsatz von organischen Lösungsmitteln, wie bei Lacken, und anderen polymeren Beschichtungen wie Klebstoffen (vgl. van Lente und van Til 2008).
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2.6 Plasmatechnologie Die Grenzflächenmodifikation per Plasmatechnologie kommt in verschiedenen Variationen zum Einsatz (vgl. Liang et al. 2004). Bei diesem Verfahren wird der Werkstoff mittels Plasma an der Grenzfläche in eine ultradünne, funktionale Schicht (typische Tiefenwirkung: wenige Nanometer) umgewandelt. Durch die Behandlung der Oberfläche mit einem Gasplasma (Luft, Sauerstoff, Stickstoff, um nur einige Prozessgase zu nennen) bei atmosphärischem, Nieder- oder Hochdruck, können Oberflächen modifiziert werden. Heutzutage ist diese Technologie in Form von Plasmajets zur Kunststoffvorbehandlung ein sehr relevantes Verfahren. Mittels eines Plasmajets lassen sich Kunststoffe so funktionalisieren (meist in Form von Sauerstofffunktionalitäten), dass eine Haftung zum nachfolgend aufgebrachten Klebstoff möglich ist. Durch das Plasma ändert sich aufgrund der aufgebrachten Funktionalitäten die Polarität und Oberflächenenergie der Substrate, sodass eine Benetzung und Haftung ermöglicht wird. Plasmaprozesse eignen sich für eine Vielzahl von Materialgrenzflächen wie Metalle, Kohlenstofffasern und Kunststoffoberflächen. Der Vorteil bei Plasmaanlagen liegt in ihrer Prozesseffizienz und darin, dass keine sonstigen Abfälle erzeugt werden (z. B. kein Wasser- oder Lösungsmittelverbrauch). Problematisch ist jedoch der Energieverbrauch für die Prozessführung bei allen elektrochemisch oder mit Plasma geführten Verfahren. Das Plasmaverfahren hat zusätzlich den Nachteil, dass das Bauteil in einer speziellen Kammer behandelt werden muss oder, im Falle eines Plasmajets, die gleichzeitig zu behandelnden Flächen in ihrer Größe begrenzt sind. Einen Übergang zwischen nasschemischer Konversion und Plasmatechnologie stellt die plasmaelektrolytische Oxidation von Metallen dar. Metalle, wie z. B. Aluminium und Magnesium, können durch das Anlegen einer Hochspannung (im Bereich von mehreren hundert Volt) in einem Elektrolyten, die ein Plasma erzeugt, mit einer Oxidschicht überzogen werden.
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3. B LICK IN
DIE Z UKUNFT : I NNOVATIVE , NOCH NICHT GROSSTECHNISCH UMGESETZTE , NASSCHEMISCHE V ERFAHREN
Ein im Vergleich zu den konventionellen Verfahren zur Beschichtung von Werkstoffen relativ einfaches und umweltverträgliches Verfahren könnte die Beschichtung mit nanokristallinem Zinkoxid (ZnO) sein (vgl. Baruah und Dutta 2009), welches im Dissertationsprojekt, auf welchem dieser Beitrag basiert, Anwendung findet. Das Einsatzgebiet dieser Beschichtung ist nicht von einer bestimmten Substratklasse beschränkt, sodass eine sehr breite Vielfalt von leitenden und nichtleitenden Substraten beschichtet werden kann, ohne dass die Oberfläche eine chemische Ähnlichkeit zum ZnO haben müsste, wie es bei konversionschemischen Beschichtungen notwendig ist. Verschiedenste Oberflächen, wie Stahl oder Kohlenstofffasern, können beschichtet werden (vgl. Özcan 2010; Greene et al. 2005), um sie mit einer einheitlichen, oberflächenrauen, haftverstärkenden und korrosionsinhibierenden Schicht zu überziehen (vgl. Özcan et al. 2014; Özcan et al. 2011; Galan et al. 2011). Diese ZnO-Schichten sind sehr definiert, weil sie aus einer Kristallmodifikation des Zinkoxides, dem sogenannten Wurtzit, aufgebaut sind. Da diese einheitliche Zusammensetzung dafür sorgt, dass einheitliche Wechselwirkungen zu weiteren funktionalen Schichten gewährleistet sind, eignet sich die ZnOBeschichtung hervorragend als Zwischenschicht zu weiteren Haftvermittlerschichten (vgl. Özcan et al. 2013). Abbildung 2: Rasterelektronenmikroskopische Aufnahme einer hydrothermal abgeschiedenen ZnO-Nanostäbchenbeschichtung auf Zink.
Quelle: Özcan et al. 2013.
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Ein weiterer Vorteil ist, dass sich, trotz der Definiertheit der ZnO-Schicht in ihrer Zusammensetzung, eine Vielzahl von unterschiedlichen Formen und Strukturen erzeugen lassen. Durch die Wahl der Prozessparameter sind Stäbchen, Plättchen, einzelne Partikel, aber auch Heterostrukturen, wie blütenähnliche Gebilde oder Tetrapods synthetisierbar (vgl. Vayssieres 2003; Xu und Wang 2011). Abbildung 2 zeigt etwa eine Rasterelektronenmikroskopische Aufnahme einer hydrothermal abgeschiedenen ZnO-Nanostäbchenbeschichtung auf Zink. Das nasschemische Synthese-Verfahren zur Beschichtung ist sowohl rein chemisch (hydrothermal) oder auch elektrochemisch umsetzbar. Das Substrat taucht in eine wässrige Zinknitratlösung, welche bei erhöhter Temperatur (etwa 80 °C, je nach Prozessführung) zu Zinkhydroxid und Zinkoxid umgesetzt wird. Auch Sprühapplikationsverfahren sind derzeit in der Entwicklung. Der Hauptpunkt bei der Betrachtung der Nachhaltigkeit ist also in diesem Fall das Abwasser, welches beim Prozess anfällt; dazu kommt die Energie, die zum Beheizen des Bades benötigt wird. In diesen zwei Punkten unterscheidet sich dieses Verfahren in seiner Nachhaltigkeit nicht sehr von den bisher diskutierten Konversionsverfahren. Der entscheidende Unterschied liegt eher in der Zusammensetzung des Abwassers, da bei diesem Prozess kaum toxische Endprodukte zu erwarten sind. Da beim Prozess nitrat- und nitrithaltige Abfälle entstehen, sollten diese durch konventionelle Klärprozesse abgebaut werden können. Des Weiteren sind Abwässer mit Zinknitrat/oxid zu erwarten, die aber durch geeignete Filtermethoden entfernt werden können (vgl. Tan et al. 2015). Falls Hilfsstoffe wie Hexamethylentetraamid oder Kaliumchlorid eingesetzt werden, um eine Variation von Schichtmorphologien zu erzeugen oder um Prozessparameter zu optimieren (z. B. Zeitverkürzung), muss dies bei der Abwasserreinigung einkalkuliert werden. Insgesamt ist diese Methode aber ein relativ umweltverträgliches Verfahren, da die Additive in nur sehr kleiner Konzentration zugesetzt werden. Es konnten bereits mittels hydrothermal erzeugter ZnO-Schicht auf Stahl und Kohlenstofffasern Verbesserungen der mechanischen Eigenschaften im Verbund gezeigt werden (vgl. Kielar 2013; Özcan 2010; Galan et al. 2011) und die Fasern können beschichtet werden, ohne ihre Eigenschaften zu beeinträchtigen (vgl. Lin et al. 2009). Ziel des Dissertationsprojekts der Autorin ist es, diese Methode als elektrochemischen Prozess für die Beschichtung von Kohlenstofffasern im großen Maßstab zu etablieren, da die industrielle Relevanz von hydrothermalen Verfahren begrenzt ist. Im Gegensatz zur hydrothermalen Synthese hat die elektrochemische Variante den entscheidenden Vorteil der Zeitersparnis. Statt einer Synthesedauer im Bereich von 30 min bis über 4h dauert die Abscheidung nur
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wenige Minuten. Zudem kann die Prozesstemperatur herabgesetzt werden (von ca. 80 °C auf ca. 60 °C, vgl. Edalati et al. 2016). Um jedoch in der Gesamtproduktion auf eine realistische Taktzeit zu kommen, ist es unbedingt erforderlich, bei gleicher Qualität der Beschichtung die Abscheidezeit zu reduzieren. Diese Zeitersparnis bei der Prozessführung wird auf Kosten von elektrischer Energie ermöglicht, was aber den Prozess industriell dennoch relevanter macht. Da aber die notwendigen Edukte elektrochemisch im Prozess erzeugt werden können („in-situ“), kann auf Zusatzstoffe weitgehend verzichtet werden. Im Gegensatz zu organischen Schlichten auf Kohlenstofffasern hat eine ZnO-Beschichtung aufgrund ihrer Definiertheit den Vorteil, spezifische Wechselwirkungen zu einer organischen Matrix sowie gleichzeitig eine mechanische Verzahnung zu ermöglichen (vgl. Galan et al. 2011; Lin et al. 2009). Somit ließen sich neuartige Kompositsysteme viel effizienter entwerfen, weil die Wechselwirkungen mit Beschichtungssystemen untersucht werden könnten. Da sich kohlenstofffaserverstärkter Kunststoff (CFK) aufgrund seines chemischen Verhaltens gegenüber anderen Metallen wie Aluminium, Magnesiumlegierungen oder verzinktem Stahl ein positiveres Standardnormalpotenzial hat, besteht die Gefahr der Kontaktkorrosion, falls die Fügestellen durch den Beschnitt des Bauteiles freigelegt würden und nicht wieder durch eine Polymeroder Lackschicht eingebettet würden. Untersuchungen im Rahmen des andauernden Promotionsprojektes der Autorin sollen Ergebnisse liefern, inwiefern ZnO-Schichten auf Kohlenstofffasern ein zusätzliches Korrosionsschutzpotenzial zu den haftungsverstärkenden Eigenschaften bei CFK-Verbunden zeigen.
4. P RODUKTNACHHALTIGKEIT VON CFKH YBRIDSTRUKTUREN IN H INBLICK AUF IHRE R ECYCLINGFÄHIGKEIT Das Altmetallrecycling ist ein etabliertes Verfahren. Für CFK-Werkstoffe jedoch ist Recycling bisher noch eine der großen Herausforderungen. Anders als bei Metallbauteilen bedeutet Recycling Eigenschaftseinbußen für die Kohlenstofffasern (hier kurz CF). Dies resultiert in einem Verlust der mechanischen Eigenschaften und einem verminderten Einsatzpotenzial für recycelte Fasern in Verbundwerkstoffen, es sei denn man schützt diese während des Recyclingprozesses vor Temperatur und Oxidation mit einer grenzflächennahen Schutzschicht. Man unterteilt beim Faserrecycling in Reinfaser-Abfälle aus Spulenresten oder Verschnitt, mit keinem oder nur wenig Matrixanteil („dry fiber“) und die
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durch Kompositbauteile anfallenden Abfälle. Bauteilabfälle mit großem Anteil an Matrixmaterial können Produktionsabfälle aus CFK-Verschnitt sein oder Teile, die ihre Nutzungsphase abgeschlossen haben („End of life-Abfälle“). Je nach Polymerrestgehalt werden sie somit in trockene (erste Kategorie) oder in nasse Abfälle (zweite Kategorie) unterschieden. Bei den Recyclingverfahren unterscheidet man zwischen thermischem, chemischem und mechanischem Recycling. Das mechanische Verfahren, welches das Zerkleinern der Fasern zu Kleinstfasern beinhaltet und zur Herstellung von Vliesen oder Füllstoffen dient, ist hauptsächlich den trockenen Abfällen vorbehalten. Bei nassen Abfällen, wie den End-of-life-Abfällen aus CFKKomponenten, ist das Ziel, möglichst viel des ursprünglichen Fasermaterials in Länge und Qualität zu erhalten und für die weitere Produktion zurückzugewinnen. Das thermische Recycling (Pyrolyse) ist für CFK im Moment das dominante Verfahren, denn andere Verfahren, wie das chemische Recycling4 sind noch nicht ausgereift genug, um ökonomisch relevant zu sein (vgl. Quicker und Stockschläger 2017) oder können nur auf Kosten der Qualität der rückgewonnenen Fasern eingesetzt werden. Beim thermischen Recycling werden die CFK-Abfälle bei hoher Temperatur umgesetzt. Üblicherweise sind dazu Temperaturen von 450-700 °C nötig. Ziel ist es, die Matrixpolymere, die die Fasern ummanteln, zu verbrennen und dabei die Faser möglichst in ihrer Güte zu erhalten. Problematisch dabei ist, dass die Faser bei Temperaturen über 450 °C ihre strukturelle Integrität aufgrund von Oxidation verliert. Deswegen müssen die Verweilzeit in der Anlage und die Temperatur genau aufeinander abgestimmt sein. Der Verlust der strukturellen Integrität ist auf die Bildung von Löchern in den Fasern zurückzuführen, die mit zunehmender Temperatur und Zeit anwachsen. Des Weiteren kommt es nach einiger Zeit und ab einer Temperatur von 650 °C zur deutlichen Zunahme eines Zerfalls der Fasern in Fragmente, welche durch ihre Lungengängigkeit deutliche Gesundheitsschäden und außerdem Schäden an elektrischen Bauteilen von Müllverbrennungsanlagen hervorrufen können, weswegen besondere Sicherheitsmaßnahmen getroffen werden müssen, die beim Recycling anderen Abfalls so nicht nötig sind. Obwohl insgesamt Wege zur ‚sanfteren‘, oxidativen Reinigung der Fasern genutzt werden (vgl. Meyer et al. 2009), muss bisher immer mit einer Einbuße mechanischer Eigenschaften (20-30 % weniger Zugfestigkeit) und Verkürzung in den Faserlängen gerechnet werden:
4
Hier sei als Beispiel die Solvolyse genannt, also das Auflösen des Kunststoffmatrixmaterials in geeignetem organischem Lösungsmittel.
88 | J ULIA W EISS, G UIDO GRUNDMEIER „Despite numerous approaches, no economically sustainable recycling process has been found yet, to regain fibers that rival virgin fibers in terms of mechanical qualities.“ (Limburg und Quicker 2016, S. 223)
Ein weiteres Problem bei derzeitigen Verfahren ist, dass durch die Verbrennung des Matrixmaterials auf den Fasern Kohlenstoffrückstände verbleiben, die eine oxidative Nachbehandlung erforderlich werden lassen, um diese von den Fasern zu entfernen. Ohne diese Behandlung würden die Rückstände eine erneute gute Haftung der Matrix an der Faser und damit die gewünschte Wechselwirkung von Faser und Matrix im Komposit behindern. Thermisch recycelte Fasern können zwar für Produkte im Lifestyleproduktsektor (Sportgeräte, wie Fahrräder u. ä.) eingesetzt werden, Ziel ist es jedoch, möglichst viel des Fasermaterials zurückzugewinnen, denn auch hier endet der Produktlebenszyklus. An diesem Punkt setzt daher die Entwicklung neuer Recyclingwege oder Prozesse zum Schutz der Fasern vor der oxidativen Schädigung beim thermischen Recycling an. Eine Möglichkeit besteht beispielsweise darin, die Fasern durch eine zusätzliche Materialschicht zu schützen. In Frage kommende Materialien für eine Beschichtung der Fasern müssen insbesondere hohe Temperaturen aushalten und eine gute Adhäsion zur Faser besitzen. Um eine gute Adhäsion zur Matrix zu gewährleisten, muss die Schicht entweder eine chemische Affinität und/oder eine mechanische Verankerung des Matrixpolymers zulassen. Die vorgestellten ZnO-Beschichtungen erfüllen diese Eigenschaften; Zinkoxid wird beispielsweise aufgrund seiner hohen Temperaturbeständigkeit als Keramikmaterial eingesetzt. Tkachenko et al. (2012) fassen zur Ummantelung von Kohlenstofffasern mit hochtemperaturbeständigen Schutzschichten dazu eine Anzahl an möglichen Materialklassen zusammen; laut der Autoren eignen sich dazu insbesondere anorganische Materialien wie Metalloxide, Boride, Carbide und Nitride. ZnO stellt dazu eine gute Alternative dar, da es in einem kostengünstigen und umweltschonenden Verfahren abgeschieden werden kann und die erhöhte Haftung im Komposit mit einem Faserschutz kombiniert wird.
5. F AZIT
UND
AUSBLICK
Durch die Forschung und Entwicklung neuer Grenzflächenbeschichtungen kann die Kenntnis über die Grenzflächenchemie dazu beitragen, den MaterialLeichtbau im Multimaterialdesign in seinen Vorteilen, wie der Gewichtseinsparungen durch den Einsatz von Leichtmetallen und CFK, mit Nachhaltigkeitsan-
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forderungen, wie der Recyclingfähigkeit, zu verbinden. Die festgestellte Diskrepanz zwischen Verbundstabilität und Recyclingfähigkeit kann folglich vor allem durch die Forschung und Entwicklung neuer Technologien ausgeschaltet werden, wie anhand des Beispiels von Zinkoxid-Kohlenstofffaserbeschichtungen gezeigt wurde. Verbundstabilität und der Schutz des Bauteiles oder Produktes vor Umwelteinflüssen (Korrosion) durch den Einsatz von Beschichtungen kann zusätzlich zur Nachhaltigkeit eines Bauteiles beitragen, wenn eine gezielte Steuerung der Prozessnachhaltigkeit in Form von Reduktion von Wasser, dem Einsatz von organischen Lösungsmitteln, toxischen Abfallstoffen und Emissionsverringerung erfolgt. Grenzflächenbeschichtungen mit ZnO könnten hier ein Weg sein, Produktnachhaltigkeit in Form von Haftungsverstärkung und gleichzeitig Prozessnachhaltigkeit im Beschichtungsprozess durch die Verringerung der Abfälle und des Einsatzes toxischer Stoffe zu erhöhen. Nachhaltigkeit bedeutet aber auch, ressourcenschonend zu produzieren, die Prozessnachhaltigkeit zu erhöhen, zu reparieren, anstatt wegzuwerfen und zu recyceln, damit Rohstoffe erneut zur Herstellung eingesetzt werden können. Die Diskrepanz zwischen Stabilität und Recyclingfähigkeit kann eine ZnOBeschichtung alleine zwar nicht beseitigen, sie kann aber dazu beitragen, in Form einer Kohlenstofffaserbeschichtung Stabilität im CFK-Verbund zu erzeugen und die Recyclingfähigkeit der Fasern gleichzeitig zu verbessern.
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94 | J ULIA W EISS, G UIDO GRUNDMEIER
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2. Die Relevanz neuer (hybrider) Materialien
Anwendungen additiver Fertigungsverfahren und die Erschließung neuer Anwendungsbereiche durch neue Materialien C HRISTIAN S CHUMACHER UND V OLKER S CHÖPPNER
1. E INLEITUNG Die Produktion und der Verkauf innovativer Industrieerzeugnisse sind eng mit dem Lebensstandard unserer Gesellschaft verknüpft. Die Zukunft gestalten heißt daher auch, neue innovative Erzeugnisse zu entwickeln und zu produzieren, welche dem Menschen dienen und den Lebensstandard heben (vgl. Gausemeier 2006). Eine Forderung an die industrielle Produktion ist die nach einer immer stärkeren Individualisierung der Produkte, welche unter den Bedingungen einer hoch flexiblen (Groß-)Serienproduktion neben anderen Merkmalen das Konzept von Industrie 4.0 kennzeichnet (vgl. BMBF-Internetredaktion 2016). Additive Fertigungsverfahren erzeugen Bauteile direkt aus einem 3DDatensatz und ohne die Verwendung formgebender Werkzeuge (vgl. Levy et al. 2003). Die Technologie ermöglicht es daher, komplexe Geometrien und individuelle Produkte ohne werkzeugbedingte Mehrkosten herzustellen. Die große Flexibilität der additiven Fertigungsverfahren bietet enormes Potenzial für neuartige Herstellungsmuster im Kontext von ,intelligenten Fabriken’ und Industrie 4.0. Additive Fertigungsverfahren könnten zukünftig ein Teilelement der global vernetzten Produktion darstellen und die bestehenden Steuerungsstrukturen nicht wesentlich verändern oder aber hochgradig dezentrale und von industriellen Infrastrukturen losgelöste Herstellungsmuster begründen (vgl. Petschow et al. 2014). Im Folgenden werden die additiven Fertigungsverfahren im Vergleich zu konventionellen Fertigungsverfahren eingeordnet. Es werden einige Vorteile aufgezeigt, welche sich insbesondere im Kontext individualisierter Produkte er-
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geben und einige aus den aufgezeigten Vorteilen resultierende Anwendungsmöglichkeiten erläutert. Anschließend wird dargestellt, wie die Forschungsarbeiten an Materialien für den additiven Fertigungsprozess Fused Deposition Modeling (FDM) dazu beitragen, die Verbreitung additiver Fertigungsverfahren zu erhöhen und weitere Anwendungsbereiche zu erschließen.
2. ADDITIVE F ERTIGUNGSVERFAHREN Additive Fertigung bildet den Überbegriff für eine Vielzahl von Fertigungsverfahren. Neben dem Begriff additive Fertigung sind auch die Begriffe generative Fertigung und 3D-Drucken gebräuchlich. Obwohl zunächst nur ein spezielles additives Fertigungsverfahren als 3D-Drucken bezeichnet wurde, hat sich der Begriff inzwischen etabliert und wird äquivalent zum Begriff der additiven Fertigung genutzt (vgl. Gebhardt 2013; Wohlers et al. 2016). Eingeteilt werden können alle industriellen, auch nicht additiv arbeitenden Fertigungsverfahren, beispielsweise nach DIN 8580 (vgl. Tabelle 1). Die Einteilung basiert darauf, dass die Fertigungsverfahren entweder die Schaffung einer Form (Urform), die Veränderung der Form oder die Veränderung der Stoffeigenschaften zum Ziel haben (vgl. DIN 8580). Hiernach würden additive Fertigungsverfahren in der Regel zu der Hauptgruppe der urformenden Fertigungsverfahren zählen. Auch lassen sich die additiven Fertigungsverfahren mit der ISO/ASTM 52900 erfassen. Diese beschreibt die additiven Fertigungsverfahren als Prozesse, welche physische Bauteile direkt aus 3D-Datensätzen erzeugen. In Abgrenzung zu subtraktiven und formativen Verfahren, geschieht dies durch meist schichtweises Aneinanderfügen von Material (vgl. Wohlers et al. 2016).
A NWENDUNG
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Tabelle 1: Einteilung der Fertigungsverfahren.
Geometrie
DIN 8580
Einteilung der Fertigungsverfahren Zusammenhalt Schaffen
Urformen
additiv
Beibehalten
Vermindern
Umformen
Trennen
Vermehren Fügen
Beschichten
Stoffeigenschaften ändern
formativ
subtraktiv
additiv
Quelle: DIN 8580; eigene Darstellung.
2.1 Vorteile additiver Fertigungsverfahren Additive Fertigungsverfahren werden genutzt, um Endprodukte, Prototypen, Formen und Werkzeuge aus Kunststoffen, Metallen, Keramiken, Gläsern und Verbundwerkstoffen herzustellen. Die am häufigsten genutzten Funktionsprinzipien in additiven Fertigungsverfahren sind die Extrusion pastöser oder plastischer Materialien, das Aufspritzen von Material, das lokal induzierte Materialaushärten mit Hilfe von Polymerisationsprozessen, das Aufeinanderschichten oder das Aneinander- und Aufeinanderschweißen von Materialien (vgl. Wohlers et al. 2016; VDI 2014). Angewendet wird die additive Fertigung in vielen Unternehmen bereits zur schnellen Fertigung von Anschauungsmustern und Funktionsprototypen oder zur Herstellung von Montagehilfen. Dadurch kann der Produktentstehungsprozess unterstützt und beschleunigt werden. Die Ziele sind eine Verkürzung der Produkteinführungszeit (engl. time to market), eine Erhöhung der Produktqualität und eine Reduzierung der Kosten (vgl. Wohlers et al. 2016). Vermehrt wird die additive Fertigung aber auch als Fertigungsverfahren für Endbauteile eingesetzt. Dies ist insbesondere dann interessant, wenn die Bauteile in geringen Stückzahlen gefertigt werden, eine komplexe Geometrie besitzen oder sehr individuell sind. Das liegt an einigen Vorteilen, welche die additiven Fertigungsverfahren bieten, die im Folgenden erläutert werden (vgl. Adam 2015):
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Schaffung großer gestalterischer Freiheit Die Verfahren erzeugen Bauteile ohne die Verwendung formgebender Werkzeuge. Daher gibt es keine werkzeugbedingten Restriktionen für die Formgebung additiv zu fertigender Bauteile (vgl. Hague et al. 2004; Hague et al. 2003). Oft können dadurch die Funktionen mehrerer Bauteile vereint werden, sodass eine Baugruppe durch ein einzelnes Bauteil ersetzt werden kann. Der Wegfall von Montageschritten und Verbindungselementen spart zusätzlich Kosten, Gewicht und Ressourcen. Entkopplung der Stückkosten von der Stückzahl (vgl. Abbildung 1). Bei konventionellen Fertigungsprozessen werden die Entwicklungs- und Herstellungskosten des formgebenden Werkzeugs üblicherweise auf die Anzahl der gefertigten Bauteile umgelegt. Für kleine Stückzahlen resultieren daraus hohe Stückkosten. Bei additiven Fertigungsverfahren besteht ein derartiger Zusammenhang, durch das nicht Vorhandensein eines bauteilspezifischen Werkzeugs nicht. Dies ermöglicht eine kosteneffiziente und ressourcenschonende Fertigung bei geringen Stückzahlen (vgl. Lim et al. 2012). Entkopplung der Stückkosten von der Bauteilkomplexität (vgl. Abbildung 1). Additive Fertigungsverfahren erzeugen eine Bauteilgeometrie durch die wiederholte Formgebung einzelner Schichten. Die fertigungstechnischen Herausforderungen zur Herstellung der dreidimensionalen Geometrie werden dadurch aufgelöst. Innerhalb der Schichten übt die zweidimensionale Bauteilschichtgestalt keinen signifikanten Einfluss auf die Stückkosten aus (vgl. Hague et al. 2003). Abbildung 1: Qualitative Darstellung der Stückkosten eines Bauteils in Abhängigkeit von der Komplexität (links) und der Stückzahl (rechts)
Quelle: Eigene Darstellung.
A NWENDUNG
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Ermöglichen einer flexiblen Fertigung. Additive Fertigungsverfahren nutzen keine bauteilspezifischen Werkzeuge. Die Fertigungsdaten werden automatisiert aus 3D-Datensätzen erzeugt. Die Fertigung von Bauteilen mit einer hohen Variantenvielfalt und einem hohen Individualisierungsgrad ist daher ohne Mehrkosten möglich (vgl. Hague * et al. 2004). Entfall einer umfangreichen Lagerhaltung. Bei konventionellen Fertigungsverfahren müssen auch nach der Serienfertigung noch die zur Herstellung des Produktes benötigten Werkzeuge und Betriebsstoffe vorgehalten werden, um eine Ersatzteilbereitstellung zu gewährleisten. Bei additiven Fertigungsverfahren werden keine produktspezifischen Werkzeuge oder Betriebsstoffe benötigt, sodass die Lagerhaltung entfallen kann. 2.2 Anwendungen additiver Fertigungsverfahren Durch die beschriebenen Vorteile der additiven Fertigung eignen sich die Verfahren für einige Anwendungsbereiche besonders gut. So können mit additiven Fertigungsverfahren beispielsweise die Themenfelder Leichtbau und Individualisierung adressiert werden. Am Markt existiert eine Vielzahl verschiedener additiver Fertigungsverfahren. Aufgrund der unterschiedlichen Anforderungen an die Bauteile eigenen sich nicht alle Verfahren gleich gut zum Einsatz in den unterschiedlichen Themenfeldern. Unter Leichtbaugesichtspunkten sind häufig additive Fertigungsverfahren interessant, welche Bauteile erzeugen, bei denen die Bauteileigenschaften in Bezug auf die Festigkeitswerte annährend vergleichbar zu den in konventionell Verfahren erzielbaren Bauteileigenschaften sind. Denn während in spanenden Fertigungsverfahren die Eigenschaften des zugeführten Halbzeugs, z. B. in Bezug auf Festigkeitskennwerte, in der Regel mit denen des erstellten Bauteils übereinstimmen, ist dies bei additiven Fertigungsverfahren oft nicht der Fall. So werden in vielen additiven Fertigungsverfahren die Eigenschaften des Bauteils erst während des Bauprozesses definiert. Sofern die Anforderungen an die Bauteile unter Gesichtspunkten der Individualisierung definiert werden, sind Festigkeitskennwerte oft von sekundärer Bedeutung. Auch starke Richtungsabhängigkeiten (Anisotropie) in den Bauteileigenschaften, wie sie z. B. bei einigen additiven Fertigungsverfahren in und orthogonal zur Bauebene auftreten, werden eher akzeptiert. Vermehrt werden hingegen, je nach Anwendung, spezielle Materialeigenschaften gefordert. Das kann beispielsweise eine Unbedenklichkeit im Kontakt mit Lebensmitteln oder die Verträglichkeit beim Einsatz im menschlichen Körper sein.
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2.3 Leichtbau Bei konventionell gefertigten Bauteilen kommt üblicherweise eine größere Menge Material für das Bauteil zum Einsatz als zur Funktionserfüllung benötigt wird. Dies hat verschiedene Gründe. In einigen Fertigungsprozessen ist es teilweise nicht anders möglich das Bauteil herzustellen (vgl. Wohlers et al. 2016) oder das überflüssige Material kann nur durch Folgeprozesse mit erheblichem Kostenaufwand entfernt werden. So berechnen sich die Bauteilkosten in der spanenden Fertigung wesentlich anhand der Maschinenlaufzeit. Entscheidend hierfür ist mitunter die Menge des zu zerspanenden Materials. Das Entfernen des Materials verursacht demnach Kosten, weshalb das zur Funktionserfüllung nicht notwendige Material in vielen Fällen am Bauteil verbleibt. In einigen Bereichen spielen die Kosten zur Bauteilherstellung, z. B. bei einer möglichen Gewichtseinsparung, eine untergeordnete Rolle. So ist es in der Luft- und Raumfahrttechnik beim Einsatz spanender Fertigungsverfahren üblich, einen Großteil des eingesetzten Materials zu zerspanen. Der Materialausnutzungsgrad (die Buy-to-Fly ratio bzw. B2F-Ratio), also das Materialvolumen, welches für die Bauteilfertigung eingesetzt wird, im Verhältnis zum Material, welches im Bauteil verbleibt, liegt oft bei deutlich über 50 %. In der additiven Fertigung wird dieser Zusammenhang umgekehrt. Prinzipienbedingt wird Material hinzugefügt, um ein Bauteil zu erzeugen. Der Einsatz einer größeren Materialmenge verursacht, neben höheren Materialkosten, daher auch eine längere Maschinenlaufzeit. Diese ist wiederum mit Kosten verbunden. Durch die große gestalterische Freiheit beim Einsatz additiver Fertigungsprozesse kann das Material im Bauteil oft an fast beliebigen Stellen positioniert werden. Aufgrund dessen und dadurch, dass ein höherer Materialeinsatz mit höheren Kosten verknüpft ist, sollte ein für additive Fertigung konstruiertes und optimiertes Bauteil nur an den Stellen Material einsetzen, wo es zur Erfüllung der Funktion benötigt wird. Mit Hilfe dieser hohen gestalterischen Freiheit und unter Einsatz entsprechender Methoden zur Bauteilauslegung wie Topologie-Optimierungen, können mit additiven Fertigungsverfahren extrem leichte Bauteile erzeugt werden, die einen sehr guten Materialausnutzungsgrad und eine gute B2F-Ratio aufweisen (vgl. Reiher und Koch 2015). Insbesondere in der Luft- und Raumfahrtindustrie oder der Automobilindustrie hat der Leichtbau eine hohe Bedeutung. So gehörte die Luft- und Raumfahrtindustrie zu den Erstanwendern der additiven Fertigung. Bereits seit Mitte der 1990er-Jahre fertigen beispielsweise Boeing und Bell Helicopter nicht-tragende Teile in additiven Fertigungsverfahren (vgl. Wohlers et al. 2016). Zielsetzung ist dabei meistens, durch die Reduzierung der bewegten Massen Energie und
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dadurch Kosten einzusparen. Zusätzlich wird prinzipienbedingt ‒ je nach Prozess und mit Ausnahme von eventuell benötigten Stützkonstruktionen ‒ nur das Material eingesetzt, welches im Bauteil verbleibt. 2.4 Individualisierung Nicht alle additiven Fertigungsverfahren eigenen sich, aufgrund der im Prozess entstehenden Bauteileigenschaften, gleichermaßen zur Nutzung im Extremleichtbau. So sind bei einigen Verfahren z. B. die Festigkeitswerte des Bauteils in Aufbaurichtung deutlich schlechter als in der Bauebene oder im Vergleich zu konventionellen Fertigungsverfahren. Diese Verfahren bieten jedoch andere Vorteile, wie z. B. die Verarbeitung anderer Materialien, welche für die beabsichtigte Anwendung unverzichtbar sind oder die Einfärbung des Bauteils im Herstellungsprozess. Durch die Entkopplung der Stückkosten von der Komplexität und der Stückzahl gibt es weitere Anwendungsbereiche für additive Fertigungsverfahren. Das sind z. B. Bauteile, welche in großer Variantenvielfalt vorkommen oder sehr individuell sein müssen (siehe hierzu auch den Beitrag von Stefan Josupeit und Hans-Joachim Schmid in diesem Band). Dies kommt bei technischen Bauteilen, aber auch in der Medizintechnik, der Spielzeugindustrie oder in künstlerischen Anwendungen vor. Eine hohe Verbreitung hat die additive Fertigung aufgrund der kleinen Bauteilgröße und dem hohen Individualisierungsgrad der Bauteile inzwischen insbesondere in der zahnmedizinischen Industrie. Nach Aussage von EOS werden inzwischen jedes Jahr mehr als fünf Millionen metallische Zahnhülsen (welche genutzt werden, um Zahnkronen und -brücken zu produzieren) allein auf additiven Fertigungssystemen der Firma EOS hergestellt. Aber auch die medizinische Industrie nutzt additive Fertigungsverfahren inzwischen zur Herstellung von Operationshilfen wie Schneid- und Bohrschablonen und zur Herstellung orthopädischer Implantate (vgl. Wohlers et al. 2016). 2.5 Industrie 4.0 und die Rolle additiver Fertigungsverfahren Aktuelle und zukünftige Herausforderungen für die industrielle Produktion ergeben sich aus den wachsenden Flexibilitätsanforderungen der Absatzmärkte, einer zunehmenden Individualisierung der Produkte, den kürzer werdenden Produktlebenszyklen und einer steigenden Komplexität der Prozessabläufe (vgl. HirschKreinsen 2014). Nach den ersten drei industriellen Umbrüchen durch Mechanisierung, Elektrifizierung und Informatisierung entwickelt sich die Vision einer zukünftigen Industrie 4.0 als Teil intelligenter Produktionsnetzwerke. Die um-
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fassende Digitalisierung und Vernetzung von Produktionsabläufen wird als Schlüssel dafür gesehen, den Anforderungen sich ständig dynamisierender Produktionsumwelten gerecht zu werden (vgl. Petschow et al. 2014). Das verarbeitende Gewerbe wird sich im Rahmen dieses Umbruchs zunehmend nicht mehr nur an Effizienz- und Kostenparametern messen lassen. In gleicher Weise werden sich verändernde Nachfragestrukturen, komplexer werdende Interaktionsmuster und nachhaltiges Wirtschaften zu berücksichtigen sein. Die Kombination dieser Aspekte in Konzepten von Industrie 4.0 gilt dabei als zentraler Erfolgsfaktor für den globalen Wettbewerb, weshalb sich viele Forschungsprojekte mit der Thematik befassen (vgl. ebenda). Für den Einsatz additiver Fertigungsverfahren in Konzepten von Industrie 4.0 sind mehrere Ansätze denkbar. Großes Potenzial für eine flexible Produktion individueller Bauteile oder nur die Steigerung der Variantenzahl ergibt sich durch die verfahrensbedingt werkzeuglose Fertigung von Produkten direkt aus den 3D-Daten, d. h. aus einem digitalen Datensatz. Ein weiterer Ansatz ergibt sich durch die auftragsgebundene Fertigung (vgl. Obermaier 2016). Kunden sind in der Regel nicht bereit, lange auf ihr Produkt zu warten. Während jedoch eine Lagerhaltung mit steigender Variantenzahl oder sogar kundenindividuellen Produkten schwierig bis unmöglich wird, kann mit Hilfe additiver Fertigungsverfahren beispielsweise die sofortige Produktion eines Ersatzteils ermöglicht werden (vgl. ebd.). Die genauere Auseinandersetzung mit Konzepten von Industrie 4.0 zeigt, dass die Zukunft digital vernetzter Produktion noch vor erheblichen Herausforderungen steht und sich vor allem die weitgehende Vernetzung und dezentrale Steuerung über die unterschiedlichen Ebenen der Wertschöpfungsketten hinweg noch am Anfang befindet (vgl. Petschow et al. 2014). Auch um additive Fertigungsverfahren sinnvoll in einer hochautomatisierten Produktionsumgebung einsetzen zu können, müssen die aktuell meist von Menschen bedienten BatchFertigungs- und Nacharbeitsprozesse noch zu automatisierten Prozessketten weiterentwickelt werden.
3. E RSCHLIESSEN NEUER ANWENDUNGSBEREICHE ADDITIVE F ERTIGUNGSVERFAHREN
FÜR
Aufgrund der zuvor beschriebenen Vorteile und Potenziale der additiven Fertigung und der zurzeit begrenzten Anwendungsgebiete ist ersichtlich, dass es wünschenswert ist, neue Anwendungsfelder für diese Fertigungsverfahren zu erschließen, um langfristig deren Verbreitung zu steigern. Ein wichtiges Kriterium
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für den Einsatz einer Fertigungstechnologie ist die Verfügbarkeit geeigneter Materialien für die beabsichtigte Anwendung; insbesondere Kunststoffe werden häufig für eine spezielle Anwendung maßgeschneidert. Aktuell ist die Materialauswahl bei einigen additiven Fertigungsverfahren allerdings stark eingeschränkt. Der vorliegende Artikel soll dazu beitragen, die Materialauswahl für additive Fertigungsprozesse zu steigern, und beschäftigt sich im Wesentlichen mit der Entwicklung eines Vorgehens, um die Eignung von Materialien für einen kunststoffverarbeitenden additiven Fertigungsprozess, das Fused Deposition Modeling (FDM), zu charakterisieren und ein Vorgehen zu finden, neue Materialien in diesem Prozess verarbeiten zu können. So ist die Materialauswahl auch für den FDM-Prozess aktuell stark eingeschränkt. Im Folgenden wird zunächst der additive Fertigungsprozess des Fused Deposition Modelings erläutert. Anschließend wird das Forschungsvorhaben der Autoren, das Forschungsumfeld, sowie die gegenwärtige Marktsituation vorgestellt. Abschließend wird die Zielsetzung des Forschungsvorhabens erläutern. 3.1 Der additive Fertigungsprozess Fused Deposition Modeling (FDM) Einer von vielen am Markt etablierten additiven Fertigungsprozesse ist das Fused Deposition Modeling (FDM). Der Prozess ist auch unter den Begriffen Fused Layer Modeling (FLM) oder Fused Filament Fabrication (FFF) bekannt. Bei diesem Verfahren wird das Halbzeug, ein drahtförmig vorliegender, thermoplastischer Kunststoff, durch einen Vorschubmechanismus in ein beheiztes Röhrchen, die Plastifiziereinheit, geschoben. Dort schmilzt das Material, im Wesentlichen aufgrund konvektiver Erwärmung, auf. In konventionellen Plastifizieraggregaten (Schneckenmaschinen) wird hingegen ein Großteil der zum Aufschmelzen des verarbeiteten Kunststoffs benötigten Energie durch z. B. Reibung (Dissipation) eingebracht. Wesentlich für die Funktionsweise des FDM ist es, dass sich innerhalb des beheizten Röhrchens der Plastifiziereinheit ein Übergang von festem Kunststoffdraht zu plastifizierter Kunststoffschmelze bildet. Während des Fertigungsprozesses kann so das nicht plastifizierte Halbzeug (der Kunststoffdraht) genutzt werden, um das bereits aufgeschmolzene Material aus dem Röhrchen und durch eine Düse zu pressen. Das gleichzeitige und fortlaufende Positionieren dieser Düse relativ zur Bauunterlage oder einer bereits gefertigten Struktur ermöglicht es, die durch die Düse gepresste Kunststoffschmelze strangweise aneinanderzulegen, um eine Schicht des Bauteils in der Bauebene zu erzeugen. Durch das
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Aufeinanderlegen mehrerer Schichten wird das Bauteil orthogonal zur Bauebene erzeugt. Der Materialzusammenhalt wird durch thermische Schweißung der einzelnen Stränge realisiert. Die für die Schweißungen erforderliche thermische Energie wird dabei lokal durch die abgelegte Kunststoffschmelze und, sofern vorhanden, über einen beheizten Bauraum eingebracht. Die Berechnung der im FDMProzess zu extrudierenden Kunststoffmenge erfolgt über einen gesteuerten Vorschubweg des Halbzeugs und die in der Software hinterlegte Querschnittsfläche des Halbzeugs. Aus diesem Grund sind die geometrische Gestalt und insbesondere die Querschnittsfläche des Halbzeugs von besonderer Bedeutung für einen reproduzierbar arbeitenden Prozess. 3.2 Marktsituation beim FDM-Prozess Die ersten FDM-Anlagen wurden von der Firma Stratasys Inc. entwickelt (vgl. Crump 1989) und sind seit 1991 kommerzialisiert. Diese Technologie findet sowohl Anwendung für Konzeptmodelle und Funktionsprototypen als auch für Endprodukte. Seit 2003 zählt dieses Verfahren zu den am meisten verwendeten additiven Fertigungsverfahren zur Herstellung von Kleinserienbauteilen, Werkzeugen und Prototypen (vgl. Wohlers et al. 2012). Als Entwickler der ersten FDM-Maschinen besitzt die Firma Stratasys immer noch wichtige Patente (vgl. z. B. Stratasys 2000). Im industriellen Umfeld werden daher aktuell fast ausschließlich FDM-Maschinen von Stratasys eingesetzt, dabei versteht das Unternehmen sich allerdings nicht als Maschinenhersteller, sondern als Systemanbieter. So vertreibt Stratasys neben der Maschine auch die Materialien und die materialspezifischen Verarbeitungsparameter. Obwohl der Hersteller auf diese Weise eine gewisse Reproduzierbarkeit des Prozesses gewährleisten kann, wird ebenso effektiv die Verarbeitung fremder Materialien verhindert. Das Ausgangsmaterial wird vom Hersteller auf Spulen als quasi endloser Strang geliefert; die Materialerkennung und Parameterdefinition für den Prozess erfolgen durch einen auf dem Materialkanister befindlichen Speicherchip. Insbesondere bei der direkten Herstellung von Endprodukten und der seriennahen Herstellung von Funktionsprototypen sind die chemische Zusammensetzung und die genauen Eigenschaften dieser Materialien meist unzureichend bekannt. Heute werden Kunststoffe oft auf die daraus zu fertigenden Produkte zugeschnitten. Aufgrund der Materialbindung im FDM-Prozess ist dieser für viele Unternehmen zur Fertigung von Endbauteilen zurzeit unattraktiv. Schon jetzt bilden sich daher viele kleine Firmen am Markt, welche FDM-ähnliche Maschi-
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nen insbesondere für Privatkunden anbieten, bei denen die Verarbeitungsparameter durch den Bediener verändert werden können. Dies ermöglicht zumindest theoretisch die Verarbeitung beliebiger Materialien. Mit dem Auslaufen wichtiger Patente in den nächsten Jahren ist davon auszugehen, dass sich auch im industriellen Umfeld vermehrt parameteroffene FDM-Anlagen oder FDM-ähnliche Anlagen etablieren. 3.3 Forschungsumfeld Um weitere Anwendungsfelder zu erschließen und um das FDM-Verfahren universeller einsetzen zu können, ist es entgegen der aktuellen Marktsituation wünschenswert, im FDM-Verfahren eine ähnlich große Materialvielfalt wie beispielsweise bei der Profilextrusion oder dem Spritzgießen einsetzen zu können. Die Verarbeitungseignung beliebiger Kunststoffe sollte dazu bereits anhand von Materialeigenschaften oder Kennwerten abschätzbar sein. Dies ist zurzeit nicht möglich, da im Gegensatz zu konventionellen kunststoffverarbeitenden Verfahren erst wenig über die zur Verarbeitung in strangablegenden additiven Fertigungsprozessen, wie dem FDM-Prozess, erforderlichen und wünschenswerten Materialeigenschaften bekannt ist. Auch die Verarbeitung gefüllter oder verstärkter Materialien ist aktuell auf Anlagen der Firma Stratasys nicht möglich, würde jedoch die Anwendungsgrenzen erweitern. Initiiert aus der Industrie heraus wird diese Thematik daher im Rahmen des NRW Fortschrittskollegs „Leicht – Effizient – Mobil“ in Kooperation mit der ALBIS PLASTIC GmbH untersucht. Die ALBIS PLASTIC GmbH bietet die Distribution und Veredelung von Kunststoffen an. In der Kunststoffindustrie vernetzt kann ALBIS die aktuelle und zukünftige Nachfrage des Marktes nach Materialien für kunststoffverarbeitende additive Fertigungsverfahren daher abschätzen. 3.4 Herangehensweise und Zielsetzung Während des Forschungsprojektes werden die Anforderungen an Material, Halbzeug und Prozess anhand eines industriell relevanten Beispielkunststofftyps untersucht. Dazu werden systematisch verschiedene Typen von Polyamid 6 (PA6) zu Monofilamenten extrudiert und anschließend kontrolliert auf einer FDMAnlage verarbeitet. Durch die Variation wichtiger Materialeigenschaften, wie der Viskosität, sollen die Materialeigenschaften in Zusammenhang mit den Verarbeitungseigenschaften gesetzt werden. Außerdem soll die Verarbeitung faserverstärkter Materialien untersucht werden. Es ist davon auszugehen, dass das
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verfahrensbedingte Erzeugen der Bauteile durch Aneinanderlegen vieler Stränge die Beeinflussung der Faserorientierung ermöglicht. Die Firma ALBIS PLASTIC GmbH tritt als Industriebetreuer dieser Forschungsthematik auf und unterstützt das Forschungsprojekt fachlich. In regelmäßigen Projekttreffen werden der Projektstand organisatorisch und die Thematik fachlich diskutiert. Insbesondere liefert ALBIS das Knowhow im Themenfeld der Compoundierung, während das Prozessverständnis zum FDM-Verfahren im Wesentlichen durch das Direct Manufacturing Research Center (DMRC) bzw. die Kunststofftechnik Paderborn (KTP) der Universität Paderborn eingebracht wird. Durch die Verarbeitungsmöglichkeit neuer Materialien sollen neue Anwendungsfelder für das FDM-Verfahren erschlossen werden. Das generierte Wissen zu den für eine Verarbeitung im FDM-Verfahren geeigneten Materialien kann zu einem stärkeren Wettbewerb und zu niedrigeren Materialpreisen führen. Insgesamt wird dadurch eine stärkere Verbreitung des FDM-Verfahrens gefördert. Durch die größere Verbreitung und neue Anwendungsmöglichkeiten kann das Potenzial der Technologie besser ausgenutzt werden, durch immer mehr und bessere Leichtbaukonstruktionen können daher langfristig auch Ressourcen geschont werden.
4. F AZIT
UND
AUSBLICK
Wie in der Einleitung beschrieben, bestimmt die Fähigkeit, innovative Industrieerzeugnisse hervorzubringen und zu verkaufen, in hohem Maße den Lebensstandard unserer Gesellschaft (vgl. Gausemeier 2006). Dem sich aktuell abzeichnenden Trend einer immer stärkeren Individualisierung der Produkte kann unter anderem im Konzept Industrie 4.0 begegnet werden (vgl. Obermaier 2016). Additive Fertigungsverfahren können aufgrund Ihrer Vorteile und der Eigenschaft, physische Objekte direkt aus einem 3D-Datensatz zu erzeugen, einen Beitrag zu diesem Konzept leisten. Um diese Technologien in möglichst vielen Anwendungsgebieten einsetzen zu können, ist die Verarbeitung eines möglichst großen Materialspektrums erforderlich. Die hier vorgestellten Forschungsarbeiten tragen dazu bei, neue Materialien in diesen Verfahren verarbeiten zu können. Dadurch werden langfristig neue Anwendungsbereiche erschlossen und es wird die Entwicklung der industriellen Produktionstechnik der Zukunft und die damit verbundene Erhöhung des Lebensstandards vorangetrieben.
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Graphenbasierte Komposite für langlebige Beschichtungen und Materialien A NDREAS W OLK
1. E INLEITUNG In den letzten Jahren hat der Begriff der Nachhaltigkeit an Popularität gewonnen: So ist dieser derzeit in z Bereichen der Gesellschaft anzutreffen und wird von vielen Unternehmen als Werbestrategie aufgegriffen. Mittlerweile ist Nachhaltigkeit auch zu einer Art Lebensgefühl geworden, das sich unteranderem in einem veränderten Kaufverhalten des Kunden widerspiegelt: Beispielsweise steigt der Kauf von Lebensmitteln mit dem Biosiegel stetig an (vgl. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 2017). Dieser Trend bezieht sich dabei nicht ausschließlich auf den Lebensmittelbereich, sondern findet sich in allen Sektoren der Gesellschaft wieder. So stieg etwa im Automobilsektor der Verkauf von Elektrofahrzeugen deutlich an. Nach der aktuellen und gängigen Definition ist das Konzept der Nachhaltigkeit simpel und besagt, dass nicht mehrverbraucht werden dürfe als jeweils nachwachsen kann (vgl. Duden 2016). Der Begriff der Nachhaltigkeit ist ca. 200 Jahre alt und geht auf den Freiberger Oberberghauptmann Hans Carl von Carlowitz zurück. Dieser wandte die Nachhaltigkeit auf die Waldwirtschaft an. Der Begriff der Nachhaltigkeit tauchte im Jahr 19887wieder auf und wurde im Brundtlandt-Bericht neu definiert. In diesem Zusammenhang wird Nachhaltigkeit als nachhaltige Entwicklung aufgefasst (vgl. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags 2004). Aufbauend auf dem Brundtland-Bericht wurde von der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung der Vereinten Nationen das Drei-Säulen-Modell entwickelt. Das Modell vereint neben ökologischen auch ökonomische und soziale Ziele und ist oftmals das Leitbild aktuellen politischen wirtschaftlichen und ökologischen Handelns (vgl. Lexikon der Nachhaltigkeit 2015).
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Die Elektromobilität, ist Gegenstand vieler politischer Initiativen geworden. Die wohl umfangreichste Initiative ist die 2009 gestartete „European Green Cars Initiative“. In dieser wird insbesondere die Forschung und Entwicklung von Technologien für die Elektromobilität mit Mitteln in Höhe von insgesamt 500 Mio. Euro gefördert. Aufgrund dieser politischen Triebkraft werden die Flotten von Autoherstellern um mehrere Elektromodelle erweitert bzw. entsprechend umgerüstet. VW hat beispielsweise kürzlich angekündigt, sämtliche verfügbare Automodelle auch mit Elektromotor anzubieten (vgl. etwa ecomento 2017). Die wachsende Nachfrage nach Elektromodellen ist zugleich mit der Entwicklung neuer Werkstoffe bzw. materialschonender Bauweisen verbunden. Um eine effiziente Elektromobilität zu gewährleisten, ist es sinnvoll, leichtere Werkstoffe und Konstruktionen einzusetzen. Werkstoffe, die geringes Gewicht und hohe Materialfestigkeit miteinander vereinen, werden durch Graphen-Nanokomposite repräsentiert. Die Kombination von Polymeren-Matrices mit organischen und anorganischen Verstärkungsstoffen führt generell zu neuartigen Kompositen mit strukturellen, physikalischen und mechanischen Eigenschaften. Diese Komposite weisen eine große Variationsvielfalt auf, welche unkompliziert an nahezu jedes Anforderungsprofil angepasst werden kann. Im Vergleich zu der reinen Matrix (reines Polymer) zeichnen sich diese Komposite durch eine höhere Langlebigkeit aus und sind äußerst ökonomisch und ökologisch. Ein besonderer Verstärkungsstoff stellt Graphen dar. Es zeichnet sich durch eine geringe Dichte und ausgezeichneten Materialeigenschaften aus und könnte somit ein potentieller Hochleistungswerkstoff sein. Im vorliegenden Text soll daher gezeigt werden, dass graphenbasierte Komposite theoretisch nachhaltig sein können und deren hypothetische Anwendungen das Potenzial aufweisen, CO2-Emissionen zu verringern. Die Analyse bezieht sich hierbei vorwiegend aus der Perspektive der Materialwissenschaften mit Nachhaltigkeitsaspekten. Zum besseren Verständnis des Textes wird zunächst das Prinzip der Nachhaltigkeit aus Sicht der Chemie vorgestellt. Des Weiteren wird die Nachhaltigkeit von werkstofflicher Seite näher beleuchtet und eine Übersicht über den bisherigen Stand der Technik gegeben. Darüber hinaus werden die Grundlagen von graphenbasierten Materialien wie Graphen und Graphen-Nanokompositen erläutert, um dann deren Potenziale in Hinblick auf eine nachhaltige Verwendung zu überprüfen.
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2. S TAND
UND
Abbildung 1: Drei-Säulen-Modell der Nachhaltigkeit.
Quelle: Darstellung nach Nachhaltig-Sein (2014).
Dieser Aufsatz legt den Fokus auf die Herstellung und Charakterisierung von graphenbasierten Materialien aus der Perspektive der Materialwissenschaften. Aus diesem Grund werden vor allem Aspekte ökologischer sowie ökonomischer Nachhaltigkeit in den Blick genommen (vgl. Abbildung 1). 2.1 Nachhaltigkeitsprinzipien in der Chemie Das Nachhaltigkeitsdenken wurde bereits vor einiger Zeit (1998) im Bereich der Chemie integriert. So wurde das klassische Bestreben nach einer hohen RaumZeit-Ausbeute in Hinblick auf eine nachhaltige Arbeitsweise erweitert. Insbesondere wird darauf Wert gelegt, dass Herstellungsprozesse für Produkte generell besonders umwelt- und ressourcenschonend gestaltet werden, sodass die Umwelt für nachfolgende Generationen erhalten bleibt. Der Nachhaltigkeitsgedanke ist im Konzept „grüne Chemie“ wiederzufinden, zu dessen Umsetzung zwölf Punkte erarbeitet wurden (vgl. Umweltbundesamt 2016):
114 | A NDREAS W OLK 1. Einsatz abfallarmer Techniken: Chemische Reaktoren und Prozesse werden
so gestaltet, dass weniger Abfall produziert bzw. eine Gefahr der Umweltverschmutzung minimiert wird. Dabei können die Förderung der Rückgewinnung und Wiederverwertung der bei den einzelnen Verfahren erzeugten und verwendeten Stoffe zur Abfallminimierung beitragen. 2. Sichere Produkte: Giftige oder schädliche Produkte werden, wenn möglich, durch weniger giftige Produkte ersetzt. Die substituierten Produkte dürfen keine Minderung der Prozesseffizienz verursachen. 3. Einsatz weniger gefährlicher Stoffe: Es sollen weniger bedenkliche Stoffe für Mensch und Umwelt hergestellt und im Herstellungsprozess eingesetzt werden. 4. Intensive Nutzung erneuerbarer Rohstoffe: Für die Herstellung von Produkten werden überwiegend Rohstoffe eingesetzt, die aus erneuerbaren Ressourcen gewonnen wurden. 5. Nutzung von Katalysatoren: Anstelle von stöchiometrischen (großen) Mengen an Chemikalien, sollen eher katalytische (kleine) Mengen eingesetzt werden. 6. ‚Einfache Chemie‘: Unnötige Zwischenschritte, etwa in Form von Modifikationen, sollen vermieden werden. 7. Atomeffizienz: Wenn möglich, soll der Herstellungsprozess so gestaltet werden, dass die Ausgangsstoffe vollständig im Produkt wiederzufinden sind. 8. Sichere Lösungsmittel: Bei der Herstellung sollen möglichst wenig oder gar keine Lösungsmittel eingesetzt werden. Zudem sollen die Lösungsmittel, möglichst wenig toxisch und umweltfreundlich sein. 9. Energieeffizienz: Prozesse und Synthesen sollen möglichst bei Raumtemperatur durchgeführt werden, um den Herstellungsprozess so energieeffizient wie möglich zu gestalten. 10. Bioabbaubarkeit: Die erzeugten Produkte sollen nach Möglichkeit bioabbaubar sein und dabei der Umwelt nicht schaden. 11. Unfallrisiko minimieren: Es sollen möglichst nur Chemikalien eingesetzt werden, von denen nur ein geringes Gefährdungspotenzial ausgehen. 12. Echtzeitanalysen: Prozesse sollen in Echtzeit überwacht werden, damit Unfälle oder Schadstoffemissionen sofort detektiert werden können. Die Umsetzung dieses Konzeptes kann nicht für alle gängigen Prozesse erfolgen. Ferner ist abzuwägen, welches der zwölf Prinzipen sinnvoll umgesetzt werden kann und soll. Es muss genau bilanziert werden, welche ökologische Verbesserung mit der Durchsetzung eines Prinzips verbunden ist. Oftmals ist der Wechsel eines traditionellen Prozesses zu einem ‚grünen Prozess‘ mit Mehrkosten ver-
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bunden. Allerdings rentieren sich die Mehrkosten in Zeiten von steigenden Energiekosten und knapper werdenden Ressourcen auf langfristige Sicht. Daher sollte die Forschung für ‚grüne Chemie‘ weiter vorangetrieben werden (vgl. De Lourdes Aja Montes 2013; Umweltbundesamt 2016). 2.2 Nachhaltige Werkstoffe Material- und Werkstoffwissenschaften eröffnen ein sehr breites Technologiefeld, welches die Disziplinen Chemie, Physik sowie Ingenieurwissenschaften beinhaltet. Neben einer sinnvollen Konstruktion müssen Bauteile jeglicher Art auch bei der Auswahl der Materialien sinnvoll ausgelegt werden. Die Materialauswahl für ein geplantes Bauteil steht in der Anfangsphase vieler Produktionsketten und gilt daher als Schlüssel für die spätere Bauteileigenschaft. Durch diese besondere Stellung in Produktionsketten nimmt die Materialauswahl Einfluss auf die Nachhaltigkeit eines Bauteils und kann daher in diesem Zusammenhang als Schlüsseltechnologie angesehen werden (vgl. VDI 2014). In den letzten Jahren herrscht seitens der Hersteller das Bestreben, nachhaltige Produkte zu erzeugen und auf den Markt zu bringen. Um den Aspekt der Nachhaltigkeit zu erfüllen, werden energiearme Produktionstechniken eingesetzt und ständig optimiert. Eine andere gängige Möglichkeit, nachhaltige Bauteile und Produkte zu erzeugen, ist der Einsatz biobasierter Ausgangsstoffe, die sich durch ihre Klimaneutralität auszeichnen (vgl. ebenda). Dabei handelt es sich um Biokunststoffe, bei denen die Polymere (zumindest ein gewisser Anteil) aus nachwachsenden, also biobasierten Rohstoffen hergestellt werden. Ein Beispiel dafür ist das Bio-Polyethylen (PE), welches auf der Basis von Zuckerrohr hergestellt wird. Bereits heute existieren Werke, die pro Jahr 200.000 t Bio-PE produzieren. Ein weiterer Vertreter von biobasierten Polymeren ist Polymilchsäure (PLA), die für die Herstellung von Verpackungen verwendet werden kann und ähnliche Eigenschaften wie das weit verbreitete Polyethylenterephthalat (PET) aufweist. PLA wird aus der Fermentation von stärkehaltigen Agrarrohstoffen (Mais, Getreide) gewonnen und ist das wohl am weitesten verbreitete und technisch genutzte Biopolymer, dessen Jahresproduktion deutlich über der von BioPE liegt (vgl. Endres 2009; Meyer-Aurich et al. 2008). Bei den bisher aufgeführten Beispielen war das Polymer vollkommen biobasiert. Da die Produktionsmengen von biobasierten Polymeren derzeit noch nicht ausreichen, um herkömmliche erdölbasierte Polymere zu ersetzen, bzw. das gewünschte Eigenschaftsprofil durch den Einsatz der Biopolymere nicht erfüllt werden kann, sind andere Strategien für die Realisierung des Nachhaltigkeitsgedankens notwendig. Eine dieser Strategien stellt die Kombination von erdölba-
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sierten Polymeren mit nachwachsenden Rohstoffen dar. Bereits seit den 1990erJahren, wird die Kombination aus nachwachsenden Rohstoffen mit synthetischen Polymeren in serienmäßigen Produkten eingesetzt. Naturfaserverstärkte Kunststoffe (NFK) gehören heutzutage zu etablierten Werkstoffen, die aufgrund ihrer hervorragenden haptischen und akustischen Eigenschaften im Interieurbereich von Kraftfahrzeugen eingesetzt werden. Weitere neuartige Materialien werden durch Holz-Polymer-Werkstoffe repräsentiert, diese kombinieren die nachhaltigen Eigenschaften des Holzes mit den langlebigen und umweltbeständigen Eigenschaften (Witterungsbeständigkeit, UV Beständigkeit) des Kunststoffes und werden im großtechnischen Maßstab für Möbel oder Terrassenfußböden eingesetzt (vgl. Fachagentur Nachwachsende Rohstoffe e. V. 2008). Eine weitere simple Strategie, durch die Nachhaltigkeit realisiert werden kann, ist das Einsparen von Gewicht. Dieser Ansatz wird als Leichtbauweise bezeichnet. Ein großer Anteil (ca. 67-74 %) der Treibhausemissionen eines Kraftfahrzeugs fallen während der Nutzung an. Davon wird ein großer Anteil durch das Gewicht des Fahrzeugs bestimmt. Eine Gewichtseinsparung von 100 kg bedeutet eine Verbrauchseinsparung von bis 0,5 l Benzin auf 100 km. Anhand dieser simplen Rechnung wird deutlich, dass der Leichtbau ein enormes Potenzial bei der Entwicklung von nachhaltigen Produkten darstellt. Derzeit existieren mehrere Lösungen, um den Leichtbauansatz zu realisieren: Es werden leichtere Materialien wie Magnesium, Aluminium oder hochfeste Stähle eingesetzt, durch die dünnwandige Bauteile konstruiert werden können. Ein recht moderner Ansatz ist die Hybridbauweise, die als ein Multimaterialansatz angesehen werden kann. Diese kombiniert unterschiedliche Materialien miteinander, die dabei lokal auf die zu erwartende Belastung abgestimmt und optimiert werden, wodurch Material eingespart werden kann. In der Regel wird der Multimaterialansatz durch Simulationen unterstützt. Die Simulation ersetzt aufwändige Versuche, durch die sonst eine optimale Materialabstimmung ermittelt wird. Dadurch können Bauteile realisiert werden, mit denen eine deutliche Gewichtsreduktion erreicht wird (vgl. VDI 2014). 2.3 Ökonomische Aspekte der Nachhaltigkeit Nachhaltige Produkte erfreuen sich stetiger Beliebtheit und sind in der Gesellschaft in jeglichen Produktsektoren zu finden. Besonders verbreitet sind nachhaltige Produkte im Lebensmittelbereich unter dem Begriff „Bio“. Im durchschnittlichen Preisvergleich sind Bio Lebensmittel 100 % teurer als herkömmliche Lebensmittel. Bei einem monatlichen Einkaufswert von 154 Euro für konventionell
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produzierte Lebensmittel kosten gleichartige Biolebensmittel ca. 300 Euro (vgl. Stumm 2004). Ein ähnliches Preisverhalten wie bei den Bio-Lebensmitteln weisen die oben aufgeführten Werkstoffe und Techniken auf. Damit die Technologie zugunsten der Nachhaltigkeit genutzt wird, muss sie auch bezahlbar sein. Häufig ist die Gewichtseinsparung mit Mehrkosten für die Bauteilproduktion verbunden. Damit Multimaterialbau also zu Gunsten der Nachhaltigkeit genutzt werden kann, müssen die Kunden bereit sein, diesen zu bezahlen. In Tabelle 1 ist der Zusammenhang zwischen Mehrkosten und Gewichtseinsparung am Beispiel unterschiedlicher KFZ-Modelle und Preisklassen aufgeführt. Tabelle 1: Zusammenhang zwischen Mehrkosten und Gewichtseinsparung am Beispiel unterschiedlicher KFZ-Modelle und Preisklassen.
Quelle: VDI (2014).
Es ist zu erkennen, dass der Leichtbau bereits bis hin zu Mittelklassefahrzeugen effektiv genutzt werden kann. Als weiterer Indikator für die Massentauglichkeit der Multimaterialbauweise kann die Preisentwicklung von Karbonfasern herangezogen werden. In den letzten Jahren ist der Kilopreis von Karbonfasern von 100 €/kg auf unter 30 €/kg gesunken. Durch diese Preisentwicklung ist die Verwendung im Fahrzeugbau möglich. Ebenso wie bei den Bio-Lebensmitteln, müssen Kunden bereit sein mehr für Produkte, die aus nachhaltigen Werkstoffen gefertigt werden, zu bezahlen. Nachhaltigkeit ist ein Gemeinschaftsprojekt der Gesellschaft, bei dem es auf jeden Einzelnen ankommt (vgl. VDI 2014).
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2.4 Graphen Einen besonders herausragenden Nanofüllstoff stellt Graphen dar. Die Namensgebung für Graphen resultiert aus dem altgriechischen Wort γράφειν [graphein], welches „schreiben“ bedeutet. Graphen kann aus Graphit gewonnen werden und stellt eine einzelne Schicht in der Graphitstruktur dar. Eine einzelne Graphenschicht ist mit einer Höhe von 0,34 nm extrem dünn. In der Graphenschicht sind die Kohlenstoffatome bienenwabenförmig angeordnet und vollständig zu einem π-Elektronen-System konjugiert. Die besondere Struktur des Graphens führt dazu, dass das Material elektrisch leitend ist, eine geringe Flächendichte mit 7,57∙10‐7 kg∙m-2 aufweist (vgl. Bonaccorsombo et al. 2015) und über eine hohe mechanische Zugfestigkeit von ca. 125 GPa (vgl. King et al. 2008) verfügt. Außerdem beträgt der E-modul des Graphens 1 TPa und transmittiert (i. S. v. Durchlässigkeit) das Sonnenlicht um bis zu 97 % (vgl. Bonaccorsombo et al.; 2015; Balasubramanian et al. 2011). Aufgrund der geringen Dichte und ihren herausragenden Eigenschaften haben graphenbasierte Komposite unteranderem ein hohes Verwendungspotenzial im Leichtbau. Ein Problem bei der Herstellung von Graphen ist die geringe Löslichkeit bzw. Dispergierbarkeit (Mischbarkeit). Eine gute Möglichkeit, das Problem zu umgehen, ist, zunächst Graphenoxid herzustellen und dieses dann zu Graphen zu reduzieren. Die wohl gängigste Methode für die Oxidation ist die Behandlung von Graphit mit konzentrierter Schwefelsäure, konzentrierter Phosphorsäure und Kaliumpermanganat bei 50 °C. Die Reduktion von Graphenoxid erfolgt in der Regel mit Hydrazin, Hydrazinderivaten oder mittels schnellen Erhitzens auf Temperaturen zwischen 600 °C-1000 °C (vgl. Pei 2012). In Folge der Oxidation und der Reduktion liegen in dem reduzierten Graphenoxid Defekte vor, die dazu führen, dass die Eigenschaften nicht so gut sind wie bei mechanisch exfolierten (in einzelnen Schichten aufgetrennten) Graphen.
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Abbildung 2: Vergleich zwischen den Strukturen von Graphen (linkes Bild), Graphenoxid (mittleres Bild) (graue Kugeln = Kohlenstoffatome, rote Kugeln = Sauerstoffatome und kleine weißen Kugel = Wasserstoffatome) und reduziertem Graphenoxid (rechtes Bild).
Quelle: nach Balasubramanian (2011).
Die Abbildung 2 zeigt eine oxidierte Graphenschicht. Das zuvor komplett sp2hybridiserte System wird durch die Oxidation zerstört und weist zusätzlich sp3hybridiserte Kohlenstoffatome auf. Die grauen Kugeln in der Abbildung stellen Kohlenstoffatome dar, die roten Kugeln repräsentieren Sauerstoffatome und die kleinen weißen Kugeln repräsentieren Wasserstoffatome. Die Oxidation führt zu neuen Gruppen wie Carboxyl-, Hydroxyl- und Epoxid-Gruppen, die auf der Fläche und an den Kanten des Graphenoxids positioniert sind. Die Einführung der neuen Gruppen steigert die Reaktivität und erhöht die Schichtabstände des Graphenoxids (vgl. Marcano et al. 2010). Das Material wird durch die zusätzlichen sauerstoffhaltigen Gruppen hydrophiler und lässt sich im Gegensatz zum Graphen ohne zusätzliche Hilfschemikalien im Wasser dispergieren bzw. lösen (vgl. Balasubramanian et al. 2011). Die Methode, durch Graphenoxid Graphen in Polymeren einzuarbeiten, bietet das Potenzial, neue Hochleistungskomposite zu erschaffen. In Hinblick darauf, die mechanischen Eigenschaften des resultierenden Komposits zu steuern, sollte der Zusammenhang zwischen dem Anteil des Graphens im Komposit und den resultierenden Kompositeigenschaften näher erforscht werden. Ferner sind die Herstellungsparameter wie Oxidationszeit, Reduktionszeit, Reduktionsart und die Partikelmorphologie des Graphens Versuchsparameter, in die weitere Forschung investiert werden muss.
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3. N ACHHALTIGKEITSPRÜFUNG K OMPOSITE
GRAPHENBASIERTER
In diesem Kapitel wird anhand des bisher aufgeführten Wissenstandes gezeigt, dass und wie graphenbasierte Nanokomposite zur Nachhaltigkeit beitragen können. Im vorangehenden Kapitel wurde bereits aufgeführt, dass bei den ersten Versuchen und Erfolgen, Graphen-Nanokomposite herzustellen, bereits sehr geringe Mengen an Graphen zu einer Steigerung der mechanischen Eigenschaften der Komposite im Vergleich zum reinen Polymer führten. Zudem kann Graphen aus Graphit gewonnen werden, welches in der Natur in großen Mengen vorkommt und ohne großen Aufwand gefördert werden kann. Die gute Verfügbarkeit und Förderbarkeit des Graphits kommt der Nachhaltigkeit von graphenbasierten Nanokompositen zugute. Deren Nachhaltigkeitspotenzial wird hier am Beispiel eines hypothetischen graphenbasierten Lackes gezeigt, kann theoretisch jedoch auch auf andere hypothetische Anwendungen übertragen werden, bei denen Polymere als Materialien eingesetzt werden. Lacke gehören zu den Beschichtungsstoffen. Als Lacke werden organische Bindemittel (modifizierte Naturstoffe, Kunstharze) bezeichnet, welche einen auf einem Untergrund haftenden, zusammenhängenden und praktisch wasserundurchlässigen (nicht saugenden) Film ergeben (vgl. Fonds der Chemischen Industrie im Verband der Chemischen Industrie e. V. 2003). In erster Linie sorgen Beschichtungen für einen Schutz des Untergrundes und verhindern somit eine Zerstörung der Oberfläche durch Umwelteinflüsse wie Temperaturwechsel, Regen, Luftfeuchte, UV-Strahlung, biologische Stoffe (Vogelkot, Baumharz) und Streusalz. Im Allgemeinen ist ein beschichtetes Produkt/Bauteil immer nachhaltiger als ein unbeschichtetes. Die Lebens- und Gebrauchsdauer jeglicher Produkte/Bauteile wird durch eine Beschichtung verlängert. Aufgrund der längeren Gebrauchsdauer müssen diese nicht so häufig nachproduziert werden, wodurch der zur Herstellung benötigte CO2-Ausstoß maßgeblich reduziert werden kann. Eine längere Gebrauchsdauer kann also dazu zur Erfüllung von Nachhaltigkeitskriterien beitragen. Bei der Herstellung von Beschichtungen werden Polymere/Präpolymere in Lösemitteln gelöst. Die Bereitstellung dieser Polymere kostet Energie und verursacht CO2. Allerdings werden für viele Lacke und Beschichtungen Naturstoffe verwendet, was die CO2-Bilanz in Summe senkt. Zu der resultierenden Polymerdispersion/Polymerlösung werden Pigmente und Additive hinzugefügt und im Anschluss im großen Maßstab homogenisiert und mehrfach gesiebt. Die resultierenden Beschichtungen werden im Anschluss abgefüllt und ausgeliefert. Die verkaufsfertige Beschichtung wird durch den
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Anwender im einfachsten Fall durch Streichen appliziert. Es existieren andere Verfahren, bei denen die Beschichtungen elektrostatisch, durch Eintauchen oder Sprühen aufgebracht werden. Bei der anschließenden Trocknung geht das zuvor eingesetzte Lösemittel verloren. Sowohl die Applikation als auch die Trocknung der Beschichtungen verursachen CO2 (vgl. Fonds der Chemischen Industrie im Verband der Chemischen Industrie e. V.2003). Abbildung 4: Vergleich der hypothetischen Lebensdauer eines nicht beschichteten Bauteils/Werkstücks, eines beschichteten Bauteils/Werkstücks und eines Bauteils/Werkstücks mit einer hypothetischen graphenbasierten Beschichtung.
Quelle: Eigene Darstellung.
In Abbildung 4 ist die Lebensdauer eines Bauteils/Werkstücks schematisch dargestellt; in Abbildung 5 wird bilanziert, an welchen ‚Lebensabschnitten‘ des Bauteils CO2-Emissionen entstehen. Je kürzer ein Bauteil in Betrieb ist, desto mehr CO2 fällt aufgrund von Neuproduktion an.
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Abbildung 5: Schematische Darstellung der CO2 Bilanz der Herstellung Gebrauch eines Bauteils/Werkstücks.
Quelle: Eigene Darstellung.
Insbesondere die mechanischen Eigenschaften der Beschichtung würde durch Graphen signifikant verbessert werden. Zudem werden aufgrund der lamellaren Struktur von Graphen, ähnlich wie bei Kompositen mit Schichtsilikaten, eine Barrierewirkung gegenüber Gasen und Chemikalien vorhergesagt. Durch diese prophezeiten Eigenschaften könnten graphenbasierte Beschichtungen eine sehr lange Lebensdauer aufweisen. Aufgrund der längeren Lebensdauer müssten weniger Beschichtungen hergestellt und weniger neue Bauteile produziert werden. Die Folge einer langlebigen Beschichtung wäre eine längere Betriebszeit der Bauteile, die zur einen erheblichen Ersparnis an CO2-Emissionen führt. Durch diesen Effekt weisen graphenbasierte Nanokomposite theoretisch das Potenzial eines sehr nachhaltigen Materials auf.
4. F AZIT
UND
AUSBLICK
Nachhaltigkeit ist in vielen gesellschaftlichen Bereichen, aber auch in und für die Wissenschaft ein wichtiger Begriff. Der vorliegende Text hatte daher zum Ziel, potenzielle Beiträge der Materialwissenschaften zur Erreichung von Nachhaltigkeitszielen zu vermitteln. Dabei konnte gezeigt werden, dass aus graphenbasierten Kompositen Materialien und Beschichtungen hergestellt werden können, die im Vergleich mit herkömmlichen Werkstoffen potenziell langlebiger
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sind. Dabei weisen graphenbasierte Materialien ähnliche Anwendungsfelder wie schichtsilikatbasierte Komposite auf und verfügen über einen besseren Korrosionsschutz als das reine Polymer. Die potentielle Langlebigkeit der graphenbasierten Komposite leistet einen wichtigen Beitrag zur Einsparung von Ressourcen und somit zu Nachhaltigkeit. Um das Potenzial von graphenbasierten Kompositen voll ausschöpfen zu können, muss allerdings noch weitere Forschung investiert werden. Gerade in Bezug auf die Oberthematik Leichtbau ist die Forschung an (neuen) Materialien sehr wichtig. Die Verwendung von langlebigen Materialien verbessert die Laufzeit von Leichtbaukonstruktionen, wodurch weitere Ressourcen eingespart werden können. Zudem ist Graphen aufgrund seiner geringen Dichte und der herausragenden mechanischen Eigenschaften ein Material, welches dafür prädestiniert, ist im Leichtbau verwendet zu werden.
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Die Bedeutung von Kunststoffen für hybride Leichtbaustrukturen E LMAR M ORITZER UND B JÖRN L ANDGRÄBER
1. E INLEITUNG An aktuellen und zukünftigen gesellschaftlichen Veränderungen sind alle Gesellschaftsmitglieder beteiligt. Dies sind neben BürgerInnen auch Unternehmen sowie deren Strukturen und Prozesse. Diese Veränderungen, die im Folgenden näher beschrieben werden, sorgen auch dafür, dass es einen wachsenden Bedarf an neuartigen Ansätzen zur Herstellung und Konstruktion von Maschinen und Anlagen geben wird. Zukünftige Bedürfnisse im Vorhinein zu erkennen und ihnen begegnen zu können, sind Schlüsselaspekte, um die deutsche und europäische Industrie in ihrer Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Hierzu sind u. a. neuartige Herstellungsverfahren notwendig, die durch Kooperationen universitärer Forschungseinrichtungen mit Industrieunternehmen den Übergang in die industrielle Anwendung finden werden. Eines dieser Verfahren ist das an der Kunststofftechnik Paderborn (Universität Paderborn) entwickelte Sonderverfahren des Kunststoff-Spritzgießens GITBlow.1 Durch die Integration von Einzelprozessen in einen Gesamtprozess kann dieses Verfahren einen Beitrag zur Ressourcenschonung und Effizienzsteigerung in der industriellen Produktion liefern. Die zukünftige Entwicklung von Gesellschaft und Industrie wird durch in der Literatur und z. T. durch Unternehmen beschriebene Megatrends maßgeblich bestimmt (vgl. Bakas 2009; Zukunftsinstitut GmbH o. J.; Robert Bosch GmbH o. J.; Bertelsmann Stiftung 2015). Diese Megatrends sind globale Strömungen, die von Unternehmen berücksichtigt werden sollten, um die Entwicklung von Produkten und Prozessen frühzeitig einleiten zu können und beziehen sich auf 1
Siehe hierzu auch die Homepage der Kunststofftechnik Paderborn: www.ktp.unipaderborn.de/forschung-und-entwicklung/gitblow.
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verschiedene Bereiche des öffentlichen Lebens. Beispielhaft seien die folgenden Punkte genannt: • • • • • • • • • • • •
Arbeit und Unternehmen im Umbruch Demografischer Wandel der Gesellschaft Verknappung der Energie- und Ressourcenversorgung Große Gesundheitsfortschritte Fortschreitende Globalisierung Wunsch nach Individualisierung Internetkultur und Digitalisierung Klimawandel und dessen Folgen Markt und Konsum im Umbruch Wachsende Mobilitäts- und Logistikbedürfnisse Politische und wirtschaftliche Umbrüche Intelligente Produkte und Infrastrukturen
Nicht alle diese Punkte haben direkten Einfluss auf die Gestaltung und Herstellungsprozesse von Produkten. Dennoch hängen viele dieser Aspekte inhaltlich zusammen und machen klar, dass sich mit derzeitig verfügbaren Produkten und Produktionsmöglichkeiten nicht alle der im Rahmen von Megatrends genannten Aspekte gleichermaßen abgedeckt werden können. Zum Teil ergeben sich auch Widersprüche, die nur durch neuartige Ansätze gelöst werden können. Dies betrifft beispielsweise den Punkt der fortschreitenden Ressourcenverknappung und den des wachsenden Bedürfnisses nach Mobilität. Zunehmender Personenverkehr steht in einem Widerspruch zum Zwang, Ressourcen zu schonen, welcher sich daraus ergibt, dass die Ressourcen der Erde endlich sind. Zunehmender Verkehr verursacht mit den derzeit verfügbaren Technologien mehr Emissionen und vermehrten Ressourcenverbrauch. Dieser Widerspruch lässt sich nur lösen, wenn die Energiemengen, die zum Transport von Personen benötigt werden, deutlich reduziert werden, sodass mehr Personen häufiger und länger unterwegs sein können, ohne dass mehr Energie hierzu aufgebracht werden muss. Weiterhin lässt sich der zunehmende Wunsch nach Möglichkeiten zur käuferspezifischen Individualisierung von Produkten ebenfalls nur durch neuartige Produktionstechnologien mit Bemühungen zur Ressourcenschonung vereinbaren. Individualisierung bedeutet einen erhöhten Aufwand und eine größere Variantenvielfalt für die Produktion, was mit derzeitig eingesetzten Produktionsverfahren einen erhöhten Einsatz von Ressourcen mit sich zieht. Individualisierung bedeutet andererseits jedoch in einigen Gesellschaftsbereichen auch einen verstärkten Trend zur sogenannten Individualnutzung von Produkten (Beispiele: eigener
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Pkw, Eigenheim ‚im Grünen‘), der ebenfalls mit einer verstärkten Ressourcennutzung einhergeht (vgl. Kraemer 2008).
2. N ACHHALTIGER E INSATZ NEUARTIGE P RODUKTE
VON
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FÜR
Für Unternehmen bedarf es technischer und organisatorischer Möglichkeiten, Produkte und Produktionsprozesse auf die genannten neuen Anforderungen anpassen zu können. Eine Möglichkeit, wie dies geschehen kann, zeigt das GITBlow-Verfahren auf, in welchem verschiedene Verarbeitungsverfahren für Kunststoffe (Gasinnendruckspritzgießen und Blasformen) kombiniert werden. Das Verfahren kann durch eine innovative Prozessführung Möglichkeiten zur Einsparung von Produktionskapazitäten, Produktionszeit und eingesetzten Rohstoffen bieten. Zudem erlaubt es die Umsetzung neuer Geometrien in der Produktgestaltung, die mit bislang verfügbaren Verfahren nicht umsetzbar sind. Es soll im Folgenden gezeigt werden, dass auch Verfahren im Bereich der Kunststofftechnologie trotz des vordergründig energie- und ressourcenintensiven Grundwerkstoffes einen Beitrag zur Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen leisten können. Durch innovative Prozessführung und neuartige Lösungen zur Realisierung von Hybridbauweisen stellen Kunststoffprodukte einen unverzichtbaren Beitrag zur gleichzeitigen Realisierung der oben angeführten Megatrends. Die Verarbeitung von Kunststoffen ist gesellschaftlich häufig negativ konnotiert. Die oft hervorgehobenen negativen Folgen des Einsatzes von Kunststoffen wie beispielsweise die Verschmutzung der Weltmeere durch Kunststoffpartikel im Größenbereich von wenigen Mikrometern sorgen häufig für ein schlechtes Image von Kunststoffprodukten (vgl. Peters 2014), Kunststoffe, die in ihrer am weitesten verbreiteten Variante aus Erdöl hergestellt werden, haben darüber hinaus ein negatives Image hinsichtlich des Verbrauches natürlicher Ressourcen. Das Erdöl, das u. a. auch zur Herstellung von Kunststoffen verwendet wird, wird in einer Raffinerie erhitzt und der Dichte seiner Bestandteile nach getrennt. Nur ca. 15 % dieser Bestandteile – das sogenannte Leichtöl (Naphtha) – sind für die Herstellung von Kunststoffen geeignet. Die übrigen Bestandteile des Erdöls werden beispielsweise für die Herstellung von Treibstoffen und Schmierstoffen eingesetzt. Von der Gesamtmenge des gewonnenen Naphthas wird wiederum nur ein kleiner Anteil für die Herstellung von Kunststoffrohmaterial genutzt. Somit ergibt sich ein ungefährer Anteil von 4-6 % des gesamten Erdölverbrauchs, der für die Kunststoffherstellung eingesetzt wird (vgl. ITAD 2015).
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Damit relativiert sich der vielfach zu vernehmende Vorwurf, dass große Mengen an Erdöl für die Herstellung von Kunststoffen verbraucht würden. Die Produktionsmenge an Kunststoffen in Deutschland betrug im Jahr 2011 insgesamt 10,62 Mio t, die sich wie in Abbildung 1 dargestellt auf die einzelnen Kunststoffarten aufteilen (vgl. Statistica o. J.). Zu erkennen ist, dass die bei Weitem größte Menge der produzierten Kunststoffe Thermoplaste (Duroplaste und Elastomere unter „sonstige Kunststoffe“) sind. Thermoplastische Kunststoffe sind dadurch gekennzeichnet, dass diese bei Erwärmung aufschmelzen und bei Abkühlung wieder einfrieren. Dadurch lassen sich diese Werkstoffe besonders leicht verarbeiten. Dieser Vorgang lässt sich (unter Vernachlässigung einer nicht zu vermeidenden Werkstoffschädigung durch das Aufschmelzen) auch mehrfach wiederholen. Dies ist einer der Gründe für die große Verbreitung dieser Werkstoffgruppe. Abbildung 1: Produktionsanteile von Kunststoffen in Deutschland.
Menge [1000t]
2500
Produktionsmenge von Kunststoffen in Deutschland nach Kunststoffart in den Jahren 2011 und 2013 (in 1.000 Tonnen)
2000 1500
2011
1000
2013
500 0
Quelle: BKV (2016).
Die Energiemengen, die zur Herstellung von Kunststoffen benötigt werden, unterscheiden sich je nach Art des Kunststoffes leicht voneinander. Zur Herstellung einer Tonne des häufig für Strukturbauteile eingesetzten Kunststoffes Polyamid (PA) werden ca. 75 Gigajoule benötigt. Wird die derzeit in Deutschland bei der Erzeugung elektrischer Energie anfallende Kohlenstoffdioxidemission (CO2) berücksichtigt, so ergibt sich eine Emission von 11 t CO2 pro Tonne Polyamid.
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Zum Vergleich sollen die Werte für das ebenfalls als Leichtbauwerkstoff eingesetzte Aluminium herangezogen werden. Bei der Herstellung von einer Tonne Aluminium werden in Deutschland derzeit ca. 37 t CO2 emittiert (vgl. Hübner et al. 1997). Dies bedeutet, dass bei der Bewertung der Umweltverträglichkeit von Werkstoffen die gesamte Herstellungs- und Nutzungskette berücksichtigt werden muss. Hierbei treten z. T. deutliche Unterschiede zwischen den Werkstoffgruppen auf. Neben der Herstellung von Rohkunststoffen aus Erdöl ist die Verarbeitung dieser Werkstoffe zu Endprodukten ein weiterer, energetisch nicht zu vernachlässigender Aspekt. Die Verarbeitung von Kunststoffgranulat erfolgt in der Regel in Extrusions- oder Spritzgießprozessen. Bei thermoplastischen Kunststoffen, die eine Mehrheit der verarbeiteten Kunststoffe ausmachen, wird das Granulat aufgeschmolzen und in flüssigem Zustand in die gewünschte Form gebracht. Dies sind bei Extrusionsprozessen in der Regel Endlosprofile wie Rohre, Folien usw. Typische Spritzgießprodukte sind Gehäuse für Elektrokleingeräte oder auch Verschlüsse für Getränkeflaschen. Die Endform der Produkte wird während der Abkühlung des Werkstoffes bestimmt, wobei die zuvor zugeführte Energie zum Aufschmelzen des Kunststoffes wieder abgeführt werden muss. Dieser Prozess ist aufgrund des Verarbeitungsprinzips verlustbehaftet. Dies ist bei anderen Verfahren zur Herstellung von Bauteilen, z. B. aus Metallen, ähnlich. Aufgrund der geringen Dichte von Kunststoffen lassen sich jedoch viele Produkte aus diesem Werkstoff energieeffizienter herstellen als dies beispielsweise bei Metallen der Fall ist. Die Dichte vieler thermoplastischer Kunststoffe liegt im Bereich von 1 g/cm³, während Metalle eine deutlich höhere Dichte aufweisen (Aluminium 2,71 g/cm³, Stahl 7,85 g/cm³). Hieraus ergeben sich insbesondere bei volumenintensiven Bauteilen Vorteile für Kunststoffe. Um dies zu verdeutlichen, seien im Folgenden einige Beispiele genannt. Aus den oben genannten Unterschieden zwischen Metallen und Kunststoffen ergeben sich beispielsweise für eine 100 km lange Rohrleitung mit einem Durchmesser von 2,54 cm (z. B. für den Transport von Wasser) folgende Energiebedarfe (umgerechnet in Tonnen Erdöläquivalent) zur Herstellung von Werkstoff und Bauteil (vgl. Menges et al. 2011): • Kunststoff: 66 t Erdöl • Galvanisierter Stahl: 232 t Erdöl Wird beispielsweise Wasser durch diese Leitung befördert, wobei der Kontakt mit Kunststoff unproblematisch ist, ist dieser Werkstoff zu bevorzugen, da bei der Herstellung der Rohrleitung deutlich weniger Energie eingesetzt werden
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muss. Hierfür ist die geringe Dichte des Kunststoffes im Vergleich zu Stahl maßgeblich entscheidend. Eine Leitung aus Stahlrohr ist bei den hier angenommenen Randbedingungen nicht zwangsläufig erforderlich. Dies bedeutet, dass es das Ziel konstruktiver Maßnahmen sein muss, den richtigen Werkstoff an der richtigen Stelle im Bauteil einzusetzen. Die Eigenschaften der eingesetzten Werkstoffe und der Produkteinzelteile (z. B. Festigkeit, Steifigkeit) müssen bei der Konstruktion des Gesamtproduktes berücksichtigt werden. Eine Überbelastung von Werkstoffen kann zum Versagen des Bauteiles im Laufe des Produktlebenszyklus führen. Dies wird auch als Unterdimensionierung bezeichnet. Gleichzeitig ist das Gegenteil – eine Überdimensionierung – ebenfalls zu vermeiden. Wird das eingesetzte Einzelbauteil deutlich unterhalb einer zulässigen Belastbarkeit eingesetzt, so ist keine effiziente Ausnutzung der Werkstoffeigenschaften gegeben. Dies bedeutet, dass entweder zu viel Material oder ein zu hochwertiger Werkstoff an der belasteten Position eingesetzt wird. Um dies zu optimieren, ist es das Ziel, die Eigenschaften des Werkstoffes soweit auszunutzen, dass eine notwendige Restsicherheit gegeben bleibt, aber die auftretenden Belastungen die zulässigen Grenzwerte nicht überschreiten. Somit ist die optimale Auslegung eines Bauteils eine Kombination aus Werkstoff und geometrischer Gestaltung. Zu berücksichtigen ist dabei jedoch, dass die Einsatzgebiete von Aluminium und Kunststoffen sich wesentlich voneinander unterscheiden. Die Verwendung von Kunststoffen ist dadurch eingeschränkt, dass die maximale Belastbarkeit des Werkstoffes im Vergleich zu Metallen deutlich geringer ist. Als Kenngröße für die maximale Belastbarkeit wird hier die Zugfestigkeit (Metalle) bzw. Streckspannung (Kunststoffe) der Werkstoffe miteinander verglichen. Die Streckspannung eines typischen, in technischen Produkten eingesetzten Polyamid 66 (PA66) liegt bei ca. 65 N/mm² bei einer Bruchdehnung von 150 % (vgl. Bargel und Schulze 2012). Dem gegenüber steht eine Aluminiumlegierung für Strukturbauteile (AlZn5Mg3Cu) mit einer Zugfestigkeit von ca. 175 N/mm² (vgl. Doege und Behrens 2010). Das heißt, dass ein Aluminiumbauteil im Vergleich zu einem Bauteil aus PA66 bei gleicher Querschnittsfläche eine ca. 2,7-mal so große statische Last aufnehmen kann. Die festigkeitsbezogenen Eigenschaften von Kunststoffen lassen sich jedoch ohne eine Erhöhung des Gewichtes verbessern. Um dies zu erreichen, werden verstärkend wirkende Fasern in den Kunststoff eingebracht. Diese müssen dabei eine höhere Festigkeit aufweisen als der Grundwerkstoff. Die üblicherweise eingesetzten Glas- und Kohlenstofffasern haben eine deutlich höhere Festigkeit als Kunststoffe an sich und werden entweder in Kurzform (Länge